200 86 3MB
German Pages 290 [289] Year 2022
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Sebastian Huhnholz, Hannover Florian Meinel, Göttingen Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Peter Schröder, London Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau Moshe Zimmermann, Jerusalem
Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 165
Mike Schmeitzner [Hrsg.]
Die Diktatur des Proletariats Begriff – Staat – Revision
Titelbild: „Ein Jahr proletarische Diktatur Oktober 1917 - Oktober 1918“ (oben: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“). Plakat des sowjetischen Künstlers Alexander Apsit von Ende 1918, Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, F Pd - 0185.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-8147-8 (Print) ISBN 978-3-7489-2576-7 (ePDF)
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1. Auflage 2022 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitgenössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Editorial – Understanding the State
Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technology, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s involvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt
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Inhaltsverzeichnis
Mike Schmeitzner Einleitung
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Denker und Vordenker der Diktatur des Proletariats Wilfried Nippel Kein Urheberrecht: Marx, Engels und die Diktatur des Proletariats
19
Mike Schmeitzner Antinomie und Verflechtung. Kautsky, Lenin, Trotzki und der Deutungskampf um die „Diktatur des Proletariats“
43
Uli Schöler Julius Martow und die Austromarxisten
65
Der frühe Staat der Diktatur des Proletariats Helmut Altrichter Soziale Revolution und Diktatur des Proletariats in Russland 1917–1921
93
Béla Bodo Die ungarische Räterepublik: Eine Diktatur des Proletariats oder eine proletarische Demokratie?
109
Bernward Anton Bayern und die „Diktatur des Proletariats“ in der Revolution 1918/19. Anmerkungen zu Begriffsgeschichte und Umsetzung eines diffusen Konzepts
135
7
Die Transformation der Diktatur: Begriff und Herrschaft Stefan Weise Die „Arbeiterregierung“. Eine Vorstufe der proletarischen Diktatur?
163
Jan Claas Behrends Stalin und die Diktatur des Proletariats. Begriffliche Verschiebungen von der Klasse zum Imperium (1917-1953)
185
Mario Keßler Die Diktatur und die Proletarier. Zur Anatomie des Realsozialismus und seiner Kritik
207
Revision und Wandel: Der lange Abschied von der Diktatur des Proletariats Marie-Janine Calic Jugoslawiens „dritter Weg“: Wesen und Wandel des Systems der Arbeiterselbstverwaltung
231
Nikolas Dörr Die Transformation des Kommunismus. Der Eurokommunismus und die „Diktatur des Proletariats“
249
Tom Thieme Zwischen Revolutionsfolklore und Totalrevision. (Post-)Kommunistische Parteien in Ostmitteleuropa
273
Autorenverzeichnis
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Mike Schmeitzner Einleitung
Der Begriff der „Diktatur des Proletariats“* zählt zu den schillerndsten und wirkmächtigsten Begriffen des 20. Jahrhunderts. Die von der Sowjetunion geführten Staaten des sozialistischen Ostblocks beriefen sich fast bis zuletzt auf ihn als Legitimationsressource; sie kennzeichneten ihre Herrschaft selbst als Formen proletarischer Diktatur. Mehr noch: Seit der Oktoberrevolution 1917, mit der die Bolschewiki an die Macht gelangten, unternahmen die staatssozialistischen Legitimationswissenschaften enorme Anstrengungen, aus dem Begriff eine „Lehre“ bzw. eine „Theorie“ zu entwickeln. Auf gedankliche Überlegungen von Marx, Engels und Lenin zurückgreifend, wiesen sie die „Lehre“ von der „Diktatur des Proletariats“ gar als „Kernstück der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie“ aus.1 Ausgangspunkt dafür war der berühmte, häufig zitierte Satz aus Marx` Programmbrief von 1875: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats“.2 Unmittelbar vor dieser Aussage hatte Marx selbst die Frage gestellt, welche „gesellschaftlichen Funktionen“ bei dieser Umwandlung überhaupt „übrig“ blieben, die Antwort darauf aber verweigert. Über die „Dimensionen und Funktionen des Staatsapparates“ während der Übergangsperiode und danach trafen Marx und Engels keine weitergehenden Aussagen.3 Im Gegenteil nahmen sich alle Hinweise im Werk von Marx und Engels zum Begriff der „Diktatur des Proletariats“ eher disparat, widersprüchlich und damit ausdeutbar aus. In Marx´ und Engels´ Evolutionsschema des Historischen Materialismus hatte die „revolutionäre Diktatur des Proletariats“ indes den Weg in eine klassen- und staatslose Gesellschaft frei zu machen und damit die „Diktatur der Bourgeoisie“ als Herrschaft einer bevorrechteten gesellschaftlichen Minderheit zu überwinden. Dem (scheinbar) stetig wachsenden Proletariat als revolutionärem Subjekt wurde die historische Aufgabe zugeordnet, dieses Durchgangsstadium erfolgreich sicher zu stellen. Wie genau diese Klassendiktatur ausgestaltet und welches
* Die Autorinnen und Autoren des Bandes haben den Begriff „Diktatur des Proletariats“ nach eigenem Ermessen entweder mit oder ohne Anführungszeichen verwendet. 1 Wörterbuch der Geschichte 1984, S. 237. 2 Marx 1962, S. 28. 3 Nippel 2018, S. 113.
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Institutionenarrangement hierfür maßgebend sein sollte, blieb bei den „Klassikern“ entweder unerwähnt oder aber an bestimmte zeitliche Kontexte gebunden.4 Die utopische Verheißung einer staatslosen Gesellschaft kollidierte in der Übergangsphase offensichtlich mit der in Aussicht gestellten vergrößerten Staatstätigkeit etwa im Wirtschaftsbereich, was Raum für die Schaffung eines neuen staatlichen Leviathans eröffnete. Erst Lenin, der das Konzept der autoritären „Partei neuen Typs“ kreierte, blieb es vorbehalten, jener „Gefahr“ zu erliegen, die der britische Ideenhistoriker Quentin Skinner darin erblickte, „verstreute und eher zufällige Bemerkungen eines klassischen Theoretikers zu einer konsistenten ‚Lehre‘“ zusammenzufassen, ja sogar zu einem „Mythos“ zu verdichten.5 Aus dem autoritären Konzept der „Partei neuen Typus“ – einer kommunistischen Kaderpartei gestählter Berufsrevolutionäre – und vor dem Hintergrund des „fehlenden Erfahrungshorizonts des Citoyen“6 erwuchs in Russland so eine autokratisch verfasste Parteidiktatur, die aufgrund der Minderheitenposition des Proletariats noch einmal militanter und gewaltaffiner in Erscheinung trat, als Marx und Engels sich dies überhaupt vorstellen konnten, und die gerade wegen der rückständigen gesellschaftlichen Verfassung als Modernisierungsmaschine funktionierte. Das sowjetrussische Modell der Partei-, Erziehungs- und Modernisierungsdiktatur dominierte nunmehr den Diskurs über den Begriff der „Diktatur des Proletariats“. Dass Marx und Engels eine „Diktatur des Proletariats“ nur in gesellschaftlich dafür „reifen“, vom Proletariat dominierten Gesellschaften für möglich gehalten und aus diesem Grund auch am allgemeinen Wahlrecht festgehalten hatten, geriet bald schon aus dem Blickfeld.7 Der vorliegende Band geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die am 26./27. August 2021 am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden stattfand. Der Band versucht den Blick über die bisher eher ideengeschichtlich fixierten Diktaturdebatten8 hinaus zu weiten, indem er neben diesen Diskursen auch Fragen nach der dadurch induzierten Staatlichkeit und der damit einhergehenden Begriffsverschiebungen ebenso in den Blick nimmt wie die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Revision einer „marxistischleninistisch“ dogmatisierten „Lehre“ von der „Diktatur des Proletariats“. Wer ein derart erweitertes inhaltliches Programm verfolgen will, ist seinerseits gezwungen, Schwerpunkte zu setzen und „Schneisen“ zu schlagen. Es geht mithin nicht um eine 4 Vgl. Hobsbawm 2012, S. 72 f.; Euchner 1990. Die zeitgenössische „Diktatur des Proletariats“, die Marx 1871 vor Augen hatte und beschrieb (ohne darin den Begriff zu erwähnen, das tat erst später Engels), war die Pariser Kommune, eine kommunale Räterepublik mit allgemeinem Wahlrecht unter Führung mehrerer linker Parteien – das war das „genaue Gegenteil einer Diktatur (im landläufigen Sinne)“. Hobsbawm 2012, S. 72. 5 Skinner 2010, S. 27. 6 Kossok 2016, S. 46. Das Kapitel bzw. der Aufsatz stammt von 1991. 7 Vgl. Schmeitzner 2018, S. 137. 8 Vgl. Draper 1987; Ehrenberg 1992.
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erschöpfende Behandlung des Themas, was angesichts der globalen Dimensionen auch kaum möglich erschiene; bestimmte Phänomene und Räume blieben notgedrungen unterbelichtet. Das betrifft hier etwa den außereuropäischen Raum sowie bestimmte Vordenkerinnen und Vordenker, die zwar in einzelnen Beiträgen thematisiert werden (so Rosa Luxemburg bei Schöler, Schmeitzner und Keßler), aber nicht – wie Marx/Engels, Lenin, Kautsky, Trotzki, Martow und die Austromarxisten – im Vordergrund stehen. Schwerpunkt ist ebenso wenig die frühe wissenschaftliche Auseinandersetzung, die vor allem durch Karl Diehl, Hans Kelsen, Carl Schmitt oder Arkadij Gurland geprägt wurde.9 Das schließt nicht aus, dass sich bestimmte Beiträge (Schöler und Behrends) da und dort mit diesen Wissenschaftlern auseinandersetzen. Im Zentrum stehen vielmehr vier Themenschwerpunkte, die den unterschiedlichen Deutungen und der Wirkmächtigkeit des Begriffs vornehmlich im 20. Jahrhundert nachspüren. Ausgehend von den Denkern und Vordenkern wird die frühe Staatlichkeit der Räterepubliken Russland, Ungarn und Bayern in den Blick genommen, die sich selbst als proletarische Diktaturen bezeichneten.10 Darauf folgen Untersuchungen zu kommunistischen Begriffsdiversifizierungen und Herrschaftsverhältnissen sowie zu Revision und Abschied von einem Begriff, der im (Herrschafts-)Kommunismus leninistisch aufgeladen war. Statt einer bloßen Addition von Denkern und Vordenkern und deren Interpretationen wird also bewusst einer Dialektik von Idee und Praxis, von ausformulierten Konzepten und neuer Staatlichkeit der Vorzug gegeben. Dadurch spielen hier sowohl realhistorische als auch ideen- und begriffsgeschichtliche Ansätze eine Rolle. Zielführend erscheint es dabei, die Veränderlichkeit und Mehrschichtigkeit des Begriffs mit Blick auf den „Erfahrungsraum“ und den „Erwartungshorizont“ der jeweiligen Zeit im Auge zu behalten und auszuloten.11 Dies gilt zumal angesichts der Begriffsentstehung im 19. Jahrhundert, als sich der neue Begriff der „Diktatur des Proletariats“ vom überkommenen klassischen „römischen“ Begriffsinhalt der „Diktatur“ ablöste und unter dem Einfluss französischer Revolutionen und Sozialisten zu einem „vorausschauenden Begriff“, mithin zu einem „Erwartungs-, Bewegungs- und Zukunftsbegriff“ avancierte.12 Hier setzen die Überlegungen und Fragen der 12 Beiträge an: Ausgehend von den Denkern und Vordenkern stehen im ersten Schwerpunkt die Begriffsgenese und die unterschiedlichen Deutungen im Fokus. Entscheidend ist zuerst die Frage nach der „Urheberschaft“ des Begriffs. Wilfried Nippel setzt ihn vor Marx und Engels an, die letztlich „nur“ französische und deutsche Einflüsse aufgenommen und ihn 9 Vgl. Diehl 1920; Kelsen 1920; Schmitt 1923, S. 63-77; Gurland 1930. 10 Anders als die kaum begründungspflichtigen Fallbeispiele Sowjetrussland und Räte-Ungarn wurde Räte-Bayern gegenüber der Räterepublik Bremen der Vielschichtigkeit der Entwicklung und der größeren historischen Bedeutung wegen favorisiert. 11 Koselleck 1995, S. 349-375. 12 Koselleck 2006, S. 100.
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mit dem Klassenkampfdenken verknüpft hätten. Dass beide den Begriff unscharf verwendeten, konstatieren Nippel und Schmeitzner, der gerade diese Unschärfen für die unterschiedlichen Auslegungen und Deutungskämpfe unter den maßgeblichen Epigonen Kautsky, Lenin und Trotzki verantwortlich macht. Dieser Hinweis reicht jedoch nicht aus, um zu erklären, weshalb die Führer der russischen Bolschewiki (Lenin, Trotzki) den Begriff im Sinne einer repressiv operierenden Parteidiktatur interpretierten, während der Cheftheoretiker der deutschen Sozialdemokratie (Karl Kautsky) denselben lediglich als Klassenherrschaft im Rahmen der parlamentarischen Demokratie und ohne jegliches Repressionspotential deutete und die von Schöler untersuchten Menschewiki und Austromarxisten eine eher vermittelnde Position einnahmen. Hier ist auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen, Traditionen, Erfahrungen und Ermöglichungsgründe in Deutschland, Russland oder Österreich zu verweisen, die zum Teil erheblichen Einfluss auf die Deutung des Diktaturbegriffs hatten – gerade auch mit Blick auf 1918/19. Diese Feststellung leitet mit der frühen Staatlichkeit der „Diktatur des Proletariats“ zu einem zweiten Schwerpunkt über. Dem Zusammenbruch der großen ostmitteleuropäischen Reiche am Ende des Ersten Weltkriegs und im Kontext der dort stattfindenden Transformationen folgten nicht von ungefähr Versuche der Implementierung einer „Diktatur des Proletariats“. Zwischen 1917 und 1919 schlug in diesen Räumen eben nicht nur die Geburtsstunde der liberalen Demokratie, sondern auch die der (proletarischen) Rätediktatur. Es war dies nicht zuletzt auch Ausdruck einer Ambivalenz der Moderne.13 Bemerkenswert ist, dass diese Form der neuen Staatlichkeit erstens in Zusammenbruchsgesellschaften und zweitens in mehrheitlich agrarisch verfassten Ländern wie Sowjetrussland, Räte-Ungarn und Räte-Bayern auftrat. Was „Räterepublik“ und „Rätediktatur“ konkret bedeutete, versuchen Helmut Altrichter, Bela Bodo und Bernward Anton zu klären, wobei in diesen Fallstudien deutlich wird, dass Ungarn und Bayern nicht einfach als „Blaupausen“ Sowjetrusslands zu betrachten sind. Auch wenn bestimmte Analogien in Bezug auf die Herausbildung von Räten (als Gegenstück zum Parlamentarismus), der Zurückdrängung (bzw. Ausschaltung) von Pluralismus, dem Aufbau neuer Zwangsapparate und staatswirtschaftlicher Intervention sichtbar werden, so übertraf doch die autokratische Herrschaft der Bolschewiki und deren Gewalttätigkeit die von linken Koalitionen geführten Regime in Ungarn und Bayern bei Weitem. Dieser Befund lässt sich gerade auch mit den unterschiedlichen Diktaturkonzeptionen der regierenden linken Akteure erklären, wie Bodo und Anton im Detail nachweisen können. Der dritte Schwerpunkt fokussiert die „Transformation der Diktatur“ in begrifflicher und ordnungspolitischer Hinsicht, wobei hier der Blick auf den Herrschafts-
13 Schmeitzner 2013.
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kommunismus und die frühen konzeptionellen Überlegungen der 1919 in Moskau gegründeten „Kommunistischen Internationale“ (KI) gerichtet ist. Die begrifflichen Verschiebungen unter dem Dach der KI zeichnet Stefan Weise für die frühen 1920er Jahre in Deutschland nach, der die innerparteilichen Debatten um das Konzept der „Arbeiterregierung“ als Möglichkeitsform einer (späteren) „Diktatur des Proletariats“ analysiert. Sie waren Ausdruck eines gewandelten Kräfteverhältnisses in Mittelund Westeuropa. Jan Claas Behrends wiederum untersucht die Begriffsverschiebungen bei Stalin, der zuerst die Lenin‘sche Deutung kanonisierte, um sich als legitimer Nachfolger durchsetzen zu können. Als er die historische Mission der „Diktatur des Proletariats“ in seinem Land als erfüllt ansah, postulierte er seit der Verfassung von 1936 mit „Sozialismus“ und „Demokratie“ neue Begriffe, die er bald schon mit großrussisch-imperialen Vorstellungen verband. Dass ungeachtet aller sowjetischen Begriffskonjunkturen die „marxistisch-leninistische Lehre“ von der „Diktatur des Proletariats“ erhalten blieb,14 analysiert Mario Keßler mit seiner Fallbeschreibung DDR, die er aus dem Blickwinkel von vier bekannten (kommunistischen) Kritikern des Diktatursystems vornimmt. Fast alle von ihnen bezogen sich dabei auf Rosa Luxemburgs frühe Partei- und Diktaturkritik an Lenin. Das hielt jedoch manchen von ihnen (wie Wolfgang Harich) nicht davon ab, eigene diktatorische Vorstellungen etwa hinsichtlich der ökologischen Frage zu ventilieren. Der vierte Schwerpunkt schließlich fokussiert den langen „Abschied von der Diktatur des Proletariats“ als Form der Lenin‘schen Parteidiktatur, was Überlegungen und konkrete Schritte zu Revisionen, d.h. zur Aufgabe dieser „Lehre“, ja sogar zum Selbstrückbau der Parteidiktatur meint. Als Sonderfall kommt hier zuerst das Beispiel Jugoslawien in Betracht, das schon Ende der 1940er Jahre aus dem osteuropäischen Lager ausscherte und mit der „sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung“ eigene Wege beschritt. Trotz Festschreibung der Einparteiherrschaft kam es – so Marie-Janine Calic – zu einem graduell repluralisierten System, das nur mehr verbal dem Diktaturbegriff Tribut zollte. Nikolas Dörr wiederum untersucht die ideologische Revision bedeutender Kommunistischer Parteien Westeuropas, die sich 14 Nach Stalins Versuch, die Phase der „Diktatur des Proletariats“ für beendet zu erklären, postulierte Nikita Chruschtschow Anfang der 1960er Jahre noch einmal die „historische Mission“ der „Diktatur des Proletariats“ in der Sowjetunion als erfüllt, da dort der Sozialismus errichtet worden sei und nun der „Übergang der Gesellschaft zum umfassenden Aufbau des Kommunismus“ beschritten werde. Meissner 1962, S. 103 f. Diese Theorie verbunden mit der Theorie vom neuen „Volksstaat“ überlebte Chruschtschows Sturz nicht. Unter seinen Nachfolgern wurde nicht nur mehr die „Lehre“ von der „Diktatur des Proletariats“ weiter vertreten, sondern gerade auch nach der Herausforderung durch den „Prager Frühling“ 1968 der Staat (die Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten) nun wieder häufiger als Form der „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet. Vgl. die Rede Leonid Breschnews von 1969 in: Internationale Beratung, S. 184. Die nunmehrige Phase der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ war nach Lesart der osteuropäischen Legitimationswissenschaften Teil der Übergangsperiode der „Diktatur des Proletariats“, die selbstverständlich die „Einführung der bis dahin umfassendsten Demokratie, der sozialistischen Demokratie“, bedeute. Wörterbuch der Geschichte, S. 238 f.
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in zeitlicher Koinzidenz zum niedergeschlagenen „Prager Frühling“, dem Versuch eines Selbstrückbaus der Diktatur,15 von der leninistischen Diktion der „Diktatur des Proletariats“ verabschiedeten. Der „Eurokommunismus“ in Italien, Spanien und Frankreich war – im Gegensatz zum gewaltsam beendeten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in Prag – nicht mehr rückgängig zu machen. Mit seinen „häretischen“ Einlassungen zur Überlegenheit der westlichen pluralistischen Demokratie über die als „sozialistische Demokratie“ gekennzeichnete „Diktatur des Proletariats“ der sowjetischen Einflusssphäre vertiefte der „Eurokommunismus“ die Risse im ideologischen Gebäude des europäischen (Herrschafts-)Kommunismus noch einmal entscheidend. Zuletzt zeigt Tom Thiemes Blick über die Zäsur von 1989 hinaus, dass die „Diktatur des Proletariats“ als Begriff und Legitimationsressource im (post-)kommunistischen Spektrum Osteuropas keine Rolle mehr spielt – und zwar vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit der realen Parteidiktatur.16 Aus der Rückschau des 21. Jahrhunderts mutet die atemberaubende „Karriere“ des Begriffs der „Diktatur des Proletariats“ im (frühen) 20. Jahrhundert seltsam anachronistisch an. Woher resultierten die zeitweilig hohe Durchschlagskraft und Faszination des Begriffs und der damit verbundenen Überlegungen? Womöglich daraus, dass hier keine „gewöhnliche“ Diktatur in Rede stand, sondern das Versprechen auf eine höhere Form der Demokratie: Aus sozialökonomischer und kapitalismuskritischer Perspektive wurde die Ablösung einer kleinen bevorrechtigten Schicht, der „Diktatur der Bourgeoisie“, durch eine Diktatur der Mehrheit, der Proletarier, das Wort geredet, die letztendlich den Staat und mit ihm jegliche Unterdrückung abschaffen und eine sozial gerechtere Assoziation aufbauen sollten. Dies war gewiss eine utopische Verheißung, die auch messianische Züge trug, und in der von Anfang an das Problem eingeschrieben war, dass in einer Übergangsphase die Tätigkeit des Staates (vor dessen „Absterben“) noch einmal deutlich vergrößert werden würde. Deswegen und vor dem Hintergrund der besonderen autokratischen Verwurzelung der russischen Gesellschaft war die Gefahr enorm, dass aus dem proletarischen Staat ein neuer Leviathan hervorging. Nicht die Diktatur der sich selbst verwaltenden Klasse wurde so kennzeichnend für das 20. Jahrhundert, sondern die Diktatur der Partei und ihres Führungspersonals, das im Namen des Proletariats die Gegenwart und Zukunft bewirtschaftete. Der Begriff erwies sich aber auch deswegen als so erfolgreich, weil er in seiner Prägung durch Marx und Engels relativ offen und damit deutungsfähig gehalten wurde. Lenin wie Kautsky konnten sich dadurch gleichermaßen auf ihn berufen, die Austromarxisten sowieso. Allerdings bedurften Lenin und die Bolschewiki des Begriffs als Legitimationsressource für die eigene autokra15 Vgl. Schulze Wessel, 2018, S. 67-90, 121 f., 134, 177-186. 16 Verwendet wird der Begriff nur noch von linken Splittergruppen wie der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), die tatsächlich eine „Diktatur des Proletariats“ fordern. Vgl. Mannewitz/Thieme 2020, S. 71.
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tische Herrschaft, was für ihre sozialistischen Kontrahenten nicht in gleichem Maße galt. Auch daraus resultierte die leninistische Deutungsdominanz, die gar in einer „Lehre“ mündete. Die Beiträge des Bandes belegen eindrucksvoll die „Karriere“ dieses Begriffs; sie zeigen aber auch die große Bandbreite der Begriffsdeutungen und der daraus resultierenden Staatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg. Und sie verdeutlichen den komplizierten kommunistischen Ablösungsprozess von einer „Lehre“, die als „Kernstück“ der „marxistisch-leninistischen“ Revolutionstheorie galt und deswegen auch so schwer war einfach (wieder) aufzugeben. Mit dem methodischen Rüstzeug Reinhard Kosellecks lässt sich die „Karriere“ bzw. Transformation des Begriffs inzwischen auch historisch begreifen: Abgelöst vom überkommenen klassischen „römischen“ Begriffsinhalt einer zeitlich und verfassungsmäßig befristeten Diktatur startete der auf eine gesellschaftliche Umwälzung bezogene Begriff der „Diktatur des Proletariats“ als „Erwartungs-, Bewegungsund Zukunftsbegriff“ im 19. Jahrhundert, um nach 1917 und dann für mehrere Jahrzehnte als „Legitimationsbegriff“ zu erstarren, bevor er sich nach 1989 in einen „Erfahrungsbegriff“ der jüngeren Geschichte verwandelte.17 Zu guter Letzt ist es die freudige Pflicht des Herausgebers, sich bei all jenen zu bedanken, die bei der Realisierung des Bandes hilfreich zur Seite standen. Dank gebührt an erster Stelle Rüdiger Voigt, der das Thema in die von ihm herausgegebene Reihe aufgenommen hat. Thomas Lindenberger, dem Direktor des Hannah-ArendtInstituts, danke ich dafür, dass er von Anfang an das Projekt inspirierend begleitete. Bei Hans-Martin Behrisch und Ronny Steinicke bedanke ich mich für die Unterstützung bei den Lektoratsarbeiten. Hans-Martin Behrisch hatte bereits die Tagung 2021 mit vorbereitet und über deren Ablauf berichtet.18
Literatur Behrisch, Hans-Martin, 2021: Konferenzbericht „Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat-Revision“. In: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127645 Diehl, Karl, 1920: Die Diktatur des Proletariats und das Rätesystem, Jena. Draper, Hal, 1987: The “Dictatorship of the Proletariat” from Marx to Lenin, New York. Ehrenberg, John, 1992: The Dictatorship of the Proletariat. Marxism´s Theorie of Socialist Democracy, New York. Euchner, Walter, 1990: Die Degradierung der politischen Institutionen im Marxismus. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Heft 18, S. 487-505. Gurland, Arkadij, 1930: Marxismus und Diktatur, Leipzig. Hobsbawm, Eric, 2012: Wie man die Welt verändert. Über Marx und Marxismus, München.
17 Koselleck 2006, S. 100; ders. 1995, S. 339. 18 Vgl. Behrisch 2021.
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Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien Moskau 1969, 1969: Prag. Kelsen, Hans, 1920: Sozialismus und Staat. Eine Untersuchung der politischen Theorie des Marxismus, Leipzig. Koselleck, Reinhard, 1995: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Auflage, Frankfurt am Main. Koselleck, Reinhard, 2006: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhard Kosellecks von Karsten Dutt, Frankfurt am Main. Kossok, Manfred, 2016: Sozialismus an der Peripherie. Späte Schriften, hrsg. von Jörn Schütrumpf, Berlin. Mannewitz, Tom/Thieme, Tom, 2020: Gegen das System. Linker Extremismus in Deutschland, Bonn. Marx, Karl, 1962: Kritik des Gothaer Programms. In: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. Band 19, Berlin (Ost), S. 13-32. Meissner, Boris, 1962: das Programm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln. Nippel, Wilfried, 2018: Karl Marx, München. Schmeitzner, Mike, 2013: Ambivalenzen des Fortschritts. Zur Faszination der proletarischen Diktatur in der demokratischen Revolution 1918-1920. In: Archiv für Sozialgeschichte 53, S. 113-145. Schmeitzner, Mike, 2018: Auf demokratischem Weg? Karl Kautsky und die Diktatur des Proletariats. In: Braune, Andreas/Hesselbarth, Mario/Müller, Stefan (Hrsg.), 2018: Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922. Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus?, Stuttgart, S. 135–155. Schmitt, Carl, 1923: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin. Schulze Wessel, Martin, 2018: Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Skinner, Quentin, 2010: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Mulsow, Martin/Mahler, Andreas (Hrsg.), 2020: Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin, S. 21-87. Wörterbuch der Geschichte, 1984: Band 1. A-K, Berlin (Ost).
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Denker und Vordenker der Diktatur des Proletariats
Wilfried Nippel Kein Urheberrecht: Marx, Engels und die Diktatur des Proletariats
„Diktatur des Proletariats“ wird zumeist im Kontext einer innersozialistischen Debatte thematisiert, deren Eckpunkte einerseits Marx und Engels, andererseits Lenin darstellen. Dabei wird angenommen, dass Marx dieses Konzept, wenn nicht erfunden, so doch entscheidend geprägt habe, auch wenn von ihm und Engels nur verstreute Äußerungen vorliegen, die erst von Lenin in den Status einer zentralen Lehre des ‚Marxismus‘ erhoben worden sind.1 An Darstellungen diesen Zuschnitts ist zum einen problematisch, dass sie den Kontext eines umfassenden Diktatur-Diskurses ausblenden, der mit der Französischen Revolution begann und in den europäischen Revolutionen von 1848/49 eine neue Konjunktur erfuhr. Zum anderen wird im Hinblick auf Marx und Engels oft ignoriert, dass briefliche Aussagen meistens erst lange nach ihrem Tod allgemein bekannt wurden und dass auch für andere Texte gilt, dass sie oft erst mit großem zeitlichen Abstand wahrgenommen beziehungsweise als von Marx/Engels stammend identifiziert wurden.2 Diesen Fallstricken ist durch einen umfassenderen begriffsgeschichtlichen Ansatz, der die jeweiligen zeitgenössischen Diskussionslagen berücksichtigt,3 und die Beachtung der Publikationsgeschichte der Texte von Marx und Engels zu entgehen.4
1. Das römische Urbild Da der Diktatur-Begriff aus der römischen Antike stammt und der Rückbezug auf eine spezifische Institution auch in der Neuzeit nie (ganz) verschwunden ist, sind einige kurze Bemerkungen dazu vorauszuschicken. In der römischen Republik war die dictatura eine außerordentliche Magistratur, die nicht – wie die regulären Ämter – durch Volkswahl bestellt wurde. Der Senat forderte in einer militärischen und / 1 Von zahlreichen lexikographischen Artikeln seien hier nur Leonhard 1966, Bergmann 1995 und Schmeitzner 2017 genannt. 2 Zur posthumen Entstehung eines Gesamtwerkes siehe Nippel 2020a. 3 Grundlegend ist Draper 1986. 4 Der vorliegende Text basiert auf meiner viel ausführlicheren Darstellung mit umfangreichen Nachweisen: Nippel 2019. Im folgenden muss ich mich weitgehend auf Zitatnachweise beschränken.
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oder innenpolitischen Krisensituation einen amtierenden Consul auf, einen dictator zu ernennen. Das sonst geltende Kollegialitätsprinzips wurde zwecks Vereinheitlichung des Kommandos ausgesetzt, ebenso das Recht der Bürger, gegen Strafmaßnahmen der Magistrate die Entscheidung der Volksversammlung anzurufen oder an Volkstribune zu appellieren. Der dictator war nicht befugt, die politische Ordnung eigenmächtig zu verändern, konnte dies nur auf dem regulären Weg der Gesetzgebung durch die Volksversammlung tun. Er konnte nicht abberufen werden, war aber verpflichtet, sein Amt spätestens nach sechs Monaten niederzulegen. Je früher er das tat, desto größer war sein Verdienst. Seit 501 v. Chr. (erstmalige Bestellung eines Dictators, acht Jahre nach Begründung der Republik) sind knapp 80 Fälle von solchen Ernennungen überliefert, ohne dass je von einem Missbrauch der Position die Rede wäre. Nach dem Ende des Zweiten Punischen Krieges 201 v. Chr. ist keine Diktatorenernennung mehr erfolgt, ohne dass die Institution als solche abgeschafft worden wäre.5 Später haben Sulla und Caesar die äußere Form der Dictatur reaktiviert, um ihrer faktischen Macht als Sieger in Bürgerkriegen Legitimität zu verleihen. Beide hielten daran fest, dass sie von anderen Instanzen ernannt wurden.6 Die Ende 82 v. Chr. eingerichtete Dictatur Sullas wurde zeitlich nicht begrenzt, sondern sachlich an die Wiederherstellung der inneren Ordnung gebunden; er hat seine Funktion dann nach ungefähr eineinhalb Jahren niedergelegt. Caesar hat sich seit 48 mehrmals für ein Jahr (was neu war) zum Dictator ernennen lassen; erst die Übertragung einer dictatura perpetua im Februar 44 bedeutete die definitive Aufgabe der republikanischen Fassade, was dann zu seiner Ermordung durch Senatoren führte. Anschließend wurde durch ein Gesetz bestimmt, dass in Zukunft niemand mehr Dictator werden dürfe. In der politischen Theorie der frühen Neuzeit bestand von Machiavelli bis Rousseau Konsens über die Vorbildhaftigkeit der ursprünglichen römischen Diktatur, gegen die der spätere Missbrauch durch Sulla und Caesar nicht zähle. In dieser Rezeption lag der Schwerpunkt auf der Bewältigung von Krisen im Inneren, nicht im Krieg gegen auswärtige Feinde. Eine Republik brauche eine entsprechende Einrichtung zur vorübergehenden Aufhebung von Beschränkungen der Exekutivgewalt, 5 Im einzelnen ist alles viel komplizierter. So gibt es Dictatoren, die nur deshalb ernannt wurden, weil die Consuln für die Durchführung von Wahlen und bestimmten Ritualakten wegen Feldzügen nicht nach Rom kommen konnten. Ernennungen für Kriegführung erfolgten oft, um eine zusätzliche Kommandeurstelle zu schaffen. In inneren Konflikten machten Dictatoren von ihrer Zwangsgewalt kaum Gebrauch, wirkten eher als Vermittlungsinstanzen. Das machte Sinn, wenn die Consuln zuvor bestimmte Maßnahmen konsequent abgelehnt hatte, der Senat aber nun Konzessionen für notwendig hielt; ein Dictator konnte diese dann ohne Gesichtsverlust machen. 6 Theodor Mommsen hat in seinem grundlegenden Werk zum römischen Staatsrecht (1887, S. 702ff.) die Dictaturen Sullas und Caesars strikt von den herkömmlichen unterschieden und als „außerordentliche constituierende Gewalten“ bezeichnet. Das ist von Carl Schmitt 1921 mit der Unterscheidung zwischen „kommissarischer“ und „souveräner“ Diktatur auf die Neuzeit übertragen worden. Beide Konstruktionen sind empirisch nicht haltbar; siehe Nippel 2011.
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um sich in einer Krise mit verfassungsmäßigen Mitteln erhalten zu können. Das musste nicht eine Kopie der römischen Institution sein, konnte auch durch Übertragung an ein Kollegium verwirklicht werden. Entscheidend war die Einsetzung nach rechtlich vorgegebenem Verfahren. Eine Diktatur in diesem Sinne hatte nichts mit einer Tyrannis gemein, die auf durch Usurpation errungene Machtstellung und / oder Überschreitung der einer legitimen Herrschaftsausübung gezogenen rechtlichen Schranken beruht.7
2. Ende der Eindeutigkeit: Französische Revolution Mit der Französischen Revolution hat der Diktaturbegriff diese Eindeutigkeit verloren. Einerseits blieb die traditionelle Vorstellung einer delegierten Ausnahmegewalt erhalten, andererseits wurde als illegitim bezeichnete Machtausübung nun promiscue als Diktatur oder Tyrannis bezeichnet. Diktatur in diesem Sinne war ein denunziatorischer Kampfbegriff, mit dem sich die Fraktionen und Revolutionsführer wechselseitig überzogen. Neu war die Vorstellung von Diktatur als Instrument der Gegenrevolution. Lafayette wurde verdächtigt, als Militärbefehlshaber im Auftrag des Königs oder aus eigenem Antrieb die seit 1789 von der Krone gemachten Konzessionen wieder aufheben zu wollen. Dem stand der Ruf nach einem Diktator in dem Sinne gegenüber, dass es zur Verteidigung der Republik und Sicherung der Revolution einer kurzfristigen Machtübertragung auf eine Person bedürfe. Marat hat gefordert, ein für ganz kurze Zeit amtierender Diktator solle die Häupter der Gegenrevolution vernichten; das sei dem Einsatz unkontrollierter Volksgewalt (wie zuletzt bei den Septembermorden 1792) vorzuziehen. Robespierre hat dies bis zuletzt abgelehnt, wurde aber von seinen Gegnern zunehmend als Diktator im Sinne eines illegitimen unumschränkten Machthabers denunziert; dass er bei seiner letzten Rede als „Diktator, Tyrann, Caesar, Catilina, Cromwell“ niedergeschrien wurde, zeigt, wie sich die herkömmliche Unterscheidung verwischt hatte.
3. Diktatur zur Etablierung einer neuen Gesellschaftsordnung Im Nachgang zur Revolution tauchte die revolutionäre Diktatur auf, die der grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaftsordnung dienen solle. Solche Ideen sind erstmals im Frühjahr 1796 in der Verschwörergruppe um Babeuf ventiliert worden. Ziel war die Wiederherstellung der Verfassung von 1793 (die nie in Kraft getreten war). Nach einem Staatsstreich solle jedoch die Einberufung von Urversammlungen bzw. die Wahl eines Nationalkonvents angesichts der „Unreife“ des Volkes für 7 Belege zur frühen Neuzeit bei Nippel 2012, S. 35-39.
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eine begrenzte Zeit verschoben und ein Diktator eingesetzt werden, der wirksame Schritte zur egalitären Umgestaltung der Gesellschaftsordnung unternehme. Dafür müsse man einen Mann mit höchster Tugend finden; dann sei, wie die Antike zeige, ein Missbrauch ausgeschlossen. Aber dieser Vorschlag wurde wieder verworfen; die Schwierigkeit, die richtige Person zu finden, die Ähnlichkeit zu einer Monarchie und die (inzwischen) negativen Konnotationen von Diktatur sprächen dagegen. Bekannt wurden diese Überlegungen durch Buonarottis Darstellung von 1828; sie haben dann Vorstellungen von Geheimgesellschaften im Umfeld von Auguste Blanquis Putschversuch von 1839 bestimmt. Etienne Cabet und Wilhelm Weitling gingen davon aus, dass die Umsetzung der von ihnen konzipierten Gesellschaftsmodelle in einer Anfangs- und (langen) Übergangsphase durch einen Diktator geleitet werden müsse, auch um Feinde der neuen Ordnung niederzuhalten. Bei Diskussionen im deutschen Londoner Arbeiterverein, Vorfeldorganisation des „Bundes der Gerechten“, hat Weitling 1845 gesagt: „Rufen wir den Kommunismus hervor durch revolutionäre Mittel, so müssen wir einen Diktator haben, der über alles gebietet“. In der gleichen Diskussion führte Karl Schapper aus, die Franzosen wollten alles mit politischen Revolutionen durchsetzen; auch Cabet denke an einen Diktator, „der mit seinem starken Willen, seinem erleuchteten Verstand, und seiner Humanität den Kommunismus vollständig einführe; so werde denn in einer fünfzigjährigen Übergangsperiode ein ganzes Volk in einen kommunistischen Staat versetzt“. Mehrheitsfähig waren diese Diktatur-Vorstellungen im Londoner Arbeiterverein jedoch nicht. Diese Diskussionen sind erst durch eine 1922 erfolgte Dokumentation allgemein bekannt geworden.8
4. Hochkonjunktur der Diktatur-Debatten: Die Revolutionen 1848/49 Geradezu inflationär wurde die Rede von Diktatur im Kontext der Revolutionen 1848. Die französische provisorische Regierung, die nach Abdankung des Königs Louis Philippe am 24. Februar 1848 die Macht während des verfassungspolitischen Vakuums vorübergehend übernommen hatte, bezeichnete sich selbst als notgedrungene Diktatur, hob jedoch hervor, dass sie den Übergang in eine neue konstitutionelle Ordnung so schnell wie möglich und ohne jede Verletzung von Bürgerrechten bewerkstelligt habe.9 Sie hatte den Vorschlag ihres sozialistischen Mitgliedes Louis Blanc abgelehnt, als „dictators appointed by the revolution“ Wahlen zu einer Nationalversammlung, bei der die rückständige Landbevölkerung gegenüber den aufgeklärten Städtern den Ausschlag geben werde, möglichst lange zu verschieben. Blanc 8 Nettlau 1922, Zitate S. 380 bzw. 378. 9 Lamartine 1849, S. 409ff.
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wollte also „vollendete Tatsachen“ schaffen, wenn er auch beteuerte, dass die künftige Nationalversammlung das letzte Wort haben müsse.10 Angesichts des Arbeiteraufstands gegen die Aufhebung der Nationalwerkstätten am 24. Juni 1848 übertrug die Nationalversammlung dem Kriegsminister Cavaignac die alleinige Exekutivgewalt und verhängte den Belagerungszustand, für den es eine gesetzliche Regelung gab. Es wurde allgemein von (Militär-)Diktatur gesprochen, auch wenn dies keine offizielle Bezeichnung war, aber dies drückte aus, dass es sich um eine rechtskonforme Ermächtigung handelte. Cavaignac hat am 28. Juni seine außerordentlichen Vollmachten an die Nationalversammlung zurückgegeben und wurde von dieser im Gegenzug zum Regierungschef ernannt, wobei der Belagerungszustand über Paris bestehen blieb (bis zum 19. Oktober). Ganz gegensätzlich war die Bewertung des massiven, rücksichtslosen Einsatzes des Militärs, der mindestens 3.000 Tote gekostet hatte, und der nachfolgenden Verurteilungen vieler Tausender durch Militärgerichte entweder als notwendige Rettung vor der „roten Gefahr“ oder als Massaker am Volk. In dem einen wie in dem anderen Sinne wurde Cavaignac dann auch in der deutschen Öffentlichkeit als Symbolfigur wahrgenommen. In Deutschland ist die Diktaturdebatte zuerst im Sinne einer Durchbrechung der bestehenden staatlichen Ordnung aufgekommen. Der neue preußische Ministerpräsident Ludolf Camphausen (seit 29. März 1848) hat darauf bestanden, das Wahlgesetz für die preußische und die deutsche Nationalversammlung vom alten Vereinigten Landtag verabschieden zu lassen. Die Regierung bewege sich auf dem „Rechtsboden“, könne das Gesetz nicht, wie gefordert werde, diktatorisch von sich aus erlassen. Rückblickend kommentierte dies Marx im September 1848 in der von ihm seit dem 1. Juni herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung (=NRhZ): „Jeder provisorische Staatszustand nach einer Revolution erfordert eine Diktatur, und zwar eine energische Diktatur. Wir haben es Camphausen von Anfang an vorgeworfen, daß er nicht diktatorisch auftrat, daß er die Überbleibsel der alten Institutionen nicht sogleich zerschlug und entfernte“.11 Dass eine vom König eingesetzte Regierung nicht wie eine provisorische revolutionäre Regierung handelte, war allerdings nicht überraschend. Im Juni hatte Marx (und/oder Engels) die deutsche Nationalversammlung in Frankfurt als „gelehrtes Konzil“ attackiert, das sich in „parlamentarischen Schulübungen“ ergehe. Die Volksvertretung müsse vielmehr „reaktionären Übergriffen überlebter Regierungen diktatorisch“ entgegentreten und werde dann einen Rückhalt
10 Blanc 1858, S. 296ff. Diese im Londoner Exil verfasste Rechtfertigungsschrift hat Blanc auf Englisch veröffentlicht. 11 MEW 5, S. 402 = MEGA² I/7, S. 698; NRhZ, 14. September 1848.
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im Volk finden, gegen den auch „Bajonette und Kolben“ nichts ausrichten könnten.12 Es ging Marx und Engels um die Souveränität der (deutschen wie preußischen) Nationalversammlung und die Ablehnung der Position, dass neue Verfassungen nur durch Vereinbarung mit den bestehenden Regierungen zustande kommen könnten. Eine wirklich revolutionäre Versammlung müsste dagegen wie der jakobinische Wohlfahrtsausschuss agieren.13 Bei den Artikeln von Marx und Engels in der NRhZ ist zu beachten, dass sie seinerzeit anonym erschienen sind und nach der (durch die Ausweisung von Marx erzwungenen) Einstellung der Tageszeitung (19. Mai 1849) auf längere Sicht kaum noch greifbar waren. Die wichtigsten Texte zu Deutschland 1848/49 sind als Texte von Marx und Engels erst durch die Edition von Franz Mehring 1902 bekannt geworden. Da Marx damals noch eine vollendete bürgerliche Revolution als notwendige Voraussetzung für eine spätere proletarische ansah, hielt er nichts von Forderungen nach einer „Klassen-Diktatur“. Als Wilhelm Weitling im Juli 1848 in Köln von der Notwendigkeit einer mindestens einjährigen provisorischen Regierung aus „denjenigen, welche die meiste Einsicht hätten“, sprach, deutete dies Marx als Forderung nach der Diktatur einer Klasse und hielt dem entgegen, dass eine solche Regierung aus den „heterogensten Elementen“ zusammengesetzt sein müsse.14 Der Vorstellung von Diktatur als Instrument zur Durchsetzung der Revolution stand auch im deutschen Kontext komplementär diejenige von Diktatur als Mittel der Gegenrevolution gegenüber. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hat Ende Juni 1848 ventiliert, die preußische Nationalversammlung aufzulösen und einen „Diktator“ einzusetzen, der ohne parlamentarische Kontrolle regieren könne. Seine Suche nach Kandidaten für diese Aufgabe blieb aber erfolglos. Der öffentliche Diktatur-Diskurs entzündete sich an den Maßnahmen der preußischen wie anderer Regierungen, der revolutionären Unruhen durch Verhängung des Belagerungszustands oder Erklärung des Kriegszustands (die Terminologie ist schwankend bzw. von Land zu Land unterschiedlich) für bestimmte Bezirke Herr zu werden. Dazu gehörten vom Militär verhängte Vereins-, Versammlungs-, Zeitungsverbote, auch die Einsetzung von Militärgerichten bei Widerstandshandlungen. In Preußen beruhte dies bis zum Erlass einer Notverordnung am 10. Mai 1849 auf einer höchst dubiosen Rechtsbasis.15 12 13 14 15
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MEW 5, S. 40f. = MEGA² I/7, S. 75f.; NRhZ, 7. Juni 1848. MEW 6, S. 111 = MEGA² I/8, S. 203; NRhZ, 16. Dezember 1848. Presseberichte bei Seidel-Höppner / Rokitjanski 1985, S. 163f. Gesetzesform erhielten diese Regelungen 1851. Art. 68 der Reichsverfassung von 1871 übertrug dem Kaiser das Recht, bei Bedrohung der öffentlichen Sicherheit jeden Teil des Reiches „in Kriegszustand“ zu erklären. Bis zur Verabschiedung eines Ausführungsgesetzes, die jedoch nie erfolgt ist, galten die Vorschriften des preußischen Gesetzes von 1851, außer in Bayern, das
Immer wieder war in der Öffentlichkeit kritisch von Militärdiktatur die Rede; synonym hieß es oft „Säbeldiktatur“, „Säbelregiment“ – so in zahlreichen Texten in der NRhZ, nicht nur solchen von Marx und Engels, aber auch bei anderen Kritikern dieser Maßnahmen. Als Diktator wurde der jeweilige örtliche Militärkommandeur bezeichnet. August Ludwig von Rochau hat 1853 rückblickend geschrieben: „Der Belagerungszustand ist die Verwirklichung des auf die höchste Spitze getriebenen Begriffs der Diktatur. Das wichtigste Werkzeug dieser Diktatur und die eigentliche Bürgschaft derselben ist das Kriegsgericht“.16 Von Aufständischen gebildete provisorische Institutionen verwendeten die gleiche Terminologie und die gleichen Instrumente. Die revolutionäre verfassunggebende Versammlung Badens hat am 13. Juni 1849 eine „provisorische Regierung aus drei Männern mit dictatorischer Gewalt“ eingesetzt, schon zuvor hatte man den Kriegszustand über Baden verhängt – in Konkurrenz zu einer entsprechenden Verfügung des geflohenen Großherzogs. Von Diktator oder diktatorischen Befugnissen ist zumindest im allgemeinen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit der Verleihung außerordentlicher Befugnisse an ein Dreiergremium (mit Mazzini) in Rom (Februar 1849), an Daniele Manin in Venedig (April 1849) oder Kossuth in Ungarn (ebenfalls April 1849) die Rede. Ob „legitime“ oder „revolutionäre“ Regierungen, „Diktatur“ bedeutete die temporäre Aussetzung von Bürgerrechten und Verfassungsregeln in einer Krisensituation, und die „Diktatoren“ handelten auf Grund delegierter Kompetenzen. Es zeigen sich Nachwirkungen des ursprünglichen Verständnisses, auch wenn das antike römische Modell kaum noch explizit herangezogen wurde.
5. Diktatur und Klassenkampf Eine neue Dimension bekam die Diktatur-Debatte, als in der Verarbeitung der Revolutionen die Konflikte als Klassenkämpfe verstanden wurden. Nun ging es nicht mehr um Rechtsregeln und Institutionen, sondern um gesellschaftliche Machtverhältnisse, bei denen aber diffus bleiben musste, wie eine Klasse eigentlich eine Diktatur ausüben kann. Das Denkmuster findet sich sowohl auf der rechten wie der linken Seite des politischen Spektrums. Anfang Januar 1849 hat Juan Donoso Cortés im spanischen Parlament eine Rede über die Diktatur gehalten. Sie war Teil einer Parlamentsdebatte, in der es um die 1912 ein eigenes Gesetz erließ. Auf dieser Basis wurde auch der Ausnahmezustand während des 1. Weltkriegs geregelt. Die Vollmachten des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung („Diktaturgewalt“) stehen in weitgehender Kontinuität zu diesen Regelungen. 16 Rochau 1853, S. 100.
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Anwendung eines „Gesetzes zur Ermächtigung der Regierung, die individuellen Garantien zu suspendieren“, ging, das von März bis Dezember 1848 gegolten hatte. Es stand der Vorwurf der Liberalen zur Debatte, die Regierung habe bei der Niederschlagung von Unruhen die mit der „legalen Diktatur“ übertragenen Vollmachten überschritten. Donoso Cortés wollte sich aber auf diesen Punkt nicht einlassen. Wenn die Legalität zur Rettung der Gesellschaft nicht ausreiche, bleibe nur die Diktatur. Es gehe allein um die Frage: Diktatur des Aufstands oder Diktatur der Regierung, Diktatur von unten oder von oben, Diktatur des Dolches oder des Säbels – und für ihn konnte die Entscheidung nur zugunsten der Diktatur von oben ausfallen. Die Rede von Donoso Cortés hat durch Nachdrucke und Übersetzungen in vielen Ländern Europas große Beachtung gefunden. Ob Marx diesen Text kannte, ist nicht festzustellen; zitiert hat er ihn jedenfalls nicht. Aber in der Analyse stimmt er im Prinzip überein. In der von ihm in London herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue (=NRhZ-Revue) hat Marx von Januar bis März 1850 eine Artikelreihe über die Entwicklung in Frankreich 1848/49 veröffentlicht. Hier heißt es: die „Militärdiktatur“ Cavaignacs im Juni 1848 war „nicht die Diktatur des Säbels über die bürgerliche Gesellschaft, das war die Diktatur der Bourgeoisie durch den Säbel“;17 ferner: die französische Bourgeoisie, die nach den Wahlen vom März 1850 die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts verlange, sage nun: „Unsere Diktatur hat bisher bestanden durch den Volkswillen, sie muß jetzt befestigt werden wider den Volkswillen“.18 Dagegen habe das Proletariat nun erkannt, dass sich seine Lage innerhalb einer bürgerlichen Republik nicht verbessern lasse; deshalb der Ruf: „Sturz der Bourgeoisie! Diktatur der Arbeiterklasse!“19 Das Proletariat gruppiere sich „immer mehr um den revolutionären Sozialismus, den Kommunismus, für den die Bourgeoisie selbst den Namen Blanqui erfunden hat. Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt […]“.20 „Konstitutionelle Republik“ (der Ausbeuter) und „sozial-demokratische, rote Republik“ (der Arbeiter) sind jeweils die Diktatur einer Klasse.21 Marx erscheint hier mehr in der Rolle des Kommentators der französischen Debatten, nicht als Propagator eigener Ideen, selbst wenn er sich mit den Vorstellungen der französischen Linken identifiziert. In der (linken) Neuen Deutschen Zeitung vom 22. Juni 1850 ist Marx’ Rede von der Diktatur der Arbeiterklasse kritisiert worden. Ziel einer neuen Revolution dürfe 17 18 19 20 21
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MEW 7, S. 40 = MEGA² I/10, S. 145. MEW 7, S. 94 = MEGA² I/10, S. 195. MEW 7, S. 33 = MEGA² I/10, S. 139. MEW 7, S. 89 = MEGA² I/10, S. 192. MEW 7, S. 85 = MEGA² I/10, S. 187.
doch nicht „die Übertragung der Herrschaft von einer Klasse an die andere“, sondern müsse die „Vernichtung der Klassenunterschiede“ sein.22 Marx reagierte darauf mit einer kurzen Zuschrift, die am 4. Juli in der Zeitung gedruckt wurde. Er verstehe den Einwand nicht. Schließlich sei doch schon im Kommunistischen Manifest erklärt worden, dass das in einer Revolution siegreiche Proletariat, wenn es als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebe, damit alle Klassenherrschaft, auch seine eigene, überwinde. Das habe schon in seiner Schrift gegen Proudhon (Misère de la philosophie, 1847) gestanden. Marx fügte ausdrücklich an, dass beide Texte vor der Februarrevolution von 1848 entstanden seien. Inhaltlich sei dies deckungsgleich mit dem, was er jüngst in seiner Zeitschrift geschrieben habe.23 Er wiederholt die entsprechende (oben wiedergegebene) Passage. Das heißt: nur die Diktatur-Terminologie ist in diesem Zusammenhang neu, nicht die Sache. Oder kontrafaktisch formuliert: wäre das Kommunistische Manifest erst nach den Erfahrungen und Debatten der Revolutionen 1848/49 geschrieben worden, wäre darin auch das richtige Verständnis von Diktatur des Proletariats vermittelt worden. Wieviel Resonanz Marx’ Artikel zu Frankreich 1848/49 seinerzeit insgesamt gefunden haben, ist schwer zu sagen. Letztlich war die NRhZ-Revue ein Fehlschlag und musste im Herbst 1850 wieder eingestellt werden. Die Texte zu Frankreich 1848 haben erst mit der Neupublikation durch Engels 1895 große Wirkung entfaltet.24
6. Ungeklärte Urheberschaft: Kommunisten, Blanquisten und andere Marx hat sich im Londoner Exil von der Vorstellung verabschiedet, das Proletariat müsse zunächst den Erfolg einer bürgerlichen Revolution abwarten, bevor es an die sozialistische gehen könne. Vielmehr müsse man durch den Aufbau einer eigenen Organisation und mit entsprechenden Aktionen dafür sorgen, dass die Revolution nicht mit der Erfüllung bürgerlicher Forderungen abgewürgt werden könne; das war die Revolution in Permanenz, „bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert [ist]“, wie der Kommunistenbund in London im März 1850 forderte,25 der bald darauf auch seine Verbindung mit den Blanquisten erklärte.26
22 Zitiert MEGA² I/10, S. 952. 23 MEW 7, S. 323 = MEGA² I/10, S. 354. 24 Zur Bedeutung von Engels’, mit jeweils eigenen Einleitungen versehenen Neuveröffentlichungen von Marx-Texten siehe Nippel 2017. 25 Ansprache [=Rundschreiben] der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten, ca. 20. März 1850; MEW 7, S. 244-254 = MEGA² I/10, S. 254-263, endend mit diesem „Schlachtruf“. 26 Ansprache der Zentralbehörde, Anfang Juni 1850; MEW 7, S. 312 = MEGA² I/10, S. 341. Über Pläne der Blanquisten in Frankreich, ein Revolutionskomitee mit Blanqui an der Spitze
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Etwa im April 1850 hat sich in London die „Société universelle des communistes révolutionnaires“ konstituiert. Das Bündnis ist von Marx, Engels und August Willich für den „Bund der Kommunisten“, zwei Vertretern der nach England emigrierten Blanquisten und von Julian Harney als Repräsentant des linken Flügels der Chartisten geschlossen worden. Im, auf Französisch verfassten Statut heißt es: „Das Ziel des Bundes ist der Sturz aller privilegierten Klassen, die Unterwerfung dieser Klassen unter die Diktatur des Proletariats [dictature des prolétaires] durch die Aufrechterhaltung der Revolution in Permanenz bis zur Verwirklichung des Kommunismus, der die letzte Form der Organisation der menschlichen Gemeinschaft [famille humaine] zu sein hat“.27 Diesen Text kannten wohl nur die sechs Unterzeichner (und gegebenenfalls ein paar Eingeweihte). Das nur auf dem Papier bestehenden Bündnis ist bald wieder aufgelöst worden. Das Statut ist erst in den späten 1920er Jahren publiziert worden.28 Die Debatte, was hier genuin „marxistisch“ und was genuin „blanquistisch“ ist, ist müßig, weil es bis Mitte 1850 noch eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Positionen im Bund der Kommunisten und denjenigen, die mit dem Namen Blanqui assoziiert wurden, 29 gab. Der Marx-Intimus Conrad Schramm hat auf einem internationalen Bankett in London zur Erinnerung an den Geburtstag von Robespierre (5. April 1850) in Gegenwart von Marx über die „Notwendigkeit der Diktatur der Arbeiter über sämtliche anderen Klassen der Gesellschaft bis zu deren gänzlichen Vernichtung und Beseitigung der dieselben bedingenden Verhältnisse [gesprochen]. Er endete mit einem Hoch auf Aug[uste] Blanqui, den fortgeschrittensten Vertreter des französischen Proletariats“.30 Die Rede von der Diktatur des Proletariats oder der Arbeiterklasse als Reaktion auf die Erfahrung der Unterdrückung lag damals in der Luft. Man findet sie z. B. in Textsammlungen von Emil Ottokar Weller, dem Leipziger Verleger sozialistischer Literatur. Wenn man die zahlreichen Pamphlete und die oft ephemeren Zeitungen durchforstete, würde man sicherlich eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen finden. Aufschlussreich ist ein, wahrscheinlich auf Sommer 1850 zu datierender Brief des Studenten Johannes Miquel an Marx.31 Er stellte sich als Begründer einer klei-
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einzusetzen und das Parlament für zehn Jahre zu suspendieren, hatte der ehemalige NRhZ-Redakteur Ernst Dronke Anfang Mai 1850 Engels informiert; MEGA² III/3, S. 541f. MEW 7, S. 553 = MEGA² I/10, S. 568. Rjazanov 1928, und zwei Jahre zuvor in einer russischen Publikation. Das Papier befand sich im Nachlass von Engels, der auf Bernstein übergegangen war. Bernstein hatte aus unbekannten Gründen davon keinen Gebrauch gemacht. Blanqui hat sich von 1839 bis 1879 bis auf kurze Unterbrechungen im Frühjahr 1848 und 1870 ständig in Haft befunden; programmatische Texte, die er seit den späteren 1860er Jahren verfasst hat, sind überwiegend erst nach seinem Tod (1881) veröffentlicht worden. Bericht in dem radikalen Blatt Die Hornisse (Kassel), 17. April 1850; zit. MEGA² I/10, S. 1076. Als Geburtsdatum Robespierres wurde 6. April (nicht: Mai) angenommen. MEGA² III/3, S. 592f. Zur Datierung auf Sommer 1850 (und nicht wie bei der Erstpublikation durch Bernstein 1914 auf 1849) siehe ebd. 1324.
nen kommunistischen Gruppe in Göttingen vor, die Anschluss an den „Bund der Kommunisten“ suche. „Kommunist und Atheist [,] will ich wie Sie die Diktatur der Arbeiterklasse. Meine Mittel wähle ich einzig und allein nach der Zweckmäßigkeit“. Bei der nächsten Revolution müsse man solange wie möglich die Einberufung einer konstituierenden Versammlung verhindern, durch „partikulären Terrorismus“ und „lokale Anarchie“ das Klassenbewusstsein der Arbeiter, Tagelöhner und Bauern schärfen; so sei „vielleicht für kurze Zeit die Diktatur unserer Partei“ durchzusetzen. Was hier eigene oder irgendwo „aufgeschnappte“ Ideen, was Adaption Marx’scher Konzepte ist, lässt sich nicht sagen. Miquel hat später während seiner langen politischen Karriere32 immer befürchtet, er könne mit diesem Brief bzw. weiteren Schreiben an Marx politisch diskreditiert werden. Publik gemacht hat den Brief erst August Bebel auf dem SPD-Parteitag 1893, als er die einschlägige Passage vorgelesen hat. Gedruckt worden sind die Briefe Miquels an Marx erst von Eduard Bernstein 1914. Joseph Weydemeyer, Marx’ wichtigster „Agent“ in der deutschen Emigrantenpresse in den USA, hat am 1. Januar 1852 in der Turn-Zeitung (New York), weitverbreitetes Organ der sozialistischen Turnervereine, einen Artikel mit der Überschrift „Die Diktatur des Proletariats“ veröffentlicht, der über weite Teile aus Paraphrasen und Zitaten des Kommunistischen Manifestes bestand (allerdings ohne Quellenangabe).33 Die Herrschaft des Proletariats habe nichts gemein mit „vandalischer Rohheit“; sie sei die letzte Herrschaft überhaupt, weil sie alle Klassenverhältnisse auflöse und jede Herrschaft beende. Er schließt mit der Feststellung: „Soll eine Revolution siegreich durchgeführt werden, so verlangt sie eine konzentrierte Gewalt, eine Diktatur an der Spitze. Die Diktatur Cromwells war nötig, um die Suprematie der englischen Bourgeoisie zu begründen, dem Terrorismus der Pariser Kommune und des Wohlfahrtsausschusses gelang es erst, den Widerstand der Feudalherren auf französischem Boden zu brechen. Ohne die Diktatur des in den großen Städten konzentrierten Proletariats wird der bürgerlichen Reaktion kein Ende gemacht werden“. Weydemeyer steht damit in der Tradition von den Jakobinern über Babeuf bis Blanqui bzw. auch Louis Blanc 1848. Marx hat in einem Brief an Weidemeyer vom 5. März 1852 dessen Vorstellungen implizit korrigiert. Er habe nicht das Konzept von Klassen und Klassenkampf erfunden, das hätten schon lange vorher bürgerliche Historiker und Ökonomen getan. Originalität beanspruche er nur für die Nachweise, dass erstens „die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Production gebunden ist; zweitens, daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; drit-
32 Miquel war preußischer bzw. Reichstagabgeordneter seit 1867, Oberbürgermeister in Osnabrück 1876-1880 und in Frankfurt am Main 1880-1890, ab 1890 preußischer Finanzminister. 33 In: Der Bund der Kommunisten, Bd. 3, S. 129.
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tens, daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet“.34 Marx hat – entgegen einer verbreiteten Lesart – hiermit nicht beansprucht, den Begriff Diktatur des Proletariats geprägt, sondern nur den Zusammenhang mit dem Übergang zur klassenlosen Gesellschaft festgestellt zu haben. Der Brief an Weydemeyer, in dem diese Passage nur eine Zwischenbemerkung ist, ist erst 1907 (von Mehring) veröffentlicht worden. Die Feststellung, dass Marx mit diesen lapidaren Zeilen „mit erstaunlicher Prägnanz […] das Wesen seiner Lehre vom Staat zum Ausdruck gebracht“, hat Lenin Ende 1918 getroffen.35 Marx hatte sich schon im Herbst 1850 von der Naherwartung einer neuen Revolution verabschiedet, was die Spaltung des Kommunistenbundes zur Folge hatte. In der anderen Fraktion Willich/Schapper wurde die Revolutionshoffnung weiter gehegt und verband sich auch mit Gedankenspielen über eine revolutionäre Militärdiktatur, wie durch den Kölner Kommunistenprozess vom November 1852 bekannt wurde. Die Verfolgungen von 1851/52 bewirkten aber auch, dass wegen Beschlagnahmungen oder vorsorglichen Vernichtungen die Dokumente (beider Fraktionen) des Bundes der Kommunisten über längere Zeit kaum noch zugänglich waren.36 Die Rede von Diktatur des Proletariats hat sich während oder in der unmittelbaren Rückschau auf die Revolutionen von 1848/49 etabliert, vielleicht zuerst in Frankreich, ohne dass eine eindeutige Urheberschaft zuzuweisen wäre. Welche Rolle Marx bei der Verbreitung der Idee im deutschsprachigen Publikum gespielt hat, ist nicht eindeutig festzustellen.
7. Innerparteiliche Diktatoren In den beiden folgenden Jahrzehnten ist Diktatur und Proletariat vor allem im Zusammenhang mit dem tatsächlichen und vermeintlichen Machtstreben einzelner Personen diskutiert worden, die innerhalb ihrer Bewegung bzw. Organisation eine uneingeschränkte Führungsrolle beanspruchten. Das war älter; als Diktator waren z. B. Chartistenführer in den 1840er Jahren aus den eigenen Reihen angegriffen 34 MEW 28, S. 507f. = MEGA² III/5, S. 76. 35 Lenin 1918, S. 424. (Die Passage ist ein Zusatz zur zweiten Auflage von „Staat und Revolution“ Ende 1918, geschrieben nach der Kontroverse mit Kautsky). 36 Dokumentiert waren sie jedoch bei Wermuth (Polizeidirektor von Hannover) und Stieber (preußischer Polizeirat, der die Kommunistenverfolgung mit kriminellen Methoden betrieben hatte) 1853/54, einem Handbuch zunächst für dem Dienstgebrauch von Polizeibehörden. Es ist erst später allgemein zugänglich geworden. Engels hat es 1885 als ein, von „zwei der elendsten Polizeilumpen unseres Jahrhunderts zusammengelogene[s], von absichtlichen Fälschungen strotzende[s] Machwerk“ bezeichnet, das „noch heute allen nichtkommunistischen Schriften über jene Zeit [bis 1852] als letzte Quelle“ diene (MEGA², I/30, S. 89), musste für den Abdruck von Dokumenten des Kommunistenbundes aber selbst darauf zurückgreifen.
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worden. Wilhelm Weitling wurde nachgesagt, eine solche Stellung innerhalb der deutschen Arbeiterorganisationen im Ausland anzustreben. Karl Henzen hatte diesen Vorwurf 1848 an Marx und Engels adressiert, der ehemalige NRhZ-Korrespondent Eduard Müller Tellering (wenn auch aus lächerlichem Anlass) 1850 ebenso, schließlich 1851 Ludwig Simon, der in der Frankfurter Nationalversammlung prominenter Sprecher der Linken gewesen war. Virulent wurden diese Diskussionen mit der Formierung von wirklichen Arbeiterorganisationen. Ferdinand Lassalle hatte sich bei Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) Ende Mai 1863 ausbedungen, dass seine Befugnisse als Präsident so „diktatorial wie möglich“ sein müssten, die „individuelle Vielschwätzerei überlasse man der Bourgeoisie“.37 In seiner letzten großen Rede in Ronsdorf (22. Mai 1864) hat er die berühmte Formel von der „Diktatur der Einsicht“ geprägt. Sie sei eine „auf höchster fortgesetzter Freiwilligkeit beruhende Autorität“, entspreche dem Ziel der Arbeiter, ihren Willen „in einen einzigen Hammer zusammenzuschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes [zu] legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen“ sie Vertrauen hätten.38 Marx und Engels haben privat wiederholt über Lassalle als Arbeiterdiktator hergezogen. In den anhaltenden Streitigkeiten nach Lassalles Tod sind dessen Nachfolger Bernhard Becker und Johann Baptist von Schweizer immer wieder als Diktatoren angegriffen worden, die willkürlich und statutenwidrig agierten. Dagegen wurde von den Opponenten die auf Freiwilligkeit und Vertrauen beruhende Diktatur Lassalles beschworen.39 Die Parallelen zur zeitgenössischen Diskussion über Caesarismus oder Bonapartismus, in der die einen die demokratische Legitimation lobten, die anderen die autokratische Herrschaftspraxis kritisierten, sind evident. Auch in der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) war Diktatur ein beliebter Vorwurf. Die Gegner der von Marx verlangten stärkeren Stellung des Leitungsgremiums warnten vor einer „Diktatur des Generalrats“. Als Ende der 1860er Jahre die internen Konflikte zur Konfrontation zwischen Marx und Bakunin gerierten, gehörte zum Arsenal der wechselseitigen Schmähungen, der jeweils andere wolle sich zum Diktator aufschwingen. Der Diktatur-Vorwurf hatte dann eine gewisse Plausibilität, wenn es um Regelverletzungen und unsaubere Machenschaften innerhalb der Organisationen ging, wurde aber auch zur billigen Polemik in internen Auseinandersetzungen.40 37 Brief Lassalles an Peter Gerhard Röser, 12. Mai 1863; in: Dokumente des Sozialismus, Bd. 4, 1904, S. 474f.; ähnlich Lassalle mündlich am Rand der Gründungsversammlung; Becker 1874, S. 49. 38 Lassalle 1919, Bd. 4, S. 226f. 39 Belege bei Nippel 2018b. 40 So gab es später in der Sozialdemokratie diesen Vorwurf an die Adressen der Reichstagsfraktion als einziger legal operierenden Organisation während des Sozialistengesetzes, des Parteivorstands wegen seines Ausbremsens der radikalen „Jungen“ nach Wiederzulassung der Partei 1890, oder Bebels wegen seiner Dominanz auf Parteitagen, etc.
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8. Lehren aus der Pariser Kommune Die nächste Diskurs-Runde folgte nach der Pariser Kommune. Schon während der Kommune (ab 18. März 1871) war von Vertretern unterschiedlicher Richtungen kontrovers diskutiert worden, ob man für ihren Sieg einer Diktatur (hier in Form des nach jakobinischem Muster schließlich am 4. Mai eingesetzten Wohlfahrtsausschusses) bedürfe oder damit die eigenen Freiheitsproklamationen verrate. Das hat sich in späteren Debatten in dem Sinne fortgesetzt, ob eine Diktatur die Kommune hätte retten können oder nicht.41 Marx hat unmittelbar nach der blutigen Niederschlagung der Kommune (21.-28. Mai) im Namen der IAA eine Stellungnahme vorgelegt, die auf eine Apotheose der ‚Märtyrer‘ der Arbeiterklasse hinauslief. Dass er diesen Text verfasst hatte, ist bald bekannt geworden. The Civil War in France ist dank verschiedener Übersetzungen (die deutsche Fassung Der Bürgerkrieg in Frankreich stammt von Engels) seine zu Lebzeiten am weitesten verbreitete Schrift gewesen. In ihr war aber von Diktatur des Proletariats keine Rede, auch wenn das später oft suggeriert worden ist. Das hätte intensivierte Herrschaft impliziert. Marx hat aber – wider besseres Wissen – das idyllische Bild hierarchie- und repressionsfreier kollektiver Selbstorganisation gezeichnet.42 Später betonte Marx den anderen Aspekt, dass nämlich die Kommune den Fehler gemacht habe, auf diktatorische Maßnahmen zu verzichten.43 In einer Rede zum 7. Jahrestag der IAA am 25. September 1871 hat er nach einem englischen Zeitungsbericht gesagt, die Überwindung der Klassenherrschaft könne nur durch eine Diktatur des Proletariats (proletarian dictature – sic) erfolgen, das Proletariat müsse mit seiner Armee seine Emanzipation auf dem Schlachtfeld erkämpfen.44 Diese Vorstellung verfochten Marx und Engels gegen Anarchisten (unterschiedlicher Couleur) und Blanquisten. Leider ist Marx nicht auf die Vorhersage von Bakunin 1873 eingegangen, die von den Marxisten propagierte Herrschaft des Proletariats könne doch nicht durch die Gesamtheit wahrgenommen werden, müsse deshalb hinauslaufen auf eine Diktatur einer privilegierten Minderheit ehemaliger Arbeiter, die sich als wissenschaftliche Sozialisten verstünden.45 41 Koechlin 1950, S. 124-134. 42 Vgl. für eine knappe Charakterisierung Nippel 2018a, S. 105f. 43 Dass die Kommune an ihrer „Gutmütigkeit“ scheitern werde, dass man viel zu früh Wahlen durchgeführt und versäumt habe, den Bürgerkrieg von sich aus zu eröffnen, hatte Marx schon am 12. April 1871 an Kugelmann geschrieben; MEW 33, S. 205; seine Briefe an Kugelmann sind aber erst 1902 veröffentlicht worden. In seinem Vorwort zur russischen Übersetzung der Briefe an Kugelmann hat Lenin 1907 betont, aus der Kommune sei zu lernen, dass man vor dem Bürgerkrieg nicht zurückschrecken dürfe; weiter Lenin 1908. 44 MEW 17, S. 433; im englischen Original: MEGA² I/22, S. 479. 45 Bakunin 1972, S. 613f. – Marx hat aus Bakunins Buch umfangreiche Exzerpte verfasst und mit eigenen Kommentaren vermischt, dies aber nur zur Selbstverständigung getan (MEW 18, S. 599-642); die Bemerkungen zum Diktatur-Vorwurf Bakunins sind blass (S. 636ff.).
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In einem im Januar 1873 geschriebenen, wohl an die Adresse der Proudhonisten gerichteten Artikel („L’indifferenza in materia politica“) für einen italienischen Almanach hat Marx gesagt, der Kampf der Arbeiterklasse müsse in gewaltsamer Form durchgeführt werden, um deren revolutionäre Diktatur an die Stelle der Diktatur der Bourgeoisie zu setzen; der Staat könne noch nicht abgeschafft werden.46 Im gleichen Organ hat Engels gegen die „Antiautoritären“ (Bakunisten) gesagt, eine Revolution könne nicht mit der Abschaffung des Staates beginnen. Eine Revolution „ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen […] aufzwingt; und die siegreiche Partei muß […] dieser Herrschaft Dauer verleihen [….]. Hätte die Pariser Kommune nur einen einzigen Tag Bestand gehabt, wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht dieser Autorität des bewaffneten Volks bedient hätte? Kann man sie nicht, im Gegenteil, dafür tadeln, daß sie sich ihrer nicht umfassend genug bedient hat?“47 Diese beiden Stellungnahmen von Marx und Engels waren aber publizistische Totgeburten, da das italienische Organ bald verschollen ist; erst Rjazanov hat diese Texte wieder ausgegraben und 1913 in deutscher Übersetzung publiziert. Eine größere Öffentlichkeit haben nur zwei Stellungnahmen von Engels erreicht, die im Parteiorgan Der Volksstaat veröffentlicht worden sind. Am Ende seiner Artikelserie „Zur Wohnungsfrage“ kritisierte Engels Ende 1872 den Proudhonismus und dessen Absage an den Klassenkampf, die Ausdruck eines kleinbürgerlichen Illusionismus mit dem Gerechtigkeitsgefasel aus der Kindheit der Arbeiterbewegung sei. „Jede wirkliche proletarische Partei, von den englischen Chartisten an“, habe „die Organisation des Proletariats als erste Bedingung, und die Diktatur des Proletariats als nächstes Ziel des Kampfes hingestellt“.48 Das ist bezüglich der Chartisten eine kontrafaktische Behauptung und wirft zudem die Frage auf, welche anderen Parteien eigentlich dieses Postulat aufgestellt haben sollen. An gleicher Stelle hat Engels den Blanquisten attestiert, sie hätten sich „fast buchstäblich“ zu den „Anschauungen des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus bekannt“, nämlich zur „Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und seiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassen und, mit ihnen, des Staats – wie solche bereits im Kommunistischen Manifest und seitdem unzählige Male ausgesprochen worden“.49 Explizit ist, wie schon erwähnt, im Kommunistischen Manifest von Diktatur des Proletariats keine Rede. Engels beruft sich auf ein Pamphlet Londoner Blanquisten. Auf dem Haager Kongress der IAA (2.-7. September 1872) hatten sie gemeinsam mit Marx gegen den Widerstand der Anarchisten den 46 47 48 49
MEW 18, S. 300; italienisch (wohl aus französischer Vorlage übersetzt): MEGA² I/24, S. 105f. MEW 18, S. 308; italienisch (wohl aus französischer Vorlage übersetzt): MEGA² I/24, S. 86. MEW 18, S. 268 = MEGA² I/24, S. 63. MEW 18, S. 266 = MEGA² I/24, S. 62.
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Zusatz zu den Statuten der IAA durchgesetzt, dass sich das Proletariat in eigenständigen politischen Parteien organisieren solle und zur Abschaffung der Klassengesellschaft und Entmachtung der Großgrundbesitzer und Kapitalisten die politische Macht erobern müsse (conquest of political power).50 In der von Marx und Engels handstreichartig durchgesetzten Verlegung des Generalrats der IAA nach New York sahen die Blanquisten jedoch eine faktische Sabotage dieses Ziels, verließen die Organisation und veröffentlichten am 15. September das von Engels genannte Pamphlet, in dem die Notwendigkeit eines gnadenlosen, unermüdlichen Klassenkampfs und der Diktatur des Proletariats zur Durchsetzung einer klassenlosen Gesellschaft gefordert wird.51 Ende Juni 1874 äußerte sich Engels erneut im Volkstaat, nun unter der Überschrift „Flüchtlingsliteratur“, zu einem gerade veröffentlichten neuen Manifest dieser Gruppe, die sich nun „La Commune Révolutionnaire“ nannte.52 Jetzt erwähnt Engels, dass die Blanquisten aus der IAA ausgetreten seien, weil sie ihr Revolutionskonzept nicht durchsetzen konnten. Dies stehe in der Tradition von Blanqui, der ein „Sozialist nur dem Gefühl nach“ und „Revolutionär der vorigen Generation“ sei. Weil „Blanqui jede Revolution als den Handstreich einer kleinen revolutionären Minderheit auffasst, folgt von selbst die Notwendigkeit der Diktatur nach dem Gelingen: der Diktatur wohlverstanden, nicht der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen Zahl derer, die den Handstreich gemacht haben und die selbst schon im voraus wieder unter der Diktatur eines oder einiger wenigen organisiert sind.“53 Dieses Konzept ziele auf sofortiges Losschlagen, ignoriere, dass „nach dem furchtbaren Aderlass der Maitage 1871 […] jeder verfrühte Versuch einer Erhebung nur eine neue, vielleicht noch furchtbarere Niederlage zur Folge haben kann“, und verschmähe die Zwischenstationen und Kompromisse, welche die deutschen Kommunisten im festen Blick auf das Endziel der klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum an Produktionsmittel akzeptierten. Von dem sozialistischen Proletariat, das weltweit die uneingeschränkte Solidarität mit der Kommune ausgedrückt habe, unterscheide sich diese Gruppe auch dadurch, dass sie partout jede einzelne Geiselerschießung und Brandstiftung rechtfertigen wolle. Dennoch zeigten ihre Aussagen zum Kommunismus einen theoretischen Fortschritt, weil hier
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Gerth 1958, S. 216ff. Internationale et revolution, 1872. Aux Communeux, London (Juni) 1874; Text in: Dittmar 2005, S. 393-401. MEW 18, S. 529 = MEGA² I/24, S. 373. – Engels hat seiner Darstellung des Bundes der Kommunisten 1885 betont: „Die Organisation selbst war durchaus demokratisch, mit gewählten und stets absetzbaren Behörden, und hiedurch allein allen Konspirationsgelüsten, die Diktatur erfordern, ein Riegel vorgeschoben“; MEW 21, S. 215 = MEGA² I/30, S. 100. Das impliziert den Gegensatz zu den Blanquisten im Hinblick auf die interne Organisation.
französische Arbeiter erstmals bereit gewesen seien, „sich zum jetzigen deutschen Kommunismus [zu] bekennen“.54 Die Feststellung im Manifest der Blanquisten, man könne nur mit Gewalt eine Gesellschaftsordnung überwinden, die ihrerseits auf Gewalt gegründet sei, und deshalb müsse die „dictature du prolétariat“ so lange bestehen, bis eine neue Gesellschaft gleicher Bürger verwirklicht sei, lässt Engels jedoch unkommentiert. Das lässt offen, was er selbst unter Diktatur des Proletariats verstehen will. Was für ihn in diesen Texten zählt, ist die Abgrenzung zu konkurrierenden Strömungen und die Behauptung der eigenen theoretischen Überlegenheit.
9. Nach dem Sozialistengesetz: Letzte Worte von Engels Danach war von Marx und Engels zur Diktatur des Proletariats nichts mehr zu hören. Das änderte sich erst, als Engels nach Auslaufen des Sozialistengesetzes massiv in die Programmdiskussion der deutschen Sozialdemokraten eingriff. Im Januar 1891 veröffentlichte er – ohne Wissen der Parteiführung und zur größten Verärgerung von Bebel – Marx’ (später sogenannte) „Kritik des Gothaer Programms“. Marx hatte im Mai 1875 den Programmentwurf für die Vereinigung der beiden sozialdemokratischen deutschen Parteien in einem Rundschreiben an die Führung der von Bebel und Liebknecht gegründeten „Eisenacher“ Partei (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) gnadenlos kritisiert, weil er darin zu viele Zugeständnisse an die „Lassalleaner“ (ADAV) sah, wusste aber schon, dass sein Text viel zu spät kam. Liebknecht hat die Zirkulation unterbunden, so dass auch der gerade inhaftierte Bebel von Marx’ Kritik nichts erfuhr. Marx und Engels hatten dann auf eine öffentliche Stellungnahme gegen das verabschiedete Programm verzichtet. Marx hatte 1875 kritisiert, dass das Programm nur demokratische Reformen innerhalb der bestehenden politischen Ordnung verlange und damit die entscheidende Sache verfehle: Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die Diktatur des Proletariats. Das Programm hat nun es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft.
54 MEW 18, S. 534. = MEGA² I/24, S. 378. Begründet wird dies damit, dass einige Passagen wie eine Übertragung aus dem Kommunistischen Manifest „ins blanquistische Französisch“ klängen; S. 376. Die Übernahmen gingen auf den Mitunterzeichner Edouard Vaillant zurück, der „bekanntlich die deutsche Sprache und die deutsche sozialistische Literatur gründlich kennt“; S. 378. (Man könnte hinzusetzen: „als einziger“).
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Allgemein demokratische Forderungen machten keinen Sinn, wenn sie sich auf den gegenwärtigen „bürokratisch gezimmerten, polizeilich gehüteten Militärdespotismus“ bezögen; wenn man unter den obwaltenden Verhältnissen die „demokratische Republik“ nicht offen fordern könne, solle man lieber schweigen.55 Wie man sich den Staat in Form der revolutionären Diktatur des Proletariats vorzustellen hat, sagt Marx nicht. Viel wichtiger war ihm, vor Illusionen über die rasche Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu warnen: auch nach Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln werde es eine erste Phase geben, in der Arbeitsteilung, Erwerbsarbeit, Anteil an den erwirtschafteten Gütern je nach individueller Leistung, Fortbestand des bürgerlichen Rechts etc. noch erforderlich seien. Das Wiederauftauchen der „Diktatur des Proletariats“ brachte die Sozialdemokratie in Verlegenheit. In einer Reichstagsdebatte am 28. Februar 1891, in der der Nürnberger Abgeordnete Karl Grillenberger, Prototyp des handfesten Pragmatikers, die strikte Verpflichtung der Sozialdemokratie auf die Legalität betont hatte, entgegnete ihm der Nationalliberale Rudolf von Bennigsen, dass Grillenberger sich „in offenen Widerspruch setzt mit demjenigen Programm des geistigen Hauptes der deutschen und der europäischen Sozialdemokratie, des Herrn Marx, welches vor nicht langer Zeit von Herrn Engels veröffentlicht worden ist“. Marx’ Rede von der „Diktatur des Proletariats“ sei doch nicht vereinbar mit dem „Wege der Reform, des allmählichen Übergangs“. Grillenberger entgegnete, die Partei habe doch Marx’ Vorschlag 1875 abgelehnt, somit Diktatur des Proletariats nie zum Bestandteil ihrer Programmatik gemacht.56 Auf diese Diskussion spielte Engels kurz darauf an, als er auf Anregung des Vorwärts-Verlages anlässlich des 20. Jahrestags der Pariser Kommune eine Neuausgabe von Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, publizierte. In seinem, auf den Jahrestag 18. März 1891 datierten Vorwort, das wie üblich separat auch im Theorieorgan „Neue Zeit“ erschien, heißt es ganz am Schluss: „Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats“.57 Da man der Partei vorher die Solidarisierung mit der Kommune vorgehalten und dies auch zu einem der Vorwände für das Sozialistengesetz genommen hatte, sollte
55 MEW 19, S. 28f. = MEGA² I/25, S. 22. 56 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. VIII. Legislaturperiode. I. Session 1890/91, Bd. 3, S. 1798 und 1805. In der gleichen Debatte hat Ludwig Windthorst (Zentrum) an die Verherrlichung der Kommune in der Sozialdemokratie erinnert und Grillenberger prophezeit, er werde mit seiner Distanzierung von Marx Ärger mit seinen Parteifreunden bekommen. Grillenberger dazu: es gehe doch nur um den Brief von 1875, in dem es keinen „Appell an die Gewalt oder eine Verherrlichung der Gewalt“ gebe; ebd. S. 1806 und 1810. 57 MEW 22, S. 199 = MEGA² I/32, S. 16.
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man jetzt nicht, nachdem das Gesetz gefallen war, zu Kreuze kriechen. Aber das richtete sich auch an Leute in den eigenen Reihen wie Grillenberger. Wie später bekannt wurde, hatte Engels ursprünglich nicht „deutsche“, sondern „sozialdemokratische Philister“ geschrieben, dies dann auf Bitte des Verlagsleiters Richard Fischer geändert.58 Es bleibt die Frage, wie dieses Bekenntnis zur Kommune inhaltlich zu verstehen ist, als Drohung mit der Gewaltherrschaft der „Mörder und Brandstifter“, wie es natürlich die Gegner der Sozialdemokratie weiterhin auslegten,59 oder als Verheißung einer herrschaftsfreien Zukunft. Engels’ eigene Einleitung, die sich der Tendenz des Marx’schen Textes von 1871 anschließt, spricht für letzteres. Die Kommune sei nicht dem blanquistischen Konzept gefolgt, „daß eine verhältnismäßig kleine Zahl entschloßner, wohlorganisierter Männer imstande sei, in einem gegebnen günstigen Moment das Staatsruder nicht nur zu ergreifen, sondern auch durch Entfaltung großer, rücksichtsloser Energie so lange zu behaupten, bis es ihr gelungen, die Masse des Volks in die Revolution hineinzureißen und um die führende kleine Schar zu gruppieren. Dazu gehörte vor allen Dingen strengste, diktatorische Zentralisation aller Gewalt in der Hand der neuen revolutionären Regierung.“ Die Kommune habe das Gegenteil getan, nämlich „die unterdrückende Macht der bisherigen zentralisierten Regierung, Armee, politische Polizei, Bürokratie“ gebrochen. Der Staat sei „nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmste Seiten es ebensowenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun“.60 Engels’ Satz von 1891 ist die einzige Stelle im Textcorpus von Marx und Engels, an der eine explizite Identifizierung von Pariser Kommune und Diktatur des Proleta58 Fischer an Engels, 17. März 1891, zitiert MEGA² I/32, S. 603f. 59 Einschlägig sind u.a. diverse Kampfschriften von Hans Blum, der aus dem Bekenntnis zu Kommune = Diktatur des Proletariats schloss, dass die Sozialdemokratie auf Umsturz und Schreckensherrschaft setze, deren Gewalttätigkeit alle historischen Beispiele noch übertreffe werde; u.a. Blum 1891, S. 62-64 und 327f.; 1893, S. 43, 52 und 60; 1898. – Eine Entlastungsstrategie besagte, dass man einschlägige Erfahrungen mit der „Diktatur der Bourgeoisie“ gemacht habe – Blutbäder 1848 und 1871, Entrechtung unter dem Sozialistengesetz –, deshalb auf keinen Fall zu den gleichen Mitteln greifen werde, sondern gleiches Recht für alle Bürger schaffen werde; so ein Leitartikel mit dieser Überschrift im Vorwärts, 12. April 1891, mit Berufung auf einen Vortrag von Liebknecht. (Möglicherweise war Liebknecht selbst Verfasser des Leitartikels). Liebknecht hat dies weiter u.a. in Artikeln von 1898 und 1899 dargelegt, und betont, dass man keine „Diktatur der Mehrheit“ anstrebe, sondern „die vollste Wahrung der Rechte des Individuums, Grundrechte, die kein Majoritätsbeschluss antasten kann“, verbürge (1898, S. 218-220). Die Konsequenz, sich vom Diktatur-Begriff zu verabschieden, zog er aber nicht. 60 MEW 22, S. 197 und 199 = MEGA² I/32, S. 13f. und 16f.
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riats vorgenommen wird. Dies ist anscheinend aus dem genannten konkreten Anlass erfolgt. Unabhängig davon geht es nicht an, alle anderen Äußerungen von Marx und Engels zur Pariser Kommune im Sinne dieser Gleichsetzung mit Diktatur des Proletariats auszulegen. Engels hat schließlich 1895 noch Marx’ Texte von 1850 zu Frankreich, jetzt erstmals unter dem Titel Die Klassenkämpfe in Frankreich, neu herausgebracht und damit auch dessen frühesten Äußerungen zur Diktatur des Proletariats wieder zugänglich gemacht.61 Aber seine eigene Einleitung zu diesem Text fand viel mehr Aufmerksamkeit als der Neudruck von Marx.62 Von Diktatur des Proletariats ist in Engels’ Einleitung keine Rede. Die Kernbotschaft lautet, dass eine Revolution nach dem Muster von 1848 völlig aussichtslos sei. Nunmehr habe sich, jedenfalls in Deutschland, das allgemeine Wahlrecht, ursprünglich zur Manipulation der Massen erfunden, als effektive Waffe der Arbeiterbewegung erwiesen; auch die quasiautomatische Unterwanderung des Heeres eröffne die Chance auf einen legalen Machtgewinn. Das Recht auf Revolution behalte man sich vor für den Fall eines tatsächlichen Staatstreichs von oben, „Bruch der Verfassung, Diktatur, Rückkehr zum Absolutismus, regis voluntas suprema lex!“63, werde sich aber keinesfalls durch Provokationen in Straßenkämpfe locken lassen. Aus dem Nachlass von Liebknecht ist schließlich noch 1901 eine von Engels für die engere Parteiführung im Juni 1891 geschriebene Stellungnahme zur Programmdiskussion veröffentlicht worden. „Unsere Partei und die Arbeiterklasse kann nur zur Herrschaft kommen unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat“. Da Engels (wie eingeschränkt zuvor Marx) Verständnis dafür hat, dass die Partei nicht explizit die Forderung nach der „einen und unteilbaren Republik“ (nach dem französischen Vorbild von 1792) erheben könne, verlangt er, dass jedenfalls von der „Konzentration aller politischer Macht in den Händen der Volksvertretung“ die Rede sein müsse.64
10. Ausblick Jetzt lagen über vier Jahrzehnte verstreute Textsplitter von Marx und Engels vor, die aus unterschiedlichen, oft polemischen Kontexten stammten und kein kohärentes 61 Die beiden „Ansprachen“ des Bundes der Kommunisten vom März und Juni 1850 hatte Engels der 3. Auflage (1885) von Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln im Anhang beigefügt, nach Wermuth / Stieber (s. o. Anm. 36). 62 Zur an Grabenkämpfen und Absurditäten reichen Rezeptionsgeschichte siehe Nippel 2020b. 63 MEW 22, S. 526 = MEGA² I/32, S. 350. 64 MEW 22, S. 235 = MEGA² I/32, S. 49f. – Dass „große französische Revolution“ die Pariser Kommune von 1871 meine (so Koenen 2020, S. 206), ist bei diesem Kontext ausgeschlossen.
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Bild davon vermittelten, mit welchen Institutionen, Herrschaftsmitteln und ökonomischen Maßnahmen 65 und unter welchen Zeithorizonten die Diktatur des Proletariats zur klassenlosen Gesellschaft und zur Abschaffung des Staates führen werde. Diktatur war eingängig für eine vorübergehende Phase verschärfter Repression, aber paradoxerweise auch für Abbau von Staatsmacht. Aber gerade diese Ambiguität ermöglichte das Jonglieren mit einzelnen Zitaten wie mit Bibelversen, über deren Auslegung dann die „jüngeren Kirchenväter“66 nach dem Tode von Engels im sogenannten Revisionismusstreit erbittert kämpften. Eduard Bernsteins Abgesang auf die Revolutionserwartung 1899 schloss notwendig die Diktatur des Proletariats ein, die er als eine blanquistische Phrase aus der Zeit um 1850 bezeichnete. Unter den inzwischen gegebenen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen führe eine Revolution nur ins Chaos, bleibe nur der parlamentarische Weg, wie auch der späte Engels erkannt habe (v.a. in der Einleitung von 1895 zu Marx, Klassenkämpfe in Frankreich). Herrschaft der Mehrheit in der Demokratie finde eine Schranke in den Rechten von Minderheiten und Individuen.67 Kautsky als Gralshüter der Orthodoxie hielt unter Berufung auf Engels’ Einleitung zu Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, 1891 an „Diktatur des Proletariats“ fest, die nach Marx und Engels die „politische Alleinherrschaft des Proletariats [bezeichnet], als der einzigen Form, in der es die politische Macht auszuüben vermöge“, auch wenn er offen ließ, wie der Weg zur Macht erfolgen und wie sie dann ausgeübt werden solle.68 Das gehörte zu einer (nach heutigem Jargon) identitätspolitischen Debatte in einer Partei, die ihre Geschlossenheit durch die Verbindung reformistischer Praxis mit
65 Ebenso vage wie Marx 1875 äußerte sich Engels gegenüber Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890: der Kampf um die „politische Diktatur des Proletariats“ sei erforderlich, weil die „Gewalt (d.h.) die Staatsmacht […] auch eine ökonomische Potenz“ sei; MEW 37, S. 493 = MEGA² III/30, S. 545. Dieses Schreiben ist (wie andere später sogenannte ‚Altersbriefe über historischen Materialismus‘) kurz nach Engels’ Tod publiziert worden. 66 Ignaz Auer an Victor Adler, 26. September 1895, in: Adler 1954, S. 189f. in Bezug auf Bernstein und Kautsky nach dem Tod von Engels, des „Oberpatriarch[en] der heiligen Familie“. – In den folgenden innerparteilichen Auseinandersetzungen ist immer wieder von Bibelstellen, Prophet, Papst, Konzil, Ketzer, Exkommunikation etc. die Rede. 67 Bernstein 1899, S. 27ff., mit Bezug auf die von Engels publizierten „Ansprachen“ des Kommunistenbundes von 1850 (s. Anm. 61), nicht jedoch auf das in seinem Besitz befindliche Statut des Bündnisses von Kommunisten und Blanquisten (s. o. Anm. 28). – Mehring 1899, S. 239ff. hat sofort die Verknüpfung mit dem Blanquismus zurückgewiesen und u.a. auf Engels’ Distanzierung von 1874 hingewiesen; Zetkin 1899 hat Bernstein vorgeworfen, einen „lächerlichen Popanz“ aufgebaut zu haben. 68 Kautsky 1909, S. 20. Ebd. S. 49ff. führte er mit langen Zitaten auch aus seinem Briefwechsel mit Engels aus, dass Engels auch 1895 nicht einseitig auf den friedlichen Weg zur Macht gesetzt habe. – In seiner ersten Replik auf Bernstein hatte Kautsky 1899, S. 172, bezweifelt, dass man mit demokratisch-rechtstaatlichen Mitteln die Vorherrschaft von Großgrundbesitzern und Kapitalisten brechen könne, zugleich aber erklärt: „Die Entscheidung über die proletarische Diktatur können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen. Auch da brauchen wir uns nicht die Hände zu binden“.
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dem Glauben an die Erlösung durch die Revolution zu sichern suchte. Bitterer Ernst wurde aus dem Streit, was Diktatur des Proletariats bedeute, mit der Oktoberrevolution 1917 und ihren welthistorischen Folgen.
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Mike Schmeitzner Antinomie und Verflechtung. Kautsky, Lenin, Trotzki und der Deutungskampf um die „Diktatur des Proletariats“
1. Die Ausgangslage Spätestens im Frühherbst 1918 – als Karl Kautsky seine Broschüre „Die Diktatur des Proletariats“ in Wien veröffentlichte – entbrannte eine der wirkmächtigsten Debatten zum Begriff der „Diktatur des Proletariats“, den die gerade in Russland zur Macht gelangten Bolschewiki sogar in den Verfassungsrang erhoben hatten. Laut Sowjetverfassung vom Juli 1918 handelte es sich bei der neuen Herrschaft um eine besondere Form, nämlich um eine „Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats und der ärmeren Bauernschaft“.1 Das war eine Verschleierung der tatsächlichen Diktatur der Bolschewiki und der von ihnen beherrschten Räte (Sowjets). Lenin und Trotzki, die maßgeblichen Schöpfer des neuen Staates, wurden nicht müde, ihre Diktatur begrifflich auf Marx und Engels zurückzuführen. Seit 1917/18 popularisierten sie daher den von ihnen seit Längerem verwendeten Begriff der „Diktatur des Proletariats“ in allen ihnen zur Verfügung stehenden Medien. Mit Kautsky trat ihnen ein Sozialist entgegen, der über Jahrzehnte hinweg als Cheftheoretiker der deutschen Sozialdemokratie, ja sogar der II. Internationale galt, und der für sich in Anspruch nahm, das geistige Erbe von Marx und Engels zu bewahren und weiterzuentwickeln. Eine Vereinnahmung des Begriffs durch die Bolschewiki lehnte er entschieden ab. In seiner Schrift differenzierte Kautsky zwei Erscheinungsformen der „Diktatur des Proletariats“: die Diktatur als Regierungsform und die Diktatur als gesellschaftlichem Zustand. Während die erste Form tatsächlich auf eine „diktatorische Methode“ hinauslaufe, könne die zweite Form auch mit einer „demokratischen Methode“ umgesetzt werden. Wenn das Proletariat die Mehrheit der Gesellschaft bilde und eine oder mehrere sozialistische (Arbeiter-)Partei(en) im Ergebnis von Parlamentswahlen regierten, bestehe keine Dichotomie zwischen Diktatur und Demokratie. Die regierende(n) sozialistische(n) Partei(en) hätten einen demokratisch erworbenen Regierungsauftrag und könnten Schritte zur sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft ergreifen. Dies könne als proletarische Diktatur im Sinne eines gesellschaftlichen Zustandes – einer Mehrheitsherrschaft – bezeichnet werden. Während Kautsky 1 Hellmann (Hrsg.) 1987, S. 358.
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so versuchte, den von Marx und Engels hinterlassenen Begriff zu deuten, indem er diesen (weiter) demokratisierte, vermochte er zugleich die seit Oktober 1917 existierende „Diktatur des Proletariats“ in Sowjetrussland als „diktatorische Methode“ zu klassifizieren und als solche abzulehnen.2 Denn in Sowjetrussland herrsche eine radikale sozialistische Partei (die Bolschewiki) allein und unterdrücke dabei nicht nur bürgerliche, sondern auch andere sozialistische Parteien. Das Proletariat in Sowjetrussland könne also gar nicht mittels aller Arbeiterparteien herrschen. Zudem definierte er die Machtübernahme der Bolschewiki als ahistorisch, da doch nach marxistischer Auffassung das Proletariat erst einmal die größte und entscheidende soziale Gruppe der Gesellschaft bilden müsste. Das aber sei nur in den fortgeschrittenen Industrieländern Europas möglich, nicht aber im immer noch agrarisch geprägten Russland. Notwendige Entwicklungsstufen könnten nicht einfach übersprungen werden. Letztendlich verwarf Kautsky die Herrschaft einer Partei ohne Parlament und damit ohne allgemeines Wahlrecht und ohne die Möglichkeit oppositioneller Tätigkeit durch politische Konkurrenten. Damit wandte er sich gleichfalls gegen das von den Bolschewiki favorisierte Räte-Wahlsystem, das bestimmte soziale Gruppen (vor allem aus dem bürgerlichen Spektrum) ausschließe.3 Die Auseinandersetzung, die sich jetzt Bahn brach, war nicht nur auf der theoretischen Ebene angesiedelt; es ging nicht allein um ideologische Rechthabereien und Auslegungsfragen – mithin um Marx-Exegese –, sondern vielmehr um die Deutungshoheit in der zentralen Frage, ob sich die Bolschewiki mit ihrer Staatsgründung auf Marx und Engels berufen konnten oder nicht, und damit letztlich um die Legitimierung der sowjetrussischen Staatsgründung. Davon zeugen die enormen geistigen Ressourcen, die alle drei Protagonisten zwischen 1918 und 1921 in insgesamt fünf größeren Schriften investierten, obwohl sie doch eigentlich als Regierungschef (Lenin), Volkskommissar (Trotzki) sowie als deutscher Staatssekretär und Regierungsberater in Georgien (Kautsky) anderweitig stark gebunden waren.4 In seinem Anti-Kautsky von 1920 spielte Trotzki auf diese Problematik an, als er meinte, dass der „geistige Kampf in den Reihen der internationalen Arbeiterklasse erst gehörig zu entbrennen“ beginne, weil eben – und trotz seines letztlichen Untergangs – das „zur Lehre erhobene Kautskyanertum […] noch eine große Rolle an den Spitzen der Arbeiterorganisationen der ganzen Welt“ spiele.5 Dass sich ausgerechnet Kautsky dem sowjetrussischen Projekt und dessen zentralen Schöpfern entgegenstellte, war wegen seiner jahrzehntelangen Stellung in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, aber auch aufgrund seiner pazifis2 Kautsky 1918, S. 3, 21. 3 Vgl. ebd., S. 26, 37 f., 43. 4 Hans-Jürgen Mende hat 1990 diese fünf Schriften in einer zweibändigen Edition neu herausgegeben. 5 Trotzki 1920, S. 171.
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tisch geprägten USPD-Verortung im Krieg in diesem Konflikt von exzeptioneller Bedeutung. Geistige Interventionen von „Kriegssozialisten“ wie Heinrich Cunow oder von Eduard Bernstein, dem „Vater“ des Revisionismus, blieben (weitgehend) folgenlos und mussten es auch bleiben. Der Deutungskampf war allerdings auch zutiefst persönlich geprägt, da sich die drei Protagonisten bereits seit vielen Jahren kannten und Kautsky jahrelang Einfluss auf die russische Arbeiterbewegung ausgeübt hatte. In dem ab 1918 anhebenden Deutungskampf fühlten sich die Schöpfer Sowjetrusslands vom deutlich älteren Kautsky „verraten“. Dass sowohl Lenin als auch Trotzki diese Metapher – neben der vom „Renegatentum“ – bemühten, verdeutlicht die persönliche Ebene der Auseinandersetzung, in der beide nicht mit Invektiven sparten. Trotzki etwa nannte Kautskys zweite Kritikschrift „Kommunismus und Terrorismus“ (1919) ein „boshaftes politisches Pamphlet“, ja sogar eines der „lügenhaftesten und bösartigsten Bücher“.6 Doch gibt es eine rationale Ebene hinter dieser persönlich-emotionalen Betroffenheit, die noch im Herbst 1918 eskalierte? War bei Kautsky tatsächlich eine Begriffsentwicklung feststellbar, die die Vorwürfe Lenins und Trotzkis wenigstens partiell real erscheinen ließen? Andererseits: Welche begriffliche Entwicklung konnte womöglich bei Lenin und Trotzki beobachtet werden? Durfte man hier tatsächlich von einem statischen, d.h. einmal festgelegten Begriff ausgehen, der Ende 1917 mit der Revolution gleichsam handlungsleitend wurde? Waren Lenin und Trotzki vielleicht sogar (in früheren Phasen) selbst von Kautsky beeinflusst worden? Und inwieweit spielten hier autochthone russische Faktoren eine Rolle? Woher resultierte letztlich die begriffliche Radikalisierung bei den Schöpfern des Sowjetstaates?
2. Prägekräfte und Verflechtungen: Begriffsentwicklungen vor 1918 Dass es zwischen den Vorstellungen der drei Protagonisten Zusammenhänge und Verflechtungen gab, hatte mit drei wichtigen Punkten zu tun: Erstens mit der prononcierten Stellung Kautskys (1854–1938) als geistigem „Nachlassverwalter“ von Marx und Engels,7 zweitens mit der Vorbildwirkung der SPD für andere Arbeiterparteien und drittens mit den direkten Kontakten vor Ort in Deutschland, gehörten doch Lenin und Trotzki nach ihrer politischen Verfolgung in Russland eine Zeitlang dem Kreis der in München erscheinenden Exilzeitschrift „Iskra“ (Funke) an. Für diesen Kreis, den der Nestor der russischen Sozialdemokratie, Georgi Plechanow (1856–1918), leitete, war Kautskys Position doppelt entscheidend: Er bot den Vertretern dieses Kreises Veröffentlichungsmöglichkeiten in der von ihm selbst geleiteten Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“, allen voran Plechanow und Trotzki, wofür 6 Ebd., S. 168. 7 Schöler 2021, S. 100.
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sich Trotzki besonders dankbar erwies.8 Bedeutsam war aber vor allem Kautskys Stellung zum Revisionismus: Bernsteins Vorschläge einer Revision von grundlegenden Marx’schen Annahmen (Zuspitzung der Klassengegensätze, Verelendungstheorie) und seine darauf gründende These, die SPD in eine reformsozialistische Kraft zu verwandeln, fanden in Kautsky einen scharfen Gegner. Anders als Bernstein wollte er die Möglichkeit einer sozialen Revolution, einer darauffolgenden „Diktatur des Proletariats“ und das Endziel einer klassenlosen Gesellschaft nicht einfach aufgeben. Kautskys 1899 veröffentlichtes Werk „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“ („Anti-Bernstein“) beeinflusste auch Teile der russischen Partei, vor allem den „Iskra“-Kreis um Plechanow, und hier wiederum besonders Lenin (1870–1924) und Trotzki (1879–1940) als Vertreter einer jüngeren Generation. In seiner „Antikritik“ verteidigte Kautsky den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ gegen Bernstein, der diesen als „Phrase“ bezeichnet hatte und aufgeben wollte. Kautskys Begriffsbestimmung hob sich deutlich von der eigenen Definition des Jahres 1918 ab: 1899 unterschied er zwar ebenfalls zwischen „Klassenherrschaft“ und „Klassendiktatur“. Doch wollte er die „Klassendiktatur“ als Regierungsform nicht ausschließen – ein nicht-demokratisches und repressives Vorgehen gegen Kapitalmagnaten und Junker zog er hier noch in Betracht; Bernsteins Hinweise auf die Rechte von „politischen Minderheiten“ belächelte er nur.9 Die „politische Herrschaft des Proletariats“ stellte sich für ihn „zunächst“ als die „Herrschaft seiner Elite“, der SPD, dar, der die „Masse“ der Arbeiterschaft folgen würde. Selbst die Demokratie hatte für ihn nur einen funktionalen Wert – als „proletarische Demokratie“: Für Kautsky war es ausgemacht, dass in einem „modernen Industriestaat“ die Arbeiterschaft der Arbeiterpartei (SPD) zur entscheidenden Parlamentsmehrheit verhelfen würde.10 Über die deutsche Entwicklung war er sich so sicher, dass er die „Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur [...] ganz ruhig der Zukunft überlassen“ zu können glaubte.11 Zugleich eröffnete Kautsky dem russischen Proletariat und seiner revolutionären Bewegung seine besondere Referenz: In einem Gastbeitrag für die „Iskra“ prognostizierte er 1902 eine „Verschiebung des revolutionären Zentrums […] nach Russland hin“. Russland sei längst nicht mehr ein „bloßer Hort der Reaktion und des Absolutismus“, es könne vielmehr auch „revolutionäre Anregungen“ für „Westeuropa“ geben. Ein erfolgreicher Schlag gegen ein instabiler werdendes System der zaristischen Autokratie werde Umwälzungen in anderen „zivilisierten“ Teilen der Welt be8
Gemeint ist hier Trotzkis Artikel in „Die Neue Zeit“ von 1908, in dem er der Zeitschrift zum 25-jährigen Bestehen gratuliert und dabei deren spezifischen Einfluss auf die russische Sozialdemokratie besonders würdigt, vgl. Trockij 1908. Trotzki veröffentlichte in Kautskys Zeitschrift zwischen 1907 und 1914 13 teils längere Aufsätze. 9 Kautsky 1899, S. 171 f. 10 Ebd., S. 193 f. 11 Ebd., S. 172.
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fruchten. Kautsky bezeichnete sogar das „Aufflammen der russischen revolutionären Bewegung“ als „das kraftvollste Mittel“, den „Geist des weichlichen Philistertums und kühlen Staatsmannes zu bannen“, der „in unseren Reihen sich breitzumachen“ beginne; russische Revolutionäre könnten „die Leidenschaften des Kampfes und der Begeisterung für unsere großen Ideale“ auch in Deutschland wieder „hoch emporlodern“ lassen.12 Solche Schmeicheleien verfingen ebenso gut wie Kautskys Anti-Revisionismus, der Lenin und Trotzki angesichts der deutlich autoritäreren Verhältnisse in Russland überzeugte. Lenin etwa übersetzte zusammen mit seiner Frau in der sibirischen Verbannung in kürzester Zeit den „Anti-Bernstein“ ins Russische.13 Doch dürfte die Prägung durch Plechanow ebenso stark gewesen sein, der im unmittelbaren Nachklapp zu Kautskys „Anti-Bernstein“ mit seiner eigenen Bernstein-Kritik (1900) noch deutlich weiter ging und die „Diktatur des Proletariats“ vornehmlich repressiv deutete. Die „Notwendigkeit der Diktatur“ könne nur derjenige eine „Phrase nennen […], der jede Vorstellung vom Endziel verloren“ habe und „nur an die Bewegung […] hin zu einem bürgerlichen Sozialismus“ denke. Im Gegensatz zu Bernstein und selbst zu Kautsky spielte für Plechanow der Parlamentarismus nur eine untergeordnete Rolle. Anders als bei Kautsky fielen bei ihm auch Diktatur und Herrschaft begrifflich zusammen. Es gehe um nichts anderes als um den „vollständigen Sieg“ der „kämpfenden Klasse“ über deren Gegner, wobei die siegreiche (proletarische) Klasse zur „völligen Herrschaft“ strebe.14 Dass sich Plechanow und nach ihm Lenin so vehement für eine proletarische Diktatur aussprachen, musste mit Blick auf die Minoritätsrolle des russischen Proletariats erhebliche Konsequenzen haben – denn unter diesen Umständen konnte eine solche Diktatur dort nur eine Minderheitsdiktatur sein. Diesen Umstand hielt die Führungsgruppe der russischen Sozialdemokratie – die „Iskra“-Gruppe – nicht davon ab, den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ im Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) zu verankern, und zwar auf dem II. Parteitag von 1903. So weit war noch nicht einmal die SPD in ihrem „Erfurter Programm“ von 1891 gegangen, dessen theoretischer Teil von Kautsky stammte.15 Im Vorfeld des Parteitages von 1903 hatte es zwischen Plechanow und Lenin noch etliche Missverständnisse in Bezug auf die Verwendung des Begriffs gegeben: Lenin hatte in Plechanows ersten Programmentwurf von 1902 dessen Hinweis auf die 12 Kautsky 1902. Zit. nach Lenin 1966, S. 7. Gleich zu Anfang seines 1920 veröffentlichten Werkes zitierte Lenin ausführlich und zustimmend Kautskys Artikel aus dem Jahre 1902 („Wie gut schrieb Karl Kautsky doch vor 18 Jahren!“). 13 Vgl. Schmeitzner 2017, S. 23. 14 Zit. nach ebd., S. 24. 15 Kautskys Formulierung lautete, dass die in Deutschland immerhin schon stärkste soziale Kraft, die „Arbeiterklasse“ (und mithin die SPD als Avantgarde), „in den Besitz der politischen Macht“ kommen müsse, um den „Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit zu bewirken“, Dowe/Klotzbach (Hrsg.) 2004, S. 173.
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Diktatur mit drei Fragezeichen versehen und stattdessen den Begriff der „sozialen Revolution“ favorisiert. Kurze Zeit später gehörte Lenin zu den hartnäckigsten Verfechtern des Diktaturbegriffs.16 Jedenfalls bestärkte er noch 1902 Plechanow, den Diktatur-Begriff zu verwenden: „Wüssten wir wirklich positiv, daß das Kleinbürgertum das Proletariat unterstützen wird, wenn das Proletariat seine, die proletarische Revolution vollbringt, so wäre es überflüssig, von ‚Diktatur‘ zu reden, denn dann wäre uns vollauf eine so überwiegende Mehrheit gesichert, daß wir auch ohne Diktatur sehr gut auskämen […]. Die Anerkennung der Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats ist aufs engste und untrennbar verbunden mit der Feststellung des ‚Kommunistischen Manifests‘, daß nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse ist.“17
Jedoch war auf dem II. Parteitag der SDAPR die Aufnahme des Diktatur-Begriffs ins Parteiprogramm nicht unwidersprochen geblieben, da dort auch die Forderung nach Grundrechten und die Einführung einer „demokratischen Republik“ mit allgemeinem Wahlrecht im Gefolge des „Sturzes der zaristischen Selbstherrschaft“ auftauchte.18 Während Plechanow daraufhin den Stellenwert von parlamentarischen Wahlen relativierte, beruhigte der 24-jährige Trotzki einen Kritiker, den die „Diktatur des Proletariats“ wohl „als ein jakobinischer Akt“ schrecke. Jener Kritiker vergesse, dass diese „Diktatur erst möglich sein wird, wenn die Sozialdemokratische Partei und die Arbeiterklasse […] ihrer Gleichsetzung sehr nahe sein werden“. Und Trotzki fügte noch hinzu: Diese Diktatur werde „keine konspirative ‚Machtergreifung‘ sein“, „sondern die politische Herrschaft der die Mehrheit der Nation bildenden organisierten Arbeiterklasse“.19 Angesichts der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit in Russland rückte eine solche Deutung die proletarische Diktatur in weite Ferne. Trotzkis Stellungnahme war bereits die Differenz zu Lenins Diktatur-Begriff deutlich eingeschrieben. Denn Lenin hatte sich in den beiden zurückliegenden Jahren vor allem mit dem (künftigen) Organisationsmodell der Partei beschäftigt, das allerdings für den Diktatur-Begriff entscheidende Folgen haben sollte. In seiner 1902 erschienenen Schrift „Was tun?“ hatte er ausführlich die Leitplanken der späteren Parteiorganisation beschrieben, die für ihn nur mehr eine zentralistisch gesteuerte Organisation sein konnte – geführt von einer Elite von Berufsrevolutionären mit tendenziellem Absolutheitsanspruch. So sehr er einerseits Kautsky und die SPD als Vorbilder betrachtete und ins Russische zu adaptieren versuchte, so sehr rekurrierte er doch andererseits auf den „Geist der revolutionären russischen Intelligenzija“
16 Zur Programmdiskussion und zur „Diktatur des Proletariats“ vgl. ausführlich Geyer 1962, S. 287–301. 17 Lenin 1956, S. 37. 18 Meissner 1962, S. 116. 19 Ebd., S. 18.
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und den „lebendig gebliebenen Traditionen der kleinen linksterroristischen Gruppe der ‚Narodnaja Wolja‘“.20 Auch Vorstellungen einer tugendhaften revolutionären Elite (Nikolai Tschernyschewski) und einer „revolutionären Diktatur der minoritären Avantgarde“ (Peter Tkatschows) machten sich bei ihm bemerkbar.21 1904 definierte er den „revolutionären Sozialdemokraten“ und Befürworter einer proletarischen Diktatur als klassenbewussten „Jakobiner“.22 Zweifellos resultierte Lenins Vorstellung von einer zentralistisch handelnden Verschwörerorganisation mehr aus russisch-autokratischen denn aus deutschen, sozialdemokratischen Quellen. Seine Organisationsvorstellungen teilte zwar eine Mehrheit (Bolschewiki) auf dem bereits genannten Parteitag von 1903, doch führten sie eben auch zur Spaltung, weil die Minderheit (Menschewiki) eher für eine Massenpartei als für eine zentralistisch geführte und auf ideologische „Reinheit“ bedachte Kaderpartei plädierte. Vom „Ultrazentralismus“ der Organisation wollten weder Julius Martow, der geistige Führer der Menschewiki,23 noch Rosa Luxemburg24 oder Trotzki etwas wissen, der sich keinen der beiden Fraktionen anschloss.25 Trotzki war es schließlich, der in seiner Schrift „Unsere politischen Aufgaben“ 1904 Lenins Sicht einer scharfen Kritik unterzog. Denn dessen Vorstellungen vom „sozialdemokratischen Jakobiner“ und einer zentralistischen Führerorganisation liefen letztlich auf die „Diktatur über das Proletariat“ hinaus. Trotzkis Kritik richtete sich vor allem auch gegen Lenins „Gesinnungsgenossen im Ural“, die in einem eigenen Manifest Lenins Überlegungen nur auf die Spitze getrieben hatten: Entscheidend für sie war allein die Vorbereitung der „Diktatur des Proletariats“ durch eine „starke mächtige Organisation“ und die Herausbildung befähigter Diktatoren.26 Für Trotzki zielte die „Verbindung der Frage der Diktatur des Proletariats mit der Organisationsfrage und dieser letzteren mit der Frage der rechtzeitigen Vorbereitung eines Diktators“ in die falsche Richtung. Von „Beschleunigungs-Methoden der politischen Substitution“ und einer dafür geschaffenen „organisatorisch-konspirativen Spitze“ hielt er nichts. Für ihn lief dies konsequenterweise auf die „Ersetzung der Diktatur des Proletariats durch die Diktatur über das Proletariat, der politischen Herrschaft der Klasse durch die organisatorische Herrschaft über die Klasse“ hinaus. Das aber sei „nicht die Folgerichtigkeit des Marxisten, sondern die des Jakobiners oder die […] des Blanquisten“. Soll die Diktatur keine „leere Phrase“ sein, müsse sie einzig durch ein „selbsttätiges Proletariat“ bestimmt werden.27 In diesem Punkt 20 21 22 23 24 25 26 27
Schmeitzner 2017, S. 29. Talmon 2013, S. 379, 389. Lenin 1956, S. 386 f. Zu Martows Ansichten und seinem geistigen Einfluss vgl. den Beitrag von Uli Schöler in diesem Band. Luxemburg 1970, S. 443. Wolkogonow 1992, S. 65, bezeichnet Trotzkis damalige Positionen als „zentristisch“. Trotzki 1970, S. 126–128. Ebd., S. 126–133.
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traf er sich mit Rosa Luxemburg, wobei der junge Trotzki nicht bei der Kritik an einer allmächtigen, zentralistischen Partei stehenblieb, sondern hellsichtig die Auswirkungen einer parteigesteuerten Revolution auf die folgende (Partei-)Diktatur prognostizierte. Doch nur ein Jahr später – mit Anbruch der russischen Revolution 1905 – begann der Revolutionär Trotzki den Theoretiker Trotzki zu korrigieren: Jetzt plädierte der „unbewaffnete Prophet“ (Isaak Deutscher), der zeitweilig Vorsitzender des Petersburger Sowjets wurde, für eine von der SDAPR getragene „Arbeiterregierung“, in der er der dominierenden Bauernschaft nur eine unterstützende Funktion zubilligen wollte.28 Anders als Trotzki modifizierte nun ausgerechnet Lenin seinen Diktaturbegriff, als er der Bauernschaft mit der „revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ ein (zeitweiliges) Bündnis offerierte.29 Während Trotzki von „einer einzigen Etappe der revolutionären Transformation“ ausging,30 zielte Lenin mit seinem „Minimal- und Maximalprogramm“ auf zwei Etappen, wobei er sich in der ersten Phase eben auch eine Koalitionsregierung mit Vertretern der Bauernschaft vorstellen konnte. Koalitionen mit Vertretern des Bürgertums – wie es die Funktionäre der Menschewiki für notwendig hielten – lehnten jedoch beide Revolutionäre ab. Bemerkenswert ist, dass sich Trotzki mit seinem revolutionären Optimismus gerade auf Kautsky berief, als er sich 1906 von Lenins „besonderer [d.h. „demokratischer“, M.S.] Form der proletarischen Diktatur im Rahmen der bürgerlichen Revolution“ distanzierte. Die Arbeiterklasse – so Trotzki – könne den „demokratischen Charakter ihrer Diktatur nicht garantieren, ohne die Grenzen ihres demokratischen Programms zu überschreiten“. Wenn die „Partei des Proletariats einmal die Macht“ übernehme, werde „sie bis zum Ende um sie kämpfen“;31 die „Schranke zwischen dem ‚minimalen‘ und dem ‚maximalen‘ Programm“ verschwinde, „sobald das Proletariat die Macht“ ergreife.32 Diese „permanente“ Entwicklung werde aber nur dann Erfolg haben, wenn – und hier kam Kautsky ins Spiel – eine „russische Revolution“ der proletarischen Bewegung in Westeuropa einen kräftigen Stoß versetze und dort zur „politischen Herrschaft des Proletariats“ führe. Denn Kautsky zufolge werde die russische Revolution aufgrund der „unreifen“ ökonomischen Verhältnisse „zunächst kein sozialistisches Regime“, sondern nur ein „demokratisches Regime“ begründen. Damit aber erhalte das „osteuropäische Proletariat“ die Möglichkeit, durch „Nachahmung des deutschen Beispiels sozialistische Einrichtungen künstlich“ zu schaffen, die „Stadien seiner Entwicklung ab[zu]kürzen“ und sich selbst an die „Spitze der
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Service 2012, S. 219 f. Zum Wandel der Begrifflichkeit bei Lenin ausführlicher vgl. Schmeitzner 2017, S. 31–34. Service 2012, S. 121. Trotzki 1971, S. 82 f. Ebd., S. 106.
Entwicklung“ zu setzen.33 Es war diese revolutionäre Dialektik, die Trotzki beeindruckte und zu der Perspektive verleitete, dass eine „sozialistische Revolution im Westen es uns erlaubt, die zeitweilige Herrschaft der Arbeiterklasse unmittelbar und direkt in eine sozialistische Diktatur zu verwandeln“.34
3. Der Deutungskampf 1918–1921 Im Revolutionsjahr 1917 wurde offensichtlich, dass Trotzkis und Lenins Begriff von Diktatur gar nicht mehr so weit auseinanderlag. Denn Trotzki, der kurz nach der Februarrevolution nach Russland zurückkehrte, schloss sich schon nach wenigen Monaten den Bolschewiki an, während der gleichfalls nach Russland remigrierte Lenin nicht noch einmal auf den Begriff der „revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ zurückkam. Vielmehr benutzte er jetzt fast durchgehend die Formel von der „Diktatur des Proletariats“, um die Aufgaben der Bolschewiki zu beschreiben, die mit der im Februar entstandenen „Doppelherrschaft“ aus provisorischer Regierung und menschewistisch-sozialrevolutionär beherrschten Sowjets zügig brechen sollten. Mitunter gebrauchte begriffliche Neuschöpfungen wie die „Diktatur des Proletariats und der armen Bauern“ waren eher kosmetischer Natur, um den Machtansprach der Bolschewiki zu bemänteln.35 Ab Sommer 1917 stellte Lenin auch ganz offen die (proletarische) Diktatur der Bolschewiki in Aussicht. In der kurz vor der Oktoberrevolution abgeschlossenen Schrift „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ denunzierte Lenin einen „Mittelweg“ zwischen der „Diktatur der Bourgeoisie“ und der „Diktatur des Proletariats“ als „leere[n] Wahn eines kleinbürgerlichen Demokraten“.36 In derselben Schrift argumentierte der Führer der Bolschewiki ausgerechnet mit den teils überwundenen autokratischen Strukturen des Zarenreiches: Das Land sei nach der Revolution von 1905 von „130.000 Gutsbesitzern regiert“ worden, und zwar „mittels endloser Vergewaltigung und Drangsalierung von 150 Millionen Menschen“. Daraus zog Lenin den Schluss: „Und da sollen 240.000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein, Rußland zu regieren, es im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu regieren?“37 Mit diesem Hinweis dokumentierte er den eigenen unteilbaren Machtanspruch und die (kommende) Einparteiendiktatur der Bolschewiki, die auf parlamentarische Gegebenheiten keine Rücksicht nehmen 33 Kautsky 1904, S. 625–627. Trotzki zitierte nach der russischen Ausgabe dieser Schrift, die 1906 in Kiew erschien, vgl. Trotzki 1971, S. 110. 34 Trotzki 1971, S. 109. 35 Vgl. Schmeitzner 2017, S. 45 f. 36 Lenin 1961, S. 69–115, hier S. 101. Die Schrift wurde am 1.10.1917 abgeschlossen und erst 1918 veröffentlicht. 37 Ebd., S. 95.
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würde. Dass Lenins Losungswort „Alle Macht den Räten“ nicht wirklich eine Rätediktatur meinte, sondern eine Diktatur der Bolschewiki, hatte er schon ab Sommer 1917 klar gemacht, und das wurde mit dem Oktoberumsturz mehr als deutlich. Entscheidend waren nämlich nicht die seit Spätsommer 1917 mehrheitlich von den Bolschewiki kontrollierten Sowjets, sondern die neu gegründete Revolutionsregierung der Bolschewiki, die unter Führung von Lenin und Trotzki alle wesentlichen Weichenstellungen vornahm.38 Beide – Lenin wie Trotzki – waren trotz des ihnen eigenen Voluntarismus aber nie der Ansicht gewesen, in Sowjetrussland ohne Unterstützung von außen den „Sozialismus in einem Land“ (die spätere Stalinsche Formel) verwirklichen zu können. Immer hatten sie – „scheinbar von Kautsky ermuntert“ – die Überzeugung gehabt, dass die russische Revolution „an der Spitze der Weltrevolution“ stehen könnte,39 die aber ohne deutsche Revolution nicht zu halten sei. Deshalb gründete ihre Hoffnung auf einem Umbruch in der Mitte Europas und der dort vorhandenen Gruppe Liebknecht,40 die sie in ihrer Bedeutung jedoch gründlich überschätzen. Von daher rührte auch ihre maßlose Enttäuschung, ja ihr Entsetzen darüber, dass sich eine deutsche Revolution zu Jahresbeginn 1918 nicht einstellen wollte, sich stattdessen der entscheidende Theoretiker der sozialistischen Arbeiterbewegung gegen ihre Revolution wendete, obwohl er doch seit der Jahrhundertwende entsprechende Hoffnungen genährt hatte. Nun war Kautsky nicht der erste und einzige Kritiker der Bolschewiki gewesen. Der deutsch-russische Sozialdemokrat Alexander Stein hatte eine erste scharfsinnige Analyse bereits Ende 1917 formuliert.41 Demgegenüber hatte Kautsky in den ersten Wochen nach dem Oktoberumsturz noch sehr zurückhaltend Kritik geübt. Erst nach der militanten Auflösung der russischen Konstituante durch die Bolschewiki im Januar 1918 nahm seine Kritik eine deutlich schärfere Form an, und damit zu einer Zeit, als die Bolschewiki nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses (sie wurden nur zweitstärkste Partei) endgültig mit dem Parlamentarismus brachen. Trotz seines anfänglichen Zögerns war Kautsky derjenige, der im Spätsommer 1918 mit einer eigenen Schrift („Die Diktatur des Proletariats“) auftrat und sich von seiner Veröffentlichung auch nicht vom USPD-Vorsitzenden Hugo Haase abhalten ließ. Aus dem Chor der Kritiker und Befürworter, den Jörn Schütrumpf jüngst neu edierte,42 stach Kautskys Analyse durch eine „beeindruckend geschlossene[n] Argumentation“
38 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Helmut Altrichter in diesem Band. 39 Geyer 1964, S. 87. 40 Lenin 1960, S. 47, 49 f., rechnete in den ersten Wochen und Monaten des Jahres 1918 fest mit der deutschen Revolution unter Karl Liebknechts Führung, wenngleich er auch vor einer revolutionären Zwangsläufigkeit warnte. 41 Vgl. Stein 1917. 42 Schütrumpf 2017.
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heraus.43 Und anders als viele andere Kritiker wurde seine Schrift in Teilen immer wieder und vor allem zeitnah 1918/19 aufgelegt.44 Kautskys 63-seitige Broschüre fokussierte vornehmlich auf die gravierenden demokratischen Legitimationsprobleme Sowjetrusslands und die dort fehlenden sozialökonomischen Voraussetzungen. Im Anschluss an Marx argumentierend, erklärte er süffisant, sozialökonomisch betrachtet hätten „unsere bolschewistischen Freunde“ wohl vergessen, dass ihre „Diktatur des Proletariats“, die „sie predigen und üben, […] nichts anderes als ein grandioser Versuch“ sei, „naturgemäße Entwicklungsphasen zu überspringen und wegzukretieren“. In einem mehrheitlich agrarisch verfassten Land mit proletarischer Minderheit laufe das bolschewistische Experiment auf eine abgekürzte „Schwangerschaft“ und letztlich auf eine „Frühgeburt“ hinaus.45 Nehme man Marx’ Thesen über den notwendigen Reifegrad von gesellschaftlichen Verhältnissen für eine solche „Diktatur des Proletariats“ ernst, dann widerspreche die gerade ins Werk gesetzte Diktatur dieser „Marxschen Lehre“.46 Ähnlich kritisch fiel Kautskys Analyse hinsichtlich der Wahlrechtsfrage aus: Marx habe gerade in seiner Arbeit über die Pariser Kommune das allgemeine Stimmrecht der Bevölkerung betont.47 Mit der Vertreibung der Konstituante Anfang 1918 und der Verabschiedung der Sowjetverfassung vom Juli 1918 durch die Bolschewiki hätten diese das allgemeine Wahlrecht abgeschafft und durch ein limitiertes Rätewahlrecht ersetzt. Diese Art „Willkür“48 habe Marx seiner Definition der „Diktatur des Proletariats“ nie zugrunde gelegt: Nach seiner – Kautskys – Interpretation habe dieser unter einer solchen Diktatur einen „gesellschaftlichen Zustand“ begriffen, nicht aber eine „Regierungsform“.49 Lenin und Trotzki reagierten auf diese massiven Vorwürfe empört. Von einem Attentat noch nicht gänzlich genesen, setzte sich Lenin im Herbst 1918 an den Schreibtisch, um eine Abrechnung mit dem Titel „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ zu formulieren, die – auch weil sie Schul- und Studienmaterial in der UdSSR und im späteren Ostblock wurde – ganze Generationen von Schülern und Studenten prägte. Lenin nannte Kautsky nicht nur einfach einen „Renegaten“, sondern ebenso einen „Dutzendliberalen“, einen „parlamentarischen Kretin“ und „Dummkopf“, dessen Thesen einfach nur „ekelerregend“ und „schwachsinnig“ seien.50 So sehr sich Lenin mit Invektiven an seiner vormals so verehrten Vaterfigur abarbeitete, so sehr formulierte er auch berechtigte Argumente, von denen noch die 43 Zarusky 1992, S. 54. 44 Zu den verschiedenen Teilveröffentlichungen aus Kautskys Schrift 1918/19 vgl. Schmeitzner 2018, S. 146. 45 Kautsky 1918, S. 43. 46 Ebd., S. 60. 47 Vgl. ebd., S. 21. 48 Ebd., S. 37. 49 Ebd., S. 21. 50 Lenin 1970, S. 225-337, hier S. 225, 229, 234, 265.
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Rede sein wird. Für Trotzki litt Kautsky schlicht unter einer „menschewistischen Degeneration“. Er hielt ihm jetzt seine älteren Artikel vor, die doch gerade mit Blick auf Russland ganz anders geklungen hätten. Kautsky – so Trotzkis Urteil – verweigere „der russischen Revolution die Anerkennungsurkunde mit der Begründung, sie sei nicht auf dem politischen Polizeirevier der bürgerlichen Demokratie ausgestellt“ worden. „Welch erstaunliche Tatsache“ und „welche unwahrscheinliche Erniedrigung des Marxismus“.51 Doch wie begründet waren solche Vorwürfe wirklich? Beruhte dies alles vielleicht nur auf einem großen „Missverständnis“ (Dietrich Geyer)? Hatten Lenin und Trotzki den deutschen Theoretiker über viele Jahre lediglich falsch gedeutet und hatten sich Begriffe einfach nur „verkehrt“, weil die Wirklichkeit in Russland eben eine andere war als diejenige in Deutschland?52 In der Tat hatte Kautsky eine bestimmte Entwicklung durchlaufen; aber das war bei Lenin und Trotzki ganz ähnlich zu beobachten gewesen. Kautskys Position von 1918 war eine jetzt an Bernstein orientierte Begriffsdiversifizierung, wie sie bereits eingangs beschrieben wurde. Zwar wollte Kautsky – und im Gegensatz zu Bernstein – nicht auf den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ verzichten, aber diesen im Anschluss an den späten Engels weiter demokratisieren. Wie vor ihm Bernstein plädierte auch Kautsky nun für die Minderheitenrechte einer politischen Opposition. Zudem entzog er dem Diktaturbegriff jetzt jegliches Repressionspotential, das einer proletarischen Diktatur zwangsläufig innewohnte; mit seinem Hinweis auf die „reine Demokratie“ versuchte er die eigene Definition (Diktatur als „Zustand“) abzusichern und das „aktivistische Element“ der faktischen Diktaturdurchsetzung „hinaus[zu]definieren“.53 Noch 1899 hatte er Gewalt als Diktaturressource für möglich und nötig gehalten, um die autoritärsten Akteure der „Diktatur der Bourgeoisie“ auszuschalten. Und in seinen Artikeln aus den Jahren 1902 und 1904 hatte er Russland noch eine Art revolutionäre Vorreiterrolle in Europa zugebilligt und zumindest mit Blick auf das dortige Proletariat von Möglichkeiten „abgekürzter“ Entwicklungen gesprochen. Solche kritischen Feststellungen zu treffen, heißt jedoch nicht, Kautskys formulierte Konditionen in Bezug auf Russland zu verschweigen: Mit Blick auf das zaristische Kaiserreich hatte er auch schon 1904 die dortige „unreife“ sozialökonomische Entwicklung insofern zu berücksichtigen versucht, als er als Voraussetzung einer sozialistischen Phase der Revolution in Russland ausdrücklich die sozialistische Revolution in Deutschland nannte. Diese Art der Dialektik wollten oder konnten Lenin und Trotzki nicht nachvollziehen. Ihr Voluntarismus und ihre zu optimistische Analyse der kapitalistischen Entwicklung im eigenen Land motivierte sie in einer hi51 Trotzki 1971, S. 125, 127. Es handelt sich hier um Zitate aus dem 1919 geschriebenen Vorwort der dritten russischen Ausgabe der 1906 erstmals veröffentlichten Schrift. 52 Geyer 1964, S. 86. 53 Schöler 2021, S. 306.
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storischen Ausnahmesituation zu einem parteipolitischen Alleingang und bald schon zu einschneidenden sozialistischen Transformationsmaßnahmen. Ihr Bruch mit dem allgemeinem Wahlrecht Anfang 1918 verkannte zudem die Bedeutung, die dieses für Kautsky zeitlebens hatte, auch wenn er noch 1899 von einer „proletarischen Demokratie“ ausging. Dass Lenin und Trotzki ihre Vorstellungen im Herbst 1917 so einfach durchzusetzen vermochten, war aber auch dem politischen Versagen der Mitbewerber (Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Liberale) geschuldet, die in den Monaten zuvor weder den Krieg beendet noch eine Landreform durchgesetzt und auch keine Parlamentswahlen angesetzt hatten. Die Liberalisierung in Kautskys Denken korrespondierte vor allem mit den Entwicklungen in Russland und Deutschland: Während in Sowjetrussland eine regierende sozialistische Partei (die Bolschewiki) zwei andere sozialistische Parteien bekämpfte, existierten in Deutschland seit 1917 zwei sozialdemokratische Parteien in unterschiedlicher Konstellation – in Regierung und Opposition. Kautskys Liberalisierung traf aber auch auf geistige Verhärtungen bei Lenin und Trotzki. Besonders Lenin betrachtete die „revolutionäre Diktatur des Proletariats“ als eine „Macht, die erobert wurde und aufrechterhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie, eine Macht, die an keine Gesetze gebunden“ sei.54 So unumwunden hatten dies Marx und Engels nie formuliert. Doch für Lenin, Trotzki und andere Bolschewiki formte die Wirklichkeit in ihrem Land die Begrifflichkeit: Wer selbst in einem immer noch agrarisch geprägten Land als Partei des Proletariats die Macht ergriff, dabei sogar andere sozialistisch-proletarische Parteien unterdrückte und das gerade einberufene Parlament aufgrund der eigenen minoritären Vertretung gewaltsam vertreiben ließ, und wer sich in einem bald entgrenzten Bürgerkrieg politischen Gegnern aller Couleur gegenübersah, für den musste Gewalt zwangsläufig eine immer größere Rolle spielen – auch in begrifflicher Hinsicht. Zumal dann, wenn diese Diktatur als Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur angelegt war und als Demiurg versuchte, die ökonomische Basis dem politischen Überbau anzupassen. Deutlicher als Lenin bestand Trotzki gegen Kautsky auf den Faktor Terror, dem er einen Offensiv- und Defensivcharakter zuschrieb: Zum einen ging es ihm darum, im agrarisch geprägten Russland die „Alleinherrschaft des Proletariats“ durchzusetzen und mit dem „roten Terror“ die bourgeoise Klasse, die „nicht untergehen will“, zu deren „Untergang“ zu zwingen.55 Zum anderen formulierte Trotzki an Kautskys Adresse eine vermeintlich unumstößliche Einsicht: „Wer prinzipiell den Terrorismus, d.h. die Unterdrückungs- und Abschreckungsmaßnahmen in bezug auf die erbitterte und bewaffnete Gegenwehr ablehnt, der muss auf die politische Herrschaft der Arbeiterklasse, auf ihre revolutionäre Diktatur verzichten. Wer auf die Diktatur des Proletariats verzichtet, der verzichtet auf die soziale Revolution und trägt 54 Lenin 1970, S. 234 f. 55 Trotzki 1990a, S. 62.
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den Sozialismus zu Grabe.“56 Nirgends sonst hat Trotzki den überaus repressiven Charakter der selbst mit ins Werk gesetzten „Diktatur des Proletariats“ betont und legitimiert, wofür er selbst Beifall aus einer gänzlich anderen Richtung erhielt – von Carl Schmitt.57 Nötigung, Zwang und Gewalt sollten aber auch das Leben der Arbeiter in Sowjetrussland umschließen. Ohne eine „Militarisierung der Arbeit“ sei die „revolutionäre Diktatur“ undenkbar, da – so Trotzki – die „planmäßige Wirtschaft ohne Arbeitspflicht“ nicht möglich sei. Dafür benötige es einer „zentralisierten Verteilung der Arbeitskraft“ ohne freie Arbeitswahl. Für Trotzki stand fest, dass der „Arbeiter […] dem Sowjetstaat […] verpflichtet“, ja sogar „allseitig untergeordnet“ sei, „weil es sein Staat“ sei. Hier wurde einfach eine Identität des Arbeiters mit dem neuen Staat konstruiert. Wie sich die neue „Staatsdiktatur“ beim Übergang zum Sozialismus von ihrem „Zwangsapparat“ emanzipieren und in eine „Produktionsund Konsumkommune“ verwandeln sollte, vermochte Trotzki nur zu postulieren, aber nicht zu erklären. Doch zuvor – und hier verabsolutierte er Marx’ Aussagen im „Kommunistischen Manifest“ – führe der Weg zum Sozialismus „über die höchste Anspannung der Staatsorganisation“. Sprachgewaltig beschrieb er diesen dialektischen Zirkelschluss so: „Wie eine Lampe vor dem Erlöschen noch einmal hell aufflammt, so nimmt auch der Staat, bevor er verschwindet, die Form der Diktatur des Proletariats an, d.h. des schonungslosesten Staates, der das Leben der Bürger von allen Seiten gebieterisch erfasst.“58 Trotzkis, aber auch Lenins Aussagen über einen staatlichen Leviathan schreckten Kautsky dagegen immer mehr: Auch er war jahrzehntelang davon ausgegangen, dass der neue proletarische Staat deutlich mehr Aufgaben übernehmen sollte als der bürgerliche, eben weil er ja die Wirtschaft zu gestalten hatte. Und auch er hatte lange Zeit vom „Proletariat“ als einem vermeintlich homogenen Subjekt der Geschichte gesprochen. Angesichts der von ihm in Sowjetrussland beobachteten „Allmacht des Staates“59 rückte nun verstärkt das Individuum in seinen Fokus. Die Sowjetdiktatur werde „Herdennaturen“ nicht in „freie Persönlichkeiten“ verwandeln, viel eher „gehorsame Werkzeuge“ schaffen.60 Wer mit „Massenerschießungen“, „Gasbomben“, Revolutionstribunalen und außerordentlichen Kommissionen (Tscheka) ohne jegliche Rechtsgarantien für die Delinquenten die neue Gesellschaft herbeimorden wolle,
56 Ebd., S. 25. 57 Im Kapitel „Die Diktatur im marxistischen Denken“ seines 1923 erschienenen Buches über die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus äußerte sich Schmitt hinsichtlich der Theorie der direkten Aktion: „Wie Trotzki gegen den Demokraten Kautsky mit Recht bemerkt: im Bewußtsein von Relativitäten findet man nicht den Mut, Gewalt anzuwenden und Blut zu vergießen.“ Schmitt 2010, S. 77. 58 Trotzki 1990a, S. 126, 131, 154–156. 59 Kautsky 1990b, S. 267. 60 Ebd., S. 270.
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der komme nicht bei der „höheren Lebensform“ des Sozialismus an,61 sondern in einem „Zuchthaus“ oder einer „Kaserne“, letztlich in der „Staatssklaverei“.62 Der Zweck – so Kautsky – „heiligt nicht jedes Mittel, sondern nur solche, die in Einklang mit ihm stehen“.63 Gewiss seien „Freizügigkeit, Freiheit der Wahl des Berufs und des Betriebs ‚liberale Freiheiten‘, ebenso wie Preß- und Versammlungsfreiheit usw.“. Aber das besage eben nicht, dass der „Arbeiter auf diese Freiheiten verzichten“ wolle; vielmehr würden dem Arbeiter diese Freiheiten „nicht genügen“, Arbeiter würden noch größere Freiheiten „verlangen“ und auch erhalten.64
4. Wirkungen und Einsichten Wie bereits erwähnt, wäre es verfehlt anzunehmen, die fünf (Streit-)Schriften, die Kautsky, Lenin und Trotzki zwischen 1918 und 1921 veröffentlichten, als rein internen Diskurs zu betrachten. Über die bloßen Auflagen und (Neu-)Ausgaben hinaus fanden die Schriften erheblichen Widerhall – sei es mit Teilveröffentlichungen, Zeitschriftenartikeln oder direkten Ansprachen vor Anhängern. Dabei waren Lenin und Trotzki insofern im Vorteil, als sie – bei fortschreitender Entwicklung – immer stärker auf die staatlichen Ressourcen ihres Landes zurückgreifen konnten und nach Gründung der „Kommunistischen Internationale“ 1919 entsprechenden Einfluss auf die bereits abgespaltenen kommunistischen Parteien des Westens auszuüben vermochten. Ihre Deutung der „Diktatur des Proletariats“ fand auf diese Weise eine Massenresonanz, vor allem bei jenen, die die Staatsgründung im Osten als ein notwendiges sozialistisches Experiment betrachteten. Kautsky dagegen konnte sich weder auf einen eigenen Staat noch auf eine internationale Organisation stützen. In der eigenen Partei – der USPD – geriet er als Mann des rechten Flügels gerade im Zuge der Linksentwicklung der Gesamtpartei ab Frühjahr 1919 in eine innerparteiliche Isolation. Allerdings wurde dieser rückläufige Einfluss mehr als wettgemacht durch seinen erneut zunehmenden medialen Einfluss in der gesamten Presse der MSPD, die ihn seit Veröffentlichung seiner ersten Schrift als Kronzeugen des eigenen Diktaturverständnisses und der konkreten Diktaturkritik an Sowjetrussland betrachtete, aber eben auch als Kronzeugen gegen die nach links driftende USPD.65 An dieser Konstellation änderte sich auch dann nichts, als Lenin erstmals Mitte 1920 in einer größeren Schrift öffentlich einräumte, dass die sowjetrussische Diktatur des Proletariats nichts anderes sei als die Diktatur einer einzigen Partei, ja sogar – in zutreffender Weise – die Diktatur der bolschewistischen Parteiführung. Klasse, 61 62 63 64 65
Kautsky 1990a, S. 329–337. Kautsky 1990b, S. 271, 278. Kautsky 1990a, S. 329–332. Kautsky 1990b, S. 263. Vgl. Schmeitzner 2018, S. 142 f., 150.
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Partei und Parteiführung wurden von ihm faktisch in eins gesetzt, dabei aber der Vorwurf kommunistischer Oppositioneller, eine Diktatur über das Proletariat errichtet zu haben, sogar indirekt bestätigt – so erklärte der Partei- und Regierungschef, „hier haben wir also eine regelrechte ‚Oligarchie‘. Keine einzige wichtige politische oder organisatorische Frage wird in unserer Republik von irgendeiner staatlichen Institution ohne Direktiven des Zentralkomitees unserer Partei entschieden“.66 Das analysierte Kautsky fast zeitgleich ganz ähnlich, als er konstatierte, dass seit Herbst 1917 eine Diktatur entstanden sei, „wie sie zentralisierter, umfassender und unumschränkter die Welt noch nicht gesehen“ habe. Für Kautsky kam diese Entwicklung nicht überraschend, war doch die „neue Bürokratie […] im Staate eingerichtet, ganz nach dem Muster, das Lenin für die Parteiorganisation aufgestellt hatte“. Daraus ergab sich dann zwangsläufig die „Diktatur des Zentralkomitees“, das „aus der Partei in den Staat übertragen“ worden sei. Bei dieser Analyse stützte sich Kautsky übrigens auch auf Rosa Luxemburgs frühe Kritik (1904) an Lenins Parteimodell.67 Spätestens 1921 musste sich Kautsky eingestehen, dass er gegen die Ineinssetzung von Diktaturbegriff und bolschewistischer Prägung nicht mehr anschreiben konnte: Zwar hatte er im selben Jahr noch einmal versucht, in der Theoriezeitschrift der österreichischen Sozialdemokratie zwischen der „befreienden Form der Diktatur des Proletariats“ und der „knechtenden Form“ der Bolschewiki zu unterscheiden. Laut Kautsky sollte die „einige sozialistische Partei“ (hier wohl mit Blick auf die nicht gespaltene österreichische Sozialdemokratie und im Vorgriff auf die (Wieder-)Vereinigung von MSPD und Rest-USPD 1922) im Rahmen der parlamentarischen Demokratie eine proletarische „Alleinherrschaft ohne Kompromisse“ erstreben.68 Doch musste er in der gleichfalls 1921 veröffentlichten Antwortschrift an Lenin und Trotzki einräumen, dass das „Schlagwort von der Diktatur des Proletariats, trotzdem Marx und Engels es akzeptiert haben, sehr in Mißkredit geraten“ sei und zwar durch die „bolschewistische Diktatur“. Die Geschichte, so Kautsky resignierend, habe das „Wort von der Diktatur des Proletariats zum Kennzeichen des Bolschewismus gemacht“. Daher hätten „wir auch allen Grund, auf den Gebrauch des Schlagworts“ zu verzichten. Statt des „vieldeutigen“ und „missverständlichen“ Wortes sollten Sozialisten eher auf Begriffe wie „Herrschaft des Proletariats“ und „demokratischer Sozialismus“ zurückgreifen.69 1922 konstatierte Kautsky dann in einer größeren Studie, dass die „bolschewistische Diktatur“ als „Parteidiktatur“ an „Willkürlichkeit, an Kraft wie an Ungebundenheit der Staatsgewalt weit über den Zarismus“ hinausgehe. Für ihn war nun klar, dass, „von welcher Seite wir also die Diktatur anpacken mögen“, sie sich als 66 Lenin 1966, S. 32. Fast wortgleich äußerte sich Trotzki in einer Rede auf dem 9. Parteitag der sowjetrussischen KP am 26.7.1920, vgl. Wolkogonow 1992, S. 447. 67 Kautsky 1990b, S. 216, 232 f. 68 Kautsky 1921, S. 281. 69 Kautsky 1990b, S. 244 f.
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„untaugliches Mittel“ erweise, den „Kapitalismus zum Sozialismus zu entwickeln“. Die sich daraus ergebende Erkenntnis kam nicht mehr so überraschend: „Die demokratische Republik ist die Staatsform für die Herrschaft des Proletariats“.70 Überraschend und problematisch zugleich war jedoch sein Versuch, den berühmten und häufig genug zitierten Marx-Satz aus den Randglossen zum Gothaer Programm zu entschärfen, in dem er jetzt in einer eigenen Auslegung den Begriff der „revolutionären Diktatur des Proletariats“ durch die Formel der möglichen Übergangsregierung in „Form einer Koalitionsregierung“ ersetzte.71 Nichts hätte Marx ferner gelegen, als diesen Übergang mit Hilfe einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Koalitionsregierung zu bewerkstelligen. Kautskys Vorstellungen zeigen im Umkehrschluss aber auch, wie stark er bereits in der Weimarer Republik, an deren Entstehen er Anteil hatte, verwurzelt war. Für Lenin und Trotzki bedeutete die (weitgehende) Aneignung des Diktaturbegriffes erst einmal ein Zugewinn an Legitimation: Denn in Folge der Vereinnahmung des Begriffs wurde nichts weniger als eine „Lehre“ der „Diktatur des Proletariats“ begründet, die wiederum Kernstück der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie war.72 Das schloss aber nicht aus, dass selbst Lenin vor seinem frühen Tod im Januar 1924 eine „gewisse Resignation“ befiel, die sich vor allem aus seiner Kritik an der Erstarrung der Partei, der „Verbürokratisierung des Sowjetstaates“ und dem Ausbleiben der revolutionären Welle im Westen speiste. Doch konstruktive Lösungen vermochte der „extreme Institutionsfetischist“ nicht mehr vorzulegen.73 Zwar hatte er 1921 die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen des „Kriegskommunismus“ mit der partiellen Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Strukturen im Rahmen der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP) abmildern können, doch im Gegenzug mit der Ausschaltung jeglicher Plattformbildung in der Partei die Parteidiktatur noch befestigt. Trotzkis Schicksal wiederum war Ausdruck der despotischen Diktaturentwicklung unter Stalin: Im Zuge der Diadochenkämpfe in der Parteispitze wurde er verdrängt, verbannt, dann ausgebürgert und im mexikanischen Exil von einem Handlanger des sowjetischen Geheimdienstes 1940 ermordet. Im Exil kehrte der Deutungskämpfer von 1918 bis 1921 aber nur partiell zu den Ursprüngen seiner kritischen Analyse von 1904 zurück. Seine damalige Warnung, dass eine neue Klasse von bevorrechtigten Parteifunktionären eine (Partei-)Diktatur über das Proletariat errichten könnte, kollidierte mit seiner jetzigen Analyse, dass Lenin (und er selbst) ab 1917 den bürgerlichen „Parasiten“-Staat abgeschafft und einen tendenziell im 70 Kautsky 1922, S. 139–142. 71 Ebd., S. 106. Dass Kautskys Einlassungen wiederum auf heftige kommunistische Kritik stießen, verwundert nicht. Oelßner 1950, S. 22, bezeichnete Kautskys sinnentstellende Paraphrasierung als „unglaubliche wissenschaftliche Lumperei“. 72 Wörterbuch der Geschichte 1984, S. 237. 73 Ruge 2010, S. 351, 359.
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Absterben begriffenen proletarischen Staat begründet hätten; erst Stalin habe das „Absterben“ des Sowjetstaates verhindert, indem der Staat unter Stalin zu einem „in der Geschichte noch nicht dagewesenen Zwangsapparat“ und die Bürokratie zu einer „unkontrollierten, die Massen beherrschenden Kraft“ mit „despotischen“ Formen gewuchert sei.74 Das war gewiss scharfsichtig beobachtet. Doch hatte Trotzki 1936 vergessen, was für neue bürokratische Zwangsapparate schon die Regierung der Volkskommissare ab 1918 etablierte und in welchen Tönen er 1920 Kautsky gegenüber den „schonungslosesten Staat“ der Sowjetdiktatur anpries, der das „Leben der Bürger von allen Seiten gebieterisch“ erfasse? Für Trotzki war es wohl unmöglich, zur frühen Einsicht von 1904 zurückzukehren, denn das hätte nichts anderes bedeutet, als seinen eigenen entscheidenden Anteil an der Machtübernahme der Bolschewiki – mithin sein Lebenswerk – infrage zu stellen.
5. Fazit Die Auseinandersetzung, die von 1918 bis 1921 zwischen Kautsky einerseits und Lenin und Trotzki andererseits entbrannte und eine enorme Breitenwirkung erzielte, war ein Deutungskampf um den Begriff der „Diktatur des Proletariats“, aber auch um Wege, Reifegrade und Bedingungen einer neuen Gesellschaftsordnung. Letztlich ging es um die Legitimation des sowjetrussischen Projektes. Kautsky sah sehr klar, dass sich Lenin und Trotzki des „Marxschen Wortes“ von der „Diktatur des Proletariats“ vor allem deshalb „bemächtigten“, um „ihre eigene Diktatur unter der Firma der Diktatur des Proletariats auf[zu]richten“.75 Für den geistigen Nachlassverwalter von Marx und Engels war diese Vorstellung unannehmbar, handelte es sich doch bei der Diktatur der Bolschewiki nicht um eine demokratisch abgesicherte Herrschaft des Proletariats, die Kautsky zeitlebens vorschwebte, sondern um die Herrschaft einer besonders radikalen Gruppe. Kautsky hatte 1899 den Diktaturbegriff nicht nach rechts hin – gegen Bernstein – verteidigt, um ihn jetzt (1918) nach links hin einfach aufzugeben. Doch weil das „Wort von der Diktatur des Proletariats von vornherein daran gelitten“ hatte, dass „es vieldeutig“ war,76 wie Kautsky ganz richtig erfasste, gelang es den Schöpfern des neuen sowjetrussischen Staates zusehends, ihr Werk trotz fehlender gesellschaftlicher Voraussetzungen als „marxistisch“ auszugeben. Lenin und Trotzki verabsolutierten dabei die repressiven und staatssozialistisch ausdeutbaren Elemente in Marx’ und Engels’ Diktaturbegriff. Eben weil die Bedingungen und Reifegrade nicht den Marx’schen Annahmen entsprachen,
74 Trotzki 1990b, S. 67, 71. 75 Kautsky 1990a, S. 330. 76 So Kautsky 1990b, S. 244.
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sahen sie sich um der Macht willen genötigt, mit dem Parlamentarismus zu brechen und den Faktoren Gewalt und Terror enormen Tribut zu zollen. Dass ausgerechnet Kautsky diese schwerwiegenden Geburtsfehler bloßstellte, empörte Lenin und Trotzki in besonderer Weise. Hatten sie doch den anerkannten marxistischen Theoretiker wegen seiner Begriffsverteidigung nach rechts hin ebenso verehrt wie aufgrund seiner unbestreitbaren Verdienste für die russische Arbeiterbewegung und wegen seiner (früheren) Revolutionseuphorie für Russland. Kautsky hatte zumal lange vor 1918 mit Blick auf Russlands Revolutionierung selbst von „abgekürzten“ Entwicklungen gesprochen. Angesichts der sowjetrussischen Entwicklung – der konkreten Diktatur – sah er sich nun veranlasst, den Begriff (weiter) zu demokratisieren und zu liberalisieren. Dass die Bolschewiki den Deutungskampf um die „Diktatur des Proletariats“ wenigstens zu Anfang nicht so klar für sich entscheiden konnten, war Kautskys Verdienst, der mit seiner Argumentation zumindest einen größeren Teil der (sozialistischen) Arbeiterbewegung in Mitteleuropa beeinflussen konnte. Erst 1921/22 sah er sich endgültig genötigt, auf den Begriff zu verzichten, was aus seiner Sicht nur folgerichtig war, verbuchten doch die Bolschewiki die Macht des Faktischen längst auf ihrer Seite. Gegen eine „diktatorische Diktatur“ aus Sicht einer „demokratischen Diktatur“ zu argumentieren, erschien nicht länger haltbar. Und doch fürchteten Lenin und Trotzki Kautskys Einfluss, weil er – anders als sie selbst – nicht an Emotionen appellierte und seine Gegner mit Invektiven bekämpfte, sondern auf einer „soliden wissenschaftlichen Basis“ argumentierte, wie Trotzki hämisch bemerkte. Mochte seinen Veröffentlichungen tatsächlich etwas „akademisch-scholastisches“ anhaften,77 so machte Trotzkis Häme im Umkehrschluss deutlich, was die Führer der Bolschewiki an ihrem Widerpart am meisten fürchteten: die Kraft der Argumente, die sich an den Wertvorstellungen des europäischen Humanismus orientierten.
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Uli Schöler Julius Martow und die Austromarxisten
Abgesehen von einigen wenigen Spezialisten, die sich mit der Frühgeschichte der russischen Arbeiterbewegung beschäftigt haben, dürfte der Name Julius Martow heute nahezu niemandem mehr etwas sagen. Dabei gehört er zu den großen Persönlichkeiten nicht nur des russischen Sozialismus, sondern war eine der angesehensten Persönlichkeiten der europäischen Sozialdemokratie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Von großer Bedeutung sind dabei vor allem zwei Ereignisse, die untrennbar mit seinem Namen verbunden sind: Erstens die Auseinandersetzung um die organisatorische Struktur der russischen sozialdemokratischen Partei im Jahr 1903, der Ausgangspunkt der Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki, sowie die Auseinandersetzung in der USPD über den Anschluss an die Kommunistische Internationale 1920. Martow, 1873 unter dem Namen Julij Cederbaum in Konstantinopel als zweiter Sohn einer wohlhabenden russisch-jüdischen Familie geboren, repräsentierte ab 1903 für eine ganze Reihe von Jahren den menschewistischen Parteiflügel, ehe er mit seiner strikt kriegskritischen Haltung vorübergehend bei den Menschewiki in eine Minderheitsposition geriet.1 Erst nach der russischen Oktoberrevolution mit der Übernahme der Herrschaft durch die Bolschewiki veränderte sich diese Situation erneut. Unterstützt durch einen Teil der vormaligen revolutionären Vaterlandsverteidiger unter Führung seines Schwagers Theodor Dan übernahmen die MenschewikiInternationalisten mit Martow an der Spitze nun die Führung der menschewistischen Partei. Das Angebot Lenins, in der Revolutionsregierung das Amt des Außenministers zu übernehmen, lehnte Martow ab. Er maß dem bolschewistischen Revolutionsexperiment keine dauerhafte Überlebensperspektive zu, missbilligte zudem die Methoden der bolschewistischen Herrschaftsausübung. Von besonderer Bedeutung für das Verhältnis der österreichischen Sozialdemokraten zu den Menschewiki ist die Freundschaft zwischen Otto Bauer und Julius Martow. Bauer wurde Ende Juli 1914 als Leutnant zum Kriegsdienst herangezogen. Ende des Jahres geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, die er zunächst in Sibirien verbrachte. Im Verlaufe des Jahres kehrte er 1917 – gewissermaßen als Experte für russische Fragen – aus der Kriegsgefangenschaft (über St. Petersburg) in die Heimat zurück. Dabei kam ihm insbesondere zugute, dass er schon vor seiner
1 Zur Person Martows vgl. Getzler 1967.
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Gefangennahme die russische Sprache fließend beherrschte. In den vier Wochen, die Bauer im Sommer 1917 vor seiner Rückkehr nach Wien in St. Petersburg verbrachte, wohnte er zwar offiziell bei dem polnischen Sozialisten Lapinsky, aß allerdings jeden Tag zu Mittag bei Lydia (der Schwester Martows) und Theodor Dan und verbrachte den größeren Teil des Tages in deren Wohnung. Von dort aus konnte er sogar – von einem Detektiv begleitet – in die Stadt gehen, Bibliotheken und Versammlungen der Sowjets besuchen und Gespräche mit russischen Ministern führen.2 Zu diesem Zeitpunkt waren die Beziehungen zwischen Martow und seinem Schwager Dan erheblich angespannt. Während ersterer offensiv der praktizierten Koalitionspolitik mit bürgerlichen Ministern entgegentrat, wurde diese Linie unter der Führung von Theodor Dan und Iraklij Cereteli von der Parteimehrheit praktiziert. Martow wohnte in der Nachbarschaft der Familie Dan.3 Bei den Treffen im deren Haus lernte Bauer so aus erster Hand die Auffassungen der verschiedenen Strömungen der menschewistischen Partei kennen. Wie er diese Differenzen einschätzte ist durch einen Brief vom 28. September 1917 an Karl Kautsky überliefert: „Im Allgemeinen stehe ich auf dem Standpunkt Martows und seiner Freunde. Die eigentlichen Menschewiki haben eine meines Erachtens unmögliche Politik gemacht … Diese Politik hat … dazu geführt, daß die Arbeiter den Menschewiki in Scharen davongelaufen sind. Auf der anderen Seite aber haben die Bolschewiki eine Politik der gefährlichsten Abenteuer betrieben … Zwischen diesen beiden Extremen haben die Menschewiki-Internationalisten unter Martows Führung die richtige Mitte gehalten. Recht hat auch dort das ‚marxistische Zentrum‘.“4
Dass Bauer Julius Martow bis zu dessen Tod 1923 als seinen ersten Gewährsmann in russischen Fragen betrachtete, hat er mehrfach zum Ausdruck gebracht. Bauer selbst gilt wiederum als die unbestrittene geistige wie politische Führungspersönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit. Innerhalb der von ihm verkörperten austromarxistischen Tradition ist es in philosophischer Hinsicht daneben vor allem Max Adler, der mit einem eigenständigen theoretischen Anspruch auftritt und sich dabei auch mit Julius Martow auseinandersetzt. Eher am Rande der austromarxistischen Kerngruppe wiederum liefert der Jurist Hans Kelsen wichtige Beiträge zu diesen innersozialdemokratischen Debatten.
1. Das menschewistische Konzept der Übergangsperiode Martows theoretische Überlegungen zu den Fragen von Demokratie und Diktatur des Proletariats sind nicht verständlich, ohne zunächst einen Blick auf die mensche2 Vgl. Löw 1980, S. 10f.; Hanisch 2011, S. 89. 3 Vgl. Jebrak 2006, S. 108f. 4 Zit. nach Löw 1980, S. 12.
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wistische Haltung zur russischen Oktoberrevolution 1917 zu werfen. Sowohl die bisherige menschewistische Mehrheitsströmung als auch die Parteilinke unter Führung Martows5 reagierten zunächst mit schroffer Ablehnung auf dieses Ereignis. Bald setzte jedoch bei der neuen linken Mehrheit der Partei ein Umdenkungsprozess ein. Am deutlichsten wurde dies in den von Martow entworfenen Thesen des ZK der SDAPR im Oktober 1918. Dort heißt es: „Der bolschewistische Umsturz vom Oktober 1917 war historisch notwendig, weil er dadurch, daß er die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit abbrach, das Verlangen der Arbeiterklasse ausdrückte, den Kurs der Revolution ganz ihren Interessen unterzuordnen. Ohne das war es unmöglich, Rußland aus der Klammer des alliierten Imperialismus zu befreien, eine dauerhafte Friedenspolitik zu führen, eine radikale Agrarreform durchzusetzen ... und die gesamte Wirtschaft nach den Interessen der Volksmassen zu regulieren.“6
Der letzte Satz lässt bereits erkennen, dass die Menschewiki Ende 1918 unter der Führerschaft Martows zu einer partiellen Neueinschätzung auch des Charakters der Revolution gelangten. Jahrelang war man der festen Überzeugung gewesen, dass eine Revolution in Russland auf einen bürgerlichen Charakter beschränkt bleiben müsse.7 Nun, das heißt Ende 1918, ersetzte man die Theorie von der notwendig bürgerlichen Revolution durch die Theorie von einer Übergangsperiode. Man behielt zwar die Auffassung bei, dass in Russland selbst die grundlegenden ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen für die Organisation der sozialistischen Wirtschaft fehlten.8 Aber der Übergang zum Sozialismus wurde nun im Rahmen eines schrittweisen Prozesses als möglich angesehen, nicht also erst nach einer neuen Revolution im Anschluss an die der bürgerlichen Revolution folgende lange kapitalistische Entwicklung.9 Dies hatte für Julius Martow zur Folge, dass er sich jetzt genauer mit den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden der Revolutionen in einzelnen Ländern auseinandersetzte. Die neue Situation führt für ihn notwendig zu einer Differenzierung der Umwälzungsprozesse: „Die Welt ist in eine Phase größerer sozialer Umwälzungen eingetreten, die auf den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus hinauslaufen, in verschiedenen Formen und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in den einzelnen Ländern. In einigen Ländern kann die Herrschaft des Proletariats und der Übergang zum Kollektivismus als Folge von Katastrophen und Bürgerkrieg eintreten, in anderen – schrittweise, in Teilen, durch eine
5 6 7 8 9
Zu den einzelnen Parteiströmungen vgl. Reisser 1981, S. 28ff. ZK der SDAPR, Thesen vom Oktober 1918. In: ebda., S. 76. Vgl. zu den darin enthaltenen Varianten insbesondere Haimson 1974, S. 364ff. Vgl. zu letzterem nochmals Martow 1920, S. 10. Vgl. insgesamt Haimson 1974, S. 187f.
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Reihe von Zwischenformen; wesentlich aber, es wird derselbe historische Prozeß sein …“10
Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung ergibt sich für ihn aus der je unterschiedlichen Entwicklungsstufe des Kapitalismus, dem jeweiligen Kräfteverhältnis der sozialen Klassen und den Unterschieden im kulturellen Niveau bzw. einer Reihe anderer gesellschaftlicher Faktoren.11 Bedeutsam an dieser Einschätzung Martows ist unter anderem, dass sie – wenn auch erst in allgemeinster Form – zugleich die Begründung für die Möglichkeit und Notwendigkeit unterschiedlicher Wege zum Sozialismus liefert.
2. Julius Martow: Diktatur des Proletariats als Diktatur der Volksmehrheit Schauen wir nun genauer auf Martows Verständnis von einer Diktatur des Proletariats. Er arbeitet zunächst heraus, dass Marx und Engels in verschiedenen Perioden ihres Lebens unterschiedliche Sichtweisen darüber hatten, unter welchen Bedingungen sich die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse verwirklichen sollte. Sie seien erst später von der Vorstellung abgegangen, dass sie sich durch kleine bewusste Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen vollziehe.12 Der von Marx und Engels vollzogene Wandel dahin, dass bei der sozialistischen Revolution die Massen selbst dabei sein müssten, führte für Martow und seine Partei zu der grundsätzlichen Einschätzung, dass die Sache des Proletariats entsprechend nur dann siegreich sein könne und werde, wenn es die Sache der Mehrheit des Volkes sei. Dies hieß für sie bezogen auf Russland, dass die Ende 1917 gewählte Konstituante die historische Form gewesen wäre, durch die die Diktatur der werktätigen Massen am leichtesten hätte verwirklicht werden können. Sie gingen also davon aus, dass auch die Mehrheit der in der Konstituante vertretenen sozialistischen Parteien die zur Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse notwendigen bzw. die angesichts des Reifegrades bereits möglichen Maßnahmen ergriffen hätte. Mit Blick auf die Sprengung der Konstituante durch die Bolschewiki im Januar 1918 kritisierten die Menschewiki zunächst, dass die Bolschewiki damit einen bedeutenden Teil der Bauernschaft und breite Schichten der Demokratie in die Arme der Konterrevolution getrieben hätten. Da im gegenwärtigen Zeitpunkt die Losung für die Konstituante jedoch als Banner und Deckmantel der direkten Konterrevolution benutzt werden könne und selbst Neuwahlen sie in ein Organ der Konterrevolu-
10 Martow, Julius, Brief an Paul Axelrod v. 23. Januar 1920; zit. nach Haimson 1974, S. 189 (eigene Übersetzung). 11 Vgl. Martow, Julius, Die soziale Weltrevolution und die Aufgaben der Sozialdemokratie (April 1920). In: Sozialistische Revolution 1981, S. 109. 12 Vgl. Martoff 1918, S. 4; vgl. dazu ausführlicher Schöler 2021, S. 268ff.
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tion umzuwandeln drohten, verzichteten sie nun vorübergehend auf diese Losung. Grundsätzlich müsse zwar die Idee der Volksmacht, des allgemeinen Wahlrechts und der Konstituante verteidigt werden. Ausgangspunkt des Kampfes werde aber nun als realer Faktor, nicht als Prinzip, das System der Sowjets.13 Die unmittelbaren Losungen der menschewistischen Partei lauteten entsprechend: Gewährleistung des Wahlrechts für alle Werktätigen, Entzug des Rechts der Sowjets, einzelne Deputierte oder ganze Gruppen auszuschließen (Maßnahmen, die sich in den Städten insbesondere gegen ihre Partei richteten), Wiedereinsetzung des Zentralen Exekutivkomitees als Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan, Wiederherstellung der Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit sowie genaue gesetzliche Festlegung von Einschränkungen dieser Rechte und deren Begrenzung auf die Kräfte der Konterrevolution.14 Dieses Bekenntnis zur Notwendigkeit, bei der Machtergreifung die Volksmehrheit hinter sich zu haben, deckte sich mit Martows Vorstellung von bzw. seinem Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats. Insoweit bestand für ihn auch kein Widerspruch zwischen Demokratie und Diktatur des Proletariats als gesamter Klasse. Abzulehnen sei hingegen die Diktatur einer Minderheit. Notwendige Vorbedingung der sozialen Revolution bilde die Bereitschaft und Fähigkeit der machtlosen Mehrheit, die machtvolle Minderheit zu stürzen. Entsprechend ist für ihn die proletarische Klassendiktatur „... die durch den Staat organisierte Gewalt gegenüber dieser Minderheit, insoweit dieselbe der sozialen Revolution Widerstand zu leisten versucht, und der Grad und die Form dieser Gewalt sind ganz von der Kraft und der Wirksamkeit dieses Widerstandes bestimmt. Niemals aber kann ihrem Wesen nach die Klassendiktatur des Proletariats gegen andere arbeitende Schichten gerichtet werden, deren aktive und freiwillige Mitwirkung im Prozeß der sozialen Umwälzung notwendig ist und allein die Lösung des Problems der Umgestaltung der wirtschaftlichen Formen auf dem Boden der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte durch das Proletariat sichern kann.“15
Martow unterscheidet an dieser Stelle signifikant zwischen politischer und sozialer Revolution, denn der genannte Sturz der bisherigen machtvollen Minderheit, d. h. die politische Revolution, könne nicht mit den Mitteln eines legalen Kampfes des Proletariats im Rahmen der Staatseinrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft ausgetragen werden, insoweit die regierende kapitalistische Minderheit, die die militäri13 Vgl. Resolution der Parteikonferenz der SDAPR v. 27. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919. In: Sozialistische Revolution 1981, S. 77f. Im Folgenden werden Parteidokumente der SDAPR und Texte Martows gemeinsam behandelt, da erstere in dieser Phase ganz überwiegend aus seiner Feder stammen. 14 Vgl. ZK der SDAPR, Erklärung vom 12. Juli 1919: An alle Arbeiter und Arbeiterinnen .... In: ebda., S. 84f. 15 SDAPR, Die soziale Weltrevolution und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Beschluß der Konferenz in Moskau vom April 1920. In: ebda., S. 110f. Dieser Text wurde von Martow verfasst; vgl. redaktionelle Anmerkung zum Wiederabdruck. In: Der Kampf Nr. 5, Mai 1927, S. 237.
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schen und materiellen Herrschaftsmittel besitze, gegen den legalen Übergang der Macht an das Proletariat Widerstand leisten würde.16 Nur im Sinne einer solchen Trennung von politischer und sozialer Revolution ist Martow auch zu verstehen, wenn er ein Jahr zuvor schreibt, die Entwicklung der Welt schließe in sich den Durchgang durch die Demokratie als eine Voraussetzung des Sozialismus ein, obwohl unter Umständen revolutionäre Zwischenetappen durchschritten werden müssten, bevor die Demokratie erreicht werde.17 Die politische Revolution kann wegen des Widerstands der Bourgeoisie wahrscheinlich nicht mit demokratischen Mitteln verwirklicht werden, aber nach deren Entmachtung bedarf es zur Verwirklichung der länger dauernden sozialen Umwälzung der Demokratie, wobei wir hier schon hinzufügen müssen: zumindest bezogen auf die neue herrschende Klasse, die Arbeiterklasse. Das obige längere Zitat veranschaulicht, dass dies für ihn schon aus ökonomischen Gründen notwendig ist. Schauen wir uns deshalb an, was Martow unter Demokratie versteht. Er schreibt: „Jede Demokratie ist historisch durch den Rahmen bestimmter sozialer Gruppen beschränkt, in deren Kreis sie die demokratischen Prinzipien realisiert ... Deshalb widerspricht es dem demokratischen Wesen der Klassendiktatur keineswegs, wenn man den sozialen Gruppen, die außerhalb des Rahmens dieser Demokratie, das heißt außerhalb der produktiven gesellschaftlichen Arbeit stehen, die bürgerlichen Rechte entzieht oder beschränkt.“18
Trotz einer solchen Beschränkung z. B. des Wahlrechts für die Vertreter der Bourgeoisie durch ein Sowjetsystem sei damit dennoch eine vollständigere Demokratie möglich als in früheren Demokratien, die bezogen auf das Wahlalter oder das fehlende Frauenwahlrecht auch ihre Beschränkungen hatten. Eine gewisse Berechtigung aus dem demokratischen Gedanken selbst heraus enthalte diese Beschränkung dadurch, dass die Einbeziehung aller in die produktive Arbeit und damit eine Universaldemokratie angestrebt werde.19 Derartige Wahlrechtsbeschränkungen sind jedoch für Martow kein historisch und logisch notwendiger Bestandteil der proletarischen Klassendiktatur, sondern nur eine provisorische Maßregel des legitimen revolutionären Selbstschutzes in der Periode des Bürgerkrieges, die dazu noch die vorläufige Schwäche der Klassendiktatur selbst manifestiere.20 Anders als etwa die bolschewistischen Theoretiker plädiert Martow also gerade nicht für eingeschränkte demokratische Maßregeln als notwendigem Bestandteil einer Diktatur des Proletariats. In einer solchen Phase des Bürgerkriegs ist für ihn nochmals eine Differenzierung in Bezug auf deren konkrete Ausdrucksform erforderlich. In einer derartigen Situati16 17 18 19
Vgl. ebd., S. 110. Vgl. Martow, L. (=Julius], Diktatur und Demokratie, Petrograd 1919. In: Ascher 1976, S. 126f. SDAPR, Die soziale Weltrevolution .... In: Sozialistische Revolution 1981, S. 112. Vgl. Martow, Julius, Der Staat und die sozialistische Revolution [Anfang 1919]. In: ebd., S. 94f. 20 Vgl. SDAPR, Die soziale Weltrevolution… In: ebd., S. 113.
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on komme unvermeidlich der Moment, wo die Vorhut der revolutionären Klasse, gestützt auf die bewusste Unterstützung der Massen, deren Interessen sie repräsentiere, gezwungen sei, die Staatsmacht in der Form der Diktatur der revolutionären Minderheit zu realisieren. Von der bolschewistischen Vorstellung einer solchen Minderheitsdiktatur setzte Martow diese Konzeption aber in zwei Punkten ab: Er verwarf dabei den Terror und fasste sie als eine nur kurze Übergangsphase in der weltumspannenden Entwicklung hin zum Sozialismus.21 Da sich für ihn die Diktatur des Proletariats dabei in verschiedenen Formen ausdrücken kann, wendet er sich zugleich gegen die bolschewistische Formel, die Sowjets seien die allgemeingültige Form der Diktatur des Proletariats. Vielmehr müssten für jedes Land die jeweiligen Besonderheiten und historischen Bedingungen berücksichtigt werden.22 Es ist also nicht das Sowjetsystem mit seinem eingeschränkten Wahlrecht an sich, gegen das sich Martow wendet, sondern – bezogen auf Russland – sein undemokratischer Charakter im Innenverhältnis, die Tatsache, dass die Demokratie auch in den Beziehungen zwischen den privilegierten Bürgern, sprich: allen Werktätigen, unterdrückt wird. Er präzisiert daher, welches für ihn die unverzichtbaren Merkmale eines demokratisch zu nennenden Regimes sind, unabhängig davon, wie groß der Kreis der Bürger ist, den sie betreffen: 1. Absolute Unterwerfung des ganzen exekutiven Apparats unter die Volksvertretung 2. Wählbarkeit und Abberufbarkeit der Verwaltung, Richter und Polizei; demokratische Organisation der Armee 3. Kontrollierbarkeit und Öffentlichkeit aller administrativen Handlungen 4. Freiheit der politischen Koalition (zumindest für die privilegierten Bürger) 5. Unverletzbarkeit der individuellen und kollektiven Rechte des Bürgers, Schutz vor jeglichem Missbrauch von Seiten der Beauftragten der Staatsmacht 6. Freiheit des Bürgers, alle staatlichen Fragen zu diskutieren; Recht und Macht des Bürgers, freien Druck auf den Regierungsapparat auszuüben.23 Fassen wir noch einmal zusammen: Martow ist sich im Anschluss an die Marx-/Engelsschen Überlegungen zur Frage der Demokratie durchaus der Tatsache bewusst, dass der Umfang der Demokratie an die Bedingungen der jeweiligen Klassengesellschaft gebunden ist, in der sie verwirklicht werden soll. Angesichts der Stärke des Machtapparats des Staates und des zu erwartenden Widerstandes der Bourgeoisie hält er einen demokratischen Übergang nicht für wahrscheinlich, dagegen eine demokratische Verfasstheit der Übergangsgesellschaft, also der Diktatur des Proleta21 Zit. nach Ascher 1976, S. 362f. 22 Vgl. Martow 1938, S. 5; SDAPR, Die soziale Weltrevolution ... In: Sozialistische Revolution 1981, S. 114; SDAPR, Resolution zur Internationale, 12. März 1920. In: Ascher 1976, S. 125. 23 Vgl. Martow, Julius, Der Staat ... In: Sozialistische Revolution 1981, S. 96. Martow fügt hinzu: “Und einiges mehr.“
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riats, für unerlässlich. Sehr viel genauer als die meisten anderen Theoretiker, die einen ähnlichen Ansatz vertreten, präzisiert er damit, unter welchen Bedingungen Demokratie und Diktatur des Proletariats nicht in Widerspruch zu einander stehen.
3. Martows Kritik an Lenin Auf dieser Grundlage setzt sich Martow mit Lenins Vorstellungen von der Diktatur des Proletariats auseinander. In dessen Schrift „Staat und Revolution“, seinen Artikeln und Reden des Jahres 1917 und in der Losung „Alle Macht den Sowjets“ sieht er durchaus noch das Bestreben, während der revolutionären Periode ein Maximum an aktiver und bewusster Anteilnahme sowie Initiative der Massen bei der sozialen Umgestaltung sicherzustellen. Er zitiert die Passagen, in denen Lenin sein politisches Programm in Anlehnung an Marx’ Verallgemeinerungen der Erfahrungen der Pariser Kommune entwirft. Die Realität habe jedoch auf grausame Art all diese Illusionen zerstört. Der Sowjetstaat habe in keiner Instanz die Wählbarkeit und Abberufbarkeit der öffentlichen Beamten und des befehlshabenden Stabes der Armee eingeführt. Er habe die Berufspolizei nicht abgeschafft, die Gerichte nicht der direkten Rechtsprechung der Massen untergeordnet, die sozialen Hierarchien in der Produktion nicht zerstört. Die ganze Entwicklung zeige in die genau entgegengesetzte Richtung, zu verstärktem Zentralismus des Staates, zur größtmöglichen Stärkung der Prinzipien von Hierarchie und Zwang, zur Entwicklung eines spezialisierteren Unterdrückungsapparates als vorher und zur größeren Unabhängigkeit der normalerweise gewählten Funktionen von der Kontrolle durch die Massen.24 In der Feuerprobe der Realität sei so aus der „Macht der Sowjets“ die „Sowjetmacht“ geworden, eine Macht, die ursprünglich von den Sowjets ausging, die aber zunehmend unabhängiger von ihnen geworden und nach und nach durch die Macht nur einer Partei ersetzt worden sei. Auf diese Weise wurde das „Sowjet-Regime“ zum Mittel, um eine revolutionäre Minderheit an die Macht zu bringen.25 Dass dies bereits in der theoretischen Arbeit von Lenin angelegt ist, führt er auf zwei Aspekte zurück: sein taktisches Verhältnis zum Rätesystem und sein Verständnis von der Notwendigkeit des Zerbrechens der Staatsmaschinerie. Die Tatsache, dass Lenin in einer Schrift zur Jahresmitte 1917 dafür plädiert habe, die Losung „Alle Macht den Sowjets“ fallen zu lassen und für die Parole „Alle Macht der bolschewistischen Partei!“ eingetreten sei26, belegt für ihn, dass es ihm um das Prinzip der Etablierung einer Minderheitsdiktatur gehe. In gleicher Weise diene auch 24 Vgl. ebd., S. 90f.; vgl. zu den Differenzen in den Auffassungen von Marx und Engels auf der einen und Lenin auf der anderen Seite Schöler 2021, S. 278-285. 25 Ebd., S. 92. 26 Vgl. Lenin, W.I., Zu den Losungen (1917). In: Lenin 1976, S. 217.
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die später wieder aufgegriffene Formel „Alle Macht den Sowjets“ als Pseudonym für die Diktatur einer Minderheit.27 Martow interessiert in diesem Zusammenhang insbesondere, warum diese Formel bei den revolutionären Teilen der Arbeiterbewegung anderer Länder auf so großen Zuspruch stößt. Er kommt dabei zu folgendem bemerkenswerten Ergebnis, dessen Plausibilität nicht von der Hand zu weisen ist: „Es wird uns damit gesagt, daß das Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern bei der Sowjetform der Diktatur seine Zuflucht sucht, sobald sein Elan für die soziale Revolution nicht anders als durch die Diktatur einer Minderheit, einer Minderheit innerhalb des Proletariats selbst, zur Macht gebracht werden kann ... Durch sie gibt der revolutionäre Teil des Proletariats den Glauben an seine Fähigkeit auf, die Mehrheit der Bevölkerung eines Landes hinter sich zu bringen.“28
In Auseinandersetzung mit Lenins Schrift „Staat und Revolution“ gibt er diesem da recht, wo er darlege, dass die von Marx für die angelsächsischen Länder gemachte Ausnahme von der Notwendigkeit des Zerbrechens der militärisch-bürokratischen Staatsmaschine keine Gültigkeit mehr beanspruchen könne. Gegen ihn wendet er jedoch ein, dass sich bei Marx kein Wort über die Zerstörung der staatlichen Organisation überhaupt finde. Hingegen habe Engels darauf hingewiesen, dass das Proletariat nur die schlimmsten Seiten des demokratischen Staates (Polizei, stehendes Heer, selbstherrliche Bürokratie usw.) beschneiden müsse, aber den demokratischen Staat selbst nicht beseitige, sondern ihn vielmehr anstelle der fertigen bürokratischmilitärischen Maschinerie, die es zerbrechen müsse, erst schaffe. Genau da liege die Differenz, dass Engels die demokratische Republik als die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats ansehe, Lenin dagegen nur als den Weg dahin.29 Lenins anarchistische Illusion der Zerstörung des Staates verhülle nur „... das Bestreben, die gesamte Zwangsgewalt des Staates in den Händen einer proletarischen Minderheit zu vereinigen, die der objektiven Logik der Revolution und dem Klassenbewußtsein der Mehrheit des Proletariats und des Volkes mißtraut.“30
Nur die proletarische Klasse als Ganze sei jedoch die Kraft, die die neue Gesellschaft aufbauen könne. Eine Minderheitsdiktatur als Erziehungsdiktatur sei deswegen abzulehnen, weil nach Marx auch der Erzieher selbst erzogen werden müsse.31 Die Beziehungen zwischen der diktatorischen Minderheit und der Masse erzögen die Diktatoren aber gerade nicht im gewünschten Sinne.32 Um die erforderliche
27 Vgl. Martow, Julius, Der Staat ... In: Sozialistische Revolution 1981, S. 92f. 28 Ebd., S. 94. 29 Vgl. Martow 1925, S. 310f.; vgl. ähnlich meine Kritik an der Leninschen Auffassung in Schöler 2021, S. 278ff. 30 Ebd., S. 322. 31 Vgl. Marx 1845, S. 5f. 32 Vgl. Martow, Julius, Der Staat ... In: Sozialistische Revolution 1981, S. 103ff.
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gesellschaftliche Umwälzung durchzuführen, sei die Entwicklung eines Maximums an moralischer Energie des Proletariats erforderlich. Er fuhr fort: „Sie ist ihrerseits der Entwicklung größtmöglicher organisierter Initiative von Seiten aller Teile der Arbeiterklasse untergeordnet. Diese wiederum setzt eine Atmosphäre voraus, die absolut unverträglich mit der Diktatur einer Minderheit und ihren ständigen Begleiterscheinungen: Terror und Bürokratie, ist.“33
Die Originalität von Martows theoretischen Erörterungen liegt sicher darin, dass er auf produktive Weise an den Vorstellungen von Marx und Engels über das Verhältnis von Demokratie und Diktatur des Proletariats anknüpft und diese auf die aktuelle Situation in Russland bezieht. Zugleich arbeitet er dabei die kritischen Aspekte von Lenins Konzeption und deren Umsetzung in der bolschewistischen Herrschaftspraxis heraus. Einschränkungen in der Gewährleistung demokratischer Rechte werden nicht abstrakt legitimiert, sondern aus der konkreten historischen Situation heraus erklärt. Insgesamt betrachtet liefert Martow damit ein originelles und anspruchsvolles Verständnis von einer Diktatur des Proletariats, bei dem das Schwergewicht eindeutig auf dem emanzipativen Gesichtspunkt der Selbstbefreiung des Proletariats liegt. Seine Einschätzungen sind auch deswegen von großer Bedeutung, als sie für geraume Zeit das Verständnis sowohl seiner Partei wie des linken Flügels der Sozialistischen Arbeiter-Internationale zu Sowjetrussland prägten.
4. Demokratie und Diktatur in der Sicht der österreichischen Sozialdemokratie 4.1 Max Adler: Politische oder soziale Demokratie Otto Bauer ist - wie eingangs angemerkt - nicht der Einzige aus der Gruppe der austromarxistischen Theoretiker, der sich mit Julius Martow und seinen intellektuellen Anstößen auseinandersetzt. Dies gilt – allerdings mit deutlich kritischeren Einwänden im Detail – vor allem auch für Max Adler. Dieser unternimmt in den Nachweltkriegsjahren einen ähnlich ambitionierten Versuch, das Verhältnis von politischer und sozialer Demokratie auf der einen sowie Diktatur des Proletariats auf der anderen Seite genauer zu bestimmen. Beide stehen auch für ihn (in der Marxschen Tradition) nicht in einem Gegensatz zueinander. Einen derartigen Gegensatz zu konstruieren wirft er allerdings Julius Martow vor34, was – wie wir bereits zeigen konnten – sicherlich unzutreffend ist. Noch in einem weiteren Punkt sieht Max Adler Differenzen zu Martow, die von einer unzureichenden Kenntnis von dessen Texten bzw. den von ihm verfassten Re33 Ebd., S. 106. 34 Vgl. Adler 1926, S. 197f.
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solutionen der menschewistischen Partei zeugen. Er hält Martow vor, mit seiner Kritik am Wahlrechtsentzug für die Bourgeoisie bekomme der Begriff der Demokratie einen naturrechtlichen Charakter im Sinne der Gerechtigkeit.35 Er übersieht dabei, dass seine eigene hierzu entwickelte Position und die Martows – wie zu zeigen sein wird – auch in diesem Punkt keineswegs im Gegensatz zu einander stehen. Dritter Kritikpunkt: Adler hält auch Martows nachgelassene unvollendete Schrift über Marx und den Staat36 für anfechtbar, da er darin auf missverständliche Weise von einer Demokratisierung von Teilen des Staatsapparates spreche. Eine solche könne jedoch nur in der Aufrichtung der Diktatur des Proletariats bestehen.37 Aber auch diese Kritik trifft den Kern von Martows Position nicht wirklich, Adler entgeht offenbar die vorstehend dargelegte Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Funktionen des Staatsapparats bei Martow. Damit sind wir aber schon bei einem Spezifikum der besonderen Herangehensweise Adlers an die Probleme Sowjetrusslands und der Diktatur des Proletariats angelangt. Er richtet sein Augenmerk weniger auf die jeweiligen Unterschiede zwischen Russland und West- bzw. Mitteleuropa (wie Martow oder Bauer), sondern versucht die Entwicklung Sowjetrusslands mit allgemeinen Kategorisierungen von Demokratie und Diktatur zu konfrontieren. Er kommt deshalb auch zunächst zu einem deutlich negativeren Urteil als – wie wir noch sehen werden – etwa Otto Bauer in den ersten Jahren: „Die Vorgänge und das Schicksal des Sozialismus in Rußland beweisen, wie verhängnisvoll der Weg in die Irre führt, welcher meint, die Demokratie durch die Diktatur ersetzen zu können, die sich zwar Diktatur des Proletariats nennt, aber, weil Diktatur bloß einer kleinen Gruppe desselben, eher eine Diktatur gegen das Proletariat ist.“38
Er belässt es jedoch nicht bei einem allgemeinen Bekenntnis zur Demokratie, sondern fügt als Einschränkung hinzu: Demokratie sei nicht Ziel bzw. Selbstzweck. Das Ziel sei die sozialistische Gesellschaft. Die Demokratie erweise sich dazu als das unerlässliche Mittel, sie verschaffe dem Emanzipationskampf des Proletariats die nötige Bewegungsfreiheit.39 Sie erspare dem Proletariat jedoch nicht den Kampf für seinen Sieg, die Machtergreifung, aber dieser Klassenkampf bedeute nicht Bürgerkrieg wie in Russland, wo sich die Diktatur nur durch Terror gegen Teile der eigenen Klasse halte.40 Der Begriff der Revolution bzw. des Klassenkampfes war für Adler nicht an die Ausübung physischer Gewalt gebunden, somit die revolutionäre Umwälzung
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Vgl. ebd., S. 194, 197. Vgl. Martow 1925, S. 310f. Vgl. Adler 1926, S. 198. Adler 1918, S. 781f. Vgl. ebd., S. 781. Vgl. Adler 1919c, S. 6.
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theoretisch auch im Wege des parlamentarischen Mehrheitsbeschlusses denkbar.41 Ja, ein solches Parlament, eine Nationalversammlung des allgemeinen Wahlrechts war ihm zunächst auch verfassungsmäßiger Ausdruck der Demokratie42 – wir müssen hier schon hinzufügen: der politischen Demokratie. Politische Demokratie und Diktatur standen dabei nicht im Gegensatz zueinander. Durchaus im Sinne von Marx und Engels beinhaltete für ihn eine Parlamentsmajorität der besitzenden Klassen aufgrund ihrer ökonomischen Machtstellung auch ihre Diktatur, wie sehr dies auch durch den Schein des Parlamentarismus verhüllt werde. Eine Diktatur sei also auch in den Formen des Parlamentarismus möglich.43 Er geht noch einen Schritt weiter: Politische Demokratie, weil stets eine Form der Klassenherrschaft, sei nie ohne Diktatur möglich gewesen und werde es auch nie sein.44 Zur Erläuterung der Existenz der Diktatur der herrschenden Klassen in der bürgerlichen Demokratie fügt er hinzu, diese komme sofort sichtbar zum Ausdruck, wenn sie in sogenannten politischen Zeiten den Ausnahmezustand verhängen und Soldaten, Richter und Polizei auf die aufrührerischen Massen loslassen würden.45 Letztlich ist also eine Klassenherrschaft doch nicht jederzeit Diktatur, sondern hat nur die Tendenz, sich in einer Aufhebung oder Beschränkung der Demokratie in Diktatur zu verwandeln. Auf diese Unstimmigkeit bei Adler hatte bereits der russischstämmige deutsche Parteilinke Arkadij Gurland aufmerksam gemacht: “Aber wenn diese Aufhebung oder Beschränkung der Demokratie, letztere etwa als Zustand gefaßt, Diktatur sein soll, dann ist offensichtlich dieser Zustand selbst, der nunmehr aufgehoben wird, keine Diktatur, denn sonst könnte nicht die Aufhebung eines Zustandes, der Diktatur ist, zugleich ihrerseits wieder Diktatur sein.“46
Zu einer klaren Trennung der sozialen Funktion einer Diktatur als Klassenherrschaft und diktatorischer Regierungsform ist Adler also nicht vorgedrungen. Dennoch gelangt er auch in seiner Fassung des Zusammenhangs von Diktatur und Demokratie zu der für seine theoretische Arbeit bedeutsameren und wertvolleren Notwendigkeit der Präzisierung des Begriffs der Demokratie.47 Dieser Begriff sei zweideutig, wenn man die Klassenzerrissenheit außer Acht lasse. Erst die soziale und nicht schon die bürgerliche Gleichberechtigung erfülle die Idee der Demokratie. Es sei deshalb erforderlich, die politische von der sozialen Demokratie zu trennen.48 Die politische Demokratie ist für ihn somit die Form der Demokratie in einer Klassenherrschaft, 41 Vgl. ebd., S. 158. Damit korrespondiert ein Verständnis, das auch die Diktatur selbst als Instrument zur Herstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft auffasste, also nicht mit Lenins Vorstellung von der an keine Gesetze gebundene gewaltausübende Diktatur übereinstimmt. 42 Vgl. Adler 1919a, S. 3. 43 Vgl. ebd., S. 5ff. 44 Vgl. Adler 1922, S. 191. 45 Vgl. ebd. 46 Gurland 1930, S. 110. 47 Vgl. dazu ausführlich Katsoulis 1975, S. 225ff. 48 Vgl. Adler 1919a, S. 5ff.
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die eigentlich noch keine Demokratie ist.49 Mit dieser Unterscheidung von politischer und sozialer Demokratie traf sich Adler dann doch in weit stärkerem Maße mit Martow, als er es selber annahm. In diesem Verständnis ist die Diktatur des Proletariats der erste Anfang einer Verwirklichung der Idee der Demokratie.50 Der demokratische Charakter der Diktatur des Proletariats drückte sich für Adler ferner darin aus, dass – wie schon Engels gezeigt habe – darunter die Herrschaft der Mehrheit zu verstehen und sie deshalb mit der demokratischen Republik gleichzusetzen sei: „Denn nur wenn die Unterdrückungsgewalt der Staatsmaschinerie von der Mehrheit gegen eine Minderheit ausgeübt wird, kann daraus die Grundlegung einer Freiheit für alle werden ...“51
Eine Rechtfertigung für Unterdrückungsmaßnahmen durch die Diktatur des Proletariats könne deshalb nur darin liegen, als sie nur insoweit geschähen, einen Zustand herbeizuführen, in dem jede soziale und politische Unterdrückung unmöglich sei.52 Adler fasst selbst sein von anderen Positionen abgegrenztes Verständnis von Demokratie und Diktatur 1922 so zusammen: „Die Diktatur des Proletariats ist nur in der Demokratie möglich, d. h. getragen von der überwiegenden Masse der Bevölkerung, aber sie vollzieht sich dann auch durch die Demokratie und übt Gewalt als Demokratie. Ein Widerspruch bleibt nur für den, der hier an die soziale Demokratie denkt, innerhalb welcher freilich Diktatur unmöglich ist, die aber noch nicht existiert und deren Bedingungen die Diktatur des Proletariats erst beschaffen muß.“53
Bezüglich der davon unterschiedenen bolschewistischen Sichtweise kommt er zu dem Schluss, dass diese den unterentwickelten sozialen und politischen Zuständen Russlands geschuldet sei, wo die Bolschewiki daran hätten verzweifeln müssen, hätten sie mit der Verwirklichung ihrer Ziele warten wollen, bis die ökonomische Entwicklung ihres Landes das Proletariat in die Majorität oder auch nur zur Wortführerin der Majorität des Volkes gebracht hätte. Dennoch lasse sich die ökonomische und politische Unreife nicht durch die Diktatur ersetzen.54 1922 geht er noch einen Schritt weiter. Die innenpolitischen Veränderungen sind ihm jetzt Beweis dafür, dass
49 Vgl. Adler 1922, S. 126f. 50 Vgl. ebd., S. 198, mit ausdrücklichem Verweis auf die Position Rosa Luxemburgs; sowie Adler 1919a, S. 10. 51 Adler 1920, S. 440. Adler modifizierte diesen Standpunkt später, wenn er schrieb, die Frage, ob Diktatur der Minorität oder Majorität sei so falsch gestellt, weil man sich darunter meist nur die parlamentarische Majorität vorstelle. Das Proletariat müsse zum Vertreter aller oppositionellen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft geworden sein und diese im Moment seiner revolutionären Aktion mit sich reißen; vgl. Adler 1922, S. 153. 52 Vgl. Adler 1919a, S. 23. 53 Adler 1922, S. 204. 54 Vgl. Adler 1919a, S. 18f.
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das ganze russische Sowjetsystem nur aus der durch unerhörte geschichtliche Zufälle geschaffenen Ausnahmesituation entstanden sei, aber keinesfalls beanspruchen könne, die eigentliche Verwirklichung der marxistischen Theorie von der Diktatur des Proletariats darzustellen.55 Er sieht darin seine schon 1918/19 aufgestellte These erneut bestätigt: In Russland besteht keine Diktatur des Proletariats, sondern nur die Diktatur einer kleinen Gruppe, die einzelner proletarischer Führer, eine Diktatur gegen das bzw. gegen Teile des Proletariat(s).56 Weil somit die bolschewistische Diktatur für Adler weder in Theorie noch in Praxis etwas mit dem marxistischen Problem der Diktatur zu tun hat, kommt er von einem ganz anderen Ausgangspunkt doch zum gleichen Schluss wie Julius Martow oder Otto Bauer: Er wendet sich gegen den russischen Weg als den alleinig richtigen der sozialen Revolution.57 1919 ist er allerdings noch der Auffassung, Lenins Werk „Staat und Revolution“ sei ein großes Verdienst um den Marxismus. Er zitiert ausführlich daraus, insbesondere auch die Passagen über die Notwendigkeit des Zerbrechens des bürgerlichen Staatsapparats. In der ganzen Schrift macht er keine Differenzpunkte aus, all dies seien nichts als Grundgedanken der revolutionären Sozialdemokratie. Ausdrücklich übernimmt er die Leninsche Begründung der Notwendigkeit der radikalen Ausschließung der bisherigen Ausbeuter von den politischen Rechten, die nur eine Minorität treffe und als Übergangsmittel erforderlich sei.58 Zumindest in der Theorie gestand er zu diesem Zeitpunkt Lenin und Trotzki zu, mit der Veränderung des Begriffs der „Diktatur des Proletariats“ zur „Diktatur der werktätigen Bevölkerung“ nicht mehr die Vergewaltigung eines Teils der arbeitenden Bevölkerung durch den anderen, sondern die Selbstbestimmung der schaffenden Arbeit anzustreben59 – eine Bewertung, die schon damals im Widerspruch zu seiner Beurteilung der realpolitischen Lage stand. 1922 veränderte sich jedoch seine Sicht auf Lenins Schrift „Staat und Revolution“, die - so schrieb er nun - zwar die Marxsche Terminologie beibehalte, letztendlich aber an Stelle des Kampfes der ganzen proletarischen Klasse die Politik einer Führungsgruppe im Interesse des Proletariats setze, letztlich also eine neue Abart des aufgeklärten Absolutismus darstelle.60 Adler lehnt die bolschewistische Theorie der Diktatur des Vortrupps ab, allerdings nur insoweit, als er darin – wie auch Martow – den Zweck erblickt, durch die revolutionäre Energie einer sogenannten
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Vgl. Adler 1922, S. 117. Vgl. Adler 1919a, S. 18; Adler 1918, S. 782. Vgl. Adler 1922, S. 190; Adler 1920, S. 442. Vgl. Adler 1919a, S. 15f. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Adler 1922, S. 189f; Wir werden sehen, dass Hans Kelsen zu vergleichbaren Einschätzungen kommt.
Arbeiterelite die ökonomische Reife für die Herrschaft der Arbeiterklasse zu ersetzen.61 Max Adlers Stärke lag in ungleich größerem Maße im Bereich der begrifflichtheoretischen Analyse als in der Entwicklung praktischer Vorschläge. Seine theoretischen Rekonstruktionen des Marx-/Engelsschen Verständnisses von Demokratie und Diktatur heben seinen Beitrag positiv von anderen ab. Anders als Julius Martow (oder – wie wir noch sehen werden – Otto Bauer) blieb er jedoch stark in der Anwendung allgemeingültiger Begriffe verhaftet, trennte weniger realhistorisch nach den jeweiligen sozialökonomischen Bedingungen im Osten und im Westen. Dennoch kamen sie im Großen und Ganzen zu einer ähnlichen strategischen Verallgemeinerung: der Notwendigkeit unterschiedlicher Wege in Russland bzw. West- und Mitteleuropa. Auf der Ebene der Konkretisierung solcher strategischen Optionen, in der konkreten Ausgestaltung einer demokratisch verfassten Diktatur des Proletariats, lag hingegen nicht die Stärke Max Adlers.
4.2. Hans Kelsen: Vereinbarkeit von Diktatur des Proletariats und Parlamentarismus Einer der originellsten und kenntnisreichsten Beiträge in der Debatte der österreichischen Sozialdemokraten über Demokratie und Diktatur stammt von Hans Kelsen, einem parteilich nicht gebundenen Staatsrechtler, der den Sozialdemokraten jedoch sehr nahestand. Er gehörte nicht im engeren Sinne zur „Gründungskohorte“ der austromarxistischen Theoretiker. Anders als Max Adler auf der Linken orientierte er sich politisch eher in Richtung des rechten Flügels der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP). Auch sein Bekenntnis zu Marx bzw. dem Marxismus fiel verhaltener aus, was sich etwa (angesichts von ihm konstatierter Unzulänglichkeiten des Marxismus) im Plädoyer für ein “zurück zu Lasalle“ [sic] ausdrückte.62 Kelsen zeichnete sich in seiner theoretischen Auseinandersetzung vor allem mit Lenin gleichwohl durch eine gute und genaue Kenntnis der Marxschen Schriften aus. Ohne sich dabei direkt auf Julius Martow zu beziehen, gelangt er doch an verschiedenen Stellen zu ähnlichen Ergebnissen wie dieser. Kelsens Ausgangspunkt ist die Frage, inwieweit Lenin das Verhältnis von Demokratie und Diktatur des Proletariats bei Marx richtig rezipiert. Die Tatsache, dass Marx und Engels in ihren Schriften über die bürgerliche Klassengesellschaft sowohl von der Demokratie als auch von der Diktatur der Bourgeoisie sprachen, ist ihm Beweis dafür, dass es bei ihnen keinen Gegensatz gab, dass sie die Demokratie als die politische Form ansahen, in der die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen 61 Vgl. ebd., S. 152. 62 Kelsen 1923, S. 174; vgl. auch die positive Bezugnahme auf Karl Renners “revisionistische“ Staatsauffassung auf S. 104f.
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sei. Lenin wahre zwar scheinbar auch die demokratische Terminologie, der Gegensatz zeige sich aber da, wo er die Demokratie entgegen Engels nur als den nächsten Weg zur Diktatur des Proletariats bezeichne.63 Schon an dieser Stelle trifft er sich argumentativ ganz unmittelbar mit Julius Martow. Für ein eher begreifliches Missverständnis hält er es, wenn Lenin Marxens Absage an den gewaltentrennenden Parlamentarismus mit einer Absage an jeden Parlamentarismus identifiziere. Dafür gebe es bestimmte Anhaltspunkt bei Marx selbst, wiewohl dessen Schrift über die Kommune deutliche zeige, dass es ihm nicht um die Abschaffung allgemeiner Vertretungskörperschaften ging.64 Kelsen kritisiert deshalb an dem von Lenin propagierten Sowjetsystem nur den Wahlausschluss ganzer Personengruppen (dazu später), nicht aber z. B. die jederzeitige Abrufbarkeit der Abgeordneten durch ihre Wähler, die durchaus im Marxschen Sinne mit Parlamentarismus vereinbar und ein demokratisches Prinzip sei. Weder ein freies Abgeordnetenmandat, noch das alte Prinzip der Gewaltenteilung stünden mit dem demokratischen Gedanken in einem begrifflichen Zusammenhang. Er weist auf den historischen Zusammenhang hin, dass die „Theorie“ der Gewaltenteilung lediglich ein Mäntelchen für das Bestreben gewesen sei, der zurückweichenden Macht des Monarchen eine Position des Gegengewichts gegen die Macht der Volksvertretung zu sichern.65 In diesem Sinne war für Kelsen bei Marx das im Parlamentarismus ohne Gewaltenteilung ausgedrückte demokratische Prinzip durchaus mit der Diktatur des Proletariats vereinbar. Anders als Lenin wertet er zudem Marxens Äußerungen hinsichtlich der Notwendigkeit des Zerbrechens der Staatsmaschinerie. Da es letztlich bei der Durchsetzung der Diktatur des Proletariats um die Errichtung eines neuen Staates gehe, sei der Streit um „Zerbrechen“ oder „Umwandeln“ ein eher terminologischer.66 Auch wenn Kelsen hier nicht ganz gefolgt werden kann, sind die weiteren Schlussfolgerungen bzw. Fragestellungen, die er daraus entwickelt, durchaus von Bedeutung. Er erkennt nämlich, dass die Betonung der repressiven Seite des Staatsapparats bei den bolschewistischen Theoretikern in einem Zusammenhang steht mit der Art des neuen Staatsapparates, der an die Stelle des alten tritt. Und er stellt die berechtigte Frage, wie denn der von ihnen theoretisch entworfene gigantische Zwangsapparat gleichzeitig zum Absterben des Staates führen solle, von dem sie im Anschluss an Engels weiterhin sprächen.67 Es ist klar, dass es für ihn darauf keine positive Antwort gibt. Weil das so ist, sieht er für Sowjetrussland eine gewaltige Gefahr entstehen:
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Vgl. ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 63f. Vgl. ebd., S. 150ff. Vgl. ebd., S. 61f. Vgl. ebd., S. 114.
„... fast möchte es scheinen, daß die revolutionäre Gewalt, die notwendig ist, um den Staat des Kapitalismus ›zu zerbrechen‹, wenn sie nicht sehr rasch ihr Werk vollendet und abdankt, nach eben jenen Gesetzen der ›Gewöhnung‹, auf die sich Lenin beruft, nach der ganzen uns zur Verfügung stehenden sozial-psychologischen Erfahrung kaum zu veranlassen sein wird, sich zu verflüchtigen.“68
Im Gegensatz zu Lenin vertritt Kelsen die Auffassung, dass auch nach der Lehre von Marx und Engels die Phase des Übergangs zum Sozialismus nicht von Einschränkungen der Demokratie, sei es auch nur für die ehemals Besitzenden, sondern von einer Ausdehnung der Demokratie begleitet sein wird. Ähnlich Rosa Luxemburg meint er, es könne nur darauf ankommen, sei es auch mit Gewalt, die Demokratie von ihren bisherigen Beschränkungen zu befreien und sie durch Verallgemeinerung der politischen Rechte und Gewährleistung voller politischer Freiheit zu einer wirklichen, echten Demokratie auszugestalten, die dann von selbst der Majorität des Volkes – dem Proletariat – die Herrschaft sichere.69 Zugleich wendet er sich gegen Lenins Verabsolutierung des gewaltsamen Weges, die bei Marx und Engels keine Grundlage habe.70 So berechtigt diese Kritik ist, so sehr steckt in Kelsens beiläufiger Bemerkung, dass die Demokratie die Herrschaft des Proletariats „von selbst“ sichere, ein nicht unproblematischer Überschuss in anderer Richtung. Kelsen ist einerseits der Meinung, dass es die sittliche Mission des Proletariats ausmache, die Verelendung der durch die kapitalistische Wirtschaftsstruktur betroffenen Bevölkerungsmehrheit aufheben zu wollen. Andererseits stimmt er jedoch der Auffassung Karl Radeks zu, dass eine Revolution immer nur von einer Minderheit begonnen werde, und sich die Mehrheit erst in ihrem Prozess auf ihre Seite schlage und damit ihren Sieg beschließe. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass wenigstens potentiell die Mehrheit bereits vorhanden sei, d. h. das Proletariat die Mehrheit des Volkes bilde. An dieser Nahtstelle beginnt nun Kelsens Beschäftigung mit der konkreten Situation Russlands. Weil das Proletariat dort noch eine Minorität der Gesellschaft darstelle, seien die Voraussetzungen einer Demokratie als Herrschaftsform nicht gegeben.71 Die Logik dieser Tatsache und gerade nicht eine richtige Auslegung der Marxschen Theorie betrachtet er als den entscheidenden Grund, der zur Ablehnung der Demokratie bei den Bolschewiki geführt habe.72 Er spricht zwar zunächst vom ersten proletarischen Klassenstaat und von der „Diktatur des Proletariats“73, aber in Wahrheit ist es für ihn keine Diktatur des Proletariats im Marxschen Sinne, wegen des Sowjetwahlsystems allenfalls eine Diktatur nur der industriellen Arbeiter, am ehesten aber wohl die einer einzigen Partei, die notwendig zur Diktatur 68 69 70 71 72 73
ebda., S. 126. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. ebd., S. 128ff. Vgl. ebd., S. 138. ebda., S. 106.
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einzelner Personen führen müsse74, letztlich also eine aristokratische Staatsform.75 Kelsen kritisiert in ähnlicher Weise wie Kautsky oder Luxemburg die Beschränkung des aktiven und passiven Wahlrechts für ganze Bevölkerungsgruppen, hält sie auch für kontraproduktiv, da man schließlich auf deren ökonomische Funktionen noch angewiesen sei. Das unterschiedliche Wahlrecht für Arbeiter und Bauern stellt für ihn insofern nichts anderes als eine praktische Entrechtung der Bauern dar.76 Will man Kelsens Einschätzungen kurz zusammenfassend würdigen, so zeichnen sie sich – gerade auch in seinen Ausführungen zu Lenin bzw. zur politischen Praxis der Bolschewiki – durch ein hohes Maß an intellektueller Sachlichkeit und durch fehlende Polemik aus. Sein Schwerpunkt ist dabei weniger die sowjetrussische Realentwicklung, sondern die auch rechtlich gestützte terminologische Klärung des Verhältnisses von Demokratie und Diktatur mit einem besonderen Fokus auf der Funktionsweise eines demokratischen Parlamentarismus.
4.3 Otto Bauer: Rätediktatur oder Demokratie? Das besondere persönlich-freundschaftliche Verhältnis zwischen Otto Bauer und Julius Martow hatten wir bereits eingangs erwähnt. Martow blieb aufgrund dessen auch in den frühen zwanziger Jahren der Informations- und Stichwortgeber für den Russlandexperten der SDAP. Welche Bedeutung er auch intellektuell für Bauer und seine Partei hatte, brachte dieser in einem kleinen Text im Jahr 1925 so auf den Punkt: Das historische Verstehen der Triebkräfte des Bolschewismus verbunden mit der Kritik seiner Illusionen und Verirrungen nicht vom Standpunkt der Bourgeoisie, sondern dem des Proletariats, habe seine Partei zuerst den glänzenden Analysen Martows zu verdanken.77 Das galt nachvollziehbarer Weise auch für die Haltung, die Bauer und seine Partei zum Thema Demokratie und Diktatur des Proletariats einnahmen, wobei wir noch sehen werden, dass dies eher inhaltlich-kongruent denn durch direkt-zitierende Ableitungen erfolgte. Otto Bauers Ausgangspunkt ist – anders als bei den eher abstrakt-theoretisch argumentierenden Adler und Kelsen – weitaus stärker die Realentwicklung in Russland selbst. Er steht dabei zunächst den unmittelbar nach der Oktoberrevolution von einigen Menschewiki in Deutschland verbreiteten Meldungen über die diktato-
74 Vgl. ebd., S. 144f. Kelsen meint, sich an dieser Stelle auch auf Lenin berufen zu können, obwohl dieser nicht von einer solchen Zwangsläufigkeit spricht, sondern nur die Diktatur des Proletariats für vereinbar mit diktatorischen Befugnissen einzelner Personen hält. 75 Vgl. ebd., S. 157. Diese Kennzeichnung geht – wie bereits gezeigt wurde – auf Max Adler zurück. 76 Vgl. ebd., S. 142ff. 77 Bauer, Otto, Europa und der Menschewismus. In: RSD [Mitteilungsblatt der russischen Sozialdemokratie] Nr. 12, 31. März 1925, S. 1., zit. nach Schöler 2021, S. 148.
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rischen Maßregeln der Bolschewiki sehr skeptisch gegenüber. In einem Brief an Kautsky bezeichnet er deren Anklagen, es handele sich um eine persönliche Diktatur Lenins, um eine despotische Regierung bzw. einen Soldatenkomplott, als einfach kindisch. Für ihn handelt es sich bei der Sowjetregierung in dieser ersten Phase durchaus um eine Diktatur des Proletariats.78 Einen Monat später macht er deutlich, was er darunter versteht: eine Minderheitsherrschaft. In für sein Herangehen typischer Weise erklärt er dem Leser des „Kampf“ die Lage der Bolschewiki, ohne sie zu rechtfertigen und ohne sie zu verdammen: Sie vertreten nur eine Minderheit des russischen Volkes, können sich aber – gestützt auf die Waffengewalt der Roten Garde und einen großen Teil der Armee – an der Macht halten. Um sich zu behaupten, müssen sie die ihnen feindliche Mehrheit niederhalten. Daraus erklärt sich für Bauer, warum sie Zeitungen unterdrücken, die Führer der gegnerischen Parteien einkerkern und die Konstituante auseinanderjagen mussten.79 Eine solche erklärende, weder rechtfertigende noch verdammende Haltung ist zugleich typisch für das Verhältnis der gesamten Führungsgruppe der SDAP gegenüber Sowjetrussland. Offene Kritik an der Vertreibung der Konstituante äußerte Otto Bauer erst, als mit der Veröffentlichung von Rosa Luxemburgs Russland-Broschüre 1922 eine Autorität von links auf die Bühne trat, deren Auffassungen man sich nun gefahrlos anschließen konnte, ohne gleich angesichts der weit verbreiteten Sympathie für Sowjetrussland innerparteiliche Zerreißproben befürchten zu müssen. Erst jetzt sprach auch Bauer vom Sündenfall der Bolschewiki, vom Wendepunkt ihrer Taktik, mit dem sie nicht nur von der Nationalversammlung, sondern von der Demokratie überhaupt Abschied genommen hätten.80 Für ihn steht bereits in seiner ersten ausführlicheren Arbeit zur Situation Sowjetrusslands nicht die Frage im Mittelpunkt, ob die Bolschewiki für Russland recht oder unrecht haben, sondern die, ob man sie im eigenen Land hinsichtlich der Alternative Demokratie oder Rätediktatur nachahmen soll oder nicht. Es geht also für ihn nicht um eine prinzipielle Alternative Demokratie oder Diktatur, sondern darum, welche von beiden im eigenen Land zum gegebenen Zeitpunkt die rechte Maßregel ist. In noch sehr allgemeiner Form zeigt er, dass sich aufgrund der unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen die bürgerlichen Revolutionen in verschiedenen Ländern in ganz verschiedenen Formen vollzogen, woraus er ableitet, dass dies auch für die proletarische Revolution gelten müsse.81 Bauer ist deshalb schon zu dieser Zeit der Überzeugung, dass der Weg zum Sozialismus auf verschiedene Weise möglich ist. Dies ist abhängig davon, inwieweit die arbeitenden Volksmassen ihre eigenen Interessen erkennen und wahrnehmen und welchen Widerstand die besitzenden 78 79 80 81
Vgl. Bauer 1918a, S. 1042. Vgl. Bauer 1918b, S. 926. Vgl. Bauer 1923a, S. 313f. Vgl. Bauer 1919a, S. 137f.
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Klassen dem entgegensetzen.82 Er schreibt dies im Jahr 1919, die ähnlich lautenden Einschätzungen Martows werden zum Jahresbeginn 1920 publiziert. Wer hier als Urheber anzusehen ist, wer wen stärker beeinflusste, lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen. Grundsätzlich gilt aber auch für Bauer die Überzeugung, dass die Eroberung der politischen Macht nur mit revolutionären Mitteln erfolgen könne, die politische Revolution also ein kurzer, gewaltsamer Akt, die soziale Revolution hingegen das Werk aufbauender, organisierender Arbeit sei.83 Hierbei ist Voraussetzung, dass die breiten arbeitenden Volksmassen in Stadt und Land die soziale Neugestaltung wollen. Es sei ein Irrtum, wenn man glaube, dass ein paar Tausend beherzte und tatkräftige Männer84 der breiten Masse des Volkes den Sozialismus dekretieren könnten. Daraus ergebe sich höchstens ein bürokratischer, aber kein demokratischer Sozialismus.85 In einer im gleichen Jahr geschriebenen Broschüre identifiziert Bauer erstmals die Begriffe Rätediktatur und Diktatur des Proletariats. Nun geht er davon aus, dass sie – entgegen der Auffassung der Kommunisten – nur eine vorübergehende Phase der Weltrevolution sein könne, auch wenn sie unter bestimmten Bedingungen unvermeidlich sei. Doch könne dadurch keinesfalls die sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden.86 Die Gangbarkeit eines solchen Weges der Rätediktatur erscheint ihm nun auch in keiner Weise mehr wünschenswert, was durch den Anschauungsunterricht der russischen Entwicklung illustriert wird. Dort könne man verfolgen, wie der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats sehr bald die bittere Enttäuschung folge, die sich dann gegen die Rätediktatur und deren unvermeidliche Begleiterscheinungen richte. Dies sind für Bauer: der Terror, die Aufhebung des Streikrechts, der Presse- und Versammlungsfreiheit und die Rekrutierung der Roten Armee. So führe die Diktatur des Proletariats schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren, die wiederum ihren Terror auch gegen opponierende Schichten des Proletariats ausdehnten. Den Schlusspunkt dieser Entwicklung bildet für Bauer die Verwandlung der Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur.87 Auffallend an diesen ersten Klärungsversuchen ist, dass Bauer keinerlei Versuch unternimmt, sein Verständnis von Demokratie und Diktatur anhand der Vorstellungen von Marx und Engels zu begründen. Kommentarlos übernimmt er die zeitgenössische kommunistische Gleichsetzung von Diktatur des Proletariats und Rätediktatur und setzt ihr den Weg der Demokratie entgegen. 82 83 84 85 86 87
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Vgl. Bauer 1919b, S. 131. Vgl. ebd., S. 95. Die Frauen spielten auch in Bauers Denken keine gleichwertige Rolle. Vgl. ebd., S. 129. Vgl. Bauer 1919c, S. 174, 178ff. Vgl. ebd., S. 177f.
4.4 Diktatur des Proletariats nur als Diktatur der Demokratie (Bauer) Erst ein Jahr später deutet er an, dass er sich dieser Problematik ansatzweise bewusst geworden ist: „Auch ein demokratisches Parlament wird diktatorische Machtmittel für sich in Anspruch nehmen müssen, es wird die Sabotage, vielleicht den aktiven Widerstand der Bourgeoisie mit diktatorischen, vielleicht auch mit terroristischen Machtmitteln zu brechen haben, sobald dieses Parlament zum Herrschaftsinstrument der Arbeiterklasse geworden sein wird. Auch das kann man Diktatur des Proletariats nennen; aber es ist eine ganz andere Diktatur als die des Bolschewismus. Es ist keine Diktatur gegen die Demokratie, sondern die Diktatur der Demokratie.“88
Bauer sieht mit dem Inhalt dieser Fragestellung Sowjetdiktatur oder Demokratie zugleich die Bruchpunkte für die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung markiert.89 Die Begriffe Rätediktatur und Diktatur des Proletariats sind für ihn seit der Oktoberrevolution nicht mehr von Sowjetrussland und vom Bolschewismus zu trennen, so dass eine Begrifflichkeit, die darauf nicht einzugehen weiß, ins Leere greife.90 Bauer unterscheidet nunmehr auch zwischen verschiedenen Formen der Diktatur des Proletariats. Es könne, insbesondere in Phasen des Gleichgewichts der Klassenkräfte, geschehen, dass die Entwicklung der Klassenkämpfe das Proletariat zu einer vorübergehenden Diktatur schon in einer Phase zwinge, in der es nicht mit den Mitteln der Demokratie herrschen könne. Die Diktatur des Proletariats werde in diesem Fall, da jede Klasse danach trachte, mit Gewalt ihre Herrschaft aufzurichten, zum einzigen Mittel, die konterrevolutionäre Diktatur der Bourgeoisie zu verhindern. In diesem Falle könne sie nicht die Form einer Diktatur der Demokratie, sondern nur die einer Diktatur proletarischer Klassenorganisationen annehmen, sei es durch Selbstverwaltungskörper, die Gewerkschaften oder – wie in Russland – durch die Arbeiterräte. Dabei machte Bauer für die industrialisierten Länder eine wesentliche Einschränkung. Verstehe sich diese Diktatur als dauernde Form einer Klassenherrschaft, als politisches Instrument zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, so zerreiße sie die Kontinuität des wirtschaftlichen Prozesses. Ihre Aufgabe könne daher nur die Eroberung, Sicherung oder Befestigung der Demokratie sein. Die ökonomische Aufgabe des Sozialismus hingegen sei nur in jahrzehntelanger demokratischer Arbeit zu bewältigen.91 Die Demokratie ist für ihn dabei diejenige Staatsform, innerhalb derer die Machtverteilung im Staate ausschließlich durch die sozialen Machtfaktoren bestimmt, also nicht durch die Anwen-
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Bauer 1920, S. 350. Vgl. ebd., S. 226. Ausdrücklich benennt er diesen Grund erst auf dem Linzer Parteitag; vgl. Bauer 1926, S. 415. Vgl. Bauer 1920, S. 350ff.
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dung materieller Gewaltmittel zugunsten einer Klasse verschoben werde.92 Aber er schränkt zugleich ein: „Die Demokratie ist bloße Form; ob diese Form mit kapitalistischem, bäuerlichem oder proletarischem Inhalt gefüllt wird, hängt von den sozialen Machtfaktoren ab. Die Demokratie ist ein Instrument der Klassenherrschaft; aber dieses Instrument kann, je nach dem Entwicklungsgrad der sozialen Machtfaktoren, in die Hände verschiedener Klassen fallen ...“93
Und diese Einschränkung hat wiederum Bedeutung für die Frage der Allgemeingültigkeit des demokratischen Prinzips: „Auch die Prinzipien der Demokratie sind keine ewigen Wahrheiten. Auch Demokratie ist Entwicklungsprodukt und Entwicklungsphase. Nur auf bestimmter Entwicklungsstufe der Produktivkräfte, der Klassenkämpfe, der kulturellen Reife der Masse ist Demokratie möglich. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist der Despotismus einer vorgeschrittenen Minderheit eine transitorische Notwendigkeit, ein zeitweilig unentbehrliches Instrument des historischen Fortschritts. Das ist in Rußland der Fall.“94
Für Bauer beruht also auch der demokratische Staat auf Gewalt. Sein Vorteil besteht für ihn allerdings darin, dass in ihm eine Arbeiterklasse in Stadt und Land, die bereits die überwiegende Mehrheit der Wähler stellt, bei entsprechend erstarktem Klassenbewusstsein die Macht ohne Gewalt erobern könne. Er werde so zum Instrument ihrer Herrschaft, die Demokratie zur proletarischen Demokratie. Da das Proletariat im Westen bereits die Mehrheit stelle, benötige es zur Machteroberung nicht die Rätediktatur.95 Die Differenzierung in der Terminologie (Demokratie – proletarische Demokratie) lässt also erkennen, dass Bauer keinen starren Demokratiebegriff im Auge hatte. Sehr viel genauer noch sollte er drei Jahre später deutlich machen, auf welch unterschiedliche Weise Demokratie selbst in der bürgerlichen Gesellschaft möglich ist, was natürlich Einfluss auf die Möglichkeiten eines demokratischen Weges zum Sozialismus haben musste. Bauer unterscheidet nun in Demokratie als „bloße Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie“ und Demokratie als „wirklicher Selbstregierung der Volksgesamtheit“, d. h. zwischen der bloß parlamentarischen Demokratie als Regierungsmethode und sogenannter funktioneller Demokratie.96 Nur in letzterer, in der den verschiedenen politischen Organisationen (insbesondere der Arbeiterklasse) reale Macht zugefallen sei (er nennt diese Staatsverfassung im Rahmen eines Klassengleichgewichts auch Volksrepublik), könne der Staat das Proletariat nicht mehr nur mit Gewalt niederhalten, bedürfe er der Vermittlung der Organisationen, könne er die Masse nur mit 92 93 94 95 96
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Vgl. ebd., S. 345. ebd., S. 346f. ebd., S. 293. Vgl. ebd., S. 346ff. Vgl. Bauer 1923b, S. 862.
geistigen Mitteln führen. Diese Übergangsperiode der Volksrepublik eröffnet die Möglichkeiten eines demokratischen Weges zum Sozialismus.97 In Russland hingegen sei die Diktatur des Proletariats nicht die Überwindung der Demokratie, sondern eine Phase der Entwicklung zur Demokratie. Sie sei insofern nur eine Durchgangsphase der russischen Entwicklung, die bestenfalls so lange dauern werde, bis die Masse des russischen Volkes kulturell reif werde für den demokratischen Staat.98 Aus dieser Besonderheit ergibt sich auch der Unterschied zwischen den möglichen Herrschaftsformen in Russland auf der einen, in West- und Mitteleuropa auf der anderen Seite: „In Rußland ist die Diktatur des Proletariats die Herrschaft einer Minderheit, und die juristische Form der Minderheitsherrschaft ist die Sowjetverfassung. Im industriellen Westen wird die Herrschaft des Proletariats die Herrschaft der Masse, der überwiegenden Mehrheit des Volkes sein, und die juristische Form der Mehrheitsherrschaft ist die Demokratie.“99
5. Schlussbemerkung Der heute weitgehend vergessene Parteiführer der russischen Menschewiki Julius Martow hat zu Beginn der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in mehreren Texten ein eigenständiges Verständnis des Theorems der Diktatur des Proletariats entwickelt. Darin reflektiert er die schmerzhaften eigenen Erfahrungen (und die seiner Partei) mit der bolschewistischen Machtergreifung und den konkreten Formen von deren Machtausübung. Er knüpft damit auf originelle Weise an die Vorstellungen von Marx und Engels an, bleibt aber nicht dabei stehen. So gelangt er zu einer Differenzierung hinsichtlich unterschiedlich zu beschreitender Wege unter den verschiedenen Ausgangsbedingungen im Osten bzw. im Westen Europas. Zugleich unterscheidet er auf nachvollziehbare Weise Vorstellungen von politischer und sozialer Demokratie. In der Auseinandersetzung mit Lenin arbeitet er die theoretischen Ausgangspunkte in dessen Rechtfertigung des despotischen Charakters der bolschewistischen Herrschaftsausübung heraus. Grundlage seiner Haltung bleibt das Bekenntnis zu einer in einer Konstituante ausgedrückten allgemeinen Demokratie, die nur aufgrund der besonderen Bedingungen Russlands in der Sowjetverfassung eine vorübergehende Einschränkung erfährt. Innerhalb der zeitgleichen Debatte der österreichischen Sozialdemokratie trifft er sich so – bei einigen Differenzen im Detail – auf der begrifflich-definitorischen Ebene in wesentlichen Punkten mit den Vorstellungen Max Adlers. Auch hinsicht97 Vgl. ebd., S. 861ff. 98 Vgl. ebd., S. 300. 99 ebd., S. 301.
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lich der Anstrengungen des Verfassungsrechtlers Hans Kelsen, dem eine originelle Präzisierung des Verhältnisses von Diktatur des Proletariats und parlamentarischer Demokratie gelingt, gibt es weitgehende Überschneidungen mit den Denkansätzen Julius Martows. Die größten Übereinstimmungen gibt es – sicher schon aufgrund ihrer engen persönlichen Beziehung – zwischen den Konzepten Otto Bauers und Julius Martows. Bauer wählt den gleichen Ausgangspunkt wie Martow und entwickelt seine Vorstellung von einer Diktatur des Proletariats anhand seiner Betrachtung der konkreten politischen und sozialen Entwicklung in Russland unter der Herrschaft der Bolschewiki. Martows Anregungen liefern für ihn die Markierungspunkte, anhand derer er seine Vorstellung von unterschiedlichen Wegen zum Sozialismus in Westund Mitteleuropa einerseits und Russland andererseits ausbuchstabiert.
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Der frühe Staat der Diktatur des Proletariats
Helmut Altrichter Soziale Revolution und Diktatur des Proletariats in Russland 1917– 1921
1. Vorbemerkungen Die russischen Sozialdemokraten verstanden sich als marxistische Arbeiterpartei. Das hieß: Sie waren überzeugt, dass auch Russland der „Kapitalismus“ nicht erspart bleiben werde und der Industriearbeiterschaft, auf die man sich vor allem stützen wollte, die Zukunft gehöre; das unterschied sie programmatisch von der sozialrevolutionären Bewegung der „Volkstümler“ (narodniki), die auf die Bauern und die Entwicklungsfähigkeit der bäuerlichen Landgemeinde setzten. Sozialdemokratisches (End-)Ziel war, so stand es bereits im ersten Parteiprogramm, angenommen auf dem II. Parteitag 1903, die sozialistische Revolution. „Die soziale [gemeint war: die sozialistische] Revolution des Proletariats wird […] die Klassenteilung der Gesellschaft beseitigen und dadurch die ganze geknechtete Gesellschaft befreien“, und weiter: „Unerlässliche Voraussetzung dieser sozialen Revolution ist die Diktatur des Proletariats, d.h. Eroberung einer solchen politischen Macht durch das Proletariat, die es ihm erlaubt, jeglichen Widerstand der Ausbeuter zu unterdrücken“.1 Den Formulierungen lagen Entwürfe Georgi Plechanows zugrunde, der 1883 (im Genfer Exil) eine erste marxistische Gruppe („Befreiung der Arbeit“) gegründet, sie von den „Volkstümlern“ abgesetzt hatte, und seither als Vordenker der russischen Sozialdemokratie galt. Im Vorfeld hatte Lenin, 15 Jahre jünger als Plechanow, dessen ersten Entwurf mit kritischen Anmerkungen versehen und hinter die Ausführungen zur „Diktatur des Proletariats“, vom Proletariat als „Herr der Lage“, das alle Hindernisse „rücksichtslos niedertreten“ werde, „die sich ihm auf dem Weg zu seinem großen Ziel entgegenstellten“, drei Fragezeichen gesetzt.2 Kurze Zeit später befürwortete Lenin jedoch ebendiese Diktatur des Proletariats als eine „Notwendigkeit“.3 Denn auch für Lenin (im Anschluss an Marx und das Kommunistische Manifest) war das Proletariat die einzig „wirklich revolutionäre Klasse“, der kleine 1 Text in: KPSS 1983a, S. 58 ff.; Parteitagsprotokoll in: Gosudarstvennoe izdatel’stvo političeskoj literatury (Hrsg.) 1959a; dt. Übersetzung des Parteiprogramms und Auszüge der Diskussion bei Meissner 1965, S. 10 ff., 115 ff., Zitat: S. 116. 2 Lenin 1973b, S. 8. 3 Bemerkungen zum zweiten Programmentwurf Plechanows, in: ebd., S. 37.
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Industrielle, der Handwerker, der Bauer dagegen „konservativ“, ja „reaktionär“. Deshalb sei es notwendig, sich zunächst „abzugrenzen“, sich „einzig und allein“ auf das Proletariat zu konzentrieren, erst dann zu erklären, dass das Proletariat „alle“ befreien werde.4 Das war seine Botschaft an die Partei, sie lief auf die Schaffung einer straff organisierten Kaderpartei von Berufsrevolutionären hinaus. Auf sich allein gestellt würden die Arbeiter nur gewerkschaftliche Forderungen zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Lage vertreten; ein sozialistisches, revolutionäres Bewusstsein müsse ihnen von außen, von der Partei, als „Avantgarde des Proletariats“, beigebracht werden. Mit diesen Forderungen spaltete Lenin auf dem II. Parteitag die Russländische Sozialdemokratie in einen bolschewistischen und einen menschewistischen Flügel.5 Die Durchsetzung dieses Organisationskonzepts schien Lenin in den kommenden eineinhalb Jahrzehnten „brennender“, als sich über die Ausgestaltung einer künftigen „Diktatur des Proletariats“ Gedanken zu machen.6
2. Von der „bürgerlichen“ zur „sozialistischen“ Revolution Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 überraschten auch Lenin und warfen alle bisherigen Planungen der Bolschewiki über den Haufen.7 Im Februar 1917 – noch mitten im Krieg – hatten in Petrograd (wie die Hauptstadt Russlands seit Kriegsbeginn hieß) Hungerunruhen, Demonstrationen und Massenstreiks die Autokratie gestürzt. Der Zar dankte ab. Eine neue Provisorische Regierung, die die bürgerlichen Parteien des Parlaments (der Duma) hinter sich wusste, verkündete eine Amnestie für alle politischen und religiösen Vergehen, die Freiheit der Rede und der Presse, der Vereinsgründung und der Abhaltung von Versammlungen sowie das Streikrecht. Privilegierung von Ständen, Diskriminierung von Religionsgemeinschaften und Nationalitäten sollten beseitigt, Wahlen zu den Organen der lokalen Selbstverwaltung auf der Grundlage eines allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts vorbereitet werden und eine Volksmiliz mit gewählter Leitung die frühere Polizei ersetzen. Zur Beratung der Verfassung und der Strukturen des 4 Bemerkungen zum zweiten Programmentwurf Plechanows, in: ebd., S. 37, und ergänzende Bemerkungen zum Programmentwurf der Kommission bei Lenin 1973b, S. 63. 5 Dargelegt 1902 in seiner Schrift „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“, in: Lenin 1973a, S. 355-551. 6 Ausweislich der Registerbände zur deutschen Werkausgabe (nach der vierten russischen Ausgabe) kam bei Lenin der Begriff „Diktatur des Proletariats“ bis in die Jahre 1916/17 kaum vor. Zur Entwicklung des Diktaturbegriffs bei Lenin vgl. auch den Beitrag von Mike Schmeitzner in diesem Band. 7 Zwar sah Lenin Ende Januar 1917 Europa „schwanger mit der Revolution“, aber er zweifelte, ob seine Generation („Wir, die Alten“) die „entscheidenden Kämpfe“ noch erleben werde, Lenin 1972, S. 261 f.
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künftigen Staates sollte eine Konstituierende Versammlung einberufen werden. Parallel zur Provisorischen Regierung hatten Arbeiter in den Petrograder Betrieben und Soldaten in den dortigen Kasernen Deputierte für einen „Sowjet“ (Rat) gewählt, der sich als Interessenvertretung der Arbeiter und Soldaten verstand und die Durchführung der versprochenen Reformen überwachen sollte.8 Nichts von alledem war das Werk der Bolschewiki. Nur wenige Reste ihrer Organisation hatten im Lande überlebt, ihre Führung saß im Ausland oder unter Polizeiaufsicht in Sibirien, Lenin und Sinowjew in der Schweiz, am fernen Jenissej Kamenew, Swerdlow und Stalin. Als die Sibirjaken nach Petrograd kamen, entschieden sie sich, den bisherigen Kurs des Petrograder Sowjets, einer begrenzten Tolerierung der Provisorischen Regierung, publizistisch mitzutragen, unter der Bedingung, dass diese sich an ihr versprochenes Reformprogramm hielt. Lenin sah das völlig anders. Ohne die Lage in Russland selbst recht zu überblicken, polemisierte er im fernen Zürich heftig gegen den eingeschlagenen Kurs und versuchte, auf schnellstem Weg nach Russland zurückzukehren, was ihm mit Hilfe der deutschen Regierung auch gelang. Als er Anfang April auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd ankam und von eigenen Anhängern wie Vertretern des Sowjet willkommen geheißen wurde, überraschte er Freund und Feind mit einem Sofortprogramm, dessen Schlagworte hießen: „Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung“, „Entlarvung der Verlogenheit ihrer Versprechungen“, „Übergang der gesamten Staatsmacht an die Räte“, „Abschaffung der Polizei, des stehenden Heeres und der Beamtenschaft“, „Enteignung des Großgrundbesitzes“, „Nationalisierung der Banken“, „Unterstellung von Produktion und Distribution unter Sowjetkontrolle“, „Verbreitung dieser Forderungen unter den Fronttruppen“, „Verbrüderung“. Man wird sich die Verwirrung, die sie auslösten, nicht groß genug vorstellen können. Da hatten es die gemäßigten Sozialisten im Inneren gerade geschafft, die Ordnung aufrecht, die Zentralverwaltung in Funktion, die Produktion am Laufen und die Front intakt zu halten, da wurden sie mit der Forderung einer generellen Abschaffung von Armee, Polizei und Beamtenschaft konfrontiert, anscheinend ohne Rücksicht auf die Folgen. Dubios erschienen auch die Konzessionen an die Bauernschaft: Denn wie ernst war die Forderung zu nehmen, die Großgrundbesitzer zu enteignen und die Bestellung des Bodens den Bauern zu übertragen, wenn gleichzeitig im Parteiprogramm stand, dass die bäuerliche Familienwirtschaft keine Zukunft habe? Alle Macht den Räten? Da wurden von Lenin Institutionen (die Sowjets) zu Keimzellen eines neuen Staatstypus stilisiert, auf die zuvor keine der sozialistischen Gruppierungen einen programmatischen Gedanken verschwendet hatte, Institutionen, die gerade 8 Für die geschilderten Entwicklungen sei nur verwiesen auf einige wenige der im und zum Jubiläumsjahr 2017 erschienenen Darstellungen: Altrichter 2017; ders. u.a. (Hrsg.) 2016; Aust 2019; Behrends/Katzer/Lindenberger (Hrsg.) 2017; Haumann (Hrsg.) 2016; Merridale 2017; Smith 2018; Franke/Janeke/Scriba (Hrsg.) 2017; Deutsches Historisches Museum/Schweizerisches Nationalmuseum (Hrsg.) 2017; Schweizerisches Nationalmuseum (Hrsg.) 2017.
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fünf Wochen alt, weit davon entfernt waren, zu „funktionieren“, und die in ihrer großen Mehrheit die ihnen angetragene Macht gar nicht haben wollten. Da machte sich jemand zum Fürsprecher der Massenspontaneität, der früher schlichtweg geleugnet hatte, dass diese Massen zu einem revolutionären Bewusstsein fähig seien, es sei denn, sie wurden von einer straff organisierten Kaderpartei von Berufsrevolutionären angeführt. Doch solche Bedenken schienen Lenin mittlerweile nachrangig, vom Fortgang der Ereignisse im Lande überholt zu sein. Aus seiner Sicht boten sie die unwiederbringliche Chance, die Revolution unmittelbar von ihrer „bürgerlichen“ in die „sozialistische“ Phase überzuführen – und zwar mit Hilfe der Räte, was zugleich ein zweites Problem löste: wie die „Diktatur des Proletariats“ vorzustellen, ins Werk zu setzen sei.
3. Die Ausrufung des „Rätestaates“ In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober (6./7. November 1917) besetzten bewaffnete Arbeiter- und Soldatentrupps auf Befehl des Militärischen Revolutionskomitees die strategisch wichtigen Plätze Petrograds, erklärten die amtierende, „bürgerliche“ Provisorische Regierung für gestürzt und riefen eine Räterepublik aus. Erst zwei Wochen zuvor auf menschewistischen Antrag zur Verteidigung der Hauptstadt gegen die vorrückenden deutschen Truppen gegründet, hatten die Bolschewiki das Militärische Revolutionskomitee zur strategischen Aufstandszentrale ausgebaut. Der Zweite Allrussische Rätekongress bestätigte tags darauf den Übergang der Staatsmacht auf die Räte: „Alle Gewalt steht fortan den Räten zu […]. Die Vorsitzenden der Räte verkehren unmittelbar mit der revolutionären Regierung“.9 Diese neue, „provisorische Arbeiter- und Bauernregierung“ sollte „Rat der Volkskommissare“ heißen und die Regierungsgeschäfte bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung führen. Die Namensgebung war Programm: Der „Rat der Volkskommissare“ sollte sich nicht auf Ministerien stützen, sondern auf „Kommissionen“, die zu verschiedenen Zweigen staatlichen Lebens (Innen, Außen, Landwirtschaft, Arbeit, Finanzen, Versorgung, Justiz usf.) zu bilden waren und jeweils von einem „Kommissar“ geleitet wurden. In „enger Verbindung mit den Massenorganisationen der Arbeiter, Arbeiterinnen, Matrosen, Soldaten, Bauern und Werktätigen“ sollten sie die Umsetzung des vom Kongress verkündeten Programms übernehmen. Der „Rat der Volkskommissare“ unterstand der Kontrolle des Rätekongresses und seines Exekutivko-
9 Verordnung des Zweiten Rätekongresses zum Übergang der Macht an die Räte vom 26. Oktober (8. November 1917), in dt. Übersetzung bei: Altrichter (Hrsg.) 1986, S. 27. Hierfür und für das Folgende ders., 1996.
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mitees, die auch das Recht zur Einmischung in die Regierungsarbeit hatten.10 Alle vorgeschlagenen (und vom Kongress bestätigten) „Volkskommissare“ waren Bolschewiki, sie waren meist zwischen 30 und 40 Jahre alt, Lenin mit 47 Jahren der älteste. Der proletarische Rätestaat war eine Absage an den bürgerlichen Staat, an seinen Parlamentarismus, an die repräsentative Demokratie, ihre Gewaltenteilung, ihre Rechtsstaatlichkeit. Mit dem Rätestaat sollte der bürgerliche Staatsapparat zerschlagen, das Berufsbeamtentum abgeschafft werden. Gleiches galt für die Institutionen des bestehenden Gerichtssystems, einschließlich der Staatsanwaltschaft und Advokatur, sie wurden aufgelöst. Ihre Funktion sollten Laien übernehmen, Richter künftig gewählt werden und „nach revolutionärem Rechtsbewusstsein“ entscheiden. Zum alten staatlichen Machtapparat gehörte auch die Armee. Nachdem die neue Regierung mit den Kriegsgegnern Mitte Dezember 1917 einen Waffenstillstandsvertrag vereinbart hatte, gleichzeitig alle Stände, Ränge, Dienstbezeichnungen in der Armee abschaffte und die Wahl der Kommandeure durch die ihnen untergebenen Einheiten legalisierte, gab es für die Auflösung der alten Armee kein Halten mehr – kriegsmüde, wie ein Großteil der Soldaten nach drei Jahren Krieg und ohne Aussicht auf ein siegreiches Ende inzwischen war.11 Diesem Komplex zugerechnet wurde auch die „bürgerliche“ Medienmacht; die bürgerliche Presse sei schließlich „eine der wichtigsten Waffen der Bourgeoisie“. So rechtfertigte man die Schließung bürgerlicher Zeitungsverlage, die Konfiskation privater Druckereien und Papiervorräte unumwunden als „notwendige Übergangsmaßnahme zur Festigung des neuen Regimes“; eine „Wiederherstellung der sogenannten Pressefreiheit“ wäre eine „unzulässige Kapitulation vor den Wünschen des Kapitals“, hieß es im Dekret des Rates der Volkskommissare und in der Resolution des Zentralen Exekutivkomitees vom 27. Oktober (9. November) bzw. 4. (17.) November 1917.12
4. Die „soziale [sozialistische] Revolution“ Die Umsetzung der versprochenen „sozialen [sozialistischen] Revolution“ folgte der Ausrufung der „proletarischen“ Räterepublik auf dem Fuße. Zu den allerersten Dekreten, die der Zweite Sowjetkongress am 26. Oktober (8. November) 1917 bestätigte, gehörte das Dekret über den Boden. Es übernahm in vollem Wortlaut den Grundkanon bäuerlicher Forderungen, wie er unter sozialrevolutionärer Federführung im August 1917 zusammengestellt und im Zentralorgan der russischen Bauern10 Dekret über die Bildung des Rates der Volkskommissare vom 26. Oktober (8. November) 1917 in: ders. (Hrsg.) 1986, S. 26 f. 11 Altrichter 1996, S. 137 ff., 165 ff. 12 Dekret über die Presse vom 27. Oktober (9. November) 1917 und Resolution des VCIK zur Pressefrage vom 4. (17.) November 1917, in: ders./Haumann (Hrsg.) 1987, S. 29 f., 31.
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deputierten veröffentlicht worden war. Artikel 1 hob alles Eigentum an Grund und Boden entschädigungslos und mit sofortiger Wirkung auf. Das gesamte Land – ob in Besitz von Adel oder Krone, Kirche oder Klöstern, Gemeinde oder Individualbauern – wurde „nationalisiert“. Alle größeren Güter wurden samt lebenden und totem Inventar, Wirtschaftsgebäuden und Zubehör „konfisziert“, ebenso das Kron-, Klösterund Kirchenland. Das Nutzungsrecht am Boden stand künftig allen Sowjetbürgern zu, die das Land mit ihrer Hände Arbeit bebauten. Zur „planmäßigen Regulierung der Volkswirtschaft“ führte der Rat der Volkskommissare am 14. (27.) November 1917 (fußend auf einem Textentwurf Lenins) per Dekret in allen Unternehmen, die Lohnarbeiter beschäftigten oder Heimarbeit vergaben, die „Arbeiterkontrolle“ ein. Diese sollte sich auf alle Fragen der Produktion, des Einkaufs und Verkaufs beziehen, auf die Waren selbst, die Rohstoffe und ihre Lagerung sowie die Finanzoperationen des Unternehmens. Organe der Arbeiterkontrolle sollten die in jedem Unternehmen gewählten Interessenvertretungen sein, ob sie sich nun „Betriebskomitees“, „Fabrikkomitees“, „Ältestenräte“ oder anders nannten; in jedem Falle sollten ihnen auch Vertreter der Angestellten und des technischen Personals angehören. In jeder Großstadt, in jedem Gouvernement, in jeder Industrieregion sollte sich ein örtlicher „Rat der Arbeiterkontrolle“ bilden und als Organ des örtlichen Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten fungieren. Die Spitze des Gesamtapparates bildete – so das Dekret – ein „Allrussischer Rat der Arbeiterkontrolle“. Mit Hilfe des Dekrets versicherte sich die neue Staatsführung der Unterstützung der Betriebskomitees und der hinter ihnen stehenden industriellen Arbeiter. Zur Organisation der Gesamtwirtschaft und zur Aufsicht über die Staatsfinanzen wurde am 2. (15.) Dezember 1917 ein „Oberster Volkswirtschaftsrat“ beim „Rat der Volkskommissare“ eingerichtet. Er sollte für die „Regulierung des wirtschaftlichen Lebens“ allgemeine Normen und einen Plan entwickeln und die Tätigkeit der zentralen und lokalen Wirtschaftsorgane koordinieren. Ihm stand das Recht zu, in die Eigentumsordnung einzugreifen, zu konfiszieren, requirieren und sequestrieren; auch die Syndikatisierung von Industrie und Handel fiel in seinen Kompetenzbereich. Dieses höchste Gremium der Wirtschaft setzte sich aus Vertretern des Allrussischen Rates der Arbeiterkontrolle und aller Volkskommissariate zusammen, unter Hinzuziehung von Sachverständigen. Der Oberste Volkswirtschaftsrat zerfiel seinerseits wieder in Sektionen und Abteilungen, vielleicht wichtiger noch als das Plenum war ein 15-köpfiges „Büro“, das die laufenden Geschäfte führte.13
13 Dekrete zu Grund und Boden, über die Einführung der Arbeiterkontrolle und zur Einrichtung eines Obersten Volkswirtschaftsrates in: ebd., S. 25 ff., 36 ff., 38 ff.
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5. Das Ende einer Illusion: der Rätestaat im Bürgerkrieg Die geschilderten Maßnahmen wurden begleitet von einer wahren Flut von Gesetzen und Verordnungen, die nahezu alle Lebensbereiche betrafen: Banken und Justiz, Stände und deren Organisationen, Schule und Kirche, Ehe und Familie. Gesetze und Verordnungen, die früher erlassene Verlautbarungen erläuterten, ergänzten und modifizierten,14 bis zur Unkenntlichkeit des Ursprünglichen. Manches mutet im Nachhinein wie bloße Maskerade an. Das galt schon für die neue „Arbeiter- und Bauernregierung“, den „Rat der Volkskommissare“, seinen angeblichen Verzicht auf Ministerien und Beamtenapparat, seine „Kommissionen“, die im steten Kontakt mit den Massenorganisationen die Umsetzung des Revolutionsprogramms übernehmen sollten, und das Verhältnis des Rates der Volkskommissare zur Rätespitze. Die Kommissionen, die das Dekret angekündigt hatte, bildeten sich nicht. Stattdessen besetzte das Militärische Revolutionskomitee die alten Behörden, die Ministerien und die Staatsbank, und brach den Widerstand der streikenden Ministerialbürokratie. Die Aussicht, Arbeit, Staatswohnungen und Pensionsansprüche zu verlieren, bewogen das Gros der Beamten, die Arbeit wieder aufzunehmen. Die Volkskommissare zogen dort ein, nur dass diese alten Behörden jetzt „Volkskommissariate“ hießen. Von der höheren Beamtenschaft der Volkskommissariate waren im August 1918 (einer internen Erhebung zufolge) 80 bis 90 Prozent schon vor der Oktoberrevolution im öffentlichen Dienst tätig gewesen, nur 8 Prozent waren Bolschewiki. Und was die Unterordnung der Regierung unter die Rätespitze betrifft: Von den 184 Gesetzen und Dekreten, die vom Oktober bis zum Ende des Jahres 1917 erlassen wurden, gingen auf das Konto des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees (laut Verfassung das „höchste gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ“) gerade einmal neun, für 88 zeichnete der Rat der Volkskommissare verantwortlich, 62 stammten von einzelnen Volkskommissariaten.15 Auf den Ebenen darunter sah es nicht besser aus: Räte (Sowjets) gab es vor allem in Städten und Garnisonen. Auf dem Dorf, wo über 80 Prozent der Bevölkerung lebten, waren sie erst noch zu schaffen. Doch die Bauern hielten an den älteren Formen der Selbstverwaltung, den „Dorfversammlungen“ (schody), fest. Außerdem waren die Zuständigkeiten der lokalen, regionalen und zentralen Sowjets nirgends genau festgelegt. So war Räterussland im Frühjahr 1918 eine Ansammlung einfacher, unverbundener Sowjets, die nur der gemeinsame Hass gegen das Alte zusammenhielt, so hat es durchaus zutreffend ein bolschewistischer Mitarbeiter des Volkskommissariat des Inneren beschrieben.16 Ortssowjets legten ihre Befugnisse großzügig aus und 14 Einen Eindruck davon gibt Institut istorii Akademii nauk SSSR (Hrsg.) 1957. 15 Altrichter 1996, S. 15 ff.; ders. (Hrsg.) 1986, S. 336 f.; jeweils mit Hinweisen auf die russische Literatur. 16 Altrichter 1996, S. 37 ff. (Zitat und dessen Beleg: S. 52); am Beispiel des Gouvernements Tver’ vgl. ders. 1984, S. 24 ff.
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Regionalregierungen verteidigten ihre Autonomie gegenüber der Zentralregierung (sie belegten zum Beispiel durchfahrende, für die industriellen Zentren bestimmte Versorgungszüge mit Abgaben). Da mochte die im Juli 1918 verabschiedete erste Verfassung der RSFSR nochmals beteuern, die lokale Gewalt stehe allein den Räten zu, und den Allrussischen Rätekongress mit seinem Zentralen Exekutivkomitee als höchste Organe bestätigen.17 Doch die Verfassungswirklichkeit des Bürgerkriegs sah rasch anders aus. An der Spitze des Staates zog die Regierung alle wichtigen Befugnisse an sich. Anders, als es in der Verfassung stand, tagte der Sowjetkongress künftig nur mehr einmal im Jahr und verlor damit jede unmittelbare Bedeutung, und das Zentrale Exekutivkomitee trat seit Sommer 1918 nur noch sporadisch, seit Anfang 1919 überhaupt nicht mehr zusammen.
6. Lenkung und Gewalt Nur mit straffer Führung und zentraler Planung, strikter Disziplin und äußerster Anstrengung sei der Kampf gegen Hunger, Krieg und Konterrevolution zu bestehen, das war inzwischen die Leitlinie der bolschewistischen Parteiführung, und auch die Regional- und Lokalräte hatten sich danach zu richten. Sie wurden unmittelbar der Moskauer Führung unterstellt, und ihre Hauptaufgabe sollte künftig sein, für die rasche und widerspruchslose Durchführung der zentralen Direktiven zu sorgen. Wo die vorhandenen Organisationsstrukturen nicht ausreichten, schuf sich die Regierung einfach neue: In rascher Folge entstanden Komitees und Kommissionen, zu jedem kriegswichtigen Bereich, zu jeder neuauftauchenden Frage, und als oberste Schaltstelle der Macht fungierte seit Herbst 1918 der – nur sechs Personen umfassende – „Rat der Arbeiter- und Bauernverteidigung“. Schon vorher hatten die Volkskommissare für Versorgung, Transport und Militärangelegenheiten Sondervollmachten erhalten und damit begonnen, ihren eigenen, straff zentralisierten Verwaltungsapparat aufzubauen, bis tief hinein in die Provinz. Sie nahmen den Lokal- und Regionalräten die wichtigsten Funktionen (das Transportwesen, die Versorgung und die Militärverwaltung) aus den Händen, machten sie entbehrlich, verdrängten sie. Am Ende des Bürgerkriegs war das Rätesystem nur noch in Relikten erhalten. Die autonomen Regionalregierungen waren im Hin und Her der Fronten aufgerieben worden. Ein Großteil der Lokalräte hatte sich, funktionslos geworden, aufgelöst, so gab es nur noch in jeder zehnten Kreisstadt einen Rat. Kaum einer rettete seine revolutionäre Tradition ungebrochen hinüber in die 1920er Jahre.18
17 Text der Verfassung der RSFSR vom 10. Juli 1918 in: Altrichter (Hrsg.) 1986, S. 134 ff. 18 Ders. 1996, S. 20 ff., 55 ff.; Andreev 1967; Gimpel’son 1968.
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Zur „Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage“ war bereits im Dezember 1917 (als Nachfolgerin des Militärischen Revolutionskomitees) eine „Außerordentliche Kommission“ gegründet worden. Unter ihrer russischen Abkürzung „Tscheka“ wurde sie zum Inbegriff des Gewaltcharakters der „Diktatur des Proletariats“. Sie sollte Verdächtige ausfindig machen und zur Aburteilung den neuen „Revolutionären Tribunalen“ übergeben. Doch wo (aus ihrer Sicht) rasches Handeln geboten war, fiel bereits im Frühjahr 1918 diese Funktionsteilung, und die Tscheka ging zur Selbstjustiz über: Schon im Winter 1917/18 ging die Zahl der Geiselnahmen und Geiselerschießungen in die Hunderte, mit dem Beschluss über den „roten Terror“ (Anfang September 1918) sanktionierte die bolschewistische Regierung die massenhafte Vernichtung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner, selbst wenn deren „Schuld“ nur in der Zugehörigkeit zu „konterrevolutionären“ Klassen und Bewegungen bestand. Als wichtigste Instrumente des Roten Terrors und Gegenterrors gründete die Tscheka Unterabteilungen bei allen Sowjets, errichtete Gefängnisse und Konzentrationslager und stellte bewaffnete Verbände auf. 1921 beschäftigte sie über 100.000 Zivilisten und 180.000 Mann in militärischen Verbänden. Ihre Terrormaßnahmen richteten sich gegen die Mitglieder und Anhänger anderer Parteien und Bewegungen, gegen die Kirche, deren Wertgegenstände konfisziert, deren Priester, Mönche, Nonnen zu Tausenden festgenommen und vor Gericht gestellt wurden, gegen Intellektuelle, die man ins Ausland abschob, gegen streikende Arbeiter und meuternde Truppenteile, vor allem gegen die aufrührerischen Bauern, die sich weigerten, ihr Getreide gegen wertlose Kreditbillets an die staatlichen Versorgungsorgane abzuliefern; im Kampf gegen die Bauern scheute man auch vor dem Einsatz schwerer Artillerie, von Flugzeugen und Giftgas, vor der Ausrottung und Deportation ganzer Dörfer nicht zurück.19
7. Auf dem Weg in den Staatskapitalismus Zentrale Erfassung, Verwaltung und Verteilung des Verfügbaren – das war seit Frühsommer 1918 auch die Leitlinie in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die Bauern wurden aufgefordert, alle Getreideüberschüsse zu Fixpreisen an den Staat zu verkaufen. Zur Unterstützung der Versorgungsorgane wurden bewaffnete Arbeiterbrigaden aufs Land geschickt. Dörfliche Sympathisanten, organisiert in „Komitees der Dorfarmut“, sollten helfen, Getreidevorräte bei reicheren Nachbarn aufzuspüren. Ging es zunächst noch um „Überschüsse“, so schrieb der Staat seit Anfang 1919 von oben vor, wieviel an Futter- und Brotgetreide bei den Bauern
19 Werth 1998, bes. S. 67 ff. (mit Hinweisen auf weitere Literatur).
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beschafft werden musste. Schon seit Sommer durften Industriewaren an Bauern nur noch gegen Getreide, im Naturaltausch, geliefert werden, doch auch diese Vorschrift verlor bald ihre Bedeutung; da die Industrie fast ausschließlich für den militärischen Bedarf produzierte, mussten sich die Bauern, wie erwähnt, mit wertlosen Kreditbillets zufriedengeben.20 Dabei war schon im Frühsommer 1918 die gesamte Großindustrie mit einem Schlage verstaatlicht worden. Auch in den Betrieben selbst wurden die Zügel angezogen: Etwaige kollegiale Führungsgremien (der Belegschaften) sollten schrittweise durch die Einmannleitung ersetzt werden. Der Oberste Volkswirtschaftsrat wurde im Sommer 1918 noch einmal aufgefordert und ermächtigt, die Gesamtorganisation der Wirtschaft, die Aufsicht über die Staatsfinanzen und die Verwaltung aller Betriebe zu übernehmen. Er entwickelte dazu in den beiden Folgejahren eine gigantische, zentralgeleitete Wirtschaftsbürokratie. Zug um Zug unterstellte die Regierung den gesamten Warenverkehr staatlicher Regie und schloss die Bevölkerung in Konsumgenossenschaften („Konsumkommunen“) zusammen. Schon die Sowjetverfassung hatte im Juli 1918 die allgemeine Arbeitspflicht verkündet. Die Einführung des „Arbeitsbuches“ für jeden Werktätigen machte im Winter 1918/19 diese Verfassungsvorschrift überprüfbar. Im Februar 1920 wurde sie noch erweitert: Fortan konnte jeder zusätzlich zu Sonderaufgaben „im Interesse der sozialistischen Gesellschaft“ herangezogen werden, einmalig oder auch periodisch. Die Regierung behielt sich gleichzeitig das Recht vor, Arbeitskräfte aus der Armee, der Landwirtschaft und der Heimindustrie abzuziehen und zum Einsatz in staatlichen Unternehmen und Institutionen zwangszuverpflichten. Gleichzeitig begann sie mit dem systematischen Einsatz von regulären Armee-Einheiten zu zivilen Zwecken, sie wurden zuvor in „Arbeitsarmeen“ umbenannt.
8. Die Direktivgewalt der Partei Das bolschewistische Zentralkomitee hatte im Oktober 1917 die Vorbereitung des bewaffneten Aufstands beschlossen, unter bolschewistischen Parolen wurde der Umsturz vollzogen. Bolschewistisch war die neue Regierung, der Rat der Volkskommissare,21 und die Bolschewiki gaben auch an der Spitze der Räte, im Sowjetkongress und im Zentralen Exekutivkomitee den Ton an. Lenins neue strategische Ausrichtung der Partei, wie er sie seit seiner Rückkehr aus dem Exil seit April 1917 betrieb, die neuen Parolen – „Den Soldaten den Frieden“, „Den Bauern das Land“, „Den Ar20 Hierfür sowie für das Folgende Altrichter 1996, S. 102 ff., 108 ff.; Pietsch 1969; Gimpel’son 1977; ders. 1973. 21 Der Eintritt linker Sozialrevolutionäre in die Regierung (im November) blieb Episode; bereits im März 1918 überwarfen sie sich (im Streit um den Friedensschluss von Brest-Litowsk) mit den Bolschewiki und schieden aus der Regierung aus.
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beitern die Kontrolle in den Fabriken“ und „Alle Macht den Räten“, als Keimzellen eines neuen freien demokratischen Staates – gaben nicht nur einen anderen programmatischen und strategischen Kurs vor, sie veränderten die Gesamtpartei. Aus den revolutionären Zirkeln, die sich am Leitbild einer konspirativen Kaderorganisation von Berufsrevolutionären orientierten, wurde eine populistische Sammelbewegung der Unzufriedenen, was der Partei bis zum Sommer 1917 einen Massenzulauf von Mitgliedern bescherte. Ein während des 6. Parteitag (Ende Juli 1917) verteilter Fragebogen brachte zutage, dass der „typische“ bolschewistische Delegierte noch relativ jung (zwischen 20 und 30), männlich, von seiner sozialen Herkunft her Arbeiter und in seiner Nationalität Russe war. Nur eine verschwindende Minorität (von 6 Prozent) hatte schon früher einmal an einem Parteitag oder einer Parteikonferenz teilgenommen, 31 Prozent gaben an, vorher Mitglied der Menschewiki gewesen zu sein und 8 Prozent kamen sogar von anderen, „nichtmarxistischen“ Parteien. Mit anderen Worten: Nur auf eine Minderheit passte das Bild vom Parteifunktionär, der von Anfang an dabei war und auf eine „jahrzehntelange“ Berufserfahrung im konspirativen Untergrund zurückblicken konnte. Dieser Trend setzte sich in den Herbst hinein fort, und mit der Mitgliederzahl stieg das Mobilisierungspotential, die Bedeutung der Partei als Resonanzboden der oben ausgegebenen Politparolen.22 Mit dem Sieg im Oktober 1917 konzentrierte die Partei alle ihre Energien auf den Aufbau des Rätestaates, ja schien darin aufzugehen. Man hielt die Tätigkeit im Sowjetapparat für Parteiarbeit, identifizierte die Partei mit den Räten. Anders gesagt, bolschewistische Politik realisierte sich über die bolschewistischen Mitglieder und Fraktionen in den Sowjetorganen. Die Arbeit in den Parteigremien trat dahinter fast vollständig zurück. Dieses Phänomen war nicht nur auf der lokalen und regionalen Basis (in den Betriebszellen, Stadtteilkomitees und Stadtkomitees) zu beobachten, sondern auch an der Spitze. Während der Apparat der Volkskommissariate wuchs und wuchs, besaß das Sekretariat des Zentralkomitees der Partei kaum eine Handvoll Mitarbeiter und war beim Umzug nach Moskau Anfang März 1918 bequem in drei Zimmern des Hotels „National“ unterzubringen. Als man im Juni ins Hotel „Metropol“ umzog, kamen vier Mitarbeiter hinzu, und man leistete sich erstmals eine eigene Schreibmaschine. Mit diesem Apparat war es unmöglich, Anfragen aus der Provinz zu beantworten, stattdessen gab man die Parole aus, sich damit an die staatlichen Stellen zu wenden und im Übrigen die „Prawda“ zu lesen.23 Selbst wenn diese Entwicklung nach der Parole „Alle Macht den Räten“ nur „logisch“ erscheinen mochte, in der neuen, im Juli 1918 verabschiedeten Räteverfassung „Parteien“ nicht vorkamen, auch nicht die Bolschewiki, das System ohnehin immer mehr zur „Einparteiveranstaltung“ mutierte (weil die Bolschewiki 22 Service 1979, S. 48 ff. 23 Altrichter 1996, S. 220 ff.
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die anderen sozialistischen Gruppierungen aus den Räten verdrängten) – dass die Partei über keine starke, flächendeckende, kampagnenfähige Organisationsstruktur verfügte, wurde in ihrer Führung zunehmend als Manko empfunden, zumal keine wichtige Entscheidung in der Partei selbst, beginnend mit den Aprilthesen und dem Entschluss zum bewaffneten Aufstand, unumstritten gewesen war, und ein neuer Kurswechsel anstand: der Abschied, wie eben skizziert, vom Leitbild eines libertären Rätestaates und die Hinwendung zu einem staatskapitalistischen Modell, das statt Freiheit und Mitbestimmung Führung und Planung in den Mittelpunkt allen staatlichen Wirkens richtete. Der VIII. Parteitag brachte im März 1919 dieses Manko zur Sprache. Das vom VIII. Parteitag beschlossene neue Parteiprogramm sah mit der russischen Oktoberrevolution die „Diktatur des Proletariats“ verwirklicht, Voraussetzung für die soziale Revolution des Proletariats, die es seither umzusetzen gelte. Das neue Parteiprogramm bekannte sich zum Ausbau der Föderativen Republik der Sowjets, als „unvergleichlich höherer und fortschrittlicherer Form der Demokratie“, im Vergleich mit dem bürgerlichen Parlamentarismus. Das neue Programm bezeichnete den Rätestaat als „einzigen Staatstypus“, der der „Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, d.h. der Diktatur des Proletariats“, entspreche: Er erleichtere den werktätigen Massen die Wahl und Abberufung ihrer Deputierten, er hebe die Trennung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt auf, die zur Loslösung der Vertretungskörperschaften von den Massen führe, und er bringe den Staatsapparat den Massen auch dadurch näher, dass nicht der territoriale Bezirk, sondern die Produktionseinheit (das Werk, die Fabrik) Wahleinheit und Grundzelle des Staates sei.24 Dieses hohe Lied auf die basisdemokratischen Räte stand in scharfen Kontrast zu deren (bereits geschildertem) tatsächlichen Machtverfall, und der Parteitag stoppte diese Entwicklung nicht. Er beschloss vielmehr, die Parteiorgane zu stärken, sie auf regelmäßige Sitzungen und Rechenschaftslegung zu verpflichten und den Parteiapparat beträchtlich auszubauen. Zur Wahrnehmung seiner Führungsaufgaben wurden neben dem Zentralkomitee drei neue Gremien geschaffen: ein „Politisches Büro“ (Politbüro, bestehend aus fünf Mitgliedern des ZK, das alle Fragen beriet, die keinen Aufschub erlaubten), ein „Organisationsbüro“ (Orgbüro, das ebenfalls aus fünf ZKMitgliedern bestand, nicht weniger als dreimal die Woche tagte und sich um die Parteiorganisation kümmerte) und ein „Sekretariat“, das einem „verantwortlichen Sekretär“ unterstand (der zugleich dem Orgbüro angehörte, dem Plenum des ZK Bericht erstattete und von fünf „technischen Sekretären“ unterstützt wurde). Bis zum Sommer sollte eine Neuregistrierung der Mitglieder, eine „Parteisäuberung“, vorgenommen werden, die alle „unkommunistischen“ Elemente aus ihr entfernte.
24 Vgl. Meissner 1965, S. 20 ff., Text: S. 121 ff.
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Die Parteizentrale, die Anfang 1918 noch in drei Hotelzimmern Platz gefunden hatte, war Anfang der 1920er Jahre zu einer gewaltigen Behörde mit 600 Mitarbeitern angewachsen. Sie residierte inzwischen in Kremlnähe in einem mehrgeschossigen Gebäude in klassizistischem Stil, wo täglich Hunderte von Parteifunktionären aus allen Teilen des Landes aus- und eingingen, Bericht erstatteten oder die Zentrale um Lösung ihrer Probleme baten.25 Schließlich hatte der VIII. Parteitag eine Neuordnung der Zuständigkeiten im staatlichen Machtsystem verfügt, die mehr war als eine Verteilung von Zuständigkeiten zwischen Partei und Räten: So sollte es künftig „in keinem Falle [mehr] zulässig“ sein, die Funktionen der Parteiinstitutionen mit den Funktionen der Staatsorgane, der Sowjets zu vermengen, vielmehr sollte die Partei, als Avantgarde der Arbeiter und Bauernschaft, ihre Beschlüsse durch die Sowjetorgane, als den staatlichen Organen der Arbeiterklasse und der ärmsten Bauernschaft, im Rahmen der Sowjetverfassung „verwirklichen“. Sie strebe danach, das kommunistische Programm zu verwirklichen und entscheidenden Einfluss in allen Organisationen der Werktätigen zu gewinnen, folglich habe sie die „Tätigkeit der Sowjets zu leiten, nicht aber sie zu ersetzen“.26 Nach dieser Auffassung gebührte der Partei die Direktiv-, den Sowjets aber die Exekutivgewalt, eine Formel, die entsprechende Bestimmungen der Sowjetverfassungen von 1936 und 1977 vorwegnahm. Sie war zugleich der Anfang vom Ende des Räte-, des Sowjetstaates, selbst wenn die Namensgebung beibehalten wurde. Die Räte, eben noch als Träger des revolutionären, allgewaltigen proletarischen Willens und Verwirklichung autonomer, direkter demokratischer Selbstverwaltung gepriesen, wurden damit zu ausführenden Organen der bolschewistischen Partei, die sich an ihrer statt zum Träger der proletarischen volonté générale erklärte. Ganz in diesem Sinne erfolgte auch die Neugründung der Lokal- und Regionalsowjets nach Ende des Bürgerkriegs „von oben“, als nachgeordnete Verwaltungsbehörden, nach Statuten, die die Durchführung von Beschlüssen übergeordneter Organe zu deren wichtigsten Aufgabe machten.27 Vergleichbares galt für den staatlichen Gewaltapparat. Dem Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (1921/22) folgte eine Justizreform: die Kodifizierung des Straf- und Zivilrechtes, die formelle Wiedereinführung von Staatsanwaltschaft und Advokatur, die Auflösung der Revolutionären Tribunale und der Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage. Doch daran, dass 25 So der amerikanische Anarchist Alexander Berkman in seinen Erinnerungen, in: ders. 2004, S. 50 f. Zahlen bei Kotkin 2014, S. 422 ff., 428 ff. 26 Verhandlungen des Parteitags in: Gosudarstvennoe izdatel’stvo političeskoj literatury (Hrsg.) 1959b; Beschlüsse in: KPSS 1983b, S. 67 ff., hier: S. 107. 27 Vgl. Verordnung des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees über die Dorfräte vom 22. Januar 1922, in: Altrichter (Hrsg.) 1986, S. 42 ff., hier: S. 44 f., § 12; weitere Hinweise ders. 1996, S. 64 ff.
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der Einsatz von „Terror“ bei „konterrevolutionären Verbrechen“ (die auf den „Sturz oder die Schwächung der durch die proletarische Revolution errichteten Macht“ hinarbeiteten) weiterhin notwendig und berechtigt war, wollte Lenin nicht gerüttelt sehen. Und auch die Außerordentliche Kommission (die Tscheka) war nicht rundweg abgeschafft, sondern nur als Abteilung für Staatssicherheit in das Volkskommissariat des Innen der RFSSR eingegliedert worden; sie lebte dort unter demselben Vorsitzenden (F.E. Dserschinski) und der harmlos klingenden Bezeichnung „Staatliche Politische Verwaltung“ (russ. Abk. GPU, seit 1923 als gesamtstaatliche und eigenständige OGPU) weiter.
Fazit In der ersten Verfassung der RSFSR vom Juli 1918 erklärten die Bolschewiki die „Grundaufgabe der für den gegenwärtigen Augenblick des Übergangs bestimmten Konstitution […] in der Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats und der ärmeren Bauernschaft in Form einer machtvollen Allrussischen Sowjetregierung zum Zweck der völligen Niederhaltung der Bourgeoisie, der Beseitigung aller Ausnutzung des Menschen durch den Menschen und die Einsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, unter der es weder eine Klassenteilung noch eine Staatsmacht geben wird“. Die proklamierte „Grundaufgabe“ verfehlte klar ihr Ziel: Statt der hier avisierten Diktatur verschiedener sozialer Schichten kristallisierte sich seit Herbst 1917 schnell eine Diktatur der Bolschewiki heraus, die zuerst und vor allem durch den zentralistisch agierenden „Rat der Volkskommissare“ verkörpert wurde. Dieser gestaltete wiederum die Gesellschaft um: Statt des bislang bestehenden Privateigentums an Produktionsmitteln bildete sich rasch ein neuer Staatskapitalismus heraus, und statt der avisierten sozialistischen Gesellschaft ohne Klassen und Staatsmacht existierte bald eine neue politisch bevorrechtigte Klasse – die der Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunktionäre der Bolschewiki – und eine Staatsmacht, die deutlich aufgebähter, zentralistischer und gewaltaffiner war als die alte überwundene.
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Béla Bodo Die ungarische Räterepublik: Eine Diktatur des Proletariats oder eine proletarische Demokratie?
Schon vor dem Ende der ersten ungarischen Kommunismuserfahrung begann die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Ungarischen Räterepublik. Henrik Marczali, der vielleicht bedeutendste ungarische Historiker der Vorkriegszeit, stellte im Frühsommer 1919 die erste Untersuchung zu diesem Thema fertig – ein Interview mit den kommunistischen Protagonisten: Durchgeführt mit den Methoden der Oral History.1 Es gibt kein anderes zeitgenössisches Ereignis in der ungarischen Geschichte, dass eine vergleichbare Anzahl an Memoiren und Streitschriften wie die Räterepublik in den ersten fünf Jahren nach dessen Ende angeregt hat. Zwar ist der Wert solcher Primärquellen zur Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse generell begrenzt. Durch diese wird aber das zeitgenössische politische Klima, die Vorstellungen, Ideologien und das emotionale Empfinden (die sogenannte “culture of defeat”) nachvollziehbar.2 Die Rechten und Rechtsradikalen stritten eigene ungarische oder europäische Wurzeln der Diktatur des Proletariats in der Geschichte Europas ab, die Räterepublik sei bloß ein zufälliges Ereignis, eine Anomalie. In dieser rechten Historiographie stand die Ungarische Räterepublik abseits des normalen geschichtlichen Verlaufs Ungarns; sie galt als das gemeinsame Kind von politisierten Fanatikern, von Kriminellen und rassischen Fremdkörpern, in erster Linie von Juden. Das linke Experiment hatte nichts mit den Problemen und den konkreten (oder imaginierten) Forderungen und Wünschen der ungarischen Bevölkerung zu tun. Nicht nur löste die Republik keinerlei Probleme, sondern bestand im Gegenteil bloß aus willkürlicher Gewalt und Terror gegen die Bevölkerung: dem „Roten Terror“. Keineswegs habe die Gewalt strukturelle Ursachen gehabt; ihr Ursprung sei vielmehr im Wesen, im spezifischen rassischen Charakter und in den politischen Ambitionen ihrer Urheber zu suchen. Der „Rote Terror“ sei im Kern nichts anderes als jüdische Gewaltanwendung gewesen. Der Bolschewismus stellte letzten Endes den jüdischen Versuch dar, sich der politischen Macht zu bemächtigen, um zuerst die Bevölkerungen Russlands und Ungarns und danach den Rest der Welt zu versklaven.3
1 Vgl. Romsics 2011. 2 Vgl. Schivelbusch 2003. 3 Csunderlik 2019, S. 15-100.
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Konservative und liberale Historiker wie Gyula Szekfű und Gusztáv Gratz vertraten während der Zwischenkriegszeit eine andere Ansicht bezüglich der Ursachen der linksradikalen Diktatur in Ungarn. Während der konservative Szekfű den Liberalismus und die kapitalistische Entwicklung nach 1849 dafür verantwortlich machte, wertete der liberale Gratz die Geschichte des Liberalismus in Ungarn als Erfolgsgeschichte. Er sah seinerseits als Ursache der revolutionären Ereignisse den wirtschaftlichen Kollaps, die Verwirrung der Moral und den Rückzug des Staates nach dem verlorenen Krieg an. Beide Historiker waren aber darin einig, dass die Diktatur des Proletariats nichts Positives und Dauerhaftes in Ungarn mit sich gebracht hätte – vom Hass gegenüber der Demokratie und dem Kommunismus abgesehen.4 Nach 1947 formten die Historiker des kommunistischen Einparteistaates in Ungarn die kollektive Erinnerung an die Räterepublik von 1919 völlig um. Sie stellten ihre Geschichte einerseits als Produkt des Klassenkampfes und andererseits als Krieg für die nationale Befreiung dar. Die Räterepublik bildete in ihrer Sicht den Kulminationspunkt aller bisherigen positiven Ereignisse und fortschrittlichen Entwicklungen in der ungarischen Geschichte, in einer Reihe mit den frühneuzeitlichen Bauern- und Handwerkerrevolten und der Revolution von 1848. Den Kommunisten seien damals zwar Fehler unterlaufen, so hätten sie es versäumt, Latifundien unter den Bauern zu verteilen. Dessen ungeachtet sei die Räterepublik die progressivste Regierung in der ungarischen Geschichte vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Sie habe die Idee der Arbeiterselbstverwaltung in die Praxis umgesetzt und die progressivste Gesetzgebung weltweit (nach der des bolschewistischen Russlands) verabschiedet.5 Die Räterepublik sei Opfer der internen, auch sozialdemokratischen Konterrevolution und der Armeen der Entente und Nachbarländer geworden. Der Traum der damaligen Revolutionäre, ein sozialistisches Ungarn, hätte erst nach 1945 von einer späteren Generation realisiert werden können.6 Nach der Wende von 1989-91 und dem damaligen Kollaps des kommunistischen Ostblocks rief die Geschichte der Ungarischen Räterepublik für mehr als zwei Jahrzehnte wenig Interesse bei ungarischen Historikern hervor – abgesehen vom „Roten Terror“.7 Liberale und konservative Historiker werteten dabei die Räterepublik als eine historische Sackgasse und sahen ihre vielen Fehler, strukturellen Schwächen und kriminelle Handlungen als ein Vorspiel des kommunistischen Regimes nach 1945 und somit letzten Endes als einen Teil der Ursachen für den kommunistischen Kollaps am Ende der 1980er Jahre.8 Ihre Außenpolitik lieferte demnach den Nachbarländern Anlass, das Land anzugreifen und zusätzliche ungarische Gebiete zu erobern. Die Diktatur des Proletariats habe die große Mehrheit der Bevölkerung 4 5 6 7 8
Szekfű 1989, S 236- 377; Gratz 1935, S. 94-186. Péteri 1984. Apor 2014, S. 1-25, 61-100. Pók 2010, S. 29. Vgl. Salamon 2002.
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entfremdet. Sie habe nicht allein den Kommunismus, sondern auch die sozialistischen, demokratischen und liberalen Ideen für viele Jahrzehnte hinweg diskreditiert. Zudem sei dadurch der Antisemitismus gestärkt worden. In Folge des Räteexperiments habe das Land einen verhängnisvollen Pfad beschritten, dessen Stationen das Bündnis mit Nazi-Deutschland, die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg und nach 1940 schließlich die Beteiligung am Holocaust waren.9 Der vorliegende Aufsatz ist als Beitrag zur internationalen Debatte über die Ursprünge, Bedeutung und praktische Anwendung des Konzeptes der Diktatur des Proletariats konzipiert.10 Der Fokus liegt auf die Schnittstelle von Theorie und Praxis. Mein Interesse gilt vor allem den Veränderungen des Konzeptes in verschiedenen geschichtlichen Kontexten und der Frage, wie dieses Konzept Alltagsleben, Kultur und Politik mitgestaltet hat. Zuvor muss allerdings der Frage nachgegangen werden, wie aus dem Begriff überhaupt ein Konzept erwachsen ist – bei den Sozialdemokraten am Kriegsende und während der demokratischen Revolution. Und was haben die Kommunisten – vor und nach der Erlangung der Macht im März 1919 – darunter verstanden? Wie hat das Konzept die Wirtschafts-, Sozial-, und Kulturpolitik Ungarns beeinflusst? Hat die Überführung des Konzepts in die ungarische Praxis überwiegend positive oder negative Konsequenzen gehabt?
1. „Diktatur aus Verzweiflung“11 Der Mythos von der Revolution als einer singulären, umwälzenden Katharsis, die die politischen und sozialen Strukturen schlagartig verändert, die Mentalitäten verwandelt und einen neuen Menschen erschafft, war in Ungarn vor 1914 nur in einem Randbereich der äußersten politischen Linken anzutreffen. Die 1890 gegründete Sozialdemokratische Partei Ungarns Magyarországi Szociáldemokrata Párt (MSZDP) orientierte sich am deutschen Vorbild (SPD) und setzte sich für Reformen ein, die schrittweise und auf parlamentarischem Weg zum Sozialismus führen sollten.12 Gegen diesen Grundkonsens innerhalb der Partei erhoben sich seit der Jahrhundertwende vereinzelt kritische Stimmen. So wie bei Anarchosyndikalisten in anderen Teilen Europas, stand bei Ervin Szabó – der der Sozialdemokratischen Partei Ungarns angehörte – die zunehmende Bürokratisierung der ungarischen Sozialdemokratie im Fokus der Kritik.13 Szabós Forderungen waren moderat: das allgemeine Wahlrecht sowie die Erhöhung der Löhne, des Lebensstandards und des kulturellen 9 Vgl. Dalos 2004, S. 123; Lendvai 2002, S. 365; Zit. nach Pók 2010, S. 33-34. 10 Vgl. Schmeitzner 2017, S. 17–69. 11 Vgl. Arbeiter-Zeitung, 22.3.1919 (Morgenausgabe), S. 1. Der Artikel dürfte vom damaligen österreichischen Außenminister und führenden Austromarxisten Otto Bauer stammen. 12 Löwy 1979, S. 73. 13 Ebd.
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Niveaus für die städtische Arbeiterschaft. Der Glaube an die parlamentarische Demokratie, anders als die meisten ungarischen Sozialdemokraten, hatte Szabó mit der Zeit aufgegeben. An der Stelle von Wahlen befürwortete er, um den Sozialismus zu verwirklichen, die unmittelbare und direkte Aktion durch die revolutionären Arbeiter.14 Einige Linkssozialisten sympathisierten mit seinen Ideen; die Mehrheit der Unterstützer machten aber radikale Gymnasiasten und Studenten, Feministen, marginalisierte städtische Intellektuelle und auch Anarchisten aus dem Umfeld des Diskussionsklubs Galilei-Kör (Galilei-Kreis) aus.15 Der Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse in Russland hatten einen bedeutenden Einfluss auf die politische Debatte in Ungarn. Anfang Dezember 1918 wandte sich der Ökonom und Soziologe Károlyi Polányi, der zu dieser Zeit Redakteur von Szabadgondolat (Freier Gedanke), der Zeitung des Galilei-Kreises, war, an drei Intellektuelle aus dem linken Spektrum. Polányi wollte deren Ansichten über die bolschewistische Revolution in Russland erfahren und nachfragen, ob es ihrer Meinung nach wahrscheinlich (und überhaupt wünschenswert) wäre, dass ähnliches auch in Ungarn stattfinden könnte. Die Befragten waren der Politikwissenschaftler Oskár Jászi, der Wirtschaftswissenschaftler Jenő Varga und der Philosoph und Literaturkritiker György Lukács. In seinem Antwortschreiben lehnte Jászi, ein gemäßigter nicht-marxistischer Sozialist und einer der Führungsfiguren der Bürgerlich-Demokratischen Partei, die Diktatur des Proletariats vehement ab.16 Lukács erhob seinerseits in seinem Beitrag „Der Bolschewismus als moralisches Problem“ eine Reihe von ethischen und moralischen Einwänden gegen das revolutionäre Experiment in Russland.17 Lukács Meinung änderte sich aber schlagartig in der kurzen Zeit, die bis zur Veröffentlichung des Artikels verstrich. Er trat der ungarischen Kommunistischen Partei bei und wurde Befürworter der Diktatur des Proletariats.18 In einem neuen Beitrag mit dem Titel „Taktik und Ethik“ rechtfertigte Lukács seine Hinwendung zum Kommunismus und seine Befürwortung von gewaltsamen Mitteln, um die Diktatur zu errichten und am Leben zu erhalten.19 Lukács war von der Idee der befreienden Sünde, welche für das Wohl der Menschheit verübt wird, fasziniert.20 Vargas Verwandlung vom gemäßigten Sozialdemokraten zum Linksradikalen war nicht ganz so extrem wie die von Lukács. Im Dezember 1918, als er seine Antwort auf Polányis Frage in Szabadgondolat verfasste, hatte sich Varga ideologisch von seinem Lehrer Karl Kautsky entfernt. Kautsky war der Ansicht, dass „Sozialismus als Mittel zur Befreiung des Proletariats ohne Demokratie […] 14 15 16 17 18 19 20
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Szabó 1982, S. 139-149; Vörös 2017, S. 35-50. Vgl. Csunderlik 2017. Vgl. Litván 2006, S. 164f. Lukács/Tar, 1977, S. 416-424, bes. S. 424; Kadarkay 1980, S. 254f. Vgl. Lendvai 2008, S. 55-73. Kadarkay 1980, S. 256. Lukács 1967, S. 11; Kadarkay 1991, S. 204.
undenkbar [ist]“.21 Varga war mittlerweile anderer Auffassung geworden. Die Bolschewiki hätten es seiner Ansicht nach geschafft, die Utopie, also die Diktatur des Proletariats, in die Praxis umzusetzen. Dennoch sei es dem neuen Regime bisher nicht gelungen, den grundlegenden Widerspruch zwischen „Klassendisziplin“ und „Produktionsdisziplin“ zu lösen. Um die sozialistischen Ziele zu verwirklichen war es seiner Meinung nach von wesentlicher Bedeutung, dass die Wirtschaftsentwicklung angekurbelt und die Produktion rasch erhöht werde. Dies könne aber nur mit Unterstützung der Arbeiterschaft geschehen. Varga plädierte jedoch für eine freiwillige Unterstützung, nicht für die Anwendung gewaltsamer Mittel.22 Parallel zur flächendeckenden Bildung von Arbeiter-, Bauern und Soldaten-Räten war Ende Oktober 1918 eine neue ungarische Regierung unter Graf Mihály Károlyi an die Macht gekommen. Károlyi hatte sich während des Krieges für dessen Beendigung und gegen das Bündnis mit Deutschland eingesetzt. Zur Koalition aus bürgerlichen und demokratischen Parteien zählte die Bürgerlich-Radikale Partei von Oskár Jászi und die Sozialdemokratische Partei.23 Doch bereits am 8. Januar 1919 scheiterte die Regierung an der Verständigung über eine dringend notwendige Steuerreform. Mit dieser Regierungskrise wurde die Idee einer Diktatur des Proletariats von einer theoretischen Frage zu einem praktischen Anliegen: In der anschließenden Debatte in sozialdemokratischen Kreisen stand nämlich die Frage im Raum, ob die Sozialdemokratische Partei als politische Vertretung der Arbeiterklasse nunmehr eine rein sozialdemokratische Regierung bilden sollte oder ob die neue Regierung auch aus Nicht-Sozialisten bestehen dürfte. Der rechte Flügel der MSZDP, mit Ernő Garami an der Spitze, lehnte die Idee einer proletarischen Diktatur ab. Seiner Meinung nach entbehrte die Partei sowohl einer mit Erfahrungen und Wissen ausgestatteten intellektuellen Elite als auch einer disziplinierten Basis, welche es ihr ermöglichen würde, im Alleingang zu regieren. Eine neue, rein sozialistische Regierung würde am Widerstand der Bourgeoisie, insbesondere des Offizierskorps und der Staatsbürokratie, scheitern. Die zu erwartende Niederlage würde die sozialistischen Bemühungen, große Teile der Wirtschaft zu verstaatlichen, zunichtemachen. Deshalb plädierten die Vertreter des rechten Flügels ebenso wie der angesehene Zentrist Zsigmond Kunfi auch weiterhin für eine Koalition mit den bürgerlich-demokratischen Parteien. Maßgebliche zentristische Politiker der MSZDP wie Sándor Garbai und Vilmos Böhm befürworteten ihrerseits die Bildung einer rein sozialistischen Regierung, deren Ziel es sein sollte, den zunehmenden Einfluss der neugegründete Kommunistischen Partei Ungarns zurückzudrängen. Die neue Regierung würde sich auf die Gewerkschaften und die Armee stützen. Sie würde den Staatsapparat verwalten, die Ordnung im Inneren aufrechterhalten und Wahlen zur Nationalversammlung organisieren, aus 21 Kautsky 1918, S. 8. 22 Mommen 2010, S. 77. 23 Romsics 1999, S. 89ff.
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der dann eine neue Regierung hervorgehen sollte. Der linke Flügel der Partei votierte demgegenüber für eine enge Kooperation mit der KP und die Präferierung des Rätesystems gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Die Debatte führte zu einer Kompromisslösung: Graf Mihály Károlyi, der bisherige Ministerpräsident, wurde zum provisorischen Staatspräsidenten ernannt, neuer Ministerpräsident das Mitglied der Bürgerlichen-Demokraten Dénes Berinkey. Dieser bot István Szabó von Nagyatádi, dem Vorsitzenden der Partei der Kleinen Landwirte, an, als Minister ohne Ressort der Regierung beizutreten. Diese Bemühungen zielten auf eine Landreform, die der Not der etwa drei Millionen landlosen Bauern (ein Drittel der ungarischen Bevölkerung) ein Ende setzten sollte.24 Doch die Sozialdemokraten, die eine Mehrheit der Minister stellten, wollten keine Bodenverteilung, sondern die Bildung großer genossenschaftlicher Betriebe. Zudem sprachen sie sich mehrheitlich für eine Politik umfassender Verstaatlichungen aus. Nur über den Umfang vermochten sich ihre Führer nicht zu einigen. Es wurde heftig darüber debattiert, ob kleine und mittlere Unternehmen in privaten Händen bleiben sollten oder nicht. Der rechte Parteiflügel war für die Verstaatlichung der größeren Unternehmen, insbesondere der Rüstungsindustrie, wo eine Mehrheit der Arbeiter ohnehin gewerkschaftlich organisiert war. Der linke Flügel und einige Sozialdemokraten des Zentrums befürworteten die vollständige Verstaatlichung der Industrie sowie von bedeutenden Teilen des Handels- und Dienstleistungssektors.25 Jedoch gerieten die Sozialdemokraten ab Ende 1918/Anfang 1919 immer weiter unter Druck – und zwar von radikal linker Seite: Am 24. November 1918 hatten einige Sozialdemokraten, die in russischen Kriegsgefangenenlagern zu Kommunisten geworden waren, zusammen mit jungen Anarchisten und Radikalen, hauptsächlich aus dem Galileo-Kreis, die Kommunistische Partei Ungarns (Kommunisták Magyarországi Pártja oder KMP) gegründet. Die Führungskräfte der neuen Partei stammten hauptsächlich aus den marginalisierten Teilen der städtischen Intelligenz. Die Überrepräsentation von arbeitslosen und halb-beschäftigten jüdischen Intellektuellen in der Parteiführung machte die neue politische Organisation für antisemitische Angriffe nicht nur von radikalen Rechten, sondern auch von Seiten der Konservativen und sogar von Exponenten des liberalen Zentrums anfällig. Bis Anfang 1919 blieb die Kommunistische Partei (so wie die Sozialdemokratische Partei) eine überwiegend städtische Organisation; es gelang ihr nicht, ihren politischen Einfluss auf dem Land zu erweitern. Anfang 1919 war die KMP besonders bei Universitätsstudenten und jungen Angestellten, insbesondere im Banken- und Handelssektor, populär; Massenunterstützung erhielt sie aus den Reihen demobilisierter Soldaten, sowie auch von Seiten der Arbeitslosen, der jungen und nicht gewerkschaftlich organisier24 Vgl. Mommen 2010, S. 54; Gunst 1981, S. 405. Die von der Berinkey-Regierung geplante Landreform war aber zum Scheitern verurteilt. Vgl. Romsics 1999, S. 94f. 25 Péteri 1984, S. 38.
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ten Arbeitern und der städtischen Unterschicht in Budapest und in einigen größeren Städten in der Provinz. Bis März 1919 war es der Partei gelungen, die Unterstützung der einflussreichen Drucker- und der Stahlarbeitergewerkschaft für sich zu gewinnen. Obwohl viele Arbeiter in großen Betrieben in den Vororten von Budapest wie Mátyásföld, Aszód und Csepel mit der MKP sympathisierten, blieb die große Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter der sozialdemokratischen Partei treu. Erheblichen Einfluss konnten die Kommunisten jedoch in den Arbeiterräten in Budapest und den größten Provinzstädten geltend machen, ohne diese jedoch zu beherrschen. Von Anfang an war das erklärte Ziel der MKP die Einführung der Diktatur des Proletariats in Ungarn. Die Kommunisten zielten auf mehr als nur die Erlangung der politischen Macht. Neben dem Ausschluss der Bourgeoisie aus dem politischen Leben strebten sie die vollständige Verstaatlichung der Industrieproduktion und die Einführung einer von den Gewerkschaften verwalteten Arbeiterkontrolle in den Fabriken an; die Latifundien, der Wohnungsmarkt und die Banken sollten verstaatlicht werden; an ein ehrgeiziges und von den Gewerkschaften verwaltetes Programm öffentlicher Bauprojekte war ebenso gedacht, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Nicht zuletzt sollten auf dem Wege einer geänderten Steuergesetzgebung die Steuereinnahmen (vornehmlich der Vermögenden) erhöht werden. Bis Anfang März 1919 hatte sich die MSZPD viele solcher kommunistischen Forderungen zu eigen gemacht; dennoch lehnten die Sozialdemokraten weiterhin die Anwendung extremer Gewalt als legitimes Mittel im politischen Kampf ab.26 Die Kommunisten waren ihrerseits entschlossen, die Macht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu ergreifen: Die Idee der Diktatur des Proletariats diente ihnen als Vehikel für ihren Machtwillen. Der Führer der neuen Partei, Béla Kun, war sich bewusst, dass die MKP die Unterstützung einer Mehrheit der Arbeiter nicht hatte, ganz zu schweigen von dem Rest der Bevölkerung, und dass nur wenige Arbeiter seinen Traum einer proletarischen Diktatur teilten. Aber er war der Auffassung, dass es vor allem auf die Existenz einer klassenbewussten Avantgarde ankomme. In der Diktatur des Proletariats, äußerte er im Ende 1918 gegenüber einem seiner Genossen, würden die Führer die Macht im Namen und im Auftrag der Arbeiterklasse ausüben.27 Anders als die Sozialdemokraten und die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter war Kun davon überzeugt, dass die Demokratie unter den Bedingungen des Kapitalismus bestenfalls nur als leere Hülle existieren könne, dass Kapitalismus und Demokratie unvereinbare Ideen seien und dass „es keine Gleichheit zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten geben“ könne. Anfang 1919 war es das Ziel von Kun und seinen Mitstreitern, die Macht gewaltsam an sich zu reißen; sie waren bereit, einen Putsch zu riskieren, im vollen 26 Mommen 2010, S. 82-84. 27 Hatos 2021, S. 50.
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Bewusstsein, dass ein kommunistisches Regime das Elend in den Städten vergrößern würde. Kun war sich bewusst, dass die Ententemächte wahrscheinlich eine Wirtschaftsblockade verhängen würden, die die Einstellung von Kohlelieferungen an die frierende Bevölkerung von Budapest als Konsequenz haben könnte. Seine Meinung war dennoch, dass der Erfolg der proletarischen Revolution nicht von der Politik und der Gunst der westlichen Mächte abhängig sein sollte. Obwohl die Arbeiter kurzfristig zu leiden hätten, würde die Revolution zu einer wundersamen Transformation ihres mentalen Universums führen. Die Arbeiterklasse würde endlich ein angemessenes Klassenbewusstsein erreichen; damit würden die Industriearbeiter in der Lage sein, die politische Macht durch die Gewerkschaften und die Arbeiterräte auszuüben.28 Überzeugt, dass die Zeit und die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung auf ihrer Seite waren, erhöhten die Kommunisten den Druck auf die von den Sozialdemokraten dominierte Regierung. Am 19. und 20. Februar belagerte und verwüstete eine große Menschenmenge, die hauptsächlich aus arbeitslosen Arbeitern bestand, die Redaktionen der liberalen Tageszeitung Pesti Hirlap (Pester Tageszeitung) und der sozialistischen Népszava (Volksstimme) in Budapest. Diese Ausschreitungen kosteten acht Menschen das Leben, darunter zwei reguläre und drei Hilfspolizisten. Etwa 200 weitere Personen wurden verletzt. Der kommunistische Krawall provozierte eine entschlossene Gegenreaktion von sozialdemokratischer Seite. Der sozialdemokratische Polizeichef von Budapest, Károly Dietz, ließ einen Großteil der Führung der MKP am folgenden Tag verhaften. Am 21. Februar 1919 organisierten die MSZDP und die Gewerkschaften eine Massendemonstration vor dem Parlamentsgebäude, um die Kommunisten einzuschüchtern. Mehr als 250.000 Menschen folgten ihrem Aufruf. Paradoxerweise hat aber diese sozialdemokratische Machtdemonstration und insbesondere die brutalen Methoden der Polizei, die den inhaftierten Béla Kun schwer misshandelte, die Machtstellung der MKP und die Popularität von Kun unter den Budapester Arbeitern nicht nur nicht zerstört, sondern sogar noch gesteigert. Der Konflikt zwischen den Kommunisten und Sozialdemokraten kam aber bald an einen Wendepunkt. Die Anfang März gestiegene konterrevolutionäre Bedrohung durch Teile des Militärs und der Großagrarier führte bei vielen zentristischen Sozialdemokraten zu einem Umdenkungsprozess: Für sie waren die Kommunisten nun nicht mehr länger politische Gegner, sondern potenzielle Partner in einer Koalitionsregierung, um die Konterrevolution in Schach zu halten.29 Anfang März 1919 ging das demokratische Experiment in Ungarn seinem Ende entgegen. Das Land hatte zwischen Ende Oktober 1918 und dem 21. März 1919 zwei demokratische Regierungen erlebt: Beiden war es nicht gelungen, die Inflation zu bremsen, den wirtschaftlichen Niedergang umzukehren, den Landhunger der 28 Borsányi 1993, S. 129-131. 29 Böhm 1924, S. 197-204. Zit. nach Gräfe 2018, S. 35. Vgl. dazu auch Hatos 2021, S. 52-54.
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Bauern durch eine radikale Bodenreform zu stillen, die territoriale Integrität des Landes durch Zugeständnisse an die ethnischen Minderheiten zu wahren und die Grenzen Ungarns zu verteidigen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die demokratischen Politiker dem Ernst dieser Probleme, insbesondere die Bedrohung von Recht und Ordnung im Inneren sowie die Infragestellung der Souveränität und der territorialen Unversehrtheit Ungarns durch die militärischen Einfälle der Nachbarländer, bewusst waren. Sie waren weder Verräter noch blauäugige Pazifisten und Idealisten, wie zeitgenössische rechte Publizisten und später viele Historiker meinten. Es hat zahlreiche Versuche auf lokaler Ebene gegeben, die einfallenden Armeen in Siebenbürgen und Oberungarn (die heutige Slowakei) aufzuhalten. Die neueren Forschungen zeigen jedoch auch, dass die ungarischen Soldaten nach vier Kriegsjahren ihren Kampfwillen schlichtweg verloren hatten. Kein Zugeständnis wäre zudem großzügig genug gewesen, um die ethnischen Minderheiten vor ihren sezessionistischen Bestrebungen abzuhalten. Ungeachtet der Auswirkungen der Kriegsniederlage war es den demokratischen Regierungen gelungen, das Heer geordnet nach Hause zurück zu bringen, zu demobilisieren und Arbeitsplätze für die entlassenen Soldaten zu schaffen. Gemeinsam mit den lokalen Behörden ist es den Regierungen zudem gelungen, für hunderttausende ungarische Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten eine Unterkunft zu finden, Recht und Ordnung in den Städten weitgehend aufrechtzuerhalten, die Plünderungen, Landbesetzungen und Pogrome (von den Historikern der „letzte Bauernaufstand“ und die „Revolution der grünen Kader” genannt) zu beenden.30 Die Bemühungen der demokratischen Regierungen sollten sich jedoch als nicht ausreichend genug erweisen. Bis März 1919 zerbröckelte das demokratische System. Die bürgerlichen Parteien verschwanden entweder ganz von der Bildfläche oder führten nur noch ein Schattendasein. Im Januar 1919 fiel die Macht an die Sozialdemokratische Partei – zu einer Zeit, als viele sozialdemokratische Führer und die Mehrheit der Arbeiter ihren Glauben an die Möglichkeit einer demokratischen Entwicklung unter kapitalistischen Verhältnissen verloren hatten oder zu verlieren begannen. Das demokratische Regime brach schließlich unter dem Druck militärischer und diplomatischer Entwicklungen zusammen: Es wurde nicht von innen durch einen Putsch oder eine große Revolution, sondern vielmehr von außen, durch die Einwirkung von ausländischen Mächten zerstört. Der Zusammenbruch wurde durch die berüchtigte Vix-Note, so benannt nach dem französischen Offizier und Haupt der militärischen Mission der Entente in Budapest, der Stellvertretende Oberst Ferdinand Vix, eingeleitet. Die von Vix an die ungarische Regierung überreichte Note besagte, dass die ungarischen Streitkräfte sich um etwa 100 Kilometer weiter zurückziehen und dass das aufzugebende Gebiet von rumänischen Streitkräften besetzt werden
30 Vgl. Hatos 2018, S. 172-185; Beneš 2017, S. 207–241.
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sollte. Die ungarischen Politiker glaubten, dass Vix den Anweisungen der EntenteMächten in Versailles gemäß handelte, und dass die Note die künftigen Grenzen Ungarns ausweisen würde. In der Tat scheint es eher so gewesen zu sein, dass Vix allein im Auftrag der französischen Regierung gehandelt hat, welche dazu neigte, die rumänischen territorialen Anforderungen zu erfüllen. Die Vix-Note löste eine politische Krise aus, welche zum Rücktritt der Regierung führte. Die politische Elite geriet in Panik. Bei einem Treffen am 20. März 1920 drängte Präsident Károlyi seine Minister zur Bildung einer rein sozialistischen Regierung. Die Mehrheit der sozialdemokratischen und bürgerlich-demokratischen Minister waren geneigt, die außenpolitische und militärische Krise durch die Teilnahme der Kommunisten an der Regierung zu lösen. Niemand befürwortete irgendeine Art von Diktatur, auch keine Diktatur des Proletariats. Die Vorschläge der Minister waren ausschließlich auf außen- und sicherheitspolitische Erwägungen gegründet. Sie glaubten, dass die vollständige Mobilisierung der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiter in der Hauptstadt, und die Wahrung des Friedens im Inneren diesen Schritt erfordere: Ansonsten sei es nach Ansicht der sozialdemokratischen Politiker zu befürchten, dass die Kommunisten die Regierung durch einen Putsch verdrängen könnten. Jedoch waren im März 1919 die Sozialdemokraten von der Möglichkeit eines konterrevolutionären Putsches noch mehr überzeugt als von dem eines von Seiten der Kommunisten.31 Die anschließenden Verhandlungen mit inhaftierten KP-Führern mündeten in einem Kompromiss: In der Formierung einer Regierung, die fast vollständig von Sozialdemokraten besetzt war, der allerdings auch Béla Kun und ein oder zwei Mitglieder seiner Partei angehören sollten. Unter dem Druck der Kommunisten zwangen die Sozialdemokraten Graf Károlyi zum Rücktritt als Präsident. Sie akzeptierten zugleich Kuns Forderung, dass die Minister der Regierung Volkskommissare genannt werden sollten. Auf der Grundlage dieses Kompromisses übernahm am 21. März 1919 eine neue Koalitionsregierung, in der gemäßigte und linke Sozialdemokraten die Macht mit den Kommunisten teilten, die politische Führung in Ungarn.32 Mit Blick auf die außen- und sicherheitspolitische Lage des Landes war dieser Schritt ein Akt der „Verzweiflung“, von dem das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie anderentags sprach.33
2. Das Wesen des neuen Regimes Die Führer des Regimes übernahmen die politische Macht im Namen der Arbeiterklasse. Sowohl in ihren öffentlichen Reden als auch in internen Diskussionen be31 Hatos 2021, S. 60-64; Romsics 1999, S. 96ff. 32 Ebd., S. 120-121. 33 Arbeiter-Zeitung, 22.3.1919 (Morgenausgabe), S. 1.
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zeichneten sie das neue Regime entweder als „eine Diktatur des Proletariats“ oder „eine proletarische Demokratie“. Was sie mit diesen Begriffen meinten, variierte je nach Kontext, wie zum Beispiel von der Aufgabe, vor der sie jeweils standen, von der politischen Absicht der Redner und der Erwartung ihres Publikums. Auf der unmittelbarsten Ebene, auf der sich sowohl Sozialdemokraten als auch Kommunisten einigen konnten, bedeutete proletarische Diktatur, dass die beiden Arbeiterparteien die politische Macht monopolisierten, indem sie die bürgerlichen Parteien und die Vertreter der anderen sozialen Gruppen, insbesondere der Mittelklasse und der aristokratischen Elite, aus dem politischen Entscheidungsprozess ausschlossen. Der neue Staat, der nach dem 21. März 1919 entstand, hatte wenig Ähnlichkeit mit der Parteidiktatur, die sich nach dem Bürgerkrieg in Sowjetrussland etablierte. Die MKP blieb eine kleine, schlecht strukturierte und intern gespaltene Organisation von revolutionären Intellektuellen, die primär von einer messianischen Ideologie zusammengehalten wurde. Die materiellen Interessen und Erwartungen der Mitglieder spielten gegenüber dem Willen zur Macht, der bürokratischen Disziplin und dem Gehorsam und der Loyalität gegenüber dem Führer (Kun) nur eine untergeordnete Rolle.34 Die MKP trat am 21. März 1919 als Juniorpartner der Sozialdemokratischen Partei in die Regierung ein. Die Parteien schlossen sich zu einer neuen politischen Organisation namens Ungarische Sozialistische Partei zusammen, die weiterhin von den Sozialdemokraten dominiert wurde. Die Kommunistische Partei hat die Macht nicht an sich gerissen: Mit zwei Ausnahmen gingen alle Posten in der neuen Regierung an Sozialdemokraten. Einer von ihnen, Sándor Garbai, avancierte als Vorsitzender des neuen Revolutionären Regierungsrates sowohl zum Staatsoberhaupt als auch zum Ministerpräsidenten. Nicht nur die Mehrheit der Minister – jetzt Volkskommissare – waren Sozialdemokraten; die Sozialisten beherrschten auch alle führenden Staatsorgane. Die Hauptstadt wurde von einem Sozialdemokraten verwaltet; alle wichtigen Wirtschaftszweige blieben nach dem 21. März 1919 unter sozialdemokratischer Kontrolle. Die Gewerkschaften und die große Mehrheit der Räte und der Kommunalverwaltungen folgten ihren Anordnungen. Sowohl die neue Polizei als auch die Rote Garde und die Rote Armee rekrutierten viele ihrer Offiziere und die Mehrheit ihrer Mitglieder aus den Reihen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Der ehemalige antikommunistische und zentristische Sozialdemokrat Vilmos Böhm wurde Oberbefehlshaber der Roten Armee.35 Innerhalb der Regierung kontrollierten die Kommunisten nur die Propaganda und die Außenpolitik. Präsenz und Einfluss der Kommunisten nahmen ab, je tiefer man in die Hierarchie der Staatsbürokratie blickte. Auf der Ebene der Kreistage, Kommunen, Betriebe und der Ge34 Borsányi 1993, S. 84-85. 35 Als Verteidigungsminister der Berinkey-Regierung war Böhm verantwortlich gewesen für die Verhaftung von Kun und viele seiner kommunistischen Mitstreiter nach den blutigen Ausschreitungen, die sich vor der sozialdemokratischen Zeitung Népszava in Februar ereignet hatten. Vgl. Borsányi 1993, S. 113.
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werkschaftsführung stellten die Kommunisten nur eine kleine, aber lautstarke Minderheit. Während sich einige linke Sozialdemokraten wie József Pogány und Jenő Landler politisch und ideologisch den Kommunisten annäherten, existierten auch weiterhin zwei unterschiedliche Subkulturen in der neuen Partei und der Staatsverwaltung.36 Das größte politische Kapital und die größte Machtquelle der Kommunisten in der Führung der Einheitspartei und des Staates blieb Béla Kun, der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Kun erlangte nie einen diktatorischen Status: Die „Diktatur des Proletariats“ hatte keinen Diktator. Kun entbehrte sowohl Stalins Machtposition als auch Hitlers Charisma.37 Kun betonte oft, dass er hervorragende Verbindungen zu Mitgliedern der bolschewistischen Elite wie Jakow Swerdlow und vor allem Lenin habe. Über mehrere Monate hatten die Ungarn Graf Mihály Károlyi Vertrauen geschenkt, von dem man annahm, dass er Zugang zu den führenden Politikern der Entente wie Clemenceau und Lloyd George und vor allem des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson habe. Nicht nur die ungarischen Kommunisten und linken Sozialdemokraten, sondern auch die Mitglieder der liberalen und konservativen Mittelschicht und große Teile der Bevölkerung glaubten eine Zeit lang, dass Kun Lenin und die Rote Armee dazu bringen könnte, Ungarn vor den einfallenden Armeen der Nachbarstaaten zu schützen und die historischen Grenzen des Landes zu verteidigen. In beiden Fällen überschätzte die ungarische Öffentlichkeit den Einfluss ihrer Führer auf ausländische Regierungen.38 Kun wurde de facto Haupt der ungarischen Räterepublik, weil ernsthafte Konkurrenten unter den Kommunisten und Sozialdemokraten fehlten. Der Zentrist Zsigmond Kunfi war respektiert genug, um die führende Position im Staat einzunehmen; ihm fehlten jedoch sowohl der Wille als auch der Glaube an seine eigenen Fähigkeiten, um die Macht zu übernehmen. Der linke Sozialdemokrat József Pogány hatte Selbstbewusstsein und Intellekt genug, jedoch erregte sein zutiefst problematischer Charakter – er war eitel, korrupt und arrogant – sogar unter seinen eigenen Genossen tiefe Abneigung.39 Die rechtsradikalen und antisemitischen Boulevardblätter stellten Kun als dämonische Figur dar: einen skrupellosen, amoralischen, vergnügungssüchtigen und korrupten Mann; ein Karrierist ohne Skrupel; ein Mann ohne Tradition und Vaterland; ein Zerstörer von Recht und Ordnung und ein geschworener Feind der geschätzten Werte der bürgerlichen Gesellschaft, wie die Liebe zu Familie und Nation und die Achtung des Privateigentums. Kun scheint in dieser Literatur alle phänotypischen, moralischen und intellektuellen Merkmale verkörpert zu haben, die mit dem 36 37 38 39
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Mommen 2010, S. 107-108. Vgl. Fitzpatrick 2017; Kershaw 1987. Pastor 1988, S. 309-312. Sakmyster 2012, S. 217-220.
mystischen Juden in Verbindung gebracht werden.40 Seine Biographen haben ein ausgewogeneres Bild von ihm gezeichnet. Sie haben ihn als mäßig talentierten Politiker mit sowohl positiven als auch negativen Eigenschaften beschrieben. Kun, so argumentieren sie, besaß sowohl eine schnelle Auffassungsgabe als auch eine unersättliche Neugier; er war mehrsprachig (neben Ungarisch sprach er fließend Deutsch und Russisch) und „gehörte zu den am besten informierten Politikern Ungarns“.41 Anders als der Philosoph György Lukács interessierte er sich nicht sonderlich viel für politische Theorie. Immerhin war er mit den wichtigsten marxistischen Texten vertraut und konnte daraus Anregungen und praktische Ratschläge schöpfen. Kun bewies seinen Mut als ungarischer Soldat und Offizier im Krieg und 1918 als Agitator und Armeeoffizier an der Seite der Bolschewiki im revolutionären Russland. Sein Verhalten unter Folter im Gefängnis im Februar 1919 brachte ihm die Sympathie und den Respekt der Arbeiter ein, die seine Partei und das, wofür sie stand, ansonsten ablehnten. Kun war ein charismatischer Redner, guter Organisator und unermüdlicher Netzwerker. Er war auch ideologisch flexibel und arbeitete gut mit Menschen zusammen, die seine politischen Überzeugungen nicht teilten. Bei Kun handelte es sich um einen machiavellistischen Politiker, der potenzielle Mitarbeiter und Kollaborateure nach ihrer Nützlichkeit beurteilte; Anfang 1919 war er sogar bereit, antisemitische Propaganda zu unterstützen, um seine sozialdemokratischen Gegner zu diskreditieren.42 Kun fehlte Lenins politisches Talent, insbesondere das Gespür des bolschewistischen Führers für das richtige Timing einer politischen Handlung; oft hat er die gegebene Situation und seine Gegner falsch eingeschätzt.43 Kun war bereit, sein Leben für die Idee einer Weltrevolution und proletarischen Diktatur zu opfern; er war auch bereit, Andere zu opfern, um seine Ziele zu erreichen. Im Gegensatz zu Lenin und Stalin und den Führern des linken Flügels der kommunistischen Partei wie Tibor Szamuely, Ottó Korvin und Mátyás Rákosi lehnte Kun im Allgemeinen die Anwendung extremer Gewalt ab; unter dem Druck der Umstände und aus Furcht vor einem konterrevolutionären Putsch akzeptierte er jedoch bis Anfang Juli den Einsatz von Terror als politisches Instrument. Als die Lage der Räterepublik Ende Juli 1919 ausweglos erschien, klammerte er sich nicht
40 41 42 43
Csunderlik 2019, S. 157-164. Borsányi 1993, S. 99. Sounders 2018, S. 83-101. Zu seinen Fehlern gehörte die Unterstützung eines verfrühten kommunistischen Aufstands in Deutschösterreich Mitte Juni 1919, der die Kommunisten diskreditierte und zum Tod mehrerer Arbeiter führte; seine Umsetzung der Forderungen der Clemenceau-Note, die ebenfalls im Juni 1919 zum Kollaps der Moral in der ungarischen Roten Armee führte; sein Drängen im März 1921 als Komintern-Funktionär auf einen bewaffneten Aufstand in Deutschland („Märzaktion“), der eine der größten kommunistischen Parteien der Welt nachhaltig schwächte; und sein Versagen, sich von Bucharin rechtzeitig zu distanzieren und dadurch Stalins Verdacht zuvorzukommen – ein letzter Fehler, der ihm 1938 das Leben kostete.
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an die Macht: Er gestand seine Niederlage ein und trat von seinem Amt als de facto Führer der Räterepublik zurück.44 In institutioneller Hinsicht präferierten MSZDP und MKP das Rätesystem, schließlich hatten sie im März 1919 die Macht im Namen der Arbeiterklasse übernommen: Im Wortschatz ihrer Führer war das Wort „Diktatur des Proletariats“ ein Synonym für den Begriff „Arbeiterdemokratie“. Die Kommunisten lehnten die parlamentarische Demokratie ab: Für sie war diese nur ein Deckmantel für die „Diktatur der Bourgeoisie“. Echte Demokratie, davon waren sie überzeugt, würde es nur in einer egalitären Gesellschaft und einem sozialistischen Staat geben. Bei freien Wahlen hätten die Kommunisten ohnehin nur fünf bis zehn Prozent der Stimmen erreichen können.45 Die vereinte Sozialistische Partei betrachtete die Räte unter diesen Prämissen als die wichtigsten Organe des neuen Staates. Die neue Regierung organisierte im April 1919 eine nationale Räte-Wahl auf Dorf-, Gemeinde-, Bezirksund Landkreisebene, die einen durchaus demokratischen Charakter hatte: Das neue System war von unten (von den lokalen Räten) nach oben aufgebaut durch die Entsendung von delegierten Mitgliedern auf Kreis- und Bezirksebene. Diese Gremien entsendeten wiederum Delegierte für die neue gesetzgebende Körperschaft, dem Konstituierenden Nationalkongress der Räte. Diese Organisation hatte den Auftrag, eine neue Verfassung auszuarbeiten und Mitglieder der Regierung, den Revolutionären Regierungsrat, zu wählen. Gemäß dem von der Regierung erlassenen neuen Wahlgesetz erhielten alle Männer und Frauen ab dem 18. Lebensjahr das Wahlrecht. Das Gesetz war diskriminierend, weil es Priester und „Ausbeuter“ von den Wahlen ausschloss. Zu den „Ausbeutern“ gehörten nicht nur die Reichen und Mächtigen wie Großgrundbesitzer, Industriebaronen und Bankiers, sondern auch Handwerker und Ladenbesitzer, die nur wenige Gehilfen beschäftigten. Dennoch stellte das Gesetz einen revolutionären Durchbruch im Demokratisierungsprozess dar. Das Gesetz erweiterte das Wahlrecht von 10 auf 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung: von 700.000 auf 4,5 Millionen Menschen. In Budapest und den größeren Industriezentren war die Wahlbeteiligung hoch, in den ländlichen Kreisen deutlich geringer. Dies war sowohl dem Widerstand der lokalen Eliten als auch der Apathie der Bauern und ihrem Misstrauen gegenüber dem Staat geschuldet. In einigen ländlichen Bezirken wählten die Bauern weiterhin lokale Prominenz und wohlhabende Bauern ins Amt. In wenigen Provinzstädten führte die Wahl zur Wiedereinsetzung von denselben Bürgermeistern, Staatsanwälten, Polizeichefs und anderen Beamten, die bereits vor der Revolution amtiert hatten. Auf lokaler Ebene kam die überwältigende Mehrheit der neuen Amtsträger dennoch aus den Reihen der Arbeiter, Handwerker, Soldaten, armen Bauern sowie aus den Reihen der am meisten ausgebeuteten Schicht der ländlichen Intelligenz, nämlich den Grundschullehrern. Der Mittelstand war unter 44 Borsányi 1993, S. 139-141; 180-185; 191-192; 254-256. 45 Ebd., S. 124-123.
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den Delegierten der mittleren und oberen Staatsorgane, der Bezirksräte und des Konstituierenden Nationalen Kongresses der Sowjets überrepräsentiert. In diesen Gremien gab es im Sommer 1919 nur eine Handvoll bäuerlicher Mitglieder. Die städtischen und ländlichen Armen haben die politische Macht im Staat während des linksradikalen Intermezzos nicht erobern können; das Proletariat herrschte, wenn überhaupt, nur durch die Vermittlung von Vertretern der bürgerlichen Schichten.46 Im neuen System der Diktatur des Proletariats kam jetzt aber auch den Gewerkschaften eine neue Rolle zu – und zwar mit Blick auf eine institutionelle Aufwertung und Ausweitung ihrer Aufgabenbereiche. Dabei blieben Vorstellungen von Anarcho-Syndikalisten wie Ervin Szabó unberücksichtigt, die Gewerkschaften als Erziehungsinstrumente und wichtigste Organe der zukünftigen Diktatur des Proletariats zu betrachten. Doch änderte sich jetzt deren Bedeutung schlagartig: War schon im Krieg den Gewerkschaften Zugeständnisse insofern gemacht worden, als das sie über ihre „klassischen“ Aufgaben (wie die Erkämpfung höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen) hinaus in wirtschaftliche Entscheidungsprozesse einbezogen worden waren, traten nun sogar gemäßigte Sozialisten wie der Gewerkschafter Vilmos Böhm für die Verstaatlichung großer Teile der Wirtschaft und eine Ausweitung der gewerkschaftlichen Arbeiterkontrolle über die Fabriken ein. Böhm ging davon aus, dass die Arbeiterklasse bald die volle Kontrolle über den Staat übernehmen würde. Er und andere sozialistische Führer näherten sich mit ihrer Position, wenigstens die Schlüsselindustrien zu verstaatlichen, dem Gedanken der gewerkschaftlichen Arbeiterkontrolle über Staat und Wirtschaft und der Arbeiterselbstverwaltung der Betriebe dem radikaleren kommunistischen Programm an. Solche inhaltlichen Überschneidungen hatten ja überhaupt erst zum Bündnis zwischen den beiden Parteien geführt. In einem Anfang April 1919 veröffentlichten Artikel bezeichnete Béla Kun die Diktatur des Proletariats als Selbstverwaltung der werktätigen Massen. Die Involvierung der Gewerkschaften in die Staatsgeschäfte sah er als Gegengift und Schutz vor Bürokratisierung und der Macht bürgerlicher Spezialisten. Der kommunistische Führer befürchtete, dass die Bürokraten und Fachleute der Mittelklasse zu Konterrevolutionären werden würden, sobald sie die Kontrolle über Staat und Produktion übernommen hätten. Die Arbeiter müssten dann eine zweite Revolution initiieren, um sie von der Macht zu entfernen. Kun war mit seinem Misstrauen gegenüber bürgerlichen Spezialisten nicht allein: Der Ökonom und zentristische Sozialdemokrat Jenő Varga teilte viele seiner Überzeugungen. Auf Drängen von Kun und Varga richtete die neue Regierung am 20. Mai 1919 den Nationalen Wirtschaftsrat als Hauptorgan des Staates und als eine Art zentrales Wirtschaftsverzeichnis ein, um sich mit Fragen
46 Romsics 1999, S. 100; Hatos 2021, S. 145-157.
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der Wirtschaftspolitik zu befassen. Die neue Organisation verfügte über weitreichende Macht. Der Wirtschaftsrat wurde beauftragt, alle Aktivitäten im Zusammenhang mit der Produktion und dem Vertrieb von Waren und Dienstleistungen zu leiten und zu koordinieren einschließlich deren Finanzierung und technische Überwachung. Die Gewerkschaften spielten im Nationalen Wirtschaftsrat eine wichtige Rolle: Ihr Rat wurde erbeten und befolgt in so wichtigen Fragen wie: Festlegung der Höhe von Löhnen und Gehältern, Festlegung von Produktionsnormen, Kontrolle der Arbeitsleistung, Verwaltung des Arbeitslosenversicherungssystems und Durchsetzung der Arbeitsdisziplin. Gewerkschaftsfunktionäre wurden während der Sowjetrepublik gleichberechtigte Partner der Betriebsleiter bei der Leitung ihrer Werke. Ihre wichtigste Aufgabe war jedoch die Durchsetzung der Arbeitsdisziplin. Am 2. Juli 1919 ordnete ein Erlass des Nationalen Wirtschaftsrates die Kürzung des Arbeitslosengeldes für jeden arbeitsfähigen Arbeiter an. Infolge dieses Gesetzes wurden viele Arbeitslose gezwungen, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden, um staatliche Unterstützung zu erhalten. Die Regierung beauftragte die Gewerkschaften mit der militärischen Mobilisierung und Rekrutierung von Arbeitern für die Rote Armee. Die Gewerkschaften erwiesen sich als verlässliche Partner: Innerhalb weniger Wochen meldeten sich im April und Mai 1919 mehr als 40.000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter freiwillig zum Militärdienst.47
3. Emanzipation oder neue Sklaverei? Die Mitglieder der neuen politischen Elite, die sich mit theoretischen Fragen beschäftigten, wie z.B. György Lukács, der neue stellvertretende Volkskommissar für Bildung, sahen die revolutionäre Zerstörung des Kapitalismus, die Ersetzung der parlamentarischen Demokratie durch eine (Räte-)Diktatur des Proletariats sowie die Verstaatlichung der Produktionsmittel als eine moralische Frage an. Da aber das Proletariat noch kein angemessenes Klassenbewusstsein erreicht hatte, brauche es eine Avantgarde in Form einer politischen Partei, die von professionellen Revolutionären geführt wurde, um die Arbeiter zu erziehen, die gegebene wirtschaftliche und politische Lage zu analysieren und den Arbeitern zu erklären, revolutionäre Aktionspläne zu formulieren und allgemein den Befreiungskampf von der kapitalistischen Unterdrückung zu organisieren. Lukács betrachtete die Existenz der kommunistischen Partei und der revolutionären Staatsorgane als ein vorübergehendes Zugeständnis und ein notwendiges Übel. Sobald die Arbeiter das angemessene Klassenbewusstsein erlangen würden, d.h. ihre objektiven Interessen erkennen und die
47 Kende 2010, S. 236-242; Mommen 2010, S. 102-104.
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führende Rolle übernehmen würden, die ihnen die Geschichte zugewiesen hat, könnten die Proletarier auf die Hilfe von Berufsrevolutionären und bürgerlichen Experten verzichten. Partei und Staat würden dann obsolet werden. Das klassenbewusste Proletariat würde direkt durch die Gewerkschaften und die Arbeiterräte regieren.48 Ja, er war davon überzeugt, dass das nötige Klassenbewusstsein genügen würde, um Wunder zu vollbringen.49 Für Radikale wie Lukács war die vollständige Zerstörung des Kapitalismus mithin ein moralischer Imperativ. In der konkreten Situation der Räterepublik teilte eine Mehrheit der Sozialdemokraten die Verstaatlichungsbesessenheit der Kommunisten, auch wenn Teile von ihnen gemäßigter auftraten. Die Wirtschaftspolitik des neuen Regimes spiegelte einen Konsens zwischen den beiden Gruppen über die Notwendigkeit der Kollektivierung wider. Der von der neuen Regierung erlassene Befehl (Dekret Nr. IX vom 26. März 1919) zur Verstaatlichung von Industriebetrieben, Banken, Bergwerken, Transportunternehmen und Großgrundbesitz war weitreichender als ähnliche Maßnahmen, die während des Kriegskommunismus im bolschewistischen Russland ergriffen wurden.50 Im Gegensatz zu einigen Sozialdemokraten (wie Jenő Varga, Zoltán Rónai und Vilmos Böhm), die argumentierten, dass man zur Stabilisierung der Diktatur des Proletariats zunächst die industrielle Produktion steigern müsse, die zudem die Verstaatlichung kleiner Unternehmen für kontraproduktiv betrachteten und im Falle von Verstaatlichungen ausländischen Besitzes mögliche Vergeltungsmaßnahmen westlicher Mächte befürchteten, wollten Radikale wie Lukács einen klaren Bruch mit der Vergangenheit vollziehen. Selbst Kun, der in vielen Fragen eine weniger dogmatische Position einnahm als seine Genossen, weigerte sich, eine so wichtige Frage außenpolitischen Erwägungen unterzuordnen.51 Paradoxerweise begrüßten viele Handwerker und Besitzer kleiner Läden die staatliche Aufsicht und Schirmherrschaft. Trotz der Verstaatlichung behielten die Handwerker, nun in der neuen Rolle als vom Staat ernannte Manager, die Kontrolle über ihre Geschäfte. Viele betrachteten die Verstaatlichung als eine vorübergehende Maßnahme; sie freuten sich über staatliche Kredite und dringend benötigte Vorräte wie Kohle.52 Während die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft im Frühjahr und Sommer 1919 weiter zunahm, konnte der Staatskapitalismus in dem kleinen ostmitteleuropäischen Land keine Wurzeln schlagen. Das lag nicht nur an der kurzen Lebensdauer des linksradikalen Regimes. Wie wir in Bezug auf die Macht der Gewerkschaften gesehen haben, argumentierten selbst Kommunisten wie Kun 48 Lukács, 1971; Zit. nach Miklós 2010, S. 260-263. 49 Lukács 1971, S. 229; Zit. nach Miklós 2010, S. 270-275. 50 In Russland wurden nur große Unternehmen verstaatlicht; in Ungarn Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten. Infolgedessen wurden mehr als 1600 Unternehmen verstaatlicht. Vgl. Péteri 1984, S. 69; Hatos 2021, S. 196. 51 Péteri 1984, S. 60. 52 Ebd., S. 64.
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und Lukács, ganz zu schweigen von Sozialdemokraten wie Varga, weiterhin gegen die Bürokratisierung. Infolgedessen schuf die ungarische Räterepublik keine aufgeblähte Staatsbürokratie, die nach 1921 zum Markenzeichen des bolschewistischen Experiments in Russland wurde, um die Fünfjahrespläne zu entwickeln und den täglichen wirtschaftlichen Betrieb zu führen.53 In Bezug auf die Landfrage vertraten die Kommunisten keine originäre Position, sondern stützten sich auf Pläne von zentristischen Sozialdemokraten. Vor 1914 glaubten die ungarischen Sozialdemokraten mit Ausnahme einer kleinen Minderheit, dass die Umverteilung der Latifundien unter den landlosen Bauern den Sieg des Sozialismus nur hinauszögern würde. Anstatt die Zahl der kleinen und autarken Bauernhöfe zu vermehren, befürworteten die Sozialdemokraten die Schaffung weitflächiger, vom Staat verwalteter und durch den Maschineneinsatz profitablerer landwirtschaftlicher Unternehmen.54 Da sich Sozialdemokraten wie Kunfi und Varga während des demokratischen Zwischenspiels weigerten, den Großgrundbesitz unter den ländlichen Arbeitern und armen Bauern zu verteilen, war nach Verhandlungen mit der Bürgerlich-Radikalen Partei das Bodenreformgesetz vom 15. Februar 1919 als Kompromiss hervorgegangen. Das Gesetz sah vor, dass private Ländereien die Schwelle von 500 Katastraljoch (287,7 Hektar) nicht zu überschreiten hatten. Im Fall von kirchlichem Landbesitz lag die Schwelle bei 200 Katastraljoch (115 Hektar). Alles, was oberhalb dieser Obergrenze lag, sollte expropriiert werden. Landlose Landarbeiter sollten bei der Verteilung von Ländereien bevorzugt werden. Die Empfänger würden das Land entweder für längere Zeit von ihren Eigentümern pachten oder als Privateigentum erwerben. Im letzteren Fall musste der neue Eigentümer jedoch den bürgerlichen, adeligen oder kirchlichen Grundbesitzern eine Entschädigung zahlen.55 Während der Räterepublik machte man den bäuerlichen Eigentümern und landlosen Bauern nur halbherzige Zugeständnisse. Das Dekret vom 3. April 1919 bedeutete in der Frage der Umverteilung des Landbesitzes einen Schritt zurück. Das Dekret sah vor, dass nur diejenigen, die in der landwirtschaftlichen Produktion tätig waren, das Recht hatten, das Land zu kaufen oder es zu behalten. Eine feste Obergrenze für den Landbesitz wurde nicht festgelegt. Die Regierung forderte zwar nicht die Rückgabe von Land, das 1918 und Anfang 1919 von den Bauern besetzt worden war. Sie verbot jedoch jede neue Besetzung von Latifundien. Anstatt diese unter den landlosen Bauern zu verteilen, wandelte die Räterepublik sie in Produktionsgenossenschaften um. Vielerorts wurden die alten Eigentümer und Verwalter mit der Administrati-
53 Varga 1921, S. 65. Zit. nach Mommen 2010, S. 97. 54 Sipos, 2009; Tökes 1967, S. 5. 55 Mommen 2010, S. 79-81; vgl. auch Romsics 1999, S. 94f.
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on der kollektivierten Ländereien betraut. Auch wenn sich auf dem Papier alles geändert hatte, lebten die alten Machtverhältnisse auf dem Land unverändert fort.56 Die Sozial- und Wirtschaftspolitik des neuen Regimes war eng verflochten. Den Kommunisten ging es zwar vorrangig nicht darum, die soziale Frage durch fortschrittliche Sozialreformen zu lösen, wie dies vor allem die Sozialdemokraten wollten. Sie zielten auf die völlige Zerstörung des Kapitalismus. Dennoch ist die Liste der von ihnen mitinitiierten fortschrittlichen Sozialreformen lang und beeindruckend, selbst für westeuropäische Maßstäbe. In der Räterepublik war die Arbeit sowohl ein Recht als auch eine Pflicht. Das Regime führte – als eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung – den Achtstundentag ein, beendete die Kinderarbeit, setzte gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen durch, führte einen sechswöchigen Mutterschaftsurlaub ein, erhöhte die Löhne zwischen 10 und 80 Prozent und überbrückte weitgehend die quantitativen Unterschiede von Löhnen und Gehältern (das Gehalt eines Volkskommissars war nur dreimal so hoch wie das einer Krankenschwester; ein Betriebsleiter wurde nicht wesentlich höher bezahlt als ein Facharbeiter). Der Staat verringerte die Mieten um 20 Prozent, enteignete weiträumige Wohnungen und verlegte Arbeiterfamilien in die Extrazimmer ihrer ehemaligen Besitzer aus der oberen Mittelschicht und der Aristokratie. Erhöht wurden die staatlichen Hilfen im Fall von Arbeitslosigkeit sowie die Pensionen für Witwen, Waisen und invalide Kriegsveteranen. Das Regime beendete die rechtliche Diskriminierung von unehelichen Kindern und ermöglichte es den Kindern aus der Arbeiterklasse, in den Urlaub zu fahren.57 Die neue politische Elite betrachtete Kultur und Bildung als befreiende Kraft und Grundlage einer besseren Welt. „Die Politik ist bloß Mittel, die Kultur ist das Ziel“, teilte der stellvertretende Volkskommissar für Bildung György Lukács, seinen Genossen mit.58 Die Führungskader der Räterepublik stammten aus der städtischen Intelligenz. Journalisten und Schriftsteller waren besonders häufig in der neuen Elite vertreten. Da sie mehrheitlich vor dem Krieg ein prekäres Dasein gefristet hatten, könnte die „Diktatur des Proletariats“ auch als „Diktatur der proletarisierten Intelligenz“ bezeichnet werden. Aufgrund ihres jüdischen religiösen Hintergrunds oder ihrer anarchistischen und sozialistischen Ideen wurden viele dieser besitzlosen, halbbeschäftigten Akademiker, Journalisten und Künstler diskriminiert und fühlten sich von der Gesellschaft nicht anerkannt. Bolschewismus und Räterepublik boten diesen marginalisierten Intellektuellen die Chance, ihren Status von passiven Beobachtern zu aktiven Teilnehmern und Gestaltern des politischen Geschehens zu verändern.59 56 57 58 59
Romsics 1999, S. 100. Gräfe 2018, S. 40-41; Hatos 2021, S. 120-122 sowie 182-189. Lukács 1975, S. 94. Zit. nach Dikovich 2018, S. 103, Anm. 272. Für diese Intellektuelle lässt sich sicherlich das von Peter Gay zur Analyse der Genese der politischen Kultur von Weimar entworfene Konzept des "outsider as insider" anwenden. Gay hat damit auf ein soziologisches Faktum bei den Intellektuellen und Künstlern, die an der Ausge-
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Kein Regime in Ungarn hat auch nur annährend so viel intellektuelle Unterstützung genossen wie die Räterepublik. Das neue Regime konnte nicht nur auf das Talent und die Hingabe einiger unter den besten Filmdirektoren, Schriftstellern, Romanautoren, Dichtern, Komponisten, Sozialwissenschaftlern und Pädagogen zurückgreifen, sondern auch auf die der führenden Naturwissenschaftler, Ingenieure und Stadtplaner seiner Zeit. Das neue Regime benötigte die Intellektuellen, um seine Botschaften in die Massen zu tragen. Gleichzeitig benutzten Ingenieure, Architekten, Akademiker, Schriftsteller und Künstler, von denen viele die Ideologie von Lukács oder Kun nicht teilten oder nicht einmal mit marxistischen Texten vertraut waren, die Räterepublik, um ihre Pläne und persönlichen Ambitionen zu verwirklichen. Die Kulturpolitik des neuen Regimes spiegelte die politische und ideologische Vielfalt seiner intellektuellen Unterstützer wider. Es verwirklichte die Träume antiklerikaler Liberaler, indem es der Religion und den Kirchen den Krieg erklärte und 80 Prozent der Grundschulen und 65 Prozent der Gymnasien verstaatlichte, die zuvor in kirchlicher Hand waren. Der Kampf gegen den Analphabetismus und die Erhöhung der Schulpflicht von sechs auf acht Jahre fand fast überall Unterstützung von linker Seite. Die Räterepublik demokratisierte das Gymnasium und öffnete die Tore der Universitäten für Kinder aus den unterprivilegierten Schichten, indem sie die Studiengebühren und das Abitur (érettségi) als Voraussetzung für den Hochschulzugang abschaffte. Und sie regte zu pädagogischen Reformen an und führte zum Leidwesen der konservativen Lehrer und Eltern die frühe sexuelle Aufklärung in den Schulen ein. Die neue politische Elite wies der Erwachsenenbildung durch die Gründung von Arbeiteruniversitäten eine besondere Rolle zu. Die Demokratisierung von Kultur und Unterhaltung wurde auf Theater, Kinos, Konzertsäle, Museen, Parks, Kurorten, Schwimmbäder und andere Sporteinrichtungen erweitert, wo entweder die Eintrittsgelder abgeschafft oder aber Tickets subventioniert und zu niedrigen Preisen angeboten wurden. Diese Art der Demokratisierung der Kultur hatte freilich ihren Preis: In den ersten Monaten der Räterepublik beschlagnahmte das Regime mehr als 60 Kunstsammlungen von Privatpersonen und Kirchen. Die Regierung schloss konservative Kulturinstitutionen wie die Ungarische Akademie der Wissenschaften, verbot einige oppositionelle Zeitungen und führte die Zensur über den anderen Teil der Zeitungen ein. Im Vergleich zu den kommunistischen Regierungen nach 1947 hielt sich die Zensur staltung dieser Kultur maßgeblich beteiligten gewesen waren, hinweisen wollen. Im wilhelminischen Kaiserreich waren sie "outsiders" gewesen. Sie waren also von den Zentren der politischen und kulturellen Macht ferngehalten worden. Nach dem Ersten Weltkrieg entfielen aber die sozialen Barrieren in Deutschland, die sie an der freien Teilnahme am kulturellen und intellektuellen Leben gehindert hatten. In der neuen politischen und sozialen Landschaft konnten sie ihre Tätigkeiten nunmehr mit beträchtlichem Erfolg nachgehen. Vgl. Gay 1969, S. 11-93. Hugo Preuss, der Vater der Weimarer Verfassung, wird von Gay als Beispiel angeführt. Vgl. ebd., S. 24. Etwas strukturell Ähnliches geschah mit der Ausrufung der Ungarischen Räterepublik.
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jedoch in Grenzen. Die Räterepublik erstickte die kulturelle Produktion nicht. Im Gegenteil, viele Zweige der Hochkultur von der Filmproduktion über die Belletristik bis hin zur bildenden Kunst erlebten während der proletarischen Diktatur dank staatlicher Förderung eine Renaissance. Die Räterepublik hat weder einen offiziellen Stil für Kunst und Literatur entwickelt noch aufgezwungen. Lukács, der in allen Fragen der Kultur das letzte Wort hatte, bewunderte einige bürgerliche Autoren wie den französischen Romancier Balzac; sein Ziel war es, die Massen mit den höchsten und fortschrittlichsten kulturellen Erzeugnissen bekannt zu machen. Der von dem Dichter Lajos Kassák befürwortete Versuch, mit der bürgerlichen Kulturtradition zu brechen und sich an einen russisch-bolschewistischen Proletkult anzulehnen, wurde unterdrückt. Die Arbeiter zeigten aber wenig Interesse für die kulturellen Reformen. Die Partei- und Regierungsbeamten beklagten sich ständig über das mangelnde Interesse der Arbeiter an Theateraufführungen, klassischer Musik und mittelalterlicher Kunst. Als ihnen die Wahl gelassen wurde, zogen die Arbeiter in der Regel leichte Unterhaltung wie Operetten den seriöseren Aufführungen vor und spielten lieber mit Karten und Dominosteine, anstatt öffentliche Vorträge über kulturelle Themen zu besuchen. Die Kulturpolitik des Regimes scheint während der kurzlebigen Räterepublik nur einen geringen Einfluss auf das mentale Universum, die kulturellen Präferenzen und das Wertesystem der Arbeiterschaft ausgeübt zu haben.60 Auf dem Gebiet der Sozialpolitik legte die Räterepublik ähnlich gemischte Bilanzen vor. Die Diktatur des Proletariats erfüllte ihr wichtigstes Versprechen nicht: Sie setzte der Lohnarbeit, nach marxistischer Lesart das Hauptmerkmal des Kapitalismus und die Hauptquelle der Ausbeutung, kein Ende. Die Gewerkschaften gaben zwar den Arbeitern ein Mitspracherecht in der Unternehmensführung. Doch die Einführung von Produktionskommissaren (termelő biztosok) zur Überwachung der Produktion relativierte ihre neugewonnene Macht weitgehend. Die neue Regierung ernannte vielerorts die alten Eigentümer zu Produktionskommissaren in den Betrieben, was zu Unmut in der Arbeiterschaft führte. Zwar stiegen nach dem 21. März 1919 die Löhne drastisch an; dennoch verringerte gleichzeitig die galoppierende Inflation die Kaufkraft der Löhne und Gehälter. Der akute Mangel an Konsumgütern relativierte zudem die Bedeutung jeglicher Lohnerhöhung. Die Arbeiter reagierten auf Überwachung und staatliche Kontrolle ihrer Aktivitäten und auf den Rückgang ihres Lebensstandards mit Bummelei am Arbeitsplatz, Produktionssabotage und Pflichtvernachlässigungen. In den letzten zwei Monaten des Regimes häuften sich die Streiks. Das Regime beantwortete den Ungehorsam am Arbeitsplatz mit der Inhaftierung von Arbeitern und der Einberufung von Unruhestiftern in die Rote Armee.61 Die ländliche Bevölkerung verlor noch früher als die städtische Arbeiterschaft ihr Vertrauen in die Regierung. Die Entscheidung, die großen Ländereien genossen60 Dikovich 2018, S. 103-116; Botar 1997, S. 100; Hatos 2021, S. 247-258. 61 Hatos 2021, S. 196-200.
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schaftlich zu verwalten, entfremdete die landlosen Bauern dauerhaft von der Regierung. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht im Mai verärgerte die kriegsmüde Bauernschaft. Die Zwangsrequirierungen landwirtschaftlicher Produkte, der Angriff des Regimes auf kirchliche und lokale Eliten und nicht zuletzt das Konsum- und Verkaufsverbot von Alkohol haben die Bauern nicht nur gedemütigt und verärgert, sondern auch ihre unmittelbarsten Interessen verletzt. Im Juli 1919 war das ganze Land in Aufruhr. Verängstigt wandte sich die politische Elite gewalttätigen Methoden zu, um die Bauern einzuschüchtern und Bauernaufstände niederzuschlagen. Der von kommunistischen „Roten Garden“ wie den „Lenin-Jungs“ verantwortete „Rote Terror“ richtete sich nicht nur gegen die ehemalige politische Elite und die obere Mittelschicht, sondern auch gegen die untere Mittelschicht; er forderte das Leben von 300 bis 600 Menschen und führte zur Misshandlung von tausenden Weiteren.62 Bis Ende Juli 1919 hatte die Diktatur des Proletariats die Unterstützung fast sämtlicher gesellschaftlichen Gruppen verloren. Das kommunistische Experiment in Ungarn wurde nicht nur von der Offensive der rumänischen Armee zerstört, die Anfang August Budapest besetzte. Es brach auch unter dem Gewicht seiner eigenen Widersprüche zusammen, die das Ergebnis der fehlgeleiteten Politik seiner Führer waren.63
4. Fazit Vor 1914 bestand in den Gewerkschaften und in der Sozialdemokratischen Partei Ungarns kaum Interesse am Begriff der Diktatur des Proletariats. Die wenigen Ausnahmen waren der mit syndikalistischem Gedankengut vertraute Ervin Szabó und junge Radikale, Studenten und Intellektuelle des Galileo-Kreises. Das Interesse am Begriff nahm aber in der Endphase des Krieges und während der demokratischen Revolution im Herbst und Winter 1918 zu. Konzeptionelle Überlegungen gab es erst dann, als über Chancen und Nutzen einer sozialistischen Herrschaft ohne Unterstützung der bürgerlichen Parteien nachgedacht wurde. Ab Februar 1919 verbanden die Sozialdemokraten mit dem Diktatur-Begriff die Möglichkeit, die politische Macht mit den Kommunisten zu teilen. Die meisten Sozialdemokraten lehnten aber die Diktatur im traditionellen Sinne des Wortes und den Einsatz von Terror als politisches Instrument weiterhin ab. Die Kommunisten nutzten ihrerseits den Begriff, um einen exklusiven Machtanspruch zu erheben und zu verteidigen. Das neue Regime, das im März 1919 und in einem Moment der außen- und sicherheitspolitischen Verzweiflung an die Macht kam, wurde aber weder von der Kommunistischen Partei im Alleingang dominiert, noch Béla Kun zu seinem allmächtigen Diktator. 62 Vgl. Bödők 2018; Bodó 2019. 63 Hatos 2021, S. 124-127; S. 184-189.
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Diktatur des Proletariats hieß jetzt Herrschaft einer sozialistischen Einheitspartei und ihrer Regierungsvertreter sowie der neu gewählten Räte; sie führten weitreichende Sozialreformen ein und ermächtigten lokale Kommunen und Gewerkschaften, Entscheidungen zu treffen und Recht und Ordnung im Inneren aufrechtzuerhalten. Viele dieser Maßnahmen entfremdeten jedoch die Bevölkerungsmehrheit, die die revolutionären Vorstellungen und den messianischen Eifer der neuen politischen Elite nicht teilte. Um mit dem zunehmenden Widerstand fertig zu werden, griff das Regime zur Gewaltanwendung. Bis Juli 1919 wurde der Begriff Diktatur des Proletariats zum Schlagwort, um Willkür und Terror zu rechtfertigen. Dieser blinde, gewaltbereite Fanatismus führte dann im August 1919 zum Scheitern dieses Experiments der radikalen Linken.
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Bernward Anton Bayern und die „Diktatur des Proletariats“ in der Revolution 1918/19. Anmerkungen zu Begriffsgeschichte und Umsetzung eines diffusen Konzepts
1. Einleitung Der Verlauf der revolutionären Ereignisse von 1918/19 in Bayern, dabei insbesondere der in der Landeshauptstadt München, bietet seit jeher Anlass für unterschiedlichste Bewertungen und Interpretationen, die nicht nur die wissenschaftliche Aufarbeitung, sondern auch den Bereich der (Geschichts-)Politik betreffen.1 Trotz gesunkener ideologischer Aufladung der Diskussion sowie gewachsener zeitlicher Entfernung bietet das Thema nach wie vor genügend Stoff für kontroverse Debatten; ebenfalls lohnend ist die weitere Befragung der bekannten Quellen. Im Folgenden soll dabei der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ im Mittelpunkt stehen. Ein Begriff, der im November 1918 aus dem „Nichts“ aufzutauchen scheint, sich rasch etablierte und doch stets diffus blieb, da er mit ganz unterschiedlichen Erwartungen aufgeladen wurde. Zunächst soll ein Blick auf den mit dem Ende der revolutionären Phase erreichten „begriffsgeschichtlichen Stand“ geworfen werden, indem einige bekannte Protagonisten zu Wort kommen. Eugen Leviné, der geistige Anführer der Münchner Kommunisten in den letzten Wochen der zweiten Revolution vom Frühjahr 1919, beendete sein Abschlussplädoyer vor Gericht mit den Worten: „Die Ereignisse sind nicht aufzuhalten. Die Staatsanwaltschaft glaubt, die Führer hätten die Massen aufgepeitscht. Wie die Führer die Fehler der Massen nicht hintertreiben konnten unter der Scheinräterepublik, so wird auch das Verschwinden des einen oder anderen Führers unter keinen Umständen die Bewegung hindern. Und über kurz oder lang werden in diesem Raum andere Richter tagen, und dann wird der wegen Hochverrat bestraft werden, der sich gegen die Diktatur des Proletariats vergangen hat…“2 Levinés Verurteilung und Hinrichtung lösten in der bürgerlichen Presse Bayerns einmütige Genugtuung und Zustimmung aus. Einer der profiliertesten Journalisten 1 Die Bayerische Staatsregierung brachte es immerhin zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution fertig, Kurt Eisner, dem Schöpfer des Freistaates Bayern, „offiziell“ die überfällige Anerkennung zukommen zu lassen. 2 Beyer 1988, Zitat: S. 187.
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der Zeit war Fritz Gerlich, dem noch eine erstaunliche politische Entwicklung bevorstand. Im Rückblick auf die „Umsturzzeit“ in München hielt Gerlich es beim Rätesystem für notwendig, zu unterscheiden „zwischen dem asiatischen, das von den Kommunisten und einem Teil der Unabhängigen gefordert wird, und dem auf europäischer Kultur aufgebauten, über das sich reden lässt. Beide haben nichts miteinander gemein als den Namen. Die Asiaten – (schaut sie euch genau an, ihr kennt sie, die Levien, Levine, Landauer, Mühsam, Toller und ihre verbrecherischen Schmarotzer, die Sauber, Eglhofer usw!) – wollen die Diktatur des Proletariats, sie wollen die Demokratie beseitigen und sie ersetzen durch asiatischen Terror, asiatischen Despotismus, der ihnen noch aus der Zeit der Knute in Blut liegt.“3 In einem Bericht der Untersuchungskommission des 2. Bayerischen InfanterieRegiments über Georg Dufter (USPD) vom Juni 1919 hieß es: „Dufter selber trat öffentlich in der Versammlung des Regts. am 9. April für die Räterepublik ein und erklärte besonders ausdrücklich noch die unbedingte Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats[,] der Aufhebung der Pressefreiheit, der Auflösung des Landtags und sprach die zuversichtliche Hoffnung aus, das auch die `Schwatzbude in Weimar bald zum Teufel gejagt werde.`“4 Unterzeichnet war dieses Dokument von einem Feldwebel Grillmeier und dem Gefreiten Adolf Hitler. Dabei handelt es sich um eines der ersten politischen Zeugnisse des späteren Diktators überhaupt. So weit die hier aufgeführten Zeitgenossen in ihren politischen Ansichten auch auseinander lagen, so groß erscheint doch die Übereinstimmung beim Verständnis der „Diktatur des Proletariats“. Dieser Begriff wurde nun, Mitte 1919, mit großer Selbstverständlichkeit verwendet; darunter wurde meist eine antidemokratische, antiparlamentarische, auf Gewalt beruhende, von einer kommunistischen Partei ausgeübte Herrschaft verstanden. So unspektakulär dies im Rückblick wirken mag, so wenig selbstverständlich war dieses vorherrschende Verständnis. Noch ein dreiviertel Jahr zuvor hatte die „Diktatur des Proletariats“ im politischen Diskurs Bayerns praktisch überhaupt keine Rolle gespielt. Und noch Monate und Jahre nach der Revolution hielten sich, zumindest unterschwellig, noch ganz andere Interpretationen des Begriffes. Zu den dadurch aufgeworfenen Fragen sollen in diesem Beitrag einige Antworten skizziert werden. Dabei soll zumindest angedeutet werden, dass das hier behandelte Thema nur einen kleinen Teil eines größeren Komplexes darstellt. München war vor 1914 eine der Hochburgen des Reformismus innerhalb der Sozialdemokratie gewesen; in der Revolution wurde die Stadt kurzzeitig zum Fixpunkt und Hoffnungsanker der radikalen Linken. Politik und Gesellschaft in Bayern waren vor 1914 im Vergleich zu Preußen relativ liberal und fortschrittlich ausgerichtet; nach 1918 entwickelte sich Bayern zum Hort der Reaktion und der militanten Republikfeinde. Ob bzw. in 3 Plöckinger 2013, Zitat: S. 279. 4 Ebd., Zitat: S. 344f.
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welchem Zusammenhang diese beiden gegenläufigen Bewegungen stehen, ist und bleibt die große Frage der bayerischen Geschichte im 20. Jahrhundert, die auch weit in die gesamtdeutsche Entwicklung hineingreift. Von einer zufriedenstellenden Antwort auf diese Frage ist die bayerische Landesgeschichtsschreibung noch weit entfernt; ihre Schwerpunkte befinden sich seit längerer Zeit ganz woanders. Positiv gewendet: Das Betätigungsfeld für weiteren Forschungseifer ist nach wie vor groß.5
2. Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs In den zahlreichen innerparteilichen Richtungskämpfen der deutschen Sozialdemokratie vor 1914 (etwa im Budgetstreit von 1908/10) stand der bayerische Landesverband stets im Lager der Reformisten, die den revolutionären Umsturz weder erhofften noch erwarteten.6 Der Landesvorsitzende Georg von Vollmar – tatkräftig unterstützt von Adolf Müller und Erhard Auer – vermochte den Gau Südbayern unter straffer Kontrolle zu halten und durch geschickte Machtpolitik auch den Landesverband insgesamt souverän zu steuern. Dies gelang, obwohl der Gau Nordbayern der zahlenmäßig stärkere war und hier durchaus Vorbehalte gegen den reformistischen Kurs herrschten. In Franken überwog die Loyalität zum lange Zeit tonangebenden Parteizentrum und zu dessen „Chefideologen“ Karl Kautsky. Da die „Münchner“ den „Nürnbergern“ an Geschick, Durchsetzungswillen und Geschlossenheit überlegen blieben, verfestigten sich Strukturen und Mentalitäten, die nur bedingt basisdemokratisch abgesichert waren. Wortführer der „Nürnberger“ war Adolf Braun als Chefredakteur der Fränkischen Tagespost. Ab 1912 kristallisierte sich in einzelnen fränkischen Städten eine dezidiert linke Strömung heraus, die zur Vorgeschichte der USPD gezählt werden kann; Auslöser dieser lose organisierten Opposition war ein Landtagswahlabkommen mit den Liberalen gewesen. In München wiederum entstand 1913 ein „Sozialistischer Arbeitskreis“ aus Gewerkschaftsfunktionären, der auch Kontakte zur Parteijugend unterhielt. Dieses lockere Netzwerk bildete, personell und „ideologisch“, eindeutig die Keimzelle der späteren USPD. Diese Gruppierungen positionierten sich deutlich kritischer gegenüber der Landesleitung als das von Adolf Braun repräsentierte Lager, blieben aber zahlenmäßig noch sehr schwach. Was in Bayern völlig fehlte, waren 5 Bezeichnend ist, dass für die Beschäftigung mit der Revolution in Bayern – mangels Alternativen – nach wie vor auf ältere bis sehr alte Literatur zurückgegriffen werden muss. Immer noch unverzichtbar sind etwa die Darstellungen von Mitchell, Bosl, Kritzer, Hillmayr sowie, etwas neuer, von Seligmann, Hennig und Hoser. Zu den wenigen gravierenden Fortschritten aus jüngerer Zeit gehören die Studien von Grau und Köglmeier. Zum Revolutionsjubiläum erschien kaum grundlegend Neues; zu den wenigen Ausnahmen zählt das Werk von Gerstenberg. Eine lange Zeit offene Lücke schließt die Studie von Zehetmair zur KPD. 6 Zur bayerischen Sozialdemokratie bis 1918 siehe meine Dissertation zur Spaltung der bayerischen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg (Anton 2012).
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Anhänger der radikalen Linken, die inzwischen in Rosa Luxemburg ihre Exponentin gefunden hatten. Betrachtet man die gesellschaftlichen Verhältnisse in Bayern sowie Theorie und Praxis der örtlichen Sozialdemokratie, so war 1914 ein revolutionärer Umbruch in keiner Weise absehbar, hier noch viel weniger als im übrigen Reich. Erst der Weltkrieg mit seinen ökonomisch, sozial und mental tiefgreifenden, bald kaum noch kontrollierbaren Auswirkungen brachte die Fundamente der bayerischen Gesellschaft ins Wanken. Hierauf angemessen zu reagieren, zeigte sich die reformistisch eingestellte Landesleitung der SPD immer weniger in der Lage. Sie hielt um jeden Preis an der so genannten „Burgfriedenspolitik“ fest, die sich in den Dienst der herrschenden Gewalten stellte, die Kriegsanstrengungen vorbehaltlos unterstützte und die immer unzufriedener werdende Arbeiterschaft zu besänftigen versuchte. Während der Landesvorstand innerhalb der Gesamtpartei vor 1914 stets zur Minderheit gehört hatte, zählte er nun zur Mehrheit, wodurch sich die intransigente Haltung gegenüber der Parteiopposition noch versteifte. Die für die Sozialdemokratie lange Zeit konstitutive „innere Geschlossenheit“ ließ sich unter diesen Bedingungen dauerhaft nicht mehr aufrechterhalten. Nachdem Konflikte anfangs noch hatten verdeckt werden können, wurden ab 1916 die drei Strömungen der Vorkriegszeit wieder deutlich erkennbar: •
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Die Landesleitung, die im Münchner Ortsverband und auch in der Führung der Freien Gewerkschaften weiterhin ihren stärksten Rückhalt besaß, unterstützte uneingeschränkt den Kurs von Parteivorstand und Reichstagsfraktion (Stichwort: Kriegskreditbewilligung). Der gemäßigt linke Flügel in Franken schwankte zwischen der Loyalität gegenüber dem Parteivorstand und dem Aufbegehren gegenüber der offenbar wirkungslosen Burgfriedenspolitik. Die noch sehr kleine entschiedene Opposition, die über vereinzelte Stützpunkte in Franken verfügte und sich ab Ende 1916 in München verfestigte; dazu zählten hier Teile der Parteijugend um Felix Fechenbach, einige Gewerkschaftsfunktionäre wie Fritz Schröder und nicht zuletzt der ehemalige überzeugte Reformist Kurt Eisner.
Nach wie vor kaum feststellbar war ein Einfluss der äußersten Linken; sowohl der Spartakusbund als auch die Internationalen Sozialisten Deutschlands verfügten in Bayern bis Kriegsende nur über eine lose Organisationsstruktur und eine sehr geringe Zahl von Anhängern.7 Die Gründung einer Ortsgruppe des Spartakusbundes in München erfolgte bezeichnenderweise erst nach Kriegsende. Dazu passt auch, dass eine Auseinandersetzung mit dem revolutionären russischen „Vorbild“ kaum stattfand; die beiden Revolutionen des Jahres 1917 wurden in Bayern so gut wie nicht rezipiert. Gerade in Bayern kann von direkten externen Einflüssen aus Berlin oder 7 Vgl. Zehetmair 2018, S. 67-69.
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gar aus Russland kaum die Rede sein. Der Umsturz in München am 7. November 1918 war das Werk der autonom agierenden, winzigen, aber fest entschlossenen Gruppe um Eisner, die als einzige die Zeichen der Zeit erkannt hatte. In den Quellen, die über die Debatten innerhalb der Arbeiterbewegung Aufschluss geben, kommt der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ bis dahin nicht vor. Das sollte sich aber rasch ändern.
3. Die Revolutionsphase bis Anfang April 1919 Als der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ in der öffentlichen Debatte in Bayern erstmals auftauchte, war dessen Konnotation noch völlig offen; er war im politischen Begriffshaushalt des Landes noch nicht verankert und damit auch nicht definiert. Es war Adolf Braun, der auf dem linken Flügel der MSPD stand, aber von „extremen“ Positionen weit entfernt war, der Ende November 1918 als einer der Ersten eine Begriffsbestimmung versuchte. Unter der für seine Verhältnisse ausgesprochen reißerischen Überschrift „Diktatur des Berliner Proletariats!“ verwahrte sich Braun gegen die von ihm so wahrgenommenen zentralistischen Ansprüche der Arbeiterschaft in der Reichshauptstadt. Weiter führte er aus: „Die Durchsetzung und Sicherung einer Revolution war niemals möglich mit den Mitteln der durch die Revolution gestürzten Staatsmacht, Gesetzgebung und Verwaltung. Jede Revolution, auch jede bürgerliche Revolution, konnte sich nur durch diktatorische Maßnahmen siegreich erhalten. [. . .] Der Stamm der alten Macht darf nicht nur gefällt werden, er muß entwurzelt sein. So ergibt sich die Diktatur des Proletariats nach dem revolutionären Sieg der Arbeiterklasse als eine Notwendigkeit, so vieles auch gegen die Diktatur vom Standpunkte der Demokratie auch eingewandt werden kann. Die Diktatur des Proletariats ist nicht Zweck, sie ist Mittel zur Erhaltung und Sicherung der Revolution. Nicht Zweck, sondern Mittel! Hier scheiden sich die Wege. Der Bolschewismus will die Diktatur des Proletariats zur dauernden Grundlage staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung machen.“8
Braun erkannte zu diesem frühen Zeitpunkt ganz richtig, dass sich hier zwei inkompatible Ansätze gegenüberstanden. Es spricht Einiges dafür, dass er bei seiner spezifischen Auslegung der „Diktatur des Proletariats“ von Kautsky inspiriert worden war; dieser hatte schon vor dem Weltkrieg geschrieben: „Für die Diktatur des Proletariats kann ich mir aber eine andere Form nicht denken als die eines kraftvollen Parlaments nach englischem Muster mit einer sozialdemokratischen Mehrheit und einem starken und bewußten Proletariat hinter sich. Der Kampf um einen wirklichen Parlamentarismus wird meines Erachtens zum Entscheidungskampf der sozialen
8 „Diktatur des Berliner Proletariats!“ (Fränkische Tagespost Nr. 278 vom 25.11.1918).
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Revolution werden, denn ein parlamentarisches Regime bedeutet in Deutschland den politischen Sieg des Proletariats, aber auch umgekehrt.“9 Die hier beschriebene unverzichtbare Bedeutung des Parlamentarismus für die „Diktatur des Proletariats“ wurde nun jedoch offen in Frage gestellt. Ein führendes Mitglied der fränkischen USPD, der Hofer Parteiredakteur Max Blumtritt, zitierte in der Oberfränkischen Volkszeitung – wohl tendenziell zustimmend – einen Artikel aus dem Berliner Tageblatt, in dem die „Diktatur des Proletariats“ schon als Distinktionsmerkmal des äußersten linken Flügels der Arbeiterbewegung erschien. Über den Spartakusbund, der zu diesem Zeitpunkt noch korporativ der USPD angehörte, hieß es dort: „Während die Führung der unabhängigen Sozialdemokratie gleich der [Mehrheits-]Sozialdemokratie eine rein demokratische Entwicklung anstrebt, hält der linke Flügel der Partei, der Spartakusbund, an der Diktatur des revolutionären Proletariats im bolschewistischen Sinne fest.“ Blumtritt kommentierte diese Einschätzung: „Wir wissen nicht, wie weit das zutreffend ist, bedauern aber aufs lebhafteste eine eintretende Zersplitterung.“10 Damit war auch das zukunftsträchtige Thema Spaltung versus Einigung der Arbeiterbewegung im Debattenkontext verankert. Belegbar ist damit, dass sich im November 1918 bereits zwei gegenläufige Definitionen abzeichneten: •
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Die „Diktatur des Proletariats“ als vorübergehendes Mittel der (geeinten) Arbeiterbewegung, um den vordemokratischen Überhang der alten Gesellschaftsordnung zu überwinden und einer echten Parlamentarisierung zum Durchbruch zu verhelfen. Oder: Die „Diktatur des Proletariats“ als Mittel zum Aufbau bzw. zur Sicherung einer kommunistischen Minderheitenherrschaft.
Wie zu zeigen sein wird, konnte hier bis zum Ende der revolutionären Phase keine allgemein akzeptierte Klärung herbeigeführt werden. Dazu war die Arbeiterbewegung zu sehr fragmentiert; nicht nur in drei Parteien (die Anarchisten wären noch als separate „Gruppierung“ hinzuzufügen), sondern in noch weit mehr sich überlappende Strömungen. Diese Vielfalt an Strömungen erhöhte sich noch, obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Wahlen zum Bayerischen Landtag im Januar 1919 bereits gezeigt hatten, dass die Basis für tiefgreifende soziale Veränderungen bzw. „Räteexperimente“ ausgesprochen schmal war;11 die USPD blieb mit 2,5% eine Splitterpartei, eine linke Mehrheit war auf Landesebene nicht in Sicht. 9 Winkler 1984, Zitat: S. 37, Fn. 41. 10 „Parteinachrichten.“ (Oberfränkische Volkszeitung Nr. 270 vom 16.11.1918). 11 Bei den Wahlen zum Bayerischen Landtag am 12. Januar 1919 entfielen von 180 Sitzen 66 auf die Bayerische Volkspartei, 61 auf die MSPD, 25 auf den bayerischen Landesverband der DDP (der sich DVP nannte), 16 auf den Bayerischen Bauernbund, 9 auf das Bündnis aus Nationalliberalen und Bayerischer Mittelpartei und 3 auf die USPD.
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Als propagandistische Allzweckwaffe etablierte sich die „Diktatur des Proletariats“ dessen ungeachtet rasch bei den Kommunisten, die sich zur Jahreswende 1918/19 von der USPD endgültig losgesagt hatten. Die erste Ausgabe der Münchner Roten Fahne brachte auf der Titelseite einen pompösen Aufruf, der mit den Worten schloss: „Hoch die deutsche Räterepublik! Hoch die Diktatur des Proletariats!“12 Dass beides aufs engste miteinander verbunden war bzw. als äquivalent betrachtet wurde, bedurfte keiner näheren Erklärung. Auf die Ermordung Eisners am 21. Februar 1919, mit der der nächste revolutionäre Schub einsetzte, reagierte die Münchner KPD mit einer erneuten Deklaration, die in der Aufforderung kulminierte: „Nieder mit der Konterrevolution! Es lebe die Diktatur des Proletariats! Es lebe die Weltrevolution!“13 Von einer Zusammenarbeit mit den beiden anderen Arbeiterparteien wollte die KPD immer weniger wissen, sie gab die Parole aus: „Nieder mit den Abhängigen und Unabhängigen Sozialverrätern!“14 Diese Verhärtung erfolgte vor dem Hintergrund immer unübersichtlicher werdender innenpolitischer Verhältnisse. Nach der Ermordung Eisners und der daraus folgenden Sprengung des Landtages übernahm zunächst ein von Ernst Niekisch (MSPD) geführter Zentralrat in München das Ruder. Ein Ende Februar/Anfang März in München tagender Rätekongress lehnte die Ausrufung der Räterepublik mit deutlicher Mehrheit ab, forderte gegenüber dem Landtag aber eine Mitbestimmung über den Fortgang der Entwicklung. Dem Rechnung tragend wählte der Landtag am 17. März Johannes Hoffmann (MSPD) zum Ministerpräsidenten. Dieser bildete eine mit Sondervollmachten ausgestattete Koalitionsregierung aus MSPD, USPD und Bayerischem Bauernbund; daraufhin vertagte sich der Landtag wieder. Dass es auch danach nicht gelang, in ruhigeres politisches Fahrwasser zu gelangen, lag in erster Linie an der weiterhin explosiven Lage in München und der Ausrufung der ungarischen Räterepublik am 21. März 1919, die in einigen äußerst linken Kreisen als Fanal begriffen wurde. Beim Blick auf die Münchner Debatten gilt es zu beachten, dass der Kampf um die Deutungshoheit nicht nur zwischen den, sondern auch innerhalb der Arbeiterparteien wogte. Gerade in der USPD traten dabei bald deutliche Differenzen hervor; es zeichnete sich eine Kluft zwischen der sich immer mehr radikalisierenden USPD der Landeshauptstadt und der deutlich gemäßigter bleibenden übrigen Landesorganisation ab. In diesen – von der Forschung weitgehend vernachlässigten – Kontext gehört auch die Generalversammlung der Münchner USPD im März 1919 (die sich insgesamt über drei Abende hinzog). Hier kam es zu einem Personalund Kurswechsel, der die folgenden Ereignisse überhaupt erst möglich machte. Der 12 „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ (Münchner Rote Fahne Nr. 1 vom 15.1.1919). 13 „Aufruf an das Proletariat!“ (Münchner Rote Fahne [ohne Nummer] vom 23.2.1919). 14 „Die `Einheitsfront` des Sozialismus oder die Einigung als Deckmantel zu weiterem Verrat am Proletariat“. (Münchner Rote Fahne Nr. 2 vom 26.2.1919).
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bisherige Vorsitzende Fritz Schröder, der zum engsten Umfeld Eisners gehört hatte, wurde abgelöst und durch die Doppelspitze Ernst Toller und Andreas Fendel ersetzt. Die beiden Letzteren brachten folgenden Antrag ein: „Die U.S.P. München verwirft grundsätzlich die bürgerliche Demokratie und den bürgerlichen Parlamentarismus als Ausdruck des politischen Willens und als Kampfmittel des werktätigen Volkes. Sie sieht in den aus der Revolution elementar erwachsenen Räten die Organisationsform, die notwendig ist, die Interessen aller produktiv Schaffenden in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu vertreten und die kapitalistische Ordnung in eine sozialistische umzugestalten. Ihr Endziel ist der sozialistische Aufbau der Weltwirtschaftsordnung, die Revolutionierung der Gesinnung, die wahrhafte Demokratie. Als Mittel bedient sie sich der Verwaltung durch das werktätige Volk (Diktatur des gesamten Proletariats)[,] in der sie kein terroristisches, sondern ein schöpferisches Mittel sieht; Voraussetzung ist die Eroberung der politischen Macht durch die Räte.“15
Die Beteiligung an der Regierung auf der Basis der kurz zuvor getroffenen Vereinbarung mit der MSPD wurde folgerichtig strikt abgelehnt. Die Anhänger dieser Partei, nicht deren Führer wurden als potenzielle Bundesgenossen angesehen; demgegenüber wurde die KPD als koalitionsfähige „Bruderorganisation“ benannt. Durchaus bedeutsam war, dass vom „gesamten Proletariat“ gesprochen wurde, was sich mit dem Ansatz der KPD keineswegs vereinbaren ließ. Neben Hans Unterleitner, der kurz darauf in das Kabinett Hoffmann eintrat, wandte sich auch Schröder mit realpolitischen Argumenten gegen die Ansichten Tollers und forderte die Mitwirkung in der bayerischen Regierung. Schröder – zu diesem Zeitpunkt noch Ortsvorsitzender – hatte bereits Anfang März 1919 auf dem bayerischen Rätekongress erklärt: „In Bayern ist die Diktatur des Proletariats nur möglich, wenn die sozialistischen Parteien und die revolutionären Bauern [sic!] bereit sind, sie durchzuführen. In dem Augenblicke, wo auch nur ein Teil davon versagt, kann sie nicht mehr zur Diskussion stehen, weil sie dann zugrunde gehen wird und zugrunde gehen muß.“16 Ohne Unterstützung von MSPD und Bayerischem Bauernbund sah Schröder eine Räterepublik als von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Mehrheit der USPD-Generalversammlung blieb von derartigen Einwänden jedoch unbeeindruckt. Gegen nur sechs Stimmen wurde die „Resolution Toller und Genossen“ angenommen. Ähnlich klar endeten die Wahlen zum neuen Vorstand: Von 625 abstimmenden Mitgliedern votierten 593 für Toller und 571 für Fendel als gleichberechtigte Vorsitzende. Dem Maximalprogramm von „Toller und Genossen“ trat Blumtritt in der Oberfränkischen Volkszeitung entschieden entgegen. Dem „revolutionären Elan“ der Münchner erwies er die Referenz, gleichzeitig jedoch erklärte er, diesem Weg nicht folgen zu können, „weil wir der Meinung sind, 15 „Generalversammlung der USP-München“. (Neue Zeitung Nr. 68 vom 13.3.1919). 16 Stenographischer Bericht Rätekongress Feb./März 1919, S. 114.
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daß die Uebernahme des gesamten komplizierten Verwaltungsapparates durch das Proletariat, die ja die unerläßliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und Durchführung der Diktatur des Proletariats ist, heute noch nicht möglich ist. […] Wollten wir uns jetzt, wo uns die Möglichkeit der praktischen Mitarbeit gegeben ist, in die Opposition begeben, so würden wir gerade den Mehrheitssozialisten den größten Gefallen erweisen.“17 Hier sprach die Stimme der Vernunft, doch sie war zu schwach, um in der brodelnden Landeshauptstadt Gehör zu finden. Außerhalb Münchens sah die Lage etwas anders aus. Die Landeskonferenz der bayerischen USPD in Nürnberg nahm im März 1919 mit 45 zu 23 Stimmen eine Resolution des gemäßigten Flügels an, die sich für eine Regierungsbeteiligung, d. h. für eine Zusammenarbeit mit der MSPD, nicht mit der KPD aussprach.18 Wie widersprüchlich die Lagebeurteilung in der Münchner USPD inzwischen war, zeigte sich in mehrerlei Hinsicht. Toller hatte sich auf der genannten Generalversammlung zunächst als „Gegner des scharfen Zentralismus und Anhänger der Dezentralisation“ präsentiert und die „militärische Note des Kommunismus“19 verurteilt, dann aber eindeutig für eine Anlehnung an die KPD plädiert. Die Beschlüsse der Nürnberger Landeskonferenz verurteilte er hingegen scharf: „Die U.S.P. Bayerns hätte zeigen können, daß sie Daseinsberechtigung besitzt. In Nürnberg hat sie diesen Beweis nicht erbracht.“20 Toller war nicht der einzige führende Unabhängige, der auch später nicht zur KPD wechselte, zu diesem Zeitpunkt aber „radikale“ Positionen vertrat, die eine Zusammenarbeit mit der MSPD faktisch ausschlossen. Albert Winter junior, später als Parteiredakteur einer der wichtigsten Wortführer der Münchner USPD, veröffentlichte Ende März 1919 einen Artikel unter der Überschrift „Die Diktatur des Proletariats“, in dem er forderte: „Das Proletariat hat höchste Zeit, es kann sich nicht mit der Demokratisierung der Verwaltung beschäftigen, wie die unglaublich konfuse Resolution des Landesparteitages [von Nürnberg; B. A.] in naiver Verkennung der Lage verlangt, es kann nicht im Schneckentempo den Mist aus dem Augiasstall, einer verrotteten Staats- und Gemeindeverwaltung kehren, nein es wird seine ganzen Energien in den Räten, den Keimen der neuen Demokratie zusammenballen [. . .] und den Männern der provisorischen Regierung die Rechnung präsentieren: Auflösung der alten Armee, Bildung einer zuverlässigen Proletariergarde, Anerkennung der Räte als gesetzgebender, verwaltender und ausführender Organe oder Landtag und Bürokratie, d. h. zurück ins Lager der Klassenfeinde.“21
Da die politische Lage in Bayern im Frühjahr 1919 ausgesprochen volatil war und die ideologischen Ausrichtungen fluide blieben, sind konventionelle Kategorisierun17 18 19 20 21
„Vom Parteitag.“ (Oberfränkische Volkszeitung Nr. 72 vom 26.3.1919). Vgl. „Landesparteitag der U.S.P.“ (Fränkische Tagespost Nr. 71 vom 25.3.1919). „Generalversammlung der USP-München“. (Neue Zeitung Nr. 65 vom 10.3.1919). „Verwirrung und kein Ende“. (Neue Zeitung Nr. 80 vom 27.3.1919). „Die Diktatur des Proletariats“. (Neue Zeitung Nr. 83 vom 31.3.1919).
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gen problematisch. Vereinfachend lässt sich die verwirrende Lage wohl so beschreiben: Beide Flügel der USPD sahen die „Diktatur des Proletariats“ als Mittel auf dem Weg zur Einheitsfront der Arbeiterschaft. Der linke Flügel priorisierte dabei den Schulterschluss mit der KPD, der rechte Flügel die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der MSPD. Dass hier ein Kompromiss kaum denkbar war, lag eigentlich auf der Hand. Eine Überbrückung dieser fundamentalen Differenz war praktisch unmöglich. Zur Klärung der Lage trug zumindest die KPD bei, ungeachtet der Tatsache, dass es ihr nicht gelang, die Verwendung des Begriffs „Diktatur des Proletariats“ zu monopolisieren. Max Levien, der bayerische KPD-Vorsitzende, ging in einem umfangreichen Artikel in der Münchner Roten Fahne auf die Beschlüsse der USPDGeneralversammlung, d. h. auf die Resolution Toller-Fendel ein. Die dort gebrauchte Formulierung von der „Diktatur des gesamten Proletariats“ lehnte Levien als unmarxistisch und zudem völlig unpraktikabel ab, da für ihn eine Einbeziehung der „rechten“ Kräfte aus MSPD und Gewerkschaftsführung kaum denkbar war. Die Bemühungen der USPD um eine „Einheitsfront“ der Arbeiterschaft verwarf Levien kategorisch und rechnete mit der Konkurrenzpartei ab: „So verraten sie [d. h. die Unabhängigen; B. A.] die Idee des Bürgerkriegs, der Revolution!“22 Selbst zwischen dem linken Flügel der USPD, der sich gerade in München durchgesetzt hatte, und der KPD war somit kaum eine Basis für eine wirksame Zusammenarbeit vorhanden, was jedoch nicht alle Beteiligten einzusehen vermochten. Die in der USPD so populäre „Einheitsfront“, die von der MSPD bis zur KPD reichen sollte, konnte realiter nur ein fragiles Gebilde, eher ein Trugbild sein. Mangelnde Klarheit konnte man wenigstens der KPD nicht vorwerfen. Am 5. April, die Ausrufung der Räterepublik stand kurz bevor, machten die kommunistischen Vertreter in mehreren Versammlungen noch einmal ihre Position deutlich: „Die geplante RäteRepublik ist keine Diktatur des Proletariats, sondern des Zentralrats, der, weil ihm die kommunistische Partei über den Kopf gewachsen ist, diese Räte-Republik proklamieren will. […] Die Diktatur des Proletariats muß die Frucht der Eroberung der politischen Macht sein.“23
4. Die 1. Räterepublik Obwohl mit einer Beteiligung der KPD somit von vornherein nicht zu rechnen war, kam es in der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 durch eine „zusammengewürfelte Versammlung“24 zu den bekannten folgenschweren Entscheidungen. Während die 22 „Eine unabhängige `Politische Kundgebung` oder wie macht man einen Eierkuchen, ohne Eier zu zerschlagen?“ (Münchner Rote Fahne Nr. 9 vom 25.3.1919). 23 „Erklärung der kommunistischen Partei (Spartakusbund) Landesverband Bayern“. (Münchner Rote Fahne Nr. 20 vom 6.4.1919). 24 Köglmeier 2001, S. 329.
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anwesenden Vertreter der MSPD die gefassten Beschlüsse mittrugen, lehnte die KPD die Mitwirkung an einer Räterepublik konsequent ab. Die von der USPD stets beschworene Geschäftsgrundlage, die Einbeziehung aller drei Parteien, war damit obsolet. Die Unabhängigen zogen sich daraufhin zur Beratung zurück; kurz darauf gab Toller dennoch als Ergebnis bekannt: „Wir machen mit, um die Einigung des Proletariats zu stützen.“25 Daraufhin legte er der Versammlung einen von der Münchner USPD-Führung ausgearbeiteten Forderungskatalog vor: „1. Diktatur des klassenbewußten Proletariats. 2. Prinzipieller Aufbau der Arbeiterräte durch Wahl nach Betrieben und Berufen. 3. Vergesellschaftung der Betriebe, Banken und des Großgrundbesitzes. 4. Verwandlung der bureaukratischen Staats- und Gemeindemaschine im Sinne der Verwaltung durch die A.- und B.-Räte [Arbeiter- und Bauernräte; B. A.]. 5. Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht auch für die Bourgeoisie. 6. Vollkommene Umgestaltung des Gerichtswesens auf revolutionärer Grundlage. 7. Umgestaltung des Wohnungs- und Siedlungswesens auf revolutionär-sozialistischer Grundlage. 8. Trennung zwischen Staat und Kirche. 9. Sofortige Revolutionierung des Schul- und Universitätswesens. 10. Sozialisierung der Presse usw. 11. Bildung einer roten Armee zum Schutze der Räterepublik. 12. Bündnis mit den Räterepubliken Rußland und Ungarn und Zustimmung zu den sich daraus ergebenden Maßnahmen.“26 Am Morgen des 7. April trat schließlich der Zentralrat mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, um die in der Nacht zuvor gefassten Beschlüsse publik zu machen: „An das Volk in Baiern! Die Entscheidung ist gefallen. Baiern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes. Die revolutionäre Arbeiterschaft und Bauernschaft Baierns, darunter auch unsere Brüder, die Soldaten, sind durch keine Parteigegensätze mehr getrennt, sind sich einig, daß von nun an jegliche Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende haben muß. Die Diktatur des Proletariats, die nun zur Tatsache geworden ist, bezweckt die Verwirklichung eines wahrhaft sozialistischen Gemeinwesens, in dem jeder arbeitende Mensch sich am öffentlichen Leben beteiligen soll, einer gerechten sozialistisch-kommunistischen Wirtschaft. Der Landtag, das unfruchtbare Gebilde des überwundenen bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters, ist aufgelöst, das von ihm eingesetzte Ministerium zurückgetreten. Von den Räten des arbeitenden Volkes bestellte, dem Volk verantwortliche Vertrauensmänner erhalten als Volksbeauftragte für bestimmte Arbeitsgebiete außerordentliche Vollmachten. […]
25 Seligmann 1989, Zitat: S. 195. 26 „Erklärung der Münchner U.S.P.“ (Neue Zeitung Nr. 91 vom 9.4.1919).
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Die Presse wird sozialisiert. Zum Schutz der baierischen Räterepublik gegen reaktionäre Versuche von außen und von innen wird sofort eine rote Armee gebildet. Ein Revolutionsgericht wird jeden Anschlag gegen die Räterepublik sofort rücksichtslos ahnden. Die baierische Räterepublik folgt dem Beispiel der russischen und ungarischen Völker. Sie nimmt sofort die brüderliche Verbindung mit diesen Völkern auf. Dagegen lehnt sie jedes Zusammenarbeiten mit der verächtlichen Regierung Ebert-Scheidemann-Noske-Erzberger ab, weil diese unter der Flagge einer sozialistischen Republik das imperialistisch-kapitalistisch-militaristische Geschäft des in Schmach zusammengebrochenen deutschen Kaiserreichs fortsetzt. […] Es lebe das freie Baiern! Es lebe die Räterepublik! Es lebe die Weltrevolution!“27
In der Terminologie unterschieden sich die Proklamationen der neuen Machthaber erstaunlich wenig von derjenigen der KPD – die faktischen Gegensätze blieben jedoch bestehen. Ein Missverständnis steigerte die Konfusion noch: „Die deutschen `Räte` hatten mit den russischen wenig mehr als den Namen gemein. Die geistige Anleihe, die die deutschen `Räte` bei den russischen `Sowjets` aufnahmen, war meist formaler, nicht inhaltlicher Natur.“28 Die neue Regierung wandte sich durchaus energisch den anstehenden Problemen zu. Der Wohnungskommissar Arnold Wadler (USPD) blieb im Amt und kümmerte sich redlich um die Bekämpfung der Wohnungsnot. Bereits am 8. April wurde ein Dekret zur Sozialisierung des Bergbaus erlassen, der damals in Oberbayern noch eine nicht unerhebliche Bedeutung hatte. Der „Revolutionäre Bankrat für Baiern“ versuchte sich umgehend an der Kontrolle des Finanzwesens. Gustav Landauer, Volksbeauftragter für Volksaufklärung, Kultur und Erziehung, war in seinem Gebiet gewiss kompetent, seine antiklerikalen Ansichten waren mit denen der Mehrheit der bayerischen Bevölkerung allerdings kaum vereinbar. Angesichts der Fülle drängender Probleme, der schwach ausgeprägten Machtbasis und der Kürze der Zeit kann von einer tatsächlich umgesetzten „Regierungspolitik“ bei der ersten Räterepublik indes keine Rede sein. Schließlich: „Am Ende der ersten Woche stand der Räteregierung praktisch keine eigene organisierte militärische Macht zur Verfügung.“29
5. Die 2. Räterepublik Dass es doch noch zu einer Einbeziehung der KPD kam, lag ironischerweise an der Regierung Hoffmann, die nach Bamberg geflüchtet war. Von dort aus initiierte sie mit loyalen Kräften den so genannten „Palmsonntagsputsch“, mit dessen Hilfe die 27 Aufruf abgedruckt bei Ay 1968, Anlage 63. Der vor allem auf Landauer zurück gehende Aufruf ersetzte die erst unter Ludwig I. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführte Schreibweise „Bayern“ durch „Baiern“. Konsequent durchgehalten wurde die „neue“ Schreibweise allerdings auch während der Räterepubliken nicht. 28 Winkler 1984, S. 57. 29 Seligmann 1989, S. 341.
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Münchner Räteregierung gestürzt werden sollte, was letztlich misslang.30 Noch während der völlig unübersichtlichen Situation am Nachmittag des 13. April trat im Hofbräuhaus die Versammlung der Kasernen-, Betriebs- und Angestelltenräte zusammen, um über die politische Lage zu beraten. Nun nahm Leviné – im Widerspruch zu den Direktiven der Berliner Parteizentrale – das Heft in die Hand; in seiner Rede kritisierte er die bisherige Räteregierung und sprach sich für die „Diktatur des Proletariats“ und konkrete Maßnahmen zur Neuorganisation der Führungsgremien aus. Der Revolutionäre Zentralrat – von dessen vollständiger Verhaftung zu diesem Zeitpunkt noch ausgegangen wurde – sollte durch einen Aktionsausschuss und einen aus diesem hervorgehenden Vollzugsrat ersetzt werden. Die Anwesenden erklärten sich damit einverstanden und wählten einen 15-köpfigen Aktionsausschuss, dieser wiederum den Vollzugsrat, dem die Kommunisten Willi Budich, Levien und Leviné, von der MSPD Wilhelm Duske und Emil Maenner von der USPD angehörten.31 In einem Flugblatt erklärten die neuen Machthaber: „Heute endlich hat Bayern die Diktatur des Proletariats errichtet [. . .] Die Sonne der Weltrevolution ist aufgegangen! Es lebe die Weltrevolution! Es lebe die bayerische Räterepublik! Es lebe das Proletariat! [. . .] Es lebe der Kommunismus!“32 Die am 13. April eingerichtete Machtstruktur wurde vorerst beibehalten. Die Versammlung der Betriebs- und Soldatenräte, die nahezu täglich zusammentrat (die Sitzungen waren nicht öffentlich), bildete das maßgebliche Gremium, wobei die Betriebsräte immer mehr Gewicht gegenüber den Soldatenräten gewannen. Die Loyalität der Kasernenräte gegenüber dem Vollzugsrat blieb Zeit seines Bestehens brüchig. Die überlieferten Daten lassen eine parteipolitische Zuordnung der Betriebsräte in einem aussagekräftigen Umfang zu und belegen, dass die Mitglieder der KPD eine recht marginale Rolle spielten.33 Die klassische und immer noch übliche Klassifizierung der 2. Räterepublik als (rein) kommunistisch ist durch die Tatsachen nicht gedeckt. Einen eigenständigen Machtfaktor stellte allerdings die „Rote Armee“ dar. Den Betriebsräten wurde dies von kommunistischer Seite auch unmissverständlich mitgeteilt: „Die Rote Armee wurde gegründet nicht als Instrument der Politik, sondern als Organ der Verteidigung der Diktatur des Proletariats und der Räterepublik gegen 30 Vgl. Köglmeier 2001, S. 351-353 u. Mitchell 1967, S. 278f. 31 Dem Aktionsausschuss wurden später noch mehrere Mitglieder kooptiert; insgesamt dominierten eindeutig die (etwa gleich stark vertretenen) Angehörigen von KPD und USPD (vgl. Köglmeier 2001, S. 475-478). 32 Mitchell 1967, Zitat: S. 279. 33 In seiner detaillierten Aufstellung kommt Köglmeier bei den 828 Betriebsräten aus den 190 Betrieben, deren Beschäftigtenzahl angegeben ist, zu dem Ergebnis, dass 32,7% der MSPD, 17,6% der USPD, 6,9% der KPD, 0,5% anderen Parteien und 42,2% keiner Partei angehörten. Bei den 1170 Betriebsräten von 316 anderen Betrieben bietet sich ein ähnliches Bild: 24,2% gehörten zur MSPD, 13% zur USPD, 5,6% zur KPD, 31% zu den Freien Gewerkschaften, der Rest zu verschiedenen Organisationen und Verbänden (vgl. Köglmeier 2001, S. 356f.).
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die Konterrevolution der Weißen Garden. Entsprechend dieser Aufgabe erklärt das Oberkommando, daß es das revolutionäre Proletariat, koste es, was es will, gegen die Weiße Garde verteidigen wird und sich von keiner Seite, auch nicht von den Betriebsräten, zu einem Verrat an der sozialen Revolution wird zwingen lassen.“34 Damit wurde jede Verhandlungslösung von vornherein verworfen. Bar jeden Realitätssinnes waren die Münchner Kommunisten bereit, es – um eines fiktiven langfristigen Vorteils für „die Revolution“ Willen – auf einen aussichtslosen Kampf ankommen zu lassen. Die ohnehin erheblichen Meinungsunterschiede zwischen KPD und USPD, die einem gedeihlichen Zusammenarbeiten von Anfang an im Wege gestanden hatten, wurden damit vollends unüberbrückbar. Am 27. April führten die Richtungsstreitigkeiten zwischen den beiden Parteien, vor allem über die Aufnahme von Verhandlungen mit der Regierung Hoffmann, zu einer Entscheidung: Die Versammlung der Betriebs- und Soldatenräte wählte den bisherigen Aktionsausschuss ab und entmachtete damit die KPD-Vertreter, die dagegen nichts unternehmen konnten bzw. wollten. Am folgenden Tag wurde ein neuer Aktionsausschuss gewählt, dem keines der bisherigen Mitglieder angehörte. Dieses Gremium konnte im allgemeinen Chaos allerdings kaum noch Wirkung entfalten.35 In der Forschung wird in der Regel für die darauffolgenden Tage von einer „Diktatur der Roten Armee“ unter ihrem Kommandanten Rudolf Eglhofer gesprochen. An eine gezielte politische „Strategie“ konnte dieses Regime naturgemäß überhaupt nicht mehr denken. Festzuhalten bleibt: Eine zentralistisch geführte, sich mit allen, auch terroristischen Mitteln an der Macht haltende Parteidiktatur nach dem Vorbild von Lenins Bolschewiki war in München zu keinem Zeitpunkt vorhanden. In diese chaotische Schlussphase fiel auch der so genannte „Geiselmord“ im Luitpold-Gymnasium, das einzige Gewaltverbrechen der revolutionären Machthaber in München. Über das Verhältnis von „linker“ und „rechter“ Gewalt in der Münchner Revolutionszeit hat bereits die Studie von Heinrich Hillmayr Aufklärung geschaffen.36 Dennoch dauerte es noch sehr lange, bis das von einschlägiger Seite platzierte Bild von der blutigen linken Gewaltherrschaft seine Dominanz eingebüßt hat. Im Folgenden soll es allerdings nicht um den Themenkomplex Geschichtspolitik gehen, sondern es werden zwei Politikbereiche herausgegriffen, anhand derer das Regierungshandeln während der Revolutionszeit illustriert werden kann.
34 „Zwischen Schwäche und Verrat“. (Münchner Rote Fahne Nr. 29 vom 29.4.1919). 35 Der neu gewählte Aktionsausschuss bestand aus einem Mitglied der MSPD und drei Mitgliedern der USPD (vgl. Köglmeier 2001, S. 481). 36 Vgl. Hillmayr 1974.
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6. Sozialisierungspolitik Zur Sozialisierung gab es bereits im Vorfeld der Revolution eine unübersehbare Fülle von Meinungsbeiträgen verschiedenster Provenienz; was darunter jedoch genau zu verstehen war – Verstaatlichung, Vergesellschaftung, Institutionalisierung betrieblicher Mitbestimmung -, blieb höchst kontrovers.37 Die MSPD-geführte Reichsregierung sprach sich prinzipiell für diese Maßnahme aus („Die Sozialisierung marschiert!“), schlug die Basisbewegung zur Sozialisierung des Ruhrbergbaus jedoch gewaltsam nieder. In der Arbeiterschaft verfügte das Schlagwort von der „Sozialisierung“ über eine sehr hohe Zugkraft und bis weit hinein in bürgerliche Kreise war unmittelbar nach Kriegsende die Ansicht verbreitet, dass es nun unvermeidbar sei, wenigstens maßgebliche Teile der Wirtschaft zu verstaatlichen. Doch die MSPD und auch die mit ihr eng verbundenen Freien Gewerkschaften forcierten dieses Vorhaben keineswegs. Die hochkarätig besetzte Sozialisierungskommission unter dem Vorsitz Kautskys versandete ergebnislos. In Bayern war die Lage auch in diesem Politikbereich speziell. Eisner, ohnehin kein Anhänger des materialistischen Marxismus mit seiner Überbewertung ökonomischer Faktoren, hatte während seiner Ministerpräsidentschaft keine nachhaltigen Impulse in Richtung Sozialisierung ausgeübt. Sein Finanzminister Edgar Jaffé, der der USPD nahestand, sah in der Sozialisierung allenfalls einen „künftigen Idealzustand“38. Von der bayerischen MSPD waren hier ebenfalls keine Initiativen zu erwarten. Die bayerische Sozialisierungskommission unter Führung des liberalen Nationalökonomen Lujo Brentano, die Eisner im Januar 1919 einberufen hatte, war in keiner Weise gewillt, marktwirtschaftliche Prinzipien aufzugeben oder gar zu bekämpfen. Lediglich eine Kommunalisierung der Energiewirtschaft wurde ernsthaft erörtert. Einen neuen Schub bekam die ganze Thematik in der Phase der Revolution, die durch die Ermordung Eisners ausgelöst wurde. Der nun gebildete Zentralrat fühlte sich insbesondere für die Sozialisierung verantwortlich; der Rätekongress befürwortete die Einrichtung eines Ministeriums für Handel, Industrie und Gewerbe, das sich explizit um dieses Projekt kümmern sollte. Der neue Ministerpräsident Hoffmann (MSPD) berief Josef Simon (USPD) an die Spitze des erst noch aufzubauenden Ministeriums,39 beließ es in der Sozialisierungsfrage allerdings zunächst bei Lippenbekenntnissen. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung entstand jedoch bald eine erhebliche Dynamik, die Simon kurzfristig unerwarteten Handlungsspielraum verschaffte. Der langjährige Gewerkschaftsvorsitzende, Reichs- und Landtagsabgeord37 Zur Sozialisierungspolitik siehe Hennig 1990, S. 235-244; Heusler 2020; Kritzer 1969, S. 102-106; Mitchell 1967, S. 256f.; Sandner 2014, S. 114-143 und Unger 2009, S. 57-76. 38 Heusler 2020, Zitat: S. 131. 39 Simon war für dieses Amt bereits Anfang März vom bayerischen Rätekongress designiert worden.
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nete Simon, nach Eisner der bedeutendste Vertreter seiner Partei in Bayern, verfügte über politische Erfahrung und Gestaltungswillen.40 Anders als zahlreiche andere führende Gewerkschaftsfunktionäre hatte er den Ehrgeiz, in der Sozialisierungsfrage substanzielle Fortschritte zu erzielen. Doch wollte er in dieser Frage schrittweise vorgehen, hielt dafür aber eine zeitweilige „Diktatur des Proletariats“ für nötig, die sich aber nicht gegen die Arbeiter selbst, sondern gegen das Großkapital“ richten sollte.41 Der entscheidende Beitrag Simons zu Sozialisierungspolitik bestand in der Berufung des Österreichers Otto Neurath an die Spitze des Ende März eingerichteten Zentralwirtschaftsamtes.42 Diese mit umfangreichen Vollmachten ausgestattete Behörde sollte sich konkret mit der Sozialisierung befassen und war in ihrer Art in Deutschland einzigartig. Wie es dem intellektuellen Nationalökonomen und MSPDMitglied [!] Neurath gelang, das Vertrauen des durch und durch pragmatischen Simon zu gewinnen, muss offen bleiben.43 Neurath, der schon zuvor einige Kontakte nach Bayern geknüpft hatte,44 war jedenfalls Anhänger einer umfassenden Planwirtschaft, der „Vollsozialisierung“. Dafür hatte er bereits detaillierte Pläne ausgearbeitet, die auf seinen Studien zur Kriegswirtschaft fußten. Demzufolge konnte die Sozialisierung auch im begrenzten Rahmen eines (Teil-)Staates durchgeführt werden, musste aber eben „voll“, d. h. in allen Wirtschaftsbereichen umgesetzt werden. Die umfassende Ersetzung von Markt- durch Planwirtschaft sowie von Gelddurch Naturalrechnung würde es ermöglichen, so Neuraths feste Überzeugung, die materiellen Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung zu befriedigen.45 Die Umsetzung dieser Ankündigungen hätte im ökonomischen Bereich doch noch eine „echte“ Revolution bewirkt. Da die Mehrheit der Regierung davon eigentlich nichts wissen wollte, war die Berufung des Außenseiters Neurath eine „ultimative Verzweiflungstat“46 unter dem Druck der Verhältnisse. Da es Neurath an Schaffenskraft und Sendungsbewusstsein nicht mangelte, stürzte er sich sogleich auf seine neue Aufgabe und prägte die Struktur sowie die Personalauswahl seiner Behörde. Eine Rückkehr zu den Zuständen der Vorkriegszeit hielt er für weder sinnvoll noch möglich; die Kriegswirtschaft war für ihn eine Vorstufe des Sozialismus, den es nun zu verwirklichen galt. Neurath sah sich nicht als Parteipolitiker, 40 Zum politischen Lebenslauf von Josef Simon siehe Anton 2012, S. 481-492. 41 Öffentliche Erklärung von Josef Simon zu seinem Austritt aus der Regierung Hoffmann vom 23.4.1919. (Abgedruckt in Pákh 1985, S. 52-54, hier: S. 54). 42 Der Dienstsitz des Zentralwirtschaftsamtes war übrigens das Prinz-Carl-Palais, der heutige Sitz des Bayerischen Ministerpräsidenten. 43 Rückblickend äußerte sich Neurath über Simon ausgesprochen positiv und hob ihn damit von den übrigen Kabinettsmitgliedern ausdrücklich ab (vgl. Neurath 1920, S. 11). 44 So hatte Neurath etwa am 25.1.1919 in der Vollsitzung des Münchner Arbeiterrates einen Vortrag über „Wesen und Weg der Sozialisierung“ gehalten (vgl. Neurath 1919). 45 Vgl. Flugblatt der Zentrale für Aufklärung und Volksbildung in Bayern. (Archiv der Münchner Arbeiterbewegung). 46 Heusler 2020, S. 136.
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sondern als Technokraten, der wissenschaftliche Erkenntnisse umsetzte – mit dem Ziel, ein Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit herzustellen. Er ging von der nahezu unbegrenzten Planbarkeit sozialer Verhältnisse aus, vorausgesetzt die dafür notwendigen – naturgemäß riesigen – Informationsmengen standen zur Verfügung. Hier lag wohl auch der Schwachpunkt seines Weltbildes, der das ganze darauf aufgebaute Konstrukt illusionär werden ließ. Beim zentralen Punkt jedes Sozialisierungsvorhabens, der Entmachtung der Unternehmer, blieb Neurath erstaunlich flexibel. Die einzelnen Betriebe sollten selbstverständlich der Autorität der zentralen Planungsbehörde unterworfen werden; andererseits sollte die Fachkompetenz der bisherigen Unternehmer weiterhin nutzbar bleiben, indem diese im Prinzip auf ihren Posten verblieben, nun eben als staatliche Angestellte. Entscheidend war für Neurath, dass die gesamte Wirtschaft, und nicht etwa nur einzelne Teilbereiche, sozialisiert würde(n). Dass dabei mit erheblichem Gegenwind zu rechnen war, konnte keinem Zweifel unterliegen. Neuraths Pläne gingen schließlich auch über die Vorstellungen Simons weit hinaus. Immerhin verabschiedete die Regierung Hoffmann noch am 31. März ein Statut, das die bayerische Wirtschaft komplett dem Zentralwirtschaftsamt unterstellte. Dieses Amt, das dem Ministerium für Handel, Gewerbe und Industrie angegliedert war, stand nun vor der Aufgabe, einen Apparat aufzubauen, der Unmengen von Informationen erfassen und verarbeiten konnte, um eine Steuerung des ökonomischen Gesamtgeschehens durchzuführen, bei der Effektivitätskriterien durchaus im Vordergrund standen. Wie sehr sich das gesamte Konzept quasi im luftleeren Raum bewegte, zeigte die Frage des (macht-)politischen Rückhalts. Neurath setzte die umfassenden Befugnisse des Zentralwirtschaftsamtes als gegeben voraus. Die Frage, ob die Regierung, die dieses Amt eingerichtet hatte, überhaupt stabil war bzw. seine weit gehenden Absichten aufrichtig unterstützte, blendete er offenbar aus. Sein Verhältnis zu den Ministern der MSPD, denen er mit der Mobilisierung der unzufriedenen Arbeiter drohte, war zudem von Anfang an problematisch. Die Rätebewegung wiederum, obwohl die einzige Kraft, die noch bereit war, den sozialen Wandel vorwärts zu treiben, hatte in Neuraths Ansatz keinen maßgeblichen Platz; zentralistische Steuerung ging hier vor Basisinitiative.47 Betriebsräte mit beratender Funktion waren das Äußerste, was Neurath zuzugestehen bereit war; auf Landesebene schwebte ihm ein „Arbeiter- und Bauernkontrollrat“ vor, der das Zentralwirtschaftsamt unterstützen sollte. Ein produktives Zusammenwirken mit der Räterepublik-Bewegung und ihren 47 Dazu Neurath: „Eine demokratische und sozialistische Verwaltung der Gesamtwirtschaft kann auch eine weitgehende Demokratisierung der Betriebe mit sich bringen. Dies ist aber keineswegs notwendig. [. . .] Eine Demokratisierung der Betriebe, die soweit geht, daß die technische Leitung durch Arbeiterräte, die Verwaltung ganzer Betriebsgruppen durch Ausschüsse höherer Ordnung erfolgt, bedeutet gesellschaftstechnisch eine Lähmung der Produktion. [. . .] Falsch ist es, wenn man vom Rätesystem eine Verbesserung der Lebenslage erwartet.“ (Neurath 1919, S. 7).
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Trägern war auf dieser Grundlage nicht möglich. Organisationstechnisch gesehen stand Neuraths Konzept quer zum Denken der deutschen Revolutionäre.48 Dessen ungeachtet behielt Neurath seinen Posten auch nach der Ausrufung der ersten Räterepublik, deren Führung ihm seine weitreichenden Kompetenzen beließ. Simon trat jedoch umgehend von seinem Ministeramt zurück, wodurch sein Schützling jeglichen Rückhalt in der Bamberger Regierung verlor. An Neuraths Umtriebigkeit änderte dies zunächst nichts. Er kümmerte sich u. a. um die Kontrolle des Bankwesens; der Gesetzentwurf zur Sozialisierung des Bergbaus wurde bereits erwähnt. Eine geordnete Durchführung hochkomplexer Veränderungen war unter den sich immer unübersichtlicher gestaltenden Verhältnissen allerdings ausgeschlossen. Nach dem Einmarsch der Regierungstruppen dauerte es noch bis zum 14. Mai, ehe Neurath seines Amtes enthoben wurde; kurz darauf wurde er verhaftet.49 Das Zentralwirtschaftsamt, das untrennbar mit seinem Schaffen verbunden war, wurde rasch liquidiert; es blieb eine singuläre Episode der deutschen Revolutions‐ geschichte.
7. Pressepolitik Spuren eines geplanten Regierungshandelns lassen sich während der Räterepubliken am ehesten noch im Bereich der Pressepolitik finden.50 Diese hatte zuvor schon eine wechselhafte Entwicklung genommen. Ministerpräsident Eisner, den ein besonderes Verhältnis mit dem Zeitungswesen verband, hatte im November 1918 umgehend die allgemeine Presse- und Meinungsfreiheit hergestellt. Daran hielt er auch dann fest, als sich rasch herausstellte, dass ein erheblicher Teil der Presse die neu gewonnene Freiheit dazu nutzte, ihn persönlich massiv zu diffamieren und zu verleumden. Nicht zu Unrecht führten Eisners Anhänger seine Ermordung auf die (stark antisemitisch gefärbte) Kampagne nahezu der gesamten bürgerlichen Presse zurück. Folgerichtig kam es Ende Februar 1919 zu ersten Zensurmaßnahmen des Zentralrates, der nun die Regie übernahm. Insbesondere die Münchner Neuesten Nachrichten, das auflagenstärkste Blatt der Landeshauptstadt, gerieten in den Fokus. In deren Druckerei wurde fortan das Nachrichtenblatt des Zentralrates hergestellt. Außer der Neuen Zeitung der USPD wurden alle anderen Blätter vorerst verboten. Kurz darauf, 48 Aufschlussreich wäre eine Studie, die einen direkten Vergleich anstellt zwischen Neuraths Plänen und den Vorstellungen zur Sozialisierung des Ruhrbergbaus, wie sie die Essener Neuner-Kommission entwickelt hat. 49 Neurath wurde nach sechswöchiger Untersuchungshaft im Juli 1919 zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt, die er allerdings nicht antreten musste. Im Februar 1920 erfolgte die Auslieferung an Österreich. Neurath übernahm in der Folgezeit keine politischen Ämter mehr, seine breit gefächerte wissenschaftliche und pädagogische Arbeit blieb allerdings stets stark im sozialdemokratischen Kontext verankert, sowohl in Österreich als auch im späteren Exil. 50 Vgl. Hoser 1990, S. 402-419.
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am 24. Februar, beschloss der bayerische Rätekongress – gegen den Widerstand der Kommunisten – allerdings, die Zeitungsverbote wieder aufzuheben. Dies jedoch nur unter Vorzensur und der Maßgabe, Mitteilungen des Zentralrates zu veröffentlichen. Das MSPD-Organ Münchener Post konnte ohne Zensur erscheinen, ebenso die Blätter von USPD, KPD und Bauernbund. Die bürgerlichen Blätter beugten sich unter Protest den Vorgaben der Räte. Am 16. März wurden die Zensurmaßnahmen gänzlich aufgehoben.51 Nach der Ausrufung der Räterepublik am 7. April kam es erneut zu massiveren Zensurmaßnahmen, die sich u. a. in „weißen Flecken“ auf den Zeitungsseiten ausdrückten. Der Zentralrat übernahm faktisch die Münchner Neuesten Nachrichten, um ein reichweitenstarkes Propagandaorgan zur Verfügung zu haben. Mit dem Abdruck expressionistischer Holzschnitte versuchten die neuen Machthaber, ihren politischen und ästhetischen Gestaltungswillen zu demonstrieren. Dies rief den Widerstand der betroffenen Drucker hervor, die mit sofortigem Streik drohten, falls man „die Sauköpf net auslassen täte“52. Die Regierung in Person des dafür zuständigen Volksbeauftragten Landauer machte umgehend einen Rückzieher. Auch in der Folgezeit zeigte sich, dass die Drucker in erster Linie am Erhalt ihrer Arbeitsplätze interessiert waren und sich deshalb auch mit den bürgerlichen Verlagen solidarisierten; dafür nahmen sie auch die Konfrontation mit der Räteregierung in Kauf. Da München von der Außenwelt bald weitgehend abgeschnitten war und selbst der Post- und Telegraphenverkehr eingestellt wurde, gab es nur noch wenige Nachrichten, die überhaupt publik gemacht werden konnten. Paul Hoser kommt in seinem Standardwerk zum Thema zu dem Ergebnis: „Eine effektvolle Pressepolitik ließ die kurze Dauer der ersten Rätephase [d. h. Räterepublik; B. A.] nicht zu. Auch die chaotischen Verhältnisse und der Mangel an Erfahrung und Entschlossenheit bei den Beauftragten für die Zeitungen verhinderten deren wirkungsvollen Einsatz als Propagandainstrumente.“53 Die führenden Protagonisten der zweiten Räterepublik riefen umgehend einen Generalstreik aus, der auch dazu führte, dass vom 15. bis zum 22. April überhaupt keine Zeitungen in München erscheinen konnten, mit Ausnahme der Mitteilungen des Vollzugsrates der Betriebs- und Soldatenräte, hergestellt in der Druckerei der Münchner Neuesten Nachrichten. Bezeichnend war folgender Vorgang: Die Drucker der Münchener Post, der Neuen Zeitung und selbst der Münchner Roten Fahne streikten aus Solidarität mit den zur Erwerbslosigkeit gezwungenen Kollegen und wollten damit das Wiedererscheinen der bürgerlichen Zeitungen erzwingen. In der 51 Der wöchentlich erscheinende Münchener Beobachter – der Vorläufer des Völkischen Beobachters – wurde Ende Februar 1919 für zwei Wochen verboten, danach erschienen wieder zwei Ausgaben unter der Aufsicht des Zentralrates. Bis zum 12. April konnte das Blatt dann noch erscheinen. (Vgl. Plöckinger 2013, S. 196). 52 Hoser 1990, Zitat: S. 413. 53 Ebd., S. 414.
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Betriebsräteversammlung, die am 24. April im Hofbräuhaus stattfand, drohte Levinè daraufhin mit dem Rücktritt des Aktionsausschusses für den Fall, dass die bürgerlichen Zeitungen tatsächlich wieder erlaubt werden sollten. Zusammen mit weiteren Konflikten zwischen KPD- und USPD-Vertretern führte dies wenige Tage später zum Ende der kommunistisch geführten Räteregierung. Nachdem die drei Blätter der Arbeiterparteien bereits seit dem 25. April wieder erscheinen konnten, beschloss die Betriebsräteversammlung am folgenden Tag, auch die bürgerlichen Zeitungen ab dem 28. April wieder zuzulassen – allerdings unter Vorzensur. Die KPD-Funktionäre hatten sich mit ihren Bemühungen, alle – vor allem bürgerliche – abweichende Meinungen mit diktatorischen Maßnahmen aus dem öffentlichen Diskurs auszuschalten, nicht durchsetzen können. Die Wiederzulassung der bürgerlichen Presse war in den Augen der Kommunisten ein Beschluss, „der der Idee der Diktatur des Proletariats, auf der ja die gesamte Politik der kommunistischen Räterepublik beruhte, ins Gesicht schlug.“54 Zu der Art von „Diktatur des Proletariats“, die den Münchner Kommunisten vorschwebte, waren die Betriebsräte in der Tat nicht bereit. Daraufhin zogen sich die kommunistischen Mandatsträger, wie bereits geschildert, widerstandslos aus ihren Ämtern zurück.
8. Ausblick Angesichts weiterhin fortbestehender Legendenbildungen bedarf es bezüglich der Münchner Räterepubliken noch einmal einer Klarstellung: Die erste wurde von der USPD, Teilen der MSPD, dem Bayerischen Bauernbund und einigen Anarchisten getragen; die Münchner Kommunisten lehnten eine Teilnahme ab. Die zweite wird bis heute meist als „kommunistisch“ bezeichnet, was aber nur bedingt zutrifft, da auch hier in den führenden Gremien ebenso Mitglieder der MSPD und der USPD vertreten waren. Von einer Diktatur im heute gebräuchlichen Sinne des Wortes kann ebenfalls nicht gesprochen werden, da der leitende Aktionsausschuss weder bereit noch in der Lage war, ohne Rücksicht auf Widerstände „durchzuregieren“. Er traf mitunter auf erheblichen (und erfolgreichen) Widerstand von Seiten der Arbeiterschaft, wie am Beispiel der Pressepolitik gezeigt werden konnte. Entscheidendes Gremium war die Versammlung der Betriebs- und Soldatenräte, die sehr wohl die Macht besaß, die Führungsorgane nach Belieben umzubilden. Der Aktionsausschuss verfügte weder über die Mittel noch über die Gewaltbereitschaft, um eine durchgreifende Diktatur zu errichten.
54 „Vom Tage“. (Münchner Rote Fahne Nr. 29 vom 29.4.1919).
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Daneben bleibt die Tatsache bestehen, dass die Räteregierungen weder lokal geschweige denn landesweit Mehrheiten und damit eine klassische demokratische Legitimation hinter sich hatten. Zu bedenken ist dabei, dass keineswegs nur Anhänger des kommunistischen Diktaturmodells dieses Defizit während einer revolutionären Umbruchphase für akzeptabel hielten. Selbst die am 17./18. März gebildete Regierung Hoffmann war faktisch eine Minderheitsregierung; sie wurde von bürgerlichen Parteien toleriert, um die aufgewühlte Lage in München wieder zu beruhigen. Kein Zweifel kann darüber bestehen, dass die Anhänger der Räteherrschaft von völlig illusionären Vorstellungen ausgingen, dies gilt insbesondere für den linken Flügel der USPD. Auch nur innerhalb Bayerns eine breitere Basis zu gewinnen, war kurzfristig vollkommen ausgeschlossen. Da die Entschlossenheit, eine Gewaltherrschaft zu errichten, jenseits der KPD völlig fehlte, blieb nur die Wahl zwischen freiwilligem Rückzug und aussichtslosem Kampf. Die Gewaltbereitschaft, die den Räterepublikanern abging, brachten ihre Gegner im Übermaß mit. Die brutale Niederwerfung der Münchner Räterepublik wurde zum Gründungsmythos der Konterrevolution, der sich als ausgesprochen langlebig und wirkmächtig erweisen sollte. Der Verweis auf den „roten Terror“, der in München angeblich geherrscht habe, wurde zum Propagandainstrument mit psychologischer Tiefenwirkung. Was bleibt nun in der Rückschau auf die revolutionären Ereignisse vom Begriff der „Diktatur des Proletariats“ übrig, nachdem er eine so steile Karriere gemacht – und so Vieles gemeint – hatte? Und: Wie lässt sich ein Begriff mit derart vielen Okkurrenzen mit Hilfe des Instrumentariums von Reinhard Koselleck analysieren? 1.: Nach der militärischen Niederschlagung der Rätebewegung, die im Münchner Blutbad ihren letzten Höhepunkt fand, war die Kluft innerhalb der Arbeiterbewegung so tief, dass eine Einheitsfront unter dem Schlachtruf der „Diktatur des Proletariats“ in weite Ferne gerückt war. Noch am 27. April – d. h. kurz vor dem Angriff der Regierungstruppen auf München – hatte Simon auf einer öffentlichen Versammlung in Fürth erklärt: „Schon bei Eisners Tod stand die Räterepublik zur Debatte, man stand unter dem Eindruck, daß der Parlamentarismus abgewirtschaftet hat. Ich war aber damals gegen die Diktatur des Proletariats, weil ich auf dem Standpunkt stehe, daß die Diktatur von den geeinigten sozialistischen Parteien ausgeübt werden müßte und nicht von einem Teil des Proletariats über den anderen. Die Räterepublik kann nur erstehen auf dem Boden des geeinigten Proletariats. Jeder andere Weg führt zum Bruderkrieg.“55 An ein Vorgehen der „geeinigten sozialistischen Parteien“, das die USPD angestrebt hatte, war vorerst nicht mehr zu denken. Es kam später nur noch bei defensiven Aktionen zustande (Abwehr des Kapp-Putsches, Protest
55 „Die Unabhängige Sozialdemokratie und das Ministerium Hoffmann.“ (Fürther Zeitung Nr. 98 vom 28.4.1919).
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gegen den Rathenau-Mord). Wenige Jahre nach Ende der Revolution hatte sich hier Ernüchterung breitgemacht.56 Während die Kommunisten in der Folgezeit mit größerer Selbstverständlichkeit als Andere die „Diktatur des Proletariats“ im Munde führten, blieb dieser Kampfbegriff auch in der Sozialdemokratie unterschwellig präsent. Der ehemalige USPDMinister Unterleitner, der 1922 zur wiedervereinigten SPD zurückkehrte, erklärte im November 1919: „Über die Diktatur des Proletariats brauchen wir uns nicht zu streiten, denn es versteht sich ganz von selbst, daß die Arbeiterklassen nach ihrem Siege die Herrschaft nur allein ausüben können, bis die Klassenunterschiede überhaupt beseitigt sind.“57 Der noch deutlich weiter „rechts“ stehende Wilhelm Hoegner urteilte 1934 im Rückblick auf die Revolution: „Die Mehrheitssozialisten aber hatten Bedenken, gegen den Willen der bürgerlichen Mehrheit der Nationalversammlung eine Art gemäßigter Diktatur des Proletariats mitzumachen.“58 Was unter einer solchen zu verstehen wäre – bzw. was Hoegner darunter verstand – , dürfte nicht einfach zu klären sein. Auch nach dem Ende der Revolution blieben somit weiterhin zwei deutlich unterscheidbare Interpretationen der „Diktatur des Proletariats“ bestehen. Neben der weit verbreiteten kommunistischen Deutung, die – im Zeichen des Stalinismus mehr denn je – auf gewaltsame Unterdrückung setzte, gab es noch eine weitere, heute kaum noch bekannte. Diese schloss an Kautsky an und sah in der „Diktatur des Proletariats“ ein Mittel, um den Übergang vom kapitalistischen Obrigkeitsstaat zur sozialen Demokratie zu organisieren. Diese zweite Deutung befand sich allerdings eindeutig auf dem Rückzug59 und ist inzwischen verschwunden, ein in der Begriffsgeschichte durchaus nicht seltenes Phänomen. 2.: Kosellecks Monumentalprojekt, den „Geschichtlichen Grundbegriffen“, wurde und wird – nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, sie bevorzugten „die theoretisch ambitionierte Höhenkammliteratur, erfasst[en] also im Wesentlichen die politisch56 Symptomatisch dafür war ein Artikel aus dem Organ der Münchner USPD, der angesichts des bevorstehenden Parteitages feststellte: „Die deutsche Arbeiterklasse kann also ein Maximum an staatspolitischer Kraft nur geltend machen durch eine große, gutfunktionierende Wahlmaschine. Das klingt sehr profan. Aber kein Bekenntnis zum unverfälschten Klassenkampf und zur Diktatur des Proletariats kann uns darüber hinweghelfen.“ („Die Aufgaben des Parteitages“; Münchener Morgenpost Nr. 120 v. 28.12.1921). 57 „Generalversammlung der U.S.P. München“. (Der Kampf Nr. 142 vom 16.12.1919). 58 Hoegner 1989, S. 79. 59 In der Mehrheitssozialdemokratie wurde der Begriff „Diktatur des Proletariats“ kaum noch als positiver Referenzpunkt verwendet. Das Münchner MSPD-Organ dekretierte dazu: „Die Diktatur der proletarischen Klasse ist heute unmöglich – selbst nach Ansicht unabhängiger Theoretiker.“ („Diktatur des Proletariats.“ Münchener Post Extra-Ausgabe v. 5.6.1920). Wohl kein Zufall war, dass in dem gemeinsamen „Aktionsprogramm“, das die Basis für die Wiedervereinigung von MSPD und USPD im September 1922 bildete, die „Diktatur des Proletariats“ nicht mehr vorkam. Der Begriff wurde damit „offiziell“ aus dem sozialdemokratischen Diskurs verabschiedet.
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soziale Semantik der gebildeten Schichten.“60 Diese Problematik stellt sich im vorliegenden Fall kaum. Der Gebrauch des Begriffes „Diktatur des Proletariats“ war kein Elitenphänomen, er wurde während der Revolutionsmonate zu einem Gegenstand der politischen Alltagspraxis. Kurz: Der Begriff war allen politisch Interessierten geläufig, anders als etwa die semantischen Feinheiten des Revisionismusstreits, den sich Kautsky und Eduard Bernstein um die Jahrhundertwende in auflagenschwachen Theorieorganen geliefert hatten. Handelt es sich bei dem Begriff der „Diktatur des Proletariats“ also um einen „Geschichtlichen Grundbegriff“? Nach Koselleck kann man von einem solchen sprechen, „sobald alle konfligierenden Schichten und Parteien gemeinsam auf ihn angewiesen bleiben, um ihre unterschiedlichen Erfahrungen, ihre schichtenspezifischen Interessen, ihre parteipolitischen Programme miteinander zu vermitteln. Grundbegriffe erheischen ihre Verwendung, weil sie jene minimalen Gemeinsamkeiten erfassen, ohne die überhaupt keine Erfahrungen zustande kämen, ohne die weder gestritten werden könnte noch Konsens zu finden wäre.“61 Für die Zeit der Revolution sind diese Kriterien für die „Diktatur des Proletariats“ gewiss erfüllt. Die Stärke von Kosellecks Konzept liegt auch darin, dass es die Dynamik der Sprache einbezieht und nutzbar macht. Nur dadurch lässt sich ein so schillernder und diffuser Begriff wie der der „Diktatur des Proletariats“ wenigstens ansatzweise in den Griff bekommen. Auch und gerade in diesem Fall gilt: „Durchgehaltene Worte sind für sich genommen kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte.“62 Anders formuliert: Man steigt nie zwei Mal in den selben Wörterfluss.
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Die Transformation der Diktatur: Begriff und Herrschaft
Stefan Weise Die „Arbeiterregierung“. Eine Vorstufe der proletarischen Diktatur?
Eine kommunistische Regierungsbeteiligung wurde in den frühen Jahren der Weimarer Republik unter dem Schlagwort der Arbeiterregierung diskutiert. Dabei scheint das Anliegen paradox, immerhin galt der KPD die Überwindung der parlamentarischen Demokratie und der Eigentumsverhältnisse durch die Diktatur des Proletariats als Ziel. Die Arbeiterregierung warf damit immer auch das Verhältnis der KPD zum Weimarer Staat auf.1 Im Folgenden wird gezeigt, wie sich der anfangs weitgehend unbestimmte Begriff zu einem politischen Konzept im Spannungsfeld zwischen revolutionärem Begehren und taktischer Notwendigkeit entwickelte. Der Fokus liegt dabei auf der deutschen Diskussion, die in dem KPD-Theorieorgan „Die Internationale“ geführt wurde, da die Kommunistische Internationale (Komintern) der Entwicklung in der Weimarer Republik als hochindustrialisiertes Land in Zentraleuropa eine herausragende Bedeutung für den Fortgang der erhofften Weltrevolution beimaß.
1. Die Arbeiterregierung bei Marx und Engels Im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus wird die Arbeiterregierung in der Verwendung von Karl Marx „als die Regierung der Diktatur des Proletariats“2 interpretiert. Werner Mackenbach stützt seine Auslegung auf Karl Marx, der 1871 in seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schrieb, die Kommune sei „als eine Arbeiterregierung, als der kühne Vorkämpfer der Befreiung der Arbeit, im vollen Sinn des Worts international“3 gewesen. An anderer Stelle schrieb Marx, sie sei „verkündet als Krieg der Arbeit gegen die Monopoleigentümer an den Arbeitsmitteln, gegen das Kapital.“4 Als Arbeiterregierung kennzeichnete die Kommune nach Marx u.a. die Abschaffung des stehenden Heeres, die allgemeine Volksbewaffnung und imperative Mandate der Abgeordneten, die selber Arbeiter oder deren anerkannte Vertreter sein sollten. Beamte, Richter und die Polizei waren ebenfalls an imperative Mandate gebunden. Darüber hinaus war die Kommune als „arbeitende 1 2 3 4
Vgl. Bavaj 2006. Mackenbach 1996, Sp. 482. Marx 1871b, S. 346. Marx 1871a, S. 558.
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Körperschaft“ zugleich gesetzgeberische und vollziehende Gewalt, anstatt der parlamentarischen Gewaltenteilung verpflichtet.5 Daraus jedoch auf eine Identität von Arbeiterregierung und Diktatur des Proletariats zu schließen, ist begriffsgeschichtlich falsch. Zum einen bezeichnete Marx die Pariser Kommune in seiner Schrift an keiner Stelle als Diktatur des Proletariats, das machte Friedrich Engels erst zwanzig Jahre später.6 Zum anderen ist das nicht die einzige Passage, in der Marx und Engels den Begriff der Arbeiterregierung verwendeten. Denn der tauchte bereits in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850“ auf. Dort hieß es, wenn im revolutionären Prozess die alte Macht durch das Bündnis der bürgerlichen Demokraten mit der Arbeiterschaft gestürzt sei, dann müsse letztere „neben den neuen offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees, errichten, so daß die bürgerlichen demokratischen Regierungen nicht nur sogleich den Rückhalt an den Arbeitern verlieren, sondern sich von vornherein von Behörden überwacht und bedroht sehen, hinter denen die ganze Masse der Arbeiter steht.“7
Als Konsequenz der gescheiterten Revolution von 1848/49 argumentierten sie, dass sich die Arbeiterklasse unabhängig von den bürgerlichen Demokraten organisieren muss, um die Revolution siegreich zu bestreiten. Hier war die Arbeiterregierung eine Doppelregierung gegen die bürgerlich-demokratische, die einer Integration des Proletariats in den bürgerlichen Staat vorbeugen und ihm so Legitimität entziehen sollte. Dafür stützte sie sich nicht auf das Parlament, sondern auf proletarische Organisationen. Darüber hinaus galt es, eigene bewaffnete proletarischer Formationen auszubilden. Damit war die Arbeiterregierung in diesem Verständnis ein Mittel zum Weitertreiben der „Revolution in Permanenz“, wie sie in der Ansprache bezeichnet wurde. In den Texten von Marx und Engels war die Arbeiterregierung also nicht identisch mit der Diktatur des Proletariats und lediglich eine konzeptionell nicht weiter ausgearbeitete Randnotiz. In beiden Fällen wurde sie verstanden als eine Regierung, die dem bisherigen Staat eine eigene Machtstruktur gegenüberstellte. Im Gegensatz zur Charakterisierung der Arbeiterregierung im „Bürgerkrieg“, war sie in der „Ansprache“ vor allem nicht als längerfristige Herrschaftsinstitution verstanden worden, sondern als zweckgebundenes und zeitlich begrenztes Moment im revolutionären Prozess. Auch wenn dieser Rekurs in den 1920er Jahren nicht bemüht wurde, entsprach dieses Verständnis viel mehr den ersten Jahren der Weimarer Republik, als
5 Vgl. Marx 1871a, S. 338ff. und Mackenbach 1996, Sp. 482. 6 Vgl. Engels 1891, S. 625. 7 Marx; Engels 1850, S. 250.
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sich die Arbeiterregierung Stück für Stück als kommunistisches politisches Konzept herausbildete.
2. Die Diskussion um die Arbeiterregierung im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920 Als am 13. März 1920 der Kapp-Lüttwitz-Putsch begann, wurde die Verwundbarkeit der jungen Weimarer Republik durch die radikale Rechte offenkundig. Nur dem Generalstreik der Arbeiterschaft, an dem sich bis zu zwölf Millionen Menschen beteiligten, und dem Unwillen der Ministerialbürokratie, den Anweisungen der Putschisten Folge zu leisten, war es zu verdanken, dass der geplante Sturz der Republik bereits am 17. März ein jähes Ende fand.8 Der von allen Arbeiterparteien und den Gewerkschaften getragene Streik entfachte Hoffnungen, bisher uneingelöste sozialökonomische Forderungen umzusetzen. In dieser Situation schlug am 17. März der Vorsitzende des ADGB, Carl Legien (MSPD), dem ZK der USPD überraschend vor, eine Arbeiterregierung zu bilden. Er wollte den aus der Flasche gelassenen Geist des Aufbegehrens wieder in geordnete Bahnen lenken. Allerdings wies die USPD, in sich tief zwischen ihrem linkem und rechtem Flügel zerrissen, das Angebot umgehend zurück.9 Der Grund für das Nichtzustandekommen einer Arbeiterregierung aus MSPD und USPD wird häufig in der Intransigenz der USPD-Linken gesehen,10 inwiefern sie eine tatsächliche Option war, wurde insbesondere in der DDR-Historiographie intensiv diskutiert.11 Als Alternative brachte Legien gegenüber Reichskanzler Gustav Bauer (MSPD) eine Regierung mit den bürgerlichen Parteien ins Spiel, deren Minister aus Arbeitern bestehen sollte. Hier war die Arbeiterregierung soziologisch gedacht, festgemacht an den Arbeitsbiographien der zu berufenden Minister – ein Vorschlag, der sich ebenfalls nicht durchsetzte.12 Tatsächlich war Legiens Vorschlag unrealistisch. Die auf Verfassungskonformität pochende MSPD wäre nie in eine von den Gewerkschaften unterstützte Regierung mit der USPD eingetreten, die über keine parlamentarische Mehrheit verfügte. Das wusste natürlich Carl Legien, der zwar an einer Ausweitung des gewerkschaftlichen Einflusses interessiert war, durch seinen Vorstoß aber das Ziel verfolgte, „den Radikalen soweit den Wind aus den Segeln zu nehmen und einen disziplinierenden Einfluß auf sie auszuüben.“13
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Vgl. Schönhoven 1989, S. 9-38. Vgl. Koenen 1962, S. 342 - 352. Vgl. bsp.: Rosenberg 1975, S. 98; Flechtheim 1986, S. 119. Vgl. neben Koenen: Naumann; Voigtländer 1963, S. 461-474; Könnemann 1963, S. 904-921. Vgl. Winkler 1984, S. 315ff. Miller 1984, S. 317.
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Eine Regierungsbeteiligung stand damals für die KPD nicht zur Debatte, zumal die Partei über keine Mandate im Reichstag verfügte und sich erst kurz zuvor für die Beteiligung an Wahlen ausgesprochen hatte. Allerdings musste sich die Partei erstmals zur Regierungsfrage verhalten, was insbesondere für den linken Flügel der USPD von Interesse war. Als diese Frage am 21. März während der Sitzung der Berliner Streikleitung zur Sprache kam, kritisierten Wilhelm Pieck und Jacob Walcher die Regierungsunwilligkeit der USPD und gaben gegenüber einer Arbeiterregierung eine Loyalitätserklärung ab, die Stein des Anstoßes des innerkommunistischen Streits wurde.14 Die Loyalitätserklärung baute auf die Einschätzung, dass mangels der militärischer Macht des Proletariats und der geringen Massenbasis der Partei „die objektiven Grundlagen für die proletarische Diktatur im gegenwärtigen Moment nicht gegeben sind […].“ Deswegen strebe man einen Zustand an, in dem „die bürgerliche Demokratie nicht als Diktatur des Kapitals auftreten“ könne. Daher erblickte man in einer „sozialistischen Regierung unter Ausschluß von bürgerlich-kapitalistischen Parteien einen erwünschten Zustand für die Selbstbetätigung der proletarischen Massen und ihr Heranreifen für die Ausübung der proletarischen Diktatur.“ Ihr gegenüber kündigte man „eine loyale Opposition“ an, was bedeutete, dass man „[k]eine Vorbereitungen zum gewaltsamen Umsturz“15 betreiben werde. Arbeiterund sozialistische Regierung wurden synonym gebraucht. Das USPD-Zentralorgan „Freiheit“ sah den eigentlichen Zweck des kommunistischen Taktierens darin, ihr „wrack gewordenes Parteischiffchen wieder flott machen zu können“, da sie „ein kleines Häuflein von Führern ohne Massen“ sind. Ohne die Last der Regierungsverantwortung könnten sie sich als „die allein konsequenten Vertreter der Arbeiterinteressen“ darstellen und so wieder „Massen hinter sich bekommen.“16 Allerdings hatte die abgegebene Erklärung nur kurzen Bestand. Der KPD-Zentralausschuss kassierte die Erklärung mit 12 von 19 Stimmen, da sie „ablenkend“ wirkte. Denn Koalitionsfragen seien „von durchaus sekundärer Bedeutung gegenüber dem Kampf des Proletariats für seine Bewaffnung und dem Ausbau der Arbeiterräte“, schließlich sei das Parteiziel „die realen Machtverhältnisse mit revolutionären Mitteln zu ändern.“17 Eine Resolution von Heinrich Brandler und August Thalheimer, die zwar die Intension für richtig, aber den Zeitpunkt für falsch hielten, setzte sich nicht durch. So erteilte die Mehrheit der indirekten Regierungsverantwortung eine prinzipielle Absage. Der im April 1920 tagende IV. Parteitag bestätigte diesen Beschluss mit 37 gegen 6 Stimmen.18
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Vgl. Broué 2005, S. 361-371. Erklärung der Zentrale der K. P. D. (Spartakusbund), in Rote Fahne vom 26. März 1920. Unehrliches Spiel, in: Freiheit vom 24. März 1920. Die Resolutionen sind abgedruckt in: Spartakus 1920, S. 163f. Vgl. Bericht über den 4. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands, S. 53.
Ernst Meyer, der damals dem linken Flügel der Partei angehörte und erst später Exponent der ‚revolutionären Realpolitik‘ wurde, wollte den schwelenden Parteistreit mit der Autorität der Komintern beenden und kontaktierte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI).19 Denn im Organ der Komintern, „Die kommunistische Internationale“, war ein Bericht von Mieczysław Broński unter dem Pseudonym „Spartakus“ veröffentlicht und in Deutschland mit Nachdruck verbreitet worden, das die loyale Opposition stützte.20 Darin hieß es, dass eine Arbeiterregierung zwar scheitern müsse, die den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit durch das Parlament aufheben wolle, allerdings helfe sie „ein Exempel zu statuieren für die Unmöglichkeit, den Sozialismus ohne die Diktatur des Proletariats durchzuführen.“21 Meyer setzte dem die getroffenen Parteibeschlüsse entgegen und bat um die Einschätzung des EKKI, da in einigen Ländern Mehrheiten aus MSPD und USPD vorhanden waren und er bei der nächsten Reichstagswahl mit einer solchen Mehrheit rechnete.22 Karl Radek stützte die Position Meyers, nachdem das EKKI den Sachverhalt am 18. Juni diskutiert hatte.23 Er bestärkte die Parteibeschlüsse, denn die Haltung der Zentrale sei durchweg paradox gewesen, schließlich habe man bisher dem linken Flügel der USPD „durch Prügel beigebracht [...], daß es keine Arbeiterregierung geben kann, die sich nicht auf die Räte der Arbeiterklasse stützt, die nicht eine Räteregierung ist [...].“24 Die Ursache sah Radek darin, dass der Kampf gegen den Putschismus innerhalb der Partei – gemeint war das Herausdrängen des strikt antiparlamentarischen Flügels zum II. Parteitag – bei einigen ZK-Mitglieder zu einem gänzlichen Misstrauen gegenüber Aktionen geführt habe. Jedoch herrschte bei den Autoritäten der Komintern nicht der suggerierte Konsens. Denn Lenins im Vorfeld des II. Weltkongresses verbreitete Schrift „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“25 gab den Befürwortern der Loyalitätserklärung Aufwind. Lenin befand, die Erklärung war „sowohl ihrer Hauptvoraussetzung nach als auch ihrer praktischen Schlußfolgerung nach vollkommen richtig.“26 Lediglich einige Formu-
19 Vgl. Wilde 2018, S. 121ff. 20 Vgl. Spartakus 1920. Im selben Jahr ebenfalls unter dem Pseudonym M. J. Braun In: Die Internationale, H.23, S. 22-37 und H.24, S. 4-18 sowie als Broschüre in Leipzig 1920. 21 Ebd., S. 9 (Hervorhebung im Original). 22 Als Erstveröffentlichung und „geheimer Bericht“ von Ernst Meyer an die Komintern abgedruckt in: Weber 20185, Dok.22. Allerdings wurde der Brief ohne die namentliche Erwähnung der ZK-Mitglieder bereits 1920 als „offenes Schreiben“ 1920 abgedruckt. Vgl. Die kommunistische Internationale, H.12, S. 151-154. 23 Vgl. Weber, Herman [Hrsg.] 2015, Dok. 24. 24 Radek 1920, S. 168. 25 Zwar bezog sich auch Radek auf den Text von Lenin, allerdings ignorierte Radek Lenins Anmerkungen zur loyalen Opposition – oder sie war ihm nicht bekannt. Radeks Text entstand um den 18./19. Juni, während Lenins Passage im für die internationale Druckfassung angefügten Nachtrag zu finden ist. Vgl. Lenin 1920. 26 Ebd., S. 97.
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lierungen bemängelte er ob der ideologischen Stringenz, so sei es falsch von einer sozialistischen Regierung zu sprechen; den Begriff der Arbeiterregierung nutzte er in diesem Zusammenhang nicht. Das nahmen die deutschen Befürworter der Loyalitätserklärung dankbar auf: Als Paul Fröhlich gegen sie polemisierte, man dürfte dem Parteiaufbau „nicht unseren Legalitäts- und Organisationsbedürfnissen zum Opfer bringen,“27 diagnostizierte Thalheimer im Gegenzug einen „Rückfall von ‚Kinderkrankheit‘“. Es zeige sich, „daß ein Rest der Taktik, die für die Periode der reinen Propaganda angemessen war, noch zu überwinden ist.“ Denn nun gelte es „die revolutionäre Ausnützung der Gewerkschaften und Parlamente“28 zur Taktik der KPD zu machen. Dahingegen blieb es für die kommenden Jahre das dominante Parteiverständnis des linken Flügels, die KPD als außerparlamentarische Kampfpartei festzulegen.
3. Die Arbeiterregierung und die Einheitsfront Eine Regierungsbeteiligung der KPD wurde erst nach dem massiven Mitgliederzuwachs infolge der Spaltung der USPD 1920 eine realistische Option, während der Großteil der verbliebenen USPD Ende 1922 zur SPD zurückkehrte. Die Auseinandersetzung um die Bestimmung der Arbeiterregierung intensivierte sich im Zuge der Einheitsfrontpolitik der Komintern. Vorausgegangen war das folgenschwere Intermezzo der Märzaktion 1921. Die Verfechter dieser Offensivtheorie forcierten die revolutionäre Aktion, selbst wenn dafür – zumindest zeitweilig – die Parteiorganisation geopfert werden müsse. Der Versuch, durch einen bewaffneten Aufstand zur Macht zu gelangen, mündete in einer folgenschweren Niederlage: Hunderte starben, Tausende wurden verhaftet und verurteilt und die Partei verlor mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder.29 In der Komintern setzte sich die Überzeugung durch, dass die Weltrevolution keine Frage von Monaten, sondern von Jahren sei. Auf ihrem III. Weltkongress 1921 rückte man mit der Losung ‚Heran an die Massen!‘ von der unmittelbaren Revolutionsorientierung ab. Das korrespondierte nicht zuletzt mit der politischen und ökonomischen Instabilität der jungen Sowjetunion, die mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) den Kriegskommunismus beendete.30Durch Tagesforderungen wie etwa Lohn- und Arbeitszeitkämpfe von unten und punktuelle Kooperationen mit der MSPD und den freien Gewerkschaften von oben sollten die nichtkommunistischen Arbeiterinnen und Arbeiter radikalisiert und auf die Seite der KPD gezogen werden. Die Diktatur des Proletariats wurde damit nicht ersetzt, 27 28 29 30
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Fröhlich 1920, 29f. Thalheimer 1920, S. 9. Vgl. Angress 1973, S. 140-203 und Winkler 1984, S. 514-520. Vgl. Braunthal 1974, S. 255-258.
sondern lagerte ihr die Einheitsfront und mit ihr die Arbeiterregierung als taktische Wegmarke vor. Die Grundlage dieser als Einheitsfront bekannt gewordene Politik legte der Weltkongress, begrifflich zog er mit den Dezemberthesen des EKKI 1921 ins allgemeine Vokabular ein. Auch ehemalige Protagonisten des linken Flügels, wie etwa Ernst Meyer, orientierten sich nun auf die Einheitsfrontpolitik.31 Auf dem Jenaer Parteitag im August 1921 wurde die neue politische Leitlinie in der deutschen Partei durchgesetzt. In Thüringen erklärte sich die KPD bereit, eine Koalition aus MSPD und USPD zu tolerieren, darüber hinaus sprach sich die Partei für eine reichsweite Sachwerterfassung aus, für deren Durchsetzung auch Karl Radek den Eintritt der KPD in Regierungsverantwortung befürwortete.32 Die mehr auf Übergangsforderungen und Etappenziele orientierte Einheitsfrontpolitik polarisierte die kommunistischen Parteien. 1922 erhielt die Diskussion eine besondere Schärfe. Der Grund dafür war, dass einerseits innerhalb der KPD die Diskussion um den Programmentwurf der Komintern geführt wurde. Die Geister schieden sich an der Frage, ob in der programmatischen und damit langfristigeren strategischen Ausrichtung der Komintern die Einheitsfront und die Arbeiterregierung, kurzum taktische Aspekte und ‚Übergangsforderungen‘, fixiert werden sollten. Andererseits wurde die Diskussion vor dem Hintergrund der absehbaren Landtagswahlen in Sachsen geführt, wo eine sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit möglich war. Den Auftakt der Debatte machte Paul Böttcher im Mai 1922 mit seinem Artikel „Sozialdemokratisch-kommunistische Regierung?“. Er trat für eine Regierungsbeteiligung ein, sofern folgende Punkte durchgesetzt werden können: 1. Wichtige Gesetzesvorschläge müssen von einem aus Betriebsräten gebildeten Arbeiterparlament beraten werden, 2. Die Partei darf trotz Regierungsbeteiligung propagandistisch nicht daran gehemmt werden anstelle des Parlamentsstaates die Räterepublik zu setzen, 3. Nicht weiter ausgeführte „bestimmte Bedingungen“ an die anderen beteiligten Parteien sowie 4. Die kommunistischen Minister müssen stets im Einvernehmen mit der Partei handeln. Böttcher sah seine Position auf einer Linie mit der Komintern und den Beschlüssen des Zentralausschusses der KPD. Dieser erwog im Januar 1922 unter gewissen Voraussetzungen eine kommunistische Regierungsbeteiligung, um so die „Auflösung der legalen und illegalen gegenrevolutionären Verbände, Umwandlung der Polizei und Justiz zu Klassenorganen des Proletariats, Freilassung der verurteilten Revolutionäre, Erweiterung der Rechte der Betriebsräte usw.“ zu erreichen. Das Ziel war, so Böttcher, „mit Hilfe der proletarischen Massen außerhalb der Regierung den Boden vorzubereiten für das Sowjetsystem.“ Sich der innerpartei-
31 Vgl. Wilde 2018, S. 143ff. 32 Vgl. Angress 1973, S. 235-244.
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lichen Widerstände bewusst, sah er allerdings endgültigen Klärungsbedarf durch den IV. Weltkongress der KI.33 Die Gegenstimmen ließen nicht lang auf sich warten. Kurz darauf veröffentlichte „Die Internationale“ eine Replik, mit der sie ganz offiziell „die Diskussion über die Frage der Teilnahme von Kommunisten an einer Arbeiterregierung“34 eröffnete. Die Replik wendete sich grundsätzlich gegen eine Regierungsbeteiligung, da bereits die Strategie der Entlarvung nicht funktioniert habe. Denn „[n]icht die tagtägliche Blamage ihrer Führer sahen die Arbeiter (sie glauben an die sog. vorläufigen Schönheitsfehler), sondern der Glaube an die Macht und die Fähigkeit einer Regierung nahm ihnen die Aktivität.“35 Allerdings waren es gerade die spezifischen Voraussetzungen, die eine Arbeiterregierung von klassischen parlamentarischen Koalitionsregierungen unterscheiden sollte. Den legitimatorischen Spagat zwischen bürgerlich-parlamentarischer Regierungsbildung und proletarischer Rückbindung sollten die Betriebsräte garantieren. Dieses gesetzlich legitimierte Überbleibsel der Rätebewegung des Jahres 1920 habe sich, wie es Karl Korsch formulierte, „als der am weitesten vorgeschobene Posten der proletarischen Armee zu betrachten, als wirkliche Kämpfer in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kampfe, der in seiner äußersten Zuspitzung notwendigerweise zugleich einen politischen Kampf bedeutet.“36 In der konzeptionellen Überlegung übernahmen die Betriebsräte den Platz der Arbeiterräte, die im Verlauf des Jahres 1919 aufgehört hatten zu existieren. Sie sollten, wie August Kleine festhielt, die Garantie für die „unmittelbare Einwirkung der Arbeitermassen auf die Regierung und deren Kontrolle“37 sein. Böttcher stellte fest: „Die Existenz der Arbeiterregierung ist deshalb gebunden an die Existenz des Betriebsrätekongresses resp. seiner Exekutive.“38 August Thalheimer gab diesem paradoxen Ding Arbeiterregierung, das zwar im Parlament entstehen, aber nicht darauf festgelegt sein sollte, einen universalisierbaren Rahmen: „Die ‚Arbeiterregierung‘ steht an der Grenze des bürgerlich-demokratischen Staates, sie muß notwendigerweise über diese Grenze hinausführen, aber sie beginnt diesseits dieser Grenze. Sie hat einen zwiespältigen, widerspruchsvollen Doppelcharakter. Sie hat formell noch zu ihrer Voraussetzung parlamentarische Institutionen. Materiell ist jedoch ihre Voraussetzung und Grundlage eine solche starke Machtorganisation der Arbeiterklasse, daß diese Regierung befähigt ist, ein Machtinstrument der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie zu sein. Es besteht also ein Widerspruch zwischen der Form dieser
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Zitate in der Reihenfolge: Böttcher 1922a, S. 475; 473; 474. (Hervorhebungen im Original). Redaktionelle Anmerkung zu Thomas 1922, S. 550. Ebd., S. 552. Korsch 1922, S. 382. Kleine 1922, S. 595. Böttcher 1922b, S. 575.
Regierung (die noch bürgerlich-demokratisch ist), und ihrem materiellen Inhalt (der proletarisch ist). [...] Die Voraussetzung der Arbeiterregierung ist offenbar die, daß die Arbeiterklasse noch zu großen Teilen in den Vorstellungen der bürgerlichen Demokratie befangen ist, dass sie jedoch bereits rebellisch gegen den bürgerlichen Klasseninhalt der Demokratie wird, daß sie also glaubt, den proletarischen Klasseninhalt noch in die Form der bürgerlichen Demokratie gießen zu können. Die Arbeiterregierung erlaubt den breiten Massen des Proletariats durch ihre eigene Massenerfahrung, an der Hand praktischer Notwendigkeiten, die bürgerlich-demokratische Illusion abzustreifen. Das und nichts anderes ist der Sinn der Arbeiterregierung.“39
Thalheimer formulierte als zentraler Theoretiker des ‚rechten‘ Flügels der KPD seine Position entlang seiner „Ede-Kautsky“ Artikelserie, die sich kritisch mit Karl Kautskys Schrift „Die proletarische Revolution und ihr Programm“ auseinandersetzte.40 Kautsky, der bis dahin die Diktatur des Proletariats noch als gesellschaftlichen Zustand der Majorität der Arbeiterklasse innerhalb der parlamentarischen Demokratie verteidigte, verwarf hier erstmals den Diktaturbegriff gänzlich.41 Thalheimer hielt an der Diktatur als Übergangsperiode fest, ohne jedoch eine kommunistische Regierungsbeteiligung auszuschließen. Die Arbeiterregierung als „eine spezielle Form der Doppelregierung, die letzte denkbare Etappe vor der Rätediktatur“42 sollte gebildet werden, wenn das Proletariat für die alleinige Machtentfaltung noch nicht stark genug ist. Das entsprach ganz dem Ansatz seines Freundes Brandler, der im August aus der Sowjetunion zurückkehrte und dort in der Leitung der Komintern maßgeblich an der Einheitsfrontlinie mitgewirkt hatte. Im Juni schrieb er August Kleine, dass „wir bestrebt sein müssen, das politische Schwergewicht aus den Parlamenten in die Klassenorganisationen des Proletariats zu verlegen.“43 Thalheimer war damit betraut, den Programmentwurf der KPD für die Komintern zu formulieren. Dafür setzte die KPD unter seinem Vorsitz eine Kommission ein, der auch Brandler, Edwin Hoernle, Wilhelm Koenen und Clara Zetkin angehörten. Der Anfang September 1922 in der Roten Fahne veröffentlichte Entwurf44 hielt die Einheitsfrontpolitik, Übergangsforderungen und damit auch die Arbeiterregierung programmatisch fest. Die spezielle Form der Doppelregierung drückte sich darin aus, dass sie auf parlamentarischer Ebene entstand, ihre Machtstützen aber außerhalb des bürgerlichen Staates in Form des bewaffneten Proletariats und der Arbeiterräte bzw. Betriebsräte und Kontrollausschüsse lagen. Sie müsse „Übergangsmaßregeln“ erlassen, die „sich formell noch im Rahmen der bürgerlichen Eigentumsordnung und Produktionsverhältnisse und des bürgerlichen Finanzsystems“ bewegen, aber Thalheimer 1922a, S. 568f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. Thalheimer 1922b und Kautsky 1922. Zusammenfassend vgl. Kersten 1994, S. 34-39. Vgl. Schmeitzner 2018, bes. S. 151f. Thalheimer 1922b, S. 192. Vgl. Becker 2001, S. 157ff. Zitat: Brandler an Guralski (Kleine) am 22. Juni 1922. Zitiert nach: Ebd., S. 162. 44 Vgl. Reisberg 1971, S. 617-628. 39 40 41 42 43
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„das Verfügungsrecht der Kapitalisten über ihr Eigentum […] im Interesse und zum Vorteil des Proletariats und der breiten schaffenden Massen beschränken.“ Das meinte die Sachwerterfassung, staatliche Syndizierung oder Vertrustung, Aufhebung des Bank-, Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisses sowie ein staatliches Lebensmittel-, Außenhandels- und Bankmonopol. Der dagegen erwachsende Widerstand der Bourgeoisie „wird die Arbeiterregierung naturgemäß zwingen, schließlich über dies halben und in sich widerspruchsvollen Maßregeln hinauszugehen und an Stelle der teilweisen Beschlagnahme des bürgerlichen Eigentums und der bloßen Beschränkung des kapitalistischen Verfügungsrechts die volle Aufhebung des bürgerlichen Eigentums an den Produktionsmitteln (Rohstoffen usw.) und die gänzliche Beseitigung des kapitalistischen Verfügungsrechts zu setzen.“45 Gegen den Programmentwurf polemisierten vor allem der ultralinke Flügel um Ruth Fischer, Arkadi Maslow und Arthur Rosenberg.46 Sie sahen darin Opportunismus und damit die Grenze zwischen Revolutionären und Reformisten verwischt. Im Streit um die Arbeiterregierung nahm Fischer eine Hauptrolle ein, bereits die Jahre zuvor benutzte sie den Begriff nur als Synonym zur Diktatur.47 Konnte man die Diskussion schon nicht prinzipiell beenden, so setzten sie und Maslow alles daran, dass die Taktik der Arbeiterregierung keinen programmatischen Charakter bekam.48 Fischer erwirkte beispielsweise auf dem Bezirksparteitag von Rheinland-Westfalen eine entsprechende Resolution, die die Aufnahme von kurzfristig-taktischen Problemen ins Programm ablehnte, ähnliche Resolutionen gab es in den Unterbezirken Köln und Dortmund.49 Für sie war das Grundproblem die Überschätzung der Organisationsfrage für den Klassenkampf. Denn nicht die Zersplitterung des Proletariats sei das Problem, sondern der Mangel an ideologischer Klarheit. Einheitsfrontpolitik war für sie nur ‚von unten‘ für unmittelbare Tageslosungen, ohne Spitzenverhandlungen, legitim.50 Die ultralinke Kritik wurde als prinzipielle Absage an die Einheitsfrontpolitik verstanden.51 Hoernle hielt ihr entgegen: Die Arbeiterregierung sei „keine Konstruktion um überflüssige Zeit auszufüllen, einfach deshalb, weil sie nur denkbar ist als […] ein vorwärtstreibendes Element im entscheidenden Ringen zwischen Proletariat und Bourgeoisie.“52 Den Erfolg dieser Politik skizziert er folgendermaßen: „die empörten Massen schleudern die Sozialdemokraten auf die Seite, reinigen die Arbeiterregierung von schwankenden Elementen, jagen das Parlament auseinander
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Zitiert nach Reisberg 1971, S. 791. Vgl. Keßler 2020, S. 43ff. Vgl. Keßler 2013, S. 90; Reisberg 1971, S. 265. Vgl. Keßler 2013, S. 109. Vgl. Reisberg 1971, S. 630. Fischer 1922. Vgl. Becker 1922. Hoernle 1922a, S. 184.
und proklamieren die Rätemacht.“53 Die situative Erfolgsvoraussetzung benötige einen „revolutionärem Ansturm auf eine bankrotte Demokratie, setze also eine revolutionäre, zugespitzte, von breiten Massenbewegungen erschütterte Atmosphäre voraus.“ Schließlich könne sich die Arbeiterregierung „nur halten, wenn sie die Massen fort und fort mobilisiert, wenn sie die bisher spontan und dezentralisierte Arbeiterkontrolle zentral organisiert, wenn sie die irreguläre Arbeiterbewaffnung regulär vollendet.“54 Die Zentralausschusssitzung der KPD im Oktober 1922 billigte schlussendlich den Programmentwurf, allerdings nur mit einer knappen Mehrheit von 24 gegen 23 Stimmen. Ausschlaggebend dafür war allerdings weniger eine prinzipielle Opposition gegen die Einheitsfront und Arbeiterregierung als Fragen der Formulierung und der Verweis auf die Luxemburgische Akkumulationstheorie. Die Resolution hielt fest, es gelte „den Inhalt auf auf kürzerem Raum zusammenzuziehen und die Ausdrucksweise entsprechend dem Bedürfnis der propagandistischen Verwendung zu vereinfachen.“55
4. Die Arbeiterregierung als politisches Konzept Der IV. Weltkongress der Komintern, der Ende 1922 tagte, bestätigte die DezemberThesen des Jahres 1921 zur Einheitsfront und setzte den eingeschlagenen Weg fort.56 Bezüglich der Taktik wies Sinowjew zwar darauf hin, dass die „Losung der Arbeiterregierung […] nicht genügend geklärt“ sei, schaffte aber mit seiner Bemerkung, „daß die Arbeiterregierung nur ausnahmsweise zu einer Tatsache werden wird, nur bei ganz konkreten speziellen Verhältnissen in diesem oder jenem Lande“57 nicht, das Konzept inhaltlich zu präzisieren, zumal er „unter dieser Parole nichts anderes als die Anwendung der Diktatur des Proletariats“58 verstand. Ernst Meyer hielt dem entgegen, „die Arbeiterregierung ist nicht die Diktatur des Proletariats“, sondern „eine Losung“, deren „Versuch zur Verwirklichung […] entweder zur Diktatur des Proletariats oder zum ausgesprochenen Bürgerkriege in all seinen Formen führen wird.“ Wieder griff Ruth Fischer die Einheitsfront und die Arbeiterregierung grundsätzlich an, als sie „hinter der übertriebenen Betonung und Anbietung der Verhandlungen mit den Spitzen“ die Überbewertung der Organisation ausmachte.
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Ebd., S. 185. Hoernle 1922b, S. 215. Zur Diskussion vgl. Reisberg 1971, S. 636-369. Resolutionszitat ebd., S. 793. Vgl. Braunthal 1974, S. 275-283. Bericht über den IV. Weltkongress, S. 22f. Im Bericht findet sich diese Formulierung nicht. Vgl. Sinowjew 1923, S. 68.
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Diese „typisch deutsche Illusion“ werde „in ihren Konsequenzen zur Revision des Kommunismus und der Revolution“59 führen. In den Beschlüssen des Weltkongresses setzten sich diese Vorbehalte nicht durch. Schlussendlich wurden fünf verschieden Formen der Arbeiterregierung ausdifferenziert: Liberale und sozialdemokratische waren lediglich „scheinbare“ Arbeiterregierungen, hingegen waren Regierungen „der Arbeiter und ärmeren Bauern“ sowie mit kommunistischer Beteiligung „wirkliche“ Arbeiterregierungen. Es gelte auch „mit jenen Arbeitern zu marschieren, die die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats noch nicht erkannt haben.“ Insofern bedeuteten die „wahren“ Arbeiterregierungen „noch nicht die Diktatur des Proletariats, sie sind nicht einmal eine geschichtlich unvermeidliche Übergangsform der Diktatur, aber sie können dort, wo sie zustandekommen, ein Ausgangspunkt zur Erkämpfung dieser Diktatur bilden.“ Schließlich sei die „vollendete Diktatur des Proletariats […] nur diejenige Arbeiterregierung, die aus Kommunisten besteht.“ Als verbindliche Vorbedingung zur Regierungsbildung musste die Komintern zustimmen und die Partei „die volle Selbständigkeit ihrer Agitation“ behalten. Die kommunistischen Minister mussten „unter der strengsten Kontrolle ihrer Partei“ und „in engster Fühlung mit den revolutionären Organisationen der Massen stehen“. Als unmittelbare Ziele wurden ausgegeben, „das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Steuern auf die Schultern der Reichen abzuwälzen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen.“60 Durch diese Typisierung entwickelte der IV. Weltkongress zwar eine Orientierung für die Praxis der Einheitsfront, zugleich ließ sie in der begrifflichen Bestimmung Spielräume für Interpretationen. Insofern war es nicht verwunderlich, dass die Programmdiskussion – hier standen sich vor allem die befürwortende Position Thalheimers und die ablehnende Bucharins gegenüber61 vertagt wurde.62 Der Kongress brachte für die innerdeutschen Debatte nichts substantiell Neues und zeigte, dass die Positionen zur Arbeiterregierung nicht einheitlich waren. So rückte die Auslegung des Begriffs ins Zentrum. Derweil sprach sich die sächsische KPD Anfang des Jahres 1923 für eine Koalition mit den Sozialdemokraten aus.63 Im Vorfeld des Parteitages brachten sich die verschiedenen Flügel in Stellung. Brandler konzentrierte sich auf die Lage in Sachsen und argumentierte, dass mit einem Regierungseintritt die SPD zur Erfüllung ihrer Wahlversprechen gezwungen werden könnte. Schließlich brächte das „die Trennung der sozialdemokratischen 59 Bericht über den IV. Weltkongress, S. 26 (Meyer) u. S. 27 (Fischer). Weiter vgl. Keßler 2013, S. 111ff. 60 Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses, S. 16f. 61 Vgl. Kersten 1994, S. 45ff. 62 Zur Diskussion vgl. Reisberg 1971, S. 662-667. 63 Vgl. Rudolph 1995, S. 333ff.
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Arbeitermassen von der Bourgeoisie“ und damit den „Bruch mit der bisherigen sozialdemokratischen Politik.“ So würde man „den auf parlamentarischem Wege gewonnenen Staat und seine Macht in den Dienst des proletarischen Klassenkampfes“64 stellen. Das politische Ziel müsse sein, die Zahl der Sympathisierenden auszubauen und das Vertrauen in die KP zu stärken. Obwohl Brandler so klar gegen die linke Kritik Position bezog, bezeichnete er die Frage, inwiefern die Arbeiterregierung nun Diktatur des Proletariats sei, als „Wortstreit“. August Kleine hielt der Opposition entgegen, wer nur Propaganda für die Diktatur mache, „der verstärkt die Passivität, der zersetzt die Partei, verwandelt sie in eine Reihe von wenn auch zahlreichen, so doch nur ideologisierenden Zirkeln.“65 Entgegen seiner Äußerungen auf dem Weltkongress, die Arbeiterregierung würde direkt zur Diktatur oder zum Bürgerkrieg führen, konnte sich jetzt Meyer lokale und zeitlich begrenzte Arbeiterregierungen vorstellen. Die linke Opposition blieb bei ihrer grundsätzlichen Kritik. Bereits vor dem III. Weltkongress hatte Arkadi Maslow die Bewaffnung der Arbeiterschaft, Kontrolle der Produktion und politische Räte als einzig legitime Teilforderungen benannt.66 Dem blieb Ruth Fischer treu: Sie spitzte die Auseinandersetzung zum „Kampf um die Kommunistische Partei“ zu. Die Ergebnisse des IV. Weltkongresses seien ein Rückschlag, der bereits mit dem Zurückdrängen der Offensivtheorie während des III. Weltkongresses eingesetzt habe. Trotz ihrer Klage, dass eine nähere Bestimmung der Arbeiterregierung noch immer fehle, schafften ihre Ausführungen keine Abhilfe: „Nur die Arbeiterregierung als Machtfrage gestellt, kann das Problem klarer machen. Jedes Herumreden von irgendwelchen ‚Punkten‘ trägt uns, ob wir wollen oder nicht, in demokratisches Fahrwasser. Die Arbeiterregierung kann eine Etappe im Kampf um die Diktatur sein, aber sie ist eine Etappe unmittelbar vor dem Kampf um die Diktatur, und wo dieser Kampf um die Diktatur politisch und ökonomisch nicht gegeben ist, da ist auch die Arbeiterregierung als reale Möglichkeit nicht gegeben.“
Im Verständnis Fischers band sie nichts an das Parlament, denn sie müsse „bewusst und offen anerkennen, daß sie sich zu verantworten hat nicht vor dem bürgerlichen Parlament, sondern vor den Arbeiterorganen.“ Die wiederum „müssen eindringen in den bürgerlichen Beamtenapparat, und die ‚Nebenregierung‘ muß in Kampf geraten bei den ersten Schritten mit dem ‚legalen‘ Staatsapparat.“ Landesarbeiterregierungen schloss Fischer aus, denn ohne revolutionäre Perspektive für die gesamte Republik hieße das eine „anonyme Koalitionspolitik mit der Bourgeoisie“67 einzugehen. Als schließlich der 8. Parteitag der KPD Ende Januar 1923 in Leipzig zusammentrat, trafen die Positionen und Argumente der vergangenen Monate gebündelt 64 65 66 67
Brandler 1923, S. 7 und 8. Kleine 1923, S. 82. Vgl. Maslow 1921, S. 257. Fischer 1923, S. 91 und 94.
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aufeinander. Sie folgten den gegenseitigen Vorwürfen des Opportunismus, dem Umgang mit ‚demokratischen Illusionen‘, dem Verhältnis zur Sozialdemokratie und zum bürgerlichen Staat. Eine konzeptionelle Diskussion, unter welchen Voraussetzungen eine Arbeiterregierung gemeinsam mit den Sozialdemokraten möglich wäre, fand im eigentlichen Sinne nicht statt. Die linke Opposition – das Koreferat zu Brandler hielt Maslow – geißelte die punktuelle Kompromissbereitschaft gegenüber der Sozialdemokratie, der partiellen Mitwirkung innerhalb der bürgerlichen Machtinstitutionen und dem Eintreten für Tageslosungen als Aufgabe des Avantgardecharakters der Partei und ihrer kommunistischen Grundsätze. Das Anknüpfen an ‚demokratischen Illusionen‘ würde diese nur bestätigen, wie bereits Arthur Rosenberg zuvor polemisierte: „Die deutsche Arbeiterklasse hat seit vier Jahren schon so viel demokratischen Pudding erhalten, daß wir nicht noch mit einem Kompott hinterherzukommen brauchen.“68 Eine Radikalisierung der SPD sei aus ihrer historischen Funktion heraus unmöglich, weshalb sie den Kampf gegen die Bourgeoisie nicht aufnehmen könne. Wenn sie es könnte, dann wäre die KPD überflüssig, warnte Maslow: „dann liquidieren wir die Kommunistische Partei.“69 So prinzipiell, wie die Koalition mit der SPD zurückgewiesen wurde, stemmte man sich gegen die Nutzung staatlicher Institutionen. Ruth Fischer warnte bereits zuvor, „eine Staatstheorie aufzubauen, nach der es möglich wäre, im Rahmen der Demokratie die kapitalistische Wirtschaft umzuwälzen [...].“70 Maslow trat stattdessen dafür ein, „scharf die Rolle des Bürgerkriegs und des Terrors in der Revolution“71 zu betonen. Für Maslow und Fischer blieb die Einheitsfront lediglich eine Taktik zur propagandistischen Diskreditierung der Sozialdemokratie. Durch die Bindung der Arbeiterregierung an bewaffnete proletarische Organe und ausgebildete Rätestrukturen gab es faktisch keinen Unterschied zur Diktatur des Proletariats. Für Heinrich Brandler war es „glatter Opportunismus“, wenn man unter diesen Voraussetzungen „noch die Arbeiterregierung statt der Diktatur errichten will.“72 Karl Korsch führte die Differenzen darauf zurück, dass die Opposition „starr und undialektisch“, die Zentrale hingegen „lebendig und dialektisch“73 argumentiere. Allerdings hatte die Diskussion – von den 12 Diskutierenden sprachen sich 9 für und 3 gegen die Arbeiterregierung aus – gezeigt, dass auch unter den Befürwortern Differenzen bestanden. So hielt es etwa wie zuvor August Kleine auch Walter Ulbricht für denkbar, nur zeitweilig in Arbeiterregierungen einzutreten. Letztendlich konnten sich die von der Zentrale ausgearbeiteten „Leitsätze zur Taktik der Einheitsfront
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Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitages, S. 319. Ebd., S. 335. Fischer 1923, S 92. Bericht über die Verhandlungen des III. (8.) Parteitages, S. 342. Ebd., S. 323. Ebd., S. 359.
und der Arbeiterregierung“ mit 118 gegen 59 Stimmen durchsetzen.74 Dort wurde festgehalten, dass die Arbeiterregierung „im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie“ arbeite, „während die proletarische Diktatur bewußt den Rahmen der Demokratie sprengt […].“75 Dabei sei sie keine „vereinfachte Revolution“, „Ersatzdiktatur“ oder ein friedlicher Aufstieg, viel mehr werde sie auch „diktatorische Maßnahmen“76 anwenden müssen, wenn die Auseinandersetzungen schließlich in den Kampf um die Diktatur des Proletariats ausmünden. Die Leitsätze unterschieden zwischen Arbeiterregierungen im Reich und auf Landesebene. Letztere sollten die reichsweite Regierung vorbereiten; sie waren damit implizit längerfristig gedacht. So waren nur für die Landesarbeiterregierungen „unmittelbare Aufgaben“ vorgegeben, wie „Kampf gegen die reaktionäre Reichspolitik, die Bewaffnung der Arbeiter, die Uebergabe [sic] aller Machtmittel (Polizei, Verwaltung, Justiz, Schule) an das Proletariat, die Sicherung aller sozialen Positionen, sowie die ausreichende Ernährung, Bekleidung und Behausung der arbeitenden Klasse zu Lasten der Besitzenden […].“ Und sollten bei einer Reichsarbeiterregierung Betriebsräte, Kontrollausschüsse bzw. Arbeiterräte durch Beratung und Durchsetzung an der Gesetzgebung teilnehmen, hieß es auf Landesebene lediglich, dass die „politische Stütze“ der Arbeiterregierung „nicht das bürgerliche Parlament, sondern die außerparlamentarischen Klassenorgane“77 sind. Die linke Opposition um Fischer und Maslow war zwar eine starke Minderheit, unterlag aber klar der Linie der Zentrale um Brandler, was nicht zuletzt seine Bestätigung als Parteivorsitzender mit 166 von 219 Stimmen zeigte.78 Das SPD-Zentralorgan Vorwärts beobachtete die Diskussionen rund um die Arbeiterregierung aufmerksam79 und resümierte, es gehöre „ein besonderes Studium dazu, um herauszufinden, was die Kommunisten nun eigentlich wollen.“80 Dass besonders die linke Auslegung stellenweise schwer vermittelbar war, zeigte die Generalversammlung der Angestellten in Berlin: Als dort ein Kommunist ausführte, dass eine sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierung keine Arbeiterregierung sei, wurde er mit stürmischer Heiterkeit bedacht.81 Allerdings lag die Schwierigkeit, das Konzept der Arbeiterregierung zu bestimmen in ihrem zutiefst widersprüchlichen Charakter begründet, ein Schicksal, das sie mit der Taktik der Einheitsfront teilte. Sowohl die Einheitsfront als auch die Arbeiterregierung konsequent zu Ende gedacht, bedeutete, dass sie sich ihrer eigenen Voraussetzungen
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Ebd., S. 375. Ebd., S. 420. Ebd., S. 421. Ebd., S. 423. Vgl. Becker 2001, S. 185ff. Vgl. Der kommunistische Parteitag, in: Vorwärts vom 1. Februar 1923. Kommunistische Rauferei, in: Vorwärts vom 6. Februar 1923. Hervorhebung im Original. Vgl. Generalversammlung der Angestellten, in: Vorwärts vom 8. Februar 1923.
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beraubte. Edwin Hörnle hielt fest: „Die Arbeiterregierung ist weder bürgerliche noch proletarische Diktatur, sie ist ein Durchgangspunkt im dialektischen Prozeß der revolutionären Entwicklung: indem sie existiert, hebt sie sich schon selbst auf.“82
5. Die Arbeiterregierungen des Oktober 1923 Während die theoretischen und praktischen Debatten der Komintern und der KPD stets von Dissonanzen geprägt waren, rückte in Sachsen die Arbeiterregierung langsam aber stetig in greifbare Nähe. Nach der Auflösung des sächsischen Landtages mit den Stimmen der KPD83 brachten die Neuwahlen vom 5. November 1922 eine rechnerische Mehrheit für eine Koalition aus SPD und KPD. Als Bedingung forderte die KPD unter anderem umfangreiche sozialstaatliche Interventionen, eine gesetzliche Produktionskontrolle „durch die Organe des Staates von oben und der Arbeiterschaft von unten“ und eine Amnestie für politische, Not- und Abtreibungsdelikte, darüber hinaus die Bildung von Arbeiterwehren und die Ergänzung der Polizei mit freigewerkschaftlich organisierten Arbeitern und Angestellten sowie die Unterbreitung von „für die proletarischen Interessen wichtige Gesetzesvorlagen“84 der Vollversammlung der Betriebsräte bzw. des Landesbetriebsrätekongresses. Der Rückbindung an die Betriebsräte wollte die SPD nicht folgen, weshalb es zu einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung kam. Allerdings lehnte die sächsische SPD eine Kooperation nicht prinzipiell ab, was sie zunehmend in Konflikt mit der Reichs-SPD brachte.85 Auch der Sturz des sächsischen Innenministers Richard Lipinski (SPD) Ende Januar mit kommunistischen Stimmen bewog die Sozialdemokraten nicht zum Einlenken. Zwar konnten sich innerhalb der sächsischen SPD die Befürworter einer Koalition mit der KPD gegen eine mit der DDP durchsetzen, allerdings war man nicht bereit, den Betriebsräten legislative Macht zu übertragen, zumal man den Konflikt mit den Gewerkschaften und eine mögliche Reichsexekution gegen Sachsen fürchtete.86 Schlussendlich verzichtete die KPD auf die legislative Kompetenzerweiterung und tolerierte die sozialdemokratische Regierung unter vier Bedingungen.87 Die umfassten die Aufstellung von proletarischen Abwehrformationen, die an die Landespolizei angegliedert werden sollten, mit umfangreichen Vollmachten ausgestattete Preisprüfungsstellen, die bereits zuvor gestellten Amnestieforderungen sowie die Errichtung 82 Hoernle 1923, S. 184. Inhaltlich identisch Brandler an das EKKI am 12. März 1923, vgl. Keßler 2013, S. 121f. 83 Vgl. Böttcher 1922c. 84 Böttcher 1922d, S. 344. 85 Vgl. Böttcher 1923a, S. 31f. 86 Vgl. Rudolph 1995, S. 337ff. 87 Vgl. Böttcher 1923b, S. 196-198.
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einer mit Beratungsfunktionen betrauten Arbeiterkammer. Zur Unterzeichnung des Tolerierungsabkommens am 21. März hatte sich die SPD durchgesetzt.88 Die Zunahme der sozialen politischen Konflikte während des Jahres 1923 ließ innerhalb der KPD und der Komintern die Erwartung einer revolutionären Zuspitzung wachsen. Zugleich war die politische Taktik der KPD keineswegs kohärent. Einerseits verfolgte sie die Einheitsfrontpolitik, etwa als die Reichstagsfraktion im Juli den mehr propagandistischen Antrag auf „Erfassung der Sachwerte durch eine zu bildende Arbeiterregierung“89 stellte. Andererseits hatte der Zentralausschuss bereits im Mai die Beschlüsse des Parteitags revidiert, an demokratische Illusionen anzuknüpfen und den Staat für sich zu nutzen,90 ohne jedoch die Parole der Arbeiterregierung aufzugeben.91 Galt es sich stärker von der SPD abzusetzen, wollten besonders Brandler und Thalheimer die Mittelschichten für sich gewinnen. Im Zuge der Ruhrbesetzung durch belgische und französische Truppen suchte die Partei im Sommer sogar den Kontakt zu faschistischen und rechtsradikalen Kreisen. Nach wenigen Wochen korrigierte die Partei allerdings diese desaströse Taktik wieder.92 Die taktische Orientierung von Brandler und Thalheimer justierte sich neu: Die vorangegangene Erholung der kapitalistischen Ökonomie war vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation passé, in Folge des Ruhrkampfes das ganze Land stark nationalistisch aktiviert und die faschistische Bedrohung aus Bayern, insbesondere nach der Machtübertragung auf Mussolini in Italien im Jahr zuvor, virulenter denn je. Die Zuspitzung der sozialen Konflikte auf der einen und die politische Destabilisierung der Republik auf der anderen Seite verliehen der revolutionären Perspektive zunehmend Glaubwürdigkeit. Weiterhin galt es die Mehrheit des deutschen Proletariats zu gewinnen, gleichzeitig aber auch, die Einheitsfront, die zuvor noch als „Epoche“ statt „Episode“ beschrieben wurde, zugunsten der sich eröffnender Machtoptionen aufzugeben. Gestärkt durch den wachsenden Einfluss der KPD93 und den relativen Erfolg der Einheitsfrontpolitik vor allem in Sachsen forcierte die Führung der Komintern eine Revolution in Deutschland – einen „Deutschen Oktober“. Die damit verbundenen Vorbereitungen waren vor allem militärtaktischer Natur. Die Parole der Arbeiterund Bauernregierung war diesem Charakter untergeordnet, galt der Regierungseintritt in erster Linie der Beschaffung staatlicher Waffen.94 Das Plenum des ZK der RKP(b) vom 22. und 23. September 1923 billigte Sinowjews Thesen, die behaupte-
Vgl. Rudolph 1995, S. 341ff. und Vorwärts, Jg. 40/130 (18. März 1923). Vgl. Wenzel 2003, S. 41. Vgl. Kersten 1994, S. 47. So das EKKI im Juli und der Zentralausschusses der KPD im August 1923. Vgl. Keßler 2013, S. 136f. 92 Vgl. Hoffrogge 2017. 93 Vgl. Angress 1973, S. 393ff; Wenzel 2003 S. 158ff. 94 Vgl. Fisov 2003, S. 39ff.
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ten, die KPD habe bereits die aktivsten Elemente des deutschen Proletariats organisiert und die Sozialdemokratie werde von ihrer linken Opposition dominiert.95 Ganz offensichtlich erklärte er die sächsischen Verhältnisse zu deutschen. Vor allem aber wurden die bisherigen Diskussionen über die Ausgestaltung der Arbeiterregierung über Bord geworfen, die nun „nichts anderes“ bedeute „als die Diktatur des Proletariats, die in der Form von Arbeiter- und Bauernsowjets verwirklicht“ werde96. Insofern wurden die Linkssozialdemokraten als größte Bedrohung der eigenen Umsturzpläne betrachtet. Auf einer geheimen Konferenz der russischen Mitglieder des EKKI mit deutschen, französischen und tschechoslowakischen KP-Vertretern am 25. September meinte Trotzki, dass eine Koalition mit den Linkssozialdemokraten, sofern es sie überhaupt geben würde, „etwas ganz Flüchtiges sein“ werde. Und Sinowjew sah in der Arbeiter- und Bauernregierung wieder lediglich die propagandistische Parole zur Entlarvung der linken Sozialdemokratie, denn „das Schlimmste, was uns passieren könnte, ist, mit ihnen wirklich in eine Regierung zu kommen.“97 In kurz darauf folgenden Beratungen wurde beschlossen, „die Spaltung der Linken und der Rechten [in der Sozialdemokratie] zu beschleunigen und die Führer der Linken möglichst schnell zu diskreditieren, weil diese Führer die unzuverlässigsten Elemente sind […].“98 Die auch in Moskau anwesende Ruth Fischer monierte, dass die KPD-Führung nach wie vor auf das Etappenziel und nicht die Machtergreifung orientiert sei.99 Brandler sprach sich gegen den Eintritt in die sächsische und thüringische Regierung aus, da einerseits die Massenbewegung fehle, andererseits die Polizei gar nicht über die erhofften Waffendepots verfüge. Seine Parteidisziplin überwog aber seine massiven Vorbehalte und er fügte sich dem Beschluss der Komintern.100 Am 1. Oktober erfolgte von Sinowjew an die Zentrale der KPD der Auftrag in Sachsen und Thüringen in die Regierung einzutreten.101 Auf Betreiben des EKKI ließen die sächsische und thüringische KP schließlich ihre geforderten Notprogramme als Voraussetzung des Regierungseintritts fallen, wie Hugo Eberlein berichtete.102 So gab die KPD in Sachsen nicht nur die Forderungen nach einem Betriebsrätekongress und der Sozialisierung auf, sie rückten auch von der gesetzlichen Mitbestimmung der Betriebsräte und der polizeilichen Eingliederung und Bewaffnung der proletarischen Hundertschaften ab, nicht aber von der Aufstellung solcher Hundertschaften grundsätzlich. Als schließlich am 11. Oktober 1923 Paul Böttcher und Fritz Heckert als
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Vgl. Bayerlein et al 2003, Dok. 21. Zitiert nach Wenzel 2003, S. 193 (Hervorhebung im Original). Bayerlein et al 2003, Dok. 22. Ebd., Dok. 23. Ebd., Dok. 32. Vgl. Becker 2001, S. 225ff; Wenzel 2003, S. 187f. Vgl. Bayerlein et al 2003, Dok. 28. Vgl. ebd., Dok. 33.
Minister und Heinrich Brandler als Chef der Staatskanzlei in die Landesregierung eintraten, fand das ohne einen förmlichen Koalitionsvertrag statt.103 Allerdings wich die so gebildete Arbeiterregierung nicht nur hier von den konzeptionellen Überlegungen der vorangegangenen Diskussionen massiv ab, auch das kurzfristige Ziel durch den Regierungseintritt staatliche Waffen nutzbar zu machen war bereits im Ansatz gescheitert. Weder in Thüringen noch in Sachsen konnten die Kommunisten das Innenministerium besetzen. Und auch Brandlers Posten als Chef der sächsischen Staatskanzlei wurde zuvor „noch unter das Niveau eines Sekretärs“104 gedrückt. Direkt nach dem Amtsantritt der Regierung erließ Generalleutnant Müller ein Verbot der proletarischen Hundertschaften und unterstellte die Landespolizei der Reichswehr. Faktisch war damit die sächsische Regierung bereits entmachtet, die Reichswehr hatte „das staatliche Gewaltmonopol vollständig usurpiert.“105 Sie zog 60.000 Soldaten zusammen und begann am 20. Oktober Sachsen zu besetzen. Die Chemnitzer Konferenz am 21. Oktober 1923 markierte den Schlusspunkt der Aufstandspläne. Als Stimmungstest der sächsischen Arbeiterschaft gedacht, sollte mit der Proklamation des Generalstreiks gegen die Besetzung Sachsens das Signal zum Aufstand gegeben werden. Allerdings sorgte die SPD für „ein Begräbnis dritter Klasse“106, als sie sich gegen die unmittelbare Erklärung aussprach und Brandler nahm davon Abstand, den Entscheidungskampf zu erzwingen. Sowohl die Führung der KPD als auch der anwesenden Kominternvertreter – auch Karl Radek – waren mit dem Rückzug einverstanden. Traten die Arbeiterregierungen nicht durch den Massendruck und erfolgreiche Vorverhandlungen ins Leben, sondern auf Anweisung der Komintern, so konnte sich immerhin der Abbruch der Aufstandspläne auf das Votum einer sonst stets als legislative Macht geforderte Konferenz berufen. Lediglich in Hamburg kam es zu einem begrenzten Aufstandsversuch, der rasch niedergeschlagen wurde und 51 Leben kostete. So einschneidend die Konsequenzen für die KPD und die Komintern insgesamt waren, so entging die KPD vermutlich einer zweiten Märzaktion. Die Paradoxie der Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen war letztlich, dass jenes ‚rechte‘ politische Konzept unter den Vorzeichen einer ‚linken‘ Praxis umgesetzt werden sollte. Nicht die Ausweitung kommunistischer Handlungsfelder, die Ausdehnung exekutiver und legislativer Kompetenzen auf proletarische Organe, war Ziel der Arbeiterregierungen des Oktober 1923, sondern die unmittelbare Beschaffung von Waffen und das Signal zum Aufstand. Oszillierte die inhaltliche Bestimmung der Arbeiterregierung immer zwischen parlamentarischer Konformität 103 104 105 106
Vgl. Rudolph 1995, S. 385ff. Ebd,, S. 389. Ebd,, S. 392. Thalheimer 1923, S. 26.
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und revolutionärer Aktion, so mündete sie in der Niederlage ‚rechter‘ Kommunisten mit ‚linkem‘ Auftrag und verschwand danach aus dem Repertoire kommunistischer Taktik.
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Jan Claas Behrends Stalin und die Diktatur des Proletariats. Begriffliche Verschiebungen von der Klasse zum Imperium (1917-1953)
Als Berufsrevolutionär und Diktator verortete sich Joseph Stalin einerseits in der Tradition der europäischen Arbeiterbewegung, andererseits in der militanten Kultur der Bolschewiki, die im Untergrund und im russischen Bürgerkrieg entstand.1 In seiner Jugend besuchte Stalin ein Priesterseminar in Georgien, welches die letzte Station seines formalen Bildungsweges darstellte. Im Kaukasus aufgewachsen, kannte er das europäische Russland nur aus der Ferne.2 Das westliche Europa war für ihn (erst recht) eine fremde Welt, die er nur sporadisch vor dem Weltkrieg besuchte.3 Unmittelbar nach seinem Austritt aus dem Seminar schlug Stalin den Weg des Revolutionärs ein. Seit 1899 bewährte er sich im Kampf gegen die zarische Regierung im Süden des Kaukasus.4 Im Unterschied zu anderen Vertretern der russischen Sozialdemokratie, die viele Jahre im europäischen Exil verbrachten, wie Georgii Plechanov oder Vladimir Lenin, sah er sich nicht primär als marxistischer Theoretiker, sondern als Soldat an der revolutionären Front. Trotz seiner revolutionären Orientierung blieb Stalin ein Leben lang engagierter Autodidakt, der sich gezielt in zahlreiche Felder einarbeitete, ob in der sibirischen Verbannung oder später als Diktator des Einparteienstaates. Dazu gehörten neben der marxistischen Theorie Geschichte und Literatur.5 Im Kreml verfügte er sogar über eine umfangreiche Privatbibliothek.6 Stalin sah sich in der Tradition schreibender europäischer Politiker und der russischen Intelligencija. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert profilierten sich Politiker der Arbeiterbewegung – der philosophischen und publizistischen Tradition von Marx und Engels verpflichtet – nicht nur in der praktischen Politik, sondern auch als
1 Zu Stalins Leben und Herrschaft im historischen Kontext siehe grundlegend: Kotkin 2014; Kotkin 2017. Siehe auch Chlevniuk 2015; sowie klassisch: Deutscher 1949. 2 Rieber 2001, S. 1651-1691. 3 Zur Differenz zwischen Russland und Europa, siehe Behrends 2021a, S. 143-153. 4 Zu Stalins Leben vor der Revolution siehe: Suny 2020; Montefiore 2007. 5 Kotkin 2014, S. 107-108; ausführlich zu Stalin als Revolutionär Suny 2020. Siehe auch Medvedev 2005. Siehe auch Ciesielski 2018. 6 Stephen Kotkin spricht von Stalin als “quintessential autodidact, never ceasing to read”. Kotkin 2014, S. 117.
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Philosophen, Historiker und Soziologen.7 Dies galt insbesondere in Deutschland und Westeuropa, aber auch in der revolutionären Bewegung Russlands.8 Der Kampf um die ideologische Lufthoheit nahm im politischen Leben der Arbeiterbewegung einen zentralen Raum ein. Politiker und Intellektueller zu sein war eine Grundvoraussetzung, um sich in einer der zahlreichen marxistischen Gruppierungen durchzusetzen.9 Das wusste auch Stalin, der als Berufsrevolutionär ohne Hochschulabschluss und mangels Kenntnis der europäischen Sprachen eine schwierige Ausgangsposition hatte. Als Mann von der Peripherie des russischen Imperiums blieb er ein Außenseiter im Kreis der marxistischen Philosophen-Politiker. Doch Stalin hatte zeitlebens politischen Ehrgeiz und er verstand, dass Definitionsmacht in der marxistischen Ideologie eine weitere Waffe im politischen Kampf war. Sein Biograph Stephen Kotkin sieht in Stalin die Verbindung eines Ideologen und pragmatischen Politikers. Seine Stärke sei „the militancy, the confident verities, the ability to convey (…) both a worldview and practical politics”.10 Seit ihrer ersten Begegnung 1905 entwickelte Stalin eine enge persönliche Bindung zu Vladimir Lenin, dem unbestrittenen Führer der Bolschewiki.11 Lenin gründete seine Autorität auf seinen Schriften und auf seiner eigenen Interpretation der Marx’schen Lehre, die das radikale Selbstverständnis der Bolschewiki prägte.12 Durch seine ideologische Abgrenzung von der Mehrheit der russischen und europäischen Sozialdemokraten hatte Lenin den Bolschewismus als radikale Splittergruppe in der Arbeiterbewegung etabliert – nach eigenem Selbstverständnis die Avantgarde in einer Welt voller Revisionisten. Während Lenin vom revolutionären Eifer seines georgischen Anhängers begeistert war, erblickte Stalin in ihm nicht nur einen Parteiführer, sondern auch seinen Lehrer in der marxistischen Weltanschauung. Bereits vor der Revolution ermunterte Lenin den jungen Stalin, sich zu ideologischen Themen zu äußern – insbesondere zur Nationalitätenfrage, die in Stalins Heimatregion, dem Kaukasus, aber auch im gesamten Zarenreich ein virulentes politisches Problem war.13 Doch auch die Konkurrenz zu anderen schreibenden Politikern aus dem Führungskreis der russischen Sozialdemokraten, etwa Leo Trotzki oder Nikolai Bucharin, motivierten Stalin, durch eigene marxistische Schriften an politischem Gewicht zu gewinnen. 7 8 9 10 11 12 13
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Morina 2017. Venturi 1972. Zur Geschichte der kommunistischen Idee, siehe Koenen 2017. Zur Geschichte der kommunistischen Weltbewegung: Pons 2014. Kotkin 2014, S. 107. Lenins Werk übte auf Stalins marxistisches Denken den größten Einfluss aus. Suny 2020, S. 531. Zum politischen Denken Stalins siehe van Ree 2002. Fischer 1964. Zu Lenins Marxismus: Kołakowski 1981, Band 2, S. 397-586, zu Lenin und der Diktatur des Proletariats Walicki 1995, 322-397. Kappeler 1992. Damit ähnelte das Zarenreich der K.-u.-k.-Monarchie, die ebenfalls durch die Nationalitätenfrage herausgefordert wurde. Siehe auch Kołakowski 1981, Band 2, S. 275-342.
Dieser Aufsatz analysiert Stalins wechselnde Auslegungen des Begriffs der „Diktatur des Proletariats“ von der russischen Revolution bis zu seinem Tod im März 1953. Die wesentliche Quelle stellen dabei die eigenen Schriften Stalins dar, die noch zu Lebzeiten in einer Werkausgabe veröffentlicht wurden. Aufgrund der Länge des Zeitraums – Stalin war mehr als drei Jahrzehnte an der Macht – kann es hier primär um das Nachzeichnen der großen Linien gehen. Dabei werde ich die Verwendung des Begriffs der „Diktatur des Proletariats“ in der Selbstbeschreibung bzw. zur Legitimation der bolschewistischen Parteiherrschaft beschreiben und fragen, wie sich seine Verwendung in den Jahrzehnten der Herrschaft Stalins veränderte. Die von mir verwendete Periodisierung umfasst vier Phasen: vom Bürgerkrieg zum „großen Umbruch“ (1917-1933), die Periode des „Sieges des Sozialismus“ und der Beginn eines Stalin‘schen Scheinkonstitutionalismus (1934-1941), die Jahre des „Großen Vaterländischen Krieges“ (1941-1945) und schließlich den Hochstalinismus vom Kriegsende bis zum Tod des Diktators (1953). Lenin und Stalin zweifelten zu keinem Zeitpunkt daran, dass die Bolschewiki die legitimen Vertreter der Arbeiterklasse seien.14 Mit der Parteidiktatur, die sie im Bürgerkrieg schufen, konstituierten sie eine neue Staatsform, die sich institutionell auf den Parteiapparat, die Armee und die Geheimpolizei stützte.15 Terror und Massengewalt gegen politische Gegner gehörten von Beginn an zu den Charakteristika der bolschewistischen Herrschaft. Im Bürgerkrieg hatte Stalin verstanden, dass ein großer Teil der russischen Bevölkerung die Herrschaft der Bolschewiki ablehnte. Er erkannte, dass ihr Widerstand nur mit Gewalt gebrochen werden konnte. So rückten Lenin und Stalin während des Bürgerkrieges von der Vorstellung ab, dass die große Mehrheit der Bevölkerung den zukünftigen Staat tragen sollte. Sie erkannten, dass die Herrschaft der Bolschewiki nur als strikte Parteidiktatur überleben konnte. Ihre ursprünglichen Vorstellungen von kommunistischer Staatlichkeit – die in der Regel vom Beispiel der Pariser Kommune geprägt waren – ordneten sie dem Ziel des Machterhalts und damit auch des eigenen Überlebens unter.16 Letztlich konnte es in der Frage des kommenden Staates keine kohärente Position geben, da die Oktoberrevolution für die Bolschewiki den Sprung ins Dunkle bedeutete. Sie hatten keine konkrete Vorstellung davon, wie die Diktatur des Proletariats aussehen sollte. Was sie wussten ist, dass das Kollektiv über dem Individuum, die Macht über dem Gesetz und die Partei über allem stehen sollte. Der Bürgerkrieg war das Ereignis, welches die bolschewistische Partei und ihren Staat in der Praxis formte.17 14 Ihre Kritiker verwiesen schon früh darauf, dass es sich bei der Herrschaft der Bolschewiki nicht um die „Diktatur des Proletariats“, sondern um die persönliche Herrschaft Lenins handele. Siehe klassisch: Suchanow 1967. 15 Zur Entwicklung des modernen Diktaturbegriffs im 20. Jahrhundert siehe Behrends 2016, https://docupedia.de/zg/Behrends_diktatur_v2_de_2016, download am 1.7.2022. 16 Kotkin 2014, S. 232-234. 17 Zu kommunistischen Staatsparteien in vergleichender Perspektive, siehe MacAdams 2017.
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Das galt auch für Stalin, der wie Lenin die Terror und Massengewalt ausdrücklich befürwortete.18 Doch innerhalb der Partei tobte seit 1922 der Kampf um die Nachfolge des erkrankten Lenin. Im ersten Band der Biographie Kotkins lässt sich der Umbau der Parteidiktatur zur Autokratie Stalins und seit 1929 zur persönlichen Tyrannis nachvollziehen.19 Dabei verdrängte er zunächst die anderen Mitstreiter Lenins und schuf eine neue Führungsriege aus eigenen Gefolgsleuten.20 Beim Umbau der russischen Gesellschaft während des Bürgerkrieges, der Kollektivierung und des „Großen Terrors“ spielten die Anwendung von physischer Gewalt und der Massenterror eine zentrale Rolle, auch zu Zeiten, als die Gewalt nicht mehr durch den Rückgriff auf die „Diktatur des Proletariats“ gerechtfertigt wurde. Dennoch blieb der sozialistische Umbau der russischen Gesellschaft stets ein zentrales Motiv in Stalins politischem Handeln. Die Diktatur des Proletariats bedeutete für ihn nicht nur die totale Herrschaft der Kommunistischen Partei, sondern eine Gesellschaft ohne Privateigentum. Darin bestand das eigentlich historische Experiment, das die Staatspartei und der Diktator erbarmungslos vorantrieben. Den Widerstand der Bauern gegen Enteignung konnten sie nur durch Hunger, Gewalt und Genozid brechen.21 Stephen Kotkin unterstreicht mit Recht, dass Stalin während seines gesamten politischen Lebens marxistischer Revolutionär blieb. Trotz der Verankerung im doktrinären Marxismus, der sein Weltbild prägte, bewies er taktische Flexibilität, die darauf abzielte, traditionelle vorrevolutionäre Versatzstücke der Herrschaftslegitimation seit den 1930er Jahren in den Kanon des Stalinismus einzubauen. Dies galt beispielsweise für die imperiale Geschichte Russlands, die Überhöhung seiner Rolle als Großmacht, den Führerkult, den Panslavismus oder die gezielte Förderung eines ethnisch grundierten russischen Nationalismus in der UdSSR und nach 1944 in Ostmitteleuropa.22 Stalins ideologische Flexibilität bedingte zugleich, dass wir nicht von der kohärenten Entwicklung einer Staatslehre sprechen können, die sich hier rekonstruieren ließe. An die Stelle einer Stalin‘schen Idee traten verschiedene Phasen der Herrschaftslegitimation, die es aus ihrem jeweiligen Kontext zu erklären gilt. Dabei zeigte sich, dass das Regime und der Diktator immer wieder auf innen- und außenpolitische Herausforderungen reagierten. Der Stalinismus war kein statisches System und Stalin selbst sorgte als oberster Ideologe und Zensor dafür, dass sich seine Herrschaft kontinuierlich neu erfand. Er passte sich den Zeitläuften an, aber er verleugnete zu keinem Zeitpunkt die Lehre Lenins, mit der alles begann, auch wenn Lenin seit den 1930er Jahren stärker in den Hintergrund trat. Stalins Mitstreiter Lazar‘ Kaganovič benannte in der Rückschau 18 19 20 21 22
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Roberts 2022, S. 92. Zur Rechtfertigung der Gewalt bei Lenin, siehe Walicki 1995, S. 303-309. Kotkin 2014, S. 422-660. Fitzpatrick 2015; Chlewnjuk 1998; Baberowski 2012. Am Beispiel der Ukraine, siehe Applebaum 2017; siehe auch Kotkin 2017, S. 9-187. Behrends 2009a, S. 95-114; Behrends 2009b, S. 443-466.
die verschiedenen Metamorphosen Stalins, die er selbst erlebt hatte: „Der Stalin der Nachkriegsjahre – war ein anderer. Der Stalin der Vorkriegszeit – noch ein anderer. Zwischen dem Jahr 31 und den vierziger Jahren – noch ein anderer. Und vor dem Jahre 1931 – ein ganz anderer. Er änderte sich. Ich habe nicht weniger als fünf oder sechs verschiedene Stalins erlebt.“23 Jeder dieser Stalins, an die sich Lazar‘ Kaganovič erinnerte, verwendete marxistische Termini auf eine andere Weise.24 Doch zugleich blieb er seiner marxistisch-bolschewistischen Weltsicht stets treu.
1. Stalin, der emphatische Diktaturbegriff und der „große Umbruch“ (1917-1934) Das Zarenreich war im 19. Jahrhundert als Völkergefängnis berüchtigt. Mehrere Aufstände der Polen hatte St. Petersburg blutig niedergeschlagen. Seit Beginn der Regentschaft Alexanders III. trieb das Imperium die autoritäre Russifizierung des Landes weiter voran.25 Der „großrussische“ und orthodoxe Teil der Bevölkerung wurde bevorzugt und der zarische Staat legitimierte sich über einen aggressiven russischen Nationalismus.26 Nationale Autonomierechte oder auch der Gebrauch der eigenen Sprache – etwa des Polnischen oder Ukrainischen – wurden verboten oder stark eingeschränkt. Aufgrund dieser repressiven Politik des Zentrums und der Entwicklung nationaler Bewegungen an der Peripherie war es folgerichtig, dass sich im Frühjahr 1917, beim Zusammenbruch des Russischen Reiches unter den Lasten des Ersten Weltkrieges, die nicht-russischen Gebiete abspalteten.27 Einigen – wie etwa den Finnen, Polen oder Balten – gelang es im russischen Bürgerkrieg, ihre Souveränität zu behaupten, andere Gebiete – wie die Ukraine oder der Kaukasus – wurden von der Roten Armee zurückerobert und ins Herrschaftsgebiet der Bolschewiki eingegliedert. Nach der Machtübernahme im Oktober 1917 stand die Regierung Lenins vor der Aufgabe, den Zerfall des Imperiums zu stoppen, ohne dabei zur Unterdrückung der Zarenzeit zurückzukehren. In den Reihen der Bolschewiki fanden sich zwar zahlreiche Vertreter nicht-russischer Nationen – Letten, Georgier oder Juden – doch in der europäischen Politik dominierte nun Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker.28 In den frühen Jahren der bolschewistischen Herrschaft war Stalin Kommissar für Nationalitätenfragen (1918-1922) und damit Lenins Beauftragter, eine bolschewistische Antwort auf das neue Europa der freien Nationen zu geben. Dies war folgerichtig, da Stalin sich auf Anregung Lenins bereits 1913 in seiner ersten 23 24 25 26 27 28
Čuev 1992, S. 154. Zu Lazar‘ Kaganovič als Mitstreiter Stalins, siehe Rees 2012. Katz 1966. Renner 2000. Plokhy 2018. Zum Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution grundlegend: Engelstein 2018. Wolff 2020; Lehnstaedt 2019.
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größeren marxistischen Abhandlung mit der Nationalitätenfrage beschäftigte.29 In dieser Position war Stalin wesentlich an der Gründung der Sowjetunion beteiligt, die eben deshalb eine Föderation nationaler Republiken war, weil sie eine Alternative zum souveränen Nationalstaat darstellen sollte. Stalin erkannte in dieser Zeit Lenins Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts der Völker an, doch er bevorzugte selbst bereits früh einen starken multinationalen Staat, der kleineren Nationen lediglich linguistische und kulturelle Selbstbestimmung einräumte. Sein Biograph Ronald Suny spricht deshalb von Stalins „imperial internationalism“, da er die Diktatur des Proletariats höher bewertete als nationale Rechte und das Proletariat mit der russischen Arbeiterklasse identifizierte.30 Zudem wich Stalin vom klassischen Marxismus ab, weil er sich auch nach der Revolution für eine starke Rolle des Staates aussprach. Dieser Staat sollte die Machtstellung des Proletariats absichern. Erst nach der Weltrevolution sei das Absterben des Staates realistisch.31 In die Zeit des Bürgerkriegs und der renovatio imperii unter kommunistischem Vorzeichen fielen auch Stalins erste Ausführungen zum Begriff der Diktatur des Proletariats. In dieser frühen Phase der sowjetischen Herrschaft spielte der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ in Stalins Reden und Schriften eine wichtige Rolle. So hatte er bereits im Oktober 1917 in der Zeitschrift „Rabočij Put‘“ die Herrschaft der Sowjets als Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauern bezeichnet und sie von bürgerlichen Diktaturen – etwa Kornilovs – klar abgegrenzt, denn es handele sich „um die Diktatur der arbeitenden Mehrheit über die ausbeuterische Minderheit, über die Kapitalisten und Spekulanten“. Nur Wochen vor dem Oktoberumsturz hoffte Stalin noch, dass die „Diktatur des Proletariats eine Diktatur ohne Gewalt gegen die Massen“ sein werde, da sie sich auf den Willen der Massen stütze.32 Lenin und Bucharin sahen das 1918 bereits anders. Nikolai Bucharin schrieb 1918, die proletarische Diktatur sei eine „eiserne Macht, eine Macht, die kein Erbarmen mit ihren Feinden hat". Der neue Staat sei „eine Organisation der Gewalt, aber der Gewalt über die Bourgeoisie; ein Mittel zur Abwehr der Bourgeoisie und deren endgültiger Vernichtung".33 Lenin selbst definierte zu dieser Zeit die Diktatur des Proletariats als die „mit niemand geteilte und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützenden Macht.“34 Zugleich prognostizierte er, die Diktatur sei die Staatsform des kommenden Zeitalters.35 Damit verabschiedete sich Lenin endgültig vom römisch geprägten Begriff der Diktatur, der sie als vorübergehenden Suny 2020, S. 525-527. Ebenda, S. 529. Roberts 2022, S. 92. Siehe auch van Ree 2002, S. 136-154. Stalin 1946, tom 3, S. 370. Bucharin 1918, S. 20-21; S. 25. Lenin 1960, Band 25, S. 416. Zur bolschewistischen Staatslehre siehe Kołakowski 1981, S. 523-576. 35 Lenin und Trotzki lösten mit ihren Schriften aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs Kontroversen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung aus. Von besonderer Bedeutung war
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Ausnahmezustand definierte, deren Ziel es sei, die Herrschaft des Rechts wiederherzustellen. Stalin selbst begründete in polemischer Auseinandersetzung mit den unterlegenen Menschewiki im Oktober 1918 das historische Recht der Bolschewiki, die Konstituante in Russland aufzulösen und allein die Macht zu übernehmen, weil die „Macht des Proletariats“ progressiver sei als die Errichtung einer bürgerlichen Republik.36 Als Fazit des Jahres 1918 hielt er fest, dass die „Macht der Sowjets und die Diktatur des Proletariats“ die einzig denkbare revolutionäre Herrschaft in Russland sei.37 In seiner Rolle als Nationalitätenkommissar betonte Stalin zu dieser Zeit die besondere Rolle der Diktatur des Proletariats bei der Überwindung der Unterdrückung nationaler Minderheiten. Nur der proletarische Staat garantiere die Gleichheit der Völker und Nationen und führe die Werktätigen aus dem Chauvinismus und den nationalen Kämpfen der Vergangenheit.38 In seiner Resolution zur Gründung der UdSSR bekräftigte Stalin noch einmal sein Argument. Der Kapitalismus stehe für nationale Feindschaft, koloniale Ausbeutung und Ungleichheit, für Pogrome und imperialistische Kriege. „Hier, im Lager des Sozialismus [herrschen] allgemeiner Frieden und Vertrauen, nationale Freiheit und Gleichheit, der friedliche Aufbau und die brüderliche Zusammenarbeit der Völker.“39 Die Lösung der nationalen Frage sei nur im Lager der Sowjets und nur unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats möglich, so Stalin. In seiner Lesart ebnete nicht der Nationalstaat, sondern die Diktatur des Proletariats den Weg zur nationalen Gleichheit und Freiheit. Diese Annahme blieb bis zum Ende der Sowjetunion eine ideologische Grundlage des kommunistischen Vielvölkerreiches. Nach Lenins Tod im Januar 1924 erkannte Stalin, dass seine Machtbasis als Generalsekretär der Partei nicht genügte, um die Nachfolge anzutreten. Neben dem Apparat wollte er auch die Ideologie kontrollieren, um die weltanschauliche Lufthoheit gegenüber seinen früheren Mitstreitern und jetzigen Widersachern zu sichern. Deshalb begann Stalin im Frühjahr 1924 mit der Kanonisierung von Lenins Werk und Wirken, womit er die Kontrolle über dessen Erbe übernahm. Das herausragende Symbol dieser Bemühungen ist bis heute das Mausoleum auf dem Roten Platz. Hierbei inszenierte sich Stalin als engster Gefährte und bester Schüler Lenins.40 Während er sich in der Position des ideologischen Erben inszenierte, warf er seinen Widersachern abwechselnd „linke“ oder „rechte“ Abweichungen vor. Welche mar-
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ihre Polemik mit Karl Kautsky, der die Massengewalt der Bolschewiki kategorisch ablehnte. Siehe Behrends 2017. Vgl. auch den Beitrag von Mike Schmeitzner in diesem Band. In dieser Frage stimmte er sowohl mit Lenin als auch mit seinem Widersacher Trotzki überein. Roberts 2022, S. 106. Im Unterschied zu Lenin und Trotzki beteiligte er sich kaum an der Polemik mit Karl Kautsky über den Begriff der Diktatur und den sozialistischen Staat. Stalin 1946, tom 4, S. 370. Stalin 1947, tom 5, S. 15-29. Stalin 1947, tom 5, S. 393. Ennker 1997.
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xistische Lehre in der UdSSR galt und was Lenins Vermächtnis war, bestimmte Stalin zunehmend selbst.41 Er war nicht nur das Zentrum der Macht im Herzen des Apparats, sondern auch der Hüter der marxistisch-leninistischen Orthodoxie. Stalins erfolgreichstes Projekt waren seine im April und Mai 1924 gehaltenen Vorlesungen zu den „Fragen des Leninismus (Ob osnovach Leninizma)“ an der Universität Sverdlovsk. Stalin sorgte dafür, dass seine Ausführungen in der Pravda veröffentlicht und später als Buch gedruckt wurden. Damit präsentierte er eine allgemeingültige Lesart der Ideologie Lenins für die kommunistischen Kader der Zukunft. Die „Fragen des Leninismus“ enthielten auch einen längeren Abschnitt zur Diktatur des Proletariats. Hier versuchte er sich an einer kanonischen Definition des Begriffs für die sowjetische Öffentlichkeit, die auch in den folgenden Jahrzehnten nicht widerrufen wurde: „Die Diktatur des Proletariats ist kein Regierungswechsel, sondern ein neuer Staat, mit neuen Machtorganen in der Hauptstadt und im Lande, ein Staat des Proletariats, der auf den Trümmern des alten Staates, des Staates der Bourgeoisie, entstanden ist. Die Diktatur des Proletariats entsteht nicht auf der Grundlage der bürgerlichen Zustände, sondern im Verlauf ihrer Zertrümmerung, nach dem Sturz der Bourgeoisie, im Verlauf der Enteignung der Gutsbesitzer und Kapitalisten, im Verlauf der Sozialisierung der wichtigsten Produktionsinstrumente und -mittel, im Verlauf der gewaltsamen Revolution des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats ist eine revolutionäre Macht, die sich auf die Gewaltanwendung gegen die Bourgeoisie stützt. Der Staat ist eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstands ihrer Klassengegner. Die Diktatur des Proletariats ist die revolutionäre Macht zur Niederhaltung der Bourgeoisie.“42
In seinen Ausführungen zum Leninismus von 1924 definierte Stalin nochmals die Diktatur des Proletariats als Gewaltherrschaft über ihre Gegner. Der Diktaturbegriff blieb positiv besetzt, da sich Stalin auch nach Lenins Tod zur Errichtung des Proletariats in der Sowjetunion bekannte. Weiterhin setzte er die Hoffnung auf eine gewaltsame Umgestaltung der Gesellschaft im Namen des Proletariates und der revolutionären Bauernschaft. Damit schuf Stalin in seinen Vorlesungen von 1924 die ideologische Grundlage für die Beendigung der NEP und seine Revolution von oben im „Großen Umbruch“, der nun den Sozialismus auch auf dem Land durchsetzen und es zugleich in die industrielle Moderne katapultieren sollte. In der Entscheidung über die Kollektivierung und Industrialisierung der Sowjetunion verbanden sich schließlich zwei Denkrichtungen Stalins: der orthodoxe Marxist mit dem geopolitischen Strategen.43 Als Marxist blieb Stalin fest davon über41 Dies war ein schwieriger politischer Kampf für Stalin, da Lenin noch kurz vor seinem Tode für Stalins Ablösung als Generalsekretär plädierte und in seinem „Testament“ vor Stalin warnte. Siehe hierzu Kotkin 2014, S. 472-529. 42 Stalin 1947, tom 6, S. 113-114. 43 Kotkin 2018, S. 10.
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zeugt, dass das Privateigentum – coûte que coûte – auch auf dem Land abgeschafft werden sollte. Ansonsten blieb sein Projekt des „Sozialismus in einem Lande“ und auch die Diktatur des Proletariats unvollendet. Als Geopolitiker verband Stalin jedoch die Kollektivierung mit der Industrialisierung des gesamten Landes. Der rapide Aufbau einer sozialistischen Industrie sollte nicht nur die vermeintlich herrschende Klasse – das Proletariat – vergrößern, sondern nach dem Zusammenbruch von 1917 auch die Sowjetunion als europäische Großmacht re-etablieren. Stalin sah sich hier im Zugzwang. Nach seiner Einschätzung würden die kapitalistischen Mächte ein rückständiges Russland vernichten, weshalb die forcierte Industrialisierung mitsamt gigantischem Rüstungsprogramm nicht nur als ideologische, sondern auch als geopolitische Notwendigkeit aufgefasst wurde. Stalin prognostizierte 1931: „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt. [...] Wir müssen so vorwärtsschreiten, daß die Arbeiterklasse der ganzen Welt, auf uns blickend, sagen kann: Hier ist sie, meine Vorhut, hier ist sie, meine Stoßbrigade, hier ist sie, meine Arbeitermacht, hier ist es, mein Vaterland – sie machen ihr Werk, unser Werk, gut, unterstützen wir sie gegen die Kapitalisten und entfachen wir die Sache der Weltrevolution.“44
Die Entscheidung für den „Großen Umbruch“ traf Stalin persönlich. Trotz der immensen Kosten und Millionen von Hungertoten hielt er am Kurs fest und zwang den Rest der Führung zu Gefolgschaft und Loyalität. Damit festigte Stalin seine nach 1929 unumschränkte Macht und seinen Sieg im Kampf um die Nachfolge Lenins. Er allein bestimmte nun über die Grundlagen der Ideologie und Politik. In der Partei hatte er keine Widersacher mehr. In Deutschland erkannte Carl Schmitt schon zu Beginn der 1920er Jahre die neue Form der bolschewistischen Staatlichkeit. Schmitt unterschied 1921 zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur und erklärte: „Die souveräne Diktatur sieht nun in der ganzen bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechtes, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung."45 Stalin beteiligte sich als Kommandeur an der Front und seit 1922 als Generalsekretär der Partei am Aufbau einer souveränen Diktatur in Russland, die seine persönliche Diktatur werden sollte.
44 Stalin 1951, tom 13, S. 39-40. 45 Schmitt 2006, S. 134.
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2. Scheinkonstitutionalismus und „Großer Terror“ (1935-1941) Zu Beginn der 1930er Jahre stand Stalin in der russischen Tradition der Autokratie.46 Die „Diktatur des Proletariats“ war nun die Herrschaft eines einzelnen Mannes über die Bevölkerung und die Partei. Doch die Rolle des Diktators und der Kommunistischen Partei wurden in den sowjetischen Legitimationsdiskursen zunehmend verschleiert. Stalin selbst wurde mehr und mehr zum Symbol für den sowjetischen Staat. Der Führerkult um seine Person, der mit seinem 50. Geburtstag 1929 einsetzte, übertraf in seiner Bedeutung bald den Marxismus als Legitimationsquelle.47 Seit Mitte der 1930er Jahren entstand mit der „Stalin-Verfassung“ die bolschewistische Version des „Scheinkonstitutionalismus“, der nach Max Webers Analyse bereits das späte Zarenreich geprägt hatte.48 Die Kollektivierung der Landwirtschaft und den Abschluss des Ersten Fünfjahresplans 1933 feierte Stalin als „Sieg des Sozialismus“ in der UdSSR, demzufolge eine neue Epoche in der Geschichte des Landes begonnen habe. Im Sozialismus existierten keine Klassengegensätze mehr, da die ausbeuterischen Klassen sämtlich vernichtet worden seien. Diese ideologische Satzung führte dazu, dass die Rede von der Diktatur des Proletariats zu Gunsten anderer Formen der Herrschaftslegitimation in den Hintergrund trat. Hinter den Kulissen änderte sich wenig: wie seit Ende der 1920er Jahre herrschte Stalin als Diktator, der sich nun auch das Recht nahm, seine früheren Mitstreiter zu inhaftieren und zu töten. Doch in der Selbstdarstellung verabschiedete sich die UdSSR von ihrer Selbstbeschreibung als Diktatur des Proletariats. Dabei verleugnete Stalin zu keinem Zeitpunkt seine Wurzeln im Bolschewismus, er interpretierte sie jedoch häufig um und am Ende seines politischen Wirkens versteckte er sie gelegentlich, wenn es ihm opportun erschien. Seit Mitte der 1930er Jahre konnte Stalin, der Marxist, hinter dem sowjetischen Staatsmann fast verschwinden. Neben dem „Sieg des Sozialismus“ im eigenen Land gab es auch außenpolitische Gründe für den Stalin‘schen Scheinkonstitutionalismus. Nach dem Aufstieg des italienischen Faschismus und der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland sowie mitten in der Krise der liberalen Demokratie positionierte sich auch die UdSSR neu: als perfektere Demokratie, nicht mehr als Diktatur des Proletariats.49 Stalin erklärte in seiner Rede über die neue Verfassung der Sowjetunion 1936 die Überlegenheit der sowjetischen Ordnung. Die Sowjetunion sei ein „Leuchtturm“, deren neue Verfassung „den unterdrückten Klassen [anderer Länder, JCB] neue
46 Wortman 2006. 47 Zum Stalin-Kult siehe Plamper 2012; vergleichend Behrends 2006, S. 171-225. Vergleichend: ders. 2010, S. 325-346. 48 Weber 1906, S. 165-401. 49 Behrends 2013.
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Hoffnung einflößt.“50 Das weiter bestehende Monopol der Staatspartei ergab sich aus dem „Sieg des Sozialismus“: Wo es keine widerstreitenden Klassen mehr gäbe, so argumentierte Stalin, da genüge auch eine Partei. Während in den Demokratien des Westens eine Herrschaft der Besitzenden existiere, sei in der UdSSR das arbeitende Volk an der Macht. Aus diesem Vergleich der zeitgenössischen Herrschaftsformen erklärte Stalin die Überlegenheit des eigenen Staates: „Deshalb glaube ich, daß die Verfassung der UdSSR die einzige bis zum letzten demokratische Verfassung der Welt ist.“51 Aus der Diktatur des Proletariats, die auf die Revolution folgte und die feindlichen Klassen vernichtete, war nach Stalins Ansicht ein Staat geworden, der dem Rest der Welt als demokratisches Vorbild dienen könne. Stalin bezeichnete die neue Verfassung als das, „wovon Millionen ehrlicher Menschen in den kapitalistischen Ländern träumen“ und als „Stütze für alle diejenigen, die jetzt den Kampf gegen die faschistische Barbarei führen.“52 Zugleich bedeute die Verfassung auch einen Bedeutungsverlust für die Partei, die ursprünglich Trägerin und Verkörperung der Diktatur des Proletariats gewesen war. Stalin wollte nun die UdSSR als starken Staat und Großmacht präsentieren, die er auch durch seinen Führerkult kommunizierte. Dabei trat die Partei in den Hintergrund, wie sich etwa daran zeigte, dass von 1939 bis 1952 kein Parteitag mehr abgehalten wurde. Doch ganz verschwand die Partei nicht von Stalins Radar: im Kurzen Lehrgang von 1938, der kanonischen Parteigeschichte, versuchte er als Historiker ihrer Geschichte eine definitive Form zu geben.53 Dass Stalin nun selbst nach dem Amt des Ministerpräsidenten griff, zeigte jedoch seine Wertschätzung des Staates. Außerdem wertete die sowjetische Propaganda bereits seit Mitte der 1930er Jahre den russischen Nationalismus gezielt auf.54 Auf die Kampagne zur „Stalin-Verfassung“ von 1936 folgte keine Liberalisierung, sondern der „Große Terror“, der in der Sowjetunion von 1937-1938 wütete.55 Trotz des Stalin‘schen Postulats einer Gesellschaft ohne Widersprüche zeigte sich, dass der Diktator überall Feinde und Verschwörungen gegen seine eigene Herrschaft witterte.56 Besonders in der Partei, aber auch in der Geheimpolizei und der Armee, den anderen Stützen der Diktatur, fanden sich zahllose „Verräter“, die mit oder ohne Schauprozess zur Zwangsarbeit deportiert oder zum Tode verurteilt wurden. Nicht mehr soziale Gruppen – wie der Adel oder später die „Kulaken“ – wurden kollektiv von der Staatsmacht verfolgt, sondern ethnische Kollektive wie etwa Polen, Koreaner oder Deutsche, die den „Massenaktionen“ des Narodnyj kommissa50 51 52 53 54 55 56
Stalin 1976, S. 72-73. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 89-90. Brandenberger 2019. Brandenberger 2002. Klassisch: Conquest 1968. Siehe auch Kotkin 2018, S. 376-496. Rittersporn 1992.
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riat vnutrennich del (NKVD) zum Opfer fielen.57 Der Unterschied zum Terror des Bürgerkrieges bestand allerdings darin, dass sich ein großer Teil der Gewalt nicht in der Öffentlichkeit vollzog. Im Bürgerkrieg bekannten sich die Bolschewiki und die Tscheka offen zum Massenterror, der NKVD im „Großen Terror“ versuchte der Massengewalt dagegen in Form von Schauprozessen ein legitimes Gesicht zu geben. Die Schergen der Geheimpolizei rückten früh morgens aus – sie verhafteten ihre willkürlichen Opfer nicht bei Tageslicht. Und obwohl den sowjetischen Bürgern die Lager des GULag bekannt waren, wussten sie, dass man öffentlich nicht über sie reden durfte. Der GULag war ein offenes Geheimnis im Land der „demokratischsten Verfassung“ – in der Diktatur Stalins.
3. Panslavismus und „Großer Vaterländischer Krieg“ (1939-1945) Der Pakt zwischen Hitler und Stalin vom August 1939 bildete den Auftakt zum Zweiten Weltkrieg in Europa.58 Für die kommunistische Weltbewegung war das plötzliche Bündnis zwischen Berlin und Moskau ein schwerer Schlag. Die ideologischen Gewissheiten zahlreicher Kommunisten wurden durch den Pakt zerstört. Tatsächlich zeigte der Vertrag, dass sich Stalin mittlerweile primär als sozialistischer Geopolitiker sah. Außerdem blieb er als Marxist weiterhin von tiefem Misstrauen gegenüber den kapitalistischen Großmächten Großbritannien und USA geprägt. In ihnen erblickte Stalin die eigentlichen Gegner der Weltrevolution. Den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg begründete die UdSSR im September 1939 mit völkischen Argumenten. So hieß es, dass Polen die belarussische und ukrainische Minderheit in seinem Staat unterdrückt habe. Die Rzeczpospolita scheiterte nach Ansicht des Kremls an nationalen Widersprüchen, die in der UdSSR nicht mehr existierten. In der Sowjetunion hingegen gäbe es eine organische staatliche Ordnung, sie sei „wie ein Mensch […] Unzerteilbar ist die Verbundenheit des ganzen sowjetischen Volkes mit seiner Regierung, mit seiner eigenen [rodnoj, JCB] bolschewistischen Partei, mit ihrem großen Führer, dem Genossen Stalin.“59 Die sowjetische Führung bemühte einen Topos, den sie während der Kampagne zur Stalin-Verfassung des Jahres 1936 geschaffen hatte: die Idee von einem neuen Vielvölkerstaat, der von einer volonté générale getragen würde. Stalins enger Mitarbeiter Emel‘jan Jaroslavskij begründete den sowjetischen Einmarsch in Polen im völkischen Duktus als „Hilfe für die gleichblütigen [edinokrovnij] Ukrainer und Weißrussen, die in Polen wohnen.“60 Die Sowjetunion reiche den 57 Martin 1998. 58 Moorhouse 2020. Weber 2019. Zum diplomatischen Hintergrund der Jahre 1939-1941, siehe: Gorodetsky 2001. 59 Istoričeskoe rešenie, 1939. In: Komu my idem na pomošč‘, S. 7. 60 Jaroslavskij 1939, S. 11. Zu Emel’jan Jaroslavskij siehe Dahlke 2010. Siehe auch Plokhy 2022.
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„Brüdern-Weißrussen“ und „Brüdern-Ukrainern“ die Hand, die von den „polnischen herrschenden Klassen“ in einen „unheilbringenden Krieg“ geführt worden seien. Jaroslavskij prangerte die nationale Unterdrückung und soziale Ungleichheit in Polen an und erklärte, der Osten des Landes sei eine „innere Kolonie des polnischen Finanzkapitals, des polnischen Imperialismus“ gewesen.61 So verband er soziale und ethnische Argumente mit einer völkischen Rhetorik, die für den Stalinismus während des Zweiten Weltkrieges charakteristisch war. Während die „Befreiung der Ukrainer und Belorussen“ gefeiert wurde, verschwieg die sowjetische Propaganda die jüdische Bevölkerung Ostpolens. Juden gehörten offenbar nicht zu den „Brüdern“, die befreit werden sollten. Obwohl Teile der jüdischen Bevölkerung die Rote Armee beim Einmarsch begrüßten, kamen sie im Pamphlet Jaroslavskijs nicht vor. Sie passten nicht in die slavische Rhetorik, die bemüht wurde, um den Angriff auf Polen zu bemänteln. Die internationale Solidarität galt im Stalinismus nicht allen Völkern und Nationen. Der deutsche Angriff vom 22. Juni 1941 verlangte die Mobilisierung sämtlicher Kräfte zur Verteidigung der Sowjetunion. Stalin wandte sich erst am 3. Juli 1941 per Radioansprache an die sowjetischen Bürger. Zu Beginn seiner Rede sprach Stalin die sowjetischen Bürger nicht als Genossen, sondern als seine „Brüder und Schwestern“ an.62 Damit bediente er sich nicht der Rhetorik der Partei, sondern der Metapher der Familie. Stalin mahnte, dass es zur „Verteidigung der Heimat“ großer Anstrengungen bedürfe. Stalin legte nicht fest, ob es sich um einen Kampf der Völker, Ideologien oder Klassen handelte, sondern führte aus: „Der Krieg mit dem faschistischen Deutschland ist kein gewöhnlicher Krieg. Es handelt sich nicht nur um den Krieg zweier Armeen. Es handelt sich ebenso um einen großen Krieg des gesamten sowjetischen Volkes gegen die deutsch-faschistischen Armeen. Das Ziel dieses Vaterländischen Krieges des ganzen Volkes […] ist nicht nur die Abwehr der faschistischen Gefahr, die unser Land bedroht, sondern auch die Hilfe für alle Völker Europas, die unter dem Joch des deutschen Faschismus leiden.“63
Damit verband Stalin die patriotische Aufforderung zur Verteidigung der Heimat mit dem antifaschistischen Kampf gegen Hitler, ließ also offen, ob es sich um einen nationalen oder einen ideologischen Konflikt handelte. Seine Rede blieb für unterschiedliche Interpretationen offen. In den ersten Wochen der militärischen Katastrophe war es Stalins Ziel, eine patrie-en-danger-Stimmung zu erzeugen, um die Bevölkerung zur Verteidigung der Heimat zu motivieren. Es ging nicht nur um die Rettung des bolschewistischen Experiments, sondern um den Erhalt Russlands. Emeljan Jaroslavskij schrieb in Der Kampf der slawischen Völker gegen den deutschen Faschismus, ein Pamphlet, das am 14. August 1941 in den Druck ging, 61 Jaroslavskij 1939, S. 13. 62 Stalin 1948, S. 9-17. 63 Ebenda, S. 16.
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über die besondere Verantwortung der UdSSR für die slavischen Völker. Aus den besetzten Ländern Europas – insbesondere den slavischen Nationen – berichtete er über den Widerstand gegen die Deutschen. In Prag hätten Streiks und Demonstrationen der Solidarität mit der UdSSR stattgefunden; „slawische Patrioten“ sammelten sich in Amerika und England, um „mit der Waffe in den Händen“ gegen das deutsche Joch zu kämpfen. Von der Front meldete Jaroslavskij, dass sich slowakische Soldaten weigerten, an der Seite der Deutschen gegen die Sowjetunion zu kämpfen, gegen „das russische Volk, die Stütze und das Bollwerk der Freiheit aller slavischen Völker.“64 In dieser Kriegspropaganda wurde nun die Sowjetunion mit Russland und dem Slaventum gleichgesetzt. Ähnlich wie das Zarenreich stilisierte sich die UdSSR als Schutzmacht der slavischen Völker. In der Propaganda dominierte nun die ethnische Komponente, während der Klassenkampf keine Rolle mehr spielte. Dieser ethnisch definierte Nationalismus spielte auch bei der Gründung der kommunistischen Parteistaaten in Osteuropa eine entscheidende Rolle. Nach der Auflösung der Komintern hatten Stalin und Dimitrov die Strategie der kommunistischen Parteien verändert. Nicht mehr die Klasse, sondern die Nation stand nun im Mittelpunkt ihrer Propaganda. Am deutlichsten zeigte sich dieser Neubeginn in Polen, wo die 1942 gegründete Polska Partia Robotnicza ihre Machtübernahme seit 1944 mit nationalen und panslavischen Argumenten begründete. Die von Stalin und Dimitrov geschaffene kommunistische Partei verzichtete in den ersten Jahren fast vollständig auf marxistische Rhetorik. Im Lubliner Manifest wurde diese neue Linie im Sommer 1944 ausformuliert. Neben dem deutschen Feind stand nun die Freundschaft slavischer Völker unter der Führung von Stalins UdSSR: Der „Andrang des germanischen Imperialismus“ könnte nur durch den Bau eines „großen slavischen Deiches“ begegnet werden, dessen Fundament die „polnisch-sowjetisch-tschechoslowakische Verständigung“ sein werde.65 Unter Stalins wachsamer Ägide kam die kommunistische Machtübernahme in Ostmitteleuropa fast ohne marxistische Anleihen aus.66 Doch auch in Moskau beendete Stalin den Krieg mit einer nationalistischen Rede. Auf einer Feier mit Kommandeuren der Roten Armee am 24. Mai 1945 im Moskauer Kreml lobte Stalin nicht nur das russische Volk, er hob es sogar als das erste Volk unter den Nationen der UdSSR hervor. Ausdrücklich bezeichnete er das russische Volk als die „führende Kraft der Sowjetunion unter allen Völkern unseres Landes.“67 Damit war die UdSSR 1945 nicht mehr – wie ursprünglich – eine Ordnung ungleicher Klassen, sondern eine hierarchisch gegliederte Familie der Völker mit den Russen an der Spitze. Damit widersprach der Stalin des Weltkrieges dem Nationalitäten-
64 65 66 67
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Jaroslavskij 1941, S. 11. Manifest Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego 1979, S. 182–191. Behrends 2013. Vystuplenie tovarišča I. V. Stalina. In: Stalin 1948, S. 196.
kommissar, der sich noch für die Gleichheit der Nationen unter der Diktatur des Proletariats ausgesprochen hatte. Stalin war überzeugt, dass in der Nachkriegsepoche die Diktatur des Proletariats zum Aufbau des Sozialismus in Osteuropa nicht mehr zwingend notwendig sei. So belehrte er den tschechoslowakischen Parteichef Klement Gottwald, dass nach dem Sieg über Hitler zahlreiche Wege zum Sozialismus möglich seien. Ähnlich äußerte er sich auch gegenüber polnischen Kommunisten.68 Damit revidierte er – ohne, dass die Doktrin sich offiziell änderte – die Ansichten, die er in den zwanziger Jahren vertreten hatte.
4. Die Rückkehr der Ideologie im Hochstalinismus (1946-1953) Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb die Liberalisierung des Regimes ein weiteres Mal aus. Stalin regierte weiter durch Terror und im permanenten Ausnahmezustand. Mit dem Wiederaufbau des Landes, dem Beginn des Kalten Krieges und der Konsolidierung der Ordnung von Jalta stand die Sowjetunion schon bald vor neuen Herausforderungen. Es begann die Phase des Hochstalinismus, die ganz im Zeichen des Führerkultes um Stalin und des Antisemitismus („Kampf gegen Kosmopoliten“) stand.69 Eine offizielle Biographie Stalins war der zentrale ideologische Text dieser Zeit. Nicht primär die abstrakten Begriffe des Marxismus, auch nicht die Parteigeschichte, sondern eine märchenhaft ausgeschmückte Erzählung über Stalins Leben bildete nun die Grundlage für die Schulung neuer Kommunisten. Die Biographie wurde von Millionen innerhalb und außerhalb der Sowjetunion gelesen. Sie wurde ein weiterer kanonischer Text.70 Ihren Höhepunkt erlebte diese Epoche mit den internationalen Feiern zu Stalins 70. Geburtstag, die von einer monatelangen Kampagne begleitet wurden.71 Stalin war in der sowjetischen Propaganda zum Symbol der kommunistischen Weltbewegung geworden. Marx, Engels und auch Lenin waren längst vom Stalinkult in den Hintergrund gedrängt worden. Innerhalb der Staatsparteien wurden zwar noch ideologische Debatten geführt, doch in der breiten Öffentlichkeit dominierte der Stalin-Kult. Zu Beginn der 1950er Jahre kehrte Stalin dann überraschenderweise als marxistischer Theoretiker zurück. Mit seinen Briefen zur Linguistik (1950) und einer Schrift über die „Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ (1952) äußerte sich der Diktator wieder zu ideologischen Problemen.72 Während Stalins sprachwissenschaftliche Intervention als Plädoyer für das Russische als Sprache des 68 69 70 71 72
Roberts 2022, S. 212. Vaksberg 1994; Rubenstein 2001. Autorenkollektiv 1948. Behrends 2006, S. 171-225. Stalin 1952. Siehe auch: Pollock 2006.
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Sozialismus gelesen werden kann und damit in den Kontext der russisch-nationalen Wende gehört, handelte es sich bei seiner ökonomischen Schrift um einen Kommentar zum Kalten Krieg. Stalin bekräftigte hier, dass es eine weitere finale Krise des Kapitalismus und Imperialismus geben werde. Er ging von der Annahme aus, dass sich das Szenario von 1919 wiederholen würde – nur, dass er nach Jalta die UdSSR in einer wesentlich besseren Position sah als nach dem Ersten Weltkrieg.73 In den Kontext dieser Schriften gehört sicher auch der 19. Parteitag der KPdSU, der im Oktober 1952 stattfand und bei dem Stalin letztmalig eine Rede hielt, die sich ebenfalls mit der internationalen Lage beschäftigte. Stalin bekräftigte hier die Stärkung des sozialistischen Lagers durch die Machtübernahme der Kommunisten in zahlreichen europäischen Staaten und in China. Sein Umbau der Parteispitze deutete ferner darauf hin, dass er wahrscheinlich eine weitere Säuberung plante, die wegen seines Todes im März 1953 nur in Ansätzen („Ärzteverschwörung“) durchgeführt wurde.74 Mit dem Abrücken vom marxistischen Vokabular und der Aufwertung von Nation und Imperium wirkte Stalin weit über seinen Tod hinaus, obwohl es besonders unter Chruščev und Gorbačev Versuche gab, den sowjetischen Marxismus zu revitalisieren. Mit Michail Suslov leistete sich Leonid Brežnev eigens einen Ideologie-Zar, der das kritische Potential der marxistischen Lehre kontrollierte. Letztlich funktionierte der russische Nationalismus bei den neuen russischen Kadern, die den Partei-Staat nach Stalin dominierten, hervorragend als Integrationsideologie.75 Insbesondere bei den Intellektuellen und in den Machtapparaten stieß die Rede über die russische Nation auf verstärkte Resonanz. Doch auch in der Bevölkerung verbreitete sich die Vorstellung vom Primat des Russischen. Der Rückgriff auf die imperiale Geschichte und die Betonung des eigenen Großmachtstatus im Kalten Krieg ebneten den Weg für den imperialen Nationalismus, der sich nach dem Ende der kommunistischen Diktatur seit Mitte der 1990er Jahre als russische Staatsideologie durchsetzte. Insofern hat Vladimir Putin nicht nur im Aufbau seiner persönlichen Diktatur, sondern auch in der Herrschaftslegitimation seinem Vorgänger Stalin einiges zu verdanken.76
5. Ausblick Die kommunistische Ideologie und der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ büßten unter der Herrschaft Stalins an Strahlkraft ein. Erst nach Stalins Tod kam es im sowjetischen Lager – wie Pavel Kolar in seinem Buch über den Post-Stalinismus 73 74 75 76
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Zu Stalins Rolle bei der Konferenz von Jalta, siehe Plokhy 2010. Rubenstein 2016. Mitrochin 2003. Zur Ideologie unter Vladimir Putin, die auch stark auf das „weiße Russland“ rekurriert: Eltchaninoff 2016; Taylor 2018, S. 9-41. Zu Putins anti-ukrainisch-großrussischer Ideologie: Behrends 2021b.
zeigt – zu einer Re-Ideologisierung und Renaissance des marxistischen Denkens, die letztlich in die Spaltung zwischen „Revisionisten“ und „Stalinisten“ führte.77 Bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft musste sich die parteistaatliche Orthodoxie nun mit den „Revisionisten“ beschäftigen, die ein Zurück zu Marx propagierten, und in der Mehrzahl in den Jahrzehnten zuvor treue Stalinisten gewesen waren. Nach den vergleichsweise ideologiefernen Jahren der Herrschaft Leonid Brežnevs verkündete Michail Gorbatschow zu Beginn der Perestroika noch einmal ein „zurück zu Lenin“.78 Doch der letzte Generalsekretär, der zugleich einer der letzten gläubigen Anhänger des Sozialismus war, meinte nicht den Lenin des Bürgerkrieges und der Diktatur des Proletariats.79 Sein Vorbild war die NEP und damit jene Epoche, die Stalin mit seiner Revolution von oben gewaltsam beendete. Trotz der ideologischen Metamorphosen blieb Stalin während seiner gesamten Herrschaft Bolschewik und Marxist. Doch neben dem Marxismus berücksichtigte er stets die Geopolitik und versuchte, Russland als europäische und dann auch globale Großmacht zu re-etablieren. Insofern hat Stalins Biograph Stephen Kotkin Recht, der den Diktator als „Marxist-Leninist imperial Russian nationalist” charakterisierte.80 Nur wer die Komplexität und Entwicklung von Stalins Denken im historischen Kontext der Zeit betrachtet, versteht auch, warum ihn der Marxismus zwar nicht losließ, aber die Diktatur des Proletariats dennoch im Laufe seiner langen Herrschaft in den Hintergrund trat.
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Mario Keßler Die Diktatur und die Proletarier. Zur Anatomie des Realsozialismus und seiner Kritik
Die Diktatur des Proletariats war laut dem 1969 in der DDR erschienenen „Sachwörterbuch der Geschichte“ ein „Grundbegriff des Marxismus-Leninismus, der den Klasseninhalt der Staatsmacht der Arbeiterklasse ausdrückt, die in der sozialistischen Revolution errichtet wird. […] Die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats ergibt sich aus den Bedingungen des Klassenkampfes; [sie] ist eine allgemeine Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Revolution.“ Weiter hieß es: „Die Diktatur des Proletariats setzt die Ausübung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse zur Lenkung und Führung der nichtproletarischen werktätigen Massen im Kampf für den Sozialismus, zur Unterdrückung des Widerstandes der gestürzten Ausbeuterklassen voraus.“1
1. Die Diktatur des Proletariats und die DDR Einige, aber wohl keineswegs alle Angehörigen des vielköpfigen Herausgeberkollektivs unter Leitung von Horst Barthel mochten sich der hintergründigen Dynamik bewusst gewesen sein, die in der Wendung beschlossen lag, wonach die Diktatur des Proletariats die Ausübung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse voraussetzte. Natürlich war es ein Axiom der offiziellen Lehre, dass die Arbeiterklasse im Besitz der Staatsgewalt war. Doch war sie dies wirklich? Im Folgenden soll dieser Satz zum Nennwert genommen werden, wie ihn die im Folgenden behandelten kommunistischen Kritiker des Realsozialismus zum Nennwert nahmen. Denn die Rede war von der Ausübung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse, nicht durch eine allwissende Parteiführung, die ihren Willen mit dem vorgestellten Interesse der Arbeiter in eins setzte. Die innerkommunistische Kritik daran soll am Beispiel der DDR mit Blick auf Wolfgang Harich, Robert Havemann, Rudolf Bahro und Fritz Behrens gezeigt werden. Laut Marx und Engels haben die Kommunisten als fortgeschrittenster Teil des Proletariats ihre Absichten nicht zu verschleiern: Die Diktatur des Proletariats ist nach Ansicht der marxistischen Gründerväter eine offen agierende Staatsform in 1 Sachwörterbuch 1969, S. 482.
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jener möglichst kurzen Übergangsperiode vom Kapitalismus zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, in der die Herrschaft des Proletariats gegenüber den bisherigen Klassen noch nicht gefestigt ist. Dabei rangen Marx und Engels mit dem Problem, dass die politische Sphäre des Staates von den übrigen organisierenden, nicht-herrschenden und nicht-repressiven Sphären des Staates notwendigerweise getrennt bleibt. Die politische Sphäre ist in dieser Übergangsgesellschaft durch Zwang und auch Repression geprägt, für die spezielle bürokratische Institutionen unumgänglich sind. Marx und Engels fanden für dieses Problem keine Lösung, auch nicht in ihrer Verarbeitung der Erfahrungen der Pariser Kommune. Sie erkannten dabei eine spezielle politische Erscheinungsweise der gesellschaftlichen Entfremdungs-Problematik: Jede Klasse sichert sich zum Schutz ihrer Interessen die Macht mit allen verfügbaren Mitteln, und daher ist ihre Herrschaft im Kern immer eine Diktatur. Die imperialistische Massengesellschaft und insbesondere der Erste Weltkrieg stellten am Anfang des 20. Jahrhunderts das Problem von Revolution, Diktatur und Demokratie neu. Doch zunächst gingen auch Lenin und die Bolschewiki vom marxistischen Axiom aus, dass die sozialistische Revolution in entwickelten westlichen Industrieländern siegen und die Diktatur des Proletariats dort zunächst als kurze Übergangsperiode die Ergebnisse der Revolution sichern sollte. Für Russland legten sich die Bolschewiki auf die bürgerlich-demokratische Revolution als nächstliegendes strategisches Ziel fest und verwarfen den von Trotzki und Parvus entwickelten Gedanken einer permanenten Revolution mit dem unmittelbaren Ziel einer sozialistischen Arbeiterregierung in Form der Räte, der Sowjets, dessen Prototyp Trotzki 1905 in Petersburg initiiert und geleitet hatte. Zwar hatte Lenin schon Ende 1899 im „Entwurf des Programms unserer Partei“ die Diktatur des Proletariats als wesentliche politische Bedingung der sozialistischen Revolution genannt,2 doch 1905 entschieden davor gewarnt, „auf einem anderen Weg als dem des politischen Demokratismus zum Sozialismus“ zu kommen; wer dies nicht sehe, gelange „unvermeidlich zu Schlussfolgerungen, die […] absurd und reaktionär sind.“3 Innerparteilich verfocht Lenin jedoch seit 1902 eine stärker auf Zwang gegen die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit Russlands gerichtete Haltung. Nur das Proletariat könne die Interessen der ausgebeuteten Massen in ihrer Gesamtheit vertreten, und zwar in Form einer Diktatur, um die Revolution zu sichern.4 Dem entsprach das innerparteiliche Organisationsmodell, wie es Lenin um den Preis der Spaltung in der Partei der Bolschewiki durchsetzte.
2 Vgl. Lenin (1955), S. 233ff. 3 Lenin (1957), S. 44. 4 Vgl. Lenin (1956), S. 3-11.
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Diese Fragen erlangten weitreichende praktische Bedeutung nach dem Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution und nach der Niederlage aller revolutionären Aufstandsversuche in Deutschland, Ungarn, Polen und anderen europäischen Ländern. Die Bolschewiki machten aus der Not eine Tugend, und sie suchten für ihre Alleinherrschaft auch ideologische Begründungen. Das Problem stellte sich besonders scharf nach der Unterdrückung des Kronstädter Aufstands 1921 und der zeitlich unmittelbar daran anschließenden Umformung der bolschewistischen Partei aus einer Körperschaft mit innerer Diskussionsfreiheit zu einer, in der die Freiheit durch das Verbot der Fraktionsbildung entscheidend beschnitten wurde. Die unerlässliche Modernisierung des durch Weltkrieg und Bürgerkrieg verwüsteten Landes konnte angesichts des dramatischen zahlenmäßigen Rückgangs der Arbeiterklasse nur durch die von innerparteilichen Kritikern als „Substitutionalismus“ bezeichneten administrativen Maßnahmen erfolgen. Die siegreiche bolschewistische Partei schuf sich einen bürokratischen Apparat, der jene Aufgaben in der Organisation der Gesellschaft ausführen sollte, die im klassischen marxistischen Revolutionsmodell dem Proletariat zukamen. Doch während das Proletariat als revolutionärer Akteur den kollektiven Willen und die Fähigkeit zur Selbstorganisation bewiesen hatte, war dies im nachrevolutionären Russland nicht länger der Fall. Als die Partei diktatorische Maßnahmen ergriff, musste auch sie die innerparteiliche Kritik zum Schweigen bringen. Diese diktatorischen Maßnahmen setzte die Partei nun mit dem Begriff der Diktatur des Proletariats in eins; sie und ihr Führungsapparat beanspruchten, den Gesamtwillen der Arbeiter zu vertreten. Aus Raum- und Zeitgründen muss selbst auf eine nur skizzenhafte Darstellung der folgenden Entwicklung vom Leninismus zum Stalinismus verzichtet werden. Hier sei lediglich davor gewarnt, ein Gleichheitszeichen zwischen Leninismus und Stalinismus zu setzen: der Letztere war zugleich Fortentwicklung wie jedoch auch Negation des Ersteren; verwiesen sei nur auf das zentrale Moment der innerparteilichen Verschwörung im Stalinismus, das bei Lenin fehlte. Darauffolgend, sei ein wichtiger Unterschied zwischen der Bolschewisierung und der Stalinisierung der kommunistischen Parteien genannt; erst unter Stalin wurde der – wirkliche, zumeist aber angebliche – innere Feind zum Hauptgegner, der sich mit dem Parteibuch tarne und den es mit allen Mitteln auszuschalten gelte. In der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR hing die Führung der SED völlig vom Wohlwollen der Besatzungsmacht ab. Zwar hofften Sozialdemokraten und ehemalige Mitglieder der sozialistischen und kommunistischen Kleingruppen der späten Weimarer Zeit – der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO), der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und von Neu Beginnen – zunächst noch auf Spielräume innerhalb der SED. Deren Führung gab vor, an demokratische Traditionen der Arbeiterbewegung anzuknüpfen. Doch bereits Anfang 1947 begann der SED-Apparat, Druck auszuüben. Dieser richtete sich nicht nur gegen politisch
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aktive Gegner, sondern vor allem gegen potenzielle Dissidenten, deren tradiertes unorthodoxes Gedankengut der aus der KPD kommende – entscheidende – Teil des Apparates fürchtete.5 Die einsetzenden Repressalien gegen kritische Parteimitglieder waren der Auftakt für eine weit umfassendere Kampagne. Die Passivität der Gesamtpartei angesichts der Verfolgung eines – relativ gesehen – kleinen Teils der Mitgliedschaft ermutigte den Apparat zu umfassenden, flächendeckenden Maßnahmen der Gleichschaltung. Doch aus dem ideologischen Apparat und aus den Denkfabriken der Partei selbst erwuchs ein kritisches Potenzial. Auf die Dauer war der Anspruch der SED, unter der Losung der Diktatur des Proletariats eine durch Repression gekennzeichnete Ordnung herzustellen, schlicht und einfach nicht vereinbar mit den Gedanken der marxistischen Gründerväter und dem demokratischen Potential der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Mochte dieses Potenzial verschüttet sein, blieb es doch unter der Oberfläche der Propaganda stets präsent. Die SED-Führung konnte es sich nicht leisten, dem marxistischen Erbe abzuschwören. Somit war die Berufung auf dieses Erbe die lange Zeit wirkungsmächtigste und für den Parteiapparat auch gefährlichste Herausforderung, wie ein Blick auf Wolfgang Harich, Robert Havemann, Rudolf Bahro und Fritz Behrens zeigt.
2. Wolfgang Harich: Vom demokratischen zum diktatorischen Kommunismus Wolfgang Harich (1923-1997) hatte zwischen 1945 und 1956 eine Karriere im Kulturbetrieb der SBZ bzw. DDR gemacht, wurde Philosophie-Professur an der Berliner Humboldt-Universität und war u. a. Chefredakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“. Er pflegte Umgang mit Koryphäen wie Ernst Bloch oder Georg Lukács. Aus den Erfahrungen des 17. Juni 1953 zog Harich jedoch den Schluss, die Partei anders auszurichten und in der Bevölkerung beliebter zu machen. Damit sollte der Sozialismus als Ganzes an Attraktivität gewinnen. Die SED sah er in der Pflicht, die Anerkennung durch die Bevölkerung und damit die machtpolitische Legitimität stets aufs Neue verdienen und erarbeiten zu müssen. Dieses Ansinnen prägte auch Harichs politische Vorstellungen im Zuge der Entstalinisierungsdebatten nach dem XX. Parteitag der KPdSU, die zwischen Frühjahr und Winter 1956 in der DDR und im gesamten Ostblock geführt wurden.
5 Vgl. Klein/Otto/Grieder 1996.
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In seiner aufsehenerregenden politischen Plattform hatte Harich 1956/57 das Beispiel Liebknechts vor Augen gehabt.6 Wie jener 1914, wollte Harich durch einen innerparteilichen Disziplinbruch die Parteiführung zu Reformen zwingen und andernfalls zu ihrem Sturz aufrufen. Sie reagierte noch repressiver als das wilhelminische Regime gegenüber Liebknecht: Harichs Forderung, mit dem Stalinismus zu brechen und den Marxismus-Leninismus durch Rückgriff auf Gedanken von Trotzki, Rosa Luxemburg, Bucharin und auch Fritz Sternberg sowie jugoslawischer Denker zu erneuern, sollte ihm über acht Jahre Zuchthaus in Bautzen einbringen. Harich forderte, die strikte Einhaltung der Leninschen Normen des Parteilebens in der SED zu garantieren und die Diktatur der Partei durch eine sich selbstorganisierende Diktatur des Proletariats zu ersetzen, die er in der weltweiten Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus weiter für notwenig hielt. „Der ganze Prozess der Demokratisierung in der DDR muss von der SED geleitet werden“, so Harich.7 Den Blockparteien war eine assistierende Rolle zugewiesen, um die Vormachtstellung des Proletariats weiterhin zu gewähren. Gleichzeitig forderte Harich einen radikalen Abbau der Staatsbürokratie und eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Freigesetzte Staatsbürokraten sollten in die Produktion versetzt werden.8 Im Schauprozess gegen Harich gab sich dieser reuevoll, da ihm während des Verhörs „die Werkzeuge gezeigt“9 wurden. Er sagte als Kronzeuge gegen seine Mitstreiter aus und wurde somit von Ulbrichts Justiz zum Verräter stilisiert – ein Vorwurf, der ihn bis an sein Lebensende begleitete und belastete. Nach der Entlassung aus dem Zuchthaus tat Harich alles, um nicht wieder in die Rolle eines Dissidenten zu geraten.10 Die Staatspartei mit dem von Harich ungeliebten Ulbricht an der Spitze stellte für ihn die zentrale Institution dar. Das lag nicht an der konkreten Staatsführung, sondern an der Institution Staat an sich, die für Harich immer Fixpunkt war.11 In Interviews und Briefen richtete er, so Alexander Amberger, „seine politischen Wünsche und Forderungen zumeist an die Partei, und wenn er ihre Politik kritisierte, so nur auf einzelnen Feldern und stets in Kombination mit alternativen Vorschlägen, für welche die SED zuständig sein sollte und die ihr seiner Meinung nach von Nutzen wären. Oppositionelle Strukturen oder Personen außerhalb der SED sah
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Zur zeitgenössischen Resonanz im Westen vgl. Das Konzept Dr. Wolfgang Harichs. In: FAZ vom 21.3.1957, S. 6; Das Papier eines SED-Rebellen, in: Die Zeit vom 21.3.1957. Vollständig abgedruckt und von Harich autorisiert wurde die Plattform in: Harich 1993, S. 112-160. 7 Harich 1993, S. 139. 8 Vgl. ebenda, S. 147. 9 So Dwars 2014, S. 54. 10 Vgl. Amberger 2011, S. 5-31 und ausführlich Amberger 2014. Ich danke Dr. Amberger für die Beschaffung wichtiger Literatur. 11 Die Existenz von Interessendivergenzen berge Konfliktpotential, dieses mache den Staat notwendig, so Harich. Der Staatsbürger habe auf den Staat zu hören, dürfe sich aber bei der Entscheidungsfindung demokratisch beteiligen. Vgl. Heyer 2012, S. 9 f. u. S. 23.
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Harich nicht als ernstzunehmende Instanz an, von ihnen erwartete er keine Veränderungen.“12 Noch beinahe zwei Jahrzehnte später verband Harich 1975 das Konzept der Diktatur des Proletariats mit den Konsequenzen, die aus dem Bericht des Club of Rome, „Grenzen des Wachstums“, gezogen werden müssten: „Der Sturz der Bourgeoisie, die Errichtung der Diktatur des Proletariats und die Verwirklichung des Kommunismus sind die Voraussetzungen dafür, die Forderungen des Club of Rome in der Gesellschaft durchzusetzen.“13 Hier zeigt sich, dass Harich die marxistische Übergangsphase zum Kommunismus nun als kommunistischen Endzustand unter ökologischen Prämissen manifestieren wollte, doch sich vom historischen Ziel eines Kommunismus verabschiedete, der die materiellen und kulturellen Bedürfnisse aller befriedigen könne. Angesichts begrenzter und schrumpfender Naturressourcen werde der Kommunismus „nicht die Überflussgesellschaft sein, die man sich unter ihm seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts […] immer vorgestellt hat. Der Kommunismus wird daher auch nie ohne staatliche Autorität und kodifiziertes Recht auskommen, wie dies die Klassiker des Marxismus-Leninismus, darin letztlich mit den AnarchoKommunisten übereinstimmend, angenommen haben.“14 Die kapitalistischen Industrieländer seien für den Übergang zum Kommunismus überreif, mehr noch als die Sowjetunion, China und ihre Verbündeten, schon weil dies der einzige Weg sei, um normale, auf Gerechtigkeit basierende Beziehungen zu den Entwicklungsländern herzustellen. Dies sei keine Aufgabe der Zukunft, sondern dringendes Erfordernis für die Gegenwart. „Von der neuerdings zu beobachtenden Infamie der multinationalen Konzerne, die in besonders starkem Maße die Umwelt zerstören, durch Verlagerung in die Dritte Welt den Protestaktionen der alarmierten Öffentlichkeit der eigenen Länder zu entziehen, will ich einmal ganz absehen.“ Alle umfangreiche Entwicklungshilfe ändere daran nichts, „solange sie in der Form des Kapitaltransfers gewährt wird, der die ökonomische Abhängigkeit von den multinationalen Konzernen steigert und die Übernahme der kapitalintensiven modernen Technologie, mit all ihren fürchterlichen Folgen, nach sich zieht. Erst der Übergang der nördlichen industrialisierten Regionen zum Kommunismus würde es ermöglichen, das Problem zu lösen.“ Dieser würde eine zentral gesteuerte Umverteilung der gesellschaftlichen Güter organisieren und dabei notwendigerweise Zwangsmaßnahmen anwenden. In einer solchen kommunistischen Gesellschaft, die das Wirtschaftswachstum zurückschraube und schließlich auf einem umweltverträglichen Maß stilllege, habe die westliche Parteiendemokratie ausgedient.15 12 13 14 15
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Amberger 2015, S. 126. Harich 1975, S. 109. Ebenda, S. 161. Ebenda, S. 163.
Das chilenische Beispiel habe gezeigt, wohin es führe, wenn eine Linksregierung am Pluralismus festhalte, „an ihrer selbstmörderischen Loyalität gegenüber einem politischen System, das sie zwang, einerseits die gegen sie organisierten Komplotte einer nach Mord gierenden Reaktion zu dulden und andererseits sich das Wohlwollen kurzsichtiger, politisch unaufgeklärter Teile des Proletariats mit volkswirtschaftlich noch gar nicht zu verkraftenden Lohnerhöhungen zu sichern“, so Harich.16 Zwar müsse die Linke den politischen Pluralismus gegen autoritäre Anschläge von rechts verteidigen. „Ausnutzen muss sie ihn, soweit er das zuläßt, um ihren eigenen politischen Einfluß zu mehren. Aber sobald ihr, sei es auf friedlichem Wege, sei es durch gewaltsamen Umsturz, die Macht im Staate zufällt, dann schleunigst weg mit diesem System und her mit der wahren, der ursprünglichen Demokratie, die in Europa als erste die Jakobiner, geführt von Robespierre, verwirklicht haben und die Babeuf mit seiner ‚Verschwörung der Gleichen‘ wiederherstellen wollte!“17 Nur eine zentral gesteuerte kommunistische Weltwirtschaft, die das überbordende Wirtschaftswachstum und die Bedürfnisbefriedigung der Menschen restriktiv einschränke, könne einen ansonsten irreparablen Raubbau an der Natur verhindern. Harichs „grandiose Vision“ sei, schrieb sein demokratisch-sozialistischer Kritiker Ossip Flechtheim, „in ihrer Einseitigkeit doch wohl unrealisierbar oder selbstzerstörerisch.“18 Abstrakt gesehen mochte eine Diktatur, die die Bedürfnisse der Menschen steuere, die Umweltplanung vielleicht besser angehen können als ein am Profit orientierter Kapitalismus. Doch könne eine autoritäre kommunistische Weltregierung, schon wegen der Natur ihrer Herrschaftsordnung, kaum derart uneigennützig dem Wohl der Natur und der Menschen dienen, wie Harich dies voraussetze. Als unkontrollierbare Herrscherschicht würden diese Regierung und ihr Apparat, und dies zeigten alle Erfahrungen, dem korrumpierenden Einfluss immenser Machtfülle erliegen. Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut; dieser Satz von Lord Acton gelte noch immer, und er gelte ganz bestimmt in einem von Harich erhofften kommunistischen Zwangsstaat.19 Ein weiteres Argument lasse sich gegen Harich einwenden: „Wenn die sogenannten sozialistischen Staaten ihren Bürgern so wenig Freiheit und Mitbestimmung bieten, wie das der Fall ist und wie Harich es ohne weiteres hinnimmt, so sind sie wohl stets versucht, als Ausgleich den Bürgern Konsummaximierung in Aussicht zu stellen. Harich verweist zwar auf den wirtschaftlichen Wettbewerb der westlichen und östlichen Systeme als eine der Ursachen von Konsumsteigerung und Wirtschaftswachstum. Er übersieht dabei jedoch, daß zwei andere Faktoren in dieselbe Richtung weisen: Die autoritäre Verfassung und der zwischenstaatliche Machtkampf. Dieser 16 17 18 19
Ebenda, S. 205. Ebenda, S. 206f. Flechtheim 1978, S. 189. Vgl. ebenda, S. 190.
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mag den Konsum fördern oder nicht, auf jeden Fall beschleunigt er den Rüstungswettlauf und damit den Fortschritt der Destruktion. Das erklärt wohl auch, warum bisher im sozialistischen Lager nicht so viel mehr als im Westen getan worden ist, um die Umweltkatastrophe abzuwenden.“20 So mutierte Harichs Vorstellung vom Kommunismus von der Diktatur des Proletariats zur weit repressiveren Diktatur der Umweltschützer. Genau in diesem Punkt schieden sich auch die Geister zwischen Wolfgang Harich und Robert Havemann, der in seinem letzten Buch die Notwendigkeit einer demokratischen Regelung der Umweltfragen unter einer antizipierten kommunistischen Regierung unterstrich.21 Bis dahin war es jedoch ein weiter Weg in der geistigen und politischen Entwicklung Havemanns.
3. Robert Havemann: Vom diktatorischen zum demokratischen Kommunismus Robert Havemann (1910-1982), noch bis 1956 nach eigener Aussage ein überzeugter Stalinist, schrieb Jahre später, er habe 1945 Arthur Koestlers Buch „Sonnenfinsternis“ gelesen, in dem dieser jenen Prozess der Gleichschaltung und Selbstgleichschaltung beschrieb, an dessen Ende die Kommunisten genötigt wurden, die Behauptungen der Parteiinquisitoren durch entsprechende Selbstbezichtigungen zu legitimieren: „Alles Verleumdung, gemeine raffinierte Lügen von Renegaten – das war mein Urteil.“22 Havemanns damalige Abscheu war genau die parteikonforme Mischung aus Gläubigkeit und sogenannter „Wachsamkeit“ gegenüber allem „Abweichlertum“, die die „Partei neuen Typus“ kennzeichnen sollte. Im Oktober 1956 bewertete er in Parteiversammlungen die Streiks in Polen und den Aufstand in Ungarn als ein Drängen der Volksmassen nach Demokratisierung des Sozialismus, dem die kommunistischen Parteien nachgeben müssten, sollten sie nicht hinweggespült werden. Er forderte eine öffentliche und nicht nur parteiinterne Diskussion über diese Fragen. Obwohl er damit in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur Staatspartei geriet, schützten ihn sein wissenschaftlicher Ruf und sein Ansehen als antifaschistischer Widerstandskämpfer noch vor Repressivmaßnahmen. 1962 verneinte er in einem Vortrag in Leipzig die Frage, ob der in der DDR gelehrte Marxismus den Naturwissenschaftlern bei der Lösung ihrer Probleme geholfen habe. Dieser Vortrag, den Havemann nicht publizieren durfte, den er aber in Kopie vielfach verbreitete und noch mehr seine Vorlesungsreihe an der Humboldt-Universität, die er 1964, ohne die Genehmigung der DDR-Stellen abzuwarten, im Westen
20 Ebenda, S. 190. 21 Vgl. Havemann 1980. 22 Havemann 1965. Wiederabdruck in: Havemann 1990, Zitat S. 127.
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publizierte, brachte ihm die offene Feindschaft der Herrschenden ein, die ihm, teils mit Häme, seine eigene stalinistische Vergangenheit vorhielten. Havemann reagierte offensiv und souverän. Am 7. Mai 1965 erschien in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ seine Selbstkritik unter der Überschrift „Ja ich hatte Unrecht: Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde“. Darin betonte er: „Was ich damals dachte und schrieb, kann nicht als Jugendsünde abgetan werden. Meine Irrtümer von damals waren ernster Natur. [...] Wenn man seine Meinung zu wichtigen Fragen ändert, so genügt es nicht, die neuen Ansichten zu vertreten und die alten zu kritisieren. Man muss danach forschen, warum man früher anders dachte, warum man heute anders denkt. Man muss den Wandel des eigenen Denkens in schonungsloser Offenheit darlegen. Wer den Eindruck zu erwecken versucht, er habe nie geirrt – oder wer es auch nur zulässt, dass dieser Eindruck entstehen kann, handelt unehrlich und verdient keinen Kredit.“ Bis Nikita Chruschtschow die Stalinschen Verbrechen in seiner „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag der KPdSU anprangerte, habe für Havemann der Grundsatz gegolten: „Die Wahrheit ist ‚parteilich’“ und: „Die Partei hat immer recht.“23 Die Frage nach der sozialen Natur des Systems der DDR aber stellte er sich erst – und dann systematisch – nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968. Am 10. Oktober 1969 brachte “Die Zeit“ den hierzu wichtigsten Text Havemanns: „Der Sozialismus von morgen“. Der Sieg der sozialistischen Revolution in Russland, und nicht im fortgeschrittenen Westen, habe die marxistische Revolutionskonzeption auf den Kopf gestellt. „Die sozialistische Revolution“, so Havemann, „ist typisch nicht für fortgeschrittene, sondern für rückständige Länder. Der Aufbau des Sozialismus in einem Lande ist möglich: Die Sowjetunion ist heute die eine der beiden Supermächte der Welt, das kapitalistische Amerika die andere. Demnach behielt ein Mann recht, der das Gesicht der Sowjetunion am meisten geprägt hat: Stalin.“24 Inmitten einer feindlichen kapitalistischen Umwelt konnte das Regime, fuhr Havemann fort, „auch nur die geringste politische Erschütterung im Innern zulassen. Die Entwicklung eines Systems brutaler Unterdrückung war die fast unvermeidliche Folge dieser Lage. Morde werden fast immer aus Angst verübt. Die millionenfachen Massenmorde in Stalins Lagern waren Taten der Angst. Das Furchtbare an der Angst, so begründet sie auch sein mag, ist, dass sie blind macht. Die Angst des stalinistischen Regimes ist schrecklich in ihrer Blindheit bis auf den heutigen Tag.“25 Das Wesentliche am stalinistischen Sozialismus aber sei „nicht nur der Polizeiterror, die Tätigkeit der Geheimpolizei, die jeder Kontrolle entzogen ist, und die Un23 Ebenda, S. 192f. Die DDR-Studentenzeitschrift „Forum“ hatte den Druck des Artikels, in dem er sich gegen eine in dem Blatt vorgebrachte Kritik an ihn zu wehren suchte, abgelehnt. 24 Der Aufsatz ist wieder abgedruckt in: Havemann 1977, S. 8f. 25 Ebenda, S. 9.
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terdrückung jeder kritischen oder gar oppositionellen politischen und weltanschaulichen Meinung. Im Grunde weit bedeutungsvoller ist die ökonomische Struktur. Sie ist der Nährboden, in dem der stalinistische Überbau blüht, wächst und gedeiht, ökonomisch ist im stalinistischen Sozialismus die sozialistische Revolution nur halb vollendet: Nicht die Produzenten, die Arbeiter und Bauern, sind als Eigentümer an die Stelle der Kapitalisten und Grundbesitzer getreten, sondern der Staat. Die Volksmassen üben gar nicht die Diktatur des Proletariats aus. Dies wäre ja eine Diktatur der Mehrheit über eine historisch abgewirtschaftete Minderheit. Statt von den Volksmassen wird die Diktatur von einer Minderheit von Funktionären ausgeübt, die sich als die Repräsentanten der Volksmassen ansehen. Die Frage ist: Wäre es möglich gewesen, in der Oktoberrevolution nicht auf halbem Wege stehenzubleiben? Hätten damals bereits die Arbeiter ihre Betriebe mit allen Entscheidungsrechten, die die ehemaligen Eigentümer hatten, übernehmen können? Was wäre auf dem Gebiet der Ökonomie dann die Aufgabe des Staates gewesen?“26 Im Oktober 1917 und noch lange danach sei die Vollendung der Revolution nicht möglich gewesen. In diesem Sinne habe Trotzki recht gehabt. „Die ökonomischen Voraussetzungen gemäß der Marxschen Grundthese fehlten damals in Russland gänzlich; deshalb konnte die reaktionäre Bewegung zwar siegen, ihre Ziele aber nicht erreichen. Es blieb nur eins: der verzweifelte Kampf um die Erhaltung der revolutionären Macht gegenüber den Angriffen der Konterrevolution. Deshalb führte Lenin in der Partei das Verbot der Fraktionsbildung ein, nachdem er selbst in meisterhafter Weise von der Technik der Fraktionsbildung Gebrauch gemacht hatte. Dieses Verbot und auch alle anderen Einschränkungen der innerparteilichen und staatlichen Demokratie wurden damals als Provisorium angesehen, die nur vorübergehend in Anbetracht der inneren und äußeren Gefährdungen gelten sollten. Aber sie überdauerten ihre Zeit und wurden zur Grundlage des politischen Stalinismus.“27 Die ökonomische Ineffizienz des Realsozialismus sei durch die politisch gewollte Vernachlässigung des Wertgesetzes verursacht worden, und nur eine grundsätzlich andere Politik, die von den arbeitenden Menschen und nicht der Staats- und Parteibürokratie bestimmt werde, könne hier Abhilfe schaffen. Dabei wurde die Freiheitsproblematik zum zentralen Bezugspunkt der theoretischen Überlegungen. Freiheit im Sozialismus bedeute nicht die Freiheit einzelner, sondern die Freiheit aller. Als Voraussetzung dafür sah Havemann indes nicht die Einschränkung, sondern die Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten auf die Sphäre der materiellen Produktion, die Aufhebung der mit der kapitalistischen Ausbeutung einhergehenden Entfremdung. In seinem letzten Buch „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg“ betonte er 1980 einmal mehr das für ihn entscheidend Positive der Entwicklung im Osten: dass das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben wurde. 26 Ebenda, S. 9f. 27 Ebenda, S. 10.
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Doch sei an die Stelle der Privateigentümer ein neuer Eigentümer in staatsmonopolistischer Form getreten. „Diese noch nicht sozialistischen Produktionsverhältnisse sind das adäquate Gegenstück zur politbürokratischen Diktatur. Aber der Übergang von dieser politbürokratischen Diktatur zu der Diktatur des Proletariats, wie sie den Ideen von Karl Marx folgend Rosa Luxemburg charakterisiert hat, ist nur noch ein Schritt, ein Schritt, der die unvollendete Revolution vollendet. Er ist gewiss schwer zu tun. Aber er ward schon einmal aus eigener Kraft getan: 1968 in der ČSSR! Und es ist doch die alte historische Erfahrung, dass große Umwälzungen ihr Ziel selten in einem einzigen Schritt erreichen.“28 Havemann erhoffte eine Transformation aus den realsozialistischen Gesellschaften heraus, deren Träger die große Mehrheit der arbeitenden Menschen sein werde, die an der Notwendigkeit der sozialisierten Produktionsmittel festhalten würden. Havemann konstatierte in diesem Buch, die Erforschung der ökologischen Gleichgewichte und Regelsysteme des Planeten stehe ganz am Anfang. Für die Gesellschaften sieht er das Problem, ökologische Systeme reagieren mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auf die vom Menschen vorgenommenen Eingriffe. Damit befindet sich die Zivilisation in einer Art Zeitfalle. Selbst wenn intensive Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die ökologische Degradation aufzuhalten, können die menschengemachten Wirkungen nicht mehr abgewendet werden, auch wenn die Ursachen dafür längst beseitigt sind. Laut Marko Ferst formulierte Havemann in seinem letzten Buch schon 1980 indirekt, „die jetzigen Generationen leben auf Kosten der zukünftigen Generationen. Für ihn ist längst die Grenze der zulässigen Umweltverschmutzung erreicht, und eine weitere Zunahme sei unakzeptabel. Überdies macht er auf die begrenzten Rohstoffvorkommen des Planeten aufmerksam.“29 Auf der Erde gebe es, so Havemann in seinem utopischen Bild, nur noch drei riesige unterirdische Werke, in denen alle Produkte hergestellt würden. Die Verwaltungsbürokratie existiere nicht mehr, da die Menschen über genügend Selbstkontrolle verfügten. In diesem Utopia gebe es kein Geld mehr; die Menschen würden sich aus den Versorgungszentren mitnehmen, was sie bräuchten. Havemanns Absage an jede Diktatur könnte kaum radikaler formuliert werden, doch setzte diese Absage einen kollektiven Reifeprozess voraus. Anders als Havemann billigte Harich in seiner Allmachtsphantasie zur Weltrettung dem Kollektivum Mensch nur einen sehr geringen Reifegrad zu. Beide Denker konnten somit, ungeachtet teilweise brillanter Überlegungen, den Menschen keine tragbare Alternative zur gegenwärtigen Ordnung bieten, sei diese privatkapitalistisch oder bürokratischkollektivistisch organisiert. Den Anspruch einer expliziten Alternative zum „realen Sozialismus“ wie zum nicht minder realen Kapitalismus formulierte indes Rudolf Bahro in seinem gleichnamigen Buch. 28 Havemann 1980, S. 202f. 29 Ferst o. J.
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4. Rudolf Bahro: Von der Aufklärung zur Esoterik Wie wohl kein zweiter sozialistischer Intellektueller der DDR, schrieb Guntolf Herzberg, einer seiner ersten Biographen, habe Rudolf Bahro (1935-1997) mit dem 1977 in der Bundesrepublik verlegten Buch „Die Alternative“ in Ost wie West „zeitweilig Menschen beeinflusst, die nach Alternativen zur Wirtschafts- und politischen Ordnung im jeweiligen deutschen Teilstaat suchten.“30 Seine Inhaftierung im August 1977 war Anlass einer breiten Solidaritätsbewegung im Westen. Am 1. Februar 1978 erschien ein Aufruf in der Londoner „Times“, den unter anderem Arthur Miller, Graham Greene, Carola Stern und Mikis Theodorakis unterzeichneten. Am 15. Februar konstituierte sich das „Komitee für die Freilassung von Rudolf Bahro“. Am 30. Juni wurde Bahro verurteilt, fünf Tage später fand eine Protestkundgebung des Komitees vor der West-Berliner Gedächtniskirche statt, auf der unter anderem Ernest Mandel, Jakob Moneta, Heinz Brandt, Helmut Gollwitzer und der Juso-Vorsitzende, der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder sprachen. Die ehemaligen Mitglieder der in der DDR verbotenen Rockband Renft, die in den Westen abgeschobenen Gerulf Pannach und Christian Kunert, sangen dazu. Vom 16. bis 19. November fand in der Technischen Universität Berlin ein Solidaritätskongress statt, der von etwa 8.000 Menschen besucht wurde. Am 10. Dezember erhielt Bahro die Carlvon-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte. Im Vorfeld des 30. Jahrestages der Staatsgründung der DDR richtete das Solidaritätskomitee einen Appell an Erich Honecker, der schließlich rund 10.000 Unterschriften trug, darunter von Simone de Beauvoir, Jean Paul Sartre, Wolf Biermann, Romy Schneider und Heinrich Böll. Die Proteste endeten erst mit der Haftentlassung Bahros und seinem Weggang in den Westen am 11. Oktober 1979.31 Ende 1989 kehrte Bahro nach Ost-Berlin zurück. In der politischen Umgestaltung der DDR spielte er aber keine Rolle mehr. Die Urteile über Bahro waren und sind noch immer konträr. „Für das SED-Regime war er der verräterische Konterrevolutionär, für oppositionelle Geister der DDR der mutige theoretische Systemüberwinder. Auch in der westlichen Welt steht Respekt gegen Ablehnung und Hohn: Während die Einen ihn für einen kühnen Theoretiker halten, sehen andere in ihm den missionarischen Eiferer und pessimistischen Künder der Apokalypse.“32 Rudolf Bahro wurde 1935 im schlesischen Bad Flinsberg (heute ŚwieradówZdrój) als Sohn eines Viehwirtschaftsberaters geboren. Die Familie musste Schlesien 1945 verlassen. 1954 bestand er das Abitur mit Auszeichnung in Fürsten30 Herzberg o. J. Vgl. Herzberg/Seifert 2005, S. 133ff. 31 Vgl. zu den Solidaritätsaktionen ebenda, bes. S. 278ff. und Amberger 2014, S. 190ff. 32 Fruck 2002 (Besprechung der Erstausgabe von 2002 der soeben genannten Biographie von Herzberg/Seifert 2005).
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berg/Oder und studierte bis 1959 Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Bereits 1954 trat er der SED bei, protestierte jedoch zwei Jahre später gegen die Desinformation über den ungarischen Aufstand in der Parteipresse. Seitdem wurde er mit Unterbrechungen durch das MfS beobachtet. Nach dem Diplom verpflichtete sich Bahro zur Arbeit auf dem Land und war als Dorfzeitungsredakteur im Kreis Seelow im Oderbruch tätig. 1960 wurde er Redakteur der Universitäts-Parteizeitung in Greifswald, und von 1962 bis 1965 war er politischer Mitarbeiter beim Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft in Berlin.33 1965 wurde Bahro stellvertretender Chefredakteur der Studentenzeitschrift „Forum“, doch wegen des Abdruckes von Volker Brauns Stück „Kipper Paul Bauch“ 1967 abgelöst. Bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1977 arbeitete er im VEB Gummikombinat Berlin-Weißensee, zuletzt als Abteilungsleiter für Arbeitsorganisation.34 Ungeachtet seiner politischen „Bauchschmerzen“ 1956 war Bahro zunächst ein überzeugter und pflichtgetreuer Genosse, wenngleich ihn 1964 die Ablösung Nikita Chruschtschows und die darauffolgenden schleichende Rehabilitierung Stalins irritierte. Sein Erkenntnisprozess vom Auseinanderklaffen der verkündeten Ideale und der Wirklichkeit erhielt jedoch den entscheidenden Bruch mit der gewaltsamen Niederschlagung des reformkommunistischen „Prager Frühlings“ im August 1968 durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten. Damals wollte Bahro demonstrativ aus der Partei austreten, wählte nach einigem Nachdenken jedoch den anderen, noch risikoreicheren Weg einer Doppelexistenz: Einerseits bewarb er sich 1972 erfolgreich auf eine außerplanmäßige Dissertations-Aspirantur an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg. 1975 reichte er seine Dissertation über „Voraussetzungen und Maßstäbe der Arbeitsgestaltung für wissenschaftlich ausgebildete Kader im industriellen Reproduktionsprozess der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, d. h. über Effektivität und Hemmnisse beim Einsatz von Hoch- und Fachschulabsolventen in der Wirtschaft ein. Nach drei positiven Gutachten wurden auf Veranlassung des MfS drei weitere Gutachter hinzugezogen, die eine Ablehnung der Schrift veranlassten. Als Grund dienten nicht genehmigte Interviewerhebungen. Erst 1980 wurde das Promotionsverfahren an der Universität Hannover mit Unterstützung von Oskar Negt und Gert Schäfer abgeschlossen.35 Zum anderen aber schrieb Bahro eine der bis dahin gründlichsten Analysen des sowjetischen Entwicklungsmodells unter spezieller Berücksichtigung der DDR: „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“.
33 Er war dort zeitweilig persönlicher Referent von Heinz Keßler, dem Vater des Verfassers dieser Zeilen. 34 Zu Bahros Biographie und Wirkungsgeschichte vgl. neben den bereits genannten Arbeiten Wolter (Hrsg.) 1978 und Weber 2015. 35 Buchausgabe: Bahro 1980a.
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„Die Alternative“ war das Produkt einer immensen, unter konspirativen Bedingungen entstandenen Forschungsarbeit. Schon die Beschaffung der in der DDR verbotenen Quellen, zumeist aus der Feder kommunistischer Dissidenten von Leo Trotzki über Milovan Djilas bis Isaac Deutscher, bedufte enormer Anstrengung. Bahro trug die Ergebnisse seiner Arbeit am 22. August 1977, fast auf den Tag genau neun Jahre nach dem Einmarsch der „brüderlichen“ Armeen in Prag, vor den verblüfften Genossen seiner Betriebsparteiorganisation vor. Am nächsten Tag wurde er verhaftet, noch bevor in den westlichen Fernsehnachrichten über seinen Fall berichtet wurde. Bahro hatte mit Hilfe des Schweizer, in der DDR lebenden Musikwissenschaftlers Harry Goldschmidt und des in halber Ungnade lebenden Ökonomen Fritz Behrens, der als Rentner aber in den Westen reisen durfte, eine Videokassette mit einem mit sich selbst geführten Interview sowie ein Exemplar des Buchmanuskriptes in den Westen schmuggeln können, wo es beim Kölner Bund-Verlag erschien.36 „Was ich liefern wollte“, so Bahro, der sich eindeutig als Kommunist bekannte, im Interview mit sich selbst, „war tatsächlich nicht primär politische Polemik, sondern der Entwurf einer umfassenden politisch-ökonomischen Analyse und Alternative. Polemisch ist mein Buch bloß insofern, als es das parteioffizielle Selbstbild des real existierenden Sozialismus zerstört und die Wirklichkeit dagegen zur Sprache bringt.“37 Er habe, so Bahro, den real existierenden Sozialismus als eine Gesellschaftsformation eigenen Typs analysiert, wie Marx den Kapitalismus als Gesellschaftsformation analysiert habe. Der Ursprung der sowjetischen Gesellschaft liege nicht im Kapitalismus westeuropäischen Zuschnitts, sondern in der asiatischen Produktionsweise, deren Wirkung Marx erkannt, aber nicht in ihren Konsequenzen bedacht habe; Bahro knüpfte hier an den Sinologen und abtrünnigen Kommunisten Karl August Wittfogel an. Diese Produktionsweise generiere eine Herrscherschicht, die von innen, durch einen Bund der Kommunisten, zu stürzen sei. Bahro hoffte, mit seinem Buch, das illegal viele Menschen in der DDR lesen würden, vor allem „die vielen halbloyalen Parteimitglieder“ anzusprechen, „die sich kritisch mit der DDR verbunden fühlen.“ Sie sollten den Weg in die wirkliche sozialistische Opposition gehen, bis der Apparat sich daran gewöhnt habe, „einer offenen Opposition ins Gesicht sehen zu müssen.“38 Die ihm vorerst drohenden Konsequenzen schreckten ihn nicht, so Bahro weiter. „Ob man mich verhaften wird oder nicht“, sagte er, „das kommt auf den Schutz der internationalen Öffentlichkeit, insbesondere der kommunistischen Öffentlichkeit an. Daß es Paragraphen gibt, gegen die ich verstoßen mußte, um überhaupt aufzutreten, gehört zum Wesen unseres politischen Systems. [...] Mir sind im 36 Bahro hatte beabsichtigt, das Buch beim VSA-Verlag, damals West-Berlin, heute Hamburg, erscheinen zu lassen; Behrens vermittelte es dem Bund-Verlag in Köln, zu dem er (wohl über den ihm bekannten Lektor Tomaš Kosta) Verbindungen hatte. 37 Bahro 1977, S. 1105. 38 Ebenda, S. 1106f.
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neuen politischen Strafgesetzbuch – je nach Auslegung – von vornherein zwischen 2 und 10 Jahren angedroht, falls man beschließt, meine Kritik am politischen Überbau als staatsfeindliche Hetze einzuordnen.“39 Er habe sich auch von seiner Familie trennen müssen, die er nicht in seinen Kampf hineinziehen könne. Doch was immer auch geschehe – er sei froh, dass das Versteckspiel ein Ende habe. Das staatssozialistische System sei ein „Koloß“, der durch die „Verdoppelung der unförmigen Staatsmaschine in einen Staats- und Parteiapparat“ das gesellschaftliche Leben erdrücke. „Unsere offiziellen Ideologen wollen und können schlechterdings nicht einmal sagen, worin sich ein ferner Kommunismus prinzipiell von unseren bestehenden Zuständen unterscheiden soll. Sie kennen nur eine einzige Perspektive, und das ist die unaufhörlich ,wachsende Rolle’ ihrer Partei- und Staatsmaschine.“40 Die nur halbe und mit Chruschtschows Entmachtung wieder abgebrochene Entstalinisierung habe zwar den offenen Terror zurückgedrängt, am repressiven Kern des Systems aber nichts geändert. „Die ganze Struktur ist quasi-theokratisch. Denn der Kern der politischen Gewalt – ich spreche hier nicht von ihren hypertrophierten Vollzugs- und Polizeiorganen – ist die geistliche Gewalt, mit der ständigen Tendenz zur Inquisition, so daß die Partei schon selbst die eigentliche politische Polizei ist. Der Parteiapparat als Kern der Staatsmacht bedeutet den säkularisierten Gottesstaat, wie er der Kirche zu ihrem Glück nie anders als lokal gelungen ist. Nie waren, seit die naturwüchsigen Theokratien der Frühzeit niedergingen, weltliche und geistliche Autorität derart in einer Hand vereint. Da er auf diese Weise in der Tat ,für alles verantwortlich’ ist, muß er jede Distanzierung von den Details der bürokratischen Praxis als ideologische Ketzerei verdächtigen.“41 Bahros Alternative, wie er sie in der „Alternative“ formulierte, lag aber nicht nur konträr zum staatssozialistischen Modell, dass sich so erfolglos bemühe, den Westen unter der Losung „Überholen, ohne einzuholen“ zu kopieren. Vielmehr müsse die Idee des Fortschritts überhaupt „radikal anders interpretiert werden, als wir es gewohnt sind.“42 Eine Drosselung des Wachstums der Industriegesellschaft sei dringend vonnöten, um die bis zur Vernichtung der Ressourcen reichende Ausbeutung der Natur zu beenden. Doch während Wolfgang Harich glaubte, dies nur durch eine Diktatur zu erreichen, die den Menschen zu seinem Glück zwinge, sah Bahro in einer sozialistischen, basisdemokratischen Selbstverwaltung einen Weg aus diesem Ost wie West gleichermaßen betreffenden Dilemma, das zudem der Dritten Welt die Kosten der industriellen Verschwendung aufbürde. Das Instrument einer solchen umfassenden Demokratisierung sah Bahro in der DDR in einem Bund der Kommunisten, der der Unterstützung durch die eurokommunistischen und sozialde39 40 41 42
Ebenda, S. 1108. Bahro 1977/1990, S. 43. Ebenda, S. 288. Ebenda, S. 311.
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mokratischen Parteien des Westens bedürfe. Träger einer solchen demokratischen Transformation könne nicht mehr das Proletariat allein sein; in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft sei die Intelligenz zu einem politischen Machtfaktor herangewachsen, der auch in einem revolutionär-demokratischen Transformationsprozess, wie ihn Bahro sah, den Ausschlag geben könnte. Abgesehen von der moskautreuen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), solidarisierte sich der überwältigende Teil der westlichen Linken mit dem inhaftierten Denker. Die Trotzkisten Ernest Mandel und Pierre Frank bedauerten zwar, dass Bahro – ihrer Meinung nach – das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse zu gering veranschlagt habe, würdigten jedoch das Werk als einen Meilenstein marxistischen Denkens, der in Inhalt und Form an Leo Trotzkis 1936 veröffentlichtes Buch „Verratene Revolution“ anknüpfe.43 Auf dem in West-Berlin im November 1978 veranstalteten Solidaritätskongress für Rudolf Bahro prangerte Ernest Mandel die widerspruchsvolle Haltung derjenigen Sozialdemokraten, Maoisten oder Vertretern der offiziellen kommunistischen Bewegung an, die zwar Einschränkungen der Meinungsfreiheit jeweils im Machtbereich ihrer Gegner verurteilen, für den eigenen Machtbereich aber solche rechtfertigten.44 Etwas kritischer war, bei allem Lob für Bahros scharfsichtige Analyse, Pierre Franks Reaktion. Zwar knüpfe Bahro in seiner Programmatik an Marx an, doch führe seine geschichtsphilosophische Perspektive dazu, den Stellenwert der Arbeiterklasse in künftigen revolutionären Kämpfen herabzubuchen. Diese benötigte keine Bevormundung durch eine intellektuelle Avantgarde. Mandel und Frank würdigten jedoch Bahros außerordentlichen Mut und seine unbedingte Solidarität mit allen Verdammten dieser Erde.45 Hingegen äußerten sich bürgerliche und sozialdemokratische Kritiker, ebenfalls unter Würdigung von Bahros Haltung, skeptisch zu seinen utopischen Vorstellungen, so auf einer Tagung der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus im Mai 1980, an der Bahro als Gast teilnahm.46 Die breite Solidarität mit Bahro und die Rezeption seiner Gedanken im Westen, die hier nur sehr verkürzt wiedergegeben werden können, standen in völligem Kontrast zum amtlichen Totschweigen in der DDR. Die Staatssicherheit vermeldete, „Die Alternative“ kursiere in der DDR und die aus den westlichen Medien hereinkommenden Informationen führten zu vorsichtig-kritischen Nachfragen auch in Parteiversammlungen.47 Ihren Niederschlag fanden Bahros Gedanken in unveröffentlichten Aufzeichnungen von Fritz Behrens, der mit seinem Schüler Arne Benary bereits in den 1950er Jahren über Reformen des starren planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems der DDR 43 44 45 46 47
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Vgl. Mandel 1978, S. 94-116. Bahro-Kongreß 1979, S. 15f. Vgl. Frank 1978, S. 42-56. Kremendahl/Meyer (Hg.) 1981. Vgl., auch zum Folgenden, Amberger 2014, S. 189.
nachgedacht hatte und dafür vom Parteiapparat gemaßregelt worden war. Bahro und Behrens trafen sich im August 1976 erstmals. Behrens erhielt das Manuskript von Rudi Wetzel, einem engen Freund Bahros, vorab. Nach der Lektüre machte er die divergenten Auffassungen deutlich, vermittelte den Text jedoch an den Kölner Bund-Verlag.
5. Fritz Behrens: Ketzereien in der Schublade Der aus Rostock stammende Fritz Behrens (1909-1980) erwarb das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Er wurde 1926 Mitglied der SPD, wechselte 1931 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und 1932 zur KPD. Behrens studierte Volkswirtschaftslehre und Statistik in Leipzig und wurde 1936 mit der Arbeit „Das Geldkapital in den Wechsellagen“ promoviert. Danach forschte er im Statistischen Reichsamt, wurde 1939 zum Oberkommando der Wehrmacht dienstverpflichtet und arbeitete von 1941 bis 1945 für das Statistische Zentralamt in Prag, wo er auch Kurse an der Universität gab und Kontakte zum antifaschistischen Widerstand unterhielt. Im Juli 1945 wurde Behrens Stadtrat für Volksbildung in Zwickau und nach seiner Habilitation 1947 zum Professor für Statistik und Politische Ökonomie an die Universität Leipzig berufen. Behrens war Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften sowie Gründungsdekan der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät. 1954 wechselte er auf die Direktorenstelle des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Von 1955 bis 1957 war er zudem Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission und in dieser Eigenschaft Mitglied des Ministerrats der DDR. Seine Kritik am staatszentralistischen bürokratischen Führungsstil in der Wirtschaft und sein Konzept einer demokratisch-sozialistischen Selbstverwaltung führte, trotz ihm aufgenötigter Widerrufe, 1957 zum Verlust aller Ämter. Seitdem war er als Arbeitsgruppenleiter am Akademie-Institut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften tätig. Nach erneuten Zweifeln an der Funktionsweise der DDR-Wirtschaft wurde er 1968 vorzeitig emeritiert. Offiziell erhielt er einen Arbeitsauftrag über die Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen, heimlich verfasste er Texte über mögliche Wege hin zu einer ökonomischen und politischen Selbstverwaltung im Sozialismus. Seine Konsequenz war: Die DDR müsse mit dem Leninschen Parteimodell zugunsten einer demokratischen Räteherrschaft brechen. In einem dieser Texte setzte sich Behrens im Februar 1979 mit Bahro auseinander. Bahros alternatives Parteimodell eines Bundes der Kommunisten bleibe, so Behrens, trotz emanzipatorischer Züge einem elitären Avantgarde-Verständnis
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verhaftet. Zwar wolle Bahro mehr Mitbestimmung der Arbeiter, jedoch keine Selbstbestimmung. „Für Bahro bleibt nicht nur die Gesellschaft hierarchisch-elitär strukturiert, für ihn bleibt auch die Partei, auch wenn er sie in ,Bund’ umtauft, das Gehirn der zu Emanzipierenden und der Emanzipierten.“48 Behrens sah darin ein zentralistisch-elitäres Muster und attestierte ihm, im Leninismus zu verharren: „Wie bei Lenin ist der Staatsmonopolismus für Bahro ein Zwischenstadium auf dem Weg zum Sozialismus.“49 Bahros Sozialismus-Verständnis sei im Kern technokratisch statt basisdemokratisch. „Bahro rechtfertigt“, so Behrens an anderer Stelle, „die hierarchisch-elitäre Struktur des real existierenden Sozialismus, als dessen ,revolutionärer’ Kritiker er sich versteht. Auf Bahro trifft zu, was Brecht notierte: ,der neu anfangende, der die tradition nicht beherrscht, fällt leicht unter die herrschaft der tradition zurück.’50 Bahro beherrscht die Tradition der Arbeiterbewegung nicht. Er kennt nicht die Dialektik der hierarchischen Partei und ihrer Kritiken. Wie die Struktur des Arbeitsprozesses von dem Charakter der gesellschaftlichen Produktivkräfte – von der Technik her – bestimmt ist, so wird die Struktur der ökonomischen – und auch der politischen Entscheidungsprozesse von den Produktionsverhältnissen, den Beziehungen der Menschen in der materiellen Produktion bestimmt. Wenn diese hierarchisch ist, sind auch die Entscheidungsprozesse hierarchisch […].“51 Doch so scharfsichtig Behrens’ Kritik auch war, sie blieb, in die Schublade verbannt, völlig wirkungslos.
6. Bilanz Die „Diktatur des Proletariats“ war für all diese Kritiker nur ein Trugbild, der den repressiven Charakter der scheinsozialistischen Gesellschaft verschleierte. Ihr alternatives Denken entwickelte sich jedoch in verschiedene Richtungen. Wolfgang Harichs Vorstellung, durch staatliche Zwangsregulierung der Produktion und des privaten Konsums die Umwelt zu schonen und einen ökologischen Umgang der Menschen mit ihren natürlichen Ressourcen zu erzwingen, bezeichnet Alexander Amberger mit Recht als eine „utopische Ökodiktatur“, die den freiheitlichen Sozialismus, den Harich einst vertrat, rigoros verwarf.52 Im strikten Gegensatz zu Harich, der einen Überstaat für nötig hielt, um die ökologischen Probleme zu lösen, entwarf Havemann das Modell einer Solidargemeinschaft. Wie Harich hielt auch Havemann die Drosselung der Industrieproduktion für überfällig. In einem nachkapitalistischen Gesellschaftswesen, das durch fast völlige 48 49 50 51 52
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Behrens 2010, S. 159. Ebenda, S. 163. Brecht 1973, S. 116. Brecht benutzte im ‚Arbeitsjournal‘ die Kleinschreibung. Behrens 1992, S. 112. Amberger 2014, S. 84.
Abwesenheit von Zwang gekennzeichnet sei, würden nur wenige Spezialisten den Produktionsprozess kontrollieren. Rudolf Bahros weiterer Weg führt über den Gegenstand dieses Aufsatzes hinaus. Während seiner kurzen Mitarbeit in der Grünen Partei suchte er den Marxismus zu überwinden und durch eine Mischung aus sozialistischen mit wertkonservativen Vorstellungen zu ersetzen. Er warf den marxistischen Theoretikern nunmehr einen Mangel an Transzendenz vor. Die Veränderung der Gesellschaft beginne im Kleinen, und dies erfordere eine Wiederentdeckung der Spiritualität.53 Nun sah er sowohl in der despotischen Diktatur in Nordkorea wie in der Landkommune von Bhagwan Shree Rajneesh im US-Bundesstaat Oregon Keimformen eines künftigen Zusammenlebens der Menschen. Andernfalls gerate die Menschheit auf eine Bahn, die zur Selbstausrottung führe.54 Mit solchen apokalyptischen Visionen, die er ab 1990 auch als Professor für Sozialökologie an der Humboldt-Universität sowie in einer Lernwerkstatt vertrat, brachte sich Bahro jedoch um jede politische Wirkung. Nach Fritz Behrens war, und darin unterschied er sich von den drei anderen Denkern, der Realsozialismus keine geschichtlich offene Übergangsgesellschaft, sondern eine Produktionsweise sui generis. „Staatsmonopolismus ist eine Verschmelzung von Überbau und Basis, ohne aber die Spaltung der Gesellschaft in Überbau und Basis wirklich zu überwinden.“ Er hat sich, so Behrens, „als eine neue Produktionsweise konstituiert, als eine bürokratische Produktionsweise mit einem staatsmonopolistischen Überbau“.55 Behrens erkannte am Klarsten, dass der Staatssozialismus als Gegensatz zur Selbstverwaltung der Arbeiter kein zukunftsfähiges Entwicklungsmodell verkörperte. Behrens’ selbst auferlegte Passivität zeigte die Notwendigkeit wie die Unmöglichkeit, als Marxist in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen. Die Schimäre von der Diktatur des Proletariats sollte die grundlegenden Defekte dieser Gesellschaft verdecken – solange, bis das Proletariat selbst diese Gesellschaft beseitigte und einen Kapitalismus restaurieren half, in dem es, in den Worten von Marx, nicht länger als „Klasse für sich selbst“ handelte.56 Diese politische Selbstentwaffnung im Vollzug der Erringung der Freiheit wäre jedoch nicht möglich gewesen, hätten die Gralshüter der Marxschen Lehre und Diktatoren über das Proletariat nicht in dessen Namen eine jahrzehntelange Herrschaft ausgeübt, die dem Marxschen Geist letztlich entgegengesetzt war.
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Vgl. Bahro 1980b. Vgl. Bahro 1987. Behrens 1992, S. 34f. Marx 1955, S. 180.
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Revision und Wandel: Der lange Abschied von der Diktatur des Proletariats
Marie-Janine Calic Jugoslawiens „dritter Weg“: Wesen und Wandel des Systems der Arbeiterselbstverwaltung
Innerhalb der kommunistischen Welt nahm Titos Jugoslawien eine Sonderstellung ein. Das System der Arbeiterselbstverwaltung, das nach dem Bruch mit Stalin entstand, galt als demokratischere Form des Sozialismus und Gegenentwurf zum sowjetisch geprägten etatistischen Modell. Liberalisierung und Dezentralisierung führten im weiteren Verlauf zum Rückbau totalitärer Herrschaftsmerkmale und zu einer pluralistischen Debatte über das Wesen des jugoslawischen Weges. Da sich das Belgrader Regime aber nach wie vor auf die Theorien von Marx, Engels und Lenin berief, hielt es am theoretischen Konzept einer Diktatur des Proletariats fest und fand eigene Erklärungen, die Systemrealität mit den alten marxistischen Dogmen in Übereinstimmung zu bringen. Was aber machte die jugoslawische Variante einer solchen Diktatur des Proletariats konkret aus, und wie veränderte sie sich in der Praxis? Und wie beeinflusste dies das politische System, die Rolle der alleinherrschenden kommunistischen Partei und den Zusammenhalt des Staates insgesamt?
1. Die KPJ im Kampf für die Diktatur des Proletariats Bis zum Rauswurf aus der Kominform 1948 betrachteten sich die jugoslawischen Kommunisten als treue Anhänger des Sowjetkommunismus. Erst ex post wurden vermeintliche ideologische Differenzen identifiziert und deren Ursprung rückwärts in die Zeit des Zweiten Weltkriegs projiziert. Nach der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1918 (seit 1929 Jugoslawien) schlossen sich die sozialistischen und Arbeiterparteien der südslawischen Länder zusammen. Daraus entstand 1920 die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ). Sie trat der von den russischen Bolschewisten beherrschten Dritten Internationale bei und wurde somit zu einer Sektion der „Weltpartei des Proletariats“, einer Kampf- und Kaderpartei „neuen Typus“. Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung wurde die KPJ drittstärkste Fraktion im Parlament, ehe sie 1921 verboten wurde. Da die Verbreitung kommunistischen Gedankenguts seitdem unter schwerer Strafandrohung stand, agierte die Partei in der Illegalität; die Mitgliederzahl schmolz zusammen. Der kroatische Kommunist Josip Broz Tito, der nach einem längeren Aufenthalt bei der Komintern in Moskau 1937 die kom-
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missarische Leitung und 1939 das Generalsekretariat der KPJ übernahm, stellte die Partei personell und organisatorisch neu auf. Er rekrutierte junge Führungskader und verordnete „monolithische Einheit“, ideologische „Reinheit“ und „Bolschewisierung“.1 Bei Kriegsausbruch war die KPJ die einzige zentral geführte und gesamtjugoslawisch orientierte Partei in Jugoslawien, alle anderen waren regional oder ethnisch ausgerichtet. Dies bildete eine zentrale Voraussetzung dafür, dass sie 1941 die Führungsrolle im Widerstand gegen die Besatzungsmächte übernehmen konnte. Nachdem die Wehrmacht Jugoslawien am 6. April 1941 angegriffen hatte, kapitulierte die jugoslawische Armee binnen Tagen bedingungslos. Der 17-jährige König Peter II., seine Regierung und der Generalstab flohen ins Exil. Hitler und sein Verbündeter Mussolini teilten Jugoslawien daraufhin in Besatzungsgebiete und scheinunabhängige Gebiete auf. Nun begann ein beispielloser Ausbeutungs- und Ausrottungskrieg im Namen der „neuen Ordnung“. Hunderttausende wurden den NS-Rasseplänen unterworfen; die gesamte Wirtschaft auf die deutschen Kriegsziele und den Vierjahresplan ausgerichtet. Zehntausende wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Geheimpolizei und Sicherheitskräfte begannen, Regimegegner zu verhaften und in KZs zu sperren. Die Juden wurden gekennzeichnet, enteignet und systematisch vernichtet. Hunderttausende orthodoxe Serben wurden in den katholischen Glauben gezwungen, vertrieben oder ermordet. Im Unterschied zu den etablierten politischen Kräften, die den Untergang Jugoslawiens ohnmächtig hinzunehmen schienen, waren Tito und die KPJ entschlossen, Widerstand zu leisten. Allerdings erschien es unrealistisch, mit nur 40 000 Mitgliedern und Sympathisanten, die über wenig Waffen und Munition verfügten, sogleich den offenen Kampf zu beginnen. Anfangs beschränkte man sich daher auf Sabotageund Guerilla-Aktionen. Erst nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion rief die kommunistische Führung Anfang Juli 1941 den bewaffneten Aufstand aus. Bereits im Herbst 1941 begann Tito mit dem Aufbau regulärer Streitkräfte, der späteren multinationalen Volksbefreiungsarmee. Obwohl – oder gerade weil – die Wehrmacht wegen des Widerstands monströse Vergeltungsaktionen an der Zivilbevölkerung durchführte und dabei Zehntausende ermordete, schlossen sich immer mehr Männer und Frauen aus allen Landesteilen den Partisanen an. 1943 zählte die Volksbefreiungsarmee über 300 000 Mitglieder, bei Kriegsende an die 800 000. Die jugoslawischen Kommunisten kämpften unter dem Motto „Brüderlichkeit und Einheit“ für die Befreiung und Neugründung Jugoslawiens als sozialistischer Föderalstaat nach dem Vorbild der Sowjetunion. Obwohl sie die längste Zeit vergeblich auf Unterstützung aus Moskau gewartet hatten, wähnten sie sich ideologisch in vollem Einklang mit der KPdSU. Bereits während des Krieges begannen ihre Volksbefreiungsräte, in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Grundlagen einer sozia-
1 Calic 2021, S. 76ff.
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listischen Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild zu legen. Im November 1943, rund zwei Monate nach der Kapitulation Italiens, trat im bosnischen Jajce der Antifaschistische Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens (AVNOJ) zusammen, eine Art Partisanenparlament. Vertreter aus allen Landesteilen fassten den Beschluss, Jugoslawien nach dem Krieg als sozialistische Bundesrepublik wiederaufzubauen. Nachdem die Volksbefreiungsarmee im Oktober 1944 in Belgrad eingerückt war, errichteten die Kommunisten ein Regime, das alle Kriterien totalitärer Herrschaft erfüllte: Es bediente sich einer einheitlichen Ideologie und alleinherrschenden Staatspartei, einer terroristischen Geheimpolizei, des Waffen- und Nachrichtenmonopols sowie einer Form der Planwirtschaft. Die politischen Parteien wurden faktisch liquidiert; ihre Presse wurde unterbunden.2 Angesichts der internationalen Lage bemühten sich die jugoslawischen Kommunisten gleichwohl darum, sich ideologisch nicht zu stark zu exponieren. Um von den Alliierten als Verbündeter anerkannt zu werden, gab Tito die längste Zeit vor, er habe gar keinen kommunistischen Systemwechsel im Sinn. Da auch die künftigen Grenzen Jugoslawiens umstritten waren, vor allem gegenüber Italien, musste diese Illusion wenigstens bis zu einer künftigen Friedenskonferenz aufrechterhalten werden. Im Februar 1945 beschlossen die drei Alliierten in Jalta tatsächlich, das Demokratische Föderative Jugoslawien anzuerkennen, allerdings nur mit einer provisorischen Regierung, an der auch Nichtkommunisten mitwirken sollten. Tito musste sich zudem verpflichten, demokratische Rechte zu wahren, also die Freiheit der Person und des Glaubens sowie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Politische Parteien und freie Presseorgane wurden zunächst erlaubt. Von einer möglichen Diktatur des Proletariats war deswegen überhaupt keine Rede. Die demokratischen Rechte standen jedoch nur auf dem Papier. Denn die faktische Macht im Staat lag bei den Tito-Kommunisten, die nicht nur einen beispiellosen militärischen Sieg gegen Hitler-Deutschland und seine Kollaborateure erkämpft hatten, sondern auch keinen ernst zu nehmenden politischen Gegner im eigenen Land hatten. Der König, seine Regierung und der Generalstab sowie die meisten Protagonisten der bürgerlichen Parteien befanden sich im Ausland; ihr Ansehen war beschädigt, ihre Organisationen und Presse waren schwach. Alle in Jugoslawien verbliebenen politischen Kräfte gingen im August 1945 in der Volksfront auf, einer Massenorganisation, die unter der Führung der KPJ stand. Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung stellte sie als einzige eine Liste und gewann 89 Prozent der Stimmen. Am 29. November 1945 wurde die Föderative Volksrepublik Jugoslawien ausgerufen, die Monarchie wurde abgeschafft. Angesichts der eindeutigen Machtverhältnisse ging der Aufbau der sozialistischen Ordnung nun trotz Kritik aus dem Ausland nahezu ungebremst vonstatten.
2 Friedrich/Brzezinski 1957, S. 19.
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Die jugoslawischen Kommunisten sahen sich in der Tradition der bolschewistischen Oktoberrevolution und bekannten sich entsprechend zur Diktatur des Proletariats. Mit Verweis auf Lenin verwarfen sie Parlamentarismus und staatsbürgerliche Rechte als Fassade einer „Diktatur der Bourgeoisie“. Sie erklärten die Herrschaft eines (von ihnen selbst postulierten) allgemeinen Volkswillens, einer kommunistischen volonté générale, wie sie schon Dimitrow und Stalin in der Mitte der dreißiger Jahre propagiert hatten. Die Massenbewegung der Partisanen, der multinationale Volksbefreiungskampf sowie Titos Charisma dienten als primäre Legitimation der neuen Ordnung. „Unsere Wählerstimmen sind … die Milliarden Blutstropfen, die aus den Adern unserer Burschen geflossen sind, die auf den Schlachtfeldern … gefallen sind“, erklärte der Vorsitzende des kroatischen Volksbefreiungsrats, der Schriftsteller Vladimir Nazor im Frühjahr 1945. „Das ist es, was uns ermächtigt … ein Plebiszit.“3 Wie im gesamten sowjetisch dominierten Europa propagierten die Jugoslawen die Volksdemokratie nach Moskauer Vorgaben. Das Mehrparteiensystem war explizit ausgeschlossen; als alleinige Repräsentantin gesellschaftlicher Interessen fungierte die kommunistische Einheitspartei. Pluralismus, freie Wahlen und Presse sowie echte Gewaltenteilung existierten nach wie vor nicht. Denn es hieß, in der sozialistischen Gesellschaft Jugoslawiens werde der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufgehoben, und mit den Klassengegensätzen würden soziale und nationale Konflikte verschwinden.4 Indessen manifestierten sich frühzeitig gewisse Unterschiede zum Sowjetmodell. So wollten die Jugoslawen stärker auf Überzeugung setzen, um den Sozialismus aufzubauen, und weniger auf propagandistische Mobilisierung. Sie verstaatlichten die Produktionsmittel, verzögerten jedoch die Kollektivierung der Landwirtschaft. Nicht zuletzt fanden in Jugoslawien keine politischen „Säuberungen“, sprich ideologisch motivierten Liquidierungen, innerhalb der Partei wie in der KPdSU statt.5 In Jugoslawien entwickelte sich hingegen ein vollkommen auf die Person Titos zugeschnittenes autokratisches System. Alle Macht konzentrierte sich in seiner Hand. Das höchste Führungsorgan im Staat war das etwa zehnköpfige Politbüro, eine Art Präsidium, mit Tito an der Spitze. Und dieser berief seine Kandidaten und Kandidatinnen nach eigenem Gutdünken in die Führungspositionen. Er selbst betrachtete das Mehrparteiensystem ausdrücklich als schädlich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens widerspreche es dem demokratischen Prinzip gleicher Teilhabe, weil es – wie man in der Zwischenkriegszeit gesehen habe – politische und soziale Ungleichheit reproduziere. Zweitens wirke es in einer multinationalen Gesellschaft als Spaltpilz, da sich unweigerlich ethnische Parteien formieren würden, was zur 3 Spehnjak 2002, S. 24. 4 Flere/Klanjšek 2019, S. 53ff. 5 Calic 2021, 201f.
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Zersplitterung des Staates führen würde. „All das kann man selbstverständlich nicht demokratisch nennen“, gab Tito zu. Aber wenn erst einmal Gerechtigkeit erreicht sei (also die sozialistische Ordnung konsolidiert sei), könnten auch mehr individuelle Freiheiten gewährt werden.6
2. Rückbau der Parteidiktatur und die Erfindung der Arbeiterselbstverwaltung Bis 1948 konnte Stalin Jugoslawien als einen seiner treuesten Bundesgenossen betrachten. Die Kommunisten hatten sich aus eigener Kraft durchgesetzt und besaßen aufgrund des Sieges über die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg eine immens starke Stellung im eigenen Land. Und Tito hatte in kürzester Zeit ein durchwegs stalinistisches System geschaffen. Das sowjetische Zentralkomitee lobte, dass alle „reaktionären und bürgerlichen Kräfte“ in Jugoslawien beseitigt und „die Wurzeln des Kapitalismus gründlicher ausgerottet waren als in den anderen [osteuropäischen] Staaten.”7 Tito selbst ließ seinerseits keinen Zweifel an seiner Moskau-Treue. Als er im April 1946 den Freundschaftsvertrag mit der UdSSR unterzeichnete, erklärte er, dass “die große Sowjetunion der ruhmvollste Verbündete und stärkste Beschützer” Jugoslawiens in Kriegs- und Friedenszeiten sei.8 Für die Jugoslawen kam der Bruch mit Stalin trotz gewisser Dissonanzen somit durchwegs überraschend. Der Bruch mit der Kominform hatte einen machtpolitischen, keinen ideologischen Hintergrund. Tito wollte eine regionale Vormachtstellung für Jugoslawien durchsetzen und arbeitete an Freundschafts- und Kooperationsverträgen mit Albanien, Bulgarien und Griechenland. Stalin musste dies zu Recht als Herausforderung der sowjetischen Hegemonieposition betrachten, die die Einheit des kommunistischen Lagers gefährdete. Er verlangte Absprachen mit der Sowjetunion, sprich Kontrolle. Ein weiteres Ärgernis war, dass Jugoslawien im griechischen Bürgerkrieg die Kommunisten unterstützte, was zu Zerwürfnissen mit den Westalliierten führte. Da die Jugoslawen in beiden Fragen nicht nachgaben, wurde am 28. Juni 1948 entschieden, sie aus den Reihen der kommunistischen Parteien und somit aus dem Informbüro auszuschließen.9 Die jugoslawischen Kommunisten, auch Tito selbst, erlebten den Rauswurf aus der Kominform als Schock. Jugoslawien wurde dadurch vollkommen isoliert, es drohte eine schwere Wirtschaftskrise. Zudem waren die Glaubwürdigkeit und politische Legitimität des Regimes erschüttert; gegen den Tito-Kurs regte sich Widerstand in der eigenen Partei. Jahrelang, zumal im verlustreichen Partisanenkrieg, war die 6 7 8 9
Tito 1982, Bd. 2, S. 17f. Perović 2007, S. 38. Ebd., S. 39. Calic 2020, S. 186f.
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Sowjetunion als Vorbild gepriesen worden. Wieso sollte Stalin plötzlich kein unfehlbarer Führer des Weltproletariats mehr sein? Wie könnte sich das sozialistische System in Jugoslawien ohne Rückhalt aus Moskau behaupten? Die Führung der KPJ ergriff harte Maßnahmen. Tausende angebliche Stalin-Anhänger wurden nun aus der Partei ausgeschlossen oder auf der berüchtigten Kahlen Insel (Goli Otok) zur „Umerziehung“ interniert. Zwischen 1949 und 1956 beherbergte das Lager rund 13.000 Gefangene; etwa 400 kamen dort zu Tode.10 Schon 1949 begannen die höheren Parteigremien über „neue Wege des Sozialismus“ zu diskutieren. Sie wollten ein System entwickeln, dass einerseits immer noch sozialistisch, jedoch politisch unabhängig vom Ostblock war. Boris Kidrič und Milovan Đilas schlugen vor, sich auf den frühen Marxismus zu berufen und das Staats- in Gesellschaftseigentum zu verwandeln. Hatten nicht schon Marx und Engels die „Assoziation der freien Produzenten“ gefordert und das „Absterben des Staates“ vorausgesagt? Mit Hilfe des ursprünglichen Marxismus konnte einerseits der Stalinismus bzw. Etatismus als „unsozialistisch“ verworfen und andererseits ein neues System der „sozialistischen Selbstverwaltung“ zur wahrhafteren Form der Diktatur des Proletariats erklärt werden. Schließlich war auch Lenin von verschiedenen Formen und Tempi der sozialistischen Umgestaltung ausgegangen. Als Vordenker eines autochthonen jugoslawischen Modells identifizierte die jugoslawische Politikwissenschaft den serbischen Sozialisten Svetozar Marković (1846-1875), der die traditionelle serbische Dorfgemeinschaft als Grundform der sozialistischen Gesellschaft betrachtet hatte. Im Zweiten Weltkrieg hätten dann die Volksbefreiungsräte die Grundlagen der Selbstverwaltung gelegt.11 Die Selbstverwaltung wurde nun zum „radikalsten Versuch, das ursprüngliche Modell des kommunistischen Systems zu reformieren“, erklärt.12 Man definierte sie sogar als eine historisch gesetzmäßige gesellschaftliche Entwicklungsstufe im historischen Fortschrittsprozess, gekennzeichnet durch die Macht der Arbeiterklasse und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel.13 Die Selbstverwaltung wurde ausgehend von den Wirtschaftsbetrieben schrittweise auf das Wahl- und Vertretungssystem, die lokale Verwaltung sowie auf alle Einrichtungen von Bildung, Kultur und Gesundheitswesen ausgeweitet. 1949 wurden in 215 ausgewählten Betrieben die ersten Arbeiterräte gegründet. Am 26. Juni 1950 verabschiedete die Nationalversammlung ein Grundgesetz, um die betriebliche und kommunale Selbstverwaltung im ganzen Staat einzuführen. Alle Industriebetriebe, landwirtschaftlichen Kollektive, sozialen und kulturellen Einrichtungen sowie die Gemeinden wurden künftig durch Arbeiterräte bzw. Kollektive der Beschäftigten 10 11 12 13
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Calic 2021, S. 243ff. Tašić 1985, S. 51. Prpić 1995, S. 80. Tašić 1985, S. 59 u. 96.
selbstverwaltet. Die anlässlich des Konflikts mit Stalin hastig begonnene Kollektivierung der Landwirtschaft wurde rückgängig gemacht; es wurden später auch private Gaststätten und Unternehmen mit bis zu drei sowie Handwerksbetriebe mit bis zu fünf Angestellten erlaubt. Ausgehend von den Arbeiterräten sollte die Selbstverwaltung prozesshaft alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens durchdringen und sich permanent weiterentwickeln. Die Selbstverwaltung versprach den Einzelnen mehr Teilhabe, und dies sollte helfen, unterschiedliche Interessen miteinander zu versöhnen bzw. diese konfliktfrei in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren. Zu Beginn der 1950er Jahre reformierten die Kommunisten das Regierungssystem und trennten im November 1952 auf dem VI. Parteitag die Staats- und Regierungsfunktionen von der Partei. Sie etablierten damit das Prinzip der Machtteilung, durch welches sich das diktatorische Regime erst zögernd, bald aber in wachsender Geschwindigkeit, reformierte. Staat, Partei und Wirtschaft, die drei Subsysteme gesellschaftlicher Ordnung, blieben nur noch lose miteinander verbunden und entwickelten sich in der Folgezeit immer weiter auseinander. Auch das Selbstverständnis, die Rolle und die Stellung der Partei veränderten sich seit 1952. In einem modernen sozialistischen Gemeinwesen sollte diese nicht mehr „Führer und Befehlsgeber“ sein, sondern „Überzeugungsarbeit“ leisten und das Prinzip der „Freiwilligkeit“ respektieren. Die Delegierten beschlossen ferner, die Partei in Bund der Kommunisten Jugoslawiens umzubenennen. Das brachte die seit Kriegszeiten existierende föderale Struktur der KPJ und das pluralistische Eigenleben der Republiken besser zum Ausdruck als der alte Name. Es konnte, wenn man wollte, als erster Schritt zum „Absterben der Partei“ und hin zum fernen Idealzustand der kommunistischen Gesellschaft betrachtet werden. Als im November 1952 Wahlen zur Nationalversammlung stattfanden, gab es zum ersten Mal richtige Wahlzettel, Urnen und sogar Kandidaten, die nicht alle von Kommunisten aufgestellt waren. Die Selbstverwaltung veränderte auch das lokale Verwaltungs- und Vertretungssystem. Die kommunalen Ausschüsse, die aus den Volksbefreiungsräten der Partisanenzeit hervorgegangen waren, erhielten mehr Befugnisse; zudem konnten auf lokaler Ebene Referenden abgehalten werden. Neue Elemente direkter Demokratie gingen mit wachsendem Pluralismus einher. Das Verfassungsgesetz 1953 gestattete es den Wählerversammlungen, eigene Kandidaten für die verschiedenen Gemeinde-, Kreis-, Landes- und Bundesparlamente zu nominieren. Ab 1965 galt zudem das Prinzip der Kandidatenkonkurrenz.14 In all dem hielten die Jugoslawen daran fest, dass die Selbstverwaltung eine authentische Form der Diktatur des Proletariats sei, genauer die jugoslawische Version einer Herrschaft der Arbeiterklasse.15 So formulierten es bereits das Gesetz über die Selbstverwaltung 1950 und die Verfassung von 1953, aber auch nachfolgende 14 Ausführliche Beschreibung bei Höpken 1984, S. 287ff. 15 Tašić 1985, S. 6 u. S. 61.
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Dokumente: das Programm des Bundes der Kommunisten 1958, die Verfassungen von 1963 und 1974 sowie das Gesetz über die Selbstverwaltung 1976. Das Parteiprogramm von 1958 definierte: „Unter Diktatur des Proletariats verstehen wir keine irgendwie geartete äußere Staatsform, bestimmte Methode oder Organisation des politischen Systems im Zeitalter des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus bzw. Kommunismus, sondern ihren gesellschaftlichen, bzw. klassengemäß-politischen Inhalt … Die Diktatur des Proletariats ist das gesellschaftliche Wesen jener (Staats-)macht und jenes politischen Systems, in dem die Arbeiterklasse die unmittelbar führende Rolle ausübt.“ Das Dokument betonte zugleich, dass im Zeitalter des Übergangs der Staat noch gebraucht werde; er werde aber unausweichlich absterben. „Das Absterben des Staates ist ein Prozess, der während der gesamten Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus andauert.“16 Das jugoslawische System galt weltweit als Erfolgsmodell. Aufgrund beispielloser Wachstumsraten erlebten die Jugoslawen in den 1950er Jahren ein regelrechtes Wirtschaftswunder. Unterstützt durch eine sehr günstige globale Konjunktur konnte das Regime der Selbstverwaltung die sozialistische Modernisierung vorantreiben sowie massiv in die Industrialisierung, in den Tourismus und in die Bildung investieren. Das Land zeigte sich nun auch vergleichsweise liberal und weltoffen. Im Gegensatz zum Ostblock tolerierte es einen gewissen Pluralismus in Literatur, Wissenschaften und Künsten. Es duldete in bestimmten Nischen sogar politisch abweichende Meinungen, etwa in Universitäten, Akademien und Religionsgemeinschaften. Möglichst viele internationale Kontakte zu knüpfen gehörte zu Jugoslawiens Überlebensstrategie. Nach 1948 musste das sich Regime außenpolitisch neu orientieren und schrittweise nach Westen öffnen. Es normalisierte zudem nach Stalins Tod 1953 auch wieder das Verhältnis zur Sowjetunion. Und Tito entwickelte beträchtliches Geschick dabei, die Supermächte zum Vorteil seines Landes gegeneinander auszuspielen. Beide Blöcke wollten schließlich verhindern, dass der strategisch wichtige Vielvölkerstaat in das feindliche Lager entglitt und überboten sich mit immer neuen Krediten und Kooperationsangeboten. Um sich gegen die stets drohende hegemoniale Einflussnahme der Militärblöcke zu wappnen, entdeckten die Jugoslawen die paktungebundene „Dritte Welt“ als Partner. Denn die Länder, die aus den Kolonien hervorgegangen waren, sahen sich einer ähnlichen Problematik ausgesetzt wie Jugoslawien. Im Kalten Krieg versuchten die ideologischen Lager, ihre Interessensphären über den gesamten Globus auszuweiten, auf Kosten der gerade gewonnenen Selbständigkeit der jungen Nationen in Afrika, Asien und Lateinamerika. 1961 konstituierte sich in Belgrad die Bewegung der Blockfreien, um sich fortan als dritte Kraft gegenüber den antagonistischen Atommächten zu positionieren.
16 Ebd., S. 66 u. S. 69.
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Aus der wachsenden Orientierung Jugoslawiens auf die Weltwirtschaft resultierten weitere Reformen. Um Kredite der internationalen Finanzinstitutionen in Anspruch nehmen zu können, musste Jugoslawien den Außenhandel zunehmend liberalisieren und die Währung an den Weltmarkt anpassen. 1964 beschloss der Bund der Kommunisten, dass Rentabilität und Marktpreise die Produktion steuern sollten, nicht mehr rein staatliche Beschlüsse. Ein Rahmenplan beschränkte die staatliche Lenkungsfunktion auf wenige Kernbereiche. So zogen mit der Selbstverwaltung auch neue Begriffe in den politischen Sprachgebrauch ein: „freier Markt“, „sozialistische Demokratie“, „ideologische Auseinandersetzung“ und „freier Meinungsaustausch“. Die Jugoslawen durften frei reisen und sogar als Gastarbeiter im Ausland Beschäftigung suchen. „Liberalisierende ökonomische und vorsichtig dezentralisierende politische Reformen sowie die soziale Modernisierung … hatten in den sechziger Jahren ein System hervorgebracht, dass sich vernünftigerweise nicht mehr als totalitär und sogar nicht einmal mehr als Partei-Autokratie bezeichnen lässt“, urteilte 1983 der amerikanische Politikwissenschaftler Dennison Rusinow.17 Das Internationale Arbeitsamt bescheinigte den Jugoslawen nach mehreren Begehungen, sie seien die Schöpfer der bislang fortschrittlichsten Betriebsorganisation, also gewissermaßen ein Vorbild für die ganze Welt. Auch Arbeitervertreter und Linke im Westen waren vom jugoslawischen Weg eines „Marktsozialismus“ angetan, darunter die französische Linke und die deutsche Sozialdemokratie.18 Auch die Reformer im Ostblock lobten das System Tito, das nach außen ein „menschliches Antlitz“ präsentierte.
3. Die Diktatur des Proletariats in der Kritik Bereits Ende der 1950er Jahre begann eine eifrige Debatte über die Frage des Pluralismus innerhalb der jugoslawischen sozialistischen Gesellschaft, die im Prozess von Industrialisierung und Modernisierung zusehends komplexer, vielfältiger und sozial differenzierter wurde. Im Januar 1958 war es zum Streik im slowenischen Kohlerevier Trbovlje und Hrastnik für höhere Löhne gekommen, was die angebliche „konfliktfreie Partizipation“ als Mythos entlarvte und die Notwendigkeit vor Augen führte, Regeln der Schlichtung einzuführen. Der führende Theoretiker des Selbstverwaltungssystems, Edvard Kardelj, wies auf das Spannungsverhältnis zwischen individuellen und kollektiven Interessen hin, das der sozialistischen Gesellschaft innewohne. Unterschiedliche Interessen und Meinungen galten als gesetzt, sollten sich aber ausschließlich innerhalb der Einheitspartei, den betrieblichen, kommunalen und politischen Institutionen der Selbstver17 Rusinow 1977, S. 436. 18 Georgi 2018.
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waltung sowie auf den vielen unterschiedlichen Stufen des föderalen Systems artikulieren. Zugleich bleibe Jugoslawien dem Begriff der Diktatur des Proletariats treu. Es handele sich dabei aber lediglich um einen „Terminus mit theoretischem und gesellschaftlich-historischem Sinn“, betonte Kardelj, und keine Diktatur des Staatsapparates. Er prägte in diesem Zusammenhang das Konzept eines „Pluralismus der politischen Subjekte“. Das jugoslawische System sei somit als demokratischere Form des Sozialismus zu betrachten als jene des Ostblocks. Die Diktatur des Proletariats äußere sich nicht zuletzt durch die „führende Rolle“ der Arbeiterklasse, repräsentiert durch die Partei. Diese impliziere aber kein Machtmonopol, behauptete Kardelj. Die Partei sei sogar ein mit anderen Akteuren gleichberechtigtes politisches Subjekt im Rahmen eines „demokratischen Pluralismus“.19 Die Realität sah allerdings so aus: Definitionsmacht darüber, welches innerhalb der pluralistischen Gesellschaft legitime und welches nicht-legitime Interessen seien, wurde in Theorie und Praxis dem BdKJ vorbehalten. Seine Rolle als „monistisches Suprasystem“ blieb folglich unangefochten.20 Der wachsende Pluralismus äußerte sich unter anderem zu Beginn der 1960er Jahre in Form eines undogmatischen, kreativen Marxismus bzw. einer regimeskeptischen neuen Linken in Gestalt der philosophischen Praxis-Gruppe. Philosophen, Soziologen und andere Intellektuelle verschrieben sich der „rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden“. Gajo Petrović, Milan Kangrga, Predrag Vranicki, Mihailo Marković, Ljubomir Tadić, Svetozar Stojanović, Veljko Rus, Žarko Puhovski und andere versammelten sich auf der kroatischen Adria-Insel Korčula zur Sommerschule, zu der sie Intellektuelle aus der ganzen Welt einluden. Dort, wie auch in der international viel beachteten Zeitschrift „Praxis“ diskutierte man Themen wie „Fortschritt und Kultur“, „Sinn und Perspektiven des Sozialismus“, „Macht und Menschlichkeit“ oder „Freiheit und Einigkeit“. Man stand in engem Austausch mit der Neuen Linken in Westeuropa, Lateinamerika und den USA sowie der Kritischen Theorie und Existenzphilosophie. Die „Praxis“ betonte das freie Handeln des Individuums anstelle des deterministischen Materialismus. Dadurch erschien die jugoslawische Realität in kritischerem Licht. Die Praxologen behaupteten, dass das Selbstverwaltungssystem im Grunde nur eine neue Form hierarchisch-bürokratischer Machtstrukturen darstelle, die Entfremdung reproduziere, gesteuert durch eine Oligarchie von Parteifunktionären. Sie plädierten für mehr Freiheit im Sozialismus, die Einführung des Mehrparteiensystems und die innere Demokratisierung des Bundes der Kommunisten. „Der jugoslawische Sozialismus ist in der Krise, und das nicht, weil eine bestimmte Politik gescheitert ist, … sondern weil eine bestimmte Konzeption der Arbeiterselbstver-
19 Höpken 1984, S. 68 u. S. 401. 20 Ebd., S. 52f.
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waltung in der Krise ist, weil das Systems selbst in der Krise ist“, hieß es 1971 in der Zeitschrift „Praxis“.21 Auch außerhalb der Praxis-Gruppe wurde über die Defizite des Selbstverwaltungssystems relativ freimütig kommuniziert. Anerkanntermaßen lagen Theorie und Praxis beträchtlich auseinander. Zwar wählten die Beschäftigten in allen vergesellschafteten Betrieben so genannte Arbeiterräte. Diese wiederum bestimmten einen Verwaltungsausschuss, der für das operative Geschäft zuständig war. Die Letztverantwortung für alle Organisationsfragen lag hingegen bei der Direktion, und diese wurde staatlicherseits eingesetzt. Die Arbeiterschaft konnte ihre Teilhabe folglich nur indirekt ausüben.Erst im Zuge weiterer Reformen wurden die Rechte und Pflichten der Arbeiter ausgeweitet. Die Betriebe gewannen mehr Autonomie gegenüber dem Staat, und die Arbeiterräte erhielten größere Befugnisse gegenüber der Direktion.22 Obwohl die Belegschaften über deutlich mehr Mitbestimmungsrechte und Beschwerdemöglichkeiten als die in den staatssozialistischen Ländern verfügten, blieben hierarchische Strukturen und soziale Ungleichheit in den Betrieben erhalten. Und da die alleinherrschende kommunistische Partei bis in die Betriebe hineinwirkte, war eine unabhängige Meinungsbildung und Entscheidungsfindung unmöglich. Die Forschung zeigt auf der anderen Seite: die Beschäftigten verstanden es, die Segnungen von Arbeiter- und Kündigungsschutz weidlich auszunutzen, etwa durch Nichterscheinen am Arbeitsplatz und Nebenverdiensten inner- und außerhalb des Betriebs.23 Ein weiterer anerkannter „Widerspruch“ des jugoslawischen Systems bestand in der ausufernden Bürokratie. Allein die Reformen der 1970er Jahre brachten 1,5 Millionen neue Umsetzungsverordnungen und eine Vervielfältigung des Verwaltungspersonals auf das Acht- bis Elffache von Ländern vergleichbarer Größe.24 Vom „Absterben des Staates“ konnte also vorerst keine Rede sein. Vielmehr wucherte ein bürokratisches Dickicht von Leitungs- und Kontrollorganen. Und eine privilegierte Schicht von Direktoren, Experten und Managern leistete Verantwortungslosigkeit, Verschwendung und Bereicherung Vorschub. Technokratie und Bürokratie unterliefen das Prinzip des demokratischen Sozialismus, um sich ihre vorherrschende Stellung zu sichern. Es war einzugestehen, dass selbst in den 1970er Jahren die Kluft zwischen „Arbeit“ und „Politik“ noch nicht abgebaut war.25 Nicht zuletzt: trotz diverser Mechanismen zur Umverteilung und Regionalförderung misslang das zentrale Vorhaben der Kommunisten, die Entwicklungs- und Einkommensunterschiede zwischen den Republiken Jugoslawiens zu verringern. Die Disparitäten wurden im Gegenteil immer größer: waren die Slowenen pro Kopf 21 22 23 24 25
O.A. 1971, S. 310. Tašić 1985, S. 62f. Schult 2017. 2006, S. 479f. Hadži Vasilev 1976, hier S. 730.
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der Bevölkerung bei Kriegsende etwa drei Mal so reich wie die Kosovaren, waren sie Mitte der sechziger Jahre etwa sechsmal und Ende der achtziger Jahre sogar neunmal reicher.26 Unbeabsichtigt förderte die sozialistische Marktwirtschaft Verteilungskonflikte, bestärkte Nationalismus und ethnische Intoleranz. Als sich Ende der sechziger Jahre schwerwiegende wirtschaftliche Krisenerscheinungen bemerkbar machten, meldeten sich in allen Landesteilen Politiker und Intellektuelle zu Wort, die in der gleichmacherischen Politik von „Brüderlichkeit und Einheit“ einen Angriff auf nationale Identitäten und Interessen erblickten. Gegen Ende der 1960er Jahre wurde der Nationalismus zum Sprengsatz des Selbstverwaltungssystems. Kroatische Intellektuelle und Kulturorganisationen verlangten 1967 eine kroatische Literatursprache, während die Albaner im Kosovo 1968 bei gewaltsamen Demonstrationen eine eigene Teilrepublik und Anschluss an Albanien forderten. Während des „Kroatischen Frühlings“ 1971 riefen die kroatische Parteispitze, die Kulturorganisation „Matica hrvatska“, Studentenvertreter und Medien nach mehr Eigenständigkeit für Kroatien, einer eigenen Armee sowie „großkroatischen“ Republikgrenzen. Tito warf die kroatische Parteiführung daraufhin aus dem Amt; die Anführer kamen vor Gericht. Infolge des „Kroatischen Frühlings“ verhaftete die Polizei hunderte Personen, viele wurden zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Die kroatische Parteisektion schloss hunderte Mitglieder aus, nicht wenige verloren ihre Funktionen. Anfang 1972 rollte eine zweite Säuberungswelle durch das Land, bei der Tausende überprüft, schikaniert und verhaftet wurden. Auch in Serbien und Bosnien-Herzegowina ging der Staat nun verstärkt gegen nationalistische Umtriebe und Regimekritik vor. In Bosnien-Herzegowina kamen die Verfasser einer „Islamischen Deklaration“, darunter der spätere bosnische Präsident Alija Izetbegović, ins Visier, weil sie die „Vereinigung der islamischen Welt in einem riesigen Staat“ gefordert hatten und Kontakte zum iranischen Ajatollah-Regime aufbauten. Die innenpolitischen Turbulenzen und der wachsende Nationalismus waren nicht zuletzt ein Reflex auf schwierige ökonomische Verhältnisse. Aufgrund der Ölkrise 1973 erfuhr die jugoslawische Volkswirtschaft einen dramatischen Wachstumsrückgang. Allein zwischen Juli 1974 und Juli 1975 erhöhten sich die Lebenshaltungskosten im Durchschnitt um dreißig Prozent. Jeder Zehnte wurde arbeitslos. Das Handelsbilanzdefizit vergrößerte sich, die Devisenvorräte schrumpften, und die Inflation stieg rasant an. Nie zuvor klaffte die Wohlstandsschere zwischen den Republiken so weit auseinander wie jetzt. Dadurch wuchsen grundsätzliche Zweifel am System der sozialistischen Selbstverwaltung, kritische Stimmen wurden lauter.
26 Pleština 1992, S. 118 ff.
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4. Rückfall in den Monismus Nachdem die kroatische und die serbische Parteiführung abgesetzt waren, fiel das jugoslawische politische System in autoritäre, monistische Formen zurück. Tito war überzeugt, dass es ohne seine einheitliche kommunistische Partei bald kein Jugoslawien mehr gäbe. So unterrichtete er im Oktober 1972 die Mitglieder der Partei per Brief, man müsse sich „entschlossen jeder Tendenz entgegenstellen, die zur … [nationalistischen] Spaltung der Arbeiterklasse“ führe. Es ging darum, die führende Rolle der Partei wiederherzustellen. Tito betonte, das jugoslawische System gründe unverbrüchlich auf der Diktatur des Proletariats, auch wenn viele mittlerweile dazu neigten, diesen Begriff zu umgehen.27 „Mit der Demokratie sind wir [1952] zu weit gegangen … Wir können nicht erlauben, dass sich jeder der Demokratie bedient, sogar der Klassenfeind“, erklärte er in einem Fernsehinterview.28 Dies beinhaltete Ausschlüsse aus den Sektionen der Partei, Berufsverbote, Medienzensur und andere „administrative Maßnahmen“ gegenüber dem „Klassenfeind.“ Tito rechtfertigte dies so: „In vielen Ländern, die sich selbst als demokratisch betrachten, sitzen Leute im Gefängnis, die das System nicht anerkennen.“29 Zugleich räumte er ein, das jugoslawische System habe einen Teil des Proletariats vernachlässigt. „Wir sollten wissen: Wenn die Arbeiterklasse auf die Straße geht, dann sieht es schlecht für uns aus.“30 1975 trat ein Strafgesetz in Kraft, das feindliche und konterrevolutionäre Tätigkeit ahndete und tausende politische Gegner ins Gefängnis brachte. Regimekritische Filme und Romane wurden verboten, ebenso Bücher und Aktivitäten der Praxis-Philosophen. Professoren der Belgrader Universität wie Mihailo Marković, Ljubomir Tadić und Dragoljub Mićunović wurden vom Dienst suspendiert. Während das Regime repressiv gegen die Opposition unterschiedlicher Couleur vorging, wurden weitere Reformen der Selbstverwaltung und der Verfassung in Angriff genommen, um größere Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. 1974 wurde das Selbstverwaltungssystem in der Verfassung verankert. „Die sozialistische Gesellschaftsordnung der SFRJ ruht auf der Macht der Arbeiterklasse und aller arbeitenden Menschen“, hieß es dort. Ausgeübt werde sie durch die entsprechenden Organisationen der Vereinten Arbeit (udruženi rad) und anderer selbstverwalteter Einrichtungen, durch Zusammenkünfte, Referenda und weitere Kanäle der Meinungsäußerung.31 Im selben Jahr wurde in den Kreis- und Landtagen ein neues Delegiertensystem eingeführt, um die direkte politische Mitsprache der Bürger und die Repräsentanz ihrer unterschiedlichen Interessen zu erhöhen. 1976 führte das Gesetz über genossenschaftliche Arbeit die so genannte Verhandlungsökonomie ein. 27 28 29 30 31
Höpken 1984, S. 123f. Ebd., S. 429f u. S. 434ff. Marković/Kržavac 1978, Bd. 2, S. 97ff u. S. 213f. Kanzleiter 2011, S. 292f. Tašić 1985, S. 71.
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Die Organe der Selbstverwaltung durften fortan über Produktion und Gewinn selbst entscheiden. Dazu dienten die unternehmerischen „Grundorganisationen der selbstverwalteten Arbeit“ (OOUR), die sich wiederum zu „Komplexen Organisationen“ (SOUR) zusammenschlossen. Bis 1980 entstanden 94 415 solcher Einheiten.32 Eine große Verfassungsreform sollte 1974 zudem dem Nationalismus den Wind aus den Segeln nehmen. Sie trieb die Föderalisierung Jugoslawiens ins Extrem. Nur der Vollzug des Bundesrechts, die Regulierung der Wirtschaftsordnung und die Landesverteidigung blieben bei der Bundesregierung, während sich die meisten Kompetenzen in die Republiken und Provinzen verlagerten. Diese waren nun paritätisch in den Bundesorganen vertreten und beschickten das Präsidium, das kollektive Staatsoberhaupt. Die sozialistischen Republiken wurden nun als Nationalstaaten aufgefasst und Jugoslawien als eine Konföderation. Zugleich verpflichtete die Verfassung die Republiken und Provinzen auf „Gemeinschaftlichkeit“ (zajedništvo), die sich über die Bundespolitik „verabreden“ sollten. Hinter den Verfassungsreformen stand die Nachfolgefrage Titos. Der hatte bereits 1969 angekündigt, er wolle die kollektive Führung ausbauen, um seinen politischen Rückzug vorzubereiten. Der Bundesexekutivrat, die Regierung, solle in Zukunft mit Vertretern bestückt werden, die aus den Republiken und den dortigen gesellschaftlichen Organisationen stammten, sich aber nicht als Sachwalter von nationalen Sonderinteressen, sondern des Gemeinwohls begriffen. Der Vorsitz würde rotieren, was am Ende mehr zentrale Führung gewährleisten sollte. „Unser einziger Ausweg ist die Einheit, und das ist kein Direktorium und keine Diktatur.“33 Mit den Gesellschafts- und Verfassungsreformen hatten die Jugoslawen mehr Demokratisierung im Sinn, faktisch produzierten sie ein politisch wie wirtschaftlich völlig dysfunktionales System. Die neue Verfassung machte die Bundespolitik zum Gegenstand komplizierter Aushandlungsprozesse zwischen den Eliten, und dies führte zu wachsenden Konfrontationen zwischen den Republiken, die politische Entscheidungen verzögerten oder sogar ganz verhinderten.
5. Proletarische Diktatur – oder was? Noch zu Lebzeiten Titos entwickelte sich in den 1970er Jahren im Licht der internationalen marxistischen Diskussionen sowie dem Aufkommen des Eurokommunismus kontroverse Debatten über die Natur des jugoslawischen Systems. Was sollte Sozialismus überhaupt noch bedeuten, und wie sollte man ihn in Jugoslawien konkret gestalten? Das Konzept der Diktatur des Proletariats erschien manchen als überkommen. 32 Jović 2003, S. 209. 33 Vrhunec 2001, S. 189.
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Regierungsvizechef Kiro Gligorov zeigte sich pragmatisch, als er erklärte, es gebe keine ewigen Wahrheiten, folglich müsse sich der Marxismus entsprechend dem gesellschaftlichen Wandel (er sagte: Produktivkräfte) und den Erkenntnissen der Wissenschaft fortentwickeln. Man müsse von den verschiedenen Systemen eben das übernehmen, was aus objektiven Gründen richtig und notwendig sei. Der für Ideologiefragen zuständige Parteifunktionär Alexander Grličkov behauptete sogar, dass nach der unerwarteten Stabilisierung des Kapitalismus die „monolithische Phase“ und das internationalistische Vorgehen der kommunistischen Bewegung überholt seien. Er fand, Jugoslawien gehöre zu den Eurokommunisten, also jenen westeuropäischen Kommunisten, die sich vom Sowjetmodell distanzierten und danach strebten, sozialistische mit liberaldemokratischen Idealen zu verbinden.34 1982 kam auf dem XII. Kongress des BdKJ sogar der Vorschlag, den Begriff der Diktatur des Proletariats ganz aus dem Programm zu streichen.35 Die etablierten marxistischen Theoretiker aber argumentierten, man müsse an dem bewährten begrifflichen Instrumentarium festhalten.36 Kardelj betonte nochmals, es gebe kein allgemeingültiges Modell einer Diktatur des Proletariats. „Sie ist die Macht, die den Prozess der Demokratisierung der Gesellschaft schützen und Wege der Demokratisierung auf dem Boden der sozialistischen Selbstverwaltung breit erschließen soll.“37 Im Übrigen könne die führende Rolle der Arbeiterklasse und deren Interessen in unterschiedlichsten politischen Systemen zum Ausdruck kommen, auch im Mehrparteiensystem, jedoch nicht im den Parlamentarismus bürgerlicher Prägung, der eine kleine Schicht privilegiere und die Entfremdung reproduziere.38 Andere Politikwissenschaftler führten ins Feld, das Bewusstsein der Arbeiterschaft sei noch nicht weit genug entwickelt, als dass die Selbstverwaltung vollumfänglich funktionieren könne. „All das weist darauf hin, dass sich dieser Prozess der sozialistischen Transformation der Klassengesellschaft in die klassenlose Gesellschaft nicht spontan entwickeln kann.“ Es erfordere das volle Engagement aller progressiven Kräfte, vor allem des Bundes der Kommunisten, und zwar im System der Selbstverwaltung ebenso wie im politischen System. Die führende Rolle der Partei dürfe nicht darin bestehen, die Selbstverwaltungsorgane zu bevormunden oder Beschlüsse zu unterbinden, sondern sie müsse sich darum bemühen, die Arbeiterschaft zu überzeugen. Im Übrigen werde sich die sozialistische Selbstverwaltung permanent „progressiv weiterentwickeln“.39 Am Ende müsse die Diktatur des Proletariats als gesamte Übergangsphase zur klassenlosen Gesellschaft betrachtet werden. Man trete gerade in eine neue Phase 34 35 36 37 38 39
Calic 2021, S. 366f. Malešević 1983. Mitrović 1980. Paić 1977. Kardelj 1979, S. 79. Ebd., S. 77. Perović 1974 , S. 120, S. 194f u. S. 212.
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ein, in der die Diktatur des Proletariats verschwinde, also eine Form „der eigenen dialektischen Negation“.40 Gleichwohl solle man sich aber nicht in Begriffe verbeißen, man könne auch von „Dominanz der vereinten Arbeit“, „Hegemonie der Interessen der Arbeiter“ oder „Hegemonie der vereinten Produzenten“ sprechen. Hauptsache: „Solange es die Arbeiterklasse gibt, muss sie die Macht ausüben.“41
6. Fazit Die jugoslawischen Kommunisten errichteten nach 1948 mit dem System der sozialistischen Arbeiterselbstverwaltung ein eigenständiges (und eigenwilliges) Gesellschaftsmodell, das etliche Elemente direkter Demokratie enthielt. Im Unterschied zum Ostblock erlaubte es einen gewissen Pluralismus an Interessen und Meinungen, ohne dabei allerdings die Einparteienherrschaft je grundsätzlich in Frage zu stellen. Unterschiedliche Interessenlagen waren als Prinzip der Willensbildung anerkannt; der Begriff des Pluralismus wurde sogar Bestandteil der parteioffiziellen Sozialismus-Konzeption. Das Wahl- und Delegiertensystem garantierte eine gewisse Meinungsvielfalt, wenn auch ausschließlich innerhalb der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Auch die Gewerkschaften vermochten zeitweise relativ autonom zu agieren; sogar Streiks wurden, obwohl als dem Sozialismus wesensfremd betrachtet, toleriert. Bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Herrschaft und des Vielvölkerstaates Ende der 1980er Jahre wurde das Paradigma einer Diktatur des Proletariats dennoch verbal aufrechterhalten, wobei man es in Abhängigkeit von tatsächlichen systemischen Veränderungen mit neuen Sinngehalten versah. Das jugoslawische Modell der Selbstverwaltung sei eine authentische und ursprünglich demokratische Form der Diktatur des Proletariats, ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, was de facto dazu diente, die Einparteienherrschaft zu rechtfertigen. Tatsächlich konterkarierten Einzelinteressen und Machhierarchien sowie der BdKJ als monistisches Suprasystem dieses idealisierte Selbstbild. Dennoch war Jugoslawien keine totalitäre Diktatur im ursprünglichen Sinn. Nach dem Bruch mit Stalin entwickelte sich die kommunistische Partei zu einem heterogenen Zusammenschluss regionaler Parteigliederungen; eine pluralistische Presse und Kulturszene sowie die Reisefreiheit höhlten das staatliche Medien- und Informationsmonopol aus. Anstelle der staatlichen Planökonomie traten in den 1960er Jahren die sozialistische Marktwirtschaft und die Verhandlungsökonomie. Sogar die Geheimpolizei musste sich gewissen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen unterwerfen. Das sozialistische System wurde durch oppositionelle Strömungen, 40 Ebd., S. 735. 41 Malešević 1983, hier S. 285.
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Subkulturen und puren Konsumismus unterhöhlt. Gleichzeitig entfaltete sich eine vielstimmige, durchaus kritische Debatte über Theorie und Praxis des Selbstverwaltungssystems und das Verhältnis zur Idee der Diktatur des Proletariats. Tito regierte dieses komplexe Systemgebilde mit den ihm innewohnenden zentrifugalen Tendenzen nach autokratischer Manier, wobei er es verstand, Interessen auszugleichen, die Eliten loyal zu halten, sie zu disziplinieren oder, wenn nichts mehr half, auch auszutauschen. Sein „demokratischer Sozialismus“ hielt ein repressives Instrumentarium vor, um die sozialistische Ordnung, die Alleinherrschaft der Kommunisten und den Staat Jugoslawiens zu beschützen: Zensur, Berufsverbote, politische Prozesse und die Liquidierung von Regimefeinden im Ausland durch die Geheimdienste. Denn Tito betrachtete die Alleinherrschaft der Partei sowie deren innere Geschlossenheit als zentrale Voraussetzungen für den Zusammenhalt des Vielvölkerstaats Jugoslawiens. In Anbetracht der späteren Ereignisse mochte er damit sogar Recht gehabt haben. Als er 1980 in hohem Alter starb, verlor der Vielvölkerstaat seine wichtigste Integrationsfigur und eine unabhängige Autorität, die zwischen den Lagern vermittelte oder diese mit harter Hand zur Ordnung rief. Die Wirkungskraft der Parole „Nach Tito – Tito“, die das System nach dessen Ableben in Gang halten sollte, verpuffte rasch. Mitte der 1980er Jahre brach der Sozialismus im Ostblock zusammen und der Kalte Krieg ging zu Ende. Damit hatte auch die „sozialistische Selbstverwaltung“ keine Legitimationsbasis mehr. Im Konflikt über Wirtschafts- und Verfassungsreformen zerfiel Anfang 1990 der Bund der Kommunisten Jugoslawiens. Die gesamtstaatlichen Institutionen, der gemeinsame Wirtschaftsraum, die Medien und der Sicherheitsapparat erodierten. Im Jahr darauf versank der Vielvölkerstaat in einem rasch eskalierenden Nachfolgekrieg. Und der jugoslawische Sozialismus zeigte keine Spuren eines „menschlichen Antlitzes“ mehr.
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Nikolas Dörr Die Transformation des Kommunismus. Der Eurokommunismus und die „Diktatur des Proletariats“
Die Bezeichnung „Eurokommunismus“ wurde 1975 als Sammelbegriff für die Reformbemühungen kommunistischer Parteien in Westeuropa geprägt.1 Trotz aller Probleme und Ungenauigkeiten des Begriffs setzte er sich innerhalb kürzester Zeit durch. Zentrale Merkmale der dem Eurokommunismus zugerechneten Parteien waren die Suche nach einem parlamentarischen Weg zum Sozialismus inklusive der Anerkennung grundsätzlicher Freiheitsrechte, der Abwählbarkeit der Regierung und eines parteipolitischen Pluralismus. Hinzu kamen die Abgrenzung von den Staaten des real existierenden Sozialismus und vor allem vom Führungsanspruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) über die kommunistische Bewegung Europas. Darüber hinaus setzten die eurokommunistischen Parteien, in unterschiedlicher Intensität, Reformen zur innerparteilichen Demokratisierung um. Als Beginn des Eurokommunismus können die Proteste westeuropäischer KPs gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 betrachtet werden. Seinen Höhepunkt erlebte er Mitte bis Ende 1970er-Jahre. Der Niedergang des Eurokommunismus kann auf die Zeit zwischen 1979 und 1981 datiert werden, als die Parteien keine einheitliche Haltung zum sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen finden konnten. Im Zentrum des Eurokommunismus stand der Partito Comunista Italiano (PCI). Die italienischen Kommunisten stellten mit bis zu 1,81 Millionen Mitgliedern (1977) seinerzeit die größte kommunistische Partei der westlichen Welt.2 Andere Massenparteien in Westeuropa wie der Parti Communiste Français (PCF) oder der Partido Comunista de España (PCE) schlossen sich zeitweise dem Eurokommunismus an. Hinzu kamen Mittel- und Kleinparteien aus dem kommunistischen Spektrum wie die Inlandsrichtung der Kommunistische Partei Griechenlands, die schwedischen Linkspartei-Kommunisten und die Kommunistische Partei Großbritanniens.3 Auch reformorientierte außereuropäische KPs ließen sich dem Eurokommunismus zurechnen, so vor allem die große, knapp 400.000 Mitglieder umfassende Kommunistische Partei Japans.4 1 2 3 4
Zum Begriff und der Geschichte des Eurokommunismus siehe ausführlich Dörr 2017, S. 49–60. Vgl. Kertzer 1980, S. 271. Vgl. Leonhard 1978, S. 193–316. Vgl. Grünwald 1981, S. 74–81.
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Dieser Beitrag stellt das Verhältnis der Eurokommunisten zur „Diktatur des Proletariats“ in den Mittelpunkt. Am Beispiel der drei wichtigsten eurokommunistischen Parteien, der kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs und Spaniens, wird analysiert, wie diese Abstand von diesem zentralen Aspekt des Marxismus-Leninismus nahmen, welche Reaktionen diese Abkehr im sowjetischen Lager auslöste und inwieweit sich diese Lösung von der „Diktatur des Proletariats“ auf die weitere Entwicklung der Parteien auswirkte.
Der Eurokommunismus und die „Diktatur des Proletariats“ 1978 veröffentlichte der Politikwissenschaftler Hartmut Jäckel einen Beitrag mit dem Titel „Eurokommunismus zwischen ‚Diktatur des Proletariats‘ und sozialer Demokratie“.5 Damit griff er nicht nur die zeitgenössisch die Politik und Öffentlichkeit prägende Debatte über den Eurokommunismus auf, sondern machte gleichzeitig die Haltung zur „Diktatur des Proletariats“ zum Lackmustest für die Demokratisierung eurokommunistischer Parteien: „Eine Analyse des spektakulären Ringens um die behauptete Unverzichtbarkeit der Formel von der ‚Diktatur des Proletariats‘ erscheint in besonderem Maße geeignet, Aufschluß über die Verläßlichkeit demokratischer Profilierungsbemühungen derer zu gewinnen, die diesen Schlüsselbegriff der marxistisch-leninistischen Lehre zu eskamotieren bereit sind.“6 Die Auseinandersetzung mit der „Diktatur des Proletariats“ hatte für die Parteien, die sich dem Eurokommunismus zurechnen lassen, eine herausragende Bedeutung. Die Haltung zu diesem marxistisch-leninistischen Grundbegriff war nicht irgendeine politische Frage für Kommunisten, die mit einer rein programmatischen Anpassung beantwortet werden konnte. Die Haltung zur „Diktatur des Proletariats“ stellte vielmehr den Kern der kommunistischen Ideologie dar. Verzichtete eine Partei auf die durch Revolution eingeleitete Phase der „Diktatur des Proletariats“, so würde sie auf einen zentralen Bestandteil des Marxismus-Leninismus verzichten. Dies brachte für die eurokommunistischen Parteien massive Probleme auf theoretischer Ebene (und auch auf praktischer Ebene in ihren Beziehungen zur Sowjetunion und sowjettreuen kommunistischen Parteien) mit sich. Nach der orthodoxen sowjetischen Lesart des Marxismus-Leninismus verließ eine Partei, die auf die „Diktatur des Proletariats“ verzichtete, die kommunistische Parteienfamilie.7 Als reformistisch bzw. sozialdemokratisch wollten sich die eurokommunistischen Parteien wiederum nicht definieren, sondern vielmehr einen neuen, dritten Weg eines demokratischen Kommunismus einschlagen. Wie dieser demokratische Weg zum 5 Jäckel 1978. 6 Ebd., S. 443. 7 Vgl. ebd., S. 444 ff.
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Sozialismus ohne Aufgabe des Endziels Kommunismus und ohne reformistisch zu werden aussehen sollte, blieb jedoch bis zum Ende des Eurokommunismus eine ungelöste Frage. Letztlich sollte Hartmut Jäckel mit seiner Prognose rechtbehalten, dass es für die Eurokommunisten nur die Wahl zwischen „Diktatur des Proletariats“, also der Rückkehr zu einem orthodoxen, sowjetisch inspirierten Verständnis des Marxismus-Leninismus, und der „sozialen Demokratie“ in Form der Umwandlung hin zu einer sozialdemokratischen Partei geben konnte. In letzterem Sinne stellte der Eurokommunismus eine Übergangsphase hin zum Reformismus dar.8 Um diesen offensichtlichen Bruch zu vermeiden, interpretierten eurokommunistische Parteien den Begriff der „Revolution“9 neu. Diese müsse nicht mehr, wie in Russland 1917, gewaltsam von einer Minderheit durchgesetzt und anschließend durch eine diktatorische Periode abgesichert werden: „The Communists in Italy, France and Spain have banished the phrase ‚the dictatorship of the proletariat’ from their vocabulary. That does not mean that they have abandoned socialism as an intermediate objective of their policy. They continue to fight for socialism; however, they no longer wish to establish it on the classical pattern through the dictatorship of the ‚proletariat’ but rather through an ‚advanced form of democracy’ in which the institutions and procedures of representative democracy, such as parliament and regular general elections and civil rights and freedoms, are respected and even guaranteed.“10 Wie diese fortgeschrittene bzw. progressive Demokratie konkret aussehen sollte, blieb allerdings vage.11 Grundsätzlich erschien ein demokratisch-parlamentarischer Weg an die Macht in den 1970er-Jahren, aufgrund der Wahlergebnisse, nur für wenige eurokommunistische Parteien realistisch. Als stärkste Partei in einer Koalitionsregierung war dies nur für die italienischen Kommunisten, die nationale Wahlergebnisse von bis zu 34,4 Prozent (Abgeordnetenhauswahl 1976) erreichten, eine Option.12 Bei den französischen und noch stärker bei den spanischen, skandinavischen und auch japanischen Kommunisten waren die Wahlergebnisse jedoch zu schwach, um einen Führungsanspruch innerhalb einer Koalition beanspruchen zu können. Eine Regierungszusammenarbeit mit deutlich stärkeren Sozialisten, Sozialdemokraten, Linksliberalen und bürgerlichen Mitte-Links-Parteien würde jedoch die angestrebte Transition zum Sozialismus massiv verlangsamen, wenn nicht sogar ganz verhindern. Diese Unklarheit führte, insbesondere bei konservativen Wissenschaftlern, Politikern und Kommentatoren zu der Befürchtung, dass der Eurokommunismus primär eine, von der Sowjetunion klandestin akzeptierte, Strategie zur Machteroberung
8 9 10 11 12
Vgl. Dörr 2017, S. 64. Vgl. Schmidt 1988. Spieker 1980, S. 427. Vgl. Priester 1982, S. 141–144. In Umfragen erreichte der PCI vor der Wahl noch höhere Ergebnisse. Vgl. Kogan 1978, S. 78.
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repräsentiere.13 Einmal an der Macht, würden die entsprechenden Parteien, so wie in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg,14 ihre Machtposition festigen, koalierende Parteien und politische Gegner zur Unterordnung zwingen und/oder verfolgen und schließlich die Demokratie durch eine Diktatur ersetzen sowie das westliche Verteidigungsbündnis schwächen.15 Der Eurokommunismus sei daher, wie der CSUBundestagsabgeordnete Heinrich Aigner 1978 mutmaßte, ein gezielter „Trick aus dem Osten“.16
Die Herausforderung der „Diktatur des Proletariats“ für die Eurokommunisten Die „Diktatur des Proletariats“ brachte Mitte der 1970er-Jahre zwei zentrale Probleme für kommunistische Parteien in Westeuropa mit sich. Zum einen war der Begriff der „Diktatur“ diskreditiert. Entgegen der Marxschen Interpretation setzte die breite Masse den Begriff nun mit den faschistischen Diktaturen und dem Stalinismus gleich. Santiago Carrillo, spanischer KP-Chef und ein Protagonist des Eurokommunismus, schrieb 1977 sogar, dass der Diktaturbegriff aus diesem Grund im 20. Jahrhundert „hassenswert“17 geworden wäre. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung und auch der kommunistischen Parteimitglieder hatte die Folgen dieser Diktaturen selbst erlebt: sei es als Bürger eines faschistischen Staates, sei es im Widerstandskampf gegen diese Diktaturen oder die deutsche bzw. italienische Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland, drei Staaten mit großen kommunistischen Parteien, traten erst während der Hochphase des Eurokommunismus in die Transitionsphase hin zur Demokratie ein. Diktatur war demnach für die Eurokommunisten kein erstrebenswertes Ziel mehr. Problematisch war jedoch auch der zweite Teil des Begriffs: der Fokus auf das Proletariat. Die Arbeiterschaft stellte Mitte/Ende der 1970er-Jahre in den meisten westeuropäischen Staaten nicht mehr die Mehrheit der Erwerbstätigen. Insbesondere in den Industriestaaten wie Frankreich und Italien überholten nun white collar worker die blue collar worker zahlenmäßig. Selbst in den entsprechenden kommunistischen Parteien machte sich dieser Wandel der Sozialstruktur bemerkbar. Im 13 Vgl. Kissinger 1977; Hutter 1978; Hornung 1979; Magnago 1980; Westphalen 1978. 14 „At this juncture it would be appropriate to consider how the Communists seized power in the GDR, Poland, Hungary, Bulgaria and Czechoslovakia between 1944 and 1948. In each case the Communists declared that they would not copy Leninist example of the ‚dictatorship of the proletariat’ in their country, that other political parties could organize themselves be active, and that they were the guardians of the constitution. The results are well known.” Spieker 1980, S. 451. 15 Vgl. Dörr 2014. 16 Heinrich Aigner zitiert in Alex Peter, „Eurokommunismus. Ein Trick aus dem Osten“, in: Bayernkurier, 18.02.1978, Nachlass Heinrich Aigner, 26, Archiv für Christlich-Soziale Politik in der Hanns-Seidel-Stiftung München. 17 Carrillo 1977, S. 151.
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Zuge des Wirtschaftsaufschwungs in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, vom bundesdeutschen Wirtschaftswunder über die französischen Trente Glorieuses bis hin zum italienischen miracolo economico, stiegen weite Teile der Arbeiterschaft in die Mittelklasse auf.18 Die Vorteile von Parlamentarismus, Pluralismus, Freiheitsrechten und – auch wenn es so offen in den 1970er-Jahren kaum ein Kommunist sagte – eines kapitalistischen Wirtschaftssystems mit garantierten Arbeitnehmerrechten und starken, freien Gewerkschaften hatten diese KP-Mitglieder selbst erlebt. Wohlstandszuwächsen und Aufstiegsmöglichkeiten der Arbeiterschaft sowie ein signifikanter Ausbau des Sozialstaats in den westeuropäischen Demokratien stand die Unterdrückung der Opposition inklusive der Niederschlagung von Arbeiteraufständen in den Staaten des real existierenden Sozialismus gegenüber. Die deutliche Mehrheit kommunistisch wählender Arbeiter bei Fiat in Italien assoziierte mit „Arbeiterparadies“ seinerzeit daher nicht die Sowjetunion oder andere sozialistische Staaten, sondern die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Großbritannien.19 Die theoretisch begründete Notwendigkeit einer Diktatur der Minderheit in Form der Arbeiterschaft erschien somit auch zunehmend Mitgliedern der kommunistischen Parteien absurd. Hinzu kam, dass diese auf kommunaler und regionaler Ebene seit Jahrzehnten eine zumeist pragmatisch-reformistische Politik praktizierten, die das Ziel einer proletarischen Diktatur zur bloßen theoretischen Semantik hatte werden lassen. Dies galt insbesondere für den italienischen und französischen Munizipalkommunismus in der zona rossa bzw. dem ceinture rouge um Paris.20 Eine Rolle spielte dabei auch die Sozialstruktur einiger westeuropäischer kommunistischer Parteien. Seit den 1960er-Jahren entfernen sie sich zunehmend von dem Ideal einer proletarisch geprägten Kaderpartei. Im Zuge der Popularisierung des (Neo)Marxismus an westeuropäischen Universitäten strömten nun zahlreiche neue, junge Menschen in die Parteien. Zu Beginn des Jahres 1976 waren beispielsweise 69 Prozent der Mitglieder der Kommunistischen Partei Frankreichs unter 40 Jahren alt, 42 Prozent sogar jünger als 30 Jahre.21 Die Mitgliedschaft diversifizierte sich dadurch. Neben der „alten Garde“ an Arbeitern, die bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Kommunisten gewesen waren, forderten nun auch Studierende, Lehrer, Künstler und weitere Angehörige der Mittelschicht ein Mitsprache- und Mitwirkungsrecht.22
18 Vgl. Tomka 2013. 19 Bericht über eine Umfrage im FIAT-Konzern von Holger Quiring, April 1980, Bestand Horst Ehmke, Italien, 1/HEAA000460, Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in der FriedrichEbert-Stiftung, Bonn. 20 Vgl. Tarrow, Blackmer 1975, S. 221–372. 21 Vgl. Dieter Wildt, Marchais: „Ich habe Schwein gehabt“, in: Der Spiegel, Nr. 7, 08.02.1976. 22 Am Beispiel des PCF siehe Boulland 2016; am Beispiel des PCI siehe Timmermann 1978.
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Die „Diktatur des Proletariats“ war demnach für einen Großteil der Menschen in Westeuropa und auch für einen zunehmenden Teil kommunistischer Parteimitglieder keine geeignete Übergangsphase mehr hin zu einer vermeintlich gerechteren, sozialistischen Gesellschaft, sondern eine äußerst abstrakte theoretische Formel. Eine Abkehr von der „Diktatur des Proletariats“ schien daher ein geeigneter Weg. Die Art und Weise dieser Abkehr unterschied sich jedoch deutlich zwischen den eurokommunistischen Parteien.
Partito Comunista Italiano Die italienischen Kommunisten konnten in diesem Loslösungsprozess auf den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) rekurrieren.23 Dessen Hegemonie-Konzept ließ sich gut auf den im Eurokommunismus angestrebten demokratischen Weg zum Kommunismus anwenden.24 Gramsci hatte zwar am Begriff der „Diktatur des Proletariats“ festgehalten, diesen jedoch anders als Lenin interpretiert. Für Gramsci war die „Diktatur des Proletariats“ nicht die leninistische Parteiendiktatur, die primär zur Ausschaltung politischer Gegner genutzt werden sollte. Die „Diktatur des Proletariats“ stellte vielmehr eine Übergangsphase infolge einer freiwilligen Entscheidung der Volksmehrheit dar, die zuvor erkannt hatte, dass die kommunistische Partei eine bessere Gesellschaftsordnung als die bestehende versprach. Die Hegemonie des Kommunismus sollte nicht, wie in der Sowjetunion praktiziert, durch Gewaltanwendung hergestellt und in Form einer proletarischen Diktatur aufrechterhalten werden, sondern sollte auf gewaltloser Überzeugung basieren. Im Wettbewerb der politischen Ideen sollte den Menschen verdeutlicht werden, dass der Kommunismus die besseren Lösungen parat hielt. Für Gramsci war die „Diktatur des Proletariats“ kein Gegensatz zur Hegemonie, sondern beide bedingten sich gegenseitig.25 Die, auf demokratischem Weg erreichte, Hegemonie sah er als die soziale Basis für die „Diktatur des Proletariats“ an.26 In der politischen Praxis spielte diese, im späteren Eurokommunismus populäre Interpretation Gramscis lange Zeit eine untergeordnete Rolle. Ein Großteil der italienischen Kommunisten orientierte sich bis zu dessen Tod an Josef Stalin und der sowjetischen Führungsmacht. Im Zuge der Entstalinisierung und erster Proteste innerhalb des PCI gegen die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956 kam es allerdings zu einer Rückbesinnung auf Gramsci. Eine zentrale Rolle spielte dabei der ehemals treue Stalinist und langjährige PCI-Generalsekretär Palmiro Togliatti. 23 24 25 26
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Vgl. Bettiza 1978, S. 124–127. Vgl. Kellmann 1984, S. 44–71. Vgl. Tuckfeld 1997, S. 269 f. Vgl. Kim 1995, S. 47.
Dessen im Rahmen des XX. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion 1956 verkündete Theorie des policentrismo stellte einen Affront gegenüber dem sowjetischen Führungsanspruch über die kommunistischen Parteien Europas dar. Togliatti betonte damit das Recht auf Eigenständigkeit einer jeden kommunistischen Partei.27 Trotz grundsätzlicher Solidarität gegenüber der Sowjetunion sei man nicht verpflichtet, ihrem Revolutions- und Gesellschaftsmodell zu folgen. Denn der Kommunismus sei heutzutage polyzentristisch: „Der Weg, den ihr (die Sowjets) eingeschlagen habt, um an die Macht zu gelangen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, ist nicht in all seinen Aspekten verbindlich für die anderen Lander; denn ein solcher Weg kann und soll in jedem Land seine besonderen Merkmale haben. Unsere Aufgabe ist es, einen italienischen Weg zu entwerfen.“28 Gleichzeitig wich er vom sowjetischen Modell der „Diktatur des Proletariats“ ab, indem er ausführte, dass der italienische Weg zum Sozialismus nicht durch eine Minderheit, sondern durch die Überzeugung der breiten Mehrheit des Volkes möglich werden sollte: „Er [der Weg, d. Verf.] muss es uns ermöglichen, in den unserem Land eigenen Formen das Bündnis zwischen Arbeiterklasse, Bauern und Mittelschichten zu verwirklichen und die große Mehrheit des Volkes für die Sache der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft zu gewinnen.“ Einer, wie in der russischen Oktoberrevolution, gewaltsam durchgesetzten Machtergreifung erteilte er eine Absage. Ebenso unterstrich der Generalsekretär, dass der PCI eine sozialistische Umgestaltung nur im Rahmen der italienischen Demokratie und nicht in Form einer Diktatur anstrebe: „Aber wir wollen, daß dieser Kampf auf dem Boden der Demokratie ausgefochten wird. […] Denn wir sind nicht Anhänger der Gewalt um der Gewalt willen.“ Gewaltanwendung sollte auch für den PCI nicht gänzlich ausgeschlossen sein, aber fortan würde sie nur noch zur Verteidigung eingesetzt werden – so wie es in der resistenza gegen die italienischen Faschisten und deutschen Besatzer geschehen war. Der VIII. Parteitag des PCI vom 8. bis 14. Dezember 1956 in Rom stand unter dem Eindruck der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn wenige Wochen zuvor. Zusammen mit der begonnenen Entstalinisierung seit dem XX. Parteitag der KPdSU führte dies zu einer sowjetkritischen Atmosphäre unter den anwesenden Mitgliedern. Zwar hielt sich die Parteiführung mit öffentlicher Kritik zurück. Vereinzelt kam es jedoch, wie im Manifesto dei 101, einem Protestbrief prominenter kommunistischer Intellektueller, die Mitglied des PCI waren oder ihm nahestanden, zu Widerstand.29 Togliatti nutzte den Kongress, um die Abkehr von der „dittatura del proletariato“ einzuläuten und für den PCI einen eigenständigen via italiana al socialismo (italienischen Weg zum Sozialismus) zu definieren: „Wenn im Jahre 1917, noch wenige 27 Vgl. Chalchi Novati 1971, S. 116. 28 Palmiro Togliatti zitiert in Rosa 1978, S. 159 f. 29 Vgl. Dörr 2018, S. 70–75.
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Monate vor der Oktoberrevolution, in jener explosiven Situation selbst Lenin einen friedlichen Verlauf der sozialistischen Revolution und den Fortbestand eines Mehrparteiensystems für möglich hielt, so können wir heute, in einer Welt, die der Sozialismus schon so tiefgreifend erneuert hat, unsere grundlegende historische Aufgabe mit weit größerer Berechtigung in der Verwirklichung dieser Möglichkeit sehen. Aus diesem Grunde haben wir in einem der Dokumente, die auf dem Parteitag verlesen wurden, geschrieben, daß sich der Arbeiterklasse und dem Volk die geschichtliche Aufgabe stellt, den Aufbau des Sozialismus vorzunehmen und dabei einen neuen Weg zu beschreiten, der sich von der Methode der Errichtung der Diktatur des Proletariats unterscheidet.“30 Bis zu seinem Tod 1964 entwickelte Togliatti den Polyzentrismus weiter, wobei sein politisches Testament, der memoriale di Yalta, den Höhepunkt seiner Kritik am Sowjetkommunismus darstellte.31 Togliatti war nicht der einzige Kommunist in Westeuropa, der sich zeitgenössisch gegen den Zwang zur sowjetischen Interpretation des Marxismus-Leninismus aussprach. Zur gleichen Zeit äußerten sich auch andere Reformkommunisten wie der Österreicher Franz Marek gegen das Festhalten westeuropäischer KPs an der sowjetischen Lesart der „Diktatur des Proletariats“.32 Die schwedischen Kommunisten strichen 1967 die „Diktatur des Proletariats“ aus ihrem Programm und schlugen einen reformkommunistischen Weg ein.33 Der Partito Comunista Italiano hielt auch nach Togliattis Tod mehrheitlich an seiner Öffnungsstrategie fest und intensivierte diese. Explizit und öffentlich kritisierte die italienische KP-Führung beispielsweise die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968.34 Die Strategie des compromesso storico stellte dann ab 1973 sogar eine Art Pervertierung der „Diktatur des Proletariats“ dar – statt der Arbeiterherrschaft in Form der Kommunistischen Partei wurde eine Koalition mit erzkatholischen und teilweise rechtskonservativen Christdemokraten und weiteren bürgerlichen Kräften angestrebt. Diese neue Strategie war von dem seit 1972 amtierenden Generalsekretär Enrico Berlinguer in Reaktion auf den mit Unterstützung der USA durchgeführten Coup d'État gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes in Chile ausgearbeitet worden.35 Berlinguer hatte erkannt, dass selbst im Falle einer kommunistisch-sozialistischen Mehrheit in Parlamentswahlen eine langfristige Regierungsführung in Staaten der US-amerikanischen Einflusssphäre gegen die politische, ökonomische und militärische Vetomacht konservativer Kräfte nicht realistisch sei. Selbst im unwahrscheinlichen Fall einer
Palmiro Togliatti zitiert in Zademach 1979, S. 48. Vgl. Spagnolo 2007. Vgl. Graf et al. 2019, S. 174–262. „They clearly saw, however, that the communist promise of a better life through the dictatorship of the proletariat was no longer attractive in a society that seemed to be able to provide both material well being as democratic freedom.” Jørgensen 2011, S. 54. 34 Vgl. Bracke 2007. 35 Vgl. Mulas 2005.
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erfolgreichen gewaltsamen sozialistischen Revolution in Italien könnte die Kommunistische Partei sich nicht langfristig an der Macht halten. Die „Diktatur des Proletariats“ im Sinne Lenins sei somit für einen westlich orientierten Industriestaat wie Italien, der gleichzeitig NATO- und EG-Mitglied war, keine Option. Eine ähnliche Einschätzung hatte bereits Togliatti nach der Befreiung Italiens davon abgehalten, die bewaffneten Partisanen in einen Bürgerkrieg zu führen, um den Sozialismus gewaltsam durchzusetzen.36 Auch wenn der Historische Kompromiss letztlich scheiterte und der PCI zwischen 1976 und 1979 nur als Mehrheitsbeschaffener einer christdemokratischen Minderheitsregierung im Parlament fungierte, verließ die Partei den reformistischen Weg nicht mehr. Dieser führte die italienische KP schließlich in eine Situation, die mit derjenigen der SPD vor dem Godesberger Programm vergleichbar war.37 Einer seit Jahrzehnten gelebten reformistischen Praxis inklusive Koalitionsregierungen auf regionaler und kommunaler Ebene stand eine auf Revolution abzielende Programmatik inklusive der „Diktatur des Proletariats“ und Rhetorik entgegen. Giorgio Amendola, bis zu seinem Tod 1980 einer der stärksten Anhänger des Reformismus in der PCI-Führung, fasste diese Problematik 1977 folgendermaßen zusammen: „Weder in Italien noch in irgendeinem anderen Land Europas gibt es eine revolutionäre Situation.“ Als Kommunisten könne man nur „für Besseres kämpfen, ohne das Erreichte zu gefährden.“38 Der PCI ging den reformistischen Weg schließlich auch nach dem Ende des Eurokommunismus konsequent weiter und wandelte sich im Februar 1991 mehrheitlich zum sozialdemokratischen Partito Democratico della Sinistra. Nach der Umbenennung in die Democratici di Sinistra 1998 fusionierten die Ex-Kommunisten 2007 mit dem linken Flügel der ehemaligen Christdemokraten zum zentristisch orientierten Partito Democratico.
Parti Communiste Français Anders als im PCI verlief die Auseinandersetzung um die „Diktatur des Proletariats“ in der zweitgrößten zeitweise dem Eurokommunismus zugerechneten Partei: dem Parti Communiste Français. Im Gegensatz zu der inkrementellen Veränderung der Italiener hin zum Reformismus war es beim PCF eine abrupte Kehrtwende, die sich zuvor nicht abgezeichnet hatte. Der von 1930 bis 1964 amtierende Generalsekretär Maurice Thorez hatte als überzeugter Stalinist gegolten und eine Zusammenarbeit mit moderaten Linkskräften lediglich als Option für die Durchführung eines Auf36 Vgl. Dörr 2017, S. 74 f. 37 Vgl. Bolaffi, Marramao 1980. 38 Giorgio Amendola zitiert in „Kommunismus heute“, Der Spiegel, Nr. 21, 15.05.1977.
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stands und der anschließenden Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ unter Führung des PCF angesehen.39 Nichtsdestotrotz konnten die französischen Kommunisten lange Zeit mit ihrer orthodox marxistisch-leninistischen Programmatik reüssieren. Eine wichtige Rolle spielte dabei die breite Anerkennung ihres Engagements in der résistance gegen die deutschen Besatzer und das Vichy-Regime. Bei den ersten Parlamentswahlen nach der Befreiung am 21. Oktober 1945 wurde der PCF mit Spitzenkandidat Thorez zur landesweit stärksten Partei gewählt. In den folgenden Jahren konnten die Kommunisten die Position als zumeist zweitstärkste politische Kraft des Landes hinter den Gaullisten sichern. Gleichzeitig war der PCF die stärkste Linkspartei Frankreichs. Diese Situation änderte sich jedoch drastisch mit der Neugründung des Parti Socialiste (PS) 1969. Die reformistisch orientierten Sozialisten avancierten in Wahlen innerhalb kürzester Zeit zur erfolgreichsten Partei im linken Lager.40 In dieser Phase kam 1972 der für kommunistische Verhältnisse relativ junge Generalsekretär Georges Marchais an die Spitze des PCF. Ein erster und bis dahin undenkbarer Schritt seiner Amtszeit war die Unterzeichnung eines gemeinsamen Regierungsprogramms mit dem Parti Socialiste und der kleineren linksliberalen Partei Mouvement des radicaux de gauche (MRG) im Juni 1972.41 Marchais erhoffte sich dadurch die Oberhoheit in der politischen Linken zurückzugewinnen und schließlich eine Regierung unter kommunistischer Führung zu erreichen. Ein Jahr nach Unterzeichnung des programme commun de gouvernement veröffentlichte der Generalsekretär ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Le Défi démocratique“.42 Marchais griff damit zwei Debatten auf: Zum einen war die demokratische Herausforderung Teil des politischen Programms der Linksunion. Diese hatte in ihrem gemeinsamen Programm ein Demokratiedefizit konstatiert. Ähnlich wie Bundeskanzler Willy Brandt 1969 in der Bundesrepublik mehr Demokratie wagen wollte, setzten sich PCF, PS und MRG nun das Ziel weitreichende Demokratisierungen in Frankreich durchzusetzen. Hierzu zählten zum Beispiel die Mitbestimmung von Arbeitnehmern im Betrieb, die Stärkung der Rechte von Mietern sowie eine umfassende Strafrechtsreform. Zum anderen sprach Marchais mit der „demokratischen Herausforderung“ aber auch die eigene Partei an. Innerparteilich herrschte auch 20 Jahre nach dem Tode Stalins ein für westeuropäische KPs überaus rigider demokratischer Zentralismus vor.43 Folge hiervon waren unter anderem massenhafte
39 Vgl. Spieker 1980, S. 430. 40 Die Wiedergründung des Parti Socialiste fand im Mai 1969 auf dem Parteikongress in Alfortville statt. Wichtiger war jedoch die Fusion mit der von François Mitterrand angeführten Convention des institutions républicaines auf dem Kongress von Épinay im Juni 1971. Mitterrand avancierte umgehend zur populären Führungsfigur der Sozialistischen Partei. 41 PCF, PS, MRG 1972. 42 Marchais 1973. 43 Vgl. Timmermann 1976a, S. 10.
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Ausschlüsse kritischer Genossen nach Protesten gegen den sowjetischen Einmarsch in Ungarn 1956 und auch nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 gewesen. Marchais war sich bewusst, dass diese Art von Politik Mitte der 1970er-Jahre nur noch für eine orthodox-kommunistische Minderheit im Land attraktiv war, man aber so niemals die populären Sozialisten wieder einholen würde. Die Partei sollte sich demnach, zumindest nach außen hin, reformieren, um aus taktischen Gründen eine neue Liberalität zu suggerieren. Die außerhalb des Kreises sowjettreuer Kommunisten unpopuläre Formel von der „Diktatur des Proletariats“ war dabei äußerst hinderlich. Die Erstveröffentlichung von Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ 1974 in Frankreich hatte eine breite gesellschaftliche Debatte über die Verbrechen des Sowjetkommunismus ausgelöst und die enge Anlehnung des PCF an die KPdSU hinterfragt.44 Um der Diskreditierung des Sowjetkommunismus zu entkommen, musste Marchais in die Offensive gehen. Die Anlehnung an den in der Öffentlichkeit populären Öffnungskurs der italienischen Kommunisten schien daher angebracht.45 Diese relativ kurze eurokommunistische Phase des PCF erlebte 1976 ihren Höheund kurz danach auch schon wieder ihren Endpunkt. Auf dem 22. Parteitag vom 4. bis 8. Februar 1976 in Saint-Ouen-sur-Seine hielt Generalsekretär Marchais eine für die Delegierten, aber auch die Öffentlichkeit überraschende Rede.46 Bereits die Symbolik der Architektur des Kongresses ließ eine Abkehr von der „Diktatur des Proletariats“ erahnen. In großen Buchstaben prangte das Motto des Parteitages an der Wand und ebenso auf dem Rednerpult: „Ein demokratischer Weg zum Sozialismus. Ein Sozialismus für Frankreich.“47 In seiner fünfstündigen Rede rechnete Marchais mit dem „Kasernen-Kommunismus“ in Osteuropa ab, versprach einen demokratischen Weg zum Sozialismus in Frankreich und vor allem verabschiedete er sich vor den Augen des anwesenden Gastdelegierten der KPdSU, Politbüromitglied Andrei Pawlowitsch Kirilenko, publikumswirksam von der „Diktatur des Proletariats“.48 Er begründete die Ablehnung damit, dass die „Diktatur des Proletariats“ nicht mehr der Realität des gegenwärtigen Frankreichs angemessen sei und daher auch nicht den Vorschlägen der Kommunistischen Partei für die Zukunft Frankreichs entspreche. Der Weg zu einem französischen Sozialismus gründe sich nicht auf Diktatur, sondern auf einer Mehrheit des Volkes, das sich in freier Entscheidung für diesen Weg entschieden habe. Eine wichtige Rolle in der Argumentation des Generalsekretärs nahm die Veränderung des Diktaturbegriffs ein. Diktatur, so Marchais, werde heutzutage mit den faschistischen Diktaturen Adolf Hitlers, Benito Mussolinis, António de Oliveira Salazars und Fran44 45 46 47 48
Vgl. Christofferson 2004, S. 89–112. Zu Kooperationen und Konflikten im Verhältnis von PCF und PCI siehe Lazar 1992. Vgl. Valentin-McLean 2006, S. 105 f. Hofnung 2001, S. 244. Vgl. Dieter Wildt, Marchais: „Ich habe Schwein gehabt“, in: Der Spiegel, Nr. 7, 08.02.1976.
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cisco Francos assoziiert, aber nicht mehr mit sozialistischer Demokratie. Marchais forderte daher, dass die „Diktatur des Proletariats“ gestrichen werden müsse: „Der Sozialismus in unserem Lande muß sich, wenn er nicht im Bereich der Phrase bleiben will, mit der Erhaltung und Ausdehnung der demokratischen Errungenschaften identifizieren, die unser Volk in großen, erbitterten Kämpfen erzielt hat. […] Aber der Entwurf weist gleichzeitig den Gedanken zurück, daß man in bestimmten Momenten den mehrheitlichen politischen Willen des Volkes durch die Aktion von ‚entschlossenen Minderheiten‘ oder durch die Waffe der Repression ersetzen könne. […] Im Kampf für den Sozialismus kann, in unserer Epoche und in einem Land wie dem unseren, nichts, absolut nichts den mehrheitlichen Volkswillen ersetzen, der durch den Kampf und durch das Mittel der allgemeinen Wahl seinen demokratischen Ausdruck findet. […] So erklärt sich auch, daß die ‚Diktatur des Proletariats‘ im Programmentwurf nicht vorkommt. Folglich schlagen wir […] dem Kongreß vor, die Aufgabe dieses Begriffs zu beschließen.“49 Im Anschluss an die Rede des Generalsekretärs votierten alle 1700 Delegierten des Parteitages für die Streichung der „Diktatur des Proletariats“ aus dem Parteiprogramm.50 Eineinhalb Jahre zuvor hatten noch alle Delegierten für das Ziel der „Diktatur des Proletariats“ votiert. Bereits der Fakt, dass alle 1700 Delegierten ohne eine einzige Gegenstimme oder Enthaltung für die Abschaffung stimmten, sprach dafür, dass es sich hierbei um reine Parteitaktik handelte.51 Auch hatte es zuvor in den Basisorganisationen keine Diskussion über einen solchen Parteitagsbeschluss gegeben. Marchais selbst hatte sich bis kurz vor dem Parteikongress immer mit Nachdruck für die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ ausgesprochen. Zwölf Jahre vor der Streichung hatte er noch mit drastischen Worten vor solch einem Schritt gewarnt: „Das Konzept der Diktatur des Proletariats in Frage zu stellen hieße, auf das Terrain der bürgerlichen Demokratie abzugleiten.“52 Ebenso hatte der X. Parteitag des PCF 1964 die „Diktatur des Proletariats“ „a thousand times more democratic“53 als die liberal-marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens bezeichnet. Die Streichung der „Diktatur des Proletariats“ wurde auch dadurch ad absurdum geführt, dass das Prinzip im Statut, zu dem sich jedes PCF-Mitglied bekennen musste, weiterhin aufgeführt war.54 Innerhalb des PCF war die Abschaffung äußerst umstritten.55 Jean Elleinstein56 unterstützte als einer der führenden Köpfe des französischen Eurokommunismus die 49 50 51 52 53 54 55 56
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Georges Marchais zitiert in Balibar 1977b, S. 174–177. Spieker 1980, S. 462. Vgl. Vogt 1978, S. 72. Georges Marchais zitiert in Kellmann 1984, S. 36. Balampanidēs 2019, S. 151. „Kommunismus heute“, Der Spiegel, Nr. 21, 15.05.1977. Jäger 1978, S. 73–80. Jean Elleinstein (1927-2002), französischer Historiker, der in den 1970er-Jahren zu einer wichtigen Stimme der eurokommunistischen Reformer innerhalb des PCF avancierte. 1975
Loslösung, indem er auf Friedrich Engels verwies.57 Dieser hatte 1895 in seiner Einleitung zu Marx‘ Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ die Zeit von durch Minderheiten geführten Revolutionen für beendet erklärt und stattdessen gefordert, dass von nun an die Einsicht der breiten Volksmasse in die Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sei: „Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet, und das ist ein Punkt, der bei dieser Gelegenheit näher untersucht zu werden verdient. Alle bisherigen Revolutionen liefen hinaus auf die Verdrängung einer bestimmten Klassenherrschaft durch eine andere; alle bisherigen herrschenden Klassen waren aber nur kleine Minoritäten gegenüber der beherrschten Volksmasse. Eine herrschende Minorität wurde so gestürzt, eine andere Minorität ergriff an ihrer Stelle das Staatsruder und modelte die Staatseinrichtungen nach ihren Interessen um. […] Aber wenn wir vom jedesmaligen konkreten Inhalt absehen, war die gemeinsame Form aller dieser Revolutionen die, daß sie Minoritätsrevolutionen waren. Selbst wenn die Majorität dazu mittat, geschah es – wissentlich oder nicht – nur im Dienst einer Minorität; diese aber erhielt dadurch, oder auch schon durch die passive widerstandslose Haltung der Majorität, den Anschein, als sei sie Vertreterin des ganzen Volkes. […] Alle Revolutionen der neueren Zeit, angefangen von der großen englischen des siebzehnten Jahrhunderts, zeigten diese Züge, die untrennbar schienen von jedem revolutionären Kampf. Sie schienen anwendbar auch auf die Kämpfe des Proletariats um seine Emanzipation.“58 Étienne Balibar, damals 33-jähriges PCF-Mitglied, später renommierter Philosophieprofessor an der Universität Paris-Nanterre, gab anlässlich des Parteitagsbeschlusses zur Abschaffung der Forderung nach der „Diktatur des Proletariats“ ein ganzes Buch heraus, das eine Massenauflage erreichte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.59 Balibar argumentierte darin gegen die Abschaffung der „Diktatur des Proletariats“. Die Kritik seines Generalsekretärs an den Staaten des real existierenden Sozialismus teilte er zwar. Diese hätten „die Diktatur des Proletariats entstellt und diskreditiert“.60 Er argumentierte jedoch gegen Marchais‘ Schlussfolgerung. Balibar erkannte an, dass die Mehrheit der Menschen in Westeuropa die „Diktatur des Proletariats“ nur noch als Rechtfertigung des Repressionsapparats der sozialistischen Staaten, allen voran der Sowjetunion, identifiziere. Das Konzept und seine bei Marx ursprüngliche Funktion als Übergang in eine herrschaftsfreie Gesellschaft
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publizierte er mit „Histoire du phénomène stalinien“ eine wissenschaftliche Kritik des Stalinismus. Mit der Wiederannäherung des PCF an die Sowjetunion Ende der 1970er-Jahre verlor er seinen parteiinternen Einfluss. Zu Elleinstein vgl. Courtois 1996. Zademach 1979, S. 42. Marx 1895, S. 7. Balibar 1976; Balibar 1977; Balibar 1977a; Balibar 1977b; Balibar 1978; Balibar 1990. Étienne Balibar zitiert in Dieter Wildt, Marchais: „Ich habe Schwein gehabt“, in: Der Spiegel, Nr. 7, 08.02.1976.
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dürften deswegen jedoch nicht aufgegeben werden. Es sei vielmehr eine umfassende theoretische Grundlagendiskussion über den Wert der „Diktatur des Proletariats“ vonnöten. Balibar wurde umgehend zur Zielscheibe innerparteilicher Kritik, weil er öffentlich die Entscheidung des Generalsekretärs angegriffen hatte. Schließlich wurde Balibar fünf Jahre später, 1981, aus dem Parti Communiste Français ausgeschlossen, nachdem er in seinem Beitrag „De Charonne à Vitry“ vor zunehmend xenophobischen Tendenzen des PCF gewarnt hatte.61 Zu diesem Zeitpunkt hatte der PCF seinen kurzzeitigen Eurokommunismuskurs jedoch schon wieder aufgegeben. Noch im März 1977 war es zu einem öffentlich vielbeachteten Treffen der drei Generalsekretäre Georges Marchais (PCF), Enrico Berlinguer (PCI) und Santiago Carrillo (PCE) in Madrid gekommen, bei dem die drei eine gemeinsame Erklärung inklusive Bekenntnis zu einem demokratischen Weg zum Sozialismus abgegeben hatten.62 Knapp sechs Monate später verließ der PCF im September 1977 jedoch die union de la gauche mit Sozialisten und Linksliberalen und beendete seinen Eurokommunismuskurs.63 Umgehend kam es zu einer Wiederannäherung an die Sowjetunion. Dementsprechend verteidigte die Führung des PCF um Marchais auch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 und nahm wieder eine äußerst kritische Haltung zur Europäischen Gemeinschaft ein.64
Der real existierende Sozialismus und die eurokommunistische Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“ Für die Staaten des real existierenden Sozialismus stellte die eurokommunistische Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“ eine Diskreditierung ihres eigenen, allumfassenden Machtanspruchs dar. Die Absage an Pluralismus, Meinungsfreiheit und Demokratie konnte mit der vermeintlichen Gesetzmäßigkeit des Marxismus-Leninismus erklärt werden. Nach der sozialistischen Revolution brauchte es demnach eine – zeitlich nicht festgelegte – Phase der (proletarischen) Diktatur, um letztlich das Endziel des Kommunismus zu erreichen. Sollte der Kommunismus jedoch auch auf demokratischem Wege ohne die Diktatur einer Minderheit möglich sein, so wie es die Eurokommunisten anstrebten, dann wäre die Notwendigkeit der Alleinherrschaft einer kommunistischen Staatspartei nicht mehr gegeben. Mitte der 1970er-Jahre dauerte diese Übergangsphase in der Sowjetunion bereits 60 Jahre, in den sozialistischen Diktaturen Osteuropas knapp 30 Jahre an. Es war offensichtlich, dass sich die 61 62 63 64
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Vgl. Carroll 2006, S. 402 f. Vgl. Pons 2006, S. 105 f. Vgl. Santamaria 1999, S. 87 ff. Vgl. Dörr 2016.
„Diktatur des Proletariats“ in den Staaten des real existierenden Sozialismus in einen Dauerzustand verwandelt hatte. Oppositionelle erkannten daher rasch die Bedeutung der eurokommunistischen Kritik an der „Diktatur des Proletariats“. Rudolf Bahro, Wolf Biermann und Robert Havemann in der DDR, Adam Michnik in Polen, Jiří Pelikán in der Tschechoslowakei und andere Dissidenten setzten daher große Hoffnungen auf eine demokratische Erneuerung durch den Eurokommunismus.65 Auf dem Höhepunkt der eurokommunistischen Unabhängigkeitsbestrebungen von sowjetischer Bevormundung fand am 29. und 30. Juni 1976 die lange geplante Konferenz kommunistischer und Arbeiterparteien Europas in Ost-Berlin statt. Es sollte die letzte große internationale Kommunismuskonferenz werden. Auf der Konferenz verteidigten die drei eurokommunistischen Parteien aus Italien, Frankreich und Spanien ihre Konzeption eines eigenständigen Weges zum Sozialismus.66 Dabei wurden sie von kleineren eurokommunistischen Parteien wie der Communist Party of Great Britain unter ihrem Generalsekretär Gordon McLennan sowie den moskaukritischen Kommunisten aus Jugoslawien und Rumänien mit den autoritären Gallionsfiguren Josip Broz Tito und Nicolae Ceaușescu unterstützt. Gestärkt von der Streichung der „Diktatur des Proletariats“ aus dem Programm des PCF knapp vier Monate zuvor traten die eurokommunistischen Parteien mit großem Selbstbewusstsein auf.67 Für die SED-Führung stellte die Konferenz eine massive Herausforderung dar.68 Noch knapp vier Wochen zuvor hatten die ostdeutschen Kommunisten auf dem IX. Parteitag der SED die „Diktatur des Proletariats“ als Grundlage einer erfolgreichen sozialistischen Politik verteidigt.69 Nun erteilten ihr die großen Mitgliedsparteien der kommunistischen Bewegung Westeuropas öffentlich in der Hauptstadt der DDR eine Abfuhr. Die Rede von George Marchais stellte eine deutliche Absage an Praxis und Theorie der sozialistischen Staaten dar. Der PCF-Generalsekretär wiederholte, dass der Weg zum Sozialismus für die französischen Kommunisten nur ein demokratischer sein könne, der alle bestehenden Freiheitsrechte respektiere: „sei es die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, die Schaffens- und Publikationsfreiheit, die Kundgebungs- und Versammlungsfreiheit und die Freiheit, sich zusammenzuschließen, die Bewegungsfreiheit für Personen innerhalb des Landes und im Ausland, die religiösen Freiheiten oder das Streikrecht. Sei es die Anerkennung des Ergebnisses allgemeiner Wahlen (mit der darin eingeschlossenen Möglichkeit des 65 Vgl. Vogt 1978, S. 169–195; Amberger 2014, S. 273; Weber 1988, S. 104–115; Arndt 2013, S. 208 ff., Konzeption für ein Forschungsvorhaben „Allgemeine Theorie des Historischen Kompromisses“ von Rudolf Bahro, 26.11.1979, Bestand Horst Ehmke, 1/HEAA000406, AdsD Bonn. 66 Vgl. Timmermann 1976b. 67 Vgl. Raito 2013, S. 22. 68 Vgl. Di Palma, Francesco, 2017: Mittler zwischen den Blöcken? Die PCI, die PCF und die Ost-Berliner „Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas“ 1976, in: Deutschland Archiv, 1.3.2017. Unter: www.bpb.de/243451, Download am 07.12.2021. 69 Pfeil 2011, S. 74 f.
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demokratischen Wechsels), sei es das Recht auf Existenz und Betätigungsmöglichkeit der politischen Parteien, einschließlich der Oppositionsparteien, die Unabhängigkeit und freie Betätigung der Gewerkschaften, die Unabhängigkeit der Justiz oder der Verzicht auf jede offizielle Philosophie.“70 Diese Position widerspreche der „Diktatur des Proletariats“, weswegen der PCF seinen Verzicht darauf erklärt habe. Im Abschlusskommuniqué der Konferenz tauchte das Bekenntnis zur „Diktatur des Proletariats“ schließlich nicht auf.71 Im Neuen Deutschland wurden die Eurokommunisten darauf hingewiesen, dass die „Diktatur des Proletariats“ „keine veraltete Phrase, sondern ein unerläßliches Prinzip der revolutionären Arbeiterbewegung“72 darstelle. Der sowjettreue bulgarische KP-Chef Todor Schiwkow sah in der Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“, nicht zu Unrecht, eine „durch und durch anti-sowjetische(n) Konzeption“.73 Der albanische Diktator Enver Hoxha setzte in seiner gleichnamigen Monografie Eurokommunismus sogar mit Antikommunismus gleich.74 Die Akademie der Wissenschaften der DDR reagierte auf die eurokommunistische Herausforderung 1977 mit einer Publikation und der darin enthaltenden Feststellung, dass die DDR als eine Form der „Diktatur des Proletariats“ „eine weitere Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie“ darstelle.75 Bewusst wurde dabei die (sozialistische) Demokratie mit der (proletarischen) Diktatur gleichgesetzt, um den von den Eurokommunisten postulierten Gegensatz zwischen Diktatur und Demokratie zu entkräften. Den vorläufigen Höhepunkt des Konflikts zwischen den sowjetisch orientierten und den eurokommunistischen Parteien stellte dann die Auseinandersetzung über die Thesen des spanischen Generalsekretärs Santiago Carrillo dar.
Partido Comunista de España Unter den eurokommunistischen Parteien setzte sich Ende der 1970er-Jahre die Kommunistische Partei Spaniens am stärksten für eine Revision der „Diktatur des Proletariats“ ein. Weit über die Grenzen Spaniens heraus erregte das 1977 veröffentlichte, äußerst sowjetkritische Buch „Eurokommunismus und Staat“ von Santiago Carrillo für Aufsehen.76 Carrillo leitete darin seine Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“ aus der Natur der Demokratie ab. Liberale Demokratie sei nicht, wie
70 Georges Marchais zitiert in Timmermann, Timmermann 1979, S. 33 f. 71 Vgl. Lindner 1977, S. 148 f. Das Abschlussdokument ist abgedruckt in Steinkühler 1977, S. 290–308. 72 „Kommunismus heute“, Der Spiegel, Nr. 21, 15.05.1977. 73 Ebd. 74 Hoxha 1980. 75 Schüßler 1977. 76 Carrillo 1977.
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fälschlicherweise von orthodoxen Marxisten-Leninisten postuliert, eine Erfindung der Bourgeoisie. Demokratie sei vielmehr eine menschliche Konstante, die seit Anbeginn der Menschheit existiere und auch im Sozialismus weiter existieren werde. Demokratie könne unterdrückt, aber nicht völlig abgeschafft werden. Es bedürfe daher keiner Übergangsphase in Form einer proletarischen Diktatur, sondern einer sozialistischen Demokratie. Diese basiere wiederum auf grundlegenden Freiheiten wie Meinungs-, Religions-, Versammlungs- und Reisefreiheit sowie Pluralismus inklusive der Abwählbarkeit der Regierung. Carrillo wies auf die Erfahrungen seiner Partei im jahrzehntelangen Widerstandskampf gegen den Franquismus hin: „Es stimmt, daß wir Kommunisten Thesen und Formeln, die für uns früher Glaubensartikel waren, revidiert haben. Lange Jahre des Kampfes gegen den Faschismus haben uns geholfen, die wahren Werte der Demokratie besser zu sehen, die wahren Werte, und, wie ich hinzufügen würde, die beständigen. Wir haben eine gewisse, schon weit zurückliegende Unterschätzung der sogenannten formalen Freiheiten überwunden.”77 Vor diesem Hintergrund kritisierte er Lenin, der die „Diktatur des Proletariats“ als unabdingbare Periode für die Transition von der bürgerlich-kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft definiert hatte. Carrillo konzedierte zwar, dass die Oktoberrevolution in Russland 1917 ohne die kommunistische Einparteiendiktatur wahrscheinlich keinen langfristigen Erfolg gehabt hätte, da die Arbeiterschaft seinerzeit nur eine Minderheit gestellt und es zu viele Vetoakteure gegeben habe. Für die entwickelten Industriegesellschaften der 1970er-Jahre sei dies jedoch kein nachahmenswertes Modell. Gleichzeitig räumte der spanische KP-Chef ein, dass der graduelle, demokratische Weg zum Sozialismus für Entwicklungsländer nicht umsetzbar sei und diese daher auch auf gewaltsamen Wege Revolutionen durchführen müssten.78 Im Hinblick auf die „Diktatur des Proletariats” stellte Carrillo die Frage: „Was also tun mit dem Begriff der Diktatur des Proletariats? Warum entstand dieser Begriff, den Marx in seinem Brief an Weydemeyer als eine seiner wesentlichen Entdeckungen hervorhebt? Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet folgendermaßen: Können die Werktätigen der entwickelten kapitalistischen Länder ihre Hegemonie durchsetzen ohne die Diktatur des Proletariats, d. h. ohne eine mehr oder minder lange Übergangsperiode, während der die politischen Rechte der besiegten Klassen und ihrer Verteidiger unterdrückt werden?“79 Nach einer historischen Analyse des Begriffs kam er zu dem Schluss: „Demgegenüber bin ich überzeugt, daß die Diktatur des Proletariats für die demokratischen Länder des entwickelten Kapitalismus nicht
77 Ebd., S. 142. 78 Ebd., S. 19. 79 Ebd., S. 160.
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der Weg ist, um zur Errichtung und Festigung der Hegemonie der Werktätigen zu gelangen.”80 Carrillos Buch löste umgehend eine intensive Diffamierungskampagne der KPdSU und weiterer Bruderparteien aus.81 Allerdings zögerte die Sowjetunion vor der Herbeiführung einer Spaltung des PCE, da sich bereits 1973 mit sowjetischer Unterstützung die Spanische Kommunistische Arbeiterpartei (Partido Comunista Obrero Español) abgespalten, aber fortan keinen Erfolg bei Wahlen gehabt hatte.82 Sowjetorientierte Kommunisten wie Bhalchandra Ranadive83 kritisierte insbesondere, dass Carrillo die „Diktatur des Proletariats“, im Einklang mit der westlich-kapitalistischen Sichtweise, auf den Aspekt der Unterdrückung politischer Gegner reduziere anstatt ihr Emanzipationspotenzial als Übergangsphase zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft hervorzuheben.84 Der PCE führte seinen Öffnungskurs jedoch vorerst weiter und strich entsprechend auf seinem IX. Parteitag (April 1978) den Begriff „leninistisch“ aus den Statuten. In der dazugehörigen Resolution hieß es, dass die Partei den Stalinismus überwunden habe und nun in einem nächsten Schritt „die demokratischen und antibürokratischen Wesensgehalte des Marxismus“ zurückgewinnen wolle.85 Ein Jahr später revidierte auch der PCI sein Statut. Auf dem 25. Parteitag 1979 in Rom wurde das Bekenntnis der Mitglieder zum Marxismus-Leninismus gestrichen.86 Fortan sollten sie sich frei interpretierbar nur noch am Programm des PCI und den Ideen von Marx orientieren.
Fazit Lenin stellte in seiner Definition des Begriffs den Aspekt der gewaltsamen Machteroberung und der Herrschaftsausübung (einer Minderheit) durch Gewalt in den Vordergrund: „Diktatur des Proletariats ist ein wissenschaftlicher Terminus, der die Klasse bestimmt, um die es geht, und der die besondere Form der Staatsmacht festlegt, die man Diktatur nennt, nämlich eine Staatsmacht, die sich nicht auf das Gesetz und nicht auf Wahlen stützt, sondern unmittelbar auf die bewaffnete Macht dieses oder jenes Teils der Bevölkerung.“87 Diese vermeintlich gesetzmäßige Pflicht zur 80 81 82 83 84 85 86 87
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Ebd., S. 164. Vgl. Godson, Haseler 1978, S. 113. Vgl. Mujal-León 1982. Bhalchandra T. Ranadive (1904-1990), 1948-1950 Generalsekretär der KP Indiens, ab 1964 führendes Mitglied der Abspaltung KP Indiens (Marxisten). Ranadive galt als einer der wichtigsten kommunistischen Politiker des indischen Subkontinents. Ranadive 1978, S. 19 f. Zademach 1979, S. 47. Vgl. o.A. 1979, S. 21 f. Vladimir I. Lenin zitiert in Zademach 1979, S. 46.
gewaltsamen Machteroberung in Form der sozialistischen Revolution inklusive der darauffolgenden Diktatur verneinten in den 1970er-Jahren die Parteien, die dem Eurokommunismus zugerechnet wurden. Wie auch in anderen Bereichen, zum Beispiel beim demokratischen Zentralismus und dem proletarischen Internationalismus, lag die Leistung der Eurokommunisten, knapp zwei Jahrzehnte nach dem mühevollen Prozess der Entstalinisierung, in der „Entleninisierung“ der kommunistischen Theorie.88 Nicht alle seinerzeit zum Eurokommunismus gezählten Parteien durchliefen diese Transformation vollständig. Einige brachen den Reformkurs wieder ab und kehrten mehrheitlich ins sowjettreue Lager zurück. Ein Großteil der eurokommunistischen Parteien spaltete sich darüber hinaus früher oder später in Befürworter und Gegner des Öffnungskurses. Die Ambivalenz zwischen Ablehnung des Reformismus auf der einen und dem Ziel eines demokratischen Weges zum Sozialismus auf der anderen Seite konnten die dem Eurokommunismus zugerechneten Parteien nie auflösen. Letztlich entschied sich von den größeren Parteien nur der Partito Comunista Italiano für den lange Zeit abgelehnten Reformismus und wandelte sich, auch unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der sozialistischen Diktaturen Osteuropas, zu einer sozialdemokratischen Partei.89 Andere eurokommunistische Parteien kehrten nach dem Ende des Eurokommunismus Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre wieder zu einem orthodoxen Kommunismusverständnis zurück, das auch die Akzeptanz der „Diktatur des Proletariats“ beinhaltete. Am deutlichsten war dies beim Parti Communiste Français der Fall. Aber selbst der während des Eurokommunismus besonders sowjetkritische spanische Generalsekretär Carrillo beendete Anfang der 1980er-Jahre seinen Öffnungskurs, kritisierte die eigene Partei für ihre zu große Offenheit gegenüber nicht-kommunistischen Kräften und wurde deshalb 1985 sogar aus dem PCE ausgeschlossen.90 Eine Alternative stellte die Option zur Wandlung in eine linkssozialistische Partei dar, die rechts der kommunistischen und links der sozialdemokratischen Parteienfamilie angesiedelt war. Insbesondere die ehemals eurokommunistisch orientierten skandinavischen KPs schlugen diesen Weg ein.91 Von den dänischen Kommunisten hatte sich im Protest gegen die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn im Jahr 1956 bereits 1959 die fortan erfolgreichere und später eurokommunistische Sozialistische Volkspartei abgespalten. Die moskaukritische schwedische KP benannte sich 1967 in Linkspartei-Kommunisten um und wurde so zu einer Vorreiterin des Eurokommunismus. Die norwegische KP wandelte
88 89 90 91
Vgl. Shore 1990. Vgl. Dörr 2017, S. 417–430. Vgl. Zirakzadeh 1995. Vgl. Kellmann 1988, S. 15–51.
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sich 1975 größtenteils zur Sozialistischen Linkspartei und in Finnland ging aus der kommunistisch dominierten SKDL92 1990 das Linksbündnis hervor. Die Lösung von der „Diktatur des Proletariats“ konnte als „die wohl spektakulärste Revision orthodoxer Positionen durch den Eurokommunismus“ bezeichnet werden.93 Während friedliche Wege zur Machteroberung, wie von den Eurokommunisten angestrebt, noch akzeptabel im Hinblick auf die Theorie waren, stellte jede länger andauernde, nicht allein taktisch bedingte Form der Machtteilung ein Problem hinsichtlich der sowjetischen Interpretation des Marxismus-Leninismus dar. Denn eine langfristige Zusammenarbeit und Machtteilung, im Extremfall sogar eine Koalition mit Christdemokraten wie in Italien, war weder für Marx noch für Lenin der Weg zum Kommunismus. Mit der Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“ begaben sich die Eurokommunisten, sofern sie es aus innerer Überzeugung und nicht lediglich aus taktischen Motiven taten, auf den Pfad des Reformismus. Während der Parti Communiste Français den Weg des Reformismus nach kurzer Zeit wieder verließ und letztlich in der Bedeutungslosigkeit verschwand – die Partei erhält bei Wahlen heutzutage nur noch ein bis zwei Prozent der Stimmen – war der Wandel des Partito Comunista Italiano erfolgreicher. Nach mehreren Fusionen und Spaltungen stellt die größte Nachfolgepartei, der zentristische Partito Democratico, aktuell die zweitgrößte Fraktion im italienischen Parlament und ist Teil der Regierungskoalition.94 Die frühzeitige und konsequente Lösung von der „Diktatur des Proletariats“ hat dazu beigetragen.
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Tom Thieme Zwischen Revolutionsfolklore und Totalrevision. (Post-)Kommunistische Parteien in Ostmitteleuropa*
1. Einführung Mit dem Epochenbruch 1989/90 und dem Untergang der kommunistischen Hemisphäre in Europa schien auch das Ende der einstigen ideokratischen Massenparteien samt ihrer utopischen Herrschaftslegitimation besiegelt.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg noch ausgestattet mit der Legitimation als dem Gegenentwurf zur „bürgerlichen Demokratie“ als Vorboten des Faschismus (Dimitroff-These2), hatte die marxistisch-leninistische Ideologie in den folgenden Jahrzehnten je mehr an Strahlkraft verloren, desto deutlicher die Unterlegenheit des Realsozialismus im Systemwettbewerb zwischen Ost und West hervortrat. Nicht nur große Teile der Bevölkerungen hegten eine immer stärkere Skepsis gegenüber den Parteidiktaturen als den rechtmäßigen politischen Ordnungen, sondern auch innerhalb der sozialistischen Eliten schwand die Überzeugung. Nicht willens oder in der Lage ohne das „Zuckerbrot“ der Legitimation und allein mit der „Peitsche“ der Repression (zumal ohne den Beistand der Sowjetunion) die Systeme am Leben zu halten,3 setzte sich in Ostmitteleuropa jener Dominoeffekt in Gang, den der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash zu dem scharfsinnigen Diktum verdichtete, in Polen habe der Fall des Regimes zehn Jahre gedauert, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen und in der Tschechoslowakei zehn Tage.4 Zugleich drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage auf: „What’s Left of the Radical Left?“5 Die Politikwissenschaftler Luke March und Cas Mudde kamen 2005 aus gesamteuropäischer Perspektive zu dem Urteil, die Hinterlassenschaft des Realsozialismus habe einerseits zum Zerfall, andererseits zur ideologischen Mutation der ehemals kommunistisch geprägten Organisationen geführt. Ob sich dieser Befund ebenso für die Nachfolgeorganisationen der früheren Staatsparteien in Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn bestätigt, * Mit dem Beitrag setzt der Verfasser entsprechende Forschungen (Thieme 2015) fort. 1 Siehe zum Ideokratiekonzept Backes/Kailitz 2014, S. 7-16. 2 Der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff war von 1935 bis zur Auflösung durch Stalin im Jahr 1943 Generalsekretär der Kommunistischen Internationale und von 1946 bis zu seinem Tod 1949 Ministerpräsident Bulgariens. Vgl. Stankova 2010. 3 Vgl. Gerschweski u.a. 2013. 4 Vgl. Ash 1990, S. 401. 5 March/Mudde 2005, S. 23.
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welche organisatorischen, personellen und ideologischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten existieren, soll Gegenstand dieses Beitrages sein: Was bleibt von den marxistisch-leninistischen Vorstellungen zentralistischer Kaderparteien als Avantgarde des Proletariats? Mit welchen personellen Austauschbeziehungen geht das einher? Welchen Stellenwert besitzt die kommunistische Ideologie des Marxismus-Leninismus nach 1989 bzw. bis heute? Und in diesem Zusammenhang: Welche Rolle spielt darin noch die Losung von der „Diktatur des Proletariats“?
2. Organisatorischer Wandel Wer nach organisatorischen Kontinuitäten und Brüchen der einstigen kommunistischen Staatsparteien sucht, findet erste Anhaltspunkte mit Blick auf deren Bezeichnungen und Symboliken. So lassen sich in Polen und Ungarn ideologische Auflösungserscheinungen schon lange vor 1989 feststellen. Sowohl die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) als auch die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) hatten sich bereits in den kommunistischen Aufbaujahren von den traditionellen Symbolen des Marxismus-Leninismus – Hammer, Sichel und Ährenkranz als Zeichen der Einheit von Arbeitern und Bauern – getrennt. Lediglich der rote fünfzackige Stern fand im Logo der ungarischen Kommunisten weiter Verwendung; in Polen nicht einmal dieser. Dagegen behielt die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KSČ) die klassischen Symboliken in der Ästhetik des sozialistischen Realismus bis zum Jahreswechsel 1989/90 bei. Die Unterschiede lassen sich vorrangig durch die differenzierte Verwurzelung des Kommunismus erklären. Anders als in Polen, wo die Machtübernahme von Anbeginn als Akt sowjetischer Fremdbestimmung aufgefasst wurde, und in Ungarn, wo mit der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 eine gewisse Legitimation der Anfangsjahre größtenteils verloren gegangen war, gab es für das „kommunistische Experiment“6 in der Tschechoslowakei einen deutlich stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung. Davon zeugt der Sieg bei den halbfreien Parlamentswahlen im Jahr 1946, wiewohl die Militärintervention der Warschauer Paktstaaten zur Beendigung des Prager Frühlings 1968 auch hier einen irreparablen Glaubwürdigkeitsverlust der kommunistischen Parteieliten nach sich zog. Mit dem Systemwechsel vertieften sich die unterschiedlichen Entwicklungen. Am weitesten ging der Bruch mit dem alten Regime in Ungarn. Auf dem XIV. Parteikongress im Oktober 1989 kam es in Folge der rasanten Veränderungen zur offiziellen Auflösung und Umbenennung: Jegliche kommunistische Symbolik verschwand, der Begriff Arbeiter wurde gestrichen und man bezeichnete sich fortan als Sozialistische
6 So Löwenthal 1957.
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Partei Ungarns (MSZP). Dem Namen nach sozialistisch ging die programmatische Erneuerung deutlich weiter in Richtung einer umfassenden Sozialdemokratisierung, in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren sogar über den Kurs der neuen Mitte von Tony Blair und Gerhard Schröder hinaus. Allerdings: Nur wenige Tage nach der Auflösung der MSZMP kam es zur Abspaltung und Neugründung der Kommunistischen Arbeiterpartei (MP), auch wenn der Namenszusatz „kommunistisch“ bald nicht mehr verwendet wurde. 43 hochrangige Funktionäre beschlossen unter Federführung des ehemaligen Generalsekretärs Károly Grósz, die namentliche und personelle Kontinuität der MSZMP fortzusetzen, ein Drittel der hauptamtlichen Funktionäre zu übernehmen und „den Verrat an den Wünschen der Basis“ rückgängig zu machen.7 Dem knapp verpassten Parlamentseinzug 1990 folgte der allmähliche Niedergang – seit Jahren ist die MP im ungarischen Parteiensystem bedeutungslos.8 Diametral entgegengesetzt verlief die Entwicklung im tschechischen Landesteil der Tschechoslowakei bzw. ab 1993 in Tschechien. Hier kam es zwar zur Umbenennung in die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM). Dies war jedoch nicht dem Bruch mit der früheren Organisationsstruktur geschuldet, sondern der Desintegration beider Landesteile in der mittlerweile umbenannten Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR). Die starke Kontinuität wurde sowohl in der Beibehaltung der Bezeichnung „kommunistisch“, als auch durch die Weiterführung formaler Strukturen und Mitgliedschaften sowie in Teilen der Symbolik deutlich. Eine Kirsche neben einem rot umrandeten weißen Stern sollte einerseits Frische und Neuanfang suggerieren, andererseits Assoziationen zu den agrarindustriellen Traditionslinien der Partei herstellen, oder anders ausgedrückt: Bezüge zur internationalen Arbeiterbewegung darstellen, ohne aber zu stark an das Symbol des Sowjetkommunismus anzuknüpfen. Im Gegensatz zur KSČM kam es innerhalb der Kommunistischen Partei der Slowakei (KSS) rasch zu einer strukturellen Neuorientierung. Ab Dezember 1989 begann ein Aktionskomitee, die Partei in eine „demokratisch organisierte Partei linken Typs“ umzuwandeln. Im Herbst 1990 wurde die Partei in KSS-SDL (Partei der Linken) umbenannt. Unter der Führung ihres Vorsitzenden Peter Weiss entwickelte sie ein gemäßigt sozialistisches Profil mit sozialdemokratischen Elementen. Besondere Priorität legte die Parteiführung darauf, jede Kontinuität zu der alten KSS zu vermeiden. Anfang 1991 wurde der letzte kommunistische Ballast abgeworfen und die Bezeichnung KSS aus dem Parteinamen gestrichen. Doch nicht alle Mitglieder der KSS stimmten mit der umfassenden Parteitransformation überein.9 Ein Teil der kommunistischen Funktionäre gründete im Juni 1991 die KSS ´91 (heute nur noch 7 Vgl. Thieme 2008, S. 172 f. 8 Vgl. Barlai/Hartleb 2011, S. 418. 9 Vgl. Hatschikjan 1994, S. 122 f.
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KSS). Obwohl sie nicht offizielle Rechtsnachfolgerin der tschechoslowakischen KSS ist, bemüht sie sich um Kontinuität zur KSČ, wovon neben der Namensgebung auch die Weiterverwendung der Symboliken des roten Sterns sowie von Hammer und Sichel spricht. 2021 feierte die KSS in Anknüpfung an die Vorgängerorganisationen ihr einhundertjähriges Bestehen. Ähnlich wie die slowakische SDL entschieden sich auch Polens Kommunisten in organisatorischer Hinsicht für einen Mittelweg zwischen vollständigem Bruch (MSZP) und weitreichender Kontinuität (KSČM). Zwar kam es 1990 zur Neugründung als Sozialdemokratie der Republik Polen (SdRP) und zur Auflösung der PZPR-Strukturen, allerdings unter Fortführung der alten Mitgliedschaften und mit der Übernahme der Parteiimmobilien und -vermögen. Was ferner gegen die Totalrevision des eigenen Selbstverständnisses spricht: Die Umbenennung in Sozialdemokratie Polens spielte in der Praxis kaum eine Rolle, formierte man sich doch zuvörderst im sogenannten Bund der demokratischen Linken (SLD) als stärkster Block eines heterogenen Bündnisses, in dem auch marxistisch-leninistische Ideologeme fortlebten, wiewohl unter den besonderen Bedingungen des seit jeher spezifischen polnischen Nationalkommunismus.10 Summa summarum und unter Hinzunahme des Sonderfalls DDR/Ostdeutschland lassen sich vier Entwicklungspfade abstrahieren und differenzieren: 1) Umbenennung und Auflösung der alten Strukturen und der Mitgliedschaft (Ungarn); 2) Umbenennung und Auflösung der Strukturen unter Beibehaltung der Mitgliedschaft (Polen und in der Slowakei); 3) Umbenennung bei Erhalt der Strukturen und der alten Mitgliedschaft (DDR) und 4) Erhalt des Namens, der Struktur und der Mitgliedschaft (Tschechien). Um der Spaltung der Parteien entgegenzuwirken, kam es in allen Fällen zum Bruch mit den Prinzipien zentralistischer Führung und zur Umstrukturierung hin zu demokratischen Strömungsparteien. Die Absplitterung orthodoxer Zirkel bestimmte in Polen, der Slowakei und Ungarn die innerparteiliche Demokratisierung, während man sich innerhalb der KSČM ähnlich wie im Fall der ostdeutschen SED-PDS für die Integration der nicht persönlich belasteten alten Kader entschied.
3. Personeller Wandel Die Frage nach personellen (Dis-)Kontinuitäten lässt sich weniger klar bestimmen als die nach den strukturellen Brüchen. Zum einen hängt es davon ab, welchen Zeitpunkt man betrachtet. Die politikwissenschaftliche Transformationsforschung unterscheidet dafür drei Phasen der Demokratisierung: 1) das Ende des autokratischen Systems, 2) die Institutionalisierung des demokratischen Regierungssystems und 3)
10 Vgl. Zagańczyk-Neufeld 2014, S. 210.
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die Konsolidierung der Demokratie.11 Bestehen bei einer solchen Periodisierung Abgrenzungsprobleme im Allgemeinen (wo hört Institutionalisierung auf, wo fängt Konsolidierung an), wird diese beim Vergleich der ostmitteleuropäischen Staaten noch erschwert. So fanden die Systemwechsel nicht zeitgleich, sondern nacheinander und stark aufeinander bezogen statt. Zum anderen muss das Ausmaß der personellen Veränderung die Gewichtung der internen Kräfteverhältnisse berücksichtigen: In welchen Größenordnungen stehen sich sogenannte „Reformer“ und „Orthodoxe“ gegenüber? Dynamiken und Strategien, Opportunismus und Lagerwechsel erschweren solche Zuordnungen. Ähnlich wie in der DDR festigte die alte Elite in der Tschechoslowakei bis Mitte des Annus mirabilis 1989 ihre Macht. Auch nach den erzwungenen Rücktritten der Generalsekretäre Erich Honecker und Milouš Jakeš änderte sich bis zur Aufgabe des Machtmonopols nichts an der Dominanz des orthodoxen Lagers. In Prag wurden die Anhänger des „Wind of Change“ (Ministerpräsident bis 1988 Lubomír Štrougal und sein Nachfolger Ladislav Adamec) innerhalb der KSČ kaltgestellt, wiewohl beide allenfalls einem ökonomischen, nicht einem politischen Wandel, wohlwollend gegenüberstanden. Die (wenigen) personellen Veränderungen gingen meist nicht mit Richtungskämpfen um den zukünftigen politischen Kurs der Staatsparteien einher, sondern waren das Ergebnis von persönlichen Animositäten unter den Mitgliedern der Führung. Gegen die zunehmende Destabilisierung hatten die von Heeren an Ja-Sagern umgebenen, beratungsresistenten Führungen weder Auswege parat noch Kenntnisse über den rasch vorangeschrittenen Zerfall ihrer Macht. Kein einziger Vertreter der Elite hatte sich vor dem Zusammenbruch der sozialistischen Machtarchitektur durch Kritik und Veränderungswillen am Modell des demokratischen Zentralismus profiliert. Trotz der Desmissionierung einiger personeller Altlasten traten inhaltliche Differenzen bis zum Ende der alten Regime kaum hervor. Auch der neue Generalsekretär Karel Urbánek konnte nicht als Reformer gelten, da er abgesehen von partiellen Veränderungen (vor allem im darbenden ökonomischen Bereich) bis November 1989 nicht am Machtanspruch der Parteiregime rührte. Unvorbelastete personelle Alternativen gab es an der Spitze der Machthierarchie nicht. Die Vorstellung einer Diktatur des Proletariats war in der Theorie (der Machtanspruch einer sozialistischen Elite zur Erziehung der Massen) wie in der Praxis (die Produktionsmittel als Eigentum des gesamten werktätigen Volkes) bis zum Zusammenbruch der Parteiregime Staatsdoktrin.12 Ein anderes Bild zeigte sich in Ungarn. Hier entstand als Folge des „Kádárismus“ als einer Politik der „gelegentlichen Zugeständnisse“13, ein innerparteiliches Gegengewicht, das nach dem Führungs- und Kurswechsel im Kreml seine Machtbasis er11 Vgl. Merkel 2010. 12 Vgl. Pfahl-Traughber 2016, S. 36. 13 So Kiss 1993, S. 122.
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weitern konnte. Ein offener Machtkampf zwischen den Lagern brach indes zunächst nicht aus – beide Seiten vermieden aus Unkenntnis über die eigene Stärke bzw. Schwäche eine Eskalation. Der orthodoxe Flügel verfügte zwar über die Machtmittel und größeren Einfluss in der Partei, allerdings kaum über Unterstützung aus der Bevölkerung. Bei den Reformern verhielt es sich umgekehrt.14 Da nach der Demissionierung János Kádárs 1988 dessen engste Weggefährten aus dem Politbüro ausschieden, verschob sich die Frontstellung an der MSZMP-Spitze weiter in Richtung Liberalisierung. Nicht mehr nur um die generelle Frage einer partiellen Öffnung innerhalb der engen Grenzen des autoritären Regimes wurde gerungen, sondern darum, „nur“ wirtschaftliche Reformen zu befürworten oder zugleich die politische Erneuerung des Landes anzustreben. Bis zum Ende der alten Regime konnte das demokratische Lager um Miklós Németh, Rezső Nyers und Imre Pozsgay zumindest ein Kräftegleichgewicht an der Spitze des Apparates herstellen. In der eigentlichen Übergangsphase von der Diktatur zur Demokratie verkehrte sich die personelle Wandlungsdynamik. War das alte Regime in der Tschechoslowakei bis zu seinem Zusammenbruch überwiegend von Kontinuität geprägt, konnte nach der erzwungenen Aufgabe der Macht ein Neuanfang der Kommunisten nur ohne die desavouierten personellen Altlasten gelingen. Ein fast vollständiger Austausch der Parteieliten brachte vor allem Kader der mittleren Ebene an die Spitze der Apparate, während über 80 Prozent der alten Führung aus ZK und Politbüro ausschieden. Die meisten verließen später die Parteien bzw. wurden ausgeschlossen. Auch aus den Regierungen musste der Großteil der Machteliten weichen – „Verwandlungskünstler“ wie Marián Čalfa blieben Ausnahmen. In Ungarn verschob sich das Kräftegleichgewicht mit dem Ende des Machtmonopols eindeutig zugunsten der Demokraten. Die Gruppe um Németh, Nyers und Pozsgay hatte sich gegen das Grósz-Lager durchsetzen können, musste (bis zur Spaltung der Partei) indes die internen Strömungen berücksichtigen. Zentrale Konflikte fokussierten weniger die grundsätzliche Frage eines demokratischen Systemwechsels, sondern vielmehr die Regularien der Demokratisierung – z. B. ob ein für die (Post-)Kommunisten günstiges Gründungswahlsystem installiert werden sollte.15 Entsprechende Konzessionen spiegelten sich auch in den Personalentscheidungen der neuen MSZP wider. Aus der Abstimmung über ihre innerparteilichen Präferenzen auf dem Parteitag im Oktober 1989 waren die „Reformer“ mit 479 Delegierten als klare Sieger hervorgegangen, während die Gruppe der „Zentristen“ um Parteichef Grósz gerade einmal 26 Personen hinter sich vereinigte. Dennoch kam es zu einem Kompromiss bei der Besetzung des Parteivorsitzes. Nicht die Favoriten des Reform-Lagers Németh oder Pozsgay kamen zum Zug, sondern der für seine Integrationsfähigkeit bekannte Spitzenkandidat der zwischen den parteiinternen Fak14 Vgl. Pállinger 1997, S. 294. 15 Vgl. ausführlich Harfst 2007, S. 165-172.
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tionen stehenden „Volksplattform“ (105 Delegierte) Nyers wurde vorgeschlagen und gewählt. Mit ihm an der Spitze formierte sich die MSZP für die ersten freien Wahlen im März 1990.16 In Polen hingegen waren personelle Veränderungen weniger von innen heraus initiiert. Die von der Staatspartei kontrollierten Vorgründungswahlen im Juni 1989 – nur die Senatsmandate und ein Drittel der Sitze des Sejm sollten für unabhängige Kandidaten offenstehen – wurden zur entscheidenden Weichenstellung auf dem Weg zum Systemwechsel und führten zu einer Erdrutschniederlage für die Partei. Dies war weniger das Ergebnis der freiwilligen Selbstaufgabe des alten Regimes, sondern vielmehr eine Fehlkalkulation der Kommunisten. Wie stark ihre Macht mittlerweile erodierte, ahnten zu diesem Zeitpunkt weder die Vertreter der Regime- noch der Gegenelite. Die von der PZPR dominierte Regierungskoalition gewann keinen der 100 Senatssitze.17 Für die Parteielite noch folgenschwerer war ihr Abschneiden über die Landesliste der Koalition. Der Kontrollverlust führte zur Demissionierung eines Teils der Parteielite aus Parlament und Regierung. Erst die Auflösung bzw. Neugründung der PZPR bzw. SdRP beendete die parteiinterne Einheit. Der Großteil der alten Parteielite zog sich zurück, und auch die Befürworter eines vollständigen Bruchs mit der Vergangenheit verließen die Partei. Die bis dahin von Militärs und Sicherheitskreisen dominierte Parteispitze unter General Wojciech Jaruzelski wurde nun von Wirtschafts- und Finanzexperten wie Władysław Baka, Mieczysław Rakowski und Aleksander Kwaśniewski ersetzt. Insgesamt hatte sich in personeller Hinsicht bis zum Ende der Übergangsphase – festgemacht an den ersten freien Wahlen – in allen drei ostmitteleuropäischen Staaten das demokratische Lager innerhalb der ehemaligen Staatsparteien durchgesetzt. Aber das blieb nicht überall so. Während sich im Zuge der demokratischen Institutionalisierung an den Parteispitzen überall Demokraten durchgesetzt hatten, kam es in den Folgejahren zu unterschiedlichen Entwicklungen. Ungarns MSZP-Führung hielt Kurs. Nach dem Wahlsieg 1994 kehrte sie in die Regierung zurück. Im Kabinett unter dem Ex-Außenminister Gyula Horn saßen neben Neulingen Vertreter des alten Parteiestablishments, die schon vor 1989 dem demokratischen Flügel der Partei zuzurechnen waren. Aus dem orthodoxen Lager konnte sich niemand an der Parteispitze behaupten bzw. dahin zurückkehren, da sich deren Großteil in der MP versammelt und von der größeren Nachfolgepartei abgespalten hatte.18 Ein ähnlicher Prozess vollzog sich in der Slowakei, wo bereits vor der staatlichen Unabhängigkeit des Landes das Gros der alten Garde zur KSS übergetreten war. Die Führung der SDL distanzierte sich umfassend und glaubwürdig vom alten Regime und unterstützte die demokratische Transformation auch in den Jahren der 16 Vgl. Schmidt-Schweizer 2007, S. 378-380. 17 Vgl. Ziemer 2013, S. 22. 18 Vgl. ausführlich Machos 2003.
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semiautoritären Regierung unter Ministerpräsident Vladimir Mečiar (1990-1998) ein wertgebundenes Verhältnis zur Demokratie. In Polen gelang den Postkommunisten 1993 die Rückkehr an die Macht. Dies löste Mäßigungsprozesse an der Parteispitze aus. Die paritätische Zusammensetzung der Führung aus Befürwortern eines klaren Bruchs mit dem Ancien Régime und dessen Gegnern blieb intakt, wovon die Bezeichnung als Vereinigte Linke zeugt. Allerdings wurden die Positionen des am alten System orientierten Flügels zunehmend marginalisiert, weil seine Anhänger ihre Fundamentalopposition aufgaben und ein opportunistisches Verhältnis zum demokratischen System entwickelten. In der Tschechischen Republik konnte sich das demokratische Lager dagegen – ähnlich wie innerhalb der PDS – nur teilweise behaupten. Zugunsten der Einbindung möglichst vieler interner Strömungen verweigerte sich die KSČM einem klaren Bekenntnis zur Demokratie, was die Gegner der Demokratie innerhalb der Führung stärkte und zum Austritt einer Reihe (sozial)demokratisch orientierter Vertreter führte. Ab 1993 übernahm das orthodoxe Lager wieder das Kommando – daran hat sich bis heute nichts geändert. Sie ist mit Ausnahme des Parlamentseinzugs der slowakischen KSS im Jahr 2002 (6,3 Prozent) die einzige traditionell kommunistische Partei, die auf nationaler Ebene regelmäßig parlamentarische Repräsentanz erlangte – in den vergangenen 20 Jahren allerdings mit stark rückläufigen Ergebnissen. Hatte sie noch 2002 mit 18,5 Prozent ihr Spitzenergebnis erlangt, war ihr Stimmenanteil seitdem diskontinuierlich zurückgegangen. Bei den Wahlen 2021 verpasste die KSČM erstmals seit dem Systemwechsel 1990 den Einzug in das tschechische Abgeordnetenhaus. Zwar noch immer mitgliederstärkste Partei in Tschechien, geht die Zahl der Genossen seit Jahren stark zurück – zumeist demographisch bedingt.19
4. Ideologischer Wandel Das Ausmaß des personellen Wandels steht in engem Zusammenhang mit der ideologisch-programmatischen Wandlungsfähigkeit der (post-)kommunistischen Parteien – je größer die interne Heterogenität ausfiel, umso breiter fächerte sich das programmatische Spektrum der Parteien. Und dort, wo linksextremistische Flügel eingebunden wurden, blieb auch die Idee der klassenlosen Gesellschaft Maxime der Programmatik. Unmittelbar nach 1990 fällt zunächst der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf: In den neuen Grundsatzprogrammen nach dem Ende der alten Systeme fanden sich in allen Fällen noch immer Aussagen zu kommunistischen Grundwerten wie dem Primat der allumfassenden sozialen Gleichheit und zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Zwar taucht die Formel von der Diktatur
19 Vgl. Havlik/Mejstřik 2021, S. 109-112.
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des Proletariats nicht mehr explizit auf – zu belastet war der Begriff in den realsozialistischen Staaten durch seine Verwendung im sowjetkommunistischen Kontext. Wohl aber fand ihr Bedeutungsinhalt noch immer Eingang in offizielle Parteipositionen: der Verweis auf die Arbeiterklasse als Träger eines geeinten Volkswillens, die Ablehnung des Kapitalismus und die Beibehaltung von Staatseigentum in zentralen Wirtschaftsbereichen als Besitz aller Werktätigen mit Ziel einer klassenlosen Gesellschaft. In welchem Widerspruch solche Revolutionsrhetorik zu den Forderungen nach Demokratie stand, legt das Bespiel der ungarischen MSZP offen: So bekannte sich die Parteiführung gleichzeitig zu Rechtsstaatlichkeit, politischem Wettbewerb und sozialer Marktwirtschaft, die allerdings auf dem Boden einer sozialistischen Gesellschaft fußen sollten. Die (formale) Verbundenheit mit den Grundlagen des Sozialismus war in erster Linie den innerparteilichen Kräfteverhältnissen geschuldet und den Bemühungen der Spitze, den Zerfall der Partei zu vermeiden. Im politischen Alltag ohne jegliche Ambitionen, das sozialistische System zu reanimieren, sind solche Reminiszenzen zudem vorrangig als symbolisches Ritual zur Befriedung der traditionellen Wählerklientel und nicht als Ausdruck einer tatsächlichen ideologischen Überzeugung zu interpretieren. In Polen viel mehr noch als in Ungarn konnte der Kommunismus nie seinen aufgezwungenen und fremdbestimmten Charakter abschütteln, weshalb die PZPR schon in den 1950er und 1960er Jahren ihre Versuche eingestellt hatte, die Bevölkerung ideologisch an sich zu binden. Mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 schritt die Entideologisierung der Gesellschaft weiter voran. Dadurch konnte die Partei vor dem Hintergrund der dramatischen wirtschaftlichen Lage des Landes einige Reformen auf den Weg bringen, ohne allzu stark in Widerspruch zur marxistisch-leninistischen Lehre zu geraten. Ohne ideologischen Dogmatismus ging die Parteielite an die Liberalisierung der Wirtschaft – ein freier Arbeitsmarkt wurde legalisiert, die Möglichkeiten für privatwirtschaftliche Aktivitäten verstärkt und Handelserleichterungen geschaffen. Durch die Legalisierung der Opposition und den Vorschlag zu Verhandlungen setzte die Partei nicht nur den ökonomischen, sondern auch den politischen Reformprozess in Gang.20 Ihre partielle Reformbereitschaft zielte jedoch in erster Linie auf die Integration und Instrumentalisierung der Opposition, nicht auf einen von ihr kontrollierten Übergang zu einem demokratischen System. Im Gegensatz zur polnischen Parteielite orientierten sich die Herrscher in Prag bis Herbst 1989 an den Dogmen des Marxismus-Leninismus – sie lehnten das „Gorbatschow-Experiment“ als Gefahr für den Sozialismus ab. Die wirtschaftlichen Reformen in den Nachbarländern verfolgten sie mit größter Skepsis und ignorierten das Scheitern der eigenen Planökonomien. Die vergeblichen Kurskorrekturen nach
20 Vgl. Jaskułowski 2011, S. 50-56.
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der Entmachtung Jakeš sollten bis zum Ende der Einparteienherrschaft nicht der ideologischen Erneuerung dienen, sondern deren (schwindende) Machtbasis retten. Anstrengungen in Richtung eines ideologisch-programmatischen Wandels wurden nach dem Machtverlust der Kommunisten nicht konsequent umgesetzt. Da diejenigen, die den wegen ihrer Reformunfähigkeit desavouierten Parteien noch immer die Treue hielten, überwiegend von der historischen Richtigkeit des Sozialismus überzeugt waren, unterblieb eine umfassende programmatische Erneuerung. Zwar versuchte die neue Regierung unter Čalfa während der Verhandlungen am Runden Tisch sich als reformorientierte Kraft zu präsentieren, doch trotz des beinahe vollständigen Austausches an der Parteispitze fanden sich ideologisch-programmatisch viele Punkte aus den unmittelbar vor dem Ende der alten Regimes vorgelegten Aktionsprogrammen wieder. Die mittlerweile von der Slowakei abgespaltene KSČM bekannte sich auf der einen Seite zu politischem Pluralismus und zu Rechtsstaatlichkeit, auf der anderen Seite pries sie den Marxismus-Leninismus weiterhin als zentrale ideologische Grundlage. Sie versuchte durch die Konstruktion des Gegensatzes von kommunistischer Theorie und realsozialistischer Praxis sowohl den Erfordernissen der Demokratisierung gerecht zu werden als auch die Ideale des Großteils der Parteibasis zu verteidigen. So schwankte die neue Parteiführung um der Einbindung der verschiedenen Parteiflügel willen zwischen programmatischem Aufbruch und ideologischer Beharrung. Und auch nach der Etablierung der Demokratie verhinderte das Streben nach organisatorischer Einheit den programmatisch-ideologischen Neuanfang der KSČM. Sie hielt fest am Ziel einer sozialistischen Gesellschaft, das aber nicht als ein bürokratischer Staatssozialismus, sondern unter die Chiffre als sogenannter „demokratischer Sozialismus“ verwirklicht werden sollte. Die Parteieliten in Polen, Ungarn und im slowakischen Teil der ČSFR hatten durch ihre ideologische Flexibilität in den letzten Jahren der autoritären Systeme weniger Schwierigkeiten, ein glaubwürdiges demokratisches Programm zu verabschieden. Gleichwohl spiegelten die Programmatiken noch immer Kompromisse zwischen den verschiedenen Lagern innerhalb der ungarischen MSZP und der slowakischen SDL wider, bis es in beiden Ländern zu den Abspaltungen der orthodox-kommunistischen Flügel kam. In dem Maße, wie sich in beiden Fällen der Partei-Mainstream von nun an ohne gezwungene Rücksichtnahme auf die „alte Garde“ mäßigen konnte, restaurierten die traditionell kommunistischen Kräfte ihre ideologische Basis. Die Formel von der Diktatur des Proletariats wurde negativ gewendet zum Kampf gegen die „Diktatur des Kapitals“. Nur durch die wahre Umsetzung der kommunistischen Doktrin seien die Menschen aus den Zwängen von Abhängigkeit und Lohnarbeit zu befreien, Bevormundung und Unterdrückung zu beenden und echte Freiheit der Bevölkerung zu erreichen, so der von 1990 an und
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bis heute amtierende MP-Vorsitzende Gyula Thürmer.21 Analog heißt es im Grundsatzprogramm der KSS von 1994 zu den Zielen der Partei, „den Menschen aus der Abhängigkeit des Kapitals zu befreien und eine klassenlose Gesellschaftsordnung zu etablieren“.22 Vor allem die schon vor dem Zusammenbruch des alten Regimes entideologisierte polnische Parteielite schaffte es, sich von weltanschaulichen Prinzipien zu lösen und den Kurs des pragmatischen Krisenmanagements fortzusetzen. Ökonomisch am Rande des Bankrotts, von internationalen Geldgebern zur Weiterführung wirtschaftlicher Reformen gezwungen und ohne großartige Gegenwehr aus den eigenen Reihen, verschwand die Sozialismus-Rhetorik mit der Auflösung der alten Parteistrukturen gleichsam über Nacht. Nicht nur ihrem Namen nach, sondern auch programmatisch hatte die SdRP den Wandel hin zu einer sozialdemokratischen Partei bereits vor dem Ende der demokratischen Institutionalisierung abgeschlossen. In ihren neuen Oppositionsrollen setzte sich der Kurs der drei postkommunistischen Hauptströmungen in Richtung ihrer Sozialdemokratisierung fort. Sie nahmen Abstand von den ideologischen Bürden der Vergangenheit und bewiesen wie im Fall der MSZP und der SLD nach ihrer Rückkehr als Regierungsparteien 1994 bzw. 1995 in der Tagespolitik ihre Demokratiefähigkeit. Paradoxerweise vollzog sich nun allerdings in der polnischen Sammlungspartei, die sich – anders als durch die Abspaltungen in Ungarn und der Slowakei – nicht ihrer orthodoxen Altlasten entledigt hatte, eine Rolle rückwärts. Die offizielle Programmatik hatte in der Allianz als Vereinigte Linke verschiedene Flügel widerzuspiegeln, und damit auch solche, die auf die Bewahrung – tatsächlicher und vermeintlicher – Sozialismus-Errungenschaften pochten. In der Praxis setzte sich indes die sozialdemokratische Strömung um Kwaśniewski durch, indem sie sich mittels Kooptation und materiellen Anreizen die Loyalität des Apparats sicherte. Ein letzter Gedanke soll dem Geschichtsbild bzw. der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gewidmet sein. Dies deckt sich größtenteils mit dem Ausmaß und der Intensität der ideologischen Kontinuitäten oder Brüche, und setzt zugleich einige differenziertere Akzente. Vor allem die KSČM-Spitze verweigerte zugunsten ihrer im alten System verwurzelten Anhänger einen klaren Bruch mit der Geschichte. Statt 40 Jahre Realsozialismus als das zu bewerten, was sie waren – nämlich Diktaturen der kommunistischen Parteien –, argumentierten sie in zwei Richtungen abwägend. Zum einen seien die Fehlentwicklungen eine Folge des Stalinismus gewesen, die zur Deformation des „echten“ Sozialismus geführt hätten. Zum anderen würden nicht die verbliebenen Parteimitglieder die Schuld für das Scheitern des Sozialismus tragen, sondern allein die engsten Machtzirkel an den 21 Vgl. Thieme 2008, S. 175. 22 Grundsatzprogramm der Kommunistischen Partei der Slowakei vom 15. Mai 1994, zitiert nach ebd. S. 157.
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Spitzen der Parteien. Die Distanzierung von den Verbrechen, Zielen und Methoden der sozialistischen Herrschaftspraxis wurde so durch die Verklärung – tatsächlicher oder angeblicher – Sozialismus-Errungenschaften und durch die Schönfärberei des sozialistischen Machtsystems relativiert.23 Polens Parteielite fand mit ihrem Bekenntnis zur politischen und moralischen Verantwortung für die Verbrechen des alten Regimes klarere Worte als die Führung in Prag. Doch neigte ein Teil der Parteispitze zur Verharmlosung der PZPR-Herrschaft.24 Im Laufe der Zeit wandelte sich die Widersprüchlichkeit des Geschichtsbildes zur Befriedung der internen Konflikte indes in Richtung Verdrängung und NichtThematisierung. Die Führungen Ungarns und der Slowakei schlossen sich dieser Argumentation von der guten sozialistischen Idee, die lediglich schlecht ausgeführt worden sei, nicht an. Beide (die ungarische Parteispitze zudem vor dem Ende des alten Systems) fanden eindeutige Worte – von weltanschaulichen Dogmen über die Ineffektivität der Wirtschaft bis zum Bruch mit der marxistisch-leninistischen Lehre. Mit Rücksicht auf ihre Wählerklientel und mit wachsender Distanz sank jedoch auch hier die Bereitschaft zur Aufarbeitung der Geschichte der Parteien. Verdrängung statt Erinnerung schien für beide Parteien das Erfolgsrezept bei ihren Selbststilisierungen als demokratisch-progressive Kräfte zu sein. Noch weniger Selbstkritik als bei der Revision der Geschichtsbilder zeigten die (post-)kommunistischen Parteien bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Nicht die einfachen Mitglieder und parteiinternen „Reformer“ seien für die Verbrechen im Namen der Parteien verantwortlich gewesen, sondern allein die Hardliner in den Politbüros und in den Sicherheitsapparaten. Es wurde versucht, die Überwachungsapparate und das Politbüro zu alleinigen „Sündenböcken“ zu machen – dies scheiterte. Abhängig von der jeweiligen Machtposition unterschieden sich allerdings die Strategien der Parteiführungen, um die Untersuchung der früheren Apparate zu verhindern. Während die im tschechischen Parteiensystem für lange Zeit isolierte KSČM abgesehen von internen Minderheiten die Auseinandersetzung als eine Justiz der Sieger bezeichneten und die Lustration ihrer Mandatsträger energisch ablehnte, setzten die Parteiführungen in Polen und Ungarn anfangs auf Vertuschung und später auf die Verwässerung der Aufarbeitungsprozesse. Hatten sie noch unmittelbar vor dem Ende der alten Systeme die Vernichtung großer Teile der Staatssicherheitsakten befehligt, waren sie nach ihrer Rückkehr an die Macht für die Verabschiedung von Aufarbeitungsgesetzen verantwortlich, die jedoch deutlich hinter den Forderungen der neuen (alten) Opposition und der Öffentlichkeit zurückblieben. Die slowakische SDL-Spitze stellte hier eine Ausnahme dar. In der Debatte um die Überprüfung von
23 Vgl. Veselý 2005, S. 666 f. 24 Vgl. aus komparativer Perspektive Troebst 2010.
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Abgeordneten hinsichtlich ihrer Verstrickungen im Repressionsapparat der Tschechoslowakei stimmte sie als einzige Partei gegen ein Ende der Lustrationen.25 Bei der nachträglichen Bewertung der Systemwechsel 1989/90 lassen sich drei verschiedene Positionen der Parteiführungen ausmachen. 1) Von der tschechischen KSČM ebenso wie von den abgespaltenen Kleinstparteien in Ungarn (MP) und der Slowakei (KSS) wurde zwar auf der politischen Ebene das Ende des „deformierten Realsozialismus“ begrüßt, jedoch die Alternative eines repräsentativ-demokratischen Systems und die sozioökonomische Transition abgelehnt. Abgesehen von der Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen und den Verbrechen der Sicherheitsapparate zeichnen Teile der Partei bis heute ein überwiegend positives Bild der sozialistischen Tschechoslowakei. 2) Die SdRP-Führung setzte dagegen mit wachsender zeitlicher Distanz stärker auf die Umdeutung der Ereignisse. Die eigene Rolle wurde positiv verklärt, während sich die Partei nach ihrer Rückkehr in die Regierung gegen die juristische Beurteilung des Systemwechselprozesses zunehmend mit politischen Mitteln wehrte. 3) Lediglich die Spitzen in Ungarn und in der Slowakei bekannten sich uneingeschränkt zum Demokratisierungsprozess. Insbesondere die MSZP-Führung verwies auf ihre Vorreiterrolle bei der „Transformation von innen“, war sie es doch, welche die Abschaffung von Arbeitermiliz und Geheimpolizei, die Erneuerung des Militärs, die wirtschaftliche Transition sowie umfassende Verwaltungsund Justizreformen eingeleitet hatte. Umso höher ist die Demokratisierungsfähigkeit der slowakischen SDL einzuschätzen. Aufgrund des Festhaltens der KSČ am alten System bis Ende 1989 konnte sie nicht auf solche positiven Bezugspunkte verweisen wie die ungarischen Postkommunisten. Dennoch unterstützte sie von Anfang 1990 an und ohne Vorbehalte den Systemwechsel, auch um den Preis ihres kontinuierlichen Bedeutungsverlustes. Dies war freilich von der Parteiführung so nicht beabsichtigt.
5. Fazit – Was bleibt vom Kommunismus, was von der Diktatur des Proletariats? Wer die Frage, was vom Diktum von der Diktatur des Proletariats im postkommunistischen Raum übriggeblieben ist, allein auf der begrifflichen Ebene betrachtet, wird eine klare Antwort geben können: nichts. Ideologisch lange vor der Zeitenwende 1989/90 ausgezehrt, bildete gerade die Formel von der proletarischen Diktatur den Mittelpunkt jener marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie, die einerseits in enger Verbindung mit der weithin abgelehnten sowjetischen Fremdbestimmung Ostmitteleuropas stand, andererseits nach den Systemwechseln als „Entartung des wahren Sozialismus“ und somit als zentrale Ursache für den Irrweg und Zusammen-
25 Vgl. Holländer 2000, S. 40-44.
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bruch des Kommunismus galt. Selbst jene Kräfte, die das neue demokratische System ablehnten und an einer sozialistischen Gesellschaftsvision festhielten, verzichten wegen der Assoziationen mit dem Sowjetkommunismus in ihrem Vokabular auf den diskreditierten Diktaturbegriff – „demokratischer Sozialismus“ und der Kampf gegen die „Diktatur des Kapitals“ wurden zu neuen Leitmotiven. Auch wer nicht allein auf die Formulierung, sondern auf den Bedeutungsinhalt einer Diktatur des Proletariats abstellt, wird starke Brüche feststellen. Fast allerorts vollzog sich die Preisgabe der wesentlichen Theorieelemente entlang der ausgeführten (Dis-)Kontinuitätsmerkmale: der Verzicht auf 1) die vollständige Zentralisierung der Macht in den Händen der Partei (Struktur), getragen von 2) ideologisch gefestigten Kadern (Personen) und 3) legitimiert durch die Vorstellung von „wahrer Demokratie“ als die Ablehnung von Pluralismus und Parlamentarismus zugunsten eines mehrheitlichen Volkswillens des Proletariats (Ideologie). So traten innerhalb der Hauptströmungen der einstigen Staatsparteien in Polen, Ungarn und der Slowakei Technokraten und Pragmatiker an die Stelle von Ideologen; entwickelten sich aus der Linientreue nach dem Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ heterogene linke Sammlungsparteien; blieben ideologische Versatzstücke wie das offizielle Ziel einer sozialistischen Gesellschaft vielmehr symbolische Gesten gegenüber den eigenen Funktionären als tatsächliche politische Überzeugungen. Differenzierter fällt der Befund mit Blick auf die abgespaltenen kommunistischen Flügel in der Slowakei (KSS) und in Ungarn (MP) aus sowie zuvörderst auf die tschechische KSČM – der einzigen Partei, in der die Hauptströmung der einstigen Staatspartei als kommunistisch fortexistierte. Zwar vollzogen sie alle den doppelten Bruch mit den Grundprinzipien einer Diktatur des Proletariats – sei es als indoktrinäre „Diktatur einer Elite zur Erziehung der Massen“ wie bei Wladimir I. Lenin, sei es als eine Diktatur der „Mehrheit des Proletariats“ wie bei Rosa Luxemburg. Keine der Parteien stellte und stellt freie Wahlen als die zentrale Legitimationsgrundlage der politischen Ordnungen in Frage. Und dennoch spielt die Bewahrung marxistisch-leninistischer Ideologeme – die Rede vom Klassenkampf, von der Überwindung des Kapitalismus als Voraussetzung für die Befreiung der Menschen aus der Lohnabhängigkeit – nach wie vor eine tragende Rolle, freilich weniger als konkrete politische Zielsetzung, sondern eher als Folklore für alte Wählerklientel. Damit verbunden geht wenig Bereitschaft zur umfassenden Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit einher – im Gegenteil, wie explizite Verweise auf die eigenen Traditionslinien zu den kommunistischen Bewegungen seit der Zwischenkriegszeit belegen. Und auch wenn das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ heute keinen offiziellen Organisationscharakter mehr besitzt, zeigen u.a. Langzeitvorsitzende, ein hohes Maß an Parteidisziplin und stark hierarchische Willensbildungsprozesse mancherlei Kontinuitäten, gleichwohl angesichts von Zustimmungsraten jenseits von parlamentarischen Repräsentationen ohne wahrnehmbaren gesellschaftspoliti-
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schen Einfluss. Die Diktatur des Proletariats erscheint in Ostmitteleuropa heute kaum mehr als die Reminiszenz an ein „gescheitertes Experiment“.26
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Helmut Altrichter Bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt der Geschichte Osteuropas an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Bernward Anton Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Archiv der Münchner Arbeiterbewegung. Prof. Dr. Jan C. Behrends Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und Projektleiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Prof. Dr. Béla Bodó Akademischer Oberrat an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Prof. Dr. Marie-Janine Calic Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Dr. Nikolas Dörr Leiter der Nachwuchsgruppe „Der ,aktivierende Sozialstaatʻ – eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte deutsche Sozialpolitik, 1979-2017“ am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Prof. Dr. Mario Keßler Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Prof. Dr. Wilfried Nippel Bis 2015 Professor für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Prof. Dr. Mike Schmeitzner Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden (HAIT) und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden.
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Prof. Dr. Uli Schöler Bis 2019 Professor für Politische Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und stellv. Direktor beim Deutschen Bundestag. Prof. Dr. Tom Thieme Professor für Gesellschaftspolitische Bildung an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) in Rothenburg/Oberlausitz; Stellvertretender Direktor des Sächsischen Instituts für Polizei- und Sicherheitsforschung (SIPS). Stefan Weise, M.A. Seit 2019 Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und Doktorand an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Dissertationsprojekt: Karl Korsch. Leben, Werk, Wirkung (AT).
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