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German Pages [431] Year 2014
https://doi.org/10.5771/9783495860373 .
Thomas Dürr Hannah Arendts Begriff des Verzeihens
ALBER THESEN
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Über dieses Buch: Dem Verzeihen wird seit einiger Zeit vermehrt Beachtung geschenkt. In der Philosophie, Rechts-/Politikwissenschaften, Theologie und Psychologie/Psychotherapie fällt dabei der Name Hannah Arendts zumeist so, dass ihre Auffassung des Verzeihens eher verdunkelt, denn erhellt wird. Daher bedarf es eines gründlichen Verständnisses von Arendts Begriff des Verzeihens, das erst durch den Bezug auf ihr Gesamtwerk möglich wird. Die sich ergebende Skizze einer Theorie des Verzeihens tritt dann in ein Gespräch mit der philosophischen und interdisziplinären Debatte über das Verzeihen ein. Denn zum einen erlaubt Arendts Verzeihensbegriff nicht nur die Abgrenzung von den üblichen Verwechslungen (Entschuldigung, Nachsicht, Duldung u. a.) und den Vereinnahmungsversuchen, denen Arendt ausgesetzt ist, sondern auch die Unterscheidung von Strafe, Amnestie und Begnadigung. Zum anderen werden Verbindungen zwischen Arendt und Derrida, Kodalle, Ricœur und Spaemann sichtbar. Und es lassen sich die Lücken in ihrer Skizze durch die wechselseitige Erhellung in jenem Gespräch so schließen, dass eine arendtsche Theorie des Verzeihens greifbar wird. Dabei ist es das Gespräch mit Ricœur, das zur Bestimmung des arendtschen Verzeihens als versprechendes Verzeihen führt. Ihre These vom Verzeihen und Versprechen als dem Handeln innewohnenden Heilmitteln für die aporetische Verfasstheit des Handelns wird durch das versprechende Verzeihen so korrigiert, dass Letzteres der Aporetik des Handelns nicht entgeht, aber doch die ausgezeichnete Weise bleibt, mit der Erfahrung des Scheiterns praktischer Selbstbestimmung umzugehen, die nicht allein auf das Vergangene schaut, sondern zugleich Zukunft eröffnet, ohne ein Heilmittel für jenes Scheitern sein zu können. Der Autor: Thomas Dürr studierte Geschichte und Philosophie in Halle an der Saale und Freiburg im Breisgau, wo er im Winter 2008 promoviert wurde. Zur Zeit ist er an der Pennsylvania State University tätig.
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Thomas Dürr
Hannah Arendts Begriff des Verzeihens
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alber-Reihe Thesen Band 38
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SansSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48380-0 (Print)
ISBN 978-3-495-86037-3 (E-Book)
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Inhalt
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I
Schuld und Verzeihung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Forschung und Konzeption . . . . . . . . . . . a Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . b Fragestellung, Aufbau und Quellen . . . . . c Hinweise zu den bibliographischen Angaben
11 16 16 30 38
II
Arendts Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Die Grundbegriffe von Arendts Handlungstheorie . . . . a Der kategoriale Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
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a Die anthropologischen Bedingungen menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b Arendts Denkstil und ihr Begriff des Handelns . . . .
b Die Grundbegriffe . . . . . . . c Die Aporien des Handelns . . . a Die Unabsehbarkeit . . . . . b Die Unwiderruflichkeit . . . g Die Verantwortlichkeit . . . .
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d Das Scheitern der Tradition an den Aporien des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Versprechen und Verzeihen . . . . . . . . . . . . . . . . a Das Versprechen und die Unabsehbarkeit . . . . . . . b Das Verzeihen und die Unwiderruflichkeit . . . . . . a Arendt, Jesus und die Entdeckung des Verzeihens . . b Arendt, Jesus und das Unverzeihliche . . . . . . . . Die Grenzen von Arendts Begriff des Unverzeihlichen . . . . . . . . . . . . . . . . (ii) Arendts Verzeihen im Verhältnis zu Rache und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 40 42 42 50 62 73 75 76 78 91 94 98 101 103 116
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Inhalt
g Das Verzeihungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . (i) Das Verzeihen und das moralisches Urteilen . . (ii) Die Reue und die Übernahme von Verantwortung (iii) Die Freiheit und die Ungerechtigkeit des Verzeihens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (iv) Die Motive des Verzeihens . . . . . . . . . . . (v) Die Beurteilung der Person . . . . . . . . . . . (vi) Das Verstehen des Verzeihens . . . . . . . . . . (vii) Das Freigeben der Person . . . . . . . . . . . .
142 146 154
157 159 164 169 172 c Die Zerbrechlichkeit des Verzeihens . . . . . . . . . . 174
Vergeben und Verzeihen . . . . . . . . . . . . . . Erste Zwischenbemerkung: Täter und Opfer . . . . . . Zweite Zwischenbemerkung: Vergeben versus Verzeihen 4 Verwechslungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a Die Entschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . b Die Nachsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . c Die Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d Die Verharmlosung . . . . . . . . . . . . . . . e Das Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . f Die Selbstverzeihung . . . . . . . . . . . . . . 5 Sündenvergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Staatliches Vergebungshandeln . . . . . . . . . . . a Die Amnestie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b Die Begnadigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Verzeihen als zwischenmenschliches Handeln . . . a Die Bedingungen des Verzeihens . . . . . . . . (i) Die Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . (ii) Das Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . (iii) Die Verzeihungsbedürftigkeit . . . . . . . (iv) Die Überwindung des Übelnehmens . . . b Die Reue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a Die Reue und die Entschädigung . . . . . . . .
III
6
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entschädigung als Wiederaufbauarbeit .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (i) . (ii) Die symbolische Dimension der Entschädigung . (iii) Das Interesse des Täters an der Entschädigung . b Die Asymmetrie des Verzeihens . . . . . . . . . . .
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188 188 193 198 199 203 205 208 211 215 223 238 245 251 257 258 258 263 265 267 276 281 286 291 292 295
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Inhalt
g Die Reinheit des Verzeihens . . . . . . . . (i) Das ontologische Verzeihen . . . . . . (ii) Das reine Verzeihen bei Derrida . . . (iii) Das vorlaufende Verzeihen . . . . . .
. . . . c Der Akt des Verzeihens . . . . . . . . . . . . a Die Bitte um Verzeihung . . . . . . . . . . . b Die Gewährung von Verzeihung . . . . . . .
. . . . . . . (i) Das Vorrecht und die Pflicht zu verzeihen . (ii) Stellvertretende Verzeihung . . . . . . . g Das Verzeihen als Versprechen . . . . . . . . .
IV 8 9
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
308 309 313 321 326 328 332 335 342 348
Versöhnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Politisches Verzeihen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Verzeihen und Versöhnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Schriften von Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
Register der Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
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Vorwort
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation über »Hannah Arendts Begriff des Verzeihens«, die im Sommersemester 2008 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Ich danke meinem Doktorvater, Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander, herzlich für seine Unterstützung und seinen Ratschlag in den letzten Jahren. Die kollegiale Atmosphäre am Husserl-Archiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und sein bestärkender Zuspruch waren mir sehr hilfreich. Er hat überdies zu ihrem Gelingen beigetragen, indem er mir Gelegenheit gab, meine Gedanken zu Arendts Begriff des Verzeihens im Rahmen des von ihm geleiteten DFG-Projektes »Rechts- und Moralnormen als Sinnstrukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens in seinem Wandel« in den Jahren 2004–2007 zu entwickeln, und meinen Forschungen so die institutionelle und materielle Grundlage verliehen, auf die zurückgreifen zu können keine Selbstverständlichkeit ist. Prof. Dr. Lore Hühn und Prof. Dr. Ingeborg Villinger danke ich für die Erstellung des Zweit- und Drittgutachtens. Sie und Prof. Gander haben keine Mühe gescheut, den Begutachtungsprozess und das Promotionsverfahren zu einem zügigen Abschluss zu bringen, und mir damit im Blick auf das Kommende einen großen Dienst erwiesen. Bei Lukas Trabert und seinen Mitarbeitern im Karl Alber Verlag Freiburg bedanke ich mich für die stets freundliche, hilfreiche und zuverlässige Betreuung und für die Aufnahme meiner Dissertation in die »Alber-Reihe Thesen«. Vor den Mitgliedern des interdisziplinären DFG-Verbundprojektes »Recht, Norm und Kriminalisierung« unter der Leitung von Prof. Dr. Gander, Prof. Dr. Hans-Jörg Albrecht (Direktor des MaxPlanck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg) und Prof. Dr. Monika Fludernik (Englisches Seminar der A
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Vorwort
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) konnte ich in verschiedenen Arbeitsgruppen des Verbundprojektes und des Projektes am HusserlArchiv Teile meiner Dissertation vortragen. Dafür danke ich stellvertretend meiner Kollegin am Husserl-Archiv, Dr. Verena Krenberger, und Martin Brandenstein. Daniel Creutz, Ekkehard Dürr, Sebastian Lederle, Telse Lüthje, Jan Renker, Arne Riedlinger, Moritz Scheibe, Eva Schillings, Till Stüve und Matthias Wormuth haben sich der Mühe unterzogen, das Manuskript teilweise oder ganz zu lesen. Arne Riedlinger machte die Video-Cassette des Filmes »Contergan: Die Eltern« für mich verfügbar. Jan Renker wies mich auf den Film »Forgiving Dr. Mengele« über Eva Mozes Kor hin. Daniel Creutz und Till Stüve lasen für mich Texte von Emmanuel Lévinas und Vladimir Jankélévitch und halfen meinen ungenügenden Kenntnissen des Französischen ab. Ihnen allen gilt mein Dank dafür, dass sie mich ein Stück des Weges vorangebracht haben. Die Evangelische Communität Koinonia hat mich über die Jahre hinweg großzügig unterstützt. Dafür bringe ich hier stellvertretend meinen Eltern, Ekkehard und Nina Dürr, meine Dankbarkeit zum Ausdruck, auch dafür, dass sie mich stets mit Anteilnahme auf diesem Weg begleitet haben. Für Zuversicht, Nachsicht und andauernde Unterstützung – umso mehr als gebrochene Knochen die Angelegenheit in die Länge zogen – bin ich Telse Lüthje dankbar, die einen unschätzbaren Anteil daran hat, dass ich dieses Buch fertigstellen konnte. State College, im Juli 2009
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I Schuld und Verzeihung
Als der westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für die Widerstandskämpfer des jüdischen Ghettos in Warschau einen Kranz niederlegte, kurz die Schleife zurechtlegte, sich jedoch nicht aufrichtete, sondern auf die Knie fiel, den Kopf senkte und wie im Gebet für einen Augenblick innehielt, waren die Reaktionen auf diese »Überbietung des verbalen Entschuldigungsritus« geteilt. 1 Besonders galt das für jenes Staatsvolk, in dessen Namen der Remigrant Brandt am selben Tag die Warschauer Verträge unterzeichnet hatte. Man warf ihm Übertreibung vor oder lobte seine überfällige Reaktion auf die Ereignisse in Polen unter der deutschen Terrorherrschaft. Der Kniefall Brandts erwies sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte als unwiederholbar. Das Ausgreifen politischer Symbolhandlungen auf die Frömmigkeitspraxis ist begrenzt, denn der religiöse Bedeutungskontext ist nicht beliebig verfügbar, ohne dass er an Aussagekraft verliert. Doch kann Brandts Geste als Auftakt einer bis heute andauernden Entwicklung eines Rituals internationaler Politik gelten, in dem ranghohe Amtsinhaber und Würdenträger für die vergangenen Untaten ihrer Länder das oder die Opferkollektive um Entschuldigung oder um Verzeihung bitten. So hat der deutsche Bundespräsident Johannes Rau im Dezember 1999 um Vergebung gebeten, nachdem das Geschacher um die Entschädigung der im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter ein Ende gefunden hatte. Ebenso bat er in einer Rede vor der Knesset in Jerusalem im Februar 2000 das jüdische Volk um Verzeihung. Dieses Element zwischenstaatlicher Politik ist keine Besonderheit deutscher Außenpolitik, wenngleich seine Herausbildung ohne die Geschichte des Leides, das das deutsche Volk in der ersten Hälfte Hermann Lübbe: ›Ich entschuldige mich‹. Das neue politische Bußritual, Berlin 2001, S. 13; vgl. zum Folgenden ebd., S. 7–68.
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des zwanzigsten Jahrhunderts über weite Teile Europas gebracht hat, mit erheblich stärkeren Widerständen zu kämpfen gehabt hätte. Die Ausbreitung der politischen Entschuldigungspraxis zwischen Völkern kann man etwa an der Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Bill Clinton, auf der vor der senegalesischen Küste gelegenen Insel Gorée Island, der letzten Station der Sklaven vor ihrer Verschiffung nach Amerika, aus dem Jahr 1998 ablesen. In diesem Jahr bekannte sich auch der japanische Premier Keizo Obuchi vor dem südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung zu dem Leid, das sein Land zu Zeiten der japanischen Kolonialherrschaft den Koreanern zugefügt habe. Hermann Lübbe interpretiert diese Herausbildung einer politischen Entschuldigungsbitte auf dem Hintergrund einer zunehmenden »Aufdringlichkeit schlimmer Vergangenheiten«, worin sich der Übergang von einer »Moral der ideologischen Rechthaberei« zu einer »anspruchsvollere[n] Moral der Bereitschaft zur Anerkennung« vollzogen habe. 2 Zwei Jahre vor ihm hatte Jacques Derrida dasselbe Phänomen auf die Tagesordnung gesetzt. Aufmerksam geworden durch »das große Vergeben, das große Szenarium der Reue« 3 auf dem Schauplatz der internationalen Politik hatte er um die Jahrhundertwende mehrfach ein Seminar über die Verzeihung abgehalten. Für ihn gleicht die »›Globalisierung‹ der Vergebung einer ungeheuren Szene laufender Bekenntnisse, einer virtuell christlichen Konvulsion-Konversion-Konfession, einem Christianisierungsprozeß, der die christlichen Kirchen nicht mehr braucht.« (JV, 10,3) Denn was bedeute es, wenn ein japanischer Premier Koreaner um Verzeihung bittet? Wie kann man sich einen Reim darauf machen, dass sich Kulturen der Sprache der Verzeihung in ihren politischen Kontakten bedienen, die selbst nicht der europäischen und biblisch geprägten Kultur angehören, aus der diese Sprache stamme? Lübbes Zeitdiagnose von der Aufdringlichkeit schlimmer Vergangenheiten heißt bei Derrida »universelle Dringlichkeit des Gedächtnisses« (JV, 10,1). Universell ist sie deswegen, weil die Sprache der abrahamitischen Tradition aus Judentum, Christentum und Islam
Ebd., S. 9. Jacques Derrida: Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, in: Lettre international 48 (2000), S. 10–18 (franz. Original 1999) [= JV]. Ich gebe nach der Seite die Spalte an: (JV, 10,1).
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längst in allen Kulturen verstanden werde. Derrida beobachtet aber weniger die Herausbildung eines neuen Elements der internationalen Politik, sondern er wendet sich gegen die Verdrehungen, denen das abrahamitische Erbe in der politischen Arena ausgesetzt ist: »Jedesmal wenn das Vergeben im Dienste eines Zweckes steht […], jedesmal wenn es versucht, eine Normalität wiederherzustellen […], und zwar durch eine Trauerarbeit, durch irgendeine Therapie oder Ökologie des Gedächtnisses, dann ist die ›Vergebung‹ nicht rein – noch ist es ihr Begriff.« (JV, 10,3) Und um dieser Verunreinigung des Verzeihens durch seine politische Instrumentalisierung etwas entgegensetzen zu können, überführt Derrida seine politische Zeitgenossenschaft und seine philosophisch angeleitete Zeitdiagnose in die philosophische Reflexion über das Verzeihen. Neben den Überlegungen von Vladimir Jankélévitch 4 sind auch Hannah Arendts Gedanken ein Bezugspunkt seiner Anmerkungen zum Verzeihen. Arendt dachte seit dem Anfang der fünfziger Jahre über das Verzeihen nach; erst in Vorlesungen und unveröffentlichten Notizen, schließlich in ihrem Buch Vita activa, 5 auf das sich Derrida vierzig Jahre später beziehen sollte. Mit ihm hat sie das politische Verzeihen im Blick. Anders als er wollte sie jedoch ein verschüttet geglaubtes Vermögen gerade politisch rehabilitieren. Denn die abendländische Tradition politischer Philosophie habe sich immer selektiv verhalten und eine große Zahl authentischer Erfahrungen aus dem Bereich des Politischen ausgeschlossen, »d. h. begrifflich ungeklärt gelassen« (VA, 305) und daher für das Zusammenleben der Menschen nicht nutzbar gemacht, obwohl es sich um genuin politische Erfahrungen gehandelt habe. Mit Derrida verbindet sie jedoch der Ansatz beim Verzeihen selbst und seiner begrifflichen Klärung. Denn seine Kritik an den Verballhornungen des Verzeihens im Politischen setzt voraus, dass wir eine Vorstellung davon haben, was das Verzeihen jenseits des Politischen ist. Erst dann lässt sich eine kollektive oder politische Siehe Vladimir Jankélévitch: Forgiveness, Chicago/London 2005 (franz. Original unter dem Titel: Le Pardon, Paris 1967) [= F]; ders.: Verzeihen?, in: ders.: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, hg. v. Ralf Konersmann. Aus dem Französischen übers. v. Claudia Brede-Konersmann. Mit einem Vorwort v. Jürgen Altwegg, Frankfurt/Main 2003, S. 243–282 (franz. Original unter dem Titel: Pardonner?, Paris 1971) [= V]. 5 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, unveränderte Taschenbuchausgabe, München/Zürich 1 1981, 8 1996 (dt. Erstausgabe 1960, amer. Original 1958) [= VA]. 4
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Form des Verzeihens von einer nicht-politischen unterscheiden. Ebenso erfordert Arendts Anliegen, die politischen Potentiale des Verzeihens zu heben, dass zunächst der Begriff des Verzeihens selbst einer philosophischen Analyse unterzogen wird, die sie in der Vita activa vorgelegt hat. Damit verschiebt sich der philosophische Einsatzpunkt einer Theorie des Verzeihens. Sie rückt zunächst ab von der universellen Dringlichkeit des Gedächtnisses, entfernt sich von den politischen Erscheinungsformen und fragt nach dem Verzeihen selbst. Wenn wir die Dringlichkeit des Gedächtnisses aus der politischen Sphäre in die nicht-politischen Bereiche des Lebens zurückholen, dann zeigt sich gleichwohl derselbe Grund, aus dem die Vergangenheit als eine aufdringliche erfahren wird. Belastend oder bedrängend ist sie nämlich, weil sie immer dort, wo Menschen zusammen leben, auch eine Geschichte der gegenseitigen Verschuldung ist. »Schuld« steht hier insofern mit Bedacht, weil sie den Gegenstandsbereich des Verzeihens weiter zu fassen erlaubt als die Zuordnung desselben zu den menschenmöglichen Antworten auf das Böse schlechthin und sowohl die grausamen Taten als auch die kleinen Vergehen umfasst. Der Schuldbegriff ist für sich genommen ein unspezifischer Begriff, dessen Bedeutung nicht selbstverständlich ist – auch dann nicht, wenn schon angegeben ist, dass mit dem Verzeihen eine Umgangsform zwischenmenschlicher Schuld angesprochen ist, deren Kontext andere Umgangsformen mit dieser Schuld sind wie zum Beispiel Entschuldigung, Fluch, Rache, Strafe, Vergeltung und Vergessen. So hat Karl Jaspers vier Dimensionen der Schuld vier Instanzen der Schuldfeststellung zugeordnet: der kriminellen Schuld die Instanz des Gerichtes, der politischen Schuld die Instanz der Gewalt und des Siegers im Inneren wie im Äußeren, der moralischen Schuld die Instanz des Gewissens und nahestehender Menschen und schließlich der metaphysischen Schuld die Instanz Gottes. 6 Paul Ricœur hat diese Differenzierungen zum Vorbild genommen und kriminelle, politische und moralische Schuld unterschieden.7 Ferner sind ontologische und moralische im Sinne persönlicher Schuld auseinanderzuhalten. Zuletzt ist zu bedenken, in welcher Weise persönliche Schuld ein Schuldgefühl ist. Karl Jaspers: Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 31 f. Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2005 [= GGV], hier GGV, 717 f.
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Um in das Sprechen von der Schuld hinreichende Klarheit zu bringen und somit Arendts und Derridas Frage nach dem Verzeihen einen konkreten Anhaltspunkt zu verleihen, sei an Willi Oelmüllers Plädoyer für die Begrenzung des Schuldbegriffes erinnert. 8 Er erhebt Einspruch gegen die Aufhebung von Schuld in funktionalistischen oder systemtheoretischen Betrachtungsweisen. Die Überlegung erscheine wenig plausibel, nach dem Ende der übermenschlichen Schuldinstanzen, etwa Gott, nun Verantwortung für die Menschheit oder die Natur schlechthin übernehmen zu müssen. Solche Überforderung gehe einher mit der Füllung jener Lücke, die Gott hinterlassen habe, durch konstruierte Kollektivsubjekte wie Volk oder Nation, die sich dann selbst ermächtigten, im Namen dieser Konstruktionen dieses und jenes zu tun. Es mag dahingestellt bleiben, inwiefern dieses Szenario der Entgrenzung überzeugt. Ob etwa Gott tatsächlich in solchem Ausmaß an Bedeutung als Instanz des Gewissens und des Handelns verloren hat, steht dahin. Was aber am Widerspruch gegen die Tendenzen der Entgrenzung des Schuldbegriffes besticht, ist der Hinweis, dass sich diese Ausweitung des Schuldbegriffes von dem konkreten Mitmenschen entfernt, der mir Tag für Tag begegnet. Ihm gegenüber muss ich mich auf dem Forum meines Gewissens wie in der Lebenswelt selbst verantworten. Die Schuld, von der in dieser Untersuchung gesprochen wird, ist die Schuld, die Menschen durch bewusste, absichtliche und daher selbst zu verantwortende Handlungen auf sich laden. Beiseitegelassen wird der Fall, dass wir Menschen aus den verschiedensten Gründen (etwa Krankheit und Behinderung) nicht den Status eines moralisch autonomen Subjektes attestieren können, so dass es fraglich wird, inwiefern wir sie den Kriterien moralischer Verantwortlichkeit unterwerfen dürfen. Denn der fundamentale Zweifel an der Verantwortungsfähigkeit eines Menschen macht die Frage, ob man ihm verzeihen darf, obsolet. 9 Diese Rückbindung der Schuld an das eigene Gewissen und den Mitmenschen bringt es mit sich, dass sie von den Debatten über Determinismus und Willensfreiheit absehen kann. Denn solange sich Willi Oelmüller: Schwierigkeiten mit dem Schuldbegriff. Einige philosophische Überlegungen, in: Hans-Michael Baumgartner/Albin Eser (Hg.): Schuld und Verantwortung. Philosophische und juristische Beiträge zur Zurechenbarkeit menschlichen Handelns, Tübingen 1983, S. 9–30. 9 Siehe Achim Lohmar: Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit, Frankfurt/Main 2005, S. 44–47, 294–301, 314–332. 8
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Menschen als schuldig erfahren, solange Menschen voneinander die Einhaltung von Gesetzen, Normen und Regeln erwarten und die darauf gegründete Praxis der individuellen Schuldzuschreibung pflegen, können deterministische Thesen keinen Einfluss auf das moralische Selbstverhältnis der handelnden Personen nehmen. Und selbst wenn es ihnen gelänge, die Praxis der Schuldzuschreibung als Humbug zu entlarven, stünde ihnen noch das Problem im Weg, wie sie die wechselseitige Erwartungshaltung im Blick auf die Befolgung von Gesetzen und Regeln begründen können, auf die Menschen, willensfrei oder nicht, immer angewiesen sind, wo sie nicht als einzelne, sondern in Gemeinschaft leben. Diese Rückbindung der Schuld an das reale Leben zwischen handelnden Menschen führt dazu, dass wir Arendts und Derridas Anregung, das Verzeihen selbst zum Gegenstand philosophischer Überlegungen zu machen, als Anstoß begreifen, das Verzeihen in »der alltäglichen moralischen Praxis« aufzusuchen. 10 Der Kontext, in dem eine phänomenologische und begriffliche Klärung des Verzeihens stattzufinden hat, sind also all die Möglichkeiten des Handelns, mit denen Menschen auf die Möglichkeiten reagieren können, mittels derer sie einander Leid zufügen.
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Forschung und Konzeption
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Forschungsüberblick
Einen zuverlässigen Überblick über die gerade in den letzten Jahren sich immer weiter auffächernde Arendt-Forschung im Allgemeinen kann man sich auf dem Weg über die regelrechte Flut von Einführungsliteratur verschaffen, aus der die Bücher von Hauke Brunkhorst und Elisabeth Young-Bruehl herausragen. 11 Ergänzend sind erste Literaturberichte zur Welle neuer Veröffentlichungen anlässlich des Georg Lohmann: Verzeihen, in: Claus Dierksmeier (Hg.): Die Ausnahme denken. FS zum 60. Geburtstag v. Klaus-Michael Kodalle in zwei Bänden, Band 1, Würzburg 2003, S. 193–202, hier S. 194. 11 Siehe Hauke Brunkhorst: Hannah Arendt, München 1999, und Elisabeth YoungBruehl: Why Arendt Matters, New Haven/London 2006; vgl. Delbert Barley: Hannah Arendt. Einführung in ihr Werk, Freiburg/München 1990; Andreas Großmann: Hannah Arendts Politische Philosophie, Univ. Gesamthochschule Hagen 1998; Hans-Martin Schönherr-Mann: Hannah Arendt: Wahrheit. Macht, Moral, München 2006. 10
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100. Geburtstag Arendts im Oktober 2006 hinzuziehen. 12 Die Konzentration auf die politische Theoretikerin Arendt mit den Standardwerken von Seyla Benhabib, Margaret Canovan, Wolfgang Heuer, Maurizio Passerin d’Èntrèves und Dana R. Villa 13 wird langsam aufgebrochen, indem auch ihre historisch argumentierenden Werke als Teil ihrer politischen Philosophie begriffen werden, wie es Julia Schulze Wessel am Begriff des Antisemitismus auf überzeugende Weise vorgeführt hat. 14 Im Ganzen zeigt sich das Bild einer breit gefächerten und international vernetzten Forschung, die nicht erst durch die Publikationen zum 100. Geburtstag kaum noch zu übersehen ist. Gleichwohl finden sich weiterhin Lücken, von denen hier allein in Bezug auf Arendts Begriff des Verzeihens und ihre Handlungstheorie die Rede sein soll. Der entsprechende Forschungsstand spiegelt zu einem Großteil die mehrheitliche Ausrichtung der Forschung wieder, insofern er Arendts politische Philosophie, ihre Anthropologie und ihre Bestimmung der Möglichkeiten des Handelns in der modernen Gesellschaft betrifft. 15 Obwohl die Überlegungen zu ihrem Handlungsbegriff oft von anderen Interessen dominiert werden, bildet sich im Verbund mit einigen kleineren Abhandlungen und Monographien ein klares Gerüst ihrer Grundgedanken heraus. 12 Siehe Thomas Dürr: Hannah Arendt zum Hundertsten (II). Über das Böse, Adolf Eichmann und den Antisemitismus, in: Journal Phänomenologie 27/2007, S. 66–74; Andreas Großmann: Hannah Arendt zum Hundertsten. Tendenzen und Perspektiven neuerer Literatur, in: Journal Phänomenologie 26/2006, S. 75–83; Hans-Martin Schönherr-Mann: Wie sich Hannah Arendts anstößiges Denken langsam durchsetzt, in: PhR 54 (2007), S. 54–68. 13 Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, erw. Ausgabe Frankfurt/Main 2006 (dt. Erstausgabe Hamburg 1998, amer. Original 1996); Margaret Canovan: Hannah Arendt: A reinterpretation of her political thought, Cambridge 1992; Wolfgang Heuer: Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Berlin 1992; Maurizio Passerin d’Entrèves: The political philosophy of Hannah Arendt, London/New York 1994; Dana R. Villa: Arendt and Heidegger. The Fate of the Political, Princeton 1996. 14 Julia Schulze Wessel: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus, Frankfurt/Main 2006. 15 Siehe für diese Tendenz Benhabib: Arendt; Canovan: Arendt; Heuer: Citizen; Rahel Jaeggi: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts, Berlin 1997; Passerin d’Entrèves: Political philosophy; Manfred Reist: Die Praxis der Freiheit. Hannah Arendts Anthropologie des Politischen, Würzburg 1990; Schönherr-Mann: Arendt; Villa: Arendt.
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Arendt kennt vier Grundbedingungen menschlicher Existenz: das Leben und die Sorge des Am-Leben-Bleibens; die Weltlichkeit; die Pluralität 16 und die Natalität als die Tatsache des Geboren-Seins und als die Fähigkeit zu handeln zugleich. 17 In diesen Rahmen habe sie ein dreiteiliges Schema menschlicher Tätigkeitsweisen eingefügt und Letzteren getrennte Sphären ihrer Ausübung zugewiesen. Es ist eine verbreitete Meinung, dass ihre Beschreibung der modernen Gesellschaft gerade deren Wirklichkeit nicht erfassen könne, weil sie die Tätigkeiten des Arbeitens, Herstellens und Handelns, die Sphären des Öffentlichen und des Privaten oder des Gesellschaftlichen und des Politischen nicht in ihrer Bezogenheit aufeinander erklären könne. In Bezug auf ihren Handlungsbegriff führt ihre sogenannte dichotomische Theorieanlage dazu, dass man von einem nur politischen Handlungsbegriff Arendts spricht, weil sich das Handeln im Unterschied zum Arbeiten gerade nicht in der Abgeschiedenheit des Privaten, sondern allein in der politischen Gemeinschaft freier Bürger abspiele. 18 Aus dieser oft wiederholten und von Benhabib zu Recht als einseitig beurteilten »›Standardauffassung‹ von Arendt« 19 folgen zwei Aufgaben für eine Arbeit, die bei Arendts allgemeinen Begriff des Verzeihens ansetzen will, um von dort aus unter anderem beurteilen zu können, inwiefern sich ihre Forderung nach einem politischen Vermögen zu verzeihen umsetzen lässt. Zu klären ist die konkrete
Siehe neben der in den FN 11 und 13 in diesem Kapitel genannten Literatur den hervorragenden Aufsatz von Michael Bösch: Pluralität und Identität bei Hannah Arendt, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), S. 569–589. 17 Siehe neben der in den FN 11 und 13 in diesem Kapitel genannten Literatur Francoise Collin: Birth as Praxis, in: Joke J. Hermsen/Dana R. Villa (Hg.): The Judge and the Spectator. Hannah Arendt’s Political Philosophy, Leuven 1999, S. 97–110; Hans Saner: Die politische Bedeutung der Natalität bei Hannah Arendt, in: Daniel Ganzfried/Sebastian Hefti (Hg.): Hannah Arendt. Nach dem Totalitarismus, Hamburg 1997, S. 103–119. 18 Siehe etwa Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 38–39. 19 Benhabib: Arendt, S. II. Während die Beiträge eines Sonderbandes der Deutschen Zeitschrift für Philosophie aus Anlass des 100. Geburtstages von Arendt in Sachen dieser »Standardauffassung« ein uneinheitliches Bild abgeben, befinden sich die Beiträge in derselben Zeitschrift im Heft 4/2007 ganz auf der von Benhabib eingeforderten Linie, die »Vita activa, der Text, auf den sich diese Interpretation im Wesentlichen stützt, auf eine subtilere und nuanciertere Art« zu lesen; Benhabib: Arendt, S. II; vgl. HeinrichBöll-Stiftung (Hg.): Hannah Arendt. Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität?, Berlin 2007 (= DZPh, Sonderband 16); DZPh 55 (2007), Heft 4: Schwerpunkt: Die Philosophie von Hannah Arendt, hg. v. Hans-Peter Krüger. 16
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Einbindung dieses Vorhabens in die Handlungstheorie Arendts. Inwiefern kann es gerechtfertigt sein, auch von einem nicht-politischen oder einem privaten Handeln bei Arendt zu sprechen? Auf dem Prüfstand steht ferner die These von der dichotomischen Theorieanlage. Welchen methodischen, epistemologischen und analytischen Status haben die Begriffe Arendts? Was sollen sie leisten? Was wird mit ihnen beansprucht und was nicht? Die zweite Aufgabe betrifft den Umstand, dass die politikphilosophische Schlagseite der Forschung dafür gesorgt hat, dass für Arendts Handlungstheorie keine werkgeschichtlich und systematisch präzise argumentierenden Arbeiten vorliegen, wie sie Annette Vowinckel zum Geschichtsbegriff und Schulze Wessel zur Theorie des Antisemitismus bei Arendt vorgelegt haben. 20 So fehlen gründliche Untersuchungen über einige notwendige Elemente einer jeden Handlungstheorie, die Arendts Überlegungen zum Gegenstand philosophischer Forschung machen, noch bevor sie in den spezifischen Rahmen politisch-philosophischer Theorien eingefügt werden können. In gewisser Weise fehlt der erste Schritt vor dem zweiten. Bei einer Untersuchung des Verzeihens bei Arendt fallen vor allem zwei Forschungslücken ins Auge: Das erste Desiderat ist ihre Vorstellung von der handelnden Person, insofern diese die Person ist, die im Hier und Jetzt handelt, und nicht die Person, deren Lebensgeschichte erst erzählt werden kann, wenn ihr Leben an ein Ende gekommen ist, sie aufgehört hat zu handeln und der Erzähler nur deswegen das Ganze dieses Lebens übersehen und erzählen kann. Arendt selbst betrachtet die personale Identität vorwiegend unter dem Begriff des Wer-einer-ist, das sich in Gänze erst dem Erzähler erschließe. Aber ihre Aussagen zum Selbstverständnis der handelnden und nicht der erzählenden Person dürfen deswegen nicht in den Hintergrund geraten, denn sie sind es, die den Kern ihrer Handlungstheorie im Unterschied zu einer Erzähltheorie des Handelns ausmachen. Damit ist die Berechtigung der Unterscheidung zwischen einem agonalen und einem narrativen Handlungsmodell bei Arendt nicht angezweifelt, von denen jenes die Person des Handelnden enthülle und dieses im Prozess des Handelns selbst zeige, wer es ist, der da handelt. Während Arendt das Narrative des Handelns stärker an 20 Siehe Schulze Wessel: Ideologie, und Annette Vowinckel: Geschichtsbegriff und Historisches Denken bei Hannah Arendt, Köln u. a. 2001.
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den Erzähler post festum und nicht an den Handelnden selbst bindet, versucht Benhabib, die Erzählstruktur des Handelns auch dem Handelnden bezogen auf seine Identität zuzuschreiben. 21 Gar nicht thematisch sind aber in dieser Unterscheidung die Begriffe persönlicher Schuld und Verantwortlichkeit, womit im unmittelbaren Anschluss an das erste das zweite Desiderat, nämlich der genaue Zuschnitt der von Arendt unterlegten Begriffe von Verantwortlichkeit und persönlicher Schuld, benannt ist. Denn wenn wir erst aufgrund des persönlichen Handelns sagen können, wer einer ist, im Unterschied zu dem, was er ist, wie Arendt sagt, muss es auch Möglichkeiten geben, ihm seine Handlungen schon im Hier und Jetzt zuzuschreiben. Wie also können Menschen in Arendts Handlungstheorie als verantwortliche und damit schuldfähige Personen verstanden werden? Gibt es Verfügbarkeit von Lebensgeschichten und personale Kontinuität bei Arendt nur für den Erzähler oder auch – in welcher Form? – für den Handelnden selbst und seine Mitmenschen? Dass es an dieser doppelten Kontextualisierung von Arendts Handlungsbegriff fehlt, bestätigt sich auch, wenn man zu den wenigen Arbeiten übergeht, die sich mit ihrem Begriff des Verzeihens beschäftigen. Damit soll nicht behauptet werden, dass der große Rest der Arendt-Forschung diesen Begriff übergehe. Ganz im Gegenteil ist man sich sicher, dass damit ihr »vielleicht originellste[r] Beitrag« 22 zur praktischen Philosophie vorliegt. Ein wenig von dieser Ahnung spiegelt sich in den oft beiläufigen Erwähnungen in der engeren Arendt-Forschung23 und der Philosophie 24 wie auch in PolitikSiehe Benhabib: Arendt, S. 202–205. Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 42. 23 Siehe etwa Bethania Assy: Hannah Arendt – An Ethic of Personal Responsibility, Frankfurt/Main u. a. 2008, S. 151–154; Patricia Bowen-Moore: Arendt’s Philosophy of Natality, New York 1989, S. 60 f., 147–149; Martin Braun: Hannah Arendts transzendentaler Tätigkeitsbegriff. Systematische Rekonstruktion ihrer politischen Philosophie im Blick auf Jaspers und Heidegger, Frankfurt/Main u. a. 1994, S. 145; Brunkhorst: Arendt, S. 119 f., 127 f.; Canovan: Arendt, S. 138, 146, 153, 181, 191; Shiraz Dossa: The Public Realm & The Public Self. The Political Theory of Hannah Arendt, Waterloo 1989, S. 59–65; Hans Erler: Hannah Arendt, Hegel und Marx. Studien zu Fortschritt und Politik, Köln/Wien 1979, S. 29–35; Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 41–45; Phillip Hansen: Hannah Arendt. Politics, History and Citizenship, Cambridge 1993, S. 62–64; Julia Kristeva: Das weibliche Genie. I. Hannah Arendt, Berlin 2001, S. 359–372; Claudia Lenz: ›Storytelling‹ – Die Einschreibung in die Geschichte und die Einschaltung in die Welt, in: Heike Kahlert/dies. (Hg.): Die Neubestimmung des Politi21 22
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und Geschichtswissenschaft, 25 Theologie, 26 Rechtswissenschaft 27 und Psychologie/Psychotherapie. 28 Aber sie geben in ihrer Gesamtheit ein widersprüchliches Bild ab: Andrew Schaap meint, Arendt als Stütze für sein politisches Verzeihen nutzen zu können, während Ricœur der Meinung ist, dass mit schen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein/Ts. 2001, S. 203– 239, hier S. 226–230; Daniel and Birgit Maier-Katkin: Hannah Arendt and Martin Heidegger: Calumny and the Politics of Reconciliation, in: Human Rights Quarterly 28 (2006), S. 86–119, hier S. 116–118; James Martel: Amo: Volo ut sis. Love, willing and Arendt’s reluctant embrace of sovereignty, in: PSC 34 (2008), S. 287–313, hier S. 301– 303; Passerin d’Entrèves: Political Philosophy, S. 80–83, 89, 94 f.; Reist: Praxis, S. 163– 165; Christa Schnabl: Das Moralische im Politischen. Hannah Arendts Theorie des Handelns im Horizont der theologischen Ethik, Frankfurt/Main 1999, S. 253–256. 24 Siehe etwa Claudia Card: The Atrocity Paradigm. A Theory of Evil, Oxford u. a. 2002, S. 174–177, 180; Joram Graf Haber: Forgiveness, Savage 1991, S. 3, 102 f.; Trudy Govier: Forgiveness and Revenge, London/New York 2002, S. 42, 79 f., 112, 180, 184 f.; Charles L. Griswold: Forgiveness. A Philosophical Interpretation, Cambridge u. a. 2007, S. 100, 122, 127; Marguerite La Caze: The Asymmetry between Apology and Forgiveness, in: CPT 5 (2006), S. 447–468, hier S. 459; Lohmar: Moralische Verantwortlichkeit, S. 323; Christian Lotz: Versprechen – Verzeihen, Erinnern – Vergessen. Überlegungen zur Konstitution ethischer Subjektivität, in: Studia philosophica 60 (2001), S. 77–93, hier S. 81; Geoffrey Scarre: After Evil. Responding to Wrongdoing, Aldershot 2004, S. 6, 28, 174; Ernesto Verdeja: Derrida and the Impossibility of Forgiveness, in: CPT 3 (2004), S. 23–47, hier S. 38; Margaret Urban Walker: Moral Repair. Reconstructing Moral Relations after Wrongdoing, Cambridge u. a. 2006, hier S. 151 f., 169 f. 25 Siehe etwa Peter Digeser: Forgiveness and Politics. Dirty Hands and Imperfect Procedures, in: Political Theory 26 (1998), S. 700–724, hier S. 702; Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005, S. 488 f.; Michael Janover: The Limits of Forgiveness and the Ends of Politics, in: Journal of Intercultural Studies 26 (2005), S. 221–235, hier S. 222; Elizabeth Kiss: Moral Ambitions Within and Beyond Political Constraints. Reflections on Restorative Justice, in: Robert I. Rotberg/Dennis Thompson (Hg.): Truth vs. Justice. The Morality of Truth Commissions, Princeton/Oxford 2000, S. 68–98, hier S. 87; Axel T. Paul: Das Unmögliche richten – Schuld, Strafe und Moral in Ruanda, in: Leviathan 34 (2006), S. 30–60, hier S. 30; Andrew Schaap: Political Grounds für Forgiveness, in: CPT 2 (2003), S. 77–87, hier S. 77; ders.: The Proto-politics of Reconciliation: Lefort and the Aporia of Forgiveness in Arendt and Derrida, in: Australian Journal of Political Science 41 (2006), S. 615–630, hier S. 627; Donald W. Jr. Shriver: An Ethic for Enemies. Forgiveness in Politics, New York/Oxford 1995, hier S. 34 f., 39, 41; Vowinckel: Geschichtsbegriff, S. 150. 26 Siehe etwa Karin Scheiber: Vergebung. Eine systematisch-theologische Untersuchung, Tübingen 2006, S. 23, 55, 145; Michael Sievernich, SJ: Kultur der Vergebung. Zum päpstlichen Schuldbekenntnis, in: Geist und Leben 74 (2001), S. 444–459, hier S. 459; Jörg Splett: Vita Humana. Hannah Arendt zu den Bedingungen tätigen Menschseins, in: Theologie und Philosophie 67 (1992), S. 558–569, hier S. 563–564; Beate M. Weingardt: »… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«. Der Prozeß des Vergebens A
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ihr solch ein Begriff des Verzeihens nicht begründbar wäre. Derrida und Klaus-Michael Kodalle behaupten, dass Strafe und Verzeihen in ihrem Denken eine Alternative bildeten; man könne nur das verzeihen, was man auch bestrafen könne. Das aber liefere das Verzeihen gerade jener politischen Instrumentalisierung aus, die zur Verunreinigung des Verzeihens führe. Trudy Govier vereinnahmt Arendt für ein Verzeihen, das vor allem auf die Überwindung der tatgebundenen und negativen Gefühle bei Täter und Opfer abzielt. Michael Sievernich ließe sich diesem Gedanken insofern zuordnen, weil er meint, Arendts Verzeihen in den Dienst einer Vergangenheitsbewältigung nehmen zu können. Christian Lotz sieht Verzeihen und Versprechen bei Arendt als Handlungsvermögen, die die grundsätzliche Unsicherheit in allem Handeln in ihr Gegenteil verwandeln und den handelnden Menschen Souveränität verleihen könnten. Kurt Wenzel stellt die Frage nach dem Gegenstand des Verzeihens und verwahrt sich gegen die Interpretation, dass Arendts Verzeihen gleichbedeutend mit einem Rückgängigmachen sei. Reiner Wimmer springt ihm bei und erklärt, dass sich Arendts Verzeihen weder auf die Tat noch deren Folgen, sondern an den Täter richte, der in der Verzeihung so angesehen werde, als sei er nicht schuldig geworden. 29 in Theorie und Empirie, Stuttgart 2000, S. 59; Knut Wenzel: Erinnern – Versprechen – Vergeben. Zur jesuanischen Dimension personalen Selbstvollzugs, in: Johannes Frühwald-König/Ferdinand R. Prostmeier/Reinhold Zwick (Hg.): Steht nicht geschrieben? Studien zur Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte. FS für Georg Schuttermayr, Regensburg 2001, S. 625–651, hier S. 642–645; Reiner Wimmer: Bedingungslose Schuldvergebung?, in: ders.: Religionsphilosophische Studien in lebenspraktischer Absicht, Freiburg/Wien 2005, S. 103–122, hier S. 104 f.; Dieter Witschen: Amnestie – Wahrheitskommissionen – Strafrecht. Rechtsethische Überlegungen zum Umgang mit schweren Menschenrechtsverletzungen, in: Theologie und Philosophie 73 (1998), S. 507–523, hier S. 522 f.; ders.: Unter welchen Bedingungen ist ein Verzeihen supererogatorisch?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 128 (2006), S. 103–125, hier S. 112 f. 27 Siehe etwa Klaus Günther: Der strafrechtliche Schuldbegriff als Gegenstand einer Politik der Erinnerung in der Demokratie, in: Gary Smith/Avishai Margalit (Hg.): Amnestie oder Die Politik der Erinnerung, Frankfurt/Main 1997, S. 49–89, hier S. 86. 28 Siehe etwa Julia Kristeva: Forgiveness: An Interview, in: PMLA 117 (2002), S. 278– 295, hier S. 281, 285. 29 Siehe in der obigen Reihenfolge Schaap: Political Grounds, S. 77; GGV, 751; JV, 12,2; Klaus-Michael Kodalle: Verzeihung des Unverzeihlichen? Mut zur Paradoxie bei Ricœur, Derrida und Løgstrup, in: Thomas Buchheim/Rolf Schönberger/Walter Schweidler (Hg.): Die Normativität des Wirklichen. Über die Grenze zwischen Sein und Sollen. Robert Spaemann zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2002, S. 415–438, hier S. 429; Govier: Forgiveness and Revenge, S. 42 f.; Wenzel: Erinnern, S. 645; Wimmer: Schuldvergebung, S. 104, FN 10; Sievernich: Kultur, S. 459; Lotz: Versprechen, S. 81.
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In diese Sammlung von Thesen und Meinungen aus verschiedenen Disziplinen und von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen bestimmt, die Arendts Verzeihen meist am Rande anders gelagerter Absichten in den Blick nehmen, kann man mit den Ergebnissen jener wenigen Arbeiten Struktur bringen, die sich eigens mit ihrem Begriff des Verzeihens beschäftigen. Dass die beiden frühen Arbeiten von Annette C. Baier und Melissa Orlie eher einen affirmativen Eindruck vermitteln, scheint der Grund zu sein, weshalb sie in den Abhandlungen keine Berücksichtigung finden, die mit der kritischen Untersuchung von Arendts Verzeihen eigentlich begonnen haben. 30 Leif Pullich orientiert sich an ihrem leitenden Interesse der politischen Relevanz des Verzeihens und weist daraufhin, dass für ihre Überführung des Verzeihens aus der religiösen in die politische Sphäre entscheidend ist, dass sie das Verzeihen als eine intersubjektive Erfahrung bestimme, die man nicht mit sich selbst machen könne. 31 Daraus folgt die klare Abgrenzung zu den Theorien, die das Verzeihen vor allem als Überwindung der tatgebundenen schlechten Gefühle in der zusätzlichen Engführung auf das Opfer verstehen und die vor allem ein Kennzeichen der englischsprachigen Forschung sind. 32 Die Schwierigkeiten von Pullichs Interpretation beginnen nicht dort, wo er aus Arendts intersubjektivem Begriff des Verzeihens folgert, dass es ihr um die Heilung der Welt und nicht der Seele gehe 30 Annette C. Baier: Ethics in Many Different Voices, in: Jerome Kohn/Larry May (Hg.): Hannah Arendt: Twenty Years Later, Cambridge/Mass. 1996, S. 325–346; Melissa Orlie: Forgiving Trespasses, Promising Futures, in: Bonnie Honig (Hg.): Feminist Interpretations of Hannah Arendt, University Park/Pennsylvania 1995, S. 337–356. 31 Leif Pullich: Hannah Arendt über das Verzeihen, in: Journal Phänomenologie 11 (1999), S. 4–12, hier S. 4–7. 32 Dieser Forschungszweig geht zurück auf Joseph Butler: The Works of Bishop Butler, ed. by J. H. Bernard, 2 vols, London 1990, darin wieder abgedruckt: ders.: Fifteen Sermons Preached at Rolls Chapel, London 1726. Robert S. Downie hat diese Überlegungen 1965 aufgenommen und damit das bestimmende Element der englischsprachigen Debatte gesetzt; siehe ders.: Forgiveness, in: The Philosophical Quarterly 15 (1965), S. 128–134; vgl. Chesire Calhoun: Changing One’s Heart, in: Ethics 103 (1992), S. 76– 96; Trudy Govier: Forgiveness and the Unforgivable, in: APQ 36 (1999), S. 59–75; Margaret Holmgren: Forgiveness and the Intrinsic Value of Persons, in: APQ 30 (1993), S. 341–352; Martin Hughes: Forgiveness, in: Analysis 35 (1975), S. 113–117; Jeffrie G. Murphy/Jean Hampton: Forgiveness and Mercy, Cambridge 1988. Siehe als gelungene Einschätzung dieses Forschungszweiges Paul A. Newberry: Joseph Butler on Forgiveness: A Presupposed Theory of Emotion, in: Journal of the History of Ideas 62 (2001), S. 233–244.
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und sie folglich »nicht die Schuld, sondern die schuldige Person« ins Zentrum des Verzeihens stelle, sondern dort, wo dieser Schuldige mit Arendt als Schuldiger an den alltäglichen Verfehlungen verstanden wird, während Verzeihung für die absichtlichen und bösen Taten nicht infrage komme. Wenn dennoch – auch hier mit Arendt – »die Feststellung von Schuld« eine Voraussetzung des Verzeihens sein soll und zudem das alternative Verhältnis von Strafe und Verzeihung behauptet wird, fragt sich, von welcher Schuld und von welchen Verfehlungen die Rede ist. 33 Pullich schlägt daher eine Zweiteilung von Arendts Verzeihensbegriff vor: Zum einen nimmt er ein Verzeihen an, das sich auf die alltäglichen Verfehlungen beziehe und das gesuchte Prinzip politischen Handelns sein könne. Zum anderen werde so kein Verzeihensbegriff ausgeschlossen, der sich auf »wissentlich und willentlich getanes Böses« beziehen könne, deswegen aber noch nicht zum Prinzip politischen Handelns tauge. 34 Dass das Verzeihen dessen, was wir absichtlich anderen zufügen, ausdrücklich als Möglichkeit ausgeschlossen wird, ein politisches Prinzip des Handelns zu begründen, sondern ein nicht-politisches, bleibt ohne Begründung und wirft die Frage auf, weshalb im Politischen das Böse nicht verziehen werden kann (oder darf). Wie gehen wir in diesem Fall mit den absichtlichen Untaten im Politischen um? Denkbar wären die Strafe, auf die die Begnadigung folgen könnte, oder die Amnestie. Diese Optionen stehen Pullich aber nicht zur Verfügung, weil die Strafe bei ihm das Korrelat desjenigen politischen Verzeihens bleibt, das sich auf die unabsichtlichen Verfehlungen bezieht. Das aber trägt wieder die Schwierigkeit in den Gedanken hinein, dass das, was verziehen werden soll, auch bestraft werden können muss, auch wenn es sich um etwas unwissentlich und unwillentlich Getanes handeln muss. Welche Taten aber erfüllen diese Kriterien? Ich sehe keine Taten, die unwissentlich und unwillentlich (womit auch fahrlässige Taten ausscheiden) und strafbar (also zurechenbar und verantwortlich) sind. So lässt sich der Widerspruch zwischen den Verfehlungen und der Strafe im Begriff des Verzeihens bei Arendt nicht lösen. 35 Pullich: Arendt, Zitate S. 7 und 9. Ebd., S. 8. 35 Dass Pullich die geringe Institutionalisierbarkeit des Verzeihens problematisiert und dafür Amnestie und Begnadigung erwägt, aber verwirft, weil hier nicht das Opfer, son33 34
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Weshalb Pullich dennoch an einem politischen Begriff des Verzeihens bei Arendt festhält, wird zusätzlich durch die Ausnahmestellung des Verzeihens in Bezug auf die Grundbedingung der Pluralität verdunkelt, die er ihm zuspricht. Während sich nämlich das Handeln immer an die Vielen richte, orientiere sich das Verzeihen an dem konkreten Gegenüber und lasse sich daher sogar als antipolitische Gabe des einen an den anderen Menschen verstehen. Wenn das Verzeihen trotzdem »politisches Prinzip« bleiben soll, 36 reicht der Hinweis auf seine Ambivalenz im Politischen, weil es so die Zweisamkeit und nicht die Pluralität des Lebens unter vielen Menschen betreffe, nicht aus. Erläutert werden müsste, wie das dem Politischen widerstrebende Verzeihen aus der unmittelbaren Zweisamkeit von Täter und Opfer heraus gleichwohl Bedeutung für die Regelung der allgemeinen Angelegenheiten, also für die Politik, haben könnte. Wie Pullichs Überlegungen sind auch die von Ludger Hagedorn an der Begründbarkeit eines politischen Verzeihens orientiert. Sein Interesse weckt der zu Recht als Marginalisierung bezeichnete Umstand, dass es gerade der dramaturgische Höhepunkt der Vita activa sei, nämlich die Vermögen zu versprechen und zu verzeihen, der in der Debatte um die politische Theorie Arendts weitgehend vernachlässigt werde. Den Grund für diese Forschungslücke sieht Hagedorn, dessen Arbeit zusammen mit der von Pullich die Ausnahme von jener Marginalisierung bildet, weniger in einem Desinteresse, sondern in der Sache beziehungsweise in der Quelle selbst. Denn Verzeihen und Versprechen sind zunächst moralische Kategorien, deren Übertragung in den Bereich des Politischen Arendt zwar fordere (vgl. VA, 303), aber dann eher zur Verwirrung der Anwendungsbereiche beitrage, weil sie sich in der Erläuterung beider Vermögen moralischer und religiöser Argumente und Beispiele bediene. Hagedorn selbst aber folgt seiner Einsicht in den fundamentalen Unterschied zwischen Arendts Postulat eines politischen Verzeihens und ihrer Durchführung eines moralischen Verzeihens nicht, sondern verbleibt in den bekannten Bahnen. Er diskutiert, weshalb Amnestie, Rehabilitation und Wiedergutmachung nicht als politische Institutionalisierungen des Verzeihens infrage kommen, und argumentiert damit, dass Verzeihen und Versprechen eminent politisch sind, weil sie erst dern der Staat tätig werde, leidet an derselben Schieflage wie sein politisches Verzeihen; siehe ders.: Arendt, S. 9 f. 36 Pullich: Arendt, S. 10. A
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denjenigen Raum eröffnen, in dem Menschen gemeinsam politisch handeln können. 37 Glen Pettigrove hingegen hält sich mit jenem fundamentalen Unterschied nicht auf, sondern geht in seinen Überlegungen zu einem kollektiven Verzeihen gerade davon aus, dass Arendt einen Begriff eines zwischenmenschlichen Verzeihens vorgelegt habe und man diesen auf die Beziehungen zwischen Kollektiven anwenden könne. Er beschränkt das politische Verzeihen auf eines zwischen Kollektiven, die an die Stelle von Individuen treten, und hält die Frage nach der politischen Institutionalisierbarkeit des Verzeihens, die Pullich und Hagedorn umtreibt, für unproduktiv. Für die Klärung des Begriffes eines zwischenmenschlichen Verzeihens, von dem Pettigrove bei Arendt ausgeht und das Hagedorn trotz seines vorhandenen Problembewusstseins vernachlässigt, gilt es einen wegweisenden Hinweis Pettigroves aufzunehmen, der ihn von Pullich und Hagedorn abhebt. Während Hagedorn dem zeitlichen Bezug von Verzeihen und Versprechen folgt, wie es Arendt mit Unabsehbarkeit (zum Versprechen) und Unwiderruflichkeit (zum Verzeihen) festgelegt zu haben scheint, und das Verzeihen auch als zeitliche Voraussetzung des Versprechens bestimmt, stützt Pettigrove diese zeitliche Unterscheidung nicht, weil das Verzeihen einen Raum für zukünftige Begegnungen zwischen Menschen eröffne. Inwiefern dieser Zukunftsbezug des Verzeihens bei Arendt angelegt ist und ob ihr dieser entgangen sein könnte, muss daher Gegenstand weiterer Überlegungen sein. 38 Gegenüber dem von Hagedorn, Pullich und Pettigrove erreichten Niveau erscheinen die Behauptungen Young-Bruehls wie ein Rückschritt, dass Arendt die Beziehung des Verzeihens zur Politik geklärt habe und sich die Bedeutung ihrer Überlegungen anhand der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission (TRC) belegen lasse. Mit der zusätzlichen Bürde belastet, dass es den großen Ludger Hagedorn: Verzeihen und Versprechen als ›Mächte‹ politischen Handelns? Ansätze bei Hannah Arendt, in: Giovanni Leghissa/Michael Staudigl (Hg.): Lebenswelt und Politik. Perspektiven der Phänomenologie nach Husserl, Würzburg 2007, S. 275– 292, bes. S. 280, 285–291. 38 Glen Pettigrove: Hannah Arendt and Collective Forgiving, in: Journal of Social Philosophy 37 (2006), S. 483–500, hier bes. S. 485; vgl. Hagedorn: Verzeihen, S. 276; siehe auch George Kateb: Existential Values in Arendt’s Treatment of Evil and Morality, in: Social Research 74 (2007), S. 811–854, hier S. 851, der wie Pettigrove einen zwischenmenschlichen Begriff des Verzeihens bei Arendt annimmt. 37
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Einfluss von Arendts Verzeihensbegriff in der Politik belegen soll, scheitert dieses Unternehmen daran, dass es sich nicht an eine Interpretation von Arendts Schriften macht, sondern seine Ergebnisse aus den Büchern der Kommissionsmitglieder Desmond Tutu und Pumla Gobodo-Madikizela gewinnt und für jenen arendtschen Einfluss keine Beleg beizubringen weiß. 39 Trotzdem macht Young-Bruehl auf zwei Dinge aufmerksam, auf deren Erörterung eine Untersuchung des Verzeihens bei Arendt nicht verzichten kann. Der erste Punkt ist die von Pullich, Hagedorn und Pettigrove übersehene Verknüpfung von Reue und Verzeihung, die im Haupttext der Vita activa einer bloßen Behauptung ähnelt, aber in den mit einer einzigen Ausnahme nicht berücksichtigten Anmerkungen in Bezug auf die Jesus-Geschichten im Neuen Testament erläutert wird. 40 Ist Arendts Lektüre des Neuen Testaments für ihren Begriff des Verzeihens ein maßgeblicher und bisher vernachlässigter Untersuchungsgegenstand, 41 so unterstreicht dieser erste Punkt die Bedeutung der an Pullich gestellten Frage, wie der Widerspruch zwischen den unabsichtlichen Verfehlungen als Gegenstand der Verzeihung und dessen alternativen Verhältnis zur Strafe gelöst werden kann, weil er wegen des Quellenbefundes auch erklären können muss, wie Reue und Verfehlungen im Unterschied zu absichtlichen Taten vereinbar sein könnten. 42 In der Verknüpfung von Verzeihung und Reue ist auch der Ort gefunden, von dem aus Ricœurs Aneignung von Arendts Begriff des 39 Siehe Young-Bruehl: Why, S. 110–122; vgl. Desmond Tutu: Keine Zukunft ohne Versöhnung, Düsseldorf 2001 (engl. Original 1999); Pumla Gobodo-Madikizela: Das Erbe der Apartheid – Trauma, Erinnerung, Versöhnung, Opladen & Farmington Hills 2006 (engl. Original 2003). Die TRC, deren Bericht Young-Bruehl nicht konsultiert, taugt für keines ihrer Beweisziele, insbesondere kannte die TRC exakt den Zusammenhang zwischen Reue und Verzeihung nicht, der bei ihr Arendts Einfluss belegen soll. Mit ihren Behauptungen, was die TRC geleistet habe, sitzt sie den irreführenden Thesen Tutus auf, dessen politisch motiviertes Fazit zur TRC durch den Kommissionsbericht zurechtgerückt wird; siehe Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report. 7 Bände, hg. von Susan de Villiers, Cape Town 1998–2003. 40 Diese Ausnahme sind die zusammenfassenden Ausführungen von Schnabl: Das Moralische, S. 255. 41 Über die Tatsache hinaus, dass die Verknüpfung von Verzeihung mit Reue als Bedingung des Verzeihens von Jesus stammt, wie Young-Bruehl uns mitteilt, verspricht eine genauere Interpretation von Arendts Bibel-Exegese Aufschluss über den spezifischen Charakter ihres Verzeihensbegriffes. Siehe zu Arendts Lesart des Neuen Testaments Kapitel 3.b. 42 Vgl. Young-Bruehl: Why, S. 98–104.
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Verzeihens einbezogen werden kann. Denn er schließt sich zwar ihrer von ihm sogenannten dialektischen Verknüpfung von Verzeihen und Versprechen an, die er im wörtlichen Anschluss an ihre Gedanken als Wiederaufnahme der uralten Symbolik von Binden und Entbinden (vgl. GGV, 745; VA, 306) beschreibt. Aber er sieht zwei Schwächen: Zum einen geselle sich zur zeitlichen Symmetrie die Diskordanz bezüglich der Operationsebenen beider Handlungsvermögen, die Arendt übersehe, wenn sie das Verzeihen als ein politisches Vermögen beschreibe. Gleichwohl habe sie selbst eine Ahnung von der Unmöglichkeit eines politischen Verzeihens, habe diese aber deswegen nicht präzisieren können, weil es bei ihr an dem rechten Verständnis des konkreten Aktes des Verzeihens fehle. Sie habe im Verzeihen die Handlung von ihren Folgen entbunden, während die wahre Entbindung den Handelnden von seiner Handlung entbinden müsse (siehe GGV, 753). Und genau diese Entbindung sei durch »die Koppelung von Vergebung und Reue« (GGV, 755) möglich. Wie passt das zu Young-Bruehls Interpretation, die ja gerade die Reue als Bedingung der Verzeihung bei Arendt versteht? Zweierlei steht wegen Ricœurs Kritik auf dem Prüfstand: Welches ist bei Arendt der Gegenstand des Verzeihens? Sind es die Taten und deren Folgen oder die handelnden Personen, wie Young-Bruehl, Wimmer und andere meinen? Und welche Rolle nimmt die Reue bei Arendt zwischen Ricœurs These der Unverstandenheit der Reue und Young-Bruehls Überzeugung von der Reue als Bedingung des Verzeihens ein? Der zweite Punkt, der mit Young-Bruehl Prüfstein jeder Interpretation von Arendts Verzeihensbegriff ist, ist die Grenze des Verzeihens. Damit ist Arendts Unterscheidung zwischen den verzeihlichen Verfehlungen und den unverzeihlichen Verbrechen angesprochen. Arendt habe die Behauptung ohne weitere Erläuterungen stehenlassen, dass die Täter der Verfehlungen verzeihlich und bestrafbar seien, während die Täter schwerer Verbrechen weder verzeihlich noch bestrafbar seien. Hingegen sei die Lehre aus der TRC, dass das Verzeihen auch in der Lage sei, mit den Tätern des radikal Bösen umzugehen, und dass Arendt die Kraft zu verzeihen unterschätzt habe. Jener schon bei Pullich aufgefallene Widerspruch in der Bestimmung des Verzeihungsgegenstandes bleibt gleichwohl ungelöst. 43 Siehe ebd., S. 121; vgl. dieselbe Kritik an Arendts Ermäßigung des Verzeihens bei Magdalene L. Frettlöh: »Der Mensch heißt Mensch, weil er … vergibt«? Philosophischpolitische und anthropologische Vergebungs-Diskurse im Licht der fünften Vaterunser-
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In Bezug auf Arendts Begriff des Verzeihens stehen wir also vor einer Reihe von zentralen und offenen Fragen. Das betrifft die Einzeichnung des Verzeihens in ihre Handlungstheorie und in den Rahmen ihrer generellen Verwendungsweise von Begriffen. Das setzt sich fort in der Debatte um den politischen oder nicht-politischen Charakter des Verzeihens. Ist das Verzeihen eine zwischen zwei Personen beheimatete Handlungsoption oder gibt es ein politisches und kollektives Verzeihen? Es betrifft überdies die entscheidende Frage nach dem Gegenstand des Verzeihens in zweifacher Hinsicht. Die erste Uneinigkeit der Forschung zeigt sich in der Diskussion über die Grenze des Verzeihens: Sind die Verfehlungen und das unwissentlich und unwillentlich Getane allein verzeihlich? Oder sind es ganz im Gegenteil nur die wirklichen Verbrechen und das wahrhaft Böse, die überhaupt der Verzeihung zwischen Menschen bedürfen? Die zweite Uneinigkeit zeigt sich in der Diskussion über den oder das, an den oder das sich die Verzeihung richtet: Zielt die Verzeihung auf den Täter? Oder richtet sie sich an seine Schuldgefühle? Oder bearbeitet sie die Unrechtstat? Neben diese grundlegenden Unklarheiten, die über die ArendtForschung hinaus die allgemeine und interdisziplinäre Debatte um das Verzeihen bestimmen, treten weitere Fragen, von deren Beantwortung einige Hinweise für die Klärung der oben genannten Schwierigkeiten und Streitigkeiten zu erwarten sind. In welcher Weise etwa gibt Arendts Orientierung am Neuen Testament und den Lehren Jesu wesentliche Eckpunkte für ihren Begriff des Verzeihens vor? Wie lässt sich der Gedanke einer Pflicht zu verzeihen mit der Gegenstandsbestimmung des Verzeihens in Einklang bringen? Nicht zu vergessen sind die von Pettigrove angestoßenen Überlegungen, inwiefern sich die strikte Zuordnung von Versprechen und Verzeihen entlang der Zeitachse, wie Arendt sie angeblich vornimmt, aufzubrechen ist, und Young-Bruehls Hinweis auf Arendts Verknüpfung von Verzeihung und Reue, die die Frage aufwirft, an welche Bedingungen Arendt das Verzeihungsgeschehen überhaupt knüpft.
bitte, in: Jürgen Ebach u. a. (Hg.): »Wie? Auch wir vergeben unseren Schuldigern?« Mit Schuld leben, Gütersloh 2004, S. 179–215, hier S. 195. A
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Fragestellung, Aufbau und Quellen
In der Absicht, zu der Beantwortung dieser offenen Fragen einen Beitrag zu leisten, gliedere ich meine Untersuchung in vier Teile. Auf die einleitenden Überlegungen folgt Teil II, der sich mit Arendts Handlungstheorie befasst und in Kapitel 2 mittels der Grundbegriffe ihrer Handlungstheorie die angesprochene Kontextualisierung des Verzeihens in den doppelten Rahmen ihrer Handlungstheorie und ihrer allgemeinen Verwendungsweise von Begriffen in Angriff nimmt. Dies soll eine präzise Einordnung von Arendts Handlungsbegriff ermöglichen im Blick auf die Berechtigung, diesen nicht allein auf den Anwendungsbereich der politischen Philosophie zu beschränken. So lassen sich ihre Begriffe von Personalität, Verantwortung und Schuld noch vor ihrer Übertragung in den Bereich des Politischen zum Untersuchungsgegenstand machen und in die Architektonik ihrer Handlungstheorie einfügen. Anders als Hagedorn, Pettigrove und Pullich es tun, ist zunächst danach zu fragen, wie sich das moralische Verzeihen in ihrer Handlungstheorie als Teil eines spezifischen Begriffsgefüges und Argumentationsgefälles noch vor seiner Politisierung zeigt. Andernfalls verschenkte man Hagedorns Einsicht, dass in der Vita activa das bloße Postulat eines politischen Verzeihens von der tatsächlichen Entwicklung eines moralischen Verzeihens zu unterscheiden ist. Kapitel 3 rekonstruiert daher Versprechen und Verzeihen als die zentralen Schluss-Steine dieser Handlungstheorie noch vor ihrer Politisierung und im Ausgang von Arendts maßgeblichem Bezug auf die Lehren Jesu. Das ist der Ort für eine, wenn man so will, kleine Phänomenologie des Verzeihens nach Arendt, mittels derer sich die Fragen nach der Entdeckungsgeschichte des Verzeihens bei Jesus, nach der Grenze und dem genauen Gegenstand des Verzeihens, nach seinen Bedingungen und seinem, ihm von Arendt gesetzten Sinn und Zweck beantworten lassen. Weil sich Arendts Überlegungen zum Verzeihen in ihrer ausführlichen Interpretation mittels einer – unten erläuterten – Erweiterung des Quellenkorpus mehr als eine Skizze denn als eine Theorie des Verzeihens erweisen werden, schließt sich in Teil III das Vorhaben an, Arendts Skizze vor allem mit den Überlegungen von Derrida, 44 Siehe neben JV Jacques Derrida: On Cosmopolitanism and Forgiveness, London/New York 2001 [= CF]; ders: On Forgiveness. A Roundtable Discussion with Jacques Derrida.
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Kodalle, 45 Ricœur 46 und Robert Spaemann 47 ins Gespräch zu bringen und in der wechselseitigen Erhellung ihrer Gedanken zum einen die Lücken oder verbleibenden Unklarheiten in Arendts Überlegungen schließen zu können und zum anderen zu zeigen, dass ihr vollständig entwickelter Begriff des Verzeihens mehr als nur ein Stichwortgeber
Moderated by Richard Kearney, in: John D. Caputo/Mark Dooley/Michael J. Scanlon (Hg.): Questioning God, Bloomington 20001, S. 52–72 [= OF]; ders.: To Forgive. The Unforgivable and the Imprescriptible, in: Caputo/Dooley/Scanlon (Hg.): Questioning God, S. 21–51 [= TF]. 45 Siehe die Summe von Kodalles Überlegungen in ders.: Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse/ Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, Jahrgang 2006, Nr. 8, Mainz und Stuttgart 2006 [= AT]. Dieses Buch nimmt wesentliche Gedanken aus den folgenden Titeln auf: ders: Verzeihung nach Wendezeiten? Über Unnachsichtigkeit und mißlingende Selbstentschuldung, Erlangen/Jena 1994; ders.: Die Dimension des Unermeßlichen. Aufhebung der vermessenen Moralität, in: Christoph Hubig (Hg.): Cognitio humana – Dynamik des Wissens und der Werte. XVII. Deutscher Kongreß für Philosophie Leipzig. Vorträge und Kolloquien, Berlin 1997, S. 106–130; ders.: Diesseits der Logik des Moralismus: Vom »Geist« der Verzeihung bei Kierkegaard, Nietzsche-Scheler, Dostojewski und Camus, in: Niels Jørgen Cappelørn/Jon Stewart (Hg.): Kierkegaard Revisited. Proceedings from the Conceference »Kierkegaard and the Meaning of It«. Copenhagen, May 5–9, 1996, Berlin/New York 1997, S. 387–409; ders.: Überforderung? Zum Schuldverständnis bei Jaspers und Schweitzer, in: Hans M. Baumgartner u. a. (Hg.): Mythos und Glaube. FS für Giorgio Penzo, Brescia 1998, S. 83–101; ders.: Der »Geist der Verzeihung«. Zu den Voraussetzungen von Moralität und Recht, in: Joachim Mehlhausen (Hg.): Recht – Macht – Gerechtigkeit, Gütersloh 1998, S. 606–624; ders.: Vom ›Geist der Verzeihung‹. Systematische Überlegungen zum metaphysischen »Hintergrund« der Moralität, in: Klaus Bajohr-Mau u. a. (Hg.): Vom Zentrum des Glaubens in die Weite der Theologie und Wissenschaft. FS für Dietrich Braun zum 70. Geburtstag 1998, Rheinfelden 1998, S. 289–296; ders.: Verzeihung des Unverzeihlichen; ders.: Gabe und Vergebung. Kierkegaards Theorie des verzeihenden Blicks, in: ders./Anne M. Steinmeier (Hg.): Subjektiver Geist. Reflexion und Erfahrung im Glauben. FS zum 65. Geburtstag v. Traugott Koch, Würzburg 2002, S. 71–86; ders.: Schuld in der Geschichte. Der Kampf gegen das Vergessen und die Grenzen des Erinnerns, in: Wolfram Hogrebe (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen, Berlin 2004, S. 619–625; ders.: Vergeben und Verzeihen – Über die Bedeutung dieser Kategorien für das politische Ethos, Manuskript zur Sendung »Aula« des Südwestrundfunks vom 11. April 2004 im SWR 2 um 8.30 Uhr, http://db.swr.de/upload/manuskriptdienst/aula/au20040407_2488.rtf (zuletzt eingesehen am 19. Juli 2009); ders.: Reinach-von Hildebrand-Plessner: Bausteine zu einer philosphischen Theorie der Verzeihung, in: Ulrich Diehl/Gabriele von Sievers (Hg.): Wege zur Politischen Philosophie. FS für Martin Sattler, Würzburg 2005, S. 65– 77; ders.: Lévinas Beitrag zu einer philosophischen Theorie der Verzeihung, in: Michael Biehl/Amélé Adamavi-Aho Ekué (Hg.): Gottesgabe. Vom Geben und Nehmen im Kontext gelebter Religion. FS zum 65. Geburtstag von Theodor Ahrens, Frankfurt/Main 2005, S. 232–346. A
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in der philosophischen und interdisziplinären Debatte um das Verzeihen sein kann. In diesem Teil III gilt diesen vier Autoren aus den folgenden Gründen vermehrte Aufmerksamkeit. Erstens sind sie als gewichtige Stimmen in der Theorie des Verzeihens ohne jede Einschränkung zu berücksichtigen. Zweitens macht sie diese sachliche Bedeutung auch zu den geeigneten Kandidaten, in der Auseinandersetzung mit ihnen einen kontrollierten analytischen und philosophisch ausgerichteten Zugriff auf die interdisziplinäre Vielfalt und schiere Menge der Forschungen zu einem Thema zu ermöglichen, das mehr als andere der interdisziplinären Erörterung bedarf. Denn das Verzeihen ist ganz sicher nicht mehr »a rather unfashionable subject in moral philosophy at present«, wie es Peter F. Strawson vor mehr als vierzig Jahren noch zu Recht feststellte. 48 Drittens entwickeln sie ihre Gedanken im kritischen oder zustimmenden Blick auch auf Arendt, so dass ihre Ausführungen mehr als andere der Profilierung arendtscher Ideen dienlich sind. Zugleich soll in Teil III die disziplinäre, kontinentale, sprachliche und bisweilen nationale Beschränkung der Untersuchungen des Verzeihens unterlaufen werden – nicht nur, weil ein grenzüberschreitendes Gespräch grundsätzliche Bedeutung besitzt, sondern auch, weil es die genannten Bezüge auf Arendts Begriff des Verzeihens aus den verschiedensten Wissenschaften notwendig machen, auch zu diesen Gedanken und Vereinnahmungsversuchen49 auf dem Boden einer gründlichen Begriffsanalyse Stellung zu nehmen. DerriSiehe neben GGV Paul Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998 [= RV]. 47 Siehe Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 4 1998 (1 1989) [= GW]; ders.: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 2 1998 (1 1996) [= P]; ders. im Gespräch mit Holger Zaborowski: Ein Tier, das versprechen und verzeihen darf …, in: Internationale Katholische Zeitschrift »Communio« 36 (2007), S. 336–345. 48 Peter F. Strawson: Freedom and Resentment, in: ders.: Freedom and Resentment and other essays, London 1974, S. 1–25, hier S. 6 (erstmals 1962). 49 Neben dem genannten Vereinnahmungsversuch von Govier, der Arendts Verzeihen zur Überwindung tatgebundener negativer Gefühle macht, ist vor allem an den von Julia Kristeva zu denken, der Arendts Verzeihen als heilendes Instrument in der psychoanalytischen Praxis ausgibt und den Sigrid Weigel auf überzeugende Weise und als in jeder Hinsicht verfehltes Unternehmen kritisiert hat; siehe Kristeva: Forgiveness; Sigrid Weigel: Secularization and Scacralization, Normalization and Rupture: Kristeva and Arendt on Forgiveness, in: PMLA 117 (2002), S. 320–323. 46
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da beschränkt sich auf die französischen Beiträge, Ricœur ergänzt diese punktuell um deutsche. Kodalle wiederum teilt mit ihnen die Vernachlässigung der angelsächsischen Debatte, die ihrerseits die weitaus ältere und früh schon interdisziplinäre ist. Spaemann scheint weder das französische noch das angelsächsische Schrifttum zu berücksichtigen. Und die Ideen Ricœurs finden im Unterschied zu denen Derridas bei den Angelsachsen kaum Berücksichtigung. Dieselbe Tendenz haben auch die meisten theologischen Beiträge. Diesen Beispielen ließen sich weitere hinzufügen. 50 Dass diesem Manko nicht mit einer einzelnen Arbeit abzuhelfen ist, versteht sich von selbst. Daher beanspruche ich lediglich, ein Gespür dafür vermitteln zu wollen, wie sehr die philosophische Theorie des Verzeihens von einer – hier durch das Interesse an Arendts Verzeihensbegriff kontrollierten – Erweiterung des analytischen Blickes profitieren kann. 51 Um in dieses Vorhaben Struktur zu bringen, leite ich Teil III mit zwei begrifflichen Zwischenbemerkungen ein. Zum einen erwäge ich die allzu oft allzu streng gehandhabte Unterscheidung zwischen Täter und Opfer und möchte so betonen, dass das Verzeihen auch auf die Mehrheit der Fälle anwendbar sein muss, in denen wir nicht eindeutig den Täter vom Opfer trennen können. Dabei folge ich Arendts Hinweis, dass das Verzeihen als intersubjektives Geschehen zu entfalten ist und nicht als intrasubjektives Geschehen. Diese Präzisierung im Sprechen und Nachdenken über das Verzeihen dient seiner Abgrenzung von seinen verbreiteten Verwechslungen wie der Entschuldigung oder der Nachsicht. Dies hat zur Folge, dass in diesen Abschnit50 Govier: Forgiveness and Revenge, Griswold: Forgiveness, Scarre: After Evil, Walker: Moral Repair, und als Extrembeispiel Kathryn Norlock: Forgiveness from a Feminist Perspective, Lanham u. a. 2009, etwa nehmen die französische und deutsche Debatte ebenso wenig zur Kenntnis wie es Scheiber: Vergebung, nicht für nötig hält, die Überlegungen Derridas und Ricœurs zu berücksichtigen, ganz zu schweigen von den Beiträgen Kodalles und Spaemanns. Ihr gebührt das Verdienst, als erste die Hauptlinien der angelsächsischen Debatte in die deutsche Forschung eingeführt zu haben. Hingegen schreibt Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Verzeihung des Unverzeihlichen? Ausflüge in Landschaften der Schuld und der Vergebung, Wien u. a. 2008, am Forschungsstand vorbei. 51 Siehe als Überblicke zur (interdisziplinären) Forschungsgeschichte des Verzeihens Olivier Abel: Tables du pardon, in: ders. (Hg.): Le pardon. Briser la dette et l’oubli, Paris 1993, S. 208–233; Nigel Biggar: Forgiveness in the Twentieth Century. A Review of the Literature, 1901–2001, in: Alistair I. McFayden/Marcel Sarot (Hg.): Forgiveness and Truth. Explorations in Contemporary Theology, Edinburgh/New York 2001, S. 181– 217; Haber: Forgiveness, S. 1–8.
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ten weniger Arendt selbst zur Sprache kommt. Ihre These von der Zwischenmenschlichkeit des Verzeihens wird vielmehr so durchgeführt, dass gezeigt wird, was alles nicht unter ihren Begriff des Verzeihens fallen kann aus der Gesamtheit dessen, was in der philosophischen und interdisziplinären Forschung, etwa in der Psychologie und Psychotherapie, als Verzeihung ausgegeben wird (Kapitel 4.a–f). Die zweite begriffliche Vorüberlegung betrifft die analytische Unterscheidung von Verzeihen und Vergeben, die Arendt wie viele andere synonym verwendet. Dennoch richtet sie sich nicht gegen sie, sondern nimmt ihre dezidiert nicht-theologische Lesart der Evangelien auf und differenziert Verzeihen und Vergeben entlang der unterschiedlichen Beziehungen, die diese beiden Handlungsweisen etablieren. Wenn nämlich das Verzeihen als ein intersubjektives Geschehen zu begreifen ist, dann liegt Arendts nicht-theologischer Zugriff auf die biblischen Texte, genauer: auf die Jesus-Geschichten in den Evangelien, insofern nahe, als die theologische Exegese auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott abhebt und nicht auf die Beziehung zwischen Mensch und Mensch. Und Letztere ist es, die für das philosophische Interesse am Verzeihen im Vordergrund stehen muss (siehe Kapitel 5). Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind und inwiefern sich Verzeihen und Vergeben unterscheiden lassen, erläutert diese zweite Vorüberlegung in Vorbereitung von Kapitel 5 über die Vergebung der Sünden, Kapitel 6 über das staatliche Vergebungshandeln und Kapitel 7 über das Verzeihen selbst. Dieses Kapitel 7 gelangt beim eigentlichen Gespräch zwischen Arendt und den gegenwärtigen Theorien des Verzeihens an. Es zeigt sich vor allem als Gespräch zwischen den Theorien eines unbedingten und eines bedingten Verzeihens, wobei das Unterscheidungskriterium die von Arendt als Bedingung beanspruchte Reue ist. In Bezug auf Kapitel 3.b sind diese Ausführungen in gewisser Weise ein Neuansatz. Nach den Kapiteln 4–6, die einer Präzisierung von Arendts Verzeihensbegriff auf dem Wege der Abgrenzung dienen, macht es die Auseinandersetzung zwischen den Theorien bedingter und unbedingter Verzeihung um die – wie Ricœur es nennt – Koppelung von Reue und Verzeihung möglich, in der Zusammenfügung von Kapitel 3.b und 7 Arendts Skizze einer Theorie des Verzeihens so weit auszumalen, dass sich präziser angeben lässt, was im Akt des Verzeihens geschieht und welche Bedeutung er für die an ihm beteiligten Personen haben kann. Teil IV kann so in Kapitel 8 die die bisherige Forschung zum 34
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Verzeihensbegriff Arendts bestimmende Frage nach seiner politischen Umsetzbarkeit, die sie selbst erst zum Nachdenken über das Verzeihen gebracht hat, beantworten und in Kapitel 9 über das Verhältnis von Verzeihen und Versöhnen einen Gedanken erwägen, der die Frage nach der Grenze des Verzeihens noch einmal, aber auf andere Weise aufwirft und aus der Bestimmung dessen folgt, was im Akt des Verzeihens zwischen Menschen geschieht (siehe Kapitel 7). Die erste Quelle für eine Analyse des Verzeihens bei Arendt ist ihr im Jahr 1958 erschienenes zweites Hauptwerk, das zwei Jahre nach dem amerikanischen Original The Human Condition 52 unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben auch in deutscher Sprache erschien. Pullich ergänzt die Quellengrundlage um einige Arbeiten aus dem Entstehungsprozess der Vita activa: die Aufsätze Natur und Geschichte 53 aus dem Jahr 1957 und Verstehen und Politik 54 aus dem Jahr 1953 sowie einige Randbemerkungen zum Vorlesungsmanuskript History of Political Theory. Introduction 55 aus dem Jahr 1955. Hagedorn erweitert den Quellenkorpus um einige Eintragungen in Arendts Denktagebuch aus den Jahren 1950 bis 1953. 56 Christa Schnabl hat auf zwei weitere Schriften aufmerksam gemacht: Quod licet Jovi … : Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik 57 und die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 58 Es ließe sich ergänzend eine Reihe weiterer kleinerer und größerer Schriften sowie Briefwechsel nennen, 52 Hannah Arendt: The Human Condition. Second Edition. Introduction by Margaret Canovan, Chicago 1998 (1 1958). 53 Hannah Arendt: Natur und Geschichte, in: Deutsche Universitätszeitung 12 (1957), Nr. 8, S. 6–9, und Nr. 9, S. 9–14; wieder abgedruckt in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 1994 [= ZVZ], S. 54–79 [= ZVZ, 54–79]. 54 Hannah Arendt: Understanding and Politics, in: Partisan Review 20 (1953), S. 377– 392, übersetzt u. d. T.: Verstehen und Politik, in: ZVZ, S. 110–127 [= ZVZ, 110–127]. 55 Hannah Arendt: History of Political Theory, Vorlesungsmanuskript, University of California 1955, Box 58, Dokument-Nr. 023945. 56 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950–1973, 2 Bände, hg. v. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München/Zürich 2002 [= DT]. 57 Hannah Arendt: Quod licet Jovi … : Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik, in: Merkur 23 (1969), Nr. 6, S. 527–542 und Nr. 7, S. 625– 642, wieder abgedruckt unter dem Titel: Bertolt Brecht, in: dies.: Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, ungekürzte, durchges. Ausgabe, München/Zürich 2001, S. 237–283 [= MZ] (dt. Erstausgabe 1989, amer. Original 1968). 58 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ungekürzte Ausgabe, München/Zürich 1986 (= 5. Auflage der deutschen Erstausgabe 1955) [= EU].
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die in der bisherigen Forschungen keinerlei Beachtung finden, obwohl sich in ihnen zwar verstreute, aber sachdienliche Hinweise für die Rekonstruktion von Arendts Verzeihensbegriff finden. Darunter sind, um zwei der bekannteren Werke zu nennen, Eichmann in Jerusalem 59 und Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. 60 Das ausnahmslose Manko aller Forschung hingegen ist die fehlende Berücksichtigung des Briefwechsels zwischen Arendt und dem Dichter Wystan H. Auden sowie der Edition zweier inhaltlich in engem Bezug zueinander stehender Vorlesungen aus der Mitte der sechziger Jahre, die gegenüber der Vita activa bedeutsame Erläuterungen und Korrekturen enthalten. Das gilt insbesondere für die Bedingung der Reue, das Verhältnis von Strafe und Verzeihen sowie die Bedeutung von Arendts Interpretation der Evangelien für ihren Verzeihensbegriff. Im Juni 1959 hatte der mit Arendt befreundete Auden The Human Condition rezensiert 61 und in einer kurzen Abhandlung über die Figur des Falstaff in Shakespeares The Merry Wives of Windsor einen Exkurs über Nächstenliebe, Verzeihung und Begnadigung eingeschoben, der als Ergänzung zu seiner Rezension zu lesen ist. 62 Am 14. Februar 1960 antwortete Arendt in einem präzise komponiertem Brief mit teils wörtlichem Bezug auf seine Kritik, die sich an ihre Verhältnisbestimmung von Verzeihen und Strafe anschließt: »I just read the Falstaff piece […], think it is quite wonderful, have a number of points I’d like to raise, especially about Greek tragedy; but [I, T. D.] am writing now because of ›forgiving‹.« 63 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Neuausgabe mit einem einleitenden Essay v. Hans Mommsen, München/Zürich 1986 (amer. Original 1963, dt. Erstausgabe 1964) [= EJ]. 60 Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. und mit einem einleitenden Essay v. Ronald Beiner, München/Zürich 1985 (amer. Original 1982). 61 Wystan H. Auden: Thinking What We Are Doing, in: Encounter 12/6 (June 1959), S. 72–76. 62 Wystan H. Auden: The Fallen City. Some Reflections on Shakespeares »Henry IV«, in: Encounter 13/5 (November 1959), S. 21–31; wieder abgedruckt unter dem Titel: The Prince’s Dog, in: ders.: The Dyer’s Hand and other essays, London 1964, S. 182–208. 63 Hannah Arendt an Wystan H. Auden, 14. Februar 1960, Hannah-Arendt-Papers, Box 8, Dokument-Nr. 004864–004865 [= HA/WA]. Mit diesem Brief beginnt der erhaltene Teil des Briefwechsels zwischen Arendt und Auden. Die geschilderte Chronologie und die wörtlichen Bezugnahmen Arendts auf Audens Falstaff-Aufsatz zeigen, dass die Annahme, es müsse ein Brief Audens Arendts Brief vom 14. Februar 1960 vorangegangen sein, nicht zwingend ist; vgl. dazu Susannah Young-ah Gottlieb: Regions of Sorrow. Anxiety and Messianism in Hannah Arendt and W. H. Auden, Stanford 2003; hier S. 5– 59
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Das zweite Manko ist, dass Arendts Anmerkungen zum Verzeihen aus zwei Vorlesungen fehlen, in denen sich einige Auskünfte über die Bedeutung der neutestamentlichen Quellen für Arendts Verzeihensbegriff und insbesondere über ihr Konzept des Unverzeihlichen finden. Im Jahr 1965 hat sie an der New School for Social Research eine Vorlesung über Some Questions of Moral Philosophy in vier Teilen gehalten und Abschnitte aus dieser Vorlesung in leicht veränderter Form für ihre Vorlesung Basic Moral Propositions an der University of Chicago im folgenden Jahr verwendet. Jerome Kohn hat die Vorlesung von 1965 in seine Sammlung von Schriften Arendts mit dem Titel Responsibility and Judgment herausgegeben und die Variationen aus dem Jahr 1966 in die Anmerkungen integriert. 64 Ich lege die deutsche Übersetzung von Ursula Ludz zugrunde, weil sie die Vorlesung aus dem Jahr 1966 unter dem Titel Varianten aus der Vorlesung »Basic Moral Propositions« als eigenständigen Text behandelt und auf sie mittels Anmerkungen in ihrer Übersetzung der Vorlesung aus dem Jahr 1965 unter dem Titel Einige Fragen der Ethik verweist. 65 Ein Beispiel für die Fehlinterpretationen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn man diese Erweiterung der Quellengrundlage nicht vornimmt, ist Michael Ures These, dass Arendt einen Begriff der politischen Verzeihung geliefert habe, diesen aber mit Gnade, Nächstenliebe und Verzeihung aus erotischer Liebe derart vermische, dass diese drei Verwechslungen ihrem eigentlichen Ziel, der für den Bestand demokratischer Gemeinschaften unerlässlichen Wiederherstellung wechselseitiger Anerkennung, nicht dienlich seien, sondern es 7, 200–202. Hier und beim anderen Hinweis auf diesen Briefwechsel bleibt die sachliche Auseinandersetzung in ihrer Bedeutung für Arendts Begriff des Verzeihens ungenutzt; vgl. Nasser Hussain/Austin Sarat: Towards New Theoretical Perspectives on Forgiveness, Mercy, and Clemency: An Introduction, in: Austin Sarat/Nasser Hussain: Forgiveness, Mercy, and Clemency, Stanford 2007, S. 1–15, hier S. 2–3. 64 Siehe Hannah Arendt: Responsibility and Judgment, ed. and with an Introduction by Jerome Kohn, New York 2003; siehe die Vorlesung Some Questions of Moral Philosophy ebd., S. 49–146; die Varianten aus der Vorlesung Basic Moral Propositions ebd., S. 277–283. 65 Siehe Hannah Arendt: Einige Fragen der Ethik. Vorlesung in vier Teilen (New School for Social Research, New York 1965), in: dies.: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlaß hg. v. Jerome Kohn. Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Ludz. Mit einem Nachwort von Franziska Augstein, München/Zürich 2006 [= ÜB], S. 7–150 [= ÜB, 7–150]; dies.: Varianten aus der Vorlesung »Basic Moral Propositions« University of Chicago, 1966), in: ÜB, S. 151–165 [= ÜB, 151–165]. A
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I Schuld und Verzeihung
im Gegenteil gefährdeten. Ure ist mit diesen Ansichten, die selbst auf der alleinigen Grundlage der Vita activa keinen Anhalt finden, das extreme Beispiel für den beschränkten Zugriff auf Arendts Überlegungen unter denen, die aus verschiedenen Gründen eher an einer Begründung eines politischen Handlungsvermögens des Verzeihens interessiert sind denn an einer kritischen Erörterung der Potentiale von Arendts Begriff des Verzeihens. 66 Mit umfassender Quellenkenntnis vermeidbare Missverständnisse leiten auch Kathryn Norlocks und Jean Rumseys Äußerungen zu Arendts Verzeihensbegriff an, etwa dass Letzterer sich auf Verfehlungen beziehe, die gerade nicht zu den bösen Taten zählten, während er gegenüber den wirklichen Grausamkeiten sprachlos bleibe. Arendt fehle in dieser Angelegenheit das Kriterium der persönlichen Schuld. Wie sich dies aber mit der unwidersprochen bleibenden Ansicht Arendts verträgt, dass man nur verzeihen könne, was auch bestrafbar sei, fällt nicht einmal als Widerspruch in Arendts Argumentation allein in der Vita activa auf, geschweige denn, dass davon ausgehend der Versuch unternommen würde, mittels einer Erweiterung der Quellenbasis nach Erklärungen für diesen ins Ausge fallenden und erklärungsbedürftigen Quellenbefund zu suchen. 67 c
Hinweise zu den bibliographischen Angaben
Auf die Schriften Arendts und einige weitere, ausgewählte Primärtexte zur Philosophie des Verzeihens, auf die ich wiederholt Bezug nehme, verweise ich mittels einer in runde Klammern gesetzten Sigle im Fließtext selbst – in dieser Art: (VA, 145). Diese Siglen führe ich an Ort und Stelle der ersten Erwähnung der durch sie bezeichneten Schrift in einer Fußnote ein, in der auf die vollständige bibliographische Angabe die Sigle in eckigen Klammern folgt – in dieser Art: [= VA]. Verwende ich keine Sigle, so wird nach der ersten und vollständigen Angabe nur noch mit Kurztitel auf die entsprechenden TiSiehe Michael Ure: The Politics of Mercy, Forgiveness and Love: A Nietzschean Appraisal, in: South African Journal of Philosophy 26 (2007), S. 56–69; vgl. Digeser: Forgiveness; Janover: Limits; Schaap: Political Grounds; ders.: Proto-politics; Shriver: An Ethic. 67 Kathryn J. Norlock/Jean Rumsey: The Limits of Forgiveness, in: Hypatia 24 (2009), S. 100–122, hier bes. S. 102–105; vgl. denselben interpretatorischen Widerspruch bei Orlie: Forgiving Trespasses, S. 340–342, 347 f. 66
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tel verwiesen. Um den Nachvollzug der Siglen zu erleichtern, wird im Siglenverzeichnis der jeweiligen Sigle die Literaturangabe zugeordnet, die auch im Schriftenverzeichnis Arendts oder im Literaturverzeichnis zu finden ist. Zudem füge ich die Sigle des jeweiligen Titels der entsprechenden Literaturangabe im Schriftenverzeichnis Arendts und im Literaturverzeichnis hinzu – wieder in dieser Art: [= VA]. Wenn ich auf Texte Arendts aus ihrem Nachlass Bezug nehme, verweise ich auf die Ordnungsstruktur, wie sie sich in der Internetpräsenz der Library of Congress in Washington, D.C., unter dem Titel The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress finden (siehe http://memory.loc.gov/ammem/arendthtml/arendthome.html, zuletzt eingesehen am 19. Juli 2009), und gebe zur Vereinfachung des Nachvollzuges auch die Nummer der Box und des Dokumentes an. Ich lege die deutschsprachigen Veröffentlichungen der Schriften Arendts zugrunde. Da sich aus Arendts Praxis, ihre Publikationen in der einen auch in der anderen Sprache zu veröffentlichen und dabei geringfügige bis ausführliche Überarbeitungen vorzunehmen, bisweilen kompliziertere Werkgeschichten als bei simplen Übersetzungen ergeben, nenne ich in den Erstnachweisen der verwendeten Schriften und im Schriftenverzeichnis die Erstveröffentlichungen und/oder weitere Fassungen. Um den Fußnotenapparat durch diese werkgeschichtlichen Informationen nicht unnötig zu verlängern, verweise ich für erschöpfende Auskünfte auf die Bibliographie der Schriften Arendts von Ludz. 68 Auszeichnungen und Hervorhebungen sind, wo nicht eigens vermerkt, nicht vom Verfasser. Zusätze und Auslassungen des Verfassers stehen in eckigen Klammern.
68 Ursula Ludz: Bibliographie: Zusammenstellung aller deutsch- und englischsprachigen Veröffentlichungen, in: Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Mit einer vollständigen Bibliographie, hg. v. Ursula Ludz, München/Zürich 2 2005 (1 1996), S. 257–341.
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II Arendts Handlungstheorie
Um die beiden zentralen Handlungsvermögen des Menschen werkgeschichtlich und systematisch analysieren zu können, werde ich zunächst die tragenden Begriffe von Arendts Handlungstheorie in ihren Grundzügen darstellen. Die Gliederung dieser vorbereitenden Erläuterungen, die die anthropologischen Bedingungen menschlichen Lebens im Allgemeinen und die Grundbegriffe ihrer Handlungstheorie im Besonderen zum Gegenstand haben, folgt in etwa den ersten beiden Kapiteln (§ 1–10) und dem fünften Kapitel (§ 24–32) der Vita activa. Diese Ausführungen bedürfen an vielen Stellen der Ergänzung auf der Grundlage weiterer Schriften Arendts, weil die Vita activa einige Fragen ungeklärt lässt, deren Beantwortung für diese Arbeit unverzichtbar ist. Das folgende Kapitel 2 über die Grundbegriffe von Arendts Handlungstheorie dient vornehmlich einführenden Zwecken und der Darstellung des grundlegenden Kategoriengerüstes in vier Schritten, insofern es Vorstufe und Teil einer kritischen Analyse und darin Bedingung eines angemessenen Verständnisses von Arendts Begriff des Verzeihens (und des Versprechens) ist.
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Die Grundbegriffe von Arendts Handlungstheorie
Arendts zeitdiagnostischen Einsatzpunkt bilden zwei Beobachtungen zu Ereignissen der fünfziger Jahre. Den Flug der Sputnik in den Weltraum im Jahre 1957 betrachtet sie als Ausdruck einer von den Naturwissenschaften beförderten Lösung des Menschen von seinen natürlichen Existenzbedingungen. Die Gefahr dieser »Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein« (VA, 10) bestehe darin, dass sie unser Vermögen, uns gemeinsam im Sprechen und Handeln über die Welt, in der wir leben, zu verständigen, beeinträchtige oder gar zerstöre. Die Naturwissenschaften verwandelten die Wirklichkeit in eine mathematische Symbolsprache, die ihren Symbolcharakter, Ab40
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kürzung für ehedem Gesprochenes zu sein, längst verloren habe und deswegen nicht in dieses Gesprochene zurückübersetzt werden könne. Und dieser Tatbestand muss, was politische Urteilsfähigkeit betrifft, ein gewisses Mißtrauen erregen.« (VA, 11) In der Verkümmerung der menschlichen Sprachfähigkeit stehe der Zugang des Menschen zu der von ihm erschaffenen Welt und seine Fähigkeit zur politischen Regelung ihrer Angelegenheiten auf dem Spiel. Der Effekt des mathematischen Zuganges zur Welt sei eine Verdunkelung der Phänomene: Es entstehe eine schier unüberwindliche Hürde zwischen dem, wozu Menschen in der Lage seien, und ihren Möglichkeiten, mit den Ergebnissen ihres Erfindungsgeistes umzugehen. Gegen die Verkümmerung der politischen Urteilskraft gelte es, im gemeinsamen Handeln und Sprechen das Zuhause zu verteidigen, das sich die Menschen gegen die Gefahren der Natur errichtet hätten, um auf der Erde einen dauerhaften Ort zu haben. »Denn was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen, wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann.« Abgesehen von den engsten Bezirken des Selbstverhältnisses existieren wir Menschen immer in der Mehrzahl; denn »sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.« (VA, 12) Das zweite Ereignis ist eine weitere Rebellion des Menschen gegen seine Existenzbedingungen: die Automation, die es ihm erleichtert, für den Erhalt des Lebens arbeiten zu müssen. An dieser Befreiung von der Natur ist weniger bedeutsam, dass sie die uralte Hoffnung auf das von körperlicher Anstrengung befreite Leben erfüllt, das jahrhundertelang ein Privileg war, sondern dass dies gerade zu einem Zeitpunkt greifbar zu werden scheint, zu dem »der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeitsgesellschaft befreit werden soll« (VA, 13). Man muss sich nicht bei der Angemessenheit dieser Zeitdiagnose am Übergang von der modernen Industriegesellschaft zu dem aufhalten, was auf sie folgt, was unsere Gegenwart ist und was wir noch nicht hinreichend übersehen, um es mit Schlagwörtern vom »Ende der Geschichte« oder »Postmoderne« zu versehen. Was Arendt an der »Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist« (VA, 13), verhängnisvoll erscheint, ist dieselbe Gefahr, die sie in der Eroberung des Weltraumes sieht. Was sich darin fortsetzt, ist die Lösung des Menschen von den GrundbedinA
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II Arendts Handlungstheorie
gungen seines Lebens, nicht nur von der natürlichen Umwelt, sondern auch von seiner Lebenswelt, so dass sich die Bedrohung der Fähigkeit, miteinander zu sprechen und zu handeln und die gemeinsamen Angelegenheiten zu regeln, verschärft. a
Der kategoriale Rahmen
Auf diese beiden und die ihnen zugehörigen »Fragen, Sorgen und Probleme« bietet die Vita Activa keine Antworten: »Was ich […] vorschlage, ist eine Art Besinnung auf die Bedingungen, unter denen […] Menschen bisher gelebt haben, und diese Besinnung ist geleitet […] von den Erfahrungen und Sorgen der gegenwärtigen Situation. Solch eine Besinnung verbleibt natürlich im Bereich des Denkens und Nachdenkens« (VA, 13). Es gilt, »dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind.« (VA, 14) Das Tätigsein soll in seine Bereiche zergliedert werden, die für jeden Menschen Geltung besitzen – mit Ausnahme der höchsten Tätigkeit, des Denkens –, wobei Arbeiten, Herstellen und Handeln sowohl in ihrem Verhältnis untereinander gesehen werden als auch innerhalb desjenigen der Vita activa zur Vita contemplativa. a Die anthropologischen Bedingungen menschlichen Lebens Auf den zeitdiagnostischen Rahmen folgt sein anthropologisches Gegenstück, das wiederum zwei Teile hat. Die Vita activa umfasst bei Arendt die drei genannten Tätigkeiten, die den Grundbedingungen menschlichen Lebens zugeordnet sind. Die Arbeit versorgt den Körper mit ihrer Hände Werk, das heißt mit den aus der Natur gewonnenen Lebensmitteln. Die Grundbedingung des Arbeitens ist das Leben, und es dient der Selbsterhaltung. Das Herstellen erschafft eine Dingwelt, die eine stärkere Widerständigkeit gegen die Abnutzungsprozesse der Natur hat als die Menschen. Dadurch ist diese Welt dem Menschen »eine Heimat«, weil sie sein bloßes Leben überdauert und ihm als gegenständliche Welt Halt bietet. Grundbedingung des Herstellens ist die Weltlichkeit, »die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität.« (VA, 16) Dabei ergibt sich aus der Dingwelt eine Bedingung zweiter Ordnung, weil die Dinge als von Menschen selbst geschaffene Bedingung ihrer Existenz das Leben wie die Natur bedingen (siehe VA, 19). Das Herstellen mündet daher in eine weltliche Selbstbedingung des Menschen. 42
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Das Handeln ist weder durch das Leben noch durch die Dinge vermittelt, sondern findet zwischen Menschen statt. Seine Grundbedingung ist die Pluralität, womit zunächst der Umstand gemeint ist, dass es nicht ein Mensch ist, sondern dass es viele Menschen sind, die auf der Erde den Ort ihres Leben haben und in der Welt der Dinge beheimatet sind. Sie ist die »conditio sine qua non« und zugleich »die conditio per quam« (VA, 17) des Handelns und Sprechens, und zwar so, dass sich durch die Pluralität die Menschen in ihrer »Gleichartigkeit« und »Verschiedenheit« (VA, 213) gegenseitig bewusst werden. Menschen können überhaupt nur miteinander handeln und sprechen, wenn Gleichartigkeit Verständigung erlaubt und zugleich »das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen« (VA, 213) Handeln und Sprechen notwendig machen. Andernfalls glichen wir uns so sehr, dass niemals Differenzbewusstsein und entsprechender Erklärungsbedarf hinsichtlich des jeweils handelnden Menschen entstehen könnte. Unsere wechselseitige Wahrnehmung ist daher genauso unauflöslich an menschliche Pluralität gebunden wie jede Form der Vergemeinschaftung von der Zweisamkeit bis zur Weltgesellschaft aller Menschen. In der Pluralität tut sich jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit kund, denn anders als beim Arbeiten und Herstellen, wofür ich andere Menschen versklaven, ausbeuten oder bezahlen kann, kann ich Handeln und Sprechen nicht an andere delegieren. Jeder Mensch muss sich selbst als derjenige, der er ist, durch Taten und Worte bekannt machen. Arendt bezieht die dreifache menschliche Bedingtheit aus Leben, dinglicher Welt und Pluralität auf das Politische, räumt aber zugleich der Pluralität innerhalb dieser Beziehung ein »ausgezeichnete[s] Verhältnis« (VA, 17) zur Politik ein, weil sie nicht nur die Bedingung dafür ist, ohne die es kein Handeln gäbe, sondern weil die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit des Handelns in der Pluralität selbst liegen. Sie verdeutlicht dieses Bedingungsverhältnis mit dem unterschiedlichen Zugriff von Jesus und Paulus auf die biblischen Schöpfungsgeschichten. Während Jesus in Mt. 19, 4, betone, dass Gott den Menschen als Mann und Frau, und damit in der Pluralität, geschaffen habe (vgl. Gen. 1, 27), weise Paulus in 1. Kor. 11, 4–8, darauf hin, dass das Weib vom Manne sei (vgl. Gen. 2, 21–25). 1 Von Interesse ist für Arendt daran, »daß für Jesus der Glaube unmittelbar zum 1
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Handeln führte und daß seine Predigt daher den Bereich der Pluralität der Menschen unangetastet lassen mußte; während für Paulus der Glaube lediglich eine Angelegenheit des individuellen Seelenheils war.« (VA, 417, FN 1) Der Kontext des paulinischen Desinteresses an der Sphäre der Pluralität ist bei Arendt der folgende: Während Aristoteles für jede seiner Lebensweisen eines freien Mannes das aktive und das kontemplative Moment unterschieden und dem bios politikos ausdrücklich nur das Handeln, nicht aber Herstellen und Arbeiten, zugeordnet habe, bringt die christliche Idealisierung der Vita contemplativa einen Rückschritt, 2 weil sie die griechische Auszeichnung des Handelns im bios politikos in den Strudel all dessen hineinwerfe, was a-scholia oder nec-otium ist. Der christliche Glaube an das jenseitige Leben besiegelt jedoch nur die Niederlage der Vita activa, ihren Ursprung hat sie nach Arendts Überzeugung im Konflikt zwischen Philosophie und Politik seit dem Prozess gegen Sokrates, oder anders gesagt: in der Entdeckung des Unterschiedes zwischen dem Betrachten (theorein) und den Tätigkeiten des Denkens und Argumentierens. 3 Das Christentum – nicht Jesus, so muss ergänzt werden – hat das Vorrecht, das Leben in der Weise des bios theoretikos zu führen, nur zu einem Recht aller Menschen gemacht. Arendt nun geht gegen die Hierarchie selbst vor. Die angekündigte Besinnung ist eine Besinnung auf die Differenzierungen innerhalb der Vita activa und keine weitere neuzeitliche Umkehrung der christlichen, mittelalterlichen Ordnung, die lediglich ein anderes Grundanliegen der Menschen absolut setzte – hier die Ruhe, dort das Arbeiten oder das Herstellen. Sie hat gerade keine einseitige Auffassung vom Menschen, sondern wiederholt gewissermaßen das Argument der Pluralität, wenn sie ein hierarchisches Verhältnis von Vita activa und contemplativa verweigert. Denn wie Menschen gleich und doch verschieden sind und jeder Mensch in seiner Unverwechselbarkeit wahrgenommen werden Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers. Fassung des revidierten Textes, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1970. 2 Dieser auch für Arendts Verzeihensbegriff bedeutsame Gedanke (siehe Kapitel 3.b.a) der im Kern des Christentums ruhenden Überzeugung von der Minderwertigkeit aller weltlichen Angelegenheiten bestimmt schon ihre Dissertation, siehe Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, hg. und mit einem Vorwort von Ludger Lütkehaus, Berlin 2003. 3 Siehe zu den sachlichen und philosophiegeschichtlichen Konsequenzen aus dem Sieg der Vita contemplativa ausführlicher VA, 28–32.
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muss, so ist der einzelne Mensch für sich betrachtet kein eindimensionales Lebewesen. In seinem Lebensvollzug gehen alle in der Vita activa und contemplativa versammelten Aspekte eine Verbindung ein, deren Elemente sich nicht hierarchisieren lassen (siehe VA, 22– 27). Den zweiten Teil des anthropologischen Rahmens der Vita activa im Allgemeinen und von Arendts Handlungstheorie im Besonderen bildet die »allgemeinste[] Bedingtheit menschlichen Lebens, daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet.« (VA, 17 f.) Auf die Mortalität bezogen gewährleistet die Arbeit das bloße Überleben des Menschen. Das Herstellen errichtet eine dauerhafte Welt und verleiht dem flüchtigen Leben Halt. Das Handeln schließlich schafft eine Kontinuität der Menschen über das einzelne Leben hinaus und ist damit die Bedingung für Erinnerung und Geschichte. Die Entsprechung der Mortalität ist die Natalität, die bei Arendt aus einem von ihr wiederholt zitierten Gedanken Augustins heraus verstanden wird: »›[D]amit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab.‹« (VA, 215 f.). 4 Natalität und Mortalität spiegeln als Grundbedingungen menschlichen Lebens die schlichte Tatsache wieder, dass jedes Menschenleben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, wobei Arendt das Leben gerade nicht als ein Vorlaufen zum Tode begreift. Die Vorgehensweise allerdings, wie sie den Begriff der Natalität zu einem der tragenden Begriffe ihrer Handlungstheorie macht, ist »handwerklich kühn«. 5 Doch die Natalität als das Anfangen-Können ist für Arendt eine mit logischen Mitteln unlösbare Aufgabe, 6 dessen Evidenz sie in dem Wort von der Natalität auf den Begriff zu bringen Vgl. aus dem Jahr 1951 DT, 66, dann ihren Beitrag zur Festschrift für Jaspers, der zum letzten Kapitel der deutschen Erstausgabe der Elemente und Ursprünge 1955 wird, wo jenes Zitat seither alle Ausgaben dieses Werkes beendet; siehe Hannah Arendt: Ideologie und Terror, in: Klaus Piper (Hg.): Offener Horizont. FS für Karl Jaspers zum 70. Geburtstag, München 1953, S. 229–254, hier S. 254; EU, 730. 5 Saner: Bedeutung, S. 109. Saners Interpretation der Natalität ist wegen ihren strengen Orientierung an den Quellen denjenigen überlegen, die Arendt etwa die Vernachlässigung der Mutterschaft in der ersten Geburt vorwerfen, wie Christina Schües: Natalität und Denken – Bedingungen für ein verantwortliches Handeln, in: Journal Phänomenologie 11 (1999), S. 13–21, hier S. 13 f., oder eine dritte Form der Natalität erfinden wie Bowen-Moore: Arendt’s Philosophy, S. 69–100. 6 Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution, München/Zürich o. J. (1965) (amer. Original 1963) [= ÜR], hier ÜR, 272. 4
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versucht. Die »Tatsache des Geborenseins« (VA, 215), die erste Geburt des Menschen, ist der Anfang der Geschichte eines bestimmten Menschen in der Welt. Und als dieser in die Welt hinein geborene Anfang ist er selbst mit der Fähigkeit des Anfangens ausgestattet und kann sich als Neuankömmling in den Lauf der Welt einbringen und in dieser zweiten Geburt »Verantwortung« (VA, 215) für seine erste übernehmen. Im Handeln und Sprechen unter Menschen zeigt er sich als ein Jemand mit einer persönlichen Lebensgeschichte, in der seine Handlungen den Anfang, der er durch sein Geborensein ist, aufs Neue bestätigt und fortführt. Denn die Natalität ist eine jedem Menschen eigene und immer wieder aktualisierbare Fähigkeit des Anfangenkönnens. Handeln und Anfangen fallen so zusammen und bezeichnen eine Grundstruktur des menschlichen Lebens, die Arendt auch »Gebürtlichkeit« (VA, 217) nennt. 7 Das Handeln ist, weil es ein Handeln von Menschen ist, an die Mortalität gebunden, aber unter den drei Tätigkeitsweisen steht es in engster Beziehung zur Natalität, das heißt zum Anfang und – zur Freiheit. Die zweite Geburt, die jedes Handeln in der Übernahme der ersten ist, bricht wie »das unendlich Unwahrscheinliche« in die Welt herein. Jeder Handlung eignet eine »Unvorhersehbarkeit«, die »allen Anfängen und Ursprüngen« (VA, 216) zukommt. Denn als Geborener ist jeder Mensch ein von allen anderen Menschen unterschiedener Mensch, weil »in jedem Menschen noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt« wird (VA, 217). Dass wir selbst
Der Anlage nach ist die Gebürtlichkeit schon bei Martin Heidegger ein Existential: »Allein der Tod ist […] formal genommen nur das eine Ende, das die Daseinsganzheit umschließt. Das andere ›Ende‹ aber ist der ›Anfang‹, ›die Geburt‹.« »Existential verstanden ist die Geburt nicht und nie ein Vergangenes im Sinne des Nichtmehrvorhandenen, so wenig wie dem Tod die Seinsart des noch nicht vorhandenen, aber ankommenden Ausstandes eignet. Das faktische Dasein existiert gebürtig, und gebürtig stirbt es auch schon im Sinne des Seins zum Tode«; ders.: Sein und Zeit, 17. Auflage, unveränd. Nachdruck der 15. an Hand der Gesamtausgabe durchges. Auflage, Tübingen 1993 (1 1927), Zitate S. 373, 374; vgl. Saner: Bedeutung, S. 110; Collin: Birth, S. 104. Dass Arendt die Natalität und nicht die Mortalität zum Kern des Seins macht, ist charakteristisch für ihren Zugang zu Sein und Zeit, ohne das sie die Vita activa nicht hätte schreiben können, gerade weil viele ihrer Kategorien in Opposition zu Heidegger gedacht sind; siehe zur inhaltlichen und methodischen Dankesschuld Arendts an Heidegger Benhabib: Arendt, S. 96–110, 169–198; Sergio Belardinelli: Martin Heidegger und Hannah Arendts Begriff von »Welt« und »Praxis«, in: Dietrich Papenfuß/Otto Pöggeler (Hg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Band 2. Im Gespräch der Zeit, Frankfurt/ Main 1990, S. 128–141; Villa: Arendt.
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ein Anfang sind, der anfangen kann, macht uns jedoch nicht zu Erfüllungsgehilfen in Gottes Vorsehung, sondern verleiht uns die Gabe der Freiheit, etwas Neues anzufangen, so dass sich in jeder Handlung der freiheitliche Anfang, der wir selber sind, erneuert: »Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs […] in der Welt selbst […]: was natürlich letztlich nichts anderes sagen will, als daß die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt.« (VA, 216) Weil das in der Natalität gründende Handeln ein Handeln in und aus Freiheit ist, ist es prinzipiell unvorhersehbar, woraus die Vorhersehbarkeit des Unvorhersehbaren folgt. Solange Menschen handeln, leben Menschen in der Gewissheit, dass ihre Mitmenschen handelnd in die gemeinsame Welt eingreifen, ohne dass sie wissen, was dieser Neuanfang bewirken wird. Anders gesagt: Solange Menschen auf der Erde im Plural leben, solange ist die Tatsache des Handelns von unumstößlicher Gewissheit. Man darf also auf das Unwahrscheinliche hoffen, allerdings mit der Einschränkung, dass nur der konkrete Neuanfang, die eine und unverwechselbare Tat, nicht aber der Neuanfang als Prinzip, »wie ein Wunder« den Lauf des Unabwendbaren unterbricht (VA, 217). Arendt hat diese Kette von Behauptungen, die ihre Vorstellung von der Natalität ausmachen, bis zu ihrem letzten Werk aufrechterhalten. Sie hat das Anfangen-Können als Zeichen der Hoffnung angesichts der Zerstörung menschlicher Verschiedenheit und Handlungsfähigkeit durch die totale Herrschaft an das Ende ihres ersten großen Werkes gesetzt. Und sie hat mehr als zwanzig Jahre später im Zusammenhang ihrer Suche nach einer »Freiheitsvorstellung«, »die frei wäre von den Wirrungen der Reflexivität der Geistestätigkeiten« 8 (der Vita contemplativa) den Versuch der politischen Gründungslegenden zurückgewiesen, den »Abgrund der reinen Spontaneität« (LG, 442) durch die Ausgabe des Neuen als Wiederauflage des Alten zu verkaufen, und statt dessen erneut auf Augustins Bestimmung des geborenen und daher natalitätsbegabten Menschen zurückgegriffen. Sie hat selbst gesehen, »daß das Argument«, womit die ontologische Dimension der Natalität, also der Mensch als ein gebürtliches und anfangendes Wesen gemeint ist, »auch in der auHannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Band 1: Das Denken. Band 2: Das Wollen, Ausgabe in einem Band, München/Zürich 1998, S. 441 f. (dt. Erstausgabe in zwei Bänden 1979, amer. Original 1978) [= LG].
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gustinischen Fassung etwas dunkel ist, daß es nur dies zu besagen scheint, wir seien zur Freiheit verurteilt, indem wir geboren seien, ob wir nun die Freiheit lieben oder ihre Willkür verabscheuen, ob sie uns ›paßt‹ oder wir uns lieber ihrer furchtbaren Verantwortung entziehen, indem wir uns einer Form des Fatalismus zuwenden.« (LG, 443) Aber »[d]ieser tote Punkt« ist kein Indiz dafür, dass sie das Konzept der Natalität aufgegeben hat, denn Arendt gehört sicher zu denjenigen, die bereit sind, den Preis für die Freiheit zu zahlen und Verantwortung zu tragen. Die Frage, der sie hier nachgeht, ist diejenige nach der Möglichkeit eines Umganges mit jenem toten Punkt, von dem sie sich nicht sicher war, ob »es einer ist« (LG, 443). Arendt hat an dem Abgrund der Spontaneität, an der Unableitbarkeit der Freiheit, festgehalten. Wie Immanuel Kant, von dem sie den Gedanken der Spontaneität in Bezug auf die handlungstheoretische Dimension der Natalität übernimmt (während Heideggers Einfluss die anthropologische Dimension der Natalität betrifft), kann sie das Problem des Anfangen-Könnens – »das Vermögen einen Zustand v o n s e l b s t anzufangen« 9 – insofern als logisch unlösbare Aufgabe (vgl. ÜR, 272) auf sich beruhen lassen, da für die Freiheit in ihrem praktischen Gebrauch – und um allein den geht es ihr – ihre theoretische Unbeweisbarkeit keine Rolle spielt. Die praktische Freiheit kann sich auf die Gewissheit stützen, dass wir uns zur Befolgung von Normen bestimmen können und insofern frei sind. Praktische Autonomie, oder das Anfangen-Können, fußt zum einen auf den vernünftigen Gründen, die die jeweilige Person sich selbst zur Bestimmung ihres Wollens angibt, und sie lebt zum anderen von der Überzeugung, dass die jeweilige Vernünftigkeit eine ausreichende Basis der persönlichen Willensbestimmung ist. Dieses Geschehen ist unabhängig von der Unbeweisbarkeit der Annahme, dass die Vernunft eben über die Fähigkeit zur Verursachung verfüge und einen Zustand von selbst anfangen könne, weil diese Annahme in praktischen Dingen »unvermeidlich und unbestreitbar« ist. 10 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe hg. v. Raymund Schmidt, mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme, Hamburg 1990, A533/B561 [= KrV]. 10 Georg Geismann: Kant über Freiheit in spekulativer und in praktischer Hinsicht, in: Kant-Studien 98 (2007), S. 283–305, bes. 287–292. Siehe zu diesem bislang kaum untersuchten Einfluss Kants auf Arendt bezüglich der Spontaneität Belardinelli: Heidegger, S. 128 f.; Brunkhorst: Arendt, S. 135; Saner: Bedeutung, S. 112. Dieter Thomä 9
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Die Urteilskraft rückt im Leben des Geistes nicht in den Mittelpunkt des Interesses, weil sie an die Stelle der Freiheit treten soll, sondern weil sie eine Möglichkeit bietet, für den Preis, der für die Gabe der Freiheit zu entrichten ist, einen Umgang jenseits des Fatalismus zu bieten. Sie überwindet nicht die Freiheit, sondern den Abgrund der Freiheit, dass wir einen gewirkten Zustand »nicht nach dem Naturgesetze […] einer anderen Ursache […], welche sie der Zeit nach bestimmte« (KrV, A533/B561), kausal zuordnen können. Sie soll als eine Form des alltäglichen Handelns eine Erzählung über die Verstrickungen der Menschen ermöglichen, die das Geschehene in eine Geschichte einbindet und ihm so den Charakter des Unerwarteten und Undurchsichtigen nimmt und dem heillosen Fatalismus etwas entgegensetzt. 11 Es ist für die Erläuterung des kategorialen Rahmens der Vita activa von entscheidender Bedeutung, dass man nicht über das Gefüge der Bedingtheiten menschlichen Lebens hinweggeht. Die Dreiheit scheint mir diese Verbindung kantischer und heideggerscher Einflüsse zu unterschätzen, wenn er Arendts Bestimmung der Freiheit als »Bollwerk gegen den Determinismus« als »Quelle der Irritation« für alle begreift, die – das müsse doch für eine Heidegger-Schülerin gelten – »den Dualismus verwerfen«, und das entscheidende Problem in der Ermöglichung der praktischen Freiheit durch das anthropologische Faktum der Geburt verortet. Jedoch überzeugt es nicht, Arendts Natalität die Ausblendung menschlichen Miteinanders vorzuwerfen. Dem steht erstens ihre Kritik an der politischen Philosophie entgegen, die sich mit dem Menschen und nicht mit den Menschen befasst habe. Zweitens ist die Handlungstheorie der Vita activa auf das Zusammen-Handeln ausgelegt. Drittens übersieht er das Gefüge der zweifach-dreifachen Bedingtheit menschlichen Lebens bei Arendt (siehe den übernächsten Absatz); siehe Dieter Thomä: Verlorene Passion, wiedergefundene Passion. Arendts Anthropologie und Adornos Theorie des Subjektes, in: DZPh 55 (2007), S. 627–647, Zitate S. 633. 11 Die Forschung hat angeführt von Benhabib und Ronald Beiner Arendts Überlegungen zur Urteilskraft für unzulänglich erklärt; siehe Benhabib: Arendt, S. 273–301; Ronald Beiner: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Arendt: Das Urteilen, S. 115–197. Demgegenüber hat Peter Trawny einen Vorschlag gemacht, wie sich ein mit Arendts Anliegen vereinbarer Begriff des Urteilens als eines erzählenden Verstehens aufzeigen lässt und es nicht bei der Unvermittelbarkeit von Denken (Urteilen) und Handeln bleiben muss. Nur schießt er mit der Behauptung über das Ziel hinaus, dass Arendt ihre Verbindung von Freiheit und Gebürtlichkeit aufgegeben und sich dem Urteilen zugewandt habe. Denn die Fähigkeit zu urteilen ist, wie er selbst erläutert, eine Vereinigung des Denkens und des Handelns. Und seine Kritik, dass die Geburt eine schiefe Metapher sei, ändert nichts daran, dass Arendt an der Natalität oder Spontaneität des Handelns festgehalten hat, andernfalls fehlten seinen Geschichten auch ihr Gegenstand; siehe ders.: Verstehen und Urteilen. Hannah Arendts Interpretation der Kantischen »Urteilskraft« als politisch-ethische Hermeneutik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 60 (2006), S. 269–289, hier S. 274–279. A
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Leben, Welt und Pluralität ist erst verständlich durch die Verankerung in der Zweiheit Natalität/Mortalität. Ferner sind alle drei Tätigkeiten insgesamt auf das Politische bezogen ist. Auch Arbeiten und Herstellen haben Teil an der Pluralität, und das unter ihrem Namen Verrichtete ist Teil der menschlichen Angelegenheiten, die in Wort und Tat zwischen Menschen geregelt werden müssen. Daher ist es nur folgerichtig, wenn alle drei bei Arendt auf die fundamentale Zweiheit der Mortalität und Natalität Anwendung finden. Das Arbeiten ist von der Notwendigkeit der Selbsterhaltung erzwungen, und das Herstellen unterliegt dem materiellen Nutzen und den Zwecken der Dingwelt. Aber das Handeln steht »in einem ausgezeichneten Verhältnis« (VA, 17) zur Natalität, weil der Antrieb zum Handeln in unserer Geburt zu liegen scheine, der wir durch unsere Handlungsinitiativen entsprächen (vgl. VA, 215), und weil auch im Arbeiten und Herstellen das Kennzeichen der Anfänglichkeit »[i]m Sinne von Initiative« (VA, 18) stecke. 12 Gegen die Trennung der drei Tätigkeitsweisen im zweiten bis fünften Kapitel der Vita activa formulieren die vorangehenden Überlegungen eine prinzipielle Aufhebung dieser Trennung. Die spätere Profilierung der Tätigkeitsweisen gegeneinander ist in dieser Klammer zu lesen und hat ihren Ort innerhalb ihrer untrennbaren Verbundenheit in den Bedingtheiten des menschlichen Lebens. 13 b Arendts Denkstil und ihr Begriff des Handelns An diesem Punkt ist ein längerer Exkurs zu Arendts Denkstil einzuschieben, besonders zu ihrer Eigenart, in scheinbar antithetischen Begriffspaaren zu denken. Ingeborg Nordmann hat Spontaneität und Pluralität als die für Arendt wesentlichen Merkmale eines gelingenden Zusammenlebens im Unterschied zu einer totalitären oder andersartigen Scheinwirklichkeit bestimmt. Die Suche nach politiVgl. Hannah Arendt: Freiheit und Politik, in: Die neue Rundschau 69 (1958), S. 670– 694, wieder abgedruckt in: ZVZ, S. 201–226, hier S. 223 [= ZVZ, 201–226]. 13 Die Stellen, an denen Arendt selbst die Tätigkeiten und deren Sphären vermischt, sind keine Selbstwidersprüche oder Beiläufigkeiten (so Pullich: Arendt, S. 12, FN 15), sondern setzen diese Grundeinsicht um; siehe VA, 111, 131, 147 ff., 163, 174 f., 259, 309; vgl. dies.: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. v. Ursula Ludz. Vorwort v. Kurt Sontheimer, Neuausgabe, München/Zürich 2003 (erstmals 1993), S. 15 [= WP]; Hannah Arendt: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, in: dies: Essays in Understanding. 1930–1954, hg. v. Jerome Kohn, New York u. a. 1994, S. 428–447, hier S. 435. 12
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schen Begriffen für dieses Zusammenleben sei deshalb der Kritik ausgesetzt, weil Arendt ontologische und historische Elemente vermische. Nordmanns Vorschlag ist der, diese Spannung als ein Bollwerk gegen die moderne Versuchung anzusehen, aus der plural verfassten Wirklichkeit in die Eindeutigkeit totaler Ideen und eben darum zerstörerischer Ansprüche auf Deutungshoheit zu flüchten. Diese Idee lässt sich auch auf Arendts Denkstil im Ganzen ausweiten. Ihre Vermischung von handlungstheoretischen/anthropologischen und historischen/zeitdiagnostischen Elementen in der Profilierung ihrer Begriffe ist so zu verstehen, dass ihre historischen Anleihen zur systematischen Präzisierung anerkennen, dass wir uns der Wirklichkeit im Sinne der Pluralität immer nur von einer Seite her nähern können und unsere Perspektive durch die anderer Menschen immer ergänzt, berichtigt oder widerlegt wird. Die häufig unverstandenen Dichotomien Arendts sind Vorschläge, die eine Dimension unter anderen Dimensionen der Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein rufen sollen oder – wie es Benhabib sagt – die »soziale und politische Phänomene in einem ganz anderen« als dem gewohnten Licht zeigen. 14 Aus diesem beständigen Wechsel zwischen einer politischen, zeitdiagnostischen und philosophischen Perspektive ergeben sich interpretatorische Schwierigkeiten, zu deren Lösung Hans-Peter Krügers Aufschlüsselung der Einflüsse philosophischer Teildisziplinen in Arendts Denkstil als Erweiterung von Nordmanns Vorschlägen hinzuzuziehen ist. Denn Arendts philosophischer Zugang zu den Phänomenen und ihre anschließende Begriffsbildung ist eine spezifische Verbindung von Phänomenologie, Existenzialismus als Hermeneutik und Philosophischer Anthropologie. Deren, wie ich meine, nachgeordnete Verschränkung mit den zeitdiagnostischen und historischen Einflüssen, muss in dieses Bild Krügers eingezeichnet werden, das wie jenes Nordmanns behilflich ist, Arendts Schriften »besser interpretieren und methodisch kontrollieren zu können.« 15 Jene Schwierigkeiten lassen sich an Arendts Begriff des öffent14 Benhabib: Arendt, S. 200; vgl. ebd., S. II; Ingeborg Nordmann: How to write about totalitarianism. Entwicklung eines Konzeptes, das Fragen offenlegt, in: Hannah Arendt: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, hg. v. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, Dresden 1998, S. 53–68, hier S. 61–64. 15 Hans-Peter Krüger: Die condition humaine des Abendlandes. Philosophische Anthropologie in Hannah Arendts Spätwerk, in: DZPh 55 (2007), S. 605–626, hier S. 606–612, Zitat S. 608.
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lichen Raumes aufzeigen, auch weil so die Möglichkeit eines nichtpolitischen Handelns erörtert werden kann im Unterschied zu Arendts vermeintlich strikter Zuordnung eines politischen Handelns zum öffentlich-politischen Raum. Denn auch bei der »Lokalisierung der Tätigkeiten« (VA, 89) ist der »besinnliche« Charakter ihrer Kategorien in Rechnung zu stellen, ohne den Benhabibs Frage, unter welchen Bedingungen man so deutlich zwischen Herstellen, Arbeiten und Handeln unterscheiden könne, in die Irre führte und nur ein weiteres Mal die wenig überzeugende Ansicht wiederholte, Arendt verfechte eine klare Zuordnung des definitionsgemäß politischen Handelns zur öffentlichen Sphäre. 16 Im Unterschied dazu und im Einklang mit den vorangegangenen Überlegungen sind auch die folgenden Ortsbestimmungen der Tätigkeiten begriffliche Unterscheidungen in dem Bewusstsein, dass Begriffe hinter der Wirklichkeit zurückbleiben und ihren Zweck in der Anleitung unseres Nachdenkens über die Phänomene haben. Der beständige Hinweis auf solches Zurückbleiben von Arendts Begriffen verrät daher im Allgemeinen mehr Unverständnis für das Wesen von Begriffen und im Besonderen für Arendts Verwendungsweise derselben, als dass damit schon über deren Brauchbarkeit entschieden wäre. 17 Der Raum, der zwischen handelnden Menschen entsteht, ist im Denken Arendts nicht notwendig ein öffentlicher Raum des politischen Handelns. Erstens spricht der Begriff des Öffentlichen von all dem, »was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist […]. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet inSiehe Benhabib: Arendt, S. 209. Vgl. Rahel Jaeggis Kritik an denen, die Arendt eine simple Dichotomie des Sozialen und Politischen vorwerfen, die ganz auf der Linie von Arendts »besinnlichen« Kategorien argumentiert; dies.: Die im Dunkeln sieht man nicht: Hannah Arendts Theorie der Politisierung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Arendt, S. 214–250. 17 Ein Paradebeispiel für die verbreiteten Schwierigkeiten, mit Arendts Denkstil umzugehen, ist der Historiker Eric J. Hobsbawm. Er gesteht ihr zwar Intelligenz, Belesenheit und gelegentlich durchdringende Einsichten zu, verweist dieselben aber in den Bereich sozialer Prophetie; siehe ders.: Hannah Arendt über die Revolution, in: Adelbert Reif (Hg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien u. a. 1979, S. 263–271; vgl. dagegen den von Philosophen wie Historikern leider meist übersehenen Aufsatz von Ernst Schulin über Arendts »besondere Art, Geschichtsschreiberin zu sein«; ders.: Hannah Arendt als Historikerin, in: ders.: Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne. Frankfurt/Main u. a. 1997, S. 192–211, hier S. 197. 16
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nerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt.« (VA, 62) Unser Bewusstsein, in einer mit anderen geteilten Welt zu leben, hängt von einem treffender Erscheinungsraum genannten Raum ab, der immer dort »entsteht, wo […] Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet und organisiert wird.« (VA, 251) Dieser Erscheinungsraum ist von zweifacher Bedeutung, weil er den Menschen den Raum bietet, in dem sie einander begegnen können, und weil er darin deren gemeinsame Welt ist. Er ist keinesfalls gleichbedeutend oder gleichumfänglich mit dem zweiten Begriff des Öffentlichen bei Arendt, nämlich dem Öffentlichen im engeren politischen und institutionellen Sinne. Dieser Begriff des Öffentlichen richtet den Blick auf »die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen.« (VA, 65) Anders als der Erscheinungsraum ist der eigentlich politische oder öffentliche Raum immer von historischen Entstehungsbedingungen und rechtlichen Institutionalisierungen abhängig, wie es Arendts Hinweis auf die Staatsgründungen und -formen zu verstehen gibt. 18 Der Erscheinungsraum umfasst daher den öffentlichen Bereich und ist diesem gegenüber ein eigenständiger Bereich. Der Stempel »Wirklichkeitsersatz« (VA, 74), den Arendt dem Privaten in griechischer Manier aufdrückt, ist schon deswegen unpassend und wird 18 Dana R. Villa hat gegen Arendts Begriff der Pluralität eingewandt, dass sie eine unzulässige Verbindung des privaten mit dem politischen Ethos etabliere. Denn sie setze nicht nur eine öffentlich-politische Welt zwischen Menschen voraus, sondern auch eine individuelle Leidenschaft für die öffentliche Sache, für die Politik. Villa schließt hier den öffentlichen Raum und die anthropologische Bedingung der Pluralität miteinander kurz, ohne den Unterschied zwischen öffentlichem und Erscheinungsraum hinreichend zu beachten. Die Pluralität ist die Ermöglichungsbedingung des öffentlichen wie des privaten Raumes. Und erst in ihnen (und nicht in der Anthropologie) hat Arendts persönliche Idee vom guten Leben, das sich der öffentliche Sache und der Freiheit zu verschreiben habe, seinen systematischen Ort. Deshalb lässt ihr Begriff des (öffentlichen oder privaten) Erscheinungsraumes, anders als Villa behauptet, auch Raum »for the recognition of genuine (and deep seated) moral pluralism« und »the fragmentary and divided character of our public world, the depth of moral disagreement and the divergence of the various tables of values within it«; siehe ders.: Arendt, Heidegger, and the Tradition, in: Social Research 74 (2007), S. 983–1002, hier S. 999–1001, Zitate S. 1000, 1001.
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umso fraglicher, weil der Begriff des Privaten keine Begründung für, sondern die These selbst von der Minderwertigkeit des Häuslichen und Familiären ist. Deshalb wird die Behauptung, das Leben im oikos sei ein Zustand der Entbehrung, von Arendt selbst im Sinne des römischen Korrektivs griechischer Einseitigkeiten durch einen nichtprivativen Begriff des Privaten in das rechte Licht gesetzt: »Der Mensch aber ist ein handelndes Wesen nicht nur im öffentlich-politischen, sondern bereits in seinem Privatleben«. (ZVZ, 74) 19 Was uns zu eigen ist, ist unser angestammter Platz in der Welt und der Ort, »in dessen Obhut Menschen vor dem Licht des Öffentlichen geschützt geboren werden und sterben« (VA, 77), der »die andere Seite des Öffentlichen« (VA, 79) ist und der deswegen durch »eine ›Gesetzesmauer‹« geschützt werden musste. Was sich hinter dieser Mauer verbirgt, ist »eine Art Niemandsland, das jeden, der überhaupt ein Jemand war, umschloß und einhegte.« (VA, 78) Man kann mit Arendt das Handeln und seine fundamentale Bedeutung für die Personalität von Menschen auch im Bereich des Privaten ansiedeln und so aus dem Gefängnis der Öffentlichkeit lösen, wenn man nicht über den kategorialen Rahmen der Vita activa hinwegliest. In der Vita activa bleibt die Einsicht in den privaten Charakter des Handelns zwar ohne die ihr angemessene und notwendige Ausführung, was der verbreiteten Engführung des Handelns auf das politische Handeln in der Arendt-Forschung Vorschub geleistet hat, aber spätestens seit Benhabibs Standardwerk als erledigt gelten darf. Dementsprechend ist es die Aufgabe, Möglichkeiten des Handelns in und aus dem nicht-privativen Privaten heraus aufzuzeigen, weil das Handeln nicht an den öffentlichen Raum gekettet ist, sondern »in vertraulich-privaten Bereichen ebenso erfolgen« kann. 20 An Karl Marx hatte Arendt unter anderem kritisiert, dass er der Arbeit die Fähigkeit zuschreibe, die sie dem Herstellen zuspricht: die Erschaffung der dauerhaften Welt der Dinge, die zu einer menschengemachten Bedingung des Lebens wird. Unabhängig vom Ertrag dieser Thesen wirft das die Frage auf, inwiefern ihre Unterscheidung zwischen Arbeiten und Herstellen wirklich zu zwei Grundtätigkeiten führt. Die Vita activa führt schließlich in Übereinstimmung mit den analytischen (und gerade nicht empirischen) Ansprüchen ihrer traVgl. ÜB, 102; ZVZ, 125–126; dies.: On the Nature of Totalitarianism: An Essay in Understanding, in: Essays in Understanding, S. 328–360, hier S. 333–335. 20 Benhabib: Arendt, S. 204. 19
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genden Kategorien in extenso vor, wie in der industriegesellschaftlichen Moderne das Herstellen den Charakter des Arbeitens annimmt. So lassen sich nur wenige Tätigkeiten im starken arendtschen Sinn als Arbeit bezeichnen: die tägliche Sorge um den Erhalt des Körpers, die Pflege des Wohnraums und – das Beispiel aus Vita activa selbst – die Erziehung. Allerdings sind Eltern in allem, was sie im Laufe der Kindheit und Jugend ihrer Kinder tun, darauf aus, ihnen Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie sich selbständig in der Welt zurechtfinden können. Der ureigene Raum der Familie, das Zuhause, das die Eltern ihren Kindern bieten, ist die Voraussetzung dafür, dass sich diese neuen Menschen überhaupt handelnd in die Welt einschalten und sich als unverwechselbare Personen erweisen können. Im Privaten hat also ein Handeln seinen Ort, das Personen enthüllt – die erziehenden Eltern genauso wie die erzogenen Kinder – und sich unmittelbar auf die Welt der Dinge bezieht. »In dem Kind […] meldet sich bereits wieder die Welt; es zeigt an, daß sie [die Eltern, T. D.] in die bestehende Welt ein neues Weltliches einzuschalten im Begriff stehen.« (VA, 309) Die Erziehung bereitet die Kinder für die Welt vor und ist in einem ausgezeichneten Sinne ein Handeln im und für das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA, 225), weil es die Welt auch vor dem ungezügelten Eintritt der Neuankömmlinge schützt: Weil das Kind gegen die Welt geschützt werden muß, ist sein ihm angestammter Platz die Familie […]. Diese vier Wände, in denen sich das Familien- und Privatleben der Menschen abspielt, bilden einen Schutz gegen die Welt, und zwar gerade gegen die Öffentlichkeit der Welt. Sie umgrenzen einen Raum des Verborgenen, ohne den kein Lebendiges gedeihen kann. Dies gilt nicht nur für kindliches, sondern überhaupt für menschliches Leben. Wo immer es der Welt ohne den Schutz des Privaten und Geborgenen ständig ausgesetzt ist, geht es gerade in seiner Lebendigkeit zugrunde. 21
Erziehung ist daher ein Beispiel für Handeln, das sich im Privaten abspielt und dabei von welterhaltender und politische Öffentlichkeit ermöglichender Bedeutung ist. Kindererziehung gleicht daher nicht dem Herstellen, sondern besteht in dem gemeinsamen Handeln und Sprechen der Eltern mit ihren Kindern, die erst dadurch zu den Personen werden, die sich im öffentlichen und politischen Raum bewegen können. Dass das Wer-einer-ist keineswegs nur im Öffentlichen, 21 Hannah Arendt: Die Krise in der Erziehung, Bremen 1958, wieder abgedruckt in: ZVZ, S. 255–276, hier S. 267 [= ZVZ, 255–276].
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sondern zeitlich wie sachlich grundlegend in der »Geborgenheit des Verborgenen und Privaten« (ZVZ, 269) entsteht, bleibt lebenslang die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich in den Lauf der Welt einschalten können (vgl. ZVZ, 267). Ein zweiter Weg zu einem privaten Handeln bei Arendt eröffnet sich in den von Ludz unter dem Titel Was ist Politik zusammengestellten Fragmenten, insbesondere aus dem Fragment 4 (WP, 181–185). Das Metaphernpaar von den Wüsten und Oasen hat Arendt schon in den Planungen für eine Einführung in die Politik bedacht und in einem ersten Anlauf die Politik als Sorge um die gemeinsame Welt zwischen Menschen, die Verwüstung als deren Zerstörung und die Oasen als die Orte beschrieben, in denen die Kräfte zu Hause sind, die auf den Erhalt der Welt ausgerichtet sind, aber weder Teil der Welt noch der Wüste sind (WP, 192). In dieser Notiz sind die Oasen die Orte, von denen aus die Wüste erst bekämpft werden kann (WP, 194). 22 Das Fragment 4 (WP, 181–185), das die Conclusion zu Arendts Vorlesung History of Political Theory an der University of California at Berkeley im Frühjahr 1955 ist und das Ludz als möglichen Schluss der geplanten Einführung in die Politik präsentiert, wird in dieser Sache deutlicher. Wenn die Menschen ihre gemeinsame Welt nicht schützen, dann verkümmert das Zwischen, die sie verbindenden gemeinsamen Angelegenheiten, und die Welt wird der Verwüstung preisgegeben. Leiden und Handeln sind die menschlichen Fähigkeiten, »die Wüste (nicht uns selbst) geduldig zu verändern« (WP, 182), im Unterschied zu den vielen Möglichkeiten, sich an das Leben in der verwüsteten Welt anzupassen. Die Oasen, die den Menschen erst die Kraft zur Veränderung der Wüste verleihen, »sind die lebensspendenden Brunnen, die uns befähigen, in der Wüste zu leben, ohne uns mit ihr zu versöhnen.« (WP, 183) Wenn wir dies in Zusammenhang bringen mit den obigen Erläuterungen zum privaten Handeln der Erziehung, wird analog einsichtig, dass das, was in den Oasen geschieht und wofür Arendt hier die Beispiele Kunst, Philosophie und unmittelbare (nicht politische) 22 Das Bild von der Verwüstung der Welt kennzeichnet bei Arendt schon in den Elementen und Ursprüngen die Zerstörung des menschlichen Miteinanders durch das eiserne Band des totalitären Terrors und wird in diesem Sinne in Was ist Politik ausgeweitet auf die verwüstende Wirkung aller Ersetzung von Politik durch Gewalt, von Handeln durch Herstellen und Zerstören; siehe WP, 121–124; EU, 712, 727–730.
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Zwischenmenschlichkeit nennt, von politischer Bedeutung ist. Zwar trennt sie zwischen der Politik und den Oasen (WP, 182 f). Aber die Fähigkeiten zur Bewahrung der gemeinsamen Welt verdanken wir den Oasen, dem privaten Bereich, der darüber entscheidet, wer wir sind und mit welchen Gaben wir uns in den Gang der Welt einschalten können, und der in keinem Gegensatz zum Handlungsvermögen bei Arendt stehen kann, wenn unsere Lebensgeschichten als Summe unserer Worte und Taten verstanden werden sollen. Im Ergebnis ist in Arendts Handlungstheorie zwischen einem Handeln im Bereich des privaten und einem im Bereich des öffentlichen Lebensvollzuges zu unterscheiden. Sie selbst hat sich um die exakte Bezogenheit dieser Dimensionen des Handelns kaum geschert, sondern mal hier und mal dort den Akzent gesetzt. Aber analog zur Differenz von Erscheinungsraum und öffentlichem Raum ist das politische ein Unterfall des allgemeinen Handelns. Als Bürger ist nicht jeder Mensch in der Lage, seine grundsätzliche Fähigkeit zu handeln in die Tat umzusetzen. Aber als Mensch besitzen alle Menschen gleichermaßen die Freiheit, eine Sache zu beginnen. »Jeder […] kann jederzeit die andern durch spontanes Handeln überraschen« 23 und sich als ein »Jemand« im Privaten und gegebenenfalls auch im Öffentlichen erweisen. Unsere Lebensgeschichten als das, was wir zwischen Geburt und Tod tun und erleben, wären keine Lebensgeschichten, wenn sie um die Dimension des Privaten beschnitten wären. Denn als Ort der grundlegenden Bedingtheit von Natalität/Mortalität hat alles, was hier geschieht, einen inneren Bezug zum Handeln, dessen Ergebnis die Lebensgeschichten sind. All das wäre als bloßes Arbeiten oder Herstellen missverstanden. Im oikos wird nicht nur geboren und gestorben, sondern wir offenbaren und gestalten in diesem Lebensbereich, wer wir sind, durch die Geschichten mit anderen Menschen – in Freundschaft, Liebe, Elternschaft und jeder anderen Form von Geselligkeit. In der Privatheit wird vorgezeichnet, welcher Mensch wir werden, und in ihr liegt der Grund derjenigen Verschiedenheit in der Pluralität, ohne die es kein Handeln und Sprechen gäbe. In diesem Licht sind die Versuche Arendts zu lesen, die drei Tätigkeiten der Vita activa zu lokalisieren. Es muss immer mit be23 Brunkhorst: Arendt, S. 136. Siehe neben Benhabib für dieselbe Ansicht Margarete Durst: On the Concept of Birth in Hannah Arendt, in: Phenomenological Inquiry 25 (2001), S. 72–84, hier S. 74; Pullich: Arendt, S. 11, FN 5.
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dacht werden, dass das Handeln nicht nur und ausschließlich direkt zwischen Menschen stattfindet, sondern auch durch die Dinge der gemeinsamen Welt vermittelt sein kann, woraus wiederum folgt, dass es nicht eindeutig dem Privaten, dem Gesellschaftlichen oder dem Politischen zuordenbar ist, sondern in allen drei Bereichen möglich ist und auf alle drei Bereiche Bezug nimmt. Die Kategorien Arendts wären missverstanden, hypostasierte man sie. Die Besinnung auf die Bedingungen menschlichen Lebens ist eine in analytischer Absicht, die der dominierenden Fortschrittseine Verlustperspektive auf die Moderne entgegensetzt, ohne in billigen Eskapismus zu verfallen. Weil die Fähigkeit des Menschen zu handeln und damit der identitäts- und freiheitsverbürgende Charakter des Handelns ebenso wie seine besondere Zwischenmenschlichkeit für Arendt in der Moderne auf dem Spiel stehen, will sie sich an Zeiten wenden, in denen der besondere Charakter des Handelns leichter zu erkennen und zu verstehen ist. Der dichotomische Denkstil und der Bezug auf die griechische Polis dienen der Schärfung des analytischen Bewusstseins und kommen gerade nicht mit weltfremder Polis-Romantik überein und sollen schon gar nicht eine adäquate Beschreibung der modernen Bedingungen für das politische Geschäft sein. Davon ist in der Vita activa nicht die Rede. Sie ist ein normativkritischer Anstoß zur Suche nach Möglichkeiten der Bewahrung jener zwischenmenschlichen Qualitäten des Handelns in dem Wissen davon, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen andere als die der Polis sind. Die begrifflichen und nicht empirischen Unterscheidungen in den ersten beiden Kapiteln der Vita activa dienen der Verbesserung des analytischen Instrumentariums, umso wiederum dem praktischen Anliegen auf die Sprünge zu helfen, dem politischen Handeln nicht nur in der politischen Philosophie, sondern auch in der Politik selbst neuen Raum zu eröffnen. 24 Arendts eigene Auskunft über die methodischen Absichten ihres Zugriffs auf die Antike sollte daher in der Interpretation zur Geltung gebracht werden: Ich möchte nun für die Zwecke dieser Überlegungen von diesen […] typisch Benhabib hat gezeigt, dass Arendts Versuche, ihr Kategoriengerüst auf ihre Gegenwart anzuwenden, nicht gelungen sind, womit nicht über den analytischen Nutzen jener Besinnung entschieden ist, sondern nur die Unbrauchbarkeit von – manchen, sicher nicht allen – zeitdiagnostischen Anwendungen durch Arendt selbst nachgewiesen ist; vgl. Benhabib: Arendt, S. 209–264.
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modernen Assoziationen erst einmal absehen und vorschlagen, uns eines anderen geschichtlichen Modells zu bedienen. Ohne […] solche Modelle kann die politische Wissenschaft nicht arbeiten, […] weil wir nur durch die Zuhilfenahme der in der Geschichte niedergeschlagenen Erfahrungen […] unseren eigenen, immer begrenzten Erfahrungshorizont […] erweitern können […]. Mein sachlicher Grund nun, vorzuschlagen, uns aus der Neuzeit zu entfernen, ist einfach, […] daß bestimmte Phänomene und Probleme elementarer Art sich in diesem geschichtlichen Horizont [dem der Polis, T. D.] klarer zeigen und einfacher stellen lassen als zu irgendeiner späteren Zeit. 25
Bisweilen geht in der Forschung dieser propädeutische Charakter von Arendts Begriffen verloren. Michael Th. Greven behauptet etwa, dass sie für die drei Tätigkeitsweisen je einen ontologischen Seinsbereich unterstelle und so an der Überschneidung dieser Tätigkeiten »in der modernen politischen Gesellschaft« scheitere, weil die jeweils beiden anderen Grundbedingungen und -tätigkeiten unberücksichtigt blieben. 26 Diese Kritik verfängt nicht, weil sie den kategorialen Rahmen und die Auskünfte über den analytischen Anspruch der Vita activa nicht berücksichtigt. Die Polis ist ein »Glücksfall«, weil sie »eine kurze Rückerinnerung an das, was mit dem Begriff des Politischen ursprünglich verbunden war,« (WP, 41) ermöglicht und von modernen Vorurteilen befreien kann. Dabei gilt die »volle Erfahrung des Politischen« (WP, 42) nur für das Perikleische Zeitalter, dessen unwiederbringliche Verlorenheit Arendt in der »Gewißheit« reflektiert, »daß dieser Höhepunkt der Polis doch auch bereits der Anfang vom Ende war.« (VA, 260; vgl. WP, 46–49) Diese Kennzeichnung erhellt den paradigmatischen Bezug Arendts auf die Polis, der »in deutlichem Kontrast zu einer nicht selten in der Arendt-Diskussion anzutreffenden – und dann meistens der Autorin kritisch angelasteten – stereotypen Polisvorstellung steht« 27 und den als Polis-Romantik ab25 Hannah Arendt: Kultur und Politik, in: Merkur 12 (1958), Nr. 12, S. 1122–145, wieder abgedruckt in: ZVZ, S. 277–302, hier S. 282, vgl. 283. Siehe als weitere Belege für den heuristischen Wert der Vergangenheit bei Arendt EU, 17–24, 215–216; WP, 42 f. Vgl. dazu unübertroffen Ursula Ludz: Kommentar der Herausgeberin, in: WP, S. 137– 181. 26 Siehe Michael Th. Greven: Hannah Arendts Handlungsbegriff zwischen Max Webers Idealtypus und Martin Heideggers Existenzialontologie, in: Lothar Probst/Winfried Thaa (Hg.): Die Entdeckung der Freiheit. Amerika im Denken Hannah Arendts, Berlin 2003, S. 119–139, hier S. 122–125, Zitate S. 124 und 125. 27 Ludz: Kommentar, S. 157. Siehe die wenigen Ausnahmen einer nicht-hypostasierenden Lesart Arendtscher Kategorien: Benhabib: Arendt, S. 223; Maurizio Passerin d’Entrèves: Freedom, Plurality, Solidarity: Hannah Arendt’s Theory of Action, in: PSC 15
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zutun auf ein grundlegendes Missverständnis über die Aufgabe der Vita activa verweist. Der Grund für Grevens und anderer Missverständnis mag die bewusste oder untergründige Annahme sein, in der Vita activa liege Arendts politische Philosophie vor. Dass dies nicht der Fall ist, legen schon die Einleitung und die ersten Kapitel nahe und ist darüber hinaus von Ludz erhärtet worden. Ihr Kommentar zu Was ist Politik bettet das Buch in die Werkgeschichte ein und zeigt, dass Arendt sich über den vorbereitenden Charakter der Vita activa für eine systematische Untersuchung des Politischen und des politischen Handelns in der Öffentlichkeit im Klaren war. Seit den Elementen und Ursprüngen verfolgte sie den Plan, eine Abhandlung über das Politische zu schreiben und richtete ihr Forschungsinteresse dabei auf den Herrschafts- und den Arbeitsbegriff. Hinter dem »Buch über politische Theorien« mit dem geplanten Titel »›Amor Mundi‹« 28 steckten Arbeitsvorhaben, die in den folgenden Jahren als Vita activa, Between Past and Future 29 und On Revolution 30 veröffentlicht wurden und zu denen auch Teile der in Was ist Politik versammelten Fragmente gehören sollten. Die Rolle der Vita activa ist dabei die eines Prolegomenon »in order to arrive at an adequate understanding of the nature of action« und »to separate action conceptually from other human activities with which it is usually confounded, such as labor and work.« (WP, 200) Erst nachdem Arendt sich über die Unterschiedlichkeit der drei Tätigkeitsweisen Rechenschaften abgelegt hatte, sah sie sich in der Lage, die Einführung in die Politik mit der zweifachen Absicht zu schreiben, eine kritische Geschichte des politischen Denkens vorzulegen wie auch eine more systematic examination of those spheres of the world and human life which we properly call political, that is, of the public realm on the one hand, and of action on the other. Here I shall be chiefly concerned with the various modi of human plurality and the institutions which correspond to them. In
(1989), S. 317–350, hier S. 317; Reist: Praxis, S. 54–61; Villa: Arendt and Heidegger, S. 20 f. 28 So Arendt in einem Brief an Karl Jaspers vom 6. August 1955; siehe Hannah Arendt – Karl Jaspers: Briefwechsel 1926–1969, hg. v. Lotte Köhler und Hans Saner, München/ Zürich 1985, S. 301 [= HA/KJ]. 29 Hannah Arendt: Between Past and Future. Eight Excercises in Political Thought, revised edition including two additional essays, New York 1968, dt. ZVZ. 30 Hannah Arendt: On Revolution, New York 1963; vgl. die deutsche Übersetzung ÜR.
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other words, I shall undertake a re-examination of the old question of forms of government, their principles and their modes of action. (WP, 201) 31
Was Arendt unter konkreten, politischen Handlungen verstanden hat, ist ihrer Auskunft zufolge nicht in der Vita activa zu erfahren, sondern war einer anderen Abhandlung vorbehalten. Das sollte uns nicht abhalten, in der Vita activa nach konkreten Bestimmungen dieses Begriffes zu suchen. Aber diese Arbeit kann nicht zu einem Begriff politischen Handelns führen, der die wirtschaftlichen, ordnungspolitischen und sozialen Bedingungen der industriegesellschaftlichen Moderne abbildet und zugleich interpretiert. Dieser Vorbehalt gilt auch für die folgenden Bücher Zwischen Vergangenheit und Zukunft und Über die Revolution, für die ein Vergleich mit dem, was Arendt für ihre Einführung in die Politik plante, zeigt, was auch für die Vita activa gilt, dass sie nämlich »hinsichtlich der Politik und des Politischen eben tatsächlich nur ›Vorbemerkungen‹« enthalten. 32 Wenn im Folgenden also die Grundbegriffe und die beiden Schlusssteine der arendtschen Handlungstheorie dargestellt werden, dann in dem Wissen, dass es sich dabei um Begriffe handelt, die von Arendt verschüttet geglaubte Möglichkeiten des menschlichen Handlungsvermögens wieder verfügbar machen sollen, aber gerade nicht um einen vollständigen Aufweis dessen, was mit ihr politisches Handeln hätte genannt werden können. Durch die Schärfe des um dieser Absicht willen zugeschnittenen Argumentes darf man sich nicht ablenken lassen von dem Differenzierungsbewusstsein, das Arendt in der Festlegung des kategorialen Rahmens der Vita activa zeigt, also an der Stelle, an der sie die methodische wie inhaltliche Reichweite ihrer Ausführungen bestimmt.
31 Siehe die verkürzte Darstellung von Arendts analytischen Unterscheidungen der Tätigkeitsweisen und ihrer Gegenstandsbereiche vor allem bei Hannah Fenichel Pitkin: The Attack of the Blob. Hannah Arendt’s Concept of the Social, Chicago/London 1998; und Canovan: Arendt, bes. S. 110–122; vgl. Harald Bluhm: Handeln und Verantwortung. Hannah Arendts Konzept politischen Denkens, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2001, S. 1–17, hier S. 1, 4; Collin: Birth, S. 99, 103; Dossa: The Public Realm; Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 38–41; Vowinckel: Geschichtsbegriff, S. 157. 32 Ludz: Kommentar, S. 150.
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In den Rahmen der Bedingtheiten des menschlichen Lebens zeichnet der zweite Abschnitt der vorbereitenden Überlegungen die Grundbegriffe aus Arendts Handlungstheorie ein und ebnet den Weg für die Kennzeichnung von Versprechen und Verzeihen als Schlusssteine ihrer Handlungstheorie, als Kulminationspunkte der Vita activa und als höchste Formen zwischenmenschlichen Handelns. Es sind drei Aspekte, die Arendt zur Präzisierung ihrer Auffassung vom Handeln nennt. Der erste Gesichtspunkt dieser Zeichnung von Arendts Handlungsbegriff ist das sogenannte Zwischen, das keine bloße Weiterentwicklung des Erscheinungsraumes und des politischen oder öffentlichen Raumes ist. Der Erscheinungsraum ist nicht notwendig ein politischer Raum, sondern er entsteht immer dann, wenn etwas vor einer Allgemeinheit und für alle wahrnehmbar zum Gegenstand des gemeinsamen Sprechens und Handelns wird, und ist in dieser Eigenschaft unabhängig von seiner rechtlichen und politischen Institutionalisierung. Der Begriff des Zwischen hebt das Worüber und die Art und Weise hervor, wie Menschen in den verschiedenen Räumen, in denen sie einander begegnen, miteinander sprechen und handeln. Einerseits beziehen sich die Worte und Taten der Menschen immer auf die gegenständliche Welt der Dinge, die das Ergebnis des Herstellens ist. In diesem Zwischenraum verfolgen die Menschen ihre Interessen, verhandeln über »weltlich-nachweisbar Gegebenes« und treffen Vereinbarungen zu den fraglichen Angelegenheiten, die sie »miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden.« (VA, 224) Andererseits aber – und dies ist der entscheidende Gedanke gegen alle materialistischen Engführungen des menschlichen Miteinanders – schiebt sich über die vermittelnde Welt der hergestellten Dinge ein zweites Zwischen, das sich über die Gegenstände hinweg und durch die konkreten und sachgebundenen Verhandlungen hindurch direkt an die Mitmenschen richtet. In allem Handeln geben wir immer Aufschluss darüber, wer es ist, der handelt. Dass dieses unmittelbare Miteinander der Handelnden nicht dinglich fassbar ist, macht es nicht weniger wirklich, weshalb Arendt zur Kennzeichnung seiner »physischen Ungreifbarkeit« zur »Metapher des Gewebes« greift und dieses zweite Zwischen »das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA, 225) nennt. Sie spielt 62
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diese beiden Zwischen nicht gegeneinander aus, sondern bindet das Bezugsgewebe an das Worüber des Handelns und Sprechens. Aber das Gewebe lässt sich genauso wenig als bloßes Schmuckwerk auf sein materielles Substrat der Dingwelt zurückführen, weil man so die Wirklichkeit um deren unhintergehbaren Aspekt verkürzt, »daß die Enthüllung der Person allem, auch dem zielbewußtesten Handeln innewohnt und für den Ablauf der Handlung bestimmte Konsequenzen hat, die weder durch Motive noch durch Ziele vorbestimmt sind« (VA, 226), oder anders gesagt, »daß Menschen, auch wenn sie nur ihre Interessen verfolgen und bestimmte weltliche Ziele im Auge haben, gar nicht anders zu können, als sich selbst in ihrer personalen Einmaligkeit zum Vorschein und mit ins Spiel zu bringen.« (VA, 225 f.) Das Worüber des Bezugsgewebes sind nicht nur die verhandelten Dinge und Sachen, sondern auch und gerade die handelnden Personen selbst. Der zweite Grundbegriff in Arendts Handlungstheorie ist das Wer, die Person. In der Fähigkeit des Anfangen-Könnens liegt der Grund menschlicher Freiheit und der persönlichen Identität beschlossen. Wer ein Mensch ist, sehen wir an seinen Taten und hören wir in seinen Worten. Denn das Sprechen fügt das Handeln in einen Zusammenhang ein, der zwar rechtfertigenden Charakter hat, aber auch jene Beziehung zwischen Menschen etabliert, die Arendt das Bezugsgewebe nennt. Stumme Taten bleiben unverständlich und gleichen mehr den »vollendete[n] Tatsachen« (VA, 218). Das Sprechen mildert die bestürzende Eindeutigkeit der Taten und verlagert die Aufmerksamkeit auf den, der sich durch sie als dieser und kein anderer zu Wort meldet: »Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils […] die personale Einzigartigkeit ihres Wesens«, die Arendt nicht mit den »Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten« verwechselt wissen will. Denn »das eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist« (VA, 219) zeigt sich in allem, was wir tun und sagen, ohne dass wir darüber entscheiden könnten, ob wir unser Wer anderen Menschen offenbaren wollen oder nicht. Dieses unverfügbare Wer hängt der Person als »eine bleibende Befindlichkeit« (VA, 241) an, die zu Lebzeiten für die Mitmenschen sichtbar wird, aber doch nicht greifbar in dem Sinne, dass sich »das Wesen einer Person« (VA, 242) konkret angeben ließe. Was dieses Leben besagt und wer es war, der es gelebt hat, lässt sich nur dann sagen, wenn dieses Leben nicht mehr den durchgreifenden Veränderungen und überraschenden Wendungen im Bezugsgewebe ausgesetzt ist. A
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Dass wir es nicht beherrschen oder verbergen können, unterscheidet »das Wer-einer-ist« (VA, 218) von dem Was-einer-ist, womit die Summe der Talente, Fähigkeiten, Gaben und Eigenschaften benannt ist. Auf dieses Was können wir durch Übung und Vervollkommnung gewissen Einfluss nehmen, aber in Bezug auf das Wer bleibt uns dies verwehrt. Zu seiner Unverfügbarkeit gehört vielmehr noch, dass es sich unseren Mitmenschen deutlicher zeigt als uns selbst, die wir von uns selbst nur durch die Vermittlung dieser anderen wissen. Alles Sprechen über uns selbst ist von dieser Unmöglichkeit der Selbstdurchsichtigkeit bestimmt. Nur können wir dem Sprechen der anderen über uns nicht das Siegel absoluter Zuverlässigkeit verleihen, weil Arendts Unterscheidung zwischen dem Wer- und dem Was-einer-ist ihren Grund in einer Eigenart der »Aufschluß-gebende[n] Qualität des Sprechens« (VA, 220) hat. Die Sprache bringt zwar die sonst stummen Handlungen zum Sprechen, aber jedes Mal, wenn sie sich ans Werk macht, bleibt sie an den Eigenschaften der betreffenden Person hängen. Sie schildert lauter Dinge, die dieser Mensch mit anderen teilt, und stößt zu seiner Einmaligkeit nicht vor. Sie beschreibt »Charaktertypen«, die wie »eine Schutzschicht« die »Eindeutigkeit des Dieser-und-niemand-anders-Seins« (VA, 223) mindert. Wenn die Sprache sich dem Wer nur annähern kann und vor seiner Vielschichtigkeit versagt, dann können wir Menschen über das Wer-einer-ist nicht wie mit den Sachen aus der Welt der Dinge verfahren, die wir herstellen, zerstören und damit beherrschen können. Mit dem Wesen unserer Person, die wir je sind, verhält es sich »wie mit den Sprüchen des delphischen Apoll, der […] ›weder sagt noch verbirgt, aber zeigt‹.« (VA, 223) Arendts Begriff der Personalität und die Enthüllung des Wer-einer-ist im Sprechen und Handeln ist ganz an den Handlungsvollzug gebunden. Das Handeln selbst ist der Ursprung der Person; oder in arendtscher Diktion: Es ist die »Geburt des Jemand« (VA, 217), die nicht ein angelegtes oder nur verborgenes Wesen verwirklicht oder ans Licht bringt. Das Wer-einer-ist fasst Arendt existentiell und nicht essentiell auf. Es ist das gelebte Leben selbst und nicht die sich in ihm möglicherweise ausdrückenden Gaben und Talente oder Schwächen, das die Person ausmacht. Arendts Subjekt ist kein selbstmächtiges und souveränes Subjekt, das über sich verfügen könnte, sondern die unverwechselbare Identität eines Menschen entsteht erst durch und in dem mit anderen geteilten Zwischen. Arendts Vorstellung des personalen Wer hat ihren Ort inner64
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halb einer Konzeption radikaler Intersubjektivität, 33 weil das Wer-einer-ist nicht das Resultat einer wie auch immer verstandenen Selbstverwirklichung ist, sondern sich »unwillkürlich« in allen unseren Taten und Worten »mitoffenbart« (VA, 219) und deshalb der Gewalt des handelnden Selbst entzogen ist: Das Personhafte entzieht sich der Verfügungsgewalt des Subjekts und […] ist sehr schwer zu fassen und gleicht […] jenem griechischen ›daimon‹ […], der jeden Menschen durch sein Leben begleitet, ihm aber immer nur über die Schultern guckt, so daß er von allen, die einem Menschen begegnen, eher gekannt werden kann als von ihm selbst. 34
Das »Versagen der Sprache« (VA, 223) vor dem Wer-einer-ist stellt der mangelnden Selbstdurchsichtigkeit eine Undurchschaubarkeit aufseiten derer hinzu, denen wir uns in Taten und Worten offenbaren. In die gemeinsam bewohnte Welt zieht daher durch das Handeln eine »Ungewißheit […] aller Angelegenheiten« ein, »die sich direkt im Miteinander der Menschen vollziehen« (VA, 223 f.). Nicht nur wir selbst wissen zu keiner Zeit anzugeben, wer wir sind, sondern auch unseren Mitmenschen ist es trotz der »Aufschluß-gebenden Qualität des Sprechens und Handelns« (VA, 220) nur annäherungsweise möglich, sich ein Bild von der sich im Miteinander offenbarenden Person zu machen. Das Handeln behält seinen enthüllenden Charakter, weil es im Unterschied zu den Eigenschaften seinen unvergleichlichen Sinn verlöre, bezöge es sich nicht auf diese und keine andere Person. Und jede Tat legt uns gewissermaßen auf ein So-Sein, auf ein So-und-nichtanders-gehandelt-Haben fest, das Teil unserer Lebensgeschichte ist. Aber wenn das Handeln als ein Neuanfang verstanden wird, dann ist 33 Arendts Universalismus, dass alle Menschen denselben Grundbedingungen unterworfen sind und der Tätigkeitsweisen fähig sind, führt auf den Gedanken, dass aus der Gleichheit in der Bedingtheit die moralische und politische Anerkennung des Anderen folgt. Sie hat gleichwohl die normativen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, die aus ihrer Anthropologie folgen, jenseits der Menschenrechte nicht zum Gegenstand eigener Überlegungen gemacht. Aber man kann angesichts der Grundbedingungen der Natalität und Pluralität, an die sich ihre Begriffe des Handelns und der Personalität anschließen, mit guten Gründen behaupten, dass ihre philosophische Anthropologie eine »Ethik radikaler Intersubjektivität« fordert, ohne die sich auch kein stimmiger Begriff arendtscher Personalität denken ließe; siehe Benhabib: Arendt, S. 301–307, Zitat S. 305; vgl. Jaeggi: Welt, S. 72–78; Passerin d’Entrèves: Freedom, S. 320–322. 34 Hannah Arendt: Laudatio auf Karl Jaspers, in: Reden zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1958, München 1958, S. 29–40, wieder abgedruckt in: dies.: Menschen in finsteren Zeiten, S. 83–92, hier S. 85.
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jede einzelne Handlung in der Lage, diesem So-Sein eine neue Richtung zu verleihen. Und weil wir über diese fortgesetzte Reihe von Enthüllungen nie zu einem gesicherten Wissen gelangen können und wir daher über uns selbst und unsere Mitmenschen niemals wie über Dinge verfügen können, kommt es zu jener Unsicherheit des Miteinanders, die nicht als Schaden, sondern als Gewinn zu verstehen ist. Denn auf diese Weise gilt jeder Mensch nicht als bereits abgeschlossene oder nur zu verwirklichende, sondern als offene Person, die sich nicht auf ein So-Sein und entsprechende Techniken der Handhabung festlegen lässt wie die Dinge des Herstellens und die Produkte des Arbeitens. Wenn seine Qualität des Zeigens auf die Person, die handelt und spricht, nicht mehr wahrgenommen wird, verkümmert das Handeln zum bloßen Mittel eines Zweckes und der Handelnde wird zu einer Sache unter anderen. Das wäre im Ergebnis nicht weniger als der Versuch, die grundsätzliche Ungewissheit in allem menschlichen Miteinander und die Offenheit der Person abzuschaffen (vgl. VA, 221 f.). Diese Verzweckung, die die Ersetzung des Handelns durch das Herstellen ist, findet genau dann statt, wenn Menschen für- und gegeneinander leben. Die »tätige und zuweilen sehr tatkräftige Güte« entfernt sich aus dem Miteinander in ein selbstloses Füreinander, so wie sich das auf den eigenen Vorteil bedachte Verbrechen in das Gegeneinander verabschiedet. Aber beide beharren auf der »Fremdheit« (VA, 220) des anderen Menschen. Was ihnen fehlt, ist der Mut, sich als Person zu offenbaren und sich in dem Miteinander zu halten und eine gemeinsame Geschichte mit anderen Menschen zu beginnen, auch wenn die Selbstoffenbarung nie aus dem Schatten der Ungewissheit treten kann. Verbrechen und Güte sind als Tun des Bösen und des Guten gerade deswegen für das Zusammenleben von Menschen ohne grundlegende Kraft, weil sie immer an sich selbst orientiert bleiben – ob es nun das »Selbstopfer« oder die »Selbstsucht« ist (VA, 220) – und den anderen Menschen nicht in den Blick nehmen. Beide brechen die gemeinsame Geschichte von Menschen ab oder beginnen sie erst gar nicht und scheitern auf ihre je eigene Art an der unaufhebbaren Ungewissheit, die das Leben von Menschen unter Menschen kennzeichnet. Der dritte Grundbegriff umfasst die einzelnen Geschichten wie die Lebensgeschichten, die mit Arendt als die Resultate des Handelns zu verstehen sind. Die Ohnmacht des Handelnden, der sich noch so sehr an der Sache orientieren mag, betrifft nicht nur die Enthüllung 66
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des Wer-einer-ist, sondern besteht auch in seiner Ohnmacht, wirkungsvollen Einfluss auf die Verwirklichung unserer Handlungsziele zu nehmen und Handlungsfolgen zu kontrollieren. Denn wer als Neuankömmling in die Welt gelangt und sich in Wort und Tat einen Namen macht oder wer einfach eine einzelne Handlung beginnt, kann nicht anders, als seinen Faden »in ein bereits vorgewebtes Muster« (VA, 226) zu schlagen. Jeder dieser Fäden verändert das Gewebe als Ganzes und jeden einzelnen Fäden, den er berührt, so wie er selbst in seinem Weg durch dieses Geflecht von vielen anderen Fäden beeinflusst wird. Die Menge der Absichten, die Menschen in diesem Netzwerk verfolgen, hat so die kaum überraschende Wirkung, dass kein Mensch mit einem erfolgreichen Ausgang für seine Handlungsziele rechnen darf. Jede Handlung, oder besser jeder Anfang, verstrickt sich in dieses Wirrwarr aus Anfängen, die gegen-, mit- oder nebeneinander her ihren Irrweg durch das Dickicht nehmen, in dem niemand wissen kann, was er tut, wenn er anfängt zu handeln. Was von den Handlungsanfängen in der Welt bleibt, sind nicht die Absichten oder die Motive, sondern die »gar nicht intendierten Geschichten« (VA, 226), die sich wie von selbst aus der Verstrickung des Handelns in das Bezugsgewebe ergeben. Die Geschichten entstehen einfach dadurch, dass ich handle und in meinen Handlungen Bezug nehme auf Geschehnisse und Ereignisse in meiner Lebenswelt. Die Geschichten »tragen uns mit sich fort«, 35 weil wir sie nicht steuern oder erzählen, sondern in unserem auch für uns selbst unwägbarem Handeln die Voraussetzung dafür schaffen, dass unseren Worte und Taten einmal als Geschichte erzählt werden können. Zu seinen Lebzeiten kann niemand die Summe seiner Worte und Taten und all die Geschichten, an denen er beteiligt war, überblicken. Niemand ist der Herr seines Lebens, denn was sich am Ende aus den kleinen wie großen Begebenheiten zu seiner persönlichen Lebensgeschichte formt, kann er selbst in dem undurchdringlichen Netz des Bezugsgewebes nicht übersehen, sondern zeigt sich erst dem Erzähler seiner Geschichte, nachdem sein Leben an ein Ende gekommen ist: »Wer einer ist, weiß man doch erst, wenn er tot ist.« (DT, 93) Obwohl die Geschichten von den Worten und Taten Gestorbener berichten, haben sie keinen Autor im Sinne eines Verursachers, 35 Milan Kundera: Das Buch der lächerlichen Liebe, München/Wien 1986 (tschech. Original), S. 39.
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weder ihren Helden noch ihren Erzähler, denn sie geschehen demjenigen, zu dessen Geschichte sie erst in der Rückschau werden. Sie werden von Menschen in Gang gesetzt, aber sie sind nicht von Menschen hergestellt, wie die Dinge der gegenständlichen Welt, sondern sie sind selber Teil einer »lebendigen Wirklichkeit« (VA, 227). Der Erzähler fügt diesem wirklichen gelebten Leben nichts hinzu. Er erfindet keine Geschichte, sondern er verdinglicht die »wirkliche Geschichte, in die uns das Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, solange wir am Leben sind« (VA, 231). Der Erzähler verdinglicht jedoch nicht die Handlungen seiner Helden, die schon in ihrem Vollzug zu einem Teil der zwischenmenschlichen Welt werden, sondern er verdichtet das, was den Akteuren widerfährt, zu einer »Abfolge von Geschehnissen«, die »genug Zusammenhang aufweist, um erzählbar zu sein und in dem Erzähltwerden einen Sinnzusammenhang zu ergeben.« (VA, 229) In der erzählenden Rückschau werden die Geschichten zu greifbaren Resultaten des Handelns, in denen Verlauf und Folgen von Handlungen kenntlich werden, verschiedene Prozesse und ihr Verhältnis zueinander ausfindig gemacht werden und mittels derer verständlich wird, dass niemand die Geschichte gemacht hat, sondern die einen sie erleben und die anderen sie erzählen. In diesem Sinne sind Geschichten immer rettende Geschichten, denn sie enthüllen »die Bedeutung dessen, was sonst eine unerträgliche Folge bloßer Ereignisse bliebe.« 36 Wie Arendt den Unterschied zwischen dem Geschehen selbst und dem Erzählen einzuebnen scheint, ist erläuterungs- und ergänzungsbedürftig. Dass der Erzähler das Geschehen verdinglicht, verweist auf den Herstellungscharakter oder das konstruktive Moment aller Geschichte, die nämlich ein Geschehen so schichtet, wie es sich dem Erzähler darstellt: Er wählt aus und scheidet die wichtigen von den unwichtigen Ereignissen. Der Sinn einer Geschichte liegt nicht einfach im Geschehen selbst, sondern entsteht dadurch, dass der ErHannah Arendt: Isak Dinesen, 1885–1962, in: The New Yorker 44 (1968), Nr. 38, S. 223–236, übersetzt unter dem Titel »Isak Dinesen« in: dies.: Menschen in finsteren Zeiten, S. 107–124, hier S. 118. Die rettenden Geschichten sind als weiterer Hinweis zu lesen, dass Arendt trotz der eingestandenen Dunkelheit der Natalität in der augustinischen Fassung an dieser Kategorie festgehalten hat und dass deren Verbindung mit dem Urteilen und dem verstehenden Erzählen dazu gedacht war, den sogenannten Abgrund der Spontaneität zu überwinden, das heißt ihn verständlich zu machen; vgl. meine Anmerkungen in Kapitel 2.a.a.
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zähler im Fluss der prinzipiell endlosen Handlungen des Bezugsgewebes ein Ende setzt und so einen Zusammenhang stiftet. Darin beschlossen liegt die Möglichkeit, dass ein anderer Erzähler mit Bezug auf dieselben Ereignisse die Geschichte anders erzählt. Das hat Arendt nicht anders gesehen: »In der Verdinglichung durch das Kunstwerk […] kann der Gehalt des Gesprochenen und Getanen […] die verschiedensten Formen annehmen.« (VA, 232 f.) Dass dem Geschäft des Erzählens keine Narrenfreiheit eignet, können wir mit Bezug auf die Biographien einzelner Menschen sehen. Denn in der Freiheit des Erzählers steht seine Interpretation, nicht aber das Leben seines Helden selbst. Die Summe der Handlungen, die Taten und Worte einer bestimmten Person sind, fallen nicht in die Verfügungsmacht des Erzählers, der aus diesem Grunde kein Autor, sondern ein Deuter von Biographien ist. Dieses Geschehen ist unverwechselbar, weil es auf diese und keine andere Weise dieser und keiner anderen Person geschehen ist, worin Arendt in ungenauer Wortwahl den Anhaltspunkt für jenen ausreichenden Sinnzusammenhang sieht. Das eigentliche Geschäft des Erzählers aber ist nicht die bloße Abbildung, sondern die Einzeichnung des einzelnen Lebens in einen Bedeutungszusammenhang, die dem Menschen, von dem die Geschichte erzählt, nicht möglich ist. Aber auf welchem Wege auch immer der Erzähler seiner Aufgabe nachkommt, kann er doch nie an die Lebendigkeit des Handelns und Sprechens heranreichen. »Indessen ist die dem Handeln und Sprechen eigene Enthüllung des Wer so unlösbar an den lebendigen Fluß des Vorganges selbst gebunden, daß sie nur in einer Art Wiederholung des ursprünglichen Vorganges dargestellt und ›verdinglicht‹ werden kann« (VA, 233). Wenn man mit Arendt die Lebensgeschichten als das Ergebnis der Folgen aller Handlungen begreift, die ein Mensch je in die Welt gesetzt hat und die sich dem zurückschauenden Erzähler als roter Faden im Meer der vielen Fäden des Bezugsgewebes zeigen, dann kann die mangelnde Selbsttransparenz keine absolute sein, weil dieses Leben im Bezugsgewebe gelebt worden ist. Unser Handeln bezieht sich immer auf die ihm vorausgehenden Geschichten und die Mitmenschen. Und diese sind, weil wir mit ihnen gemeinsam handeln und sprechen, solange wir leben, unser einziger Anhaltspunkt dafür, wer wir sind. In dieser Eigenschaft als Zeugen der Offenbarung unserer Person sind sie die Möglichkeit, dass wir eine, wenn auch vorläufige Vorstellung davon haben, wer wir sind. Erst diese über das Bezugsgewebe vermittelte Vorstellung von A
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unserem Wer, über die Arendt sich ausschweigt, ermöglicht es uns, handelnd auch in unsere eigenen Lebensgeschichten hinein Neuanfänge zu setzen. Ohne das intersubjektiv vermittelte Wissen von uns selbst wären die Neuanfänge des Handlungssubjektes blind, fehlte ihnen die Bezogenheit auf die Vorgeschichte, die sie erst zu Anfängen im eigentlichen Sinne eines auf das Alte zurückgreifenden Neuen machen. Ob sie es vermögen, unserem Leben eine neue Richtung zu verleihen, können wir nicht wissen. Aber wenn auch prinzipiell gilt, dass niemand Herr seiner Geschichte ist, so stehen wir uns selbst und unseren Geschichten doch nicht ohnmächtig gegenüber, weil uns unsere Mitmenschen Rückblicke auf unser eigenes Leben und daran anknüpfende Neuanfänge ermöglichen. Arendts nicht-souveräne Person ist trotz ihrer mangelhaften Selbstdurchsichtigkeit nicht blind, sondern handelt infolge eines fragmentarischen Wissens um die eigene Vergangenheit im Kontext des Bezugsgewebes. Und darin gleicht sie jemandem, der sich immer wieder neu selbst gestaltet, nicht aber jemandem, der sich selbst verwirklicht, was von der fragwürdigen Voraussetzung zehrt, ein zuvor entworfenes Ideal seiner Selbst in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Von Arendts Handlungssubjekt zu behaupten, dass es keine Identität habe und bestenfalls im Sinne eines multiplen Selbst auf episodische Selbstverwirklichung hoffen dürfe, ist daher falsch – falsch deswegen, weil es zum einen die Tätigkeitsweise des Handelns aus dem Bedingungsgefüge menschlichen Lebens herausnimmt und zum anderen den unhintergehbaren Bezug allen Handelns auf die Mitwelt und die Mitmenschen zugunsten einer radikalen Selbstbezogenheit der Person löst. Genau diese Absage an die Pluralität widerspricht fundamentalen Einsichten Arendts. Wenn man denn unbedingt will, kann man das Handeln bei Arendt als performativen Akt beschreiben, weil es in der Situation des Handelnd-aus-sich-Heraustretens das entscheidende Moment der Persönlichkeitskonstitution ist. Aber es bleibt ein Geschehen, das nur in der Gegenwart anderer Menschen möglich ist und erst durch sein Geschehen-Sein Personalität greifbar werden lässt. Denn im Bezugsgewebe können die Zeugen des Geschehens mir selbst und allen anderen die Geschichten meiner Taten und Worten erzählen. Und es sind diese Geschichten, in denen Arendt die Möglichkeit der Identität und eines zusammenhängenden Selbstbewusstseins sieht. Personale Identität beruht bei Arendt auf den Handlungen des Einzelnen, aber sie wird erst greifbar und in 70
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den Kategorien von Verantwortlichkeit und Zurechenbarkeit beschreibbar durch die Zeugenschaft der anderen. Weil sie an der Vorstellung einer kontinuierlichen Person festhält, hat Arendts Absage an ein souveränes Subjekt mit den modischen Ausrufungen des Todes des Subjektes und dergleichen mehr nichts gemein. 37 Von einer regelrechten Kritik neuzeitlicher Subjektivitätstheorie zu sprechen, ginge angesichts dieser Ansätze bei Arendt zu weit. Aber ihre Gedanken lassen sich gleichwohl den Versuchen zuordnen, die psychologische und sprachphilosophische Kritik am autonomen und souveränen Subjekt der modernen Gesellschaft aufzunehmen und »das menschliche Subjekt eben nicht mehr als ein sich vollkommen transparentes noch als seiner selbst mächtiges Wesen zu begreifen«. 38 Dieser Zusammenhang kann naturgemäß nur ein skizzenhafter sein, weil es Arendt an einer dezidierten Theorie der Subjektivität fehlt. Aber ihr Gedanke der Personalität, die gleichermaßen auf den eigenen Taten und dem durch die Mitmenschen vermittelten Selbstbewusstsein beruht, trifft sich mit dem Anliegen, auch nach dem Ende eines als Autor seiner selbst verstandenen Subjektes und eines starken Begriffes der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung an der Vorstellung einer zu verantwortlichem und bewusstem Handeln fähigen Person festzuhalten. Axel Honneth will die Hinweise der Psychologie auf die unbewussten Triebkräfte und Motive des Handelns und der Sprachphilosophie auf die Schwierigkeiten der individuellen Sinngebung und Urheberschaft des Selbst so aufgenommen wissen, dass sie weder in einer Radikalisierung noch in einer Zweiteilung in die berechtigte Subjektkritik und ein nun transzendental aufgefasstes Ideal des autonomen Subjektes münden, sondern dass die der Verfügbarkeit des Subjektes entzogenen Kräfte als »Konstitutionsbedingungen der Individualisierung von Subjekten« 39 verstanden werden. Der nachvollziehbare Begriff der Person, den er anstrebt, handelt nicht von der Situation der moralischen Urteilsfindung nach Maßgabe vernünftiger und das heißt unparteilicher und zustimmungsfähiger Prinzipien 37 Siehe hingegen Bonnie Honig: Towards an Agonistic Feminism: Hannah Arendt and the Politics of Identity, in: Judith P. Butler/Joan W. Scott (Hg.): Feminists Theorize The Political, New York/London 1992, S. 215–238, hier S. 220. 38 Axel Honneth: Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der Subjektkritik, in: ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/Main 2000, S. 237–251, hier S. 238. 39 Ebd., S. 239
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und auch nicht von der Gewährung moralischer und rechtlicher Ansprüche, die wir uns gegenseitig im Sinne eines selbst gestalteten und freien Lebensvollzuges zusprechen. Selbstbestimmung ist eine der Verfügungsgewalt der Personen über sich selbst nachgeordnete Frage und findet erst innerhalb dieses Rahmens statt. Um weiterhin von Personen sprechen zu können, will er die Subjektkritik auf dasjenige Verständnis autonomer Personen anwenden, das auf die »empirische Fähigkeit von konkreten Subjekten« abhebt, »ihr Leben unter Berücksichtigung ihrer individuellen Neigungen und Bedürfnisse in einer unverwechselbaren Biographie zu organisieren.« 40 Diese Fähigkeit ist trotz der Subjektkritik nicht verloren gegangen, aber sie hängt an der positiven Antwort auf die Frage, wie Menschen von sich selbst, ihren Bedürfnissen und vor allem von ihren Handlungen und deren Bedeutungen innerhalb der Handlungskontexte wissen können. Und genau an diesem Punkt teilt Arendts intersubjektivitätstheoretischer Begriff der Person mit seinen Hintergrundbegriffen der Natalität, der Pluralität, des Bezugsgewebes und der Geschichten die Einsicht Honneths, dass ein Begriff individueller Autonomie auf der Höhe der modernen Subjektkritik »die Ausarbeitung eines intersubjektivitätstheoretischen Begriffs des Subjektes« 41 verlangt. Zwar hat sie keine Subjektivitätstheorie vorgelegt. Und wir verfügen nur über die erwähnten Anhaltspunkte einer intersubjektivitätstheoretisch begründeten Personalität. Aber ihr Begriff der Person gehört in den Zusammenhang jener Ethik radikaler Intersubjektivität, auf die Benhabib als konsequente Folge aus Arendts anthropologischem Universalismus hingewiesen hat und die sich mit Honneths intersubjektivitätstheoretischem Begriff des Subjektes trifft. Mehr noch lässt sich – vorgreifend auf folgende Kapitel – sagen, dass Arendts Handlungstheorie mit dem Begriff des Wer-einer-ist nicht nur die personentheoretische Dimension dieser radikalen Intersubjektivität ausformuliert, sondern dass sich die beiden zentralen Begriffe des Verzeihens und Versprechens als eine ethische Umsetzung dieser subjektivitätstheoretischen Einsichten lesen lassen. Die personentheoretische und die ethische Dimension von Arendts radikaler Intersubjektivität haben ihren systematischen Grund in der Überzeugung, dass menschliches Leben unhintergehbar der Plurali40 41
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tät und Natalität unterworfen ist und dass es ohne das Handeln in der Gemeinschaft mit anderen schlechterdings kein menschliches Leben wäre. c
Die Aporien des Handelns
Der dritte Abschnitt zu Arendts Handlungstheorie beschäftigt sich mit den Konsequenzen aus den Grundbedingungen menschlichen Lebens und den Grundbegriffen der Handlungstheorie, die sich für ihren Begriff des Handelns ergeben. Sie hat an zentraler Stelle, bei der Einführung des Gedankens der »Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten« (VA, 234–241), die griechische und römische Unterscheidung zwischen ›archein‹ (anfangen, befehlen, herrschen) und ›prattein‹ (mit etwas zu Ende kommen, etwas ausrichten) beziehungsweise zwischen ›agere‹ (in Bewegung setzen, anführen) und ›gerere‹ (ausführen, vollziehen) übernommen und auf die Zusammengehörigkeit der Wörter in beiden Sprachen verwiesen. Das Handeln ist demnach ein zweiteiliger Prozess. Zuerst setzt eine einzelne Person etwas in Gang. Und dann sucht sie andere oder diese eilen herbei, um mit ihr zusammen diese begonnene Sache zu einem Ende zu bringen. Die Geschichte und insbesondere die politische Sprache und Wissenschaft haben das Handeln auf dieses zweite Stadium verkürzt und das erste Stadium als ein Herrschen oder Führen, aber nicht mehr als ein In-Gang-Setzen verstanden. Das Ergebnis dieser Bedeutungsverschiebung, gegen die Arendt am systematischen Einsatzpunkt der Erläuterung der Zerbrechlichkeit und das heißt der aporetischen Verfasstheit menschlichen Handelns unmissverständlich Position bezieht, ist das zunehmende Schwinden des Bewusstseins für »die dem Handelnden eigentümliche Doppelseitigkeit des Vollzugs, daß es angefangen und vollendet werden muß, daß daher der Anfänger und Führer von anderen abhängt, die ihm mit der Durchführung helfen müssen, und daß andererseits diese anderen […] von ihm insofern abhängen, als sie ohne ihn nie etwas zu tun bekommen hätten« (VA, 235 f.). 42 42 Arendt leitet diese Überlegungen über die Angewiesenheit des Anfängers auf das gemeinsame Durchführen mit der Verzweiflung des Anfängers an der Mittelmäßigkeit der antriebslosen Massen ein. Und auch hier bricht sie erneut die analytische Zuordnung der Tätigkeiten zu bestimmten Sphären auf, wenn sie jene Verzweiflung am Han-
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Um diese Bedeutungsschichten des Handelns zurückzugewinnen, müssen Handeln und Sprechen an die Welt zwischen Menschen gebunden bleiben. Nur wenn sie sich aus dem Bezugsgewebe entfernen, kann es zu diesem Bedeutungsverlust kommen. Innerhalb dieses Zwischen aber sieht sich jeder handelnde Mensch den Handlungsanfängen seiner Mitmenschen ausgesetzt. Er ist ein Handelnder und Erduldender zu gleich: »[D]ie Geschichte […] ist immer eine Geschichte der Taten und Leiden derer, die von ihr affiziert werden.« (VA, 236 f.) Grundsätzlich ist der Raum dieser Betroffenheit ein unendlich großer Raum. Das hat einen ersten Grund darin, dass jede Handlung auf andere Menschen trifft, die ebenfalls neue Handlungen beginnen können, und einen zweiten darin, dass das Zwischen selbst dynamisch ist, weil sich durch Tod und Geburt immer wieder neue Menschen in ihm als Person zu erkennen geben. Jede Tat löst auf diese Weise eine unendliche Kette von Taten aus, so dass es keine Handhabe gibt, eine Tat und ihre Folgen »auf die unmittelbar Betroffenen oder Gemeinten zu beschränken« (VA, 237). Doch ist nicht allein die schiere Menge von Menschen, die die Pluralität auch ist, der ausschlaggebende Grund für die »Schrankenlosigkeit« (VA, 238) des Handelns. Selbst wenn sich der Raum des Handelns beschränken ließe, so wie die griechische Polis nur die freien Männer zum öffentlichen Raum zuließ, zeigte sich die Grenzenlosigkeit des Handelns nur umso deutlicher. In gewissem Sinne wird durch solche Beschränkung »das Bezugsgewebe mit den ihm eigenen Konstellationen« (VA, 237) nicht gestärkt, sondern geschwächt. Denn das Handeln stiftet und sprengt Beziehungen und bringt die »Einrichtungen und Gesetze«, die wir zur Stabilisierung des Bezugsgewebes errichtet haben, allein aus dem Grund ins Wanken, dass »neue Menschen in diesen Bereich fluten« (VA, 238) und sich in Tat und Wort bemerkbar machen. Dieser Veränderungsdruck auf die schützenden Mauern aus Gesetzen und Institutionen zeigt die immer nur bedingte Dauerhaftigkeit dieser Wehrbauten an, bringt sie aber nicht mit Notwendigkeit zum Einsturz. 43 deln überhaupt, nämlich am »politischen wie […] unpolitischen« (VA, 234), als Versuchung beschreibt, das Handeln durch das Herstellen zu ersetzen und Menschen wie Dinge zu behandeln. 43 Arendt ist in der Begründung der Schrankenlosigkeit nicht präzise. In Sachen der Reichweite des Handelns verweist sie auf die quantitative Dimension der Pluralität, stellt diese aber hinter die qualitative Dimension der Dynamik von Geburt und Tod
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a Die Unabsehbarkeit Über Mittel der Eindämmung verfügen wir angesichts der »Unabsehbarkeit der Folgen« (VA, 239) nicht. Wir können uns zwar eine Vorstellung davon machen, welche Auswirkungen unsere Initiativen haben könnten. Aber auch wenn wir in der Lage sein sollten, uns über komplexe Bedingungen zu informieren und unsere Vorhaben danach auszurichten, so bleibt die mit der Schrankenlosigkeit verbundene Tatsache bestehen, »daß niemand die Folgen der eigenen Tat je voll übersehen kann.« (VA, 239) Wir kennen das Ende der Geschichten, in die wir als Handelnde verstrickt sind, nicht, weil sich ihr ganzer Sinn erst dem Erzähler der zu Ende gegangenen Geschichte preisgibt. Inmitten der Geschichte gibt es »keine Ereignisse, die eindeutig in die Zukunft weisen, so sehr sie auch immer ihr Licht auf das Vergangene werfen mögen.« (VA, 240) Was sich dem Geschichtenerzähler in privilegierter Weise enthüllt, ist der Sinn der beendeten Geschichte, die auch nur darum zu Ende ist, weil der Erzähler sie durch seinen Sinnzusammenhang beendet. Auch der Geschichtenerzähler – so muss man Arendt ergänzen – kann nicht für sich beanspruchen, die Sinnhaftigkeit einer Geschichte oder Lebensgeschichte zu kennen. Auch er unterliegt der Vorläufigkeit, denn die Geschichten wie die Lebensgeschichte wirken auch nach dem vom Erzähler eben nur in der Erzählung gesetzten Einschnitt oder nach dem Tod des Helden aufgrund der Beschaffenheit des Bezugsgewebes fort. Dennoch gilt, dass der Erzähler »es wirklich gemeinhin besser weiß als diejenigen, die ihm zu seinen Geschichten verholfen haben.« (VA, 240) Für die in die Geschichte Verwickelten gilt hingegen im Einklang mit der Bedingung, dass wir durch unsere Mitmenschen ein fragmentarisches Wissen darüber haben können, wer wir sind, dass einzelne Ereignisse innerhalb einer Geschichte zwar nicht deren »voll[e]« (VA, 240) Bedeutung sichtbar machen, aber zumindest das Vergangene erhellen können. Wir sind nur in diesem vorläufigen Sinn in der Lage, Rechenschaft über unser Leben zu geben und über unsere »Absichten, Ziele und Motive« (VA, 240) Auskunft zu erteilen, sofern sie sich immer auf den vergangenen Teil unseres Lebens beziehen und ohne ihn gar nicht denkbar wären. Könnten wir nicht bis zu einem gewissen Grad zurück und verweist dazu wiederum auf die quantitative Dimension. Darin steckt kein Widerspruch, wenn man zwei Aspekte der Pluralität unterscheidet, deren zweiter eben der entscheidende sein soll, sich aber in seiner Existenz nur dem ersten verdankt. A
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selbst zum Erzähler der Geschichte darüber werden, wer wir sind, oder könnte man Arendts Überlegungen zur Personalität nicht um diese Form des Selbstbewusstseins ergänzen, dann verlöre zusammen mit der Möglichkeit, absichtsvolle Pläne zu fassen, das Handeln überhaupt seine Bedeutung und würde zu einer fatalistischen Spiegelfechterei. Was den Akteuren selbst verborgen bleibt und worüber uns die Geschichtenerzähler belehren, ist »die eigentliche Signifikanz dieser Absichten«, weil es letzteren leichter fällt als den in der Verstrickung Befangenen, »das Gesamtgewebe« (VA, 240) zu überschauen, Sinneinheiten zu setzen und die einzelnen Taten ihrer Bedeutung nach zu ordnen. »Denn wie könnte, wer die Zukunft nicht kennt, den Sinn der Gegenwart verstehen?« 44 Für das einzelne Ereignis lässt sich seine Bedeutung durchaus an den Motiven festmachen, aber aufs Ganze gesehen geht sie nicht in diesen auf. Weil wir unter den Bedingungen des Bezugsgewebes und der ständigen Neuankunft von handlungsbegabten Menschen leben, können wir nicht »eindeutig« (VA, 240) in die Zukunft schauen und nie wissen oder kontrollieren, welche Folgen unsere Handlungen haben und inwiefern unseren Absichten Erfolg beschieden ist. »Die Unabsehbarkeit der Folgen« (VA, 239) bringt in unser Leben die andauernde Ungewissheit darüber, in welche Richtung sich unser Leben im Geflecht von unseren eigenen Handlungen und Absichten und denen anderer entwickeln wird. Die Frage, welche Geschichte sich aus der Summe unserer Taten erzählen lassen wird, stellt das Leben in eine »Spannung« (VA, 239), dass wir zugleich im Blick auf die Zukunft leben und unsere Entscheidungen treffen, aber doch nie wissen, was werden wird, mit Ausnahme unsere unabwendbaren Todes. b Die Unwiderruflichkeit Die Fülle der mit dem Handeln verbundenen Probleme vervollständigt Arendt anhand der Beobachtung, dass der moderne Mensch sich der Natur gegenüber nicht mehr nur herstellend verhält und aus ihr das Material der Dingwelt gewinnt. Obwohl die Versuche, wegen der Schrankenlosigkeit und der Unabsehbarkeit den Bereich der zwischenmenschlichen Angelegenheiten nach den Maßstäben des ihm fremden Herstellens zu organisieren und ihn zu einem Ding in der Milan Kundera: Die Unwissenheit, München/Wien 2001 (franz. Original 2000), S. 132.
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Welt der Gegenstände herabzuwürdigen, keinen durchschlagenden Erfolg hatten, haben sie doch eine nachteilige Tendenz befördert, von der Arendt schon zu Beginn der Vita activa sprach und die sie bei der Erläuterung der Aporien des Handelns wieder aufgreift. Der Mensch greift in die Abläufe der Natur nach den Gesetzen des Handelns ein, allerdings ohne den Umstand zu berücksichtigen, »daß das Handeln […] seine Eigentümlichkeiten auch dann beibehält, wenn es […] in den Bereich der Natur überspringt.« (VA, 295) Ohne dass ihr die Gründe hinreichend klar wären, ist die Naturwissenschaft eine Wissenschaft von »nicht umkehrbaren Prozessen« (VA, 294) geworden. Heute kann die Menschheit in der Natur nur angelegte Prozesse freisetzen oder unnatürliche Prozesse in Gang setzen und die Natur verändern. Atomenergie, der Verbrauch der natürlichen Rohstoffe und die Wandlungen des Klimas sind nur einige Beispiele dafür, dass Menschen mit den Mitteln moderner Technik die Grundbedingungen des Lebens verändern können und dass sie nicht nur die Welt der Dinge, sondern die Erde selbst in den Würgegriff ihrer sich weiter verfeinernden technischen Fähigkeiten gebracht haben (siehe VA, 7–15). Was die Naturwissenschaften nicht verstehen, ist nichts anderes als der Grundzug des Handelns, der sich auch in ihrem Tun äußert, »nämlich Vorgänge zu veranlassen, deren Ende ungewiß ist und unabsehbar ist.« Für die naturwissenschaftliche Erzeugung von Kräften, »die im Haushalt der Natur nicht vorgesehen sind«, gilt ebenso die Unabsehbarkeit wie für alles andere Handeln auch, das heißt in umgekehrter Blickrichtung, dass man einen einmal in die Welt gesetzten Anfang »nicht rückgängig machen kann.« (VA, 295) Arendt erläutert also die Unwiderruflichkeit des Handelns, das geschehen oder bereits angefangen ist, mit seinem Zukunftsbezug. Dass also jedem Handeln seiner ihm von Arendt beigelegten zeitlichen Struktur nach Unabsehbarkeit und zugleich Unwiderruflichkeit zukommt, gilt es im Unterschied zu der meist vertretenen und strikt zeitlichen Zuordnung von Versprechen (Zukunft) und Verzeihen (Vergangenheit) in der Vita activa im Blick zu behalten. 45 Handlungen eignet also eine bestimmte Unaufhaltsamkeit. Sie nehmen ihren unendlichen, schrankenlosen Weg durch das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten. Wenn der Herstellungspro45 Siehe als weiteren Hinweis dafür, dieser strikten Zuordnung mit Skepsis zu begegnen, ZVZ, 74; vgl. ausführlicher Kapitel 7.c.g.
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zess beendet und sein Produkt Teil der dinglichen Welt ist, hat der Hersteller die Möglichkeit, dieses Ding wieder zu zerstören und aus der Welt zu schaffen. Der Handelnde aber hat kein dem Zerstören vergleichbares Korrektiv. Das Handeln ist »von einer eigentümlichen und ganz außerordentlichen Zähigkeit« (VA, 296), weshalb die »einmal entfesselten Prozesse des Getanen« (VA, 297) durch die Zeiten hindurch andauern und nicht rückgängig zu machen sind. Diese Unumkehrbarkeit macht die Frage nur umso dringlicher, wie man mit dem Handeln, seinem Prozesscharakter und seiner Unwiderruflichkeit umgehen kann. g Die Verantwortlichkeit Wenn gilt, dass niemand die Folgen seines Tuns absehen kann und ebenso wenig die Handlungsketten, die sein Anfang ausgelöst hat, wieder rückgängig machen kann, dann stellt sich die Frage, wie eine solche Vorstellung vom menschlichen Handeln den Begriff der Verantwortung integrieren kann. Wenn Menschen das Geschehen, das nach ihrem Tod erst als ihre Lebensgeschichte erzählt werden kann, in dem beschriebenen Sinne nicht steuern können, sondern lediglich auf der Grundlage eines immer nur fragmentarischen Wissens von sich selbst und ohne jedes Wissen um das Ende des Geschehens, inmitten dessen sie sich befinden, in die Ereignisketten ihre Neuanfänge setzen können, dann kann man sie für den, der sie geworden sind, nur bedingt verantwortlich machen. Denn wie sich ihre Handlungsanfänge im Geflecht des Bezugsgewebes verändern und wohin sie führen, steht nicht in ihrer Macht, ist aber trotzdem unaufhebbarer, nicht wieder rückgängig zu machender Teil der Ereignisse, die das jeweilige Wer-einer-ist formen. Die Lebensgeschichte taugt in dieser Fassung nur bedingt dazu, die Person für ihre eigene Geschichte verantwortlich zu machen (vgl. VA, 226 f., 231). Das zunächst vergebliche Bemühen, jemanden verantwortlich zu machen, betrifft jedoch nur »die Unmöglichkeit, für das Entstandene je einen Einzelnen verantwortlich zu machen« (VA, 279). Arendt ist zwar der Ansicht, dass wir als Handelnde immer schuldig werden, obwohl wir per definitionem nicht wissen können, was wir tun, wenn wir handeln. Doch diese von Arendt sogenannte Schuld, der der Mut zum Sprechen und Handeln entspricht (vgl. VA, 232), ist ein vielschichtiges Phänomen, das über die Vita activa hinaus der Erläuterung bedarf und in drei Aspekte des Schuldbegriffes aufzuschlüsseln ist. Die ersten beiden Aspekte schwingen zwar anfangs 78
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mit, aber von maßgeblicher Bedeutung für die Handlungstheorie und insbesondere für die beiden entscheidenden Handlungsvermögen zu verzeihen und zu versprechen ist der dritte Aspekte der Schuld, an den daher im Folgenden zuerst zu denken ist, wenn es um den Begriff des Verzeihens bei Arendt geht. Als erstes ist die Unausweichlichkeit zu nennen, dass der Handelnde immer und ohne Ausnahme schuldig wird, weil Menschen gar nicht anders können, als dass durch die Tatsache ihres eigenen AmLeben-Seins und ihre Bestrebungen zur Selbsterhaltung andere Menschen zu Schaden kommen, ohne dass dies in ihrer Absicht lag oder ohne dass sie wissen konnten, dass sich für andere nachteilige Handlungsfolgen einstellen würden. Arendt ist der Ansicht, dass wir auch in dieser Hinsicht Verantwortung auf uns nehmen, weswegen man von einer existentiellen Schuld sprechen könnte, die wir innerhalb ihrer Begrifflichkeit mit der Struktur des Bezugsgewebes erklären können. Jene nachteiligen Folgen wären niemals in die Welt gekommen, hätte sie nicht dieser und kein anderer Mensch durch seinen Handlungsanfang hervorgerufen. Diese Taten lasten auf ihren Tätern unabhängig von der Frage, ob das Leid, das sie verursacht haben, willentlich oder unwillentlich verursachtes Leid ist. Die zweite Dimension der Schuld schließt sich unmittelbar an die erste an, beschreibt aber auch ein Moment der dritten. Denn dass der Mensch nicht in der Lage ist, seine Handlungen und insbesondere deren von ihm nicht beabsichtigten Folgen rückgängig zu machen, verleiht der Schuld die emotionale Qualität der Bedrückung. Dieses Empfinden kann sich auch in Bezug auf Taten und Schuld einstellen, die andere auf sich geladen, denen wir aus unmittelbarer persönlicher Verbundenheit heraus konkret oder mittelbar behilflich sind, die Verantwortung für ihre Taten zu tragen. Die politische Verantwortung hingegen ist ein Fall, in der uns aus mittelbarer Verbundenheit eine kollektive Verantwortung trifft, die ebenso von einem bedauernden Empfinden begleitet sein kann. Sie ist eine Grundtatsache des Zusammenlebens, weil jede Generation ihren bestimmten Platz innerhalb der Geschichte einnimmt. Regierungen oder Kollektive übernehmen Verantwortung für die Taten, die ihre Vorgänger in der Vergangenheit an anderen Menschen oder Gruppen verübt haben. Oder aber diese Gefühle sind nicht stellvertretender Natur, sondern betreffen die unbeabsichtigten, aber gleichwohl Leid verursachenden Folgen unserer eigenen Taten oder Unterlassungen. A
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Auch wenn wir nicht von persönlicher Schuld im moralischen oder rechtlichen Sinne sprechen mögen, werden wir uns kaum der Überlegungen erwehren können, ob wir es nicht doch besser hätten wissen und das Leid verhindern können. Wir halten Personen gewöhnlich dann für verantwortlich, wenn sie mit Absicht und in der Folge einer selbst getroffenen Entscheidung handeln. Trotzdem ist uns der Gedanke nicht fremd, dass wir auch für solche Folgen unserer Handlungen einstehen müssen, die nicht in unserer Absicht lagen. Dabei geht es um den Unterschied zwischen den voraussehbaren und den unvoraussehbaren Folgen, die den Bereich unserer Verantwortung erweitern. Dass neben die Verantwortung für die Tat selbst diejenige für ihre absehbaren Folgen tritt, die wir entweder beabsichtigt oder auch nur billigend in Kauf genommen haben, ist in Anbetracht der Aporien des Handelns bei Arendt von nachgeordnetem Interesse. Aber angesichts der unabsehbaren Folgen, bezüglich derer es unerheblich ist, ob wir sie im Falle besseren Wissens hingenommen oder ob sie uns von der fraglichen Handlung abgehalten hätten, sollten wir nur dann von einer Schuld sprechen, wenn damit das Gefühl beim Täter angesprochen ist, »trotz bester Absichten und guten Willens noch etwas schuldig geblieben zu sein.« 46 Dass wir die ursprünglichen Ziele verfehlt haben oder sich zu ihrer Verwirklichung zuvor Unabsehbares hinzugesellt hat, mündet nicht in einem Bewusstsein einer zurechenbaren Tat und eines durch diese verursachten Schuldigseins. Denn die Tat hatte nicht den Zweck, nachteilige oder leidvolle Folgen für andere nach sich ziehen. Gleichwohl wäre nichts geschehen, wenn sich niemand zu der Tat entschieden hätte, die solches gezeitigt hat. Deshalb ist es präzise, von der Verantwortung, und gerade nicht von der persönlichen Schuld, auch für die nicht persönlich zurechenbaren Folgen einer persönlich zurechenbaren Tat zu sprechen. Denn die Situation des SichVerantwortens schließt die Möglichkeit ein, über die persönliche Abwägung des Für und Wider, über die ausschlaggebenden Gründe und die verworfenen Bedenken Auskunft zu erteilen und in dieser Rechenschaft über die Entscheidungsfindung vor den betroffenen MitStefan Orth: Von der Anthropologie der Fehlbarkeit zur Hermeneutik des Selbst. Stationen auf dem Denkweg von Paul Ricœur, in: ders./Peter Reifenberg (Hg.): Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg/München, S. 15–36, hier S. 21.
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menschen oder einer anderen Instanz glaubwürdig vertreten zu können, dass die nachteiligen Folgen eben keine absichtsvoll herbeigeführten oder in Kauf genommenen waren und man sich deswegen nicht schuldig, aber verantwortlich bekennt. 47 Ein Beispiel für den Unterschied zwischen persönlicher Verantwortung und persönlicher Schuld findet sich in der Nachgeschichte des Contergan-Skandals aus den sechziger Jahren. Die Firma Grünenthal hatte seit Oktober 1957 ihr Produkt Contergan als Beruhigungs- und Schlafmittel, auch für Schwangere, beworben und es erst Ende November 1961 vom Markt genommen, nachdem der Zusammenhang zwischen Contergan und Missbildungen bei Neugeborenen in demselben Monat publik gemacht worden war. Kritische Erfahrungsberichte in der Fachpresse im Mai 1961 und ihnen vorausgehende Meldungen über schädliche Nebenwirkungen seit 1959 hatten zuvor nur dazu geführt, dass die Herstellerfirma im Mai 1961 für Contergan die Rezeptpflicht beantragt hatte. 48 Im Jahr 2003 hat der Filmemacher Andreas Fischer einen Dokumentarfilm über die Eltern contergangeschädigter Kinder gedreht. Die Mütter erzählen von den ersten beunruhigenden Symptomen während der Schwangerschaft und den Schuldgefühlen ihren Kinder gegenüber, weil sie es waren, die diese Tabletten geschluckt hatten – in dem Glauben und auf die Versicherung von ärztlicher und industrieller Seite hin, dass dies unbedenklich sei. In den Gesprächen berichten sie von innerlichen Schuldgefühlen und äußerlichen Schuldvorwürfen. Die erste Mutter quälte sich mit dem Gedanken: »Du hast Dein eigenes Kind in Deinem Leib vergiftet.« (59:05). Die zweite Mutter erzählt von den rüden Vorwürfen ihres Arztes, dass sie die Verursacherin gewesen sei (1:15:35), und von ihrer Sammlung von Informationen, um sich gegen die angstvoll erwarteten Anklagen der Tochter wehren zu können. Und in die Empörung über den Arzt mischt sich genau jenes Schuldgefühl, das in diesem Punkt die verschiedenen Lebensgeschichten der Mütter eint und daher rührt, dass das alles nicht passiert wäre, hätten sie selbst 47 Vgl. Wilhelm Vossenkuhl: Moralische und nicht-moralische Bedingungen verantwortlichen Handelns. Eine ethische und handlungstheoretische Analyse, in: Baumgartner/Eser (Hg.): Schuld, S. 109–140, bes. S. 114–117. 48 Siehe Willibald Steinmetz: Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre, in: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 195–228; dort weitere Literaturhinweise.
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nicht diese Tabletten genommen. »Und dieses Wort Schuld hat sich … Das ist ein scheußliches und schlimmes Wort. […] Es ist nicht nur ein Wort. Es ist ein Gefühl, was man hat, wenn man etwas verursacht hat.« (1:11:00). Die dritte Mutter stellt die entscheidende Frage: »Was ist überhaupt Schuld? […] Was würde da als Schuld in die Waagschale geworfen werden können?« (1:16:43). Aber dass man der »Anlass« war, wie es die vierte Mutter sagt (1:14:30), und sich deswegen »verantwortlich« fühlt, so die fünfte Mutter (1:14:41), geht mit der Überzeugung einher, dass sie »gedacht haben, also wir sind nicht schuld daran – in gewissem Sinne schon schuld, ich habe ja die Tablette geschluckt –, aber wir sind nicht schuld an diesen Veränderungen im Körper, weder mein Mann noch ich.« (58:38) Und diese Erleichterung der sechsten Mutter, sich nicht an ihrem Kind schuldig gemacht zu haben, anders gesagt: nicht gegen moralische oder rechtliche Normen verstoßen zu haben, bindet die erste Mutter an das grundlegende Dilemma dieser Eltern zurück: nämlich mit der Last unvorhersehbarer Folgen von einer in gutem Glauben getanen Tat leben und die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen: Diese Vorstellung, dass, wenn ich das Contergan nicht genommen hätte, er ein normaler Junge geworden wäre und was ich ihm jetzt eigentlich durch das Contergan oder das Contergan durch mich angetan hat, dass ich sozusagen der Handlanger [meine Hervorhebung, T. D.] dafür gewesen bin – das ist ja doch eine sehr schmerzhafte Angelegenheit, weil man plötzlich zu einem Schicksalsvollzieher [meine Hervorhebung, T. D.] wird an diesem Kind. (1:13:34) 49
In beiden Fällen, den unbeabsichtigten Handlungsfolgen und der politischen Verantwortung, ist es genau genommen »nicht persönlich, sondern metaphorisch gemeint, wenn wir sagen, daß wir uns wegen der Sünden unserer Väter, unseres Volkes oder der Menschheit, kurz, wegen Taten, die wir nicht begangen haben, schuldig fühlen.« 50 Die Schuld ist an ein individuelles Bewusstsein gebunden, etwas persönlich getan zu haben und deswegen »schuldig zu sein«. 51 So hat Andreas Fischer: Contergan: Die Eltern, Dokumentarfilm im Auftrag des Bundesverbandes Contergangeschädigter e. V., Moraki-Film, Deutschland 2003, 100 min. In Klammern steht die Zeitangabe, bezogen auf die gesamte Filmdauer. Die Transkription stammt von mir. 50 Hannah Arendt: Persönliche Verantwortung in der Diktatur, in: dies: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze, hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann, Berlin 1991, S. 7–38, hier S. 12 [= PVD]. 51 Hannah Arendt: Organisierte Schuld, in: Die Wandlung 1 (1945–46), S. 333–344, 49
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Arendt die Schuldbekenntnisse der nachweislich Unschuldigen und die damit einhergehende Entschuldung der tatsächlich Schuldigen an all den Unrechtstaten zu Zeiten des nationalsozialistischen Deutschlands als »Inbegriff moralischer Verwirrung« (PVD, 19) aufs Korn genommen, 52 weil es »kollektive Schuld oder kollektive Unschuld« nicht gibt: »[D]er Schuldbegriff macht nur Sinn, wenn er auf Individuen angewendet wird.« (PVD, 20) Aus diesen Gründen hält sie es für angezeigt, »to refrain from such metaphorical statements which, when taken literally, can only lead into a phony sentimentality in which all real issues are obscured.« 53 In kollektiver Hinsicht gibt es hingegen keine Schuld, sondern nur Verantwortung, die Arendt an zwei Bedingungen kettet: an der Zuschreibung von Verantwortlichkeit für etwas, das die betreffende Person nicht selbst getan hat, und an der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich nicht einfach mittels willentlicher Aufkündigung der Mitgliedschaft beenden lässt. Denn als Menschen leben wir unser Leben immer unter Menschen (mit Arendt gesagt: in der Pluralität) und sind daher immer auch Teil von verschiedenen Gruppen. Diese Verantwortung aus Gemeinschaft reicht von der für die Taten eines ihrer Mitglieder bis zu der für die im Verbund oder im Namen dieser Gemeinschaft begangenen Taten und ist eine Grundtatsache des wieder abgedruckt in: dies.: Die Verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/Main 2000, S. 35–49, hier S. 42 [= OS]. 52 Arendts Diagnose tiefsitzender moralischer Verwirrung findet sich auch in OS, 35– 49; dies.: Die Nachwirkungen des Naziregimes: Bericht aus Deutschland, in: dies.: In der Gegenwart, S. 36–63; und in allen Äußerungen Arendts zur Berechtigung und Notwendigkeit des moralischen Urteilens; siehe dazu Kapitel 3.b.b–g. Dass die Imagination eines »eingebildeten Kollektivschuldvorwurfs« für die deutsche Seite eine – von Arendt als solche erkannte – »rhetorische Idealfigur zur Obstruktion der weiteren juristischen Ahndung« war und absichtsvoll kollektive Verantwortung und persönlicher Schuld vermischte, hat Norbert Frei in Bezug auf die genannten Texte Arendts und die historischen Forschungen hervorgehoben und diese Einbildung eines Vorwurfes, nach dessen Niederschlag in »schriftlichen Proklamationen« man vergeblich suche, als »reflexartige Antizipation eines pauschalen Schuldvorwurfes« auf der Basis eines »verbreitete[n] Gefühls persönliche[r] Verstrickung« erklärt; siehe ders.: Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt/Main 2000, S. 163–176, bes. S. 166–171, Zitate S. 171, 171, 170, 165, 165. 53 Hannah Arendt: Collective Responsibility (1968), in: James Bernauer (Hg.): Amor Mundi: Explorations in the Faith and Thought of Hannah Arendt, Boston 1987, S. 43– 50; von Jerome Kohn unter Streichung derjenigen Elemente, die den ursprünglichen Vortragsstil des Textes betreffen, wieder abgedruckt in: Arendt: Responsibility and Judgment, S. 147–158 [= RJ, 147–158], hier RJ, 147 f. A
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menschlichen Zusammenlebens, weil jede Generation ihren bestimmten Platz innerhalb der Geschichte einnimmt. Regierungen oder Nationen übernehmen Verantwortung für das Treiben ihrer Vorgänger. 54 Dass uns die solche Verantwortung begründenden Taten nicht persönlich zugerechnet werden können, mag viele Gründe haben: Wir sind an den politischen Entscheidungen unserer Nation nicht unmittelbarbeteiligt, weil die Konstruktion unseres politischen Systems eben den Zugang zu dem Raum, in dem diese Entscheidungen getroffen werden, repräsentativ ordnet und wir daher die persönliche Verantwortung delegiert haben. Wir können auch diejenige bürgerliche Freiheit nutzen, die uns unsere politische Ordnung gewährt, und uns von den politischen Angelegenheiten fernhalten. Oder wir betrachten unser Fernbleiben als Akt der persönlichen Nicht-Zustimmung zu den Taten unserer Gruppe. Aber aus welchen Gründen wir diese Entscheidung auch fällen, wird das an unserer Verhaftung in der kollektiven Verantwortung nichts ändern, denn: This vicarious responsibility for things […] we are entirely innocent of, is the price we pay for the fact that we live our lives not by ourselves but among our fellow men, and that the faculty of action […] can be actualized only in one of the many and manifold forms of human community. (RJ, 157 f.).
Der angemessene Ausdruck des moralischen Empfindens für diese unhintergehbare Verantwortung ist die Scham (vgl. OS, 48). Haben wir es jedoch mit jener absichtsvollen Verwirrung von persönlicher und kollektiver Verantwortung zu tun, die von dem »Wir sind alle schuldig« umstandslos zur scheinheiligen Kritik an Kollektivschuldthesen übergeht und dabei die kollektive Verantwortung überspringt, handelt es sich in den meisten Fällen um eine »declaration of solidarity with the wrongdoers« (RJ, 148), deren treibendes Moment das Wir sind es gewohnt, kollektive mit derjenigen politischen Verantwortung zu identifizieren, die Staaten in »Person« von Regierungen oder anderen offiziellen Organen übernehmen. Grundsätzlich ist das jedoch allen Kollektiven möglich. So ist der westdeutsche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kein politisches Phänomen geblieben, sondern im Laufe der Jahre zu einem gesellschaftlichen Unterfangen geworden. Dass solche kollektiven Handlungen immer auch Verhandlungen mit handfesten, meist finanziellen Interessen sind, wie es zuletzt die Vertreter der deutschen Industrie anlässlich der Entschädigungen für die Millionen von Zwangsarbeitern auf exakt die entwürdigende Weise vorführten, die etwa Derrida zu seiner heftigen Kritik am politischen Verzeihen veranlasst hat, berührt unter anderem die Frage, wie die Anerkennung kollektiver Verantwortung in konkretes Entschädigungshandeln zu übersetzen ist; siehe dazu Kapitel 7.b.a.
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Mitleid und nicht die Scham ist – und zwar das Mitleid mit den Tätern. Arendt sortiert also zur persönlichen Schuld an dem, was ich als das mir Zurechenbare getan habe, die individuelle Verantwortung und zur Scham über das, was mit mir verbundene Menschen angerichtet haben, die kollektive Verantwortung. Und wenn man in Bezug auf ihre Überlegungen von einer Aporie der Verantwortlichkeit sprechen will, dann gilt sie erstens für die nur metaphorisch sogenannte existentielle Schuld, die wir besser als Fehlbarkeit bezeichnen. Denn dieser Begriff scheint mir geeignet, den bei Arendt durch das Zwischen bedingten Umstand der Unabsehbarkeit zu erfassen und seinen Aspekt hervorzuheben, dass auch diese unverschuldeten Folgen unseres Handelns unwiderruflicher Teil unser persönlichen Geschichte sind. In dieser Grenze menschlicher Freiheit ist das zweifache Bewusstsein davon enthalten, dass das freiheitlich begonnene Handeln seine ursprünglichen Ziele nicht zur Gänze umsetzen kann und dass der Handelnde in dieser Verfehlung immer ein noch Ausstehendes schuldig bleibt. Und zweitens betrifft die Aporie das Empfinden einer Schuld im Sinne der kollektiven Verantwortung und der unbeabsichtigten Folgen unseres Tuns. Die Aporie ist die, dass wir persönlich keine Schuld tragen, aber uns gleichwohl schuldig fühlen, Anteil an diesen Geschichten nehmen und haben und uns deswegen auch verantwortlich zeigen – für ihr Zustandekommen wie für ihren Fortgang. Die dritte und maßgebliche Dimension des Schuldbegriffes bei Arendt ist bereits in den vorangehenden Unterscheidungen angeklungen: die persönliche Schuld, die von den Auswirkungen der existentiellen Schuld und von der kollektiven Verantwortung unterschieden werden muss. Den einzelnen Menschen machen wir verantwortlich für »das, was doch nur er und niemand sonst begann« (VA, 297 f.), das heißt für die Handlungen, die er selbst in die Welt gesetzt hat und die deshalb ihn in besonderer Weise auszeichnen. Im Unterschied dazu kann er durch neue Taten versuchen, auf die Folgen seiner ursprünglichen Tat Einfluss zu nehmen. Aber was aus dieser ersten Tat wird, steht unter den Bedingungen des Bezugsgewebes und fällt deshalb nicht allein in seinen, sondern in den Verantwortungsbereich derjenigen, die Teil dieses Gewebes sind. Anders als die Unausweichlichkeit der existentiellen Schuld ist diese moralische Schuld der einzelnen Person weder unumgänglich noch unvermeidlich oder gar zwangsläufig. Dass es dieser eine Mensch und kein anderer war, A
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der sich für diese und keine andere Tat entschieden hat, bleibt als unabänderliche Tatsache in der Welt. Jede Tat hat für immer ihren Anfänger, den wir für diesen seinen Neuanfang verantwortlich machen können: »Nicht einmal die großen Mächte des Vergessens und Verwirrens, die so wirksam den Ursprung jeder einzelnen Tat und die Verantwortlichkeit für sie zu verdecken imstande sind, bringen es fertig, sie rückgängig zu machen und zu verhindern, daß sie Folgen hat.« (VA, 296 f.) Das Vergessen und das Verschleiern verwischen nur die Verantwortlichkeit im Nebel der Handlungsfolgen. Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit münden bei Arendt daher nicht in einem amoralischen Ungefähr, sondern die Verantwortlichkeit bildet eine moralische Klammer um die aus der zeitlichen Struktur des Prozesscharakters allen Handelns hervorgehenden Aporien der Unabsehbarkeit und der Unwiderruflichkeit. Dass die Aporien des Handelns nicht im amoralischen Ungefähr enden und dass die Aporie der Verantwortlichkeit eben nur die hier existentiell und emotional genannten Dimensionen der Schuld betreffen, können wir uns mittels zweier Überlegungen verdeutlichen, mit denen sich eine Brücke schlagen lässt zu einem Begriff moralischer Verantwortung, der in der Vita activa beansprucht (siehe oben), aber nicht eigens erläutert wird. Erstens: Wenn Arendt von Handlungsanfängen spricht oder die Rede von einer Tat ist, für die sich Menschen gegenseitig verantwortlich machen, dann ist damit nicht nur die konkrete Einzeltat gemeint. Hinter solcher abkürzenden Redeweise kann sich auch eine Handlungseinheit verbergen, die auf eine Person zurückgeht und eine Geschichte ins Rollen bringt oder Teil einer bereits im Gange befindlichen Geschichte ist. Wenn ich jemandem eine Ohrfeige verpassen will, dann schlage ich ihm auf die Wange. In diesem Fall ist der Anfang eine einzige, konkret benennbare Tat, die am Anfang einer Handlungskette steht, von der die Beteiligten nicht wissen können, zu welcher Geschichte sie einmal werden wird. Aber bei anderen Taten stellt sich die Sache anders dar, so dass die Redeweise von der einen Tat als Anfang im Sinne Arendts eine Abkürzung für eine Handlungseinheit mehrerer Einzeltaten ist. Und diese ist ebenfalls der Anfang einer Ereignisfolge, von der man nicht wissen kann, welche Geschichte sich über die noch ausstehenden Handlungsfolgen erzählen lässt. Ein Ehestreit etwa ist eine solche Handlungseinheit oder Teilgeschichte, die wir auch als einen Anfang im Sinne Arendts verstehen. 86
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Zweitens bedeutet die Aporie der Unabsehbarkeit weder das vollständige Nicht-Wissen über mögliche Handlungsfolgen noch die absolute Ohnmacht hinsichtlich der Erreichung der Handlungsziele. Aufgrund des Zwischen gilt, dass wir die Folgen unseres Tuns nicht vorhersehen können und nicht mit der Umsetzung unserer Absichten rechnen dürfen. Aber die Einflüsse des Bezugsgewebes machen aus unseren Handlungen nicht etwas völlig anderes. Das Sprechen und Handeln mit anderen verschafft uns nicht nur jenes beschränkte Wissen von uns selbst, sondern auch Erfahrungswerte und die Fähigkeit, die Erfolgsbedingungen unseres Handelns zu bedenken und es entsprechend abzustimmen. Wir lernen, zwischen verschiedenen Wegen abzuwägen, und treffen daraufhin unsere Entscheidungen. Wir schauen auf die Erfahrungen unserer Mitmenschen und ziehen daraus unsere Schlüsse. Wir haben also begründete Erwartungen, die wir an unsere eigenen Taten richten und die der Grund dafür sind, dass wir weder vollkommen unwissend noch gänzlich blind handeln. Wir verfügen zwar nicht über die Bedingungen des Handelns, aber wir sind in der Lage, so zu handeln, dass die prinzipielle Unabsehbarkeit der Handlungsfolgen nicht notwendig etwas völlig anderes zeitigt, als wir beabsichtigt haben. Unsere Absichten lassen sich meistens nicht so verwirklichen, wie wir es uns erhoffen, aber sie behalten oft eine Richtung bei, die sich im Rahmen der ursprünglichen Zielvorstellungen bewegt. Damit sollen die Fälle nicht ausgeschlossen werden, in denen sich erstens die Ziele eins zu eins verwirklichen lassen oder in denen zweitens etwas völlig anderes geschieht. Aber die Unabsehbarkeit, die die Fragen nach der Möglichkeit von Schuld und Verantwortung aufwirft, ist eine Struktur, die allem Handeln eignet und den Akzent auf die Unmöglichkeit der Verfügbarkeit der Handlungsbedingungen für das Handlungssubjekt setzt. Sie ist nicht dazu gedacht, nur den verschwindend kleinen Teilbereich dessen abzudecken, wenn etwas ganz anderes aus unseren Taten folgt. Sollte ich also jemandem eine Ohrfeige verpassen wollen, dann wird mir die Tatsache des Bezugsgewebes keine großen Hindernisse in den Weg legen. Wenn ich mein Vorhaben nicht lauthals ankündige und anderen Gelegenheit gebe, mich daran zu hindern, muss ich lediglich einen geeigneten Augenblick abwarten und zuschlagen. In diesem Fall bin ich Herr meiner Tat, aber was aus dieser Ohrfeige für mich und mein Opfer folgt, habe ich nicht mehr allein in der Hand. Oder es folgt auf den Ehestreit die Entscheidung für den EheA
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bruch. Doch das Vorhaben scheitert, weil der angedachte Mittäter des Ehebruchs sich weigert und den Partner über den Betrugsversuch in Kenntnis setzt. In solchen Fällen reißen die Unwägbarkeiten des Lebens im Bezugsgewebe dem Betrüger das Heft des Handelns aus der Hand, aber sein Ziel, nämlich die Demütigung oder Verletzung des Ehepartners, dürfte er trotzdem erreicht haben. Der Ehebruch und die Ohrfeige stehen (zumeist) im Zusammenhang einer Vor- und Nachgeschichte, für die der Ehebrecher oder der Schläger nicht allein verantwortlich sind. Aber dass sie aus der Vorgeschichte heraus, sich für diese und für keine andere Tat entschieden und sich an deren Umsetzung gemacht haben, bezeichnet ihre persönliche Verantwortung für ihre Taten und die darauf folgenden Geschichten. Niemand ist gezwungen auf zwischenmenschliche Schwierigkeiten mit Ohrfeigen oder Ehebruch zu reagieren, also mit Taten, von denen er weiß, dass sie nicht Teil der wünschenswerten und anerkannten Umgangsformen sind und im Gegenteil zur Demütigung und Verletzung des anderen Menschen geeignet sind. Wir können also sehr wohl wissen, was wir tun, wenn wir handeln, so lange wir unsere Taten und unserer Zielsetzungen in den Blick nehmen. Was wir nicht zur Gänze absehen können, sind die Folgen unseres Handelns, auch wenn wir darüber begründete Erwartungen hegen können. Und in diesem Sinne sind wir für das, was wir tun, das heißt für die Anfänge, die wir in das Bezugsgewebe hinein setzen, persönlich verantwortlich. Diese Verantwortung hat Arendt erst nach der Vita activa zum expliziten Gegenstand eigener Überlegungen gemacht, als die Verteidigungsstrategie für Adolf Eichmann darauf abhob, er sei nur ein unbedeutendes Rädchen im Getriebe eines staatlichen Großverbrechens gewesen. Arendt sieht durchaus, »daß wir […] durch die moderne Psychologie und Soziologie und nicht zuletzt durch die moderne Bürokratie weitgehend daran gewöhnt sind, die Verantwortung des Täters für seine Tat im Sinne des einen oder anderen Determinismus hinwegzueskamotieren« (EJ, 18). Aber im Einklang mit der eben nicht totalen Unabsehbarkeit versteht sie das Gerichtsverfahren als Sinnbild nicht nur für das Recht, sondern auch für die Notwendigkeit, es nicht bei den determinierenden Mechanismen bewenden zu lassen, sondern nach dem Tun der Menschen und ihrer persönlichen Verantwortung zu fragen. Die Debatte um ihr Eichmann-Buch hatte Arendt darüber belehrt, »wie tiefsitzend die Furcht davor sein muß, ein Urteil zu fällen, 88
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Namen zu nennen und Verantwortung festzustellen« (PVD, 12). Sie habe es sich erlaubt, an bestimmten Personen bestimmte Schuld festzumachen. Und die anschließende Aufregung über ihre Weigerung, die Wurzeln der nationalsozialistischen Herrschaft bei »Platon oder Joachim von Fiore oder Hegel und Nietzsche, oder […] in der Technologie, im Nihilismus oder in der Französischen Revolution« zu suchen und vom Handeln der Täter zu schweigen, nahm sie als Bestätigung ihres Verdachtes, dass hinter der Weigerung, sich über die Taten anderer ein Urteil zu bilden, der Verdacht stehe, »daß eigentlich niemand ein frei handelndes Wesen ist, und von daher wird bezweifelt, ob überhaupt jemand verantwortlich ist« (PVD, 11). Das Gerichtsverfahren aber bietet die Gelegenheit, den Ausflüchten in geschichtliche Konstellationen oder irgendwelche Ismen ein Ende zu machen. Vor Gericht stehen lebendige Menschen, die sich für für ihre menschlichen Taten verantworten müssen. Vor Gericht endet das Gerede vom Rädchen im Getriebe, weil der Prozess der Person und nicht dem Rädchen gilt, das in ein menschliches Wesen zurückverwandelt wird: »›Und warum, bittesehr, wurden Sie ein Rädchen oder blieben Sie es unter derartigen Umständen‹ ?« (PVD, 22; vgl. ÜB, 22, 151) Denn auch wenn es stimmt, dass wir in der Zuschreibung persönlicher Verantwortung angehalten sind, die Umstände der Tat dem Täter zugute zu halten, haben die Berufung auf das Rädchen oder die Ausflüchte in das Handeln auf höheren Befehl ihre Grenze im Wesen des Gehorsams, das sich mit Arendts Unterscheidung zwischen archein und prattein aus der Vita activa erklären lässt. Wenn Menschen handeln, können sie das nur gemeinsam, denn derjenige, der etwas anstößt, ist auf die Hilfe der anderen angewiesen, die ihm helfen, zu vollenden, was er angefangen hat. Daher sind diejenigen, die dem Initiator beispringen, keine willenlose und verfügbare Masse, sondern sie geben ihre Zustimmung und übernehmen diejenige persönliche Verantwortung, die mit dem Handeln einhergeht. Und deshalb muss die eigentliche Frage an sie nicht lauten: »›Warum hast Du gehorcht?‹ sondern: ›Warum hast Du Unterstützung geleistet?‹« (PVD, 38). Wer andersherum an all den mehr oder weniger ausgefeilten Rechtfertigungsstrategien zum »Abwälzen von Verantwortung« (ÜB, 21) festhält, leistet einen Offenbarungseid, weil er sich zu einer bloßen Funktion herabwürdigt und gesteht, dass er es versäumt hat, eine Person zu werden, ein Jemand mit einer ihn als unverwechselbare Person kennzeichnenden Geschichte. Wenn wir uns verantwortA
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lich zeigen, zeigen wir uns als der, der gehandelt hat. Wir reklamieren Taten für uns und schreiben sie uns als Teil unserer Geschichte zu. Oder wir übernehmen im anderen Fall die Zuschreibung von Taten, die unsere Mitmenschen uns zurechnen. Denn auch in dieser je individuellen Übernahme, in der wir dem Zurechnungsakt anderer zustimmen, werden wir für uns selbst und die anderen als Person mit einer konkreten Geschichte greifbar. Deshalb ist die moralische Verantwortung der Ort, an dem Arendts radikale Bindung des praktischen Selbstbewusstseins an den intersubjektiven Lebensvollzug ihre ethische Umsetzung findet. 55 Arendts Kritik an den verschiedenen Spielarten eines entschuldigenden Determinismus macht es notwendig, die Vorstellung einer zur moralischen Einsicht befähigten Person zu ergänzen, ohne die sich weder ihr Begriff moralischer Verantwortung noch der der Person aufrechterhalten ließe. Dazu genügt es, auf den Ursprung dieser moralisch autonomen Person aus Arendts sokratischen Überzeugung hinzuweisen, dass man in Übereinstimmung mit sich selbst und seinen Überzeugungen leben muss. Deshalb nämlich gelangt ein jeder, der sich der kritischen Instanz seines eigenen Gewissens unterwirft, zu der Ansicht, dass Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun. Denn wer wolle schon auf ewig mit einem Missetäter zusammenleben. Die Voraussetzung ist also die einer vernünftigen Person, die prinzipiell in der Lage ist, ihr Denken und Handeln in Bezug zu den geltenden Rechten und Pflichten innerhalb der Ordnungen zu setzen, in denen sich ihr Leben vollzieht. Als eine solche Person kann sie sich unter Angabe von Gründen zu den Zuschreibungen von Taten und Verantwortung stellen und über ihre Beweggründe Auskunft geben. Wenn wir diese Voraussetzung vernünftiger Personen, die mit anderen ebenso vernünftigen Person in einem Bezugsgewebe leben, die ihr Handeln an anerkannten normativen Richtlinien orientieren und sich anhand dieser Richtschnur zu wechselseitiger Rechtfertigung und Beurteilung in der Lage sehen, nicht machen, dann hängen die beiden entscheidenden Grundbedingungen menschlichen Lebens bei Arendt, Natalität und Pluralität, in der Luft. Denn so ließe sich Diese Überlegungen zu den Dimensionen der Schuld und der ihnen zugehörigen Form der Verantwortung führen nicht den Anspruch einer endgültiigen Analyse mit sich, aber sie machen verständlich, dass von einem ungelösten Problem individueller Verantwortung bei Arendt nicht unbesehen die Rede sein kann; vgl. Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 41–45.
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schlechterdings keine – moralische oder politische – Ordnung denken, die der Gleichheit der Menschen in ihrer anthropologischen Bedingtheit auch in ihrem faktischen Zusammenleben Rechnung trüge und der Fähigkeit des Anfangens, also der Freiheit, unter den Bedingungen der Pluralität Raum verschaffte. 56 d Das Scheitern der Tradition an den Aporien des Handelns Alles Handeln steht unter der Bedingung der Pluralität und ist deshalb von einer mit menschlichen Fähigkeiten nicht beherrschbaren Schrankenlosigkeit und Zähigkeit, die sich als Lasten der Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit zeigen. Diese »Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten« (VA, 234) hat zu vielerlei Versuchen geführt, das Handeln abzuschaffen und die menschliche Freiheit gering zu schätzen, weil sie jeder Mensch scheinbar nur so ausfüllen kann, »daß er weit eher das Opfer und der Erleider seiner eigenen Tat zu sein scheint als ihr Schöpfer und Täter.« (VA, 298) Dass die Entrichtung dieses »Preis[es] für die Freiheit« den Menschen oft mehr abverlangt, als ihre Kräfte es ihnen zu erlauben scheinen, hat Arendt selbst gesehen, denn sie zahle ihn zwar, »aber ich kann nicht sagen, daß ich ihn gern zahle.« 57 Dabei ist das Prinzip der Fluchtwege aus den Unwägbarkeiten des Handelns, das zugleich das Prinzip der von Arendt erzählten Geschichte des Scheiterns an den Aporien ist, immer dasselbe. Weil sich die Aporien aus der Pluralität ergeben, ohne die es überhaupt gar keinen Raum gäbe, in dem Menschen miteinander handeln könnten, ist es die bevorzugte Lösung, an die Stelle des Handelns in Gemeinschaft mit anderen Menschen ein Herstellen zu setzen, das der einzelne Mensch allein und ohne die Störungen und Hinderungen durchführen kann, die sich aus der Gesellschaft anderer Menschen ergeben. Am Beginn dieser fortgesetzten »Vernichtung des öffentlich politischen Bereiches« (VA, 280) steht bei Arendt Platons Rechtfer56 Ich belasse es hier bei dem Hinweis, dass mit dem Selbstgespräch ein Moment der persönlichen Moralität getroffen ist, das die intersubjektive Dimension der individuellen Moralität nicht umfassend zur Geltung bringt, aber es dennoch erlaubt, Arendts Ideen in den Zusammenhang eines autonomen Handlungssubjektes einzuzeichnen, wie ich ihn oben (vgl. FN 38, S. 71) skizziert habe; siehe für Arendt LG, 166–192; ÜB, 34–37; dies.: Über den Zusammenhang von Denken und Moral, in: ZVZ, S. 128– 155. 57 Hannah Arendt: Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache (1964), in: Gespräche mit Hannah Arendt, hg. v. Adelbert Reif, München 1976, S. 29.
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tigung des Unterschiedes zwischen Herrschen und Beherrscht-Werden, der darauf hinausläuft, »Politik überhaupt abzuschaffen« (VA, 281). Die politische Tradition habe die sich daran anschließende »Platonische Identifizierung von Wissen mit Befehlen und Herrschen und Handeln mit Gehorchen und Vollstrecken« (VA, 285) verteidigt, ohne sich den Hintergrund von Platons Umformulierung jenes Unterschiedes zwischen Anfangen und Durchführen, nämlich den Konflikt zwischen der Polis und der Philosophie im Prozess gegen Sokrates, zu vergegenwärtigen und ohne Platons Bewusstsein um den revolutionären Charakter seiner Gedanken (vgl. VA, 283) zu bewahren. Seine Unterscheidungen verschaffen der Gewalt Eingang in die Vorstellungen vom Politischen, die als Mittel zur Erreichung seines Zweckes allem Material verbrauchenden Herstellen eigen ist. Solange das Herstellen als Funktionsprinzip des Politischen noch einem Zweck dient, sind die gewalttätigen Potentiale gebändigt. Wenn aber Homo faber zur höchsten Existenzweise des Menschen erklärt wird, dann rückt der Übergang vom autoritären zum totalitären Ausweg aus den Aporien des Handelns in greifbare Nähe. Die Gefahr beider Auswegen besteht darin, dass, »[s]olange wir uns einbilden, daß wir im Politischen uns im Sinne der Zweck-Mittel-Kategorie bewegen,« wir nicht in der Lage sind, »irgend jemand davon abzuhalten, jedes Mittel zu benutzen, um anerkannte Zwecke zu verfolgen.« (VA, 291) Arendt erzählt mit Platon beginnend eine lange Geschichte des Scheiterns an der Tatsache der Pluralität, zu deren Hauptakteuren Homo faber und Animal laborans zählen (siehe die § 29–30 der Vita activa). Eine Geschichte des Scheitern ist es deshalb, weil die Grundbedingung der Pluralität, dass sich unaufhörlich neue Menschen zu Wort melden und die Welt ihrer Vorgänger ins Wanken bringen, der Verfügbarkeit ebendieser Menschen entzieht. Die lebendige Wirklichkeit des Bezugsgewebes ist »technisch nicht kontrollierbar« (VA, 289), weswegen die Ersetzungsversuche in Wahrheit keine Antworten auf die Aporien des Handelns. Sie begegnen vielmehr dem Leid und den Unwägbarkeiten, das allem Handeln zwischen Menschen innewohnt, indem sie das Leben von Menschen kurzerhand um die Dimension des Handelns und damit um die Beziehungen zwischen Personen (und nicht zwischen Herstellern) kürzen. Die Gefahr dieser Anmaßung des Herstellens ist die, dass man die zerbrechlichen Angelegenheiten zwischen den Menschen »durch die soviel verläßlicheren und solideren Tätigkeiten, mit denen wir 92
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der Natur entgegentreten und die Welt der Dinge errichten, stützt und verstärkt, bis es zerreißt« (VA, 293); zerreißt, weil sich mit Menschen aufgrund ihrer handlungsbedingten Unberechenbarkeit nicht wie mit Dingen verfahren lässt. Wie unter Menschen, die ihr Zusammenleben so gestalten, dass sie zueinander als Handelnde (und nicht bloß als Herstellende oder Arbeitende) in Beziehung treten können, mit der Unabsehbarkeit und der Unwiderruflichkeit des Handelns umgegangen werden kann, weiß das Herstellen nicht zu sagen, weil es diese Fragen mit dem Handeln selbst aus dem Zwischen verweist und sich allein mit dem ihm eigenen Korrektiv zu helfen weiß: dem der Zerstörung. Alle scheiternden Fluchtversuche aus dem Handeln sind im Grunde die Anzeige dessen, dass es zwei Möglichkeiten gibt, sich zu den Aporien des Handelns zu stellen: nämlich die Abschaffung des Handelns und die Option für einen Defätismus gleich welcher Art auf der einen Seite und das Vertrauen in das Handeln auf der anderen Seite als die ausgezeichnete Weise, als Mensch unter Menschen zu leben und den Unwägbarkeiten des Handelns gerade handelnd zu begegnen. Den Mut, den alles Handeln aufgrund seiner Unwägbarkeiten voraussetzt, hat Arendt andernorts als doppeltes Wagnis beschrieben: zum einem das Wagnis, sich als die Person zu zeigen, die man ist, und zum anderen das Wagnis eines Vertrauen des Handelnden »auf die Menschen. Das heißt, in einem […] Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen.« 58 Die Fähigkeit des Anfangen-Könnens verleiht Arendts ersten Hauptwerken gleichermaßen und entgegen ihrem bisweilen als pessimistisch charakterisierten Anschein, einen optimistischen Grundzug, dass weder die totale Herrschaft noch die Auswüchse der industriegesellschaftlichen Moderne das Handeln und damit das freiheitliche Zusammenleben der Menschen je zur Gänze abschaffen können. 59
Arendt: Was bleibt, S. 34. Dass dem so ist, erhellt daraus, dass die Elemente und Ursprünge mit jenem, für Arendts Denken zentralen Augustin-Zitat von der Anfänglichkeit des Menschen endet, an der auch – das ist die inbegriffene These – der Angriff der totalen Herrschaft abprallt, und dass die Vita activa in ihrer Dramaturgie sich auf die Handlungsvermögen des Verzeihens und Versprechens zuspitzt. Was in der Vita activa folgt, ist nicht mehr als Arendts Abgesang auf die Ablösung von Homo faber durch Animal laborans, die beide gleichermaßen vor dem handelnden Menschen versagen. 58 59
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Mit der Geschichte vom Scheitern an den Aporien des Handelns will Arendt veranschaulichen, dass das Handeln in der Pluralität der vielen Menschen immer dazu verführt hat, sich aus der Zwischenmenschlichkeit zurückzuziehen und »die Gabe der Freiheit« (VA, 298) zu verschmähen. Denn sie verstrickt jeden, der sich der Fähigkeit des Anfangens bedient, unweigerlich in ein Netz von Unabsehbarkeiten und Unwiderruflichkeiten. Der entscheidende Fehler aller Fluchtversuche aus dem Handeln, die sich in dem Verdacht gegen die Freiheit treffen, liegt jedoch in der Gleichsetzung der Freiheit mit der Souveränität, verstanden als Herrschaft über sich selbst und andere, und in der inbegriffenen Verkennung einer anthropologischen Grundbedingung menschlichen Lebens. Denn unter der Bedingung der Pluralität ist es dem Menschen aufgegeben, dass ihm »Freiheit nur unter der Bedingung der Nicht-Souveränität geschenkt ist« (ZVZ, 214). In der Gemeinschaft mit anderen hat die Klage über den Verlust von Freiheit und Souveränität nur dann ihren Sinn, zöge man sich um den Preis lebendiger Wirklichkeit entweder in die totale Einsamkeit oder in Phantasiewelten zurück. Und auch derjenige, der sich darauf verlegt, andere zu beherrschen, enträt den Unwägbarkeiten nicht zur Gänze, weil er sich – freilich in herstellend-gewalttätiger Weise – doch auf das Leben mit anderen Menschen eingelassen hat. Wenn man sich aber weder aus dem Leben unter Menschen verabschieden noch die Gleichsetzung von Freiheit und Souveränität unterstützen und sich deshalb auf die »›Absurdität‹ menschlicher Existenz« verlegen will, muss man nach Wegen suchen, wie man »die phänomenale Evidenz menschlicher Realität« (VA, 300), dass Menschen frei und doch nicht souverän sind, so erläutern kann, dass Gewalt und Flucht nicht der einzige Ausweg aus den Aporien des Handelns bleiben. Ein solcher Weg könnte aus der »ungeheure[n] Zähigkeit des Getanen […] eine Quelle menschlichen Stolzes« machen und die »Last von Unwiderruflichkeit und Unvorhersehbarkeit« (VA, 297) tragen helfen. Aus der Geschichte des Scheiterns an den Schwierigkeiten des Handelns ragt ein Versuch heraus, der für Arendt deswegen Vorbildcharakter hat, weil er anders als alle anderen auf das Handeln selbst setzt. 60 Der Ausweg der griechischen Polis nämlich, wie er zu Peri60
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kles’, aber nicht mehr zu Platons Zeiten noch lebendig war, betrifft nicht die einzelnen Aporien, sondern die Vergeblichkeit des Handelns überhaupt. Gegen den Anschein, dass dem menschlichen Handeln so wenig Erfolg und Dauerhaftigkeit beschieden ist, setzte sie die Überzeugung, »daß menschliches Leben nur darum und in dem Maße sinnvoll ist, als es in einem ›Teilnehmen und Mitteilen von Worten und Taten‹ besteht.« (VA, 247) Zum einen schuf sie einen dauerhaften Raum, in dem jeder als der erscheinen konnte, »wer er in seiner einmaligen Verschiedenheit war.« (VA, 247) Zum anderen gestaltete sie diesen Raum so, dass er aus sich selbst heraus ein Schutz vor dem drohenden Vergessen bot und auf diese Weise den Menschen durch die Erinnerung an denkwürdige Taten einen Anteil an der den Göttern vorbehaltenen Unsterblichkeit verschuf. Durch die räumliche Grenze der Stadtmauer und die innere Struktur der Gesetze versuchte sie ihrem Selbstverständnis nach, die Nachwelt ebenso zu Zeugen großer Taten zu machen wie es die Mitwelt ist. Die Polis sollte ein Raum sein, in dem das Andenken an die vergangenen Taten und damit das Mittel gegen die Vergänglichkeit des Handelns das Handeln selbst sein konnte: »die Gegenwart einer Mitwelt« (VA, 251). Der eigentliche Ort der Polis und der vergegenwärtigenden Fortsetzung des gemeinsamen Handelns und Sprechens ist kein exakt bestimmbarer Platz auf der Erde, sondern das »Miteinanderhandeln und -sprechen«, das allerorten »ein räumliche[s] Zwischen« (VA, 250) zwischen Menschen errichten kann. Was Arendt von diesem Selbstverständnis der Polis auf ihrer Suche nach Möglichkeiten, den Handlungsaporien zu begegnen, übernimmt, sind zwei Dinge: die Überzeugung, dass zum menschlichen Leben die Gemeinsamkeit im Sprechen und Handeln gehört; und der Mut und das Vertrauen in die Stärke des Handelns. Dem Fron der Arbeit entgeht das Animal laborans, indem es sich die eigene Persönlichkeit abzielt. Der Held legt wie der homerische Achilleus alles in eine einzige Tat von unvergleichlich Aufschluss gebender Qualität und stirbt. Nur unter der Bedingung des Verzichtes, »in einem Kontinuum zu leben,« könnte es überhaupt gelingen, dass man Herr seiner selbst bliebe und »nicht nur der Täter seiner Tat, sondern auch der Verfasser, der sich aus ihr ergebenden Geschichte« (VA, 243) wäre. Dass das heldenhafte Unterfangen, handelnd sich selbst zu bewahren, immer scheitern muss, weil allem Handeln das Moment der Selbstentäußerung zugehörig ist, verleiht dem Helden erstens das Tragische und Törichte seiner Existenz, macht ihn zweitens zu einem Unbeteiligten an der Suche nach Umgangsformen für Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit und ist drittens eine radikale Kritik am Leben in der Gemeinschaft mit anderen, was Arendts Bewunderung für solches antipluralitäre Handeln entgangen ist. A
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seiner Fähigkeit des Herstellens bedient, Werkzeuge herstellt und die Welt der Dinge errichtet. Dem Leben unter dem Gesetz von Zweck und Mittel entflieht Homo faber, indem er mit seinesgleichen spricht und handelt. Und in der aufsteigenden Linie der Tätigkeitsweisen ist es allein in der Tätigkeit des Handelns, dass »das Heilmittel« (VA, 301) aus der Tätigkeitsform selbst erwächst. Verfügte das Handeln nicht über dieses »Heilmittel«, stünde Arendts Bevorzugung von Handeln und Sprechen gegenüber dem Arbeiten und dem Herstellen auf dem Spiel: »Dramaturgisch wie systematisch ist dies der Höhepunkt des gesamten Buches«. 61 Beistand angesichts der Unwiderruflichkeit finden wir »in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen« und angesichts der Unabsehbarkeit »in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten.« (VA, 301) Beide Vermögen sind wie das Handeln überhaupt nur in der Gemeinschaft mit anderen denkbar: »Denn niemand kann sich selbst verzeihen, und niemand kann sich durch ein Versprechen gebunden fühlen, das er nur sich selbst gegeben hat. Versprechen, die ich mir selbst gebe, und ein Verzeihen, das ich mir selbst gewähre, sind unverbindlich wie Gebärden vor dem Spiegel.« (VA, 302; vgl. DT, 376) Dass uns verziehen wird oder wir verzeihen, ist ebenso eine Erfahrung, die wir nur im Umgang mit anderen Menschen machen können, wie die Erfahrung, dass wir Versprechen halten und andere ihre Versprechen uns gegenüber halten. Sie kommen »im Rahmen des Umganges mit uns selbst überhaupt nicht« (VA, 303) vor. Platon ordnet den Bereich des Politischen entlang von Maßstäben, die er aus dem Umgang des Menschen mit sich selbst, nämlich aus der Seele und ihrer rechten Verfassung durch die Selbstbeherrschung, gewann. Hagedorn: Verzeihen, S. 279. Diesem Urteil kann man sich auch aus der Perspektive von Arendts Theorie der modernen Gesellschaft anschließen, die sich als Ganzes aus den Elementen und Ursprüngen, der Vita activa und Über die Revolution erschließen lässt und für die Zwischen Vergangenheit und Zukunft, ein Bindeglied der beiden erstgenannten Schriften ist. Dort wiederum taucht das Verzeihen am Verbindungspunkt zwischen jener Theorie und ihrem Handlungsbegriff auf, wo sie den Prozesscharakter des Handelns mit den technischen Fähigkeiten zur Veränderung der scheinbar unveränderlichen Gesetze der Natur verbindet, welche gleichwohl die Folgen solchen Handelns nicht beherrschen können und deswegen die Unberechenbarkeit des Handelns in die Natur hineintragen; siehe ZVZ, 74–79. Es geht hier darum, dass das Verzeihen bei Arendt nicht allein in der engeren Handlungstheorie eine Rolle spielt. Dem ließe sich jedoch erst auf Grundlage einer Verzeihensanalyse im Rahmen ihrer Handlungstheorie nachgehen. 61
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Wer sich selbst beherrsche, sei zur Herrschaft über andere befähigt. Aber wie die Prinzipien des Selbstverhältnisses sachfremde Maßstäbe an die Zwischenmenschlichkeit anlegen und das Politische nach dem »Bilde der […] Seelenverfassung des Einen« (VA, 303) gestalten, so ist es ebenso wenig möglich dieses Bedingungsverhältnis umzukehren und von Selbstverzeihung und Selbstversprechung zu reden, also Maßstäbe an das Selbstverhältnis anzulegen, die allein im Umgang mit anderen Menschen ihren Ort haben. Das entscheidende und sich aus den Grundbegriffen ihrer Handlungstheorie ergebende Argument ist aber, dass der Gegenstand jeder Verzeihung, also das Wer-einer-ist, sich ausschließlich im Handeln und Sprechen offenbart. Wir können von uns selbst nur im Medium der Intersubjektivität wissen, oder anders gesagt: Unser jeweiliges Wer-einer-ist wird uns selbst nur durch die Art zugänglich, auf die uns unsere Mitmenschen mitteilen, als wen sie uns erfahren und verstehen. Nur durch diese beständigen Rückmeldungen sind wir in der Lage, für uns selbst zu einer Geschichte zu gelangen, die uns sagen, kann, wer wir sind. So sagt uns auch das Handlungsvermögen des Verzeihens, ob wie nun Verzeihung gewähren oder erfahren, nur auf dem Weg über den anderen Menschen, wer wir sind. Ohne unseren Mitmenschen wüssten wir gar nichts von uns selbst und im besonderen Fall nichts von dem verzeihungsbedürftigen Unrecht, das wir getan haben. Wer trotzdem an dem irreführenden Begriff der Selbstverzeihung festhalten will, muss sich über zwei Dinge im Klaren sein. Erstens ist das, was man mit diesem Begriff zu erfassen glaubt, nur ein Nebenprodukt der zwischenmenschlichen Verzeihung, das ohne diese gar keinen Bestand hätte. Zweitens laufen die Verfechter solcher Verzeihung Gefahr, aus der Zwischenmenschlichkeit eines schuldhaften Geschehens genau im Moment seines Ausgleiches eine beliebige Sache des Selbstverhältnisses zu machen, die den sinnentleerten Gebärden vor dem Spiegel gleicht und die die Verzeihung um ihr wesentliches Um-des-anderen-Willen bringt. Und weil in solchem Vorgehen die Mitwelt willentlich zum Verschwinden gebracht wird, muss für dieses Phänomen ein Begriff gefunden werden, der anders als das hier unpassende Verzeihen anzeigt, dass es sich hier nicht mehr um ein zwischenmenschliches Handeln handelt, sondern um eine selbstgenügsame und bisweilen auch selbstgerechte Klärung des Selbstverhältnisses.
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II Arendts Handlungstheorie
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Das Versprechen und die Unabsehbarkeit
Das Versprechen ist das bekanntere der beiden Handlungsvermögen, die Arendt als »Heilmittel« (VA, 301) für die Unwägbarkeiten des Handelns präsentiert. In der Gestalt von Verträgen oder als Prinzip der politischen Theorie ist es ein bewährtes Instrument und gilt »als die zentrale politische Fähigkeit«. Menschen geben einander Versprechen vornehmlich aus zwei Gründen. Die Unabsehbarkeit hat ihren Grund erstens in der »Unergründbarkeit des menschlichen Herzens« und Wesens, dass niemand »dafür einstehen kann, wer e[r] morgen sein wird« (VA, 311). Dieses Dilemma hat zweitens seinen Grund in der Bedingung der Pluralität und der Verursachung der Handlungsfolgen (nicht der Tat selbst) durch das Bezugsgewebe. Die Pluralität, in der jeder handelnde Mensch sich notwendig bewegen muss, ist der Grund, weshalb niemand sich selbst ungebrochen Vertrauen schenken und in seine Handlungen unbeirrbare Zuversicht haben kann. Das freiheitliche Handeln erlaubt kein wahrhaftes Selbstvertrauen, weil niemand über sein Tun und dessen Folgen Herr sein und bleiben kann. Die Zukunft ist eine unstete Angelegenheit; und diese Unzuverlässigkeit »ist der Preis, den sie [die Menschen, T. D.] dafür zahlen, daß sie mit anderen ihresgleichen zusammen die Welt bewohnen, der Preis, mit anderen Worten, für die Freude, nicht allein zu sein, und für die Gewißheit, daß das Leben mehr als ein Traum ist.« (VA, 312) Die Freude am gemeinsamen Leben mit anderen Menschen, die die unhintergehbare Unsicherheit des Handelns aus der Freiheit des Anfangen-Könnens aufwiegt, findet einen Anhaltspunkt im Versprechen auf zweifache Weise. Anders als Platon, der den Ausweg aus jener Ungewissheit mittels der Selbstbeherrschung und der entsprechenden Beherrschung anderer mit all den zerstörerischen Folgen, die solche Ersetzung des Handelns durch das Herstellen immer gehabt hat, in Kauf nahm, berücksichtigt das Versprechen (wie seine Umsetzungen in rechtliche und gesellschaftliche Institutionen), dass die Menschen in der Pluralität zwar frei sind, aber zugleich innerhalb des Bezugsgewebes niemals souverän sind, wie es die platonische Selbstbeherrschung vorgibt zu sein. Vertraglich gegründete Gemeinwesen rechnen anders als auf Herrschaft basierende mit der Unabsehbarkeit des Handelns und der Unzuverlässigkeit der Menschen. In die ungewisse Zukunft hinein errichtet das Versprechen »Inseln des Voraussehbaren« (VA, 313). Menschen kommen miteinander 98
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überein und legen ein Versprechen ab, wodurch sie eine Macht über die Zukunft gewinnen, die dem Einzelnen nicht möglich ist. Nur in Gemeinschaft können Menschen auf die Zukunft so zugreifen, als wäre sie die Gegenwart. Das Versprechen soll die »Menschen auch für sich selbst ›berechenbar‹ und die Zukunft verfügbar« (VA, 314) machen. Die in Anführungen gesetzte Berechenbarkeit zeigt an, dass es Arendt nicht um eine plumpe Verfügbarkeit der Zukunft geht. Ansonsten erwiese sich ihr Widerspruch zum platonischen Ausweg aus den Unwägbarkeiten des Handelns als hinfällig. Die Art der Verbindlichkeit des Versprechens ist nämlich keine, mittels derer die Beteiligten sich auf eine bestimmte Weise festlegen und verpflichten, das ursprüngliche Ziel zu verfolgen. Das liefe auf den zerstörerischen Ausweg des Herstellens aus dem Handeln hinaus, der die Freiheit und die Unabsehbarkeit des Handelns zugunsten der Herrschaft abzuschaffen versucht. Konsequenterweise können Versprechen solche Gewissheit für Arendt nicht bieten, denn sie verlieren ihre Menschen verbindende Kraft immer dann, »sobald sie dazu mißbraucht werden, den Boden der Zukunft abzustecken und einen Weg zu ebnen, der nach allen Seiten gesichert ist« (VA, 313). Versprechen sind keine Beschreibungen, sondern Absichtserklärungen, die den Graben zwischen der Absichtsformulierung und ihrer notwendig dahinter zurückbleibenden Verwirklichung nicht schließen können. Was das Versprechen den Menschen verspricht, ist eine besondere Form des Zusammenhaltes, nämlich eine gemeinschaftlich versprochene und verbindliche, aber darum nicht grenzenlose Unabhängigkeit von der ungewissen Zukunft. Aus der Fähigkeit, sein Wort gegen Widrigkeiten zu halten, gewinnt der Einzelne eine Souveränität, die unaufhebbar an die gebunden ist, denen er sein Versprechen gibt. Denn nur in dem intersubjektiven Bezug aufeinander, »wo Viele im Für- und Gegeneinander für sich selbst gutsagen und sich für Umstände, die sie nicht voraussehen können, dennoch binden« (VA, 314), kann er sich aus freien Stücken vor der Zeugenschaft der Mitmenschen darauf verpflichten, diesen einmal gesetzten Anfang auch dann nicht aus den Augen zu verlieren, wenn das Bezugsgewebe sein veränderndes und unausweichliches Werk begonnen hat. Das Versprechen ist »ein eigentliches Gedächtnis des Willens« (DT, 135). Ohne die Zeugen des Zweckes, den jemand mit einer bestimmten Tat beabsichtigt, hat das Versprechen, die Verpflichtung auf eine Absicht, keinen Sinn. A
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Das »›außerordentliche[] Privilegium der Verantwortlichkeit‹« (VA, 314), von dem Arendt im Sinne der zuvor ergänzten Unterscheidungen in den Begriffen der Schuld und Verantwortung hier als einer persönlich zurechenbaren Verantwortung spricht, hat seinen Grund auch in der freiwilligen Bindung vor Zeugen, das heißt in der Instanz des Versprechens. Aber weil sich das Versprechen immer in die ungewisse Zukunft hinein verpflichtet und das mit der Tat Angezielte gegen das sich notwendig und immer mit ergebende Unbeabsichtigte abgrenzt, fällt es auch unter den Unterschied zwischen der persönlichen Schuld an den vorhersehbaren und der persönlichen Verantwortung für die unvorhersehbaren Folgen der Tat (vgl. Kapitel 2.c.g). Dass es Arendt um einen politischen Begriff des Handelns zu tun war, woraus keinesfalls der Ausschluss eines nicht-privates Handelns folgt, führt zu einer vertragstheoretischen Schlagseite der Beispiele für das Versprechen. Hagedorn hat deswegen zu Recht und im Einklang mit den Grundbegriffen arendtscher Handlungstheorie nach der identitätsstiftenden und persönliche Zukunft eröffnenden Dimension des Versprechens gefragt und die Verbindung der individuellen Handlung mit dem politischen Vertragsabschluss als entscheidendes Kennzeichen ihres Versprechensbegriff hervorgehoben. Das Versprechen, wie Arendt es sich vorstellt, ist zunächst ein horizontales Versprechen zwischen Menschen, die dadurch politische Macht erzeugen und in einem nächsten Schritt das Versprechen vertraglich formalisieren. Wenn man das Versprechen so wie Hagedorn anhand ihrer Schilderung des Mayflower Compact der Pilgrimfathers aufschlüsselt, wird deutlich, dass man ihren Begriff des Versprechens weder auf den Vertrag als Basis der Macht noch auf seine politische Dimension engführen kann. Wovon sie spricht, ist ein Versprechen »›in the presence of one another‹« (wie die Beglaubigungsformel der amerikanischen Founding Fathers lautete), dem immer eine zwischenmenschliche Bindungskraft eignet und das deswegen nicht einfach in einem Vertragstext abgelegt werden kann, sondern immer wieder einer realen Vergegenwärtigung bedarf. 62 Das Versprechen setzt der identitäts- und der pluralitätstheoretischen und der moralischen Dimension der Aporie der UnabsehSiehe Hagedorn: Verzeihen, S. 280–285, der sich auf ÜR, 220–223, beruft; vgl. Hannah Arendt: Ziviler Ungehorsam, in: dies.: In der Gegenwart, S. 283–321, hier S. 308– 314.
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barkeit seine besondere Kraft entgegen. Die Unabsehbarkeit des Handelns entlässt den Menschen in eine Ungewissheit über das Werer-selbst-ist, weil keiner die Geschichten, die sein Wer-einer-ist prägen, in der Pluralität bestimmen und sein Selbst formen kann. Das Versprechen ist ein Gegenhandeln gegen diese Last der Ungewissheit. In ihm können wir uns »für eine ungewisse Zukunft […] binden« und unserem Wer-einer-ist eine Orientierung geben, weil »der Ruf der Mitwelt« von uns die Einhaltung unserer Versprechen einfordert und unser Wer-einer-ist »bestätigt, bzw. diese Identität überhaupt erst konstituiert.« Wer wir sind, wissen wir selbst zu unseren Lebzeiten gerade durch die Erfahrung, dass die Mitmenschen von uns die Einhaltung unserer Versprechen verlangen und uns auf diese Weise im Wirrwarr des Handlungsgeflechtes in die Lage versetzen, »die eigene Identität durchzuhalten« (VA, 302). Das Versprechen tritt in der Gegenwart des gelebten Lebens an die Stelle des Geschichtenerzählers und verweist auf den, der in ihm handelt und sich als verantwortliche Person durch die Zeitläufte hindurch zu erkennen gibt. 63 b
Das Verzeihen und die Unwiderruflichkeit
Was im § 33 Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen geboten wird, ist eine Skizze des Vermögens zu verzeihen, die nur in wenigen Bemerkungen auf die Möglichkeit eines politi63 Im Denktagebuch findet sich ein Versprechen, das nicht nur durch die Forderung der anderen identitätsverbürgende Qualität gewinnt, sondern zugleich durch eine Selbstverpflichtung des Versprechenden: »Die Unvorsehbarkeit der Andern – d. h. ihre Freiheit – können wir nur ertragen, wenn wir uns wenigstens auf uns selbst verlassen können. Dies realisiert sich im Versprechen und im Versprechen-halten.« (DT, 74) Dass dieser Gedanke nicht in die Vita activa aufgenommen wurde hat zwei Gründe: Erstens hat Arendt das Bewusstsein über das Wer-einer-ist in konsequenter Ausführung der Pluralität an die Intersubjektivität gebunden. Verlässlichkeit gibt es nur in der Zwischenmenschlichkeit. Zweitens aber läuft solches Versprechen exakt auf die sinnentleerten »Gebärden vor dem Spiegel« (VA, 302) hinaus, mittels derer Arendt jede Vorstellung von Selbstverzeihung oder Selbstversprechungen ablehnt. Deshalb kann man diesen Versprechensbegriff aus dem Denktagebuch nicht mit dem aus der Vita actia oder Über die Revolution harmonisieren, wie das Hagedorn: Verzeihen, S. 285, tut und was insgesamt auf die quellenkritische Problematik des Denktagebuches verweist, das sicherlich »eine wahre Entdeckung«, ebd., S. 288, ist, aber seine interpretatorischen Tücken hat; vgl. auch Kapitel 3.b.a.
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schen Verzeihens eingeht. Arendt merkt eingangs lediglich an, dass Versprechen und Verzeihen geeignet seien, »in der Politik bestimmte Prinzipien zu konstituieren« (VA, 303). Dass beide Vermögen die Begründungslast tragen müssen, die phänomenalen Evidenzen der Freiheit und der Nicht-Souveränität in ihrer Vereinbarkeit nachzuweisen (siehe VA, 300), schreibt nicht die Interpretation vor, dass es ihr vornehmlich um das Vermögen eines politischen Verzeihens gegangen sei. Diese Ansicht kann sich zwar auf ihren Hinweis auf die politische und politikphilosophische Randständigkeit des Verzeihens im Vergleich zum Versprechen berufen (siehe VA, 311), ist aber ins Verhältnis zu ihrem gleichermaßen für den öffentlichen wie den privaten Raum geltenden Handlungsbegriffes zu setzen. Was nämlich in besagtem § 33 folgt, ist keineswegs ein Begriff des politischen Verzeihens und erst recht nicht eine Reflexion auf die konkreten, zugehörigen Handlungsweisen im politischen Raum. 64 Was folgt, sind Vorüberlegungen phänomenologischer, begriffsgeschichtlicher, etymologischer und handlungstheoretischer Natur, die möglicherweise eine Perspektive auf ein politisches Verzeihen eröffnen. Aber das ändert nichts daran, dass Arendts »phenomenology of forgiving is sublime for face-to-face-relations« und »that forgiving wrong and accepting forgiveness is Arendt’s own version of the highest element of morality in all contexts, not only the political.« 65 Sie hatte zwar den Nachweis im Sinn, dass Versprechen und Verzeihen bestimmte Prinzipien in der politischen Sphäre begründen können. Aber auf welche Weise man mit dem Handlungsvermögen des Verzeihens zu welchen politischen Prinzipien gelangt, bleibt sie in der Vita activa genauso schuldig wie zu anderen Gelegenheiten, die sich für einen allgemeinen Begriff des Verzeihens mit einigem Klärungspotential für in der Vita activa nicht hinreichend bedachte Fragen hinzuziehen lassen. Auch für diesen Quellenbefund ist daran zu erinnern, dass ein ausformuliertes politisches Verzeihen seinen systematischen und werkgeschichtlichen Ort erst in der nie geschriebenen Einführung in die Politik und nicht in der Vita activa gefunden Siehe hingegen die in FN 66, S. 38, genannte Literatur und Bowen-Moore: Arendt’s Philosophy, S. 60 f., 147 f.; Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 42; Hansen: Arendt, S. 63; Orlie: Forgiving, S. 348; Sievernich: Kultur, S. 459. Eine Sonderstellung in dieser Frage nimmt Ricœur ein, der Arendt eine dimensionale Diskordanz von politischem Versprechen und privaten Verzeihen vorwirft (GGV, 748–753); siehe dazu Kapitel 7–8. 65 Kateb: Existential Values, S. 851; vgl. Hagedorn: Verzeihen, S. 280, 286 f. 64
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hätte, die in dieser Hinsicht eine von mehreren Vorüberlegungen ist (siehe Kapitel 2.a.b). a Arendt, Jesus und die Entdeckung des Verzeihens Der Entdecker des Verzeihens ist in Arendts Sicht der Dinge Jesus von Nazareth, dessen Predigten in Teilen zur der nicht geringen Anzahl »echter politischer Erfahrungen« gehörten, die die Tradition der politischen Philosophie »begrifflich ungeklärt gelassen« (VA, 305) habe, obwohl sich das Phänomen des Politischen als Ganzes ohne diese Erfahrungen nicht verstehen lasse. Dabei richtet sie den Blick auf die Erfahrungen Jesu und seiner Jünger mit den staatlichen Institutionen des von den Römern besetzten Israels, also auf einen Bereich keineswegs nur religiöser Erfahrung. Jesus entdeckt die Macht des Verzeihens in der Welt, im Umgang mit Menschen, und nicht in der abgeschiedenen Erfahrung des Gläubigen mit seinem Gott. 66 Dass die Äußerungen Jesu über das Verzeihen zu dem Teil seiner Lehren gehören, denen man ihre eigentliche Bedeutung nähme, interpretierte man sie nur im Rahmen der christlichen Botschaft, sei daran erkennbar, dass Jesus sich in dieser Frage mit den Schriftgelehrten und den Pharisäern auseinandersetze. Gegen sie richte sich seine Überzeugung, dass die Vergebung der Sünden weder ein göttliches Vorrecht sei noch die zwischenmenschliche Verzeihung auf die vorangehende Barmherzigkeit Gottes als ihres Ermöglichungsgrundes angewiesen sei, »als vergäben nicht die Menschen einander, sondern Gott den Menschen, indem er sich eines menschlichen Mediums bedient«. Jesus spreche sich in »aller Schärfe und Deutlichkeit« (VA, 305) für das entgegengesetzte Bedingungsverhältnis aus: Erst müssten sich die Menschen untereinander verzeihen, auf dass auch Gott den Menschen vergeben könne. Menschen verziehen einander nicht, weil Gottes Vergebungshandeln sie erst dazu befähige und sie zur Nachahmung auffordere, »sondern umgekehrt: Gott vergibt ›uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern‹.« (VA, 305) 67 66 Die gleiche These von der Entdeckung des Verzeihens als eines zwischenmenschlichen Vermögens durch Jesus formuliert Arendt zu drei weiteren Gelegenheiten, die in den Entstehungszusammenhang der Vita activa gehören; siehe ZVZ, 74; vgl. dies.: History of Political Theory, 023945; dies.: The Tradition of Political Thought, in: dies.: The Promise of Politics, S. 40–62 [= PP], hier PP, 56–59. 67 Arendt gibt die biblischen Stellen fehlerhaft an. Siehe VA, 468, FN 80: Sie zitiert die Vaterunserbitte, die in Mt. 6, 12, steht, gibt aber Mt. 18, 35, an, die Geschichte vom Schalksknecht, auf die sie erst im Anschluss zu sprechen kommt.
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Dass es Jesus um ein von Gott unabhängiges Handlungsvermögen zwischen Menschen geht, versucht Arendt mit einigen Passagen aus den Evangelien zu erhärten, die ihre Auslegung der Vaterunserbitte stützen. Als erstes ist die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen zu nennen, der von einigen Männern zu Jesus gebracht wird. Jesus, von der Zuversicht dieser Männer beeindruckt, spricht dem Gelähmten die heilenden Worte zu: »Mensch, deine Sünden sind dir vergeben.« (Lk. 5, 20) und antwortet auf den Vorwurf der Gotteslästerei und der Anmaßung, »daß des Menschen Sohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben« (Lk. 5, 24), wobei der Nachdruck Arendt zufolge »auf den Worten ›auf Erden‹ liegt« (VA, 468, FN 79). 68 Zweitens beruft sich Arendt auf die Erläuterungen Jesu zum Vaterunser, in denen Jesus die Vergebungsbitte hervorhebt und den Zuhörern der Bergpredigt einschärft: »Denn wenn ihr den Menschen ihre Übertretungen vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Übertretungen auch nicht vergeben.« (Mt. 6, 14–15). Mit demselben Lehrspruch endet drittens auch die Geschichte vom verdorrten Feigenbaum (siehe Mk. 11, 25–26). Viertens zieht Arendt in ihrer Auslegung der Geschichte vom Schalksknecht denselben Schluss: Dieser Knecht konnte seine Schulden nicht zurückzahlen, weshalb ihm sein Herr die gesamte Schuldenlast erließ. Er jedoch ging hin und ließ seinen Schuldner ins Gefängnis werfen, weil dieser ihn nicht auszahlen konnte. Als dem Herrn die Unbarmherzigkeit seines Knechtes zu Ohren kam, widerrief er seine Nachsicht und legte dem Knecht die vollständige Begleichung seiner Schuld auf. So wie im Gleichnis der Herr seine Verzeihung für den Knecht nicht aufrechterhalten konnte, weil sich der Von den synoptischen Vergleichsstellen bestärkt diejenige aus dem Markus-Evangelium Arendts Lesart: »Auf daß ihr aber wisset, daß des Menschen Sohn Vollmacht hat, zu vergeben die Sünden auf Erden« (Mk. 2, 10); vgl. Mt. 9, 4–6; siehe auch VA, 468, FN 79, wo Arendt auf Mk. 12, 7–10, verweist. Hingegen überzeugt ihr Bezug auf die Geschichte von Jesu Salbung durch die Sünderin nicht, anhand derer sie erkennt, dass den Zeitgenossen weniger Jesu Wunder als vielmehr seine Fähigkeit, Sünden zu vergeben, unheimlicher gewesen sei. Jesus auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung als Entdecker eines zuvor unbekannten Handlungsvermögens zu sehen, verfängt nicht, weil diese Geschichte Arendts Unterscheidung von Wunder-Tun und Sündenvergebung nicht kennt. Dort geht es allein um die Vergebung für die Frau, deretwegen der Pharisäer und seine Gäste sich verwundert fragen: »Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?« (Lk. 7, 49).
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Schuldner diesem Entgegenkommen nicht würdig erwiesen hatte, »[s]o wird euch mein himmlischer Vater auch tun, wenn ihr nicht vergebet von Herzen, ein jeglicher seinem Bruder.« (Mt. 18, 35) Fünftens kann man diese Reihe noch um einen vorangehenden Gedanken Jesu aus der Bergpredigt verlängern, der ebenfalls in die Richtung von Arendts Auslegung der fünften Vaterunserbitte (Mt. 6, 12) zeigt. Jesus verweist den Menschen zuerst an seinen Mitmenschen und erteilt ihm erst danach die Erlaubnis der Gottesanrufung: »Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe.« (Mt. 5, 23–24) 69 Will man diesen Überlegungen Arendts etwas abgewinnen, muss man sich auf ihre Herangehensweise einlassen. Erst ihre Maxime, »die Evangelien unbefangen« (VA, 468, FN 79) zu lesen, macht Jesus als den Begründer eines menschlichen Handlungsvermögens von zwischenmenschlicher Bedeutung sichtbar. Unbefangen heißt, das Verzeihen bei Jesus aus dem Rahmen der »christliche[n] Heilsbotschaft« (VA, 305) herauszulösen und denkbare Einwände von frommer oder theologischer Seite auf die Seite zu legen. Solche Fragen beschäftigen sie aus dem Grunde nicht, weil ihre unvoreingenommene Lektüre Jesus als einen Menschen begreift, der bestrebt war, »den Menschen einzuschärfen, daß die Macht zu vergeben primär Sache der Menschen ist.« (VA, 468, FN 80) Arendts Interpretation des Neuen Testaments fußt unter anderem auf der Unterscheidung zwischen den Evangelien und den restlichen Texten. Darin eingezeichnet ist die Auffassung von Paulus als dem eigentlichen Begründer des Christentums (sie verweist auf Gal. 2, 7, und Apg. 24, 21), der in all seinem missionarischen Tun »– in scharfem nicht zu übersehendem Unterschied zu den Evangelien – nicht Jesus von Nazareth mit seiner Lehre und seinen Taten« in den
69 Arendts These, dass die zwischenmenschliche Verzeihung der göttlichen Sündenvergebung als Bedingung der Gewährung vorangehe, ist keine philosophische Abwegigkeit, sondern Teil der theologischen Fachdiskussion; siehe mit weiteren Hinweisen die Überlegungen von James G. Crossley: The Semitic Background to Repentance in the Teaching of John the Baptist and Jesus, in: Journal for the Study of the Historical Jesus 2 (2004), S. 138–157; Tobias Hägerland: Jesus and the Rites of Repentance, in: New Testament Studies 52 (2006), S. 166–187.
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Mittelpunkt stellte, »sondern Christus, de[n] Gekreuzigte[n] und Auferstandene[n].« (LG, 300) 70 Mit Paulus setzt die Theologie ein – und damit die Verlagerung der Aufmerksamkeit »vom Tun zum Glauben« (LG, 302), die ursächlich dafür ist, dass das Verzeihen anders als das Versprechen keine politische Institutionalisierungen hat ausbilden können. So notiert Arendt an den Rand ihres Manuskriptes für die Vorlesung History of Political Theory an der University of California im Jahr 1955, dass das Christentum die jesuanische Einsicht in die Macht des Verzeihens nicht umgesetzt habe, weil »the early Christian community did not succeed to develop into a full-fledged political body but was absorbed by Roman Empire out of which grew the Roman Catholic Church. What we got instead was the refusal of worldly affairs – – & this went very well together with Plato & Aristotle.« 71 Die im arendtschen Sinne voreingenommene Lesart sieht Jesus nur als den Christus und bringt sich um die zwischenmenschliche Perspektive auf seine Worte und Taten. Es ist Jesus, der Mensch unter Menschen, der »im Konflikt mit den öffentlichen Behörden in Israel« (VA, 305) auf die Erfahrung des Verzeihens stößt und Arendt in der Überzeugung bestärkt, dass die Menschen keinen Anlass haben, ihr von den Handlungsaporien beschwertes Zusammenleben vorschnell dem Eingreifen Gottes auszuliefern, weil sie selbst über die heilbringende Kraft des Verzeihens verfügen. Dass die menschliche der göttlichen Vergebung als ihrem Ermöglichungsgrund nachfolge, ist ihrer Lektüre der Evangelien keine vertieften Überlegungen wert. Das beEntsprechend legt Arendt in einem Brief vom 3. April 1958 Paul Tillich aus der gerade erschienenen Vita activa einen »Absatz, Paragraph 33, über das Verzeihen« ans Herz, »weil ich da den Theologen ins Handwerk zu pfuschen scheine – nur scheine! Jesus, nicht Christus, kommt sonst noch im 2. Kapitel vor, Paragraph 10.« Siehe Hannah Arendt – Paul Tillich: Briefwechsel (1942–1962), hg. v. Alf Christophersen und Claudia Schulze, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 9 (2002), S. 131–156, hier S. 144 f. Mit »religiöse[n] Argumente[n]«, genauer: mit theologischen, hat Arendts Verzeihen also ihrem Bekunden nach und entgegen Hagedorns Meinung nichts zu tun, dafür aber alles mit »moralische[n]«; Hagedorn, S. 280. 71 Arendt: History of Political Theory, Dokument-Nr. 023945; vgl. DT, 376, und PP, 56, wo Arendt klarer das Verdienst der christlichen Religion benennt, den Zusammenhang von Tun und Vergeben gegen die Vergessenheit der politischen Tradition bewahrt zu haben, jedoch lediglich als ein auf den religiösen Bereich beschränktes Vermögen. Daher kann man Arendt nicht die Meinung zuschreiben, dass mit dem Christentum ein echtes Verzeihen in die Welt gekommen sei; so Hagedorn: Verzeihen, S. 289. Das Verzeihen kommt mit Jesus in die Welt, aber das Christentum nimmt ihm gerade die zwischenmenschliche Qualität, die es bei Jesus noch hat. 70
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träfe für Arendt erst Christus, den Auferstandenen (und nicht Jesus, den Mensch unter Menschen), der die Denkmöglichkeit in den Raum stellt, die göttliche der menschlichen Vergebungsfähigkeit zeitlich wie sachlich voranzustellen. Das aber ist die Sache der christlichen Theologie seit Paulus, weder die des Menschen Jesus noch die der Urgemeinde (siehe VA, 305) und eben auch nicht Arendts Interesse an den Geschichten Jesu. 72 Dass das Verzeihen als eine menschliche Fähigkeit zu begreifen ist, begründet Arendt mit einer Einsicht Jesu, die wiederum ihrer Charakterisierung des Bezugsgewebes entspricht. Denn die Kreuzesbitte Jesu: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk. 23, 34; vgl. Apg. 7, 60) bildet die Unabsehbarkeit der Taten ab, die in dem Zusammenwirken des menschlichen Handlungsvermögens mit der Pluralität ihren Grund hat und prinzipiell für alles Handeln gilt. Insofern gilt, dass niemand weiß, was er tut, kann Arendt auch von einer »Pflicht des Vergebens« (VA, 305) sprechen, mit der sie sich im Einklang mit der Anweisung Jesu über den Zusammenhang zwischen den sogenannten Sünden und der Vergebung weiß: »Wenn dein Bruder sündigt, so halte es ihm vor; und wenn ihn reut, vergib ihm. Und wenn er siebenmal des Tages an dir sündigen würde und siebenmal wiederkäme zu dir und spräche: Es reut mich! so sollst du ihm vergeben.« (Lk. 17, 3–4) Denn es soll nicht das absichtsvolle Tun des Bösen sein, das wir »nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal« (Mt. 18, 22) verzeihen sollen, sondern die Verfehlungen, »die sich aus der Natur des Handelns selbst ergeben, das ständig neue Bezüge in ein schon bestehendes Bezugsgewebe schlägt« (VA, 306). Mit der Bereitschaft zur Verzeihung aufseiten der Erdulder einer Tat dürfen bei Arendt daher nur diejenigen rechnen, die sich 72 Die Unterscheidung zwischen den Lehren Jesu und dem Christentum leitet grundsätzlich Arendts Lektüre des Neuen Testamentes an, von der Dissertation bis ans Ende ihres Lebens, siehe dazu dies: Der Liebesbegriff; LG; PP und ÜB. Diese Trennung hat auf theologischer Seite die Reaktion hervorgerufen, dass daran »nahezu alles falsch!« sei; Scheiber: Vergebung, S. 55, FN 59. Ertragreicher scheint mir Frettlöhs Kritik an Arendts »enttheologisierend[er], nicht religiös[er]«, sondern eben »allgemein-anthropologisch[er] und politisch-ethisch[er]« Interpretation der Lehren Jesu zu sein, die ohne Ansprüche auf Deutungshoheit und unausgesprochene Vorgaben auskommt, wie man einen Text zu lesen hat; siehe Frettlöh: Der Mensch, S. 196–199, Zitat S. 197; vgl. im Sinne Arendts die in FN 69, S. 105, genannte Literatur sowie Jean Hampton: Introduction II. Forgiveness and Christianity, in: Murphy/dies.: Forgiveness and Mercy, S. 10–13. Siehe zur Sündenvergebung Kapitel 5.
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solcher Verfehlungen schuldig gemacht haben, die sich unweigerlich aus der Struktur des Bezugsgewebes zwischen Menschen ergeben. Diese Menschen und ihre Taten sind für Arendt nur deswegen als verzeihungsbedürftig vorstellbar, wenn man sich den spezifischen Begriff der Verantwortlichkeit in Erinnerung ruft. Die Unwissenheit des Handelnden bezieht sich auf die Folgen, nicht aber auf den Umstand, dass er und niemand anderes diese und keine andere Handlung begonnen hat. Die Ursache der Angewiesenheit auf Verzeihung ist daher die Fähigkeit anzufangen, also der jeweilige Anfang, aber nicht notwendig auch die Geschichte, die sich aus diesem Anfang ergeben hat. Und prinzipiell gilt – was für Arendts Überlegungen zum Unverzeihlichen von entscheidender Bedeutung sein wird – die Verzeihungsbedürftigkeit für alle menschlichen Handlungen, weil sie alle der Tatsache der Unabsehbarkeit unterliegen. 73 Es sind zwei Bedingungen, die Arendt mit Jesus dafür nennt, dass den Tätern von Verfehlungen verziehen werden kann. Erstens ist die Rede davon, dass man dem Täter seine Tat vorhalten soll. Zweitens korrespondiert dieser Bringschuld des Opfers die Reue aufseiten des Täters. In ihrem bereits erwähnten Brief an Auden beruft sich Arendt nicht nur auf Lk. 17, Vers 4, sondern auch auf Vers 3, der die Bedingung des Vorhaltens der Tat nennt. Diesen Vers zitiert sie im Fließtext der Vita activa nicht eigens (siehe VA, 306), gibt ihn aber im Stellennachweis an (siehe VA, 468, FN 81). Die in der Forschung unbeachtet gebliebene Debatte mit Auden gehört daher in den Zusammenhang dieser Passagen aus der Vita activa (aus den Jahren 1958/1960), denn sie vermag einige der in der Sache sich ergebenden Fragen deutlicher zu beantworten als die Ausführungen in der Vita activa selbst. Arendt ergreift die Gelegenheit zu einigen sachlichen Neuerungen und Erweiterungen, mit denen ihre tastenden und vorläufigen Eintragungen im Denktagebuch (aus den Jahren 1950/1951) nicht Schritt halten können und die nur in ihren Überlegungen aus der Vorlesung Some Questions of Moral Philosophy aus dem Jahr 1965 eine gleichermaßen wegweisende Fortsetzung finden, dort allerdings zur Frage des Unverzeihlichen. Bevor ich auf den Briefwechsel mit Auden eingehe, sei daher ein kurzer Exkurs zu den fünf Eintragungen im Denktagebuch von Juni 1950 bis Juli 1951 mit Bezug auf das Verzeihen gestattet. Im Kern Siehe zu den Unterscheidungen im Begriff der Verantwortung Kapitel 2.c.g; zu Arendts Begriff des Unverzeihlichen Kapitel 3.b.b.
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verschaffen sie uns einige werkgeschichtliche Einsichten, aber sie lassen sich weder begrifflich noch inhaltlich mit der Auffassung des Verzeihens zur Deckung bringen, die Arendt in ihren späteren, veröffentlichten und unveröffentlichten, Schriften verfochten hat. Sie können nicht die Vermutung stützen, dass der Begriff der Versöhnung aus dem Denktagebuch das besser treffe, was ihr vorschwebe, während der des Verzeihens in der Vita activa nur aus Gründen der Analogie zum Versprechen Anwendung gefunden habe, weil er das Personale betone. Genau um dieses Personale geht es Arendt, nicht um eine die Menschen voneinander distanzierende Versöhnung. 74 Man kann als Faustregel für die Lektüre jener Eintragungen angeben, dass »Versöhnung« in etwa das bedeutet, was in Vita activa »Verzeihung« oder »Vergebung« heißen wird. Die DenktagebuchVerzeihung sieht Arendt kritisch: Sie zerstört die Gleichheit zwischen Menschen und bedeutet im Kern »Verzicht, sich zu rächen, schweigen und vorübergehen« (DT, 3). Die Denktagebuch-Versöhnung hingegen heißt nicht »schweigen oder vorübergehen«, sondern sie »versöhnt sich mit einer Wirklichkeit, unabhängig von aller Möglichkeit.« (DT, 6) Arendt grenzt sich hier gegen das christlich (und nicht jesuanisch) aufgefasste Verzeihen ab, das jedes Unrecht mit dem »Wir-sind-alle-Sünder« (DT, 4) abtut und auf eine weltliche Reaktion verzichtet. Dagegen beruht die Versöhnung auf »handelnde[n], und möglicherweise Unrecht tuende[n], Menschen« (DT, 6 f.) und mündet in einer neuen Solidarität der Handelnden. Wenn sich überhaupt eine klare Linie vom Denktagebuch zur Vita activa ziehen lässt, dann die, dass Arendt den Begriff austausche, aber auf ein und dasselbe Phänomen abziele. Auch so bleibt das Begriffsgefüge jedoch so schemenhaft, dass mehr als die mit Vorsicht anzuwendende Faustregel nicht in Reichweite ist. Die Denktagebuch-Verzeihung findet in Vita activa nur in der ihr im Denktagebuch zur Seite gestellten Rache einen Nachklang, während die Kritik am Christentum (nicht an Jesus) in Briefe und Vorlesungen auswandert. Die Denktagebuch-Versöhnung wird in etwa zur Verzeihung, während ein Begriff der Versöhnung in der Vita activa keine von Arendt kenntlich gemachte Rolle spielt und in anderen Schriften auf ein Sich-Abfinden mit oder -Einrichten in der Welt, die so ist, wie sie ist, hinausläuft und mehrheitlich unter dem Begriff des Verstehens firmiert. Die Wende zur Begrifflichkeit der 74
So sieht es Hagedorn: Verzeihen, S. 288 f. A
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Vita activa geschieht, soweit sie sich im Denktagebuch niedergeschlagen hat, im Januar 1953, als erstmals von dem Handeln die Rede ist, dass »ohne gegenseitiges [meine Hervorhebung, T. D.] Verzeihen« (DT, 303) nicht möglich ist. In besagtem Brief an Auden vervollständigt Arendt das Zitat aus dem Lukas-Evangelium (Lk. 17, 3–4) und weist Auden explizit auf die zwei jesuanischen Bedingungen des Verzeihens hin, die sie sich zu eigen gemacht hat: »If thy brother trepass [sic] against thee, rebuke him; and if he repents, forgive him.« (HA/WA, 004864) Sie antwortet an dieser Stelle auf seine These, dass »[t]he command to forgive is unconditional« und dass es unerheblich sei, »[i]f he [der Übeltäter, T. D.] repents«, 75 worauf sie erwidert, dass »›the Gospels assure us‹«, 76 dass »the ›command to forgive is not unconditional‹.« (HA/WA, 004864) Im Kern vertritt sie im Briefwechsel mit Auden um die angemessene Auslegung von Lk. 17, 1–4, zwei Thesen: Erstens ist die Verzeihung, von der Jesus spricht, keine unbedingte Verzeihung. Und zweitens schwingt in seinen Worten über Verzeihung und das, was passiert, wenn Verzeihung nicht mehr angezeigt ist, keinerlei Anklang an christliche Nächstenliebe mit. Arendt und Auden stimmen überein in der Unterscheidung von Verzeihung und Begnadigung, aber Arendt macht den Zusatz, dass christliche Nächstenliebe mehr gemein hat mit Begnadigung als mit Verzeihung. Denn das Gesetz und die Nächstenliebe machen keine moralischen Unterschiede und ziehen die Person des Täters nicht in Betracht: »The Law, like charity, looks upon all with an equal eye, […] and may pardon even ›if he does not repent‹.« Nächstenliebe »violates the integrity of the wrongdoer« (HA/WA, 004864). Wer einen Menschen als moralische Person ernstnimmt, muss ihm auch die Anerkennung seiner Schuld und die Übernahme seiner Verantwortung zumuten. Arendt lässt an ihrer Kritik an Auden und der christlichen Nächstenliebe keinen Zweifel und kleidet ihren Widerspruch zu einer Haltung in scharfe Worte, die über das Unrecht auf eine solche Weise hinweggeht, dass Unrecht als solches unkenntlich und für unerheblich erklärt wird. Sie nimmt eine Reaktion auf zwischenmenschliches Leid und die zugehörige Schuld aufs Korn, die sich letztlich aus der Welt zwischen Menschen in eine in die Irre füh75 76
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Auden: The Prince’s Dog, beide Zitate S. 200. Vgl. Auden: The Prince’s Dog, S. 201.
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rende Selbstgenügsamkeit verabschiedet: »as though one said: Much as you tried, you could not wrong me; charity has made me invulnerable« (HA/WA, 004864) Ein Verzeihen aus Liebe oder Nächstenliebe ist kein Verzeihen für Arendt, weil es die Fähigkeit zur moralischen Unterscheidung von Handlungen verkümmern lässt und den Täter in seiner Würde als moralische Person verkennt. Die Nächstenliebe »indeed forgives ueberhaupt«. Sie vergibt den Betrug, der sich nur in einer bestimmten Person auf zufällige Weise verkörpert, »on the ground, to be sure, of human sinfulness and its solidarity with the sinner.« (HA/ WA, 004864; vgl. DT, 4–6) Arendt gesteht zu, dass die Versuchung immer verführerisch ist, auf Unrecht mit der Frage zu antworten: »Who am I to judge?« Aber das Verzeihen geht anders vor. Es gehört weder zur vermeintlichen Demut des im Kern unmoralischen Rückzugs auf die Sündhaftigkeit des Menschen schlechthin noch macht es sich mit der Dünkelhaftigkeit der weltentrückten Nächstenliebe gemein: »Humility and conceit are […] both wrong because the result of self-reflection.« (HA/WA, 004864) Das Verzeihen hingegen macht sich die Mühe des Urteilens, die Arendt mit dem Wort »pride«, dem Stolz, der Pracht oder der Blüte, umschreibt, dass »the power of judgment remains unimpaired« (HA/WA, 004865). Sie will die moralische Urteilsfähigkeit vor der Zermürbung durch eine »selfreflection« schützen, die die geschehene Tat umgehend in das verdunkelnde Licht möglicher oder tatsächlicher eigener Verfehlungen rückt und so das eigentlich zu verhandelnde Unrecht überspringt. Wenn man Verzeihung wie Auden mit Nächstenliebe gleichsetzt, ist Verzeihung gleichbedeutend »with the command of not resisting evil, of giving, of not thinking of the morrow etc.« (HA/ WA, 004865). 77 Aber das Verzeihen gehört nicht zu dieser Art von Gedankenlosigkeit, weil es den Mitmenschen und das künftige Leben in der gemeinsamen Welt im Blick behält. Und in dieser Blickrichtung sieht sich Arendt in Übereinstimmung mit Jesus, weil er die Unterscheidungen macht, die zur Beurteilung von menschlichen Taten gehören. Er verdunkelt die einzelnen Handlungen und Verantwortlichkeiten nicht, indem er sie im Nebel der allgemeinen Fehlbarkeit des Menschen verschwinden lässt (vgl. VA, 296 f.). 78 77 Siehe die Stelle, auf die Arendt hiermit antwortet, in: Auden: The Prince’s Dog, S. 201 f. 78 Aus diesen Gründen kann man Arendts Verzeihen weder als ein nachsichtiges Zu-
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Was Arendt sich unter der Aufgabe des Opfers, dem Täter seine Tat vorzuhalten, vorgestellt haben mag, können wir aus ihren Briefwechseln mit ihrem Freund aus Heidelberger Studienzeiten bei Jaspers, Benno von Wiese, und mit der ehemaligen BDM-Führerin Melita Maschmann ersehen. Dabei bildet die Konstellation Maschmann-Arendt die Täter-Opfer-Beziehung nicht ab, und auch die Konstellation von-Wiese-Arendt ist kein ungeschränkt geeignetes Beispiel dafür. Aber beide Briefwechsel zeigen, dass zur Vorhaltung erstens die klare Benennung der Tatsachen gehört und sie zweitens auf eine Anerkennung des Opferleides und die Verantwortungsübernahme durch den Täter zielt. Maschmann zog aus ihrer persönlichen Geschichte im Nationalsozialismus Konsequenzen und verschrieb sich einer karitativen Arbeit in Indien, die sie als Buße und Zeichen ihrer moralischen Umkehr verstand. Den Bericht über den Prozess gegen Eichmann nahm sie zum Anlass, Arendt ihr Buch Fazit 79 zu schicken. Am 3. Juli 1963 schrieb sie, dass sie immer an Arendt denken müsse, wenn sie »über die schrecklichen und unersetzlichen Verluste trauere, die Deutschland sich selbst zugefügt hat, indem es sich seiner Juden ›entledigte‹«. 80 Diese Verharmlosung der Tatsachen ließ Arendt nicht auf sich beruhen und rügte sie in ihrer Antwort vom 14. September 1963, dass sie in nationalen und nicht in menschheitlichen Kategorien von den selbstzugefügten Verlusten Deutschlands schrieb: »Sie wissen ja aber, jedenfalls heute, dass die Wirklichkeit erheblich anders aussah. In der heutigen Diskussion kann es nicht mehr um die Anfangsstadien des Regimes gehen,« – auf die man das Wort vom Entledigen mit Wohlwollen beziehen könnte – »sondern nur um die Endstadien, und das Verbrechen […] besteht nicht darin, dass Einstein Deutschland verlassen musste, sondern darin
rücknehmen und Unsichtbarmachen moralischer Ansprüche charakterisieren, so Hagedorn: Verzeihen, S. 286 f., noch als Nachsicht unter Berufung auf die eigene Endlichkeit auffassen, so Frettlöh: Der Mensch, S. 195. 79 Melita Maschmann: Fazit. Kein Rechtfertigungsversuch, Stuttgart 1963. 80 Melita Maschmann an Hannah Arendt, 3. Juli 1963, Dokument-Nr. 008616–008617, hier 008616. Von den vier Briefen zwischen Maschmann und Arendt sind zwei Briefe veröffentlicht, siehe Hannah Arendt – Melitta [sic] Maschmann: Aus dem Briefwechsel, in: HAN Nr. 5 (November 2001), S. 52–55 [= HA/MM]. Der vollständige Briefwechsel findet sich in den Hannah Arendt Papers, Briefwechsel Hannah Arendt – Melita Maschmann, Box 14, Dokument-Nr. 008603–17.
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dass Menschen, die keine Genies waren, gemordet wurden, obwohl sie nichts verbrochen hatten.« (HA/MM, 52) Und Arendt legte nach und verlangte Rechenschaft über den in Maschmanns Buch mitschreibenden Versuch des persönlichen Rückzuges auf einen von den Nazis missbrauchten jugendlichen Idealismus, weil sie sich zwar der Hartherzigkeit, Feigheit und Eitelkeit bezichtige, aber trotzdem von einer Hoch-Zeit in ihrem Leben spreche: Was ist das eigentlich für ein Idealismus, für den man, ohne mit der Wimper zu zucken, bereit ist, andere Menschen zu opfern, auch, wenn das Opfer nicht unmittelbar in Totschlag zu bestehen braucht. Anders gewendet: Gibt es überhaupt ein Ideal, das es wert ist, z. B. die Wirklichkeit einer Freundschaft wie etwa zwischen Ihnen und einer jüdischen Klassenkameradin aufzuopfern? (HA/MM, 53)
Deutlicher noch wurde Arendt in ihrem Brief an ihren Studienfreund von Wiese vom 3. Februar 1965. Der hatte im Dezember 1964 in der ZEIT einen Beitrag über die sogenannte unbewältigte Vergangenheit geschrieben und sich und seine Generation auf wenig originelle Weise von jeder persönlichen Schuld und aller Notwendigkeit der Rechtfertigung freigesprochen: Man sei »mehr oder weniger, wenn auch in sehr verschiedenen Ausmaßen« dem Zeitgeist erlegen. 81 Das ließ Arendt, der er seinen Zeitungsartikel hatte zukommen lassen, wie im Falle Maschmanns nicht auf sich beruhen und stellte die Sache aus ihrer Sicht klar. Er sei sicherlich nicht dem Zeitgeist erlegen; schon deshalb nicht, weil sie sich bei seinem Besuch im Dezember 1932 darüber einig gewesen seien, »dass der Zeitgeist ein ›Ungeist‹ ist«, und er für den Fall der Machtergreifung Schlimmstes erwartet hätte. Sich heute auf »›Ahnungslosigkeit‹ zurückzuziehen«, verfinge daher nicht. Er habe schließlich gewusst, worauf er sich eingelassen habe, als er nach der Machtergreifung dem Zeitgeist erlegen sei – nicht aus Ahnungslosigkeit, sondern weil er um seine öffentliche Laufbahn bangte (wie er es jetzt auch wieder tue). Und genau dieses Vorgehen bezeichnet in der Sicht Arendts seine Schuld im Rahmen ihrer Freundschaft: Damals hast Du Dich für eine ungestörte Laufbahn entschieden und schneller als viele andere Dich gleichgeschaltet, indem Du die ›Entfernung des fremden Bluts‹ von den Universitäten fordertest. Welche Angehörigen fremden Bluts 81 Benno von Wiese: Bemerkungen zur »unbewältigten Vergangenheit«, in: Die ZEIT vom 25. Dezember 1964.
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kanntest Du damals? Vor allem den toten Gundolf, der Dein Lehrer gewesen war, und mich, die Du noch vor wenigen Monaten zu Deinen engen Freunden gerechnet hattest. […] Vielleicht warst Du ahnungslos geworden, […] eben weil Du bereit warst, nicht nur Lehrer und Freund, sondern auch die Dir sehr gut bekannten Masstäbe Deines eigenen Faches für die Laufbahn zu opfern.
Warum also sei er damals dem Zeitgeist erlegen? »Doch nur weil Du Dir nicht zugestehen wolltest, dass Du aus Opportunismus handelst, und weil Du bis heute nicht das Minimum an Zynismus aufbringen kannst, das Dir damals wie heute die Integrität der Person retten könnte« 82 – also genau jene moralische Integrität, die Menschen erst zu einer unverwechselbaren Person mit einer individuellen Lebensgeschichte mache (vgl. Kapitel 2.c.g und 3.b.b). Von Wiese geht auf die harschen Vorwürfe des Opportunismus und fehlender moralischer Integrität in seiner Antwort vom 10. Februar 1965 nicht ein. Er zieht sich zurück auf den konkreten Anlass, das heißt, ein mäßigendes Wort in einer aufgeheizten Debatte an der Bonner Universität um deren Geschichte während des Nationalsozialismus einlegen zu wollen. Und er geht zum Angriff über, indem er Arendt mit denen in einen Topf wirft, aus denen die Affekte sprächen und deren Urteil dadurch getrübt sei. Mehr noch ist er sich im Bemühen um billige Selbstentschuldung nicht zu schade, seinen Aussagen jede persönlich wie gesellschaftliche Bedeutung abzusprechen und sie nur auf den Bonner Fall zu beschränken. Er schreckt auch davor nicht zurück, Arendts Fragen an ihn als Freund zu ignorieren und gar zu polemisieren, dass er nicht in ein Entnazifizierungsverfahren ihr gegenüber einzutreten gedenke, und kontert mit dem irrigen Vorwurf der Ungerechtigkeit: Es sei nicht fair, nach dreißig Jahren Argumente gegen ihn zu richten, gegen die er wehrlos sei (HA/BW, Brief vom 10. Februar 1965). Gegen diese Strategie der Diskussionsvermeidung hält Arendt an ihrem Urteil über von Wieses Verhalten fest und beharrt darauf, dass er damals wie heute aus derselben persönlichen Verantwortlichkeit handelte. Wehrlos gegen ihre Anfragen wäre er dann nicht, Hannah Arendt an Benno von Wiese, 3. Februar 1965, Dokument-Nr. 010327– 010328, alle Zitate 010327. Ich beziehe mich auf drei Briefe zwischen Arendt und von Wiese: Arendts Brief vom 3. Februar 1965, von Wieses Antwort vom 10. (ohne Dokumenten-Zählung) und Arendts neuerliche Antwort vom 19. desselben Monats (Dokument-Nr. 01029–01030). Der vollständige Briefwechsel findet sich in den Hannah Arendt Papers, Briefwechsel Hannah Arendt – Benno von Wiese, Box 16, DokumentNr. 010327–010330, 019055–019077 [= HA/BW].
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wenn er ihren Ratschlag zu mehr Zynismus richtig auffasse, nämlich als Aufforderung, die Wahrheit zu sagen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und auf diese Weise ihre Kritik abzuwehren: »Es ist nicht wahr, dass Du dem Zeitgeist in Gestalt von Hitler erlegen bist, sondern wahr ist, dass Du der Angst vor diesem allerdings sehr Furcht erregenden Zeitgeist erlegen bist. Das ist zweierlei.« (HA/BW, 010329) Das Vorhalten der Tat, so wie wir es in diesen Briefen lesen, umfasst nicht nur eine Verständigung über das Geschehen, das Verzeihung verlangt, sondern es ist auch ein Urteil über die Unrechtmäßigkeit der verhandelten Taten, das Opfer und Täter gemeinsam fällen. Vorhaltung ist eine Verbindung von Wahrheit und Tadel. Und die Last solcher Vorhaltungen und das in ihnen immer drohende Ende ohne Verständigung ist in beiden Briefwechseln spürbar: bei Arendt, die Maschmann nur schreibt, weil sie von deren Aufrichtigkeit überzeugt ist, und in Maschmanns abschließender Antwort vom 7. April 1964. Darin zog sie, die in ihrem Handeln und Denken nach 1945 ein von Arendt nicht gewürdigtes Maß an kritischer Selbstprüfung und Einsicht in die Unrechtmäßigkeit ihres Handelns gezeigt hatte, sich auf einen Mangel an »politischer Ader und Bildung« (HA/MM, 54) und eine »Periode des Weltschmerzes und der Verzweiflung am Sinn des Lebens« (HA/MM, 55) zurück und endet vage damit, »dass ich Ihnen sicher keine befriedigende Antwort geben kann.« (HA/ MM, 53). Ebenso ist diese Last spürbar in der schnellen Abfolge der Briefe zwischen Arendt und von Wiese, in ihrem Beharren auf ihrer Kritik an ihm, in seinen Ausflüchten und in ihrer abschließenden Bitte, dass sie doch »nicht in dieser Misstimmung hängen bleiben« mögen. (HA/BW, 010330) Diese erste Bedingung des Verzeihens, dem Täter seine Tat vorzuhalten, weist in der Veranschaulichung durch die erwähnten Briefe schon auf einige Elemente derjenigen Verbindung von Wahrheit, Anerkenntnis der Schuld, Übernahme der Verantwortung und des moralischen Urteils über die fragliche Tat hin, die in der zweiten Bedingung des Verzeihens bei Arendt und Jesu aufgehoben ist: nämlich auf die Reue des Täters über seine Tat, aus der sich die Pflicht zur Gewährung von Verzeihung aufseiten des Opfers ergeben soll. Die Bedeutung der Reue aber kann erst nach weiteren Überlegungen ermessen werden, von denen im Blick auf den Quellenbefund bei Arendt der Begriff des Unverzeihlichen den Anfang macht.
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b Arendt, Jesus und das Unverzeihliche Von den verzeihlichen Fehltritten streng zu unterscheiden sind die Verbrechen oder das Böse im Unterschied zu den von Arendt sogenannten Verfehlungen. Auf den Trost der Verzeihung angesichts der Last, die Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit den Menschen auferlegen, dürfen bei Arendt nur die Täter der im beschriebenen Sinne unausweichlichen Verfehlungen hoffen. Nur »sie bedürfen der Verzeihung, des Vergebens und Vergessens, denn das menschliche Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun.« (VA, 306) Arendts Pflicht des Vergebens findet ihre Grenze dort, wo »das Böse« geschieht, »von dem der Mensch im vorhinein weiß,« (VA, 305) dass es eine Tat mit leidvollen bis fürchterlichen Folgen ist. Wieder ist es Jesus, anhand dessen Lehrsätzen Arendt erläutert, wo diese Grenze der eben nicht voraussetzungslosen Pflicht zu verzeihen zu finden ist. Jesus spricht zu seinen Jüngern von den Ärgernissen im Unterschied zu den Sünden und beharrt auf den Unterschieden, die christliche Nächstenliebe zumindest erschwert, wenn nicht verdeckt: »[W]eh aber dem, durch welchen sie [die Ärgernisse, T. D.] kommen! Es wäre ihm besser, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer, als daß er einem dieser Kleinen Ärgernis gibt.« (Lk. 17, 1–2; vgl. Mt. 18, 6) Was Luther mit Ärgernis übersetzt, sind im Griechischen die ›skandala‹. Gemeint ist das Stellholz in der Falle, »wodurch derjenige, der in eine Falle geraten ist, nun auch wirklich ins Verderben gerät.« Von solchen Fallenstellern, die andere Menschen ins Verderben stürzen und ihnen willentlich Böses zufügen, »meint Jesus keineswegs« – und Arendt ist derselben Meinung –, »daß ihnen vergeben werden könne.« (VA, 469, FN 83) Diese wirklichen Verbrechen (die Skandala oder die Ärgernisse) sind keine alltäglichen Begebenheiten, denn der Verbrecher verabschiedet sich aus dem Miteinander in ein auf seinen eigenen Vorteil bedachtes Gegeneinander. Er nimmt den Mitmenschen das Recht auf die Enthüllung ihrer Person und kündigt die gemeinsame Geschichte auf. In dieser Vergegenständlichung seiner Mitmenschen kommt der Verbrecher mit dem barmherzigen Samariter überein, der seinerseits in das selbstlose Füreinander der reinen Güte flüchtet, aber gleichfalls den Mut zum Sein unter seinesgleichen nicht mehr aufbringt (vgl. Kapitel 2.b). Deshalb sind »the offences which Jesus 116
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predicts […] clearly beyond the power to forgive« (HA/WA, 004864). Jesus überantwortet diese unverzeihlichen Taten dem Jüngsten Gericht, dessen Geschäft nicht »Verzeihung oder Erbarmung« (VA, 306) sind, sondern die Vergeltung entsprechend der Taten eines jeden Menschen. In Mt. 16, 27, der von Arendt angeführten Ankündigung des göttlichen Gerichtes, findet sich ihre Unterscheidung von Verbrechen und Verfehlungen nicht. Arendt selbst stellt die Verbindung zu jener Unterscheidung von wirklichen Verbrechen und lässlichen Sünden aus Lk. 17, 1–4, mit dieser Prophezeiung Jesu her. Das wirft die Frage auf, ob Arendt einen Großteils des Leids, das Menschen anderen Menschen zufügen, an das Gericht Gottes delegiert und damit auch die Grenze der Pflicht zur Verzeihung mit der Grenze dessen gleichsetzt, was überhaupt der zwischenmenschlichen Verzeihung zugänglich ist. Anders formuliert: Es ist zu klären, ob sie sich die Meinung Jesu zu eigen macht, dass es besser wäre, man würfe Verbrecher und Bösewichte mit Mühlsteinen beschwert ins Meer und entledige sich so der Gemeinschaft dieser Menschen. Nun hat sie aber der Identifikation des Unverzeihlichen mit der Grenze der Pflicht zu verzeihen nicht den Umkehrschluss zur Seite gestellt, dass dem Verzeihlichen notwendig die Gewährung der Verzeihung folgt, sondern sie macht die zwei jesuanischen Bedingungen zum unerlässlichen Bestandteil jeden Verzeihungsgeschehens: die Vorhaltung und die Reue. Was sich aber phänomenal als das konkret bestimmbare Unverzeihliche hinter Arendts Bezug auf die jesuanischen Skandala als dem Unverzeihlichen verbergen könnte, wird erst greifbar werden, wenn über die spezifische Art ihres Bezug auf Jesus in dieser Frage Auskunft gegeben worden ist, wofür neben der Vita activa die entsprechenden Passagen aus der Vorlesung Some Questions of Moral Philosophy hinzuziehen sind. Von welcher Art und Weise ihre Anleihen bei Jesus sind, wird etwas deutlicher, wenn man vor der inhaltlichen Bestimmung des Unverzeihlichen klarer zwischen dem matthäischen und dem lukanischen Jesus unterscheidet als Arendt das getan hat. In der erwähnten Vorlesung kommt sie darauf zu sprechen, dass Jesus, »[d]ieser große Freund der Sünder« (ÜB, 43), von dem »Ausweichen vor oder Wegerklären der menschlichen Schlechtigkeit« (ÜB, 42) in der philosophischen wie theologischen Tradition eine einzige Ausnahme mache. Ausgenommen von den verzeihlichen Sünden, die auch Jesus im Sinne der Erbsünde auf eine »dogmatisch gesprochen […] VerdorA
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benheit der menschlichen Natur« zurückführe, sind nämlich die bereits bekannten »›skandala‹ […], also verwerfliche Taten«, wie Arendt übersetzt (ÜB, 43). Dementsprechend ließe sich folgende Parallele ziehen: Wie die Sündenvergebung auf die Taten infolge einer grundlegenden menschlichen Schwäche heraus beschränkt bleibt, so bezieht sich das Verzeihen bei Arendt auf die zwischenmenschlichen Missetaten, die sich aus den Aporien des Handelns selbst und des Bezugsgewebes ergeben. Die verwerflichen Taten, oder wie sie auch sagt: das Böse, fallen bei ihr genauso aus dem Bereich möglicher Verzeihung heraus wie die jesuanischen Skandala aus der Sündenvergebung herausfallen. Ihre Abgrenzung zum traditionellen Bemühen, von der Schlechtigkeit des Menschen zu schweigen, legt in dieser Lesart nahe, dass sich hinter dem Unverzeihlichen eben im Widerspruch zu jener Tradition der Vorsatz verberge, »schlechte Dinge zu tun, das Böse um des Bösen willen zu wollen« (ÜB, 42). Ein Vergleich der Konzeptionen des Unverzeihlichen bei Sokrates und bei Jesus lässt die Angelegenheit jedoch in einem anderen Licht erscheinen. Sokrates argumentiert vom Standpunkt der strengen philosophischen Moral aus, in der nicht Gott, sondern der Mensch selbst Maßstab moralischer Entscheidungen ist. Sein entscheidendes Kriterium ist das Mit-sich-selbst-Leben und dessen Unterscheidung der alltäglichen und lässlichen von den außergewöhnlichen und deswegen nicht mehr nachsehbaren Vergehen. Die einen können wir in unser moralisches Selbstverständnis integrieren, die anderen lassen es beschädigt zurück (ÜB, 97–98). Diese sokratischen Gedanken sind verwandt mit denen des matthäischen Jesus, weil es in Mt. 26, 24, heißt, dass es für den Täter der wirklichen Stolpersteine und nicht für sein Opfer besser wäre, er wäre nie geboren worden. Das Böse, das der Täter anrichtet, betrifft auch ihn selbst, weil er eine solche Tat begangen hat, die er nicht mehr in sein moralisches Selbstverständnis integrieren kann. Sokrates sieht weniger auf den Schaden, den eine Tat für einen anderen Menschen, das Opfer der Tat, bedeutet, sondern auf die Folgen der Tat für das Selbstverhältnis des Täters. Dieser scheitert an der sokratischen Aufgabe, mit sich selbst in Übereinstimmung zu leben. Wie Gorgias, Polos und Kallikles hat er sich nicht der sokratischen These angeschlossen, dass Unrecht erleiden besser ist, als Unrecht zu tun. Er hat, wie Arendt sagt, keine Person ausgebildet und verfügt damit nicht über einen Punkt, an dem alle über-subjektiven Maßstäbe, die von außen an ihn herangetragen werden, »ihre Vorherrschaft zu118
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gunsten dieses ›subjektiven‹ Kriteriums – der Art von Person, mit der ich zusammen sein und leben möchte – abgeben.« (ÜB, 100). Solche Menschen, »die sich weigern, Personen zu sein,« haben »es eigentlich versäumt […], sich als ein Jemand zu konstituieren.« Deshalb ist das unverzeihliche Böse, das sie tun, streng genommen auch ein Böses, »das von Niemanden getan wurde«: »Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte.« (ÜB, 101) Allerdings eignet der sokratischen Bestimmung des Unverzeihlichen in gewisser Weise eine beliebige Note. Denn das Zwiegespräch mit sich selbst ist der Ort des Gewissens und zugleich Instanz darüber, was ich ertragen kann, getan zu haben, und was ich nicht ertragen kann. Das für mich Erträgliche kann sich wandeln nach Maßgabe von Ort und Zeit und hat auch keinerlei Verbindlichkeit für das Erträgliche, das für andere Menschen maßgeblich ist. Das ist deswegen so, weil das für mich noch Vertretbare »auf die Frage hinausläuft, mit wem ich zusammen sein will, und nicht auf die nach ›objektiven‹ Normen und Regeln.« (ÜB, 120) Es ist der Ort an dem das erwähnte subjektive Kriterium die Herrschaft übernimmt und anhand von Beispielen lebender oder toter oder fiktiver Menschen und in Bezug auf gegenwärtige oder vergangene Ereignisse darüber entscheidet, von welcher Art die Gesellschaft ist, in der jemand mit sich leben will. Und »die größte Gefahr« (ÜB, 150) ist in dieser Sache die, dass sich jemand um seine Gesellschaft nicht schert und sich dem Urteilen und der persönlichen Unterscheidung von Recht und Unrecht verweigert (vgl. UB, 77–80, 85–88). Während aber bei Sokrates in der Bestimmung des Unverzeihlichen dessen zwischenmenschliche Dimension zugunsten der Dimension des moralischen Selbstverhältnisses nicht vorkommt, behält Jesus beide Aspekte im Blick. Arendt weist erneut auf das Wort »Skandala« hin, das an den fraglichen Bibelstellen das hebräische »mikshol« oder »zur mikshol« ersetze und Stolperstein bedeute. Das Böse der Stolpersteine zeigt an, dass Jesus nicht die »Unterscheidung zwischen den läßlichen Sünden und den Todsünden« (ÜB, 98) im Sinn hat, sondern dass es sich bei solchen Taten um Übertretungen handelt, die mit menschlichen Mitteln nicht mehr aus dem Raum der zwischenmenschlichen Angelegenheiten entfernt werden können. Deshalb wäre es für diese Missetäter besser, sie wären niemals geboren worden (siehe Mt. 26, 24) oder man ersäufte sie mit einem A
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Mühlstein beschwert im Meer (siehe Lk. 17, 2; Mt. 18, 6) oder verbrenne sie wie das Unkraut im Felde (siehe Mt. 13, 30). Das Kriterium, das solche Tatfolgen für den Täter nach sich zieht, tritt bei Jesus zum Kriterium des Mit-sich-selbst-Lebens hinzu, nämlich der »Vollzug der Tat und deren Folgen« (ÜB, 121) als Kriterium der Unverzeihlichkeit. Skandala haben eine solche zerstörerische Wirkung, dass sie ein unüberwindbares Hindernis sind. Sie zerstören die Ordnung der Welt als solche. Jesus, der Mann der Tat, im Unterschied zu Sokrates, dem Mann des Denkens, zeige deutlich auf den »Schaden, der der Gemeinschaft zugefügt wird,« und »die für alle bestehende Gefahr« (ÜB, 122), die in den Stolpersteinen inbegriffen ist. Anders jedoch als Arendt behauptet, können wir uns eine Vorstellung davon machen, was Jesus mit den Stolpersteinen im Sinn hatte. Und an dieser Stelle wird die Unterscheidung von Bedeutung, auf welche Texte aus dem Neuen Testament sie sich jeweils bezieht. Aufs Korn nimmt Jesus in Mt. 18, 6, nämlich diejenigen, die ihre Mitmenschen zum Unglauben verführen und so dasjenige Ärgernis in die Welt bringen, das nicht mehr verzeihlich ist. Ihnen soll der Mühlstein um den Hals gehängt werden. Gleiches sagt das Gleichnis vom Himmelreich in Mt. 13, 24–30, aus, das wie ein Acker ist, auf dem die Feinde des Sämannes Unkraut zwischen den Weizen säen, das verbrannt werden muss. Zu dieser Verführung zum Unglauben oder dem Widerstand gegen das Reich Gottes fügt Arendt mit dem Verweis auf Mt. 26, 24, den Verrat am Sohn Gottes hinzu, den Judas begeht, von dem deswegen gesagt werde, er wäre besser nicht geboren worden. Die »Sünde gegen den Heiligen Geist« (ÜB, 121) zeigt aber den charakteristischen Akzente in den Textstellen aus dem MatthäusEvangelium an. Denn die Verführung zum Unglauben ist zunächst das Handeln eines Menschen, der andere vom Glauben entfremdet. Und es lassen sich viele verschiedene Taten vorstellen, die dazu angetan sind. Aber alle die Taten, die sich derart kategorisieren lassen, stellt der matthäische Jesus in die Perspektive der Beziehung des Menschen zu Gott und setzt ihre Bedeutung für die Beziehungen der Menschen untereinander an die zweite Stelle. Es ist die Sünde gegen Gott, die in dieser Sichtweise unverzeihlich ist und den Bereich jener Ausnahme festsetzt: Der große Freund der Sünder macht vom gängigen Wegerklären der menschlichen Schlechtigkeit die Ausnahme der Sünde gegen Gott. Unverzeihlichkeit umschreibt so die genannte Teilmenge der Taten, wie sie sich durch das Prisma unserer 120
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Gottesbeziehung zeigen, während dieselben Taten in der Perspektive der Zwischenmenschlichkeit aus dem Unverzeihlichen herausfallen könnten. Kriterium für Unverzeihlichkeit ist beim matthäischen Jesus also der Schaden an der Gottesbeziehung und nicht der Schaden an der Gemeinschaft unter Menschen. Beim Jesus des Lukas-Evangeliums hingegen rückt das Geschehen zwischen Menschen in den Mittelpunkt und damit Arendts Interesse am zwischenmenschlichen Verzeihen um Sinne ihrer undogmatischen Lesart der Evangelien. Die menschlichen Handlungen sind in Lk. 17, 1–4, in ihrer Gesamtheit gemeint und umschließen also auch die Taten, die allein als Sünde wider den Heiligen Geist betrachtet wurden und gerade darin das Unverzeihliche angaben. Aus der Bandbreite der menschlichen Schlechtigkeit wird kein Teil herausgenommen und in seiner Bedeutung für die Gottesbeziehung betrachtet, sondern sie werden geteilt in die verzeihlichen Verfehlungen und die wirklichen Ärgernisse (die Skandala). Und von den Verfehlungen heißt es, dass auf Vorhaltung und Reue die Verzeihung folgen müsse, auch wenn der Täter »siebenmal des Tages an dir sündigen würde und siebenmal wiederkäme zu dir und spräche: Es reut mich!« (Lk. 17, 4) Auch wenn Jesus nicht sagt, welches Kriterium er zur Unterscheidung dieser beiden Handlungsgruppen im Sinn hat, zeigen die Geschichten in den Evangelien zumindest, dass er das Tun der Ehebrecher, der Prostituierten, der Zöllner und oder der Diebe nicht als unverzeihlich ansah, sondern auf das Konto der Verdorbenheit der menschlichen Natur schlug und es grundsätzlich für verzeihlich hielt. Der Bereich der Ausnahme, den der große Freund der Sünder von dem Wegerklären der menschlichen Schlechtigkeit zu machen bereit war, zeigt sich in dieser Perspektive als ein ganz anderer und lässt sich nur negativ eingrenzen. Konkret und positiv erlangen wir keinerlei Auskunft darüber, was genau zu dieser Ausnahme gehört, also zu dem, was wir nicht mehr wegerklären und deswegen nicht verzeihen können. Was wir umgekehrt sagen können ist jedoch, dass der lukanische Jesus das Augenmerk auf die Folgen einer Tat richtet, die diese für das gemeinsame Leben der Menschen hat. Und diese folgenorientierte Bestimmung des Unverzeihlichen fügt sich besser in das von Arendt gezeichnete Verhältnis von Unwiderruflichkeit und Verzeihung, wie wir es bis jetzt kennen, als die matthäische Betonung des Gewissens des Täters, das allein mit der möglichen Reue in Verbindung steht, nicht aber mit der zwischenmenschlichen Handlung des A
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Verzeihung. Bei Arendt selbst ist noch ein weiteres Argument gegen die Interpretation des jesuanischen Unverzeihlichen als »Sünde wider den Heiligen Geist« zu finden. Das Unverzeihliche als jene Sünde benötige nämlich die Vorstellung eines Bösen, das die Menschen aus vollem Herzen täten. Das aber setze die Entdeckung des freien Willens voraus, die weder den Evangelisten noch Jesus, sondern Paulus zuzuschreiben sei. 83 Wie es sich mit diesem letzten Argument auch verhalten mag, so ist aus dem Gesagten zumindest zweierlei ersichtlich: Erstens zieht Arendt in der Bestimmung des Unverzeihlichen den Jesus des LukasEvangeliums dem Jesus des Matthäus-Evangeliums vor und bleibt damit auf der Linie ihrer unvoreingenommenen, das heißt an theologischen Fragen uninteressierten, Lektüre des Neuen Testaments. Zweitens ist damit der Konkretisierung des Unverzeihlichen bei Arendt der Weg gewiesen, weil es sich dabei um ein Unverzeihliches handeln muss, dass Menschen anderen Menschen zufügen. Arendts Anleihen bei Jesus für den Begriff des Unverzeihlichen zielen daher im Wesentlichen auf die Bestimmung des Schadens für die Gemeinschaft als Kriterium der Unverzeihlichkeit. Ohne Antwort bleibt jedoch die Frage nach dem Unverzeihlichen selbst. Und anders als Jesus muss Arendt die Entdeckung des freien Willens und die Möglichkeit eines aus vollem Herzen getanen Bösen berücksichtigen. Der von ihr selbst gesetzte Prüfstein in der Definition des Unverzeihlichen ist die Kritik an der philosophischen und theologischen Tradition und deren Schweigen von der Schlechtigkeit des Menschen, die zu Beginn der Vorlesung Some Questions of Moral Philosophy zu der Frage führt, inwiefern mit den vorsätzlichen Untaten oder Verbrechen (im Unterschied zu den Verfehlungen) der Weg zu Arendts Begriff des Unverzeihlichen gewiesen sein kann. Dass die Erläuterung des Unverzeihlichen und auf diesem Wege auch die Bestimmung des Verzeihlichen bei Arendt wegen dieser Richtungsangabe ein kompliziertes Unterfangen ist und – das dürfte kaum überraschen – zu intern unauflösbaren Schwierigkeiten führt, sollen die folgenden Abschnitte zeigen.
Siehe zu Arendts Einschätzung der Evangelien in der Frage des freien Willens ÜB, 106–109, 122; zu ihrer geistesgeschichtlichen Einschätzung von Paulus LG, 298– 307.
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(i) Die Grenzen von Arendts Begriff des Unverzeihlichen Das Fundamentalproblem von Arendts Begriff des Unverzeihlichen ist ihre Unterscheidung zwischen den verzeihlichen Verfehlungen und den unverzeihlichen Verbrechen, wie sie Arendt im Anschluss an den lukanischen Jesus (lässliche Sünden versus wirkliche Ärgernisse) trifft. 84 An der entscheidenden Stelle lesen sich ihre Ausführungen so, dass sich die verzeihlichen Verfehlungen »aus der Natur des Handelns selbst ergeben« (VA, 306), weil alles Handeln das ihm immer vorausgehende Bezugsgewebe vorfindet und in es hinein seine neuen Bezüge setzt. Die Vorgängigkeit des Bezugsgewebes aber unterscheidet nicht zwischen Verfehlungen und Verbrechen, sondern gilt für jedwedes Handeln. Sie gilt unabhängig davon, wie sehr sich die Ergebnisse von den ursprünglichen Absichten einer Handlung entfernen. Verfehlt werden die Ziele, die sich der Verantwortliche einer Tat gesetzt hat. Und deshalb sind alle Taten im strengen Sinne Verfehlungen. Arendts eigene Grundbedingungen zugrundegelegt hat die Trennung der Verfehlungen von den Verbrechen keinen Sinn. Und wenn sie behauptet, dass die Verfehlungen des Verzeihens bedürfen, weil die Menschen nur dann miteinander leben können und an der Gabe der Freiheit, des Anfangens, festhalten können, wenn sie sich »ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien […], was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun« (VA, 306), dann gilt das für alle Handlungen und gibt schlechterdings kein Kriterium an die Hand, das Verzeihliche vom Unverzeihlichen zu scheiden. 85 84 Splett macht gegen Arendts Interpretation exegetische und theologische Einwände geltend und verweist auf unbenannte »einschlägige Kommentare«, die hier außer Betracht bleiben können, weil sich auch Arendt-immanent die Unterscheidung zwischen den Verfehlungen und den Verbrechen nicht aufrechterhalten lässt; vgl. ders.: Vita Humana, S. 563, FN 14. 85 Siehe hingegen die Fortschreibung dieser hinfälligen Unterscheidung bei BowenMoore: Arendt’s Philosophy, S. 147; Kristeva: Genie, S. 360 f.; Orlie: Forgiving, S. 347; Reist: Praxis, S. 164–165; Sievernich: Kultur, S. 455–459; Young-Bruehl: Why, S. 98, 100–103. Einen Sonderfall stellt Pullichs Idee dar, zwischen den alltäglichen Verfehlungen, dem willentlich getanen Bösen und dem radikal Bösen zu unterscheiden, von denen allein Letzteres für Arendt unverzeihlich sei. Diese Trias findet sich nicht in der Quelle. Denn das willentliche Böse, also die unverzeihlichen Verbrechen, ist gleichbedeutend mit den seltenen Taten, die Arendt dann in der Verhältnisbestimmung von Verzeihen und Strafe als das radikal Böse bezeichnet, das sich weder vergeben noch bestrafen lasse (vgl. VA, 305–308). Pullich müsste zeigen, dass sich das willentliche Böse vom radikalen Bösen unterscheidet und es über die Eigenschaft verfügt, die die Verfehlungen verzeihlich machen, nämlich Absichtslosigkeit; siehe Pullich: Arendt, S. 8 und 12, FN 12; vgl. Reist: Praxis, S. 165, der implizit dieselbe Trias wie Pullich beansprucht.
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Zweitens führt das zu der problematischen Verbindung von Vorsatz und Unverzeihlichkeit, die Arendt in der Gegenüberstellung von den alltäglichen Übertretungen und den willentlichen Verbrechen aufmacht: Die unverzeihlichen Verbrechen sind »das Böse, von dem der Mensch im vorhinein weiß« (VA, 305; vgl. ÜB, 42 f.). Wie wir aber in der Erläuterung der Aporie der Unabsehbarkeit gesehen haben, gilt für alles Handeln, dass der Handelnde sich eine Vorstellung über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens seiner Handlungsziele machen kann und dass er dadurch seine Initiativen so setzen kann, dass er vielleicht nicht auf der ganzen Linie Erfolg hat, aber doch das Ergebnis die Richtung beibehält, die in seiner ursprünglichen Handlungsabsicht lag. Wir hegen, durch eigene Erfahrung oder die unserer Mitmenschen, betreffs unserer Handlungen immer begründete, manchmal nur ungefähre und bisweilen sehr genaue Vorstellung davon, was diese konkrete Tat für Folgen zeitigt, auch wenn wir die Geschichte, die sich aus solchen Taten ergibt, nicht vorhersehen oder kontrollieren können; sei es eine gute oder böse Tat oder seien es die sehr viel selteneren Taten, bei denen sich tatsächlich ganz ohne Bezug auf unsere vorgängigen Überlegungen und Entscheidungen, das Böse oder Gute wie von selbst einstellt. Nur lässt sich in letzterem Fall nicht von Verantwortung sprechen, sondern eher von zufälliger Urheberschaft der guten wie der bösen Folgen. Und genau in diesem Fall der unwillentlichen Urheberschaft gewinnt der Begriff der Verfehlung innerhalb von Arendts Handlungstheorie seinen spezifischen Sinn. Allerdings taugt dieser Begriff nicht dazu, ihm das vorsätzliche Böse gegenüberzustellen, denn dieser Versuch lebt von einer unausgesprochenen und zweifachen Voraussetzung, nämlich dass der Verfehler etwas Gutes beabsichtigt und seine Handlung etwas zeitigt, was sich für andere als ein Schaden erweist, den der Verursacher so nicht absehen konnte; und dass im Gegensatz dazu das unverzeihliche Böse steht, das jemand in vollem Bewusstsein dessen tut, dass ein anderer Mensch dadurch in nachteiliger Weise betroffen ist. Spielt man dieses Gedankenkonstrukt einmal durch, sieht man, dass diese phänomenale Engführung des Verzeihlichen auf die Verfehlungen im Grunde alle Handlungen vom Verzeihen ausschließt, bei denen wir trotz der beiden nicht totalen, sondern begrenzten Aporien der Verantwortlichkeit und Unabsehbarkeit von persönlicher Verantwortung und darauf folgender Verzeihungsbedürftigkeit sprechen können. Denn die Verfehlungen, so wie Arendt sie defi124
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niert, sind die wirklich unbeabsichtigten Folgen einer Handlung, für die schlechterdings kein kohärenter Zusammenhang von Tat, Schuld, Reue, Verantwortung und Verzeihung herstellbar ist. Aber genau auf diesen Zusammenhang greift Arendts Begriff des Verzeihens zurück, wie ihre Bedingungen des Vorhaltens und der Reue belegen. Wenn sich die Unabsehbarkeit im Einklang mit Arendts Trennung der Verfehlungen von den Verbrechen tatsächlich nur darauf bezöge, dass »sich die Folgen eines Handeln verselbständigen, weil nicht vorhersehbar ist, wie andere es zum Anlaß für weiteres Handeln nehmen«, also auf die Verfehlungen in Arendts Verständnis bezöge, könnte man zwar das Verzeihen allein als »Sorge um die Welt« im Unterschied zur »Sorge um den Menschen« bestimmen, könnte aber dann weder die Möglichkeit von der Verzeihung eines willentlichen Bösen denken noch »die Feststellung der Schuld« als »Voraussetzung des Verzeihens« bestimmen. Wie man unter solchen widersprüchlichen Bedingungen noch von Schuld und Verantwortung reden kann, ist schwerlich einsichtig zu machen, einmal abgesehen davon, dass das Verzeihen Arendts sich zwischen Menschen abspielt und man es deswegen als Form der Sorge um die Menschen in der Welt bezeichnen müsste, solange in dem Wort »Welt« nicht die These von dem lediglich politischen Verzeihen bei Arendt mitschwingt, bei dem unklar ist, inwiefern es das zwischenmenschliche Verzeihen in sich aufnehmen kann. 86 Verfehlung ist Arendts Begriff für das, was den Kindern jener Mütter geschah, die Contergan während ihrer Schwangerschaft nahmen, und was wir die grundsätzliche Fehlbarkeit menschlichen Handelns genannt haben. So wie wir das Handeln der Mütter nicht als persönliche Schuld begreifen, ist Verzeihung nicht die angemessene Umgangsweise mit zwischenmenschlichem Leid in ihrem Fall. Denn der Verfehler Arendts verfehlt seine Ziele unausweichlich, weil jede Handlung auch Folgen nach sich zieht, die er nicht absehen konnte (so wie wir es in der Geschichte der Mütter contergangeschädigter Kinder gesehen haben). Und er kann dennoch die Verantwortung nicht nur für seinen Anfang, sondern auch für die daraus folgende Geschichte der Verfehlung übernehmen, weil er und kein anderer diese Geschichte angefangen hat und obwohl die anderen Be86 Siehe Pullich: Arendt, in der Reihenfolge der Zitate S. 8, 8, 8, 9, 9. Dieselbe Frage nach der Art von Schuld, die Verfehlungen verursachen, ist an Young-Bruehl: Why, S. 100–102, zu stellen.
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teiligten ihre Teilverantwortung tragen. Dieser fehlbare Mensch, der streng genommen keinen Anlass zur Reue hat, weil er das Leid, das Teil der von ihm angefangenen Geschichte ist, nicht wollte, könnte nur deswegen als ein verzeihungsbedürftiger gelten, weil er die Last der Fehlbarkeit zu tragen hat und das ihr zugehörige Schuldgefühl empfindet, weil auf ihn die existentielle und die emotionale, aber nicht die moralische Schuld zutreffen. Das Phänomen, dass Menschen sich die für Folgen ihres Handelns schuldig fühlen, auch wenn sie in Kategorien moralischer und juristischer Verantwortung nicht verantwortlich gemacht werden können, wird in diesem irrigen Verständnis von Arendts Verfehlungen zum dominanten Verzeihensanlass und rückt die Verzeihungsbedürftigkeit der moralischen Schuld in den Hintergrund. Arendt unterläuft der Fehler, dass sie in der Unterscheidung von Verfehlungen und Verbrechen das Prinzip der Unabsehbarkeit auf alle Folgen von Handlungen ausweitet, als könnte man nicht unterscheiden zwischen absehbaren und unabsehbaren Folgen. Genau diese Differenz ist aber erforderlich, will man weiterhin – und Arendt tut das – von verantwortbaren Handlungen sprechen können. Und zudem fiele auf diese Weise die überwältigende Menge des absichtlich zugefügten Leides aus der Möglichkeit der Verzeihung heraus. Aus diesen Gründen sind Arendts Verfehlungen und die aus ihnen resultierenden Schuldgefühle nicht Teil der Geschehnisse, auf die sich sinnvoll mit Verzeihung antworten lässt. Der Verfehler, so wie Arendt ihn uns präsentiert, bedarf unserer Verzeihung nicht, weil er ein Opfer des Bezugsgewebes ist und nichts Schlechtes im Schilde führte, auf das sich wieder mit der Umkehr der Reue (Arendts zweiter Bedingung des Verzeihens) antworten ließe. Sein Missgeschick, das Arendts Verfehlungen sind, passt eher zu einer Person, von deren guten Absichten wir vielleicht vorher wussten und nun Anhaltspunkte dafür haben, dass ihr Bedauern über diese wahrhaft unbeabsichtigten Folgen aufrichtiger Natur ist, weil wir möglicherweise Kenntnisse haben von Versprechungen, die den Anfang betreffen, aus dem sich die unglückselige Geschichte ergeben hat. Die Rede von den verzeihlichen Verfehlungen setzt nämlich voraus, dass der Verzeihende ein Wissen davon hat, was der Verfehler ursprünglich wollte. Andernfalls könnte er gar nicht wissen, dass es sich um eine Verfehlung handelt. Und wenn dieses Wissen nicht auf schlichtem Zutrauen in die Beteuerungen des anderen beruhen soll, dann kann es sich nur um Auskünfte des Täters handeln, die dieser 126
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noch vor der Tat gegeben hat. Das aber, die Angabe meiner Absichten und die Verpflichtung auf meine Handlungsziele, war genau das, was bei Arendt das Versprechen kennzeichnet. Wer einem Verfehler »verzeiht«, tut das, weil der Täter vorher etwas versprochen hat, was hinreichend Grund und Rechtfertigung gibt, ihm zu »verzeihen« und ihn von den Folgen seines Tuns zu befreien. 87 Die angesprochene phänomenale Engführung von Arendt entzieht dem Verzeihlichen von vornherein und auf eben auf widersprüchliche Weise alles absichtlich zugefügte Leid; sei es eine Beleidigung oder eine Ohrfeige, von der ich genauso weiß, dass sie ihrem Empfänger Schmerzen zufügt, wie im Falle von Ehebruch oder Betrug und dergleichen mehr. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern mit vielen Beispielen aus der endlosen Vielfalt menschlicher Schlechtigkeit und zeigte doch nur, dass jener Engführung eine phänomenale Entgrenzung der bei Arendt unverzeihlichen Verbrechen entspricht. Dieses Begriffspaar führt aus diesen Gründen zu einer analytisch unbrauchbaren Marginalisierung des Verzeihungsbedürftigen, weil außer den Verfehlungen alle anderen Handlungen unverzeihlich wären. Im Grunde laufen diese Überlegungen darauf hinaus, dass all die Taten zwischen den wohlverstandenen Verfehlungen und den wirklich bösen Taten, die uns die Sprache verschlagen und ratlos zurücklassen, aus der Betrachtung herausfallen – also genau der Teil der phänomenologischen Bandbreite menschlicher Schlechtigkeit, der deren Löwenanteil ausmacht und mit dem wir es tagtäglich zu tun haben und an dem sich zuallererst das Vermögen zu verzeihen bewähren muss. Zudem – und das wiegt genauso schwer – fügt sich das nicht mit Arendts Bezug auf die Reue zu einem stimmigen Bild zusammen. Denn wenn Reue zur gewährten Verzeihung im Verhältnis seiner Bedingung steht und verzeihlich nur die Verfehlungen sind, dann hätte die Reue keinen einsichtigen Gegenstand. Denn was könnte der Verfehler bereuen? Anlass zur Reue hat – um in Arendts irreführender Begrifflichkeit zu bleiben – nur der Verbrecher. Das Verzeihen aber gewinnt erst dann die auch für Arendt erforderliche moralische Qualität, wenn es auf den bereuenden Willen zur 87 Siehe zu der Verbindung dieses Schuldgefühls mit einer gleichfalls empfundenen Verzeihungsbedürftigkeit und dem Handlungsvermögen, das angesichts von Verfehlungen an die Stelle des von Arendt fälschlicherweise in Anwendung gebrachten Verzeihens treten könnte, Kapitel 4.b.
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Umkehr trifft und diesem Willen Glauben schenkt und Mut zuspricht, indem es ohne Verharmlosung der Missetat dem Täter seine persönliche Schuld nicht weiter vorhält – in der Weise wie es Arendt an Auden schrieb: »I can forgive somebody without forgiving anything« (HA/WA, 004864). Derjenige, dem verziehen wird, ist mehr als nur ein Opfer des Bezugsgewebes oder unausweichlicher Verstrickungen, sondern er ist für seine Taten im Sinne der moralischen Schuld bei Arendt verantwortlich. Wenn wir einander nur verziehen im Falle von Leid, das sich wie ein Nebenprodukt geradezu zufällig ergeben hat, verliert das Verzeihen seine Bedeutung und kann nicht verständlich machen, weshalb sich Arendt von ihm erhoffte, die Gabe der menschlichen Freiheit mit der Unmöglichkeit der Souveränität, sich selbst und andere zu beherrschen, zu vereinen. 88 Die Verfehlungen als unbeabsichtigte Handlungsfolgen sind nicht der systematische Punkt, an dem Arendt die Möglichkeit der Zuschreibung von Verantwortung festmacht. Dieser Punkt ist der Anfang, die Initiative, die ich nach einer Abwägung meiner Optionen ergreife und in die Tat umsetze. Aus diesen Überlegungen und Entscheidungen heraus sind meine in die Tat umgesetzten Handlungen mir zurechenbar im Sinne einer moralischen Verantwortlichkeit, die für alle Taten gilt: Deshalb kann Vorsätzlichkeit kein Kriterium der Unverzeihlichkeit sein, weil dann schlechterdings alle Handlungen unverzeihlich wären. Das aber liefe Arendts Überzeugung von der Notwendigkeit zuwider, moralische Unterschiede zu machen und Handlungen entsprechend zu beurteilen. Anders gesagt: Weil Absichtlichkeit auch für Arendt ein Kennzeichnen aller Handlungen ist und erst die Folgen der oder die Geschichten aus den Handlungen differenzierbar in Sachen Verantwortlichkeit sind, sind auch die absichtsvoll begangenen Taten grundsätzlich der Verzeihung zugänglich und Arendts Versuche zur Trennung des Verzeihlichen vom Unverzeihlichen ein zweites Mal auf einen anderen Weg verwiesen. 89 Die Einzige, die kritisch vermerkt, dass »also nicht die bewußten Vergehen, die böse Tat, sondern allein die Versehen, die unabsichtlichen, alltäglichen Verfehlungen des Menschen« verzeihungsfähig sind, ist Frettlöh: Der Mensch, S. 195. Allerdings fällt ihr nicht auf, welche systematischen Probleme sich dadurch Arendt-immanent ergeben, wenn sie wie Arendt die Verfehlung als ein Schuldverhältnis zwischen Menschen definiert. 89 Erst auf der Grundlage der Abschaffung von Arendts irriger Unterscheidung von verzeihlichen Verfehlungen und unverzeihlichen Verbrechen wird es möglich, über die Verzeihung von absichtlichen Taten nachzudenken; dies gegen Pullich: Arendt, S. 8. 88
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Daher bleibt drittens als Letztes der von Arendt genannten Kandidaten für die Bestimmung des Unverzeihlichen nur der Schaden für die Gemeinschaft, den ein Böses anrichtet. In der Vita activa entspricht dieser Formulierung aus Some Questions of Moral Philosophy die Zerstörung des zwischenmenschlichen Bereiches (VA, 307). Damit ist die Ebene verlassen, auf der man das Unverzeihliche bei Arendt als etwas beschreiben könnte, das sich aus den Grundbegriffen ihrer Handlungstheorie ergäbe. Denn weder lässt es sich ex negativo auf dem Weg über das Verzeihliche bestimmen, weil alle Taten verfehlenden Charakter haben, noch geht es positiv, indem man dem Unverzeihlichen eine Vorsätzlichkeit zuschreibt, die das Verzeihliche nicht habe, weil so Verantwortung und Reue schlechterdings zu unverständlichen Phänomenen innerhalb des Gerüstes von Arendts Handlungstheorie würden. Die Folge aus diesen Unstimmigkeiten ist, dass Arendt nicht angeben kann, was das per se Unverzeihliche sein könnte. Diese Unfähigkeit stimmt mit den Grundannahmen ihrer Handlungstheorie überein. Denn wenn die Natalität ein Strukturmoment allen Handelns ist, dann kann es bis auf die physische Vernichtung nichts geben, was die Menschen daran hindern kann, mit Neuanfängen auf Geschehenes zu reagieren, dann kann es nichts geben, das prinzipiell unverzeihlich ist. Die Unklarheit Arendts in dieser Frage hat folgenden Grund: Sie unterscheidet nicht hinreichend zwischen Aussagen, die angeben, was überhaupt zusammenkommen muss, damit das Prädikat »Verzeihung« gerechtfertigt ist, und Aussagen, die bestimmen, in welchen Fällen die Verzeihung aus ihrer Sicht eine moralisch gebotene oder verbotene Handlung ist. Dieses Manko findet sich auch in der Forschung zu ihrem Verzeihensbegriff immer dann wieder, wenn Verzeihen-Können und Verzeihen-Dürfen gleichsetzt und die daraus folgenden Unstimmigkeiten im Blick auf Arendts Bedingungen und Pflicht des Verzeihens (die sich so selbstredend nicht mehr aufrechterhalten lässt) und auf das Unverzeihliche übersehen werden. Diese Nachlässigkeit führt Arendt wie gesehen dazu, dass sie das Unverzeihliche aus zwei unteilbaren Strukturmomenten des Handelns (Verfehlung und Vorsätzlichkeit) abzuleiten sucht. Das Problem lässt sich auch so formulieren, dass Arendt in der Bestimmung des Unverzeihlichen die Frage nach den konstitutiven Bedingungen des Verzeihens gar nicht stellt, sondern im Grunde gleich mit dem zweiten Schritt einsetzt: nämlich mit den normativen Bedingungen A
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des Verzeihens. Sie fragt: Wann darf ich verzeihen? Und sie übergeht dabei die Frage: Wann kann ich überhaupt verzeihen? Ihr Begriff des Unverzeihlichen folgt genau aus dieser mangelnden Trennung des Könnens und Dürfens zugunsten des Letzteren. Denn was Menschen nicht mehr verzeihen dürfen, folgt bei Arendt aus einer ganz bestimmten Überzeugung, wie Menschen ihr Leben mit anderen Menschen zu führen haben. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Weigerung, eine moralische Person auszubilden und sich als verantwortlicher Mensch unter seinesgleichen am Gang der Welt zu beteiligen, Arendts Voraussetzung für die wirklichen Stolpersteine. Sokrates, den sie hier bemüht, hatte sich nicht zu den Stolpersteinen selbst, sondern zu ihren Folgen für den Täter und ihren Voraussetzungen in der Person des Täters geäußert. Die fehlende moralische Personalität ist daher nicht mit dem Unverzeihlichen zu verwechseln, aber sie macht es erkennbar. Denn es ist das, was nicht mehr »von […] menschlich verständlichen Motiven verursacht« (ÜB, 150) worden ist und was wegen dieser Unverständlichkeit nicht mehr verziehen werden darf. Es fehlen die moralischen Kategorien, um solchen Taten und ihren Folgen überhaupt irgendeinen nachvollziehbaren und verständlichen Sinn beizulegen. Ergänzt man den Umstand, dass Vorsätzlichkeit zur Angabe des Unverzeihlichen kein tragfähiges Kriterium sein kann, dann zeigt sich, dass Unverständlichkeit nicht die prinzipielle Unmöglichkeit bedeutet, Gründe und Absichten für diese wirklichen Stolpersteine anzugeben. Es bedeutet lediglich, dass Hannah Arendt die Kategorien fehlen. Denn hier muss ihre Kritik am sokratischen Kriterium des Mit-sich-selbst-Lebens auf sie selbst angewendet werden, dass nämlich die Gesamtheit meiner moralischen Überzeugungen genauso wandelbar ist wie die sich ihr verdankende persönliche Überzeugung, was verziehen werden darf und was nicht mehr verziehen werden sollte. Die Abhängigkeit des Verzeihlichen von meinen moralischen Vorstellungen und deren Wandelbarkeit verlangt die Klarstellung, dass es immer eine persönliche Entscheidung ist, was ich verzeihe und was nicht. Oder anders gesagt: Das Verzeihliche wie das Unverzeihliche sind immer Ergebnisse einer persönlichen Einschätzung und Beurteilung einer Handlung nach moralischen Prinzipien. Damit soll keiner radikalisierten Beliebigkeit beider Phänomene das Wort geredet werden. Denn die moralische Personalität des Menschen ist immer abhängig von den Einflüssen seiner Umwelt, in der 130
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Vorstellungen darüber kursieren, was verzeihlich ist und was nicht. Von diesen haben Täter wie Opfer als Teil dieser Umwelt Kenntnis. Aber die Entscheidung, ob jemand einem anderen verzeihen wird, hängt immer davon ab, wer Verzeihung für welche Tat erwägt und wer ihr möglicher Empfänger ist, in welcher historisch gewachsenen Gesellschaft und in welcher sozialen Umgebung dies geschieht und in welcher lebensgeschichtlichen Situation sich Täter wie Opfer befinden. Maßgeblich ist die jeweilige individuelle Ausprägung der umweltlichen Vorgaben, nämlich in welcher Beziehung derjenige, der die Gewährung von Verzeihung erwägt, sich zu dem Täter sieht und zu welcher Einschätzung welcher Tat er auf dem Hintergrund der lebensweltlichen Vorgaben gelangt. Diese Unberechenbarkeit des Unverzeihlichen gilt aber auch aus der anderen Perspektive. Arendt wandte sich gegen Sokrates, weil die Wandelbarkeit meiner Moralvorstellungen es mit sich bringt, dass ich eine Ohrfeige, die ich einem anderen verabreiche, zu einem Zeitpunkt für vereinbar mit meinem moralischen Selbstverständnis halte, aber einige Jahre später möglicherweise nicht. Die Kritik an Sokrates läuft damit auch auf den – von Arendt so nicht benannten – vergeblichen Versuch hinaus, konkret anzugeben, was unabhängig von jener Veränderlichkeit durch die Zeiten hindurch unverzeihlich ist. Denn das, was sie als unverzeihlich bestimmt, was für sie schlechterdings nicht mehr verständlich ist, folgt unmittelbar aus ihrer Überzeugung, wie Menschen ihr Leben zu führen haben. Menschen entfalten ihre wahrhaft menschlichen Möglichkeiten nach Arendt erst dann, wenn sie ihr Leben nicht allein unter den Bedingungen des Arbeitens und Herstellens fristen, sondern wenn sie im Sprechen und Handeln mit ihren Mitmenschen die Gestaltung des Zusammenlebens in der gemeinsam errichteten Welt regeln. Dazu gehört, dass Menschen eine eigene Vorstellung von Recht und Unrecht entwickeln, indem sie »in Beispielen von toten oder lebenden wirklichen oder fiktiven Personen und […] von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen« (ÜB, 149) denken, und ihre so gewonnenen Urteile der Kritik anderer Menschen aussetzen. Andernfalls entstehen aus »dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil mit zu Anderen in Beziehung zu treten, […] die wirklichen Stolpersteine« (ÜB, 150). Dementsprechend ist all das für Arendt unverzeihlich, was es den Menschen unmöglich macht, sich der Fähigkeit des Sprechens A
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und Handelns zu bedienen. Alle Taten, die Menschen ihres ausgezeichneten Vermögens zu handeln berauben, sie verstummen lassen und ihnen ihre Stimme im Gang der Welt nehmen, markieren die Grenze des Verzeihens. Immer wenn Menschen solche Taten ins Auge fassen und durchführen, von denen sie wissen können, dass ihnen eine solche Wucht innewohnt, dass diese Handlungen durch die vielfältigen Beeinflussungen des Bezugsgewebes hindurch ihre zerstörerische Kraft entfalten werden, endet Arendts Verzeihlichkeit, nicht aber die prinzipielle Möglichkeit zu verzeihen in Arendts Handlungstheorie. Das hinlänglich bekannte und umstrittene Beispiel, das Arendt für das Unverzeihliche angegeben hat, ist das banal respektive radikal Böse der totalen Herrschaft in der Erscheinungsform der Konzentrations- und Vernichtungslager. Wir müssen an dieser Stelle nicht in eine uferlose Auseinandersetzung einsteigen, die teils ohne hinreichende Quellenkenntnis geführt worden ist, in der viele Zeitgenossen kaum die Waage zwischen emotionaler Betroffenheit und sachlicher Kritik an Arendt hielten und in der sich die um Begriffsklärung bemühten Stimmen erst spät Gehör verschaffen konnten. 90 Es ist für unsere Zwecke ausreichend, sich die realen Beschreibungen des radikal Bösen 91 zu vergegenwärtigen, um zu einem auch empirischen Trotz allem Verständnis für die individuelle Betroffenheit ist Benhabibs Urteil zuzustimmen, dass man »entweder völlig blind oder böswillig oder beides sein [muss], um mißverstehen zu können,« dass mit der Banalität des Bösen nicht die Taten oder deren Motivation, sondern eine geistige und persönliche Eigenschaft bestimmter Täter gemeint ist; siehe dies.: Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, in: Smith (Hg.): Arendt, S. 95–119, hier S. 105. Siehe für die zeitgenössische Debatte F. A. Krumacher (Hg.): Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden, München 1964; vgl. ferner Benhabib: Arendt, S. 271–290; Richard J. Bernstein: Verantwortlichkeit, Urteilen und das Böse, in: Smith (Hg.): Arendt, S. 291–309; sowie insgesamt die Beiträge in Smith (Hg.): Arendt. 91 Siehe zur Begriffsgeschichte des Bösen bei Arendt die Beiträge in Smith (Hg.): Arendt, sowie Richard J. Bernstein: Did Hannah Arendt Change Her Mind? From Radical Evil to the Banality of Evil, in: Kohn/May (Hg.): Arendt, S. 127–146. Allerdings fehlt es an einer Untersuchung, die Arendts im Briefwechsel mit Gershom Scholem erfolgte Wendung vom banalen zum extremen Bösen (siehe Hannah Arendt – Gershom Scholem: Ein Briefwechsel, in: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, hg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann, Berlin 1989 [= NA], hier NA, 78; vgl. ÜB, 77, und Hannah Arendt: Answers to Questions Submitted to Samuel Grafton, in: dies: The Jewish Writings, ed by Jerome Kohn and Ron H. Feldman, New York 2007, S. 472–484, hier S. 479) systematisch erläutert und mit den von der totalen Herrschaft ausgelösten Sandstürmen in Beziehung setzt, die Arendt in WP wie das extrem Böse als Oberflächenphänomen beschreibt, das ohne jede Tiefe sei, aber die Welt zerstören könne; siehe dazu Fabio Cia90
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Verständnis des Unverzeihlichen zu gelangen, weil bei Arendt die Definitionen des totalitären Bösen und des Unverzeihlichen zusammenfallen. In ihren Überlegungen zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern, die die »Laboratorien« (EU, 676) des Anspruches der totalen Herrschaft auf absolute Beherrschbarkeit der Menschen sind, findet sich ihre Vorstellung davon, was wirklich unverzeihliche Taten sind: Es ist die schrittweise »Massenfabrikation von Leichen«, der die »Präparation lebender Leichname« vorangeht: von der »Tötung der juristischen Person« über die »Ermordung der moralischen Person« zur abschließenden »Zerstörung der Individualität« selbst. 92 Diese macht den Menschen zu einem »Reaktionsbündel« und »trennt ihn von allem, was ›Person‹ oder ›Charakter‹ in ihm ist« (EU, 680). Dieses Tun ist nicht einmal auf die vollzogene Vernichtung der Menschen angewiesen, die genau genommen nur eine letzte Absicherung dieses Zerstörungswerkes an der menschlichen Fähigkeit zu handeln ist. Was eigentlich beherrscht und vernichtet werden soll, ist weniger der Mensch, sondern die in allem Handeln inbegriffene Unberechenbarkeit, die Arendt in der Vita activa in ihre Begriffe der Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit kleidet und die die Ursache aller Ersetzungsversuche des Handelns durch das Herstellen und Zerstören ist (vgl. Kapitel 2.c.d). Der schon zum Ziel führenden Präparation lebender Leichname geht es darum, »Spontaneität« als Ursache der Unberechenbarkeit des handelnden Menschen »abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln« (EU, 677), das hergestellt und zerstört werden kann. Und genau in dieser »systematischen Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde« (EU, 695) und der Fähigkeit, einen Neuanfang zu machen (siehe EU, 697), »hat die totale Herrschaft […] entdeckt, daß es ein radikal Böses wirklich gibt und daß es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können.« (EU, 701) 93 Unverzeihlich und unbestrafbar sind diese Taten, weil sie mit menschlichen Möglichkeimarelli: From Radical Evil to the Banality of Evil: Remarks on Kant and Arendt, in: Alan Milchman/Alan Rosenberg (Hg.): Postmodernism and the Holocaust, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 101–112. 92 Hannah Arendt: Konzentrationsläger, in: Die Wandlung 3 (1948), S. 309–330, Zitate S. 317, 317, 318, 322, 326; vgl. EU, Kapitel 13: Die Konzentrationslager. 93 Vgl. nahezu identisch VA, 307; ÜR, 107; und als frühe Gedanken zur Unbestrafbarkeit des radikal Bösen HA/KJ, 90 f., 98 f., 106; DT, 7, 18. A
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ten nicht zu begreifen seien. Die Herrichtung von Menschen zu »Marionetten, die sich alle benehmen wie der Pawlowsche Hund, die alle bis in den Tod vollkommen verlässig [sic] reagieren,« (EU, 696 f.) sei identisch mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verzeihen, kein Gesetz bestrafen. (EU, 701)
Dieser Definition des Unverzeihlichen in ihrer Theorie totaler Herrschaft stellt Arendt in ihrem Bericht über den Prozess gegen Eichmann die personale Dimension zur Seite. Einschlägiger Bezugspunkt ist ihr fiktives Urteil über Eichmann. Sie treibt das Bemühen um, den Prozess von einer »Reihe politischer Nebenabsichten« zu befreien und auf seine eigentlichen »moralischen, politischen und substantiell juristischen Probleme« (EJ, 301) zurückzuführen. Worum es in den Verhandlungen einzig hätte gehen dürfen und was die Urteilsbegründung ausdrücklich hervorhob, ist die Aufgabe von Gerichtshöfen, »Recht zu sprechen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun.« (EJ, 302) Doch genau das sei den Jerusalemer Richtern nicht gelungen, weil aufgrund ihres Unverständnisses für die Beispiellosigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung und der Täter auch jene eigentlichen Probleme verfehlt worden seien. Denn zu verurteilen war nicht einfach »der schrecklichste Pogrom in der jüdischen Geschichte« (EJ, 317), sondern ein »Verbrechen an der Menschheit im eigentlichen Sinne, nämlich an dem ›Status des Menschseins‹ oder an dem Wesen des Menschengeschlechtes.« (EJ, 318) 94 Und gelingende Rechtsprechung und Wiederherstellung der Gerechtigkeit hingen davon ab, dass vom Standpunkt der Rechtsinstitutionen und moralischer Urteilsmaßstäbe aus geurteilt werde (siehe EJ, 326). Arendt befindet sich ganz in der Linie ihrer Bestimmung des radikal Bösen, des Unverzeihlichen, wie sie es in EU erläutert, wenn sie fortfährt: »Hätte das Gericht in Jerusalem verstanden, daß Diskriminierung, Austreibung und Völkermord nicht einfach dasselbe sind, dann wäre sofort klargeworden, daß das größte Verbrechen, […] die physische Ausrottung des jüdischen Volkes, ein Verbrechen gegen die Menschheit war, verübt am jüdischen Volk, und daß nur die Wahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens aus der langen Geschichte von Judenhaß und Antisemitismus abgeleitet werden konnte.« (EJ, 318)
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Arendts eigener Versuch, diese Überzeugungen in ihrem fiktiven Urteil über Eichmann zur Geltung zu bringen, stößt jedoch umgehend auf das Problem, dass »ein Unrechtsbewußtsein zum Wesen strafrechtlicher Delikte gehört« (EJ, 327), aber sich bei Eichmann kein solches finden lasse. Wenn jedoch die Absicht, Unrecht zu tun, fehlt, sehen wir in Anwendung von rechtsstaatlichen Prinzipien von einer Strafe ab, weil beispielsweise aus Unzurechnungsfähigkeit der Täter nicht Recht von Unrecht unterscheiden konnte. Dennoch plädiert Arendt für die Todesstrafe, weil sie Eichmann für moralisch zurechnungsfähig hält. Denn was diese Taten unbestrafbar macht, ist gerade, dass er zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte und deshalb verantwortlich zu machen ist – nur dass er sich die Verkehrung der Werte durch die totale Herrschaft aneignete, die das Tötungsverbot des biblischen Dekalogs durch das Gebot »›Du sollst töten‹ – und zwar nicht Deinen Feind, sondern unschuldige Menschen« (PVD, 32 f.) ersetzte. Aus diesem Dilemma helfen weder rächender Zorn oder duldende Liebe noch nachsichtige Freundschaft oder strafendes Gesetz heraus. Weder der Versuch einer Entschuldung, dass andere an seiner Stelle dasselbe getan hätten, fruchtet, weil vor Gericht nicht die für sich genommen unsinnige Kollektivschuld, sondern allein die »persönliche Schuld und Unschuld« (EJ, 328) verhandelt werden. Noch bringt die Anführung des Gehorsams eine Entschuldung mit sich, wie die Erinnerung an Arendts Begriff der Verantwortung zeigt. In der Welt der Erwachsenen sind Gehorsam und Zustimmung identisch: Uns gehen hier nur Ihre wirklichen Handlungen etwas an. […] So bleibt also nur übrig, daß sie eine Politik gefördert und mitverwirklicht haben, in der sich der Wille kundtat, die Erde nicht mit dem jüdischen Volk und einer Reihe anderer Volksgruppen zu teilen, als ob Sie und Ihre Vorgesetzten das Recht gehabt hätten, zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht. Keinem Angehörigen des Menschengeschlechtes kann zugemutet werden, mit denen, die solches wollen und in die Tat umsetzen, die Erde zusammen zu bewohnen. Dies ist der Grund, der einzige Grund, daß sie sterben müssen. (EJ, 328 f.)
Arendts Todesurteil gegen Eichmann ist nicht keine gesetzliche Kriminalstrafe, sondern eine Strafe aus Verlegenheit, weil sie auf etwas reagiert, für das Menschen und ihren Staatswesen eine angemessene Reaktionsweise fehlt. Und nur dort, wo sich dieses Fehlen einstellt, stimmt Arendt dem Strafenkatalog des matthäischen Jesus (aber A
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nicht dessen Definition des Unverzeihlichen) zu und sagt von Eichmann, »das Furchtbarste, was man von einem Menschen sagen kann« (VA, 308), dass er besser nie geboren worden wäre und es für ihn wie die Menschheit besser wäre, »daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.« (Mt. 18, 6) Grund dieser Strafe ist die Selbstentmenschlichung des Täters, dass der Täter des Unverzeihlichen durch seine Taten seine Zugehörigkeit zur Menschenheit so sehr beschädigt, dass er jedes Recht auf Behandlung als handlungsfähiger und verantwortlicher Mensch verliert, gerade weil er es als zurechnungsfähige Person getan hat. Gegenüber solchen Tätern sieht Arendt die menschheitliche Pflicht außer Kraft gesetzt, dass man sich als Mitmensch von Tätern betrachten müsse. Sie sprengen den Raum dessen, »womit jeder von uns bereit sein muß, sich im Bewußtsein der Sündhaftigkeit des Menschen zu solidarisieren.« (EU, 701) Üblicherweise übernehmen Regierungen die politische Verantwortung für das, was ihre Vorgängerregierungen getan haben. Und als Mitglied der Menschenheit sind wir in jenem kollektiven Sinne verantwortlich für das, was ohne unser Zutun irgendwo anders auf dieser Erde verbrochen wird. Denn ohne diese Haltung müssten wir auf geschichtliche Kontinuität und die Zusammengehörigkeit der Menschen als solcher verzichten. Das Unverzeihliche als die Vernichtung der menschlichen Fähigkeit, miteinander zu handeln und zu sprechen und die gemeinsame Welt zu gestalten, ist also daher unverzeihlich, weil sie die Geschichtlichkeit und Einheitlichkeit des Menschengeschlechtes, die ohne Verantwortung und Solidarität nicht auskommen können, auf die denkbar radikalste Weise infrage stellt. Daher betrachtet Arendt die Todesstrafe für die Eichmänner dieser Welt als »Akt der Verantwortung und menschlichen Solidarität« (EU, 704) mit den Opfern im Besonderen und der Menschheit im Allgemeinen. (ii) Arendts Verzeihen im Verhältnis zu Rache und Strafe Der Verlegenheitscharakter von Arendts Zustimmung zur Todesstrafe für Eichmann folgt zum einen aus der Unfassbarkeit des Unverzeihlichen in moralischen Kategorien und zum anderen aus ihren Angaben über das Verhältnis von Verzeihung zu Strafe und Rache. Denn beide Möglichkeiten, auf zwischenmenschliches Unrecht zu reagieren, beziehen sich laut Arendt auf das Verzeihliche und nicht auf das Unverzeihliche. Die Rache soll der Gegensatz zur Verzeihung 136
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sein, weil sie sich allein an die ihr vorangehende Untat hält. Insofern ist sie absehbar, tut nichts Überraschendes. Sie hebt die Handlungskette, die auf jede Tat folgt, so dominant in das Bewusstsein, dass alle Beteiligten an einer Geschichte gewissermaßen zu Sklaven der anfänglichen Untat werden. Das Verzeihen ist im Unterschied zur Rache »die einzige Reaktion, auf die man nicht gefaßt sein kann […] und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist.« (VA, 307) Allein das Verzeihen kann der Zähigkeit des Getanen entgegenwirken, obgleich es wie die Rache von der Vorgeschichte hervorgerufen ist. Nur weil es unberechenbar ist, kann es die Menschen von den fatalistischen Exzessen der Rache im Besonderen und den Folgen der Vergangenheit im Allgemeinen befreien – »sowohl denjenigen […], der verzeiht, wie den, dem verziehen wird.« (VA, 307). Zum wiederholten Male zeigt sich hierbei auch, dass das Vermögen zu verzeihen entsprechend der Grundbedingung der Natalität, des Anfangen-Könnens, prinzipiell grenzenlos sein muss, denn sonst könnte Arendt es nicht in diesen Gegensatz zur erwartbaren Rache bringen, wenn es per se nicht unberechenbar und unvorhersehbar wäre. Wenn das Verzeihen tatsächlich unvorhersehbar sein soll, dann darf es keinen noch so kleinen Teil der menschlichen Taten geben, für den nicht auf Verzeihung gehofft werden kann. Ist die Rache nach dem Kriterium der Art der Einfügung eines Handelns in die ihm vorangehende Geschichte ein Gegensatz zum Verzeihen, so ist die Strafe nach Maßgabe einer freien Entscheidung dem Verzeihen ähnlich, weil beide in ein Geschehen eingreifen, was ansonsten ungehindert seine zerstörerische Kraft entfalten würde. Strafe und Verzeihung stehen in einem alternativen Verhältnis zueinander, insofern Arendt für unverzeihlich hält, was wir nicht gegebenenfalls auch bestrafen könnten, und für gewöhnlich genau das nicht bestrafbar ist, angesichts dessen wir uns nicht in der Lage sehen zu verzeihen. Wenn die wirklich unverzeihlichen Taten »den zwischenmenschlichen Machtbereich« (VA, 307) zerstören und Verzeihen und Strafe in die vergeblichen Reaktionen darauf eingereiht werden, dann bestätigt das den Verlegenheits- oder Verzweiflungscharakter der Gewalt, mit der allein wir uns gegen das unverzeihliche Böse, das radikal Böse, wehren können und mit der sich die Strafenden wie der Täter des Unverzeihlichen aus dem menschlichen MiteinanA
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der verabschieden und ihm die menschheitliche Solidarität aufkündigen. Die Gemeinschaft der Menschen kann sich nur gemäß des jesuanischen Mühlsteinprinzips gegen die wehren, die diese Gemeinschaft vernichten wollen. In diesem Sinne sind Todesstrafen für Menschen wie Eichmann keine gerichtlich verhängten Strafen, auch keine Rache oder Vergeltung für die Zerstörung des Bezugsgewebes, sondern der Ausdruck dafür, »daß alle unsere früheren Vorstellungen über die Strafe sowie die Gründe, mit der wir sie gerechtfertigt haben, zusammengebrochen sind.« (PVD, 17) 95 Daraus sind zwei Schlussfolgerungen zu ziehen: Die Rache als Gegensatz zum Verzeihen muss so verstanden werden, dass sie den Unterschied zwischen dem Verzeihlichen und dem Unverzeihlichen transzendiert und nicht bloß der Gegensatz des Verzeihens und damit auf das Verzeihliche beschränkt ist. 96 Zweitens aber fragt sich, ob die alternative Bindung zwischen Verzeihen und Strafe wirklich überzeugend kann, denn wie die Rache verhängen wir die Strafe im Blick auf die Tat. Das Verzeihen aber wendet sich Arendts Überlegungen nach an den Täter, die Person: »Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache [also die Unrechtstat, T. D.].« (VA, 308) So legte sie es schon in ihrer Kritik der göttlichen Vergebung zugunsten der zwischenmenschlichen Verzeihung fest. Die Strafe findet hingegen in der per se nicht wieder rückgängig zu machenden Tat ihre Rechtfertigung. Und diesen Vorentscheidungen folgend zeigt sich Arendt in der Begründung der Strafe für Eichmann, das heißt in ihrem Beharren auf seiner persönlichen Verantwortung und ihrem Absehen von seinen Motiven als eine Vertreterin der retributiven Straftheorie, die den Rechtfertigungsgrund der Strafe in der Unrechtstat und nicht im Unrechtstäter findet: »Uns gehen hier nur Ihre wirklichen Handlungen etwas an.« (EJ, 329). Weshalb man also nur entweder strafen oder verzeihen können soll, wenn beide Vermögen sich zwar auf dasselbe Ereignis beziehen mögen, aber ihre Rechtfertigung auf je andere Gegenstände gründen, hätte Arendt – nicht weiter verwunderlich – an keiner Stelle in der Vita activa verständlich machen können, wenn Arendt hat das Problem der Unangemessenheit der Strafe für die Verbrechen der Nationalsozialisten auch an Hermann Göring exemplifiziert; siehe Hannah Arendt: Das Bild der Hölle, in: NA, S. 49–62, hier S. 53–54 [= NA, 49–62]. 96 Ein weiterer Gegensatz des Verzeihens, der sich wie Rache in den Verlauf des Geschehens einordnet und keinen Neuanfang setzt, ist etwa der Fluch. 95
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sie das Problem erkannt hätte, bevor sie Auden darauf hinwies (siehe unten). Zwangsläufig finden sich daher in ihrem Werk Hinweise darauf, dass sie tatorientierte Strafe und täterorientierte Verzeihung als zwei verschiedene, aber vereinbare Weisen des Umgangs mit zwischenmenschlicher Schuld gesehen hat. So heißt es in Bertolt Brecht, dass gesetzliche Strafe und zwischenmenschliche Verzeihung »in Wahrheit nur zwei Seiten der gleichen Sache« (MZ, 281) sind. Für das Gesetz zählen »nur die Taten, nicht die Personen, die sie begangen haben. Der Gnadenakt rechnet umgekehrt einzig mit der Person.« (MZ, 282) 97 Das Unrecht verlangt die Strafe ganz unabhängig davon, wem Unrecht geschehen ist und ob das Opfer »vergeben und vergessen« möchte, weil die Strafe den Verstoß »gegen die Gemeinschaft als ganze« bestraft und »das Gesetz des Landes« (LG, 181) bekräftigt. Strafe ist ein politischer und Verzeihen ein privater oder gesellschaftlicher Umgang mit dem Unrecht. Und erst durch diesen Zweiklang wird ein Umgang mit zwischenmenschlicher Schuld greifbar, der weder die Tat noch den Täter, weder die Bedeutung des Unrechts für die Allgemeinheit noch die für die beteiligten Personen vernachlässigt. 98 Insofern war die Kritik Audens an Arendts Auffassung der Strafe eher der Anlass, eine sachliche Inkonsequenz zu beseitigen. Der Text in der Vita activa liest sich, als liefe es auf eine ausschließliche Alternative hinaus, was jedoch schon wegen der Anlage der Überlegungen ebenda nicht schlüssig ist. Und deshalb antwortete Arendt Auden auch, der sie darauf hingewiesen hatte, dass Strafe nur eine Alternative zur staatlichen Begnadigung ist, 99 zustimmend und lieferte sogleich eine Erklärung für ihre Unstimmigkeiten: »You are entirely right (and I was entirely wrong) in that punishment is a neces97 Der Ausdruck Gnadenakt bezieht sich hier nicht auf die staatliche Begnadigung, sondern auf die Verzeihung, die der Person gilt: »Wie dem auch sei, wir vergeben um der Person willen.« (MZ, 282). 98 Siehe dieselbe Annahme dieses Zweiklanges von Strafe und Verzeihung in seiner grundsätzlichen Bedeutung in Arendt: Ziviler Ungehorsam, S. 291 f., und seine Anwendung auf den westdeutschen Umgang mit der nationalsozialistischen Diktatur, der eben nicht zwischen der politischen Verantwortungsübernahme und der strafbewehrten Entfernung der Belasteten aus dem öffentlich-politischen Leben auf der einen Seite und der nicht anzutastenden Zugehörigkeit dieser Personen zum gesellschaftlichen und privaten Leben auf der anderen Seite zu unterscheiden gewusst habe, in: dies.: Der »Fall Eichmann« und die Deutschen (1964). Ein Gespräch mit Thilo Koch, in: Gespräche mit Hannah Arendt, S. 35–40. 99 Siehe zum Verhältnis von Verzeihung und Begnadigung Kapitel 6.b.
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sary alternative only to judicial pardon.« (HA/WA, 004865) Sie habe dabei (gemeint ist VA, 307, über die Strafe) an die Richter der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und deren absurde Situation denken müssen, unbestrafbare Taten zu bestrafen. Nur sei das »surely […] another matter« (HA/WA, 004865). Die unmittelbare Folge dieser Klarstellungen ist die, dass das Unverzeihliche nicht länger an das Unbestrafbare gebunden ist. Oder anders gesagt: Ich kann auch dem verzeihen, dessen Taten sich nicht mehr bestrafen lassen, weil eben unterschiedliche Rechtfertigungsstrukturen für beide Handlungsmöglichkeiten anzulegen sind. Das radikal Böse Arendts mag unbestrafbar sein, aber daraus folgt nicht seine prinzipielle Unverzeihlichkeit, die weder mit der Vorsätzlichkeit einer Handlung noch mit seiner Unbestrafbarkeit begründbar ist. 100 In ihrer Gesamtheit laufen die Untersuchungen dieses Abschnittes über Arendts Begriff des Unverzeihlichen auf die Abschaffung ihrer irreführenden Unterscheidung von Verbrechen und Verfehlungen hinaus. Verfehlungen bedürfen nicht der Verzeihung, sondern sind – wie in Kapitel 4.a gezeigt werden wird – Gegenstand eines ganz anderen Handlungsvermögens, während die Verbrechen wie alle anderen Handlungen auch vorsätzliche Handlungen sind, deren Unverzeihlichkeit Sache einer je persönlichen moralischen Beurteilung ist und sich gerade nicht aus der Struktur der arendtschen Handlungstheorie ergibt. Deswegen sollte diese Unterscheidung fallengelassen werden zugunsten derjenigen zwischen den verzeihlichen und unverzeihlichen Taten, die in der Lage ist, die begrifflichen und systematischen Unklarheiten von Arendts Theorie des Verzeihens zu vermeiden. Verzeihungsfähig sind demnach alle Handlungen. 101 Eine mit 100 Aus den genannten Gründen greift es zu kurz, Arendts Begriff des Verzeihens eine Logik des Strafens zu unterstellen, auch dann, wenn man sich wie Kodalle und Derrida allein auf Vita activa bezieht; siehe OF, 37; Kodalle: Lévinas, S. 323; ders.: Verzeihung des Unverzeihlichen, S. 429; vgl. Jean Christine Lambert: The Human Acting of Forgiving. A Critical Application of the Metaphysics of Alfred North Whitehead, Lanham u. a. 1985, S. 206–209; Cláudia Perrone-Moisés: Forgiveness and Crimes Against Humanity: A Dialogue Between Hannah Arendt and Jacques Derrida, in: HannahArendt.net, Articles/Research Notes 2/2006 (http://hannaharendt.net/research/perronell.html, zuletzt eingesehen am 19. Juli 2009). 101 Young-Bruehl gelangt, wenn auch ohne quellenkritische Begründung, zu demselben Ergebnis, indem sie Arendts Unterscheidung von den versehentlichen und den verbrecherischen Taten (trespassers versus offenders) als phänomenal unzulänglich zurück-
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Absicht geschlagene Ohrfeige muss für Arendt genauso verzeihlich sein wie die Beispiele Jesu aus dem Neuen Testament: Zöllner und Diebe dürfen bei ihr auf Verzeihung hoffen wie Huren und Ehebrecher. Auch das radikal Böse bildet von der prinzipiellen Verzeihungsmöglichkeit keine Ausnahme. Hält man sich an ihre Beschreibung dieses Bösen, dann endet es immer mit dem Tod des Opfers. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Begründung ihres Todesurteils gegen Eichmann sich auf seinen Verstoß gegen die geschichtliche Kontinuität und Zusammengehörigkeit des Menschengeschlechtes beruft und ihm seinerseits die Solidarität aufkündigt, dann werden unverzeihliche Taten greifbar, die nicht notwendigerweise mit dem faktischen Tod des Opfers enden müssen. Vielmehr ist der Tod hier Stellvertreter all derjenigen Ereignisse, die dazu angetan sind, Geschichten zwischen Menschen zu beenden. Denn wann jemand die gemeinsame Geschichte mit einem anderen, der ihm ein Leid zugefügt hat, nicht mehr verantworten und fortführen kann, wann er nicht mehr an eine gemeinsame Vergangenheit oder die gemeinsame Menschlichkeit anknüpfen zu können glaubt, entscheidet sich an seiner moralischen Beurteilung der fraglichen Tat. Was das Unverzeihliche jeweils ist, entscheidet die Person, die mit der Bitte um Verzeihung konfrontiert ist. Arendt hat sich für die Unverzeihlichkeit von Eichmanns Taten entschieden. Aber ein anderer könnte unter Berufung auf die Grundbedingungen der Natalität und Pluralität zum gegenteiligen Ergebnis gelangen und sich nicht auf die Mühlsteine angesichts des Bösen verlassen wollen. An den Taten entscheidet sich zunächst, ob jemand Verzeihung gewährt oder nicht. Hat er die moralische Verzeihungserlaubnis festgestellt, folgt jedoch nicht die Pflicht zu verzeihen, denn die hängt – hält man es mit Arendt und sieht von den Fallstricken der Unterscheidung von Verbrechen und Verfehlungen ab – an den Bedingungen der Vorhaltung und der Reue. Damit lässt sich eine letzte Ungenauigkeit in der Rede vom Unverzeihlichen respektive Verzeihlichen beseitigen. Denn die Taten sind das Instrument, anhand dessen entschieden wird, ob ein handelnder Mensch verzeihlich ist oder nicht. Darauf, dass mit den Taten nicht schon der Gegenstand des Verzeihens angegeben ist, hatten bereits Arendts Abgrenzung des zwischenmenschlichen Verzeihens vom göttlichen Vergeben und ihre weist und feststellt, dass Arendt »was […] underestimating the potentialities of human power, which includes the power to forgive«; Young-Bruehl: Why, S. 122. A
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Bedingungen desselben hingewiesen. In die gleiche Richtung zielt die Überlegung, dass das Verzeihen, bezöge es sich auf die Taten, kaum noch plausibilisiert werden könnte, denn wie kann ein Handeln vergangene Taten behandeln, wenn es sich per se um nicht wieder rückgängig zu machende Taten im Sinne der Zähigkeit des Getanen handelt. Sind die Ereignisse erst einmal geschehen, gehören sie unweigerlich und für immer zu unseren Lebensgeschichten. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse über das Unverzeihliche, die prinzipielle Verzeihungsfähigkeit aller Handlungen und die Funktion der Tat im Ablauf des Verzeihungsgeschehens eröffnet sich ein Weg, das Wesen der Verzeihung nach Arendt benennen, ihrer Rede von der Befreiung von den Folgen einer Tat einen Sinn beilegen und den exakten Gegenstand des Verzeihens angeben zu können. Dieser Weg kann die Schwierigkeiten vermeiden, die sich einstellen, wenn man, wie Arendt es getan hat, die Befreiung von den Folgen einer Tat, die das Verzeihen sein soll, als die Befreiung von den Verfehlungen einer Tat darstellt (siehe VA, 306). g Das Verzeihungsgeschehen Im Zuge der Verhältnisbestimmung von göttlicher Sündenvergebung und menschlicher Verzeihung, an die sich die Definition des Unverzeihlichen anschloss, hatte Arendt den Gegenstand des Verzeihens mit den Verfehlungen angegeben. Dieses Vorgehen hat sich als unhaltbar erwiesen und widerspricht überdies Grundbegriffen ihrer Handlungstheorie. Aber bei der Erläuterung, in welcher Beziehung Rache und Verzeihung zueinander stehen, ist nur einen Absatz später nicht mehr die Rede von der Befreiung »von den Folgen dessen […], was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun« (VA, 306), sondern dort wird das Verzeihen umschrieben als die Befreiung von den »Folgen dieser Vergangenheit« (VA, 307) überhaupt. In dieser allgemeinen Form ist das ein ebenfalls wenig aufschlussreicher Hinweis, lässt aber mehr Spielraum für den konkreten Bedeutungsgehalt jener Befreiung, die das Verzeihen sein soll, wenn man bedenkt, dass das Vermögen zu verzeihen, wie alle anderen Handlungsmöglichkeiten auch, in Arendts Handlungstheorie auf die handelnden Personen und ihre Geschichten weist. Der Fokus verschiebt sich also von den Taten, aufgrund derer sich beantworten lässt, ob wir auf ein Ereignis mit Verzeihung antworten wollen oder nicht, auf das Verzeihungsgeschehen selbst und die beteiligten Personen. Befragt man die Vita activa in dieser Hinsicht, stößt man zu142
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nächst auf eine weitere terminologische Unachtsamkeit. Sie gibt das Verzeihen als eine dem Handeln inhärente Möglichkeit zur »Korrektur des Mißratenen« (VA, 308) aus, wie das Zerstören eine korrigierende Option für das Herstellen ist. Das Zerstören berichtigt, indem es beseitigt, und analog dazu könnte das Verzeihen »das Rückgängigmachen eines Gehandelten« (VA, 308) sein. Diese beiden Charakterisierungen des Verzeihens stehen im Widerspruch zur Unwiderruflichkeit des Getanen, aus der überhaupt erst das Verzeihen als Antwort auf diese Aporie des Handelns seine Bedeutung gewinnt. Wenn nun das Verzeihen Geschehenes tatsächlich ungeschehen machen könnte, dann hätte das Verzeihen seinen Widerpart verloren und die Unwiderruflichkeit hätte ganz aus Arendts Handlungstheorie gestrichen werden können. Das hat sie nicht getan, und trotzdem handelt es sich bei dieser verwirrenden Formulierung nicht um mangelnde Einsicht in die Konsequenzen der eigenen Theorie. Die technische Vokabel des Rückgängigmachens verdankt sich der Tatsache, dass Arendt der Versuchung erlegen ist, das Verzeihen in Analogie zum Zerstören zu stellen. Aber anders als Herstellen und Zerstören, die in der Tat Herr sind über die hergestellten Dinge und diese vernichten können, als hätten sie nie existiert, besitzt das Handeln nicht solche Verfügungsmacht über seine »Gegenstände«, weil das Handeln immer zwischen Menschen stattfindet, die mit der unberechenbaren Fähigkeit zu handeln ausgestattet sind, und deswegen per se nicht beherrschbar sind, wie es die irrige Vokabel vom Rückgängigmachen in Aussicht stellt. Das Verzeihen hat keine mit dem Zerstören vergleichbare Stärke, gerade weil es in der Welt zwischen Menschen seinen Ort hat und nicht in den Werkstätten von Homo faber. Deshalb ist es kein Rückgängigmachen, sondern ein Gegenhandeln gegen ein zuvor Gehandeltes, das trotzdem weiter seine Kreise durch das Bezugsgewebe zieht. Handeln hat nicht die Kraft, das vorangegangene Handeln zu überschreiben, sondern es kann – im Fall des Verzeihens – nur einen Widerstand setzen gegen die Untat, die ansonsten ungehindert ihren Weg durch die gemeinsame Welt der Menschen ginge. Wenn man sich die grundlegende Unterscheidung zwischen den Tätigkeitsweisen und ihren verschiedenen Sphären verdeutlicht und an das Zusammenwirken der Grundbedingungen von Natalität und Pluralität erinnert, kann es sich beim Verzeihen nicht um ein Rückgängigmachen im wörtlichen Sinne handeln. Obwohl der Kontext diesen Sachverhalt in Übereinstimmung mit den Grundannahmen der Vita A
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activa klarstellt, 102 ist es auch Arendt selbst anzulasten, dass wiederholt von ihrer Auffassung zu lesen ist, Unrecht durch das Verzeihen ungeschehen oder gar wiedergutmachen zu können. 103 Um die Frage beantworten zu können, worum es im Unterschied zu diesen Missverständnissen im Verzeihen laut Arendt geht, müssen zunächst einmal zwei Dinge ausgeschlossen werden, um die es gerade nicht geht. Wenn das Verzeihen nämlich nicht die Fähigkeit zur Rückgängigmachung oder Wiedergutmachung besitzt, dann ist es erstens die Tat selbst, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Was anderes als vergebliche Mühe wäre das Verzeihen, richtete es sich auf die Tat, die auch für sich genommen unabänderlich ist? Gegen die Zähigkeit des Getanen lässt sich mit Menschenmitteln nicht ankommen, nicht einmal die »großen Mächte des Vergessen und Verwirrens« (VA, 296) von Verursachung und Verantwortung »bringen es fertig, sie [die Taten, T. D.] rückgängig zu machen und zu verhindern,« (VA, 296 f.) dass sie Folgen haben. Was getan ist, gehört unwiderruflich zu den Lebensgeschichten aller an ihm Beteiligten oder von ihm Betroffenen. Zweitens können Taten erst dann als verzeihungsbedürftig gelten, wenn sie als ein Unrecht wahrgenommen werden und sie ein von Schuld bestimmtes Verhältnis zwischen Täter und Opfer etablieren. Die Schuld ist also der Auslöser des Verzeihens, aber »diese Schuld« steht »nicht im Mittelpunkt der Handlung« (VA, 308). Sondern die Verzeihung richtet ihr wesentliches Augenmerk auf den »Schuldige[n] selbst, um dessentwillen der Verzeihende vergibt. Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache« (VA, 308). Mit der Sache ist die Tat gemeint, die der Anlass zu verzeihen ist, weshalb die Forderungen nach Wiedergutmachung oder Rückgängigmachung aufgrund dieser Gegenstandsbestimmung schlicht sachfremde Aufgaben an das Vermögen zu verzeihen herantragen (wenn man einmal beiseitelässt, dass beide prinzipiell unmöglich sind). 104 Und genau deswegen stimmt Arendt Auden auch zu, dass Strafe 102 Genau dieselbe Argumentation gilt für die einleitende Absätze des § 33 über das Verzeihen, in denen Arendt dieselbe, leicht zu umgehende Falle unbedachter Wortwahl stellt; siehe VA, 302. 103 Siehe etwa Bluhm: Handeln, S. 8; Canovan: Arendt, S., 181; Maier-Katkin: Arendt, S. 116; Passerin d’Entrèves: Freedom, S. 328; Sievernich: Kultur, S. 459, Young-Bruehl: Why, S. 96. 104 An Arendt die Frage zu richten, wie es dem Verzeihen möglich sein soll, etwas un-
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und Verzeihen nicht im Verhältnis des Entweder-Oder zueinander stehen können und nicht austauschbar sind, sondern zwei verschiedene, aber sich ergänzende Umgangsweisen mit ein und demselben Unrecht bilden. Die Strafe findet ihre Rechtfertigung in der Tat, wie es ihr Urteil gegen Eichmann (vgl. EJ, 328 f.)unmissverständlich klarmacht, das Verzeihen hingegen im Täter: Zu urteilen [gemeint ist das Gerichtsurteil, T. D.] und zu vergeben sind in Wahrheit nur zwei Seiten der gleichen Sache. Aber diese beiden Seiten verkörpern entgegengesetzte Prinzipien. Die Majestät des Gesetzes fordert, daß vor ihm alle gleich sind, das heißt, daß nur die Taten zählen, nicht die Personen, die sie begangen haben. Der Gnadenakt [gemeint ist die Verzeihung, T. D.] rechnet umgekehrt einzig mit der Person. Kein Pardon verzeiht den Mord oder den Raub, verziehen wird nur dem Mörder oder dem Räuber. Auf Gnade kann nie die Tat rechnen, wohl aber der Täter (MZ, 281 f.). 105
Auch die Parallelstelle in der Vita activa läuft auf dasselbe Ergebnis hinaus, weil sie nicht die Tat, sondern »die Folgen unserer Taten« zum Zentrum des Verzeihens erklärt und damit die vorangehende und ebenso missverständliche Formulierung, dass Verzeihen »ein Geschehenes rückgängig macht,« (VA, 302) auf die Konsequenzen einer Tat bezieht. Das Kapitel 3.b.b hat ergeben, dass sich das Verzeihen nicht auf die Taten beziehen kann, die sich vielmehr als Entscheidungsinstrument für das je persönlich zu bestimmende Unverzeihliche erwiesen haben. Das Verzeihen betrifft also den Täter, der überdies von der Schuld, die er durch das Unrecht auf sich geladen hat, zu unterscheiden ist. Die Folgen, von denen das Verzeihen »entbinden« (VA, 302) soll, müssen also Folgen für die Person des Täters sein, für den Schuldigen selbst. An ihn und weder an die Tat noch die Schuld richtet sich derjenige, der verzeiht. Wer das Verzeihen Arendts verstehen will, muss also nach der genauen Art dieser persönlichen Folgen von Unrechtstaten fragen. Oder anders gesagt: Von welcher Art ist dieses Entbinden, das das Verzeihen ist? Von welchen Folgen oder welcher Entbindung die Rede ist, zeigt uns die Aufschlüsselung des Verzeihungsgeschehens, die Arendt selbst zwar nicht als solche eingeführt hat, die sich aber doch in vier geschehen oder rückgängig zu machen, trägt daher wenig aus; siehe Martin W. Schnell: Phänomenologie des Politischen, München 1995, S. 245. 105 Dieses Zitat aus Arendts Aufsatz über Bertolt Brecht aus dem Jahr 1969 (amer. Original 1966) ist als Klarstellung des Verhältnisses von Strafe und Verzeihung aufzufassen, die auf Audens Kritik aus dem Jahr 1963 zurückgeht; siehe Kapitel 3.b.b. A
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Schritten und mit der Hilfe der eingangs angekündigten Erweiterung des Quellenkorpus in ihren Schriften ausmachen lässt. Seine dominante Eigenschaft ergibt sich aus der Grundbedingung der Pluralität, dass das Verzeihen wie alles andere Handeln auch ein Handeln zwischen Menschen ist und deshalb »die Beziehung, die der Akt des Verzeihens etabliert,« von »eminent persönlicher Art« (VA, 308) ist. (i) Das Verzeihen und das moralische Urteilen Damit es aber überhaupt zu zwischenmenschlicher Verzeihung kommen kann, müssen sich die beteiligten Personen erstens darauf verständigen können, dass eine verzeihungsbedürftige Tat geschehen ist. Dass dies nicht immer eine einfache Angelegenheit ist, zeigt Arendts Frage an Maschmann, ob Entledigung der passende Ausdruck für die Vertreibung aus und Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland sei. Denn »Deutschland hätte sich seiner Juden ja auch dadurch ›entledigen‹ können, dass es sie ›nur‹ über die Grenze abschob, und wenn das geschehen wäre, so wäre ihr Satz adäquat.« (HA/MM, 52) Maschmann ihrerseits antwortete auf diesen Vorhaltungen, die Arendt im Brief an Auden ausdrücklich als eine conditio sine qua non des Verzeihungsgeschehens setzt (siehe HA/WA, 004864), zustimmend: »›entledigte‹ war keine angemessene Formulierung«, 106 aber zu keiner Zeit kann sie für das, worüber Arendt spricht, eine Wendung finden, die auch nur in die Nähe von Arendts Sichtweise kommt. Darin gleicht sie von Wiese, der sich gerade nicht zu einer persönlichen Stellungnahme zu den Anfragen Arendts durchringen kann, sondern auf dem gesellschaftlichen und ihn gerade nicht persönlich betreffenden Charakter der Angelegenheit beharrt (vgl. HA/BW, Brief vom 10. Februar 1965), auch nachdem Arendt Letztere zu einer Sache ihrer Freundschaft gemacht hat. Wenn schon in diesem Punkt unüberbrückbare Differenzen bestehen, dann gibt es keinen gemeinsamen Anhaltspunkt in der Lebensgeschichte der beteiligten Menschen, auf den sich mit Verzeihung oder ihren Alternativen reagieren ließe. Was sich hinter diesen Streitigkeiten von Briefpartnern um die angemessenen Begriffe und Beurteilungen verbirgt, ist die Tatsache, dass das Verzeihen ohne die gemeinsame Einschätzung der Tat als Unrecht nicht auskommt. Ohne Unrechtsbewusstsein gibt es kein 106 Siehe Melita Maschmann an Hannah Arendt, 18. November 1963, Box 14, Dokument-Nr. 008610–008616, hier 008610.
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Verzeihungsgeschehen. Wer seiner Frau eine Ohrfeige verpasst, weiß, dass Ohrfeigen nicht zu den gewöhnlichen Umgangsformen zwischen Eheleuten gehören und er seiner Frau ein Leid zugefügt hat. Aber ein Scherz etwa, gleichwohl er absichtlich auf den anderen zielt, muss nicht notwendig das Ziel haben, den anderen zu beschämen. Aber der Scherzende nimmt es zumindest in Kauf, dass Witze auch als entwürdigend empfunden werden können. Wenn daher ein Unrechtsbewusstsein die Tat nicht schon unmittelbar begleitet, dann wird derjenige, der etwa den Scherz auf seine Kosten als Demütigung erfährt, dem Übeltäter erst einmal vor Augen führen müssen, oder um es mit Jesus zu sagen: ihm vorhalten müssen, dass er seine Beschämung leichtfertig in Kauf genommen hat. Verzeihungsbedürftigkeit im Unterschied zu ihrer Möglichkeit und ihrer Erlaubnis bedeutet, dass Täter und Opfer darin übereinstimmen, dass das angerichtete Leid die gemeinsame Geschichte so beeinträchtigt, dass es einer wie auch immer im Einzelnen sich darstellenden Antwort darauf bedarf. Dass beide bezüglich der Verzeihungsbedürftigkeit übereinstimmen, ändert »nicht das geringste daran […], daß das Unrecht unrecht war« (VA, 308), weil das Verzeihen nicht die Tat, sondern dem Täter verzeiht. Das Unrechtsbewusstsein übernimmt also eine dreifache Aufgabe: Erstens erkennt es die Tat als Unrecht an. Zweitens rechtfertigt es das Ingangsetzen des Verzeihungsgeschehens. Und drittens dient es im Besonderen den unmittelbar beteiligten Personen, aber auch für die mittelbar Betroffenen als Grenzziehung zwischen Taten und Untaten, zwischen dem, was wir moralisch für erlaubt, und dem, was wir moralisch für nicht erlaubt halten. Die Bedingung des Vorhaltens gehört einer Problemstellung an, die Arendt in der Zeit der Briefwechsel mit Maschmann und von Wiese umtrieb, nämlich die Frage nach den Bedingungen und den Möglichkeiten der menschlichen Fähigkeit zu urteilen. Anlässe dazu waren der Prozess gegen Eichmann und ihre daselbst gemachte Beobachtung, »wie tief die Frage des Urteilens und, wie man oft meint, des Aburteilens Menschen unserer Zeit beunruhigt« (EJ, 23). 107 So 107 Der Briefwechsel zwischen Arendt und Maschmann umfasst den Zeitraum von Juli 1963 bis April 1964, der Prozess gegen Eichmann fand 1961 statt und Arendts Prozessbericht erschien 1963 auf Englisch und 1964 auf Deutsch in einer überarbeiteten Version, dann 1965 in einer zweiten englischen Ausgabe, dem Jahr der erwähnten Briefe zwischen Arendt und von Wiese. In diese Jahre fällt auch die Ausarbeitung der grundlegenden Schriften Arendts zur Frage des Urteilens, die sie bis an ihr Lebensende be-
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entdeckte sie in den Reaktionen auf ihr Buch über Eichmann »eine ganz außerordentliche Verwirrung in den Elementarfragen des Moralischen« (EJ, 23) und die zugehörige Neigung, nicht etwa den Papst oder die deutschen Täter als die »wirklich Schuldigen« anzusehen, sondern diejenigen, die »sich ein Urteil erlaubten.« (ÜB, 24) In dieser Haltung fand Arendt eine generelle Tendenz der öffentlichen Debatte moralischer Fragen vor, dass vornehmlich der sich zu rechtfertigen habe, der urteilt und eine persönliche Überzeugung äußert, dass die eine oder die andere Tat unrecht war, aber »nicht der Mann, der Unrecht getan hatte« (ÜB, 25). So erhob Gershom Scholem den Einwand gegen Arendt, dass man nur urteilen könne, wenn man selbst dabei gewesen sei: »Ich maße mir kein Urteil an. Ich war nicht da.« (NA, 67) Auf Scholems Weise werden Rechtsprechung und Geschichtsschreibung ad absurdum geführt (so Arendt in EJ). Wichtiger noch setzt sich die Gesamtheit je individueller Moralvorstellungen aus eigenen Erfahrungen und aus von Vorbildern (historischen, zeitgenössischen, privaten und dergleichen mehr) übernommenen Elementen zusammen. Um beim historischen Anlass des Prozesses gegen Eichmann zu bleiben: Unsere moralischen Überzeugungen, unser ihnen gemäßes Handeln und deren Umsetzung im System des Rechtsstaats sind zu einem Großteil so organisiert, dass uns zugemutet wird, auch ohne eigene Erfahrungen aus den Erfahrungen anderer klug zu werden und – wie das auch Eichmann möglich gewesen wäre – uns dafür zu entscheiden, nicht zum berufsmäßigen Mörder zu werden, ohne aus eigener Erfahrung zu dem Urteil gelangt zu sein, dass es sich beim Mord um eine nicht wünschenswerte Weise des Umganges unter Menschen handelt. Der entscheidende Einwand gegen Arendts Kritiker ist jedoch der, dass Scholems Thesen genau zu derjenigen Verwischung der Grenze zwischen Tätern und Opfern führt, die er selbst Arendt vorgeworfen hat. Sie hat ausführlich beschrieben, wie das System totaler Herrschaft jene Grenze verwischt und »Unschuld und Schuld kein Ergebnis menschlichen Handelns mehr« (NA, 51) sind. 108 Und genau schäftigen sollte; siehe EJ, ÜB, PVD; vgl. LG, dies.: Das Urteilen; die Beiträge in: dies.: Nach Auschwitz, und ihren Briefwechsel mit Scholem, siehe NA, 63–79. 108 Arendts These besagt, dass die Organisationsstruktur der nationalsozialistischen Judenvernichtung unter anderem auf jene Verwischung hinausläuft, nicht, dass die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern unmöglich sei; vgl. dazu EU, bes. Kapitel 12; ihre Antwort an Scholem in NA, 75–76; NA, 49–52; EJ, 327–329. Scholem formuliert
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gegen diesen Effekt erhebt sie die Stimme mit ihrem vehementen Plädoyer für das moralische Beurteilen der Handlungen anderer, nicht nur in ihrem fiktiven Urteil gegen Eichmann, sondern schon seit den Elementen und Ursprüngen durch ihr gesamtes Werk. Was für sie bei der moralischen Amnesie auf dem Spiel steht, ist die Geschichte zwischen Menschen und in größerer Perspektive die Einheit des Menschengeschlechtes (siehe EU, 704), die beide ohne das gemeinsame Handeln und die Zuschreibung, das heißt die Identifikation derjenigen, die gehandelt haben und Verantwortung dafür tragen, wie sich die Geschichten entwickeln, nicht auskommen. Nur betrafen diese grundsätzlichen Überlegungen zum Urteilen nicht nur Arendts Urteil über Eichmanns Taten und seine persönliche Verantwortung, sondern auch die Rolle der Judenräte innerhalb der nationalsozialistischen Judenvernichtung, die sie das »dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte« (EJ, 153) nannte. 109 Auch wenn man sich ihrer Meinung anschließt, dass jene moraltheoretischen »Konfusionen« den »Vorwurf der Selbstgerechtigkeit, den man gegen die Urteilenden erhebt,« (EJ, 23) nicht tragen können, wird man Verständnis für Scholems Ärger haben. Aber in der Sache der Judenräte hat er, was oft übersehen wird, Arendt zugestimmt, dass es »legitim und unabwendbar« (NA, 64) sei, auch über deren Rolle nachzudenken. Der Kern ihrer Auseinandersetzung jedoch betraf den »herzlose[n], ja oft geradezu hämische[n] Ton« und den mangelnden »Herzenstakt«, den Scholem beim Lesen von Arendts Prozessbericht empfand und der ihn in der Sache des Urteilens zu seinem ebendiese Sache verfehlenden Urteil veranlasste, es fehle Arendt an »Ahabath Israel«, der »Liebe zu den Juden.« (NA, 65). Die Rolle der Judenräte wirft noch vor dem Problem des moralischen Urteilens die auch für das Verzeihungsgeschehen relevante Frage auf, wie zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden ist (siehe dazu Teil III) und wie man grundsätzlich und im konkreten Fall von einer Verantwortung von Täter und Opfer sprechen kann. Schoden Sachverhalt nur anders, wenn er sagt, dass Menschen dazu gebracht worden seien, an ihrem eigenen Untergang mitzuarbeiten (NA, 67). 109 Siehe zu Arendts »terrible dilemma of the Judenräte, their despair as well as their confusion, their complicity and their sometimes pathetically ludicrous ambitions« auch dies.: The History of the Great Time. A Review of Bréviaire de la haine: Le IIIe Reich et les juifs by Léon Poliakov, in: Commentary 13 (1952), S. 300–304, wieder abgedruckt in: dies.: The Jewish Writings, S. 453–461, hier S. 459. A
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lem erkannte an, dass das von Arendt auf die Tagesordnung gesetzte Problem »wirklich eines« ist. Und es war Scholem, nicht Arendt, der es auf die berechtigte »Frage der Jugend in Israel« bezog: »Warum eigentlich haben sie sich töten lassen.« Was ihn störte, war, daß Arendt immer nur die »Schwäche der jüdischen Existenz« hervorgehoben habe, wo es doch auf »Akzentuierung« (NA, 64) angekommen sei. Was die Möglichkeit eines Urteils betrifft, hatte er zu seiner grundsätzlichen Zustimmung zu ihrer Forderung, auch über die Judenräte zu urteilen, einschränkend ergänzt, dass es »in unserer Generation im Sinne eines historischen Urteils« (NA, 64) nicht gefällt werden könne, und auf dem Wege über die Kritik an ihrem »völlig inadäquaten Tonfall« (NA, 66) gar behauptet, dass es sich um »unrekonstruierbare[] Bedingungen« (NA, 67) handele, unter denen die Judenräte zu handeln gehabt hätten. Aber um geschichtswissenschaftlich abgesicherte Urteile ging es Arendt nicht, sondern vornehmlich um Urteile als solche (ob nun historische, juristische oder moralische) und deren Funktion, Menschen Orientierung in der Welt, in der sie leben, zu ermöglichen: »Und wenn sie vielleicht recht haben, daß es ein ›abgewogenes Urteil‹ noch nicht geben kann, obwohl ich es bezweifle, so glaube ich, daß wir mit dieser Vergangenheit nur fertig werden können, wenn wir anfangen zu urteilen, und zwar kräftig.« (NA, 75) 110 Und auch hier besteht keine unüberbrückbare Differenz zu Scholem, der zumindest so viel weiß, dass er unmittelbar nach seinen Skrupeln zu urteilen feststellen kann, dass es unter den Judenräten »Lumpen« und »Heilige« (NA, 67) gab. Er habe nämlich »nicht weniger darüber gelesen als« Arendt (NA, 66). Man kann Scholem deswegen nicht wie Stéphane Mosès als Gewährsmann für die Kritik an Arendt nehmen, dass sie nicht zwischen juristischen, historischen und moralischen Urteilen zu unterscheiden wisse, hingegen moralische Urteile erst gefällt werden dürften, »nachdem die historische Forschung die damaligen Tatsachen und
110 Arendts Zweifel an Scholems These des noch unzulänglichen Wissens berufen sich auf das Standardwerk von Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bände, durchges. und erw. Ausgabe, Frankfurt/Main 1990 (dt. Erstausgabe 1982, amer. Original 1961), das kurz nach dem Prozess 1961 erschienen war und ihr bei der Überarbeitung ihrer Zeitungsartikel über den Prozess zum Buch vorlag, also auch zum Zeitpunkt des Briefwechsels zwischen den beiden im Jahre 1963.
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deren Kontext in überzeugender Weise rekonstruiert« hätte. 111 Umgekehrt wird ein Schuh daraus, denn Arendt beruft sich auf Raul Hilbergs Forschungen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und widerspricht Scholems Behauptung von der Unrekonstruierbarkeit, die einerseits Mosès’ Bezug auf Scholem fraglich macht und anderseits zeigt, dass Arendt Mosès’ Forderungen eher erfüllt als Scholem. Abgesehen davon hätte Arendt Mosès’ These von der Abkünftigkeit des moralischen vom historischen Urteil sicher widersprochen: nämlich wegen der darin enthaltenen Aussetzung der moralischen Urteilskraft in Bezug auf die Zeitgenossen und des resultierenden Verlustes der Orientierungsleistung des Urteilens für das Zusammenleben der Menschen. Befolgte man seine Überlegungen, dann wären moralische Urteile immer erst dann erlaubt, wenn man sich auf überzeugende historische Forschungen verlassen könne – also nie, denn die Trennung zwischen den verschiedenen Urteilskategorien lässt sich so nicht aufrechterhalten, wie Mosès sie vornimmt. Er schlägt eine absteigende Linie kognitiver Gültigkeit vor: Juristische Urteile stützen sich auf Beweise, Zeugenaussagen und rationale Argumentation; historische Urteile betreffen die Bedeutung eines Ereignisses und beziehen sich auf den Versuch der genauen Feststellung und Analyse von Tatsachen; und moralische Urteile sind subjektive Reaktionen. Weder ist einsichtig, weshalb der juristischen Methodik zur Tatsachenerhebung eine höhere Beweiskraft zukommen soll als der historischen; vielmehr greifen beide ineinander, wie man etwa an der Rolle der Zeugen verstehen kann. Und auch die methodisch angeleitete Beurteilung von Ereignissen entbehrt ganz gewiss nicht vernünftiger Qualitäten. Noch lässt sich behaupten, dass juristische wie historische Urteile moralischer, von Mosès als subjektiv disqualifizierter Momente entbehrten, was er auch nicht konsequent durchführt, wenn er die moralische Beeinflussung historischer Urteile zugesteht. Nur hätte er daraus die Folge ziehen müssen, dass Urteile an sich vorläufiger Natur sind, wovon ihn sein Gewährsmann Scholem 111 Stéphane Mosès: Das Recht zu urteilen: Hannah Arendt, Gershom Scholem und der Eichmann-Prozeß, in: Smith (Hg.): Arendt, S. 78–92, hier S. 88. Mosès fallen die Ungereimtheiten in Scholems Überlegungen nicht auf, dass dieser urteilt, auch wenn er eigentlich ein Urteilsverbot aufstellt, dass dieser moralische Urteile von historischer Forschung abhängig macht und sich dann doch so viel Kenntnisse angeeignet hat, dass er zwischen lumpenhaften und heiligen Judenräten unterscheiden kann.
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ebenso hätte überzeugen können wie dessen in dieser Frage eben nur vermeintliche Gegenspielerin Arendt. 112 Nicht nur in Bezug auf die Rolle der Judenräte, sondern ganz allgemein angesichts menschlicher Handlungen kann man sich nicht als einzig erlaubte Reaktion auf Scholems kontrafaktische Erwägungen zurückziehen, die entgegen ihrem moralischen Anschein »von den verbürgten, belegbaren Einzelheiten« ablenken und in ein diffuses Durcheinander münden, »in dem alle Katzen grau und wir alle gleich schuldig sind.« (EJ, 24) In diese Grauzone gehören auch »die Schulderklärungen der Unschuldigen« oder das »Gerede von dem ›Eichmann in uns‹ – als habe jeder, nur weil er eben ein Mensch ist, unweigerlich einen ›Eichmann‹ in sich.« 113 Doch ob jemand getan hat, was Eichmann tat, oder ob er ein Mitläufer war oder ob für ihn sogar gilt, dass es Umstände gibt, in denen das Nicht-Mitmachen schon als ein Akt des Widerstandes gelten kann (vgl. PVD, 35–38), wird aus der Perspektive Scholems und vieler anderer »zu einer Frage unerheblicher Gradunterschiede«. 114 Deren »Abneigung zu urteilen« ist gleichbedeutend mit dem »Ausweichen vor aller Verantwortlichkeit, die man einzelnen zuschreiben und zumuten kann« (EJ, 25). Doch die Benennung von Verantwortung ist erforderlich, wenn man die Fähigkeit des Menschen miteinander zu sprechen und zu handeln erhalten will. Und Arendts Mittel dazu ist das moralische Urteil über gut und richtig versus böse und falsch. Man muss Unterscheidungen treffen und Namen nennen. Im Grunde verteidigt sie sich gegen Scholems Einwände mit genau demselben Argument, das sie schon drei Jahre zuvor gegen Audens Plädoyer für die gleichfalls Verantwortlichkeit und moralische Personalität verunmöglichende Nächstenliebe christlicher Provenienz erhoben hatte: »I would admit that there ist a great temptation to forgive in the spirit of Who am I to judge?, but I’d rather resist it«, denn die Fähigkeit zu urteilen, »is not undermined by the gnawing doubt of self-reflection about my own potential or actual sins« (HA/WA, 004864 f.). 115 112 Siehe Mosès: Recht, S. 87 f.; vgl. im Sinne der hier geäußerten Kritik an Mosés und der dahinterstehenden Auffassung von der lebenspraktischen Notwendigkeit, moralische Urteile zu fällen, Benhabib: Arendt, S. 272–276, 291–301; dies.: Identität, S. 106–108; Beiner: Arendt, S. 122–130; Bernstein: Verantwortlichkeit, S. 300–307; Trawny: Verstehen. 113 Arendt: Der »Fall Eichmann«, S. 39 f. 114 Ebd. 115 Wieder ein Jahr später im deutschen Vorwort zum Eichmann-Buch beruft sie sich
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Das Verzeihen beurteilt die Handlungen anderer Menschen. Es trifft moralische Unterscheidungen. Es nimmt sich die Freiheit und schätzt die eine Handlung als akzeptabel und die andere als inakzeptabel ein. Träfe es nicht diese Unterscheidungen, dann wüsste es nie zu sagen, wer Verantwortung zu übernehmen hat und ob die fragliche Tat eine verzeihungsbedürftige ist oder nicht. Umgekehrt führt der Verzicht auf solche Unterscheidungen dazu, dass Menschen nicht mehr das Richtige oder Erlaubte vom Falschen oder Verbotenen trennen können und die moralische Orientierungsfunktion des Urteilens verkümmert. In dieser Hinsicht ist das beurteilende und verantwortlich machende Verzeihen ein unverzichtbarer Teil derjenigen zwischenmenschlichen Praxis, in der wir einander mit der moralischen Erwartung begegnen, dass die Gesetze, Normen und Regeln des Zusammenlebens ausnahmslos Geltung besitzen. 116 Was jedoch das Verzeihungsgeschehen betrifft, ist die Notwendigkeit des Urteilens und der Feststellung der Schuld noch kein ausreichendes Argument, weil die persönliche Entscheidung für oder gegen Verzeihung noch offen bleibt. Arendt selbst kennt ja neben der Verzeihung zwei weitere Möglichkeiten des Umganges mit zwischenmenschlicher Schuld: die Rache und die Strafe. Und sie selbst hatte bei der Rechtfertigung ihres Begriffes der Unverzeihlichkeit das Verzeihen in die Freiheit des Opfers gestellt. Insofern muss Ausschau gehalten werden nach einem Bindeglied zwischen der Anerkenntnis, dass eine Tat unrecht war, und der Entscheidung für das Verzeihen. Das Verzeihen, das sei rückblickend auf diesen ersten Teil der Aufschlüsselung des Verzeihungsgeschehens nochmals hervorgehoben, ändert nichts an der moralischen Bewertung und der persönlichen Zurechnung, dass jemand durch eine üble Tat Schuld auf sich geladen hat. Arendt hat diesen Umstand anhand des Mordes zu erklären versucht (siehe ÜB, 101), weil sie ihn für ein treffendes Beiauf denselben Gedanken und erläutert ihn am Beispiel des Richters, der seine Urteile fällt: »Auch der Richter, der einen Mörder verurteilt, kann noch sagen, wenn er nach Hause geht: And there, but for the grace of God go I!« (EJ, 23). 116 Siehe dazu auch die Rechtfertigung der moralischen Beurteilungspraxis und seiner »guiding or regulative function« mit Bezug auf Arendt bei Peta Bowden/Emma Rooksby: Understanding Condemnation: A Plea for Appropriate Judgment, in: Pedro A. Tabensky (Hg.): Judging and Understanding. Essays on Free Will, Narrative, Meaning and the Ethical Limits of Condemnation, Aldershot/Burlington 2006, S. 241–256, hier S. 245–247, Zitat S. 246; vgl. Thaddeus Metz: Judging Because Understanding: A Defence of Retributive Censure, in: Tabensky (Hg.): Judging, S. 221–240. A
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spiel für die Unverrückbarkeit geschehener Taten und die solchen Taten anhängende Schuld hält. Insofern kann das Beispiel des Mordes verdeutlichen, dass sich das Verzeihen an den Täter und damit an den richtet, der im Unterschied zu seiner Tat und ihren Ergebnissen noch veränderlich ist. Jedoch wirft das spezifische Unverzeihliche bei Arendt, wenn es denn, was es zumeist tat, zum Tod des Opfers führte, jenseits ihrer Argumente für das Verbot, solche Taten zu verzeihen, die Frage auf, inwiefern der Mord eine Tat ist, an der die Möglichkeit und nicht die Erlaubnis zu verzeihen ihre Grenze findet. Wir haben zwar Anzeichen, dass Arendt einen Mord nicht unbedingt für unverzeihlich hält, denn für sie ist Mord nicht gleich Mord, spätestens seit die Verbrechen der totalen Herrschaft bewiesen haben, dass es schlimmere Taten gibt, als einen Menschen zu ermorden. Der Mord ist etwas »begrenzt Böses« (EU, 681), weil er ein Menschenleben beendet, aber nicht die Tatsache einer gelebten Existenz, und das unterscheidet ihn von der totalen Herrschaft, die Menschen vernichtete, »als ob es sie nie gegeben hätte« (EU, 682). Aber wer ist es eigentlich, der dem Mörder verzeiht? Anders gefragt: Ist Arendt zuständig dafür, über die Unverzeihlichkeit von Eichmanns Taten zu befinden? Der Mord erweist sich nämlich dann als unpassendes Demonstrationsobjekt, wenn wir auf das nächste Element des Verzeihungsgeschehens blicken: auf die – auch von Arendt eingeforderte – Reue und die Übernahme der Verantwortung durch den Täter. (ii) Die Reue und die Übernahme von Verantwortung Die Reue als das zweite Element der Aufschlüsselung des Verzeihens, das sich bei Arendt ausmachen lässt, schaut auf die Person des Täters und seine Verantwortung. Sie verhindert, dass wir ohne Rücksicht auf die moralische »integrity of the wrongdoer« verzeihen, das heißt ohne die Anerkennung seiner Schuld und die Zumutung der Verantwortungsübernahme verzeihen. Wer ihm verzeihen möchte, kann das nicht tun »without having been asked to«, weil er auf diese Weise sich genau des Missgriffes schuldig macht, den Arendt in ihrer Kritik an Audens Plädoyer für die christliche Nächstenliebe namhaft macht: »Is not forgiving without being asked to really impertinent, or at least conceited« (HA/WA, 004864)? 117 117 Siehe die Stelle bei Auden, auf die Arendt antwortet, in: Auden: The Prince’s Dog, S. 200.
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Die Bitte um Verzeihung als Versprachlichung der Reue ist im Verzeihungsgeschehen der Punkt, an dem sich dem Täter die Möglichkeit eröffnet, sich als eine vernünftige und autonome Person zu zeigen, weil er in der Reue ein kritisches Urteil zu seinem Normverstoß fällen und in dieser Selbstbezüglichkeit den Anspruch formulieren kann, auch weiterhin in seiner moralischen Personalität anerkannt zu werden, was die Übernahme der Folgen aus seiner Tat einschließt (Strafe etc.). Vorauseilende oder bedingungslose Gewährung von Verzeihung ist nicht nur unverschämt oder unangebracht (impertinent) oder zumindest dünkelhaft und eitel (conceited) wie die weltentrückte und selbstgenügsame Nächstenliebe, sondern sie nimmt dem Täter die Gelegenheit zur Wiederherstellung seines moralischen Selbstverhältnisses, das heißt seiner Selbstachtung, die er durch seine Tat beschädigt hat. Anders gewendet verleiht ihm die Einsicht in das Unrechte seiner Tat im Zusammenleben mit seinem Opfer oder den anderweitig Betroffenen wieder seine »Vertrauenswürdigkeit als Handelnde[n]«. 118 In der Abstandnahme von seiner Tat und in der Fassung anderer Vorsätze ist die Reue ein entscheidender Vorgang der Konstitution oder Rekonstitution des moralischen Selbstverhältnisses, durch den sich Menschen als moralische Personen und »als ein Jemand« vergewissern und gerade nicht »auf alle persönlichen Eigenschaften« (ÜB, 101) verzichten, wie Arendt es von den Tätern der wirklichen Skandala, von den Eichmännern dieser Welt behauptet. Die Reue trifft ein Urteil über die eigene Tat und das eigene Selbst und wendet sich in ihrer Sicht gerade dagegen, dass der Verlust der Urteilskraft und der Verlust der Personalität »somehow coincide« (HA/WA, 004865). Bezogen auf ihren Begriff der persönlichen Identität aus den Geschichten ist die Reue als die verantwortungsbewusste Integration auch meiner Missetaten in meine Lebensgeschichte das Zeichen dafür, dass ich den Versuch unternehme, auch das Scheitern an meinen moralischen Ansprüchen als Teil meiner Person zu begreifen. Ohne die Übernahme von Verantwortung, und das heißt mit Bezug auf meine Lebensgeschichte immer: ohne die Reklamation von Taten als je meinige Taten, ermangelt es mir einer Vorstellung davon, wer ich bin. Die derart verantwortliche Reue zeigt auf und gibt zu verstehen, wer welche Tat im Angesicht wessen bereut. Und
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ohne diese Angabe wäre kein Verzeihen möglich, weil der Verzeihende schlechterdings nicht wüsste, wem er Verzeihung gewähren sollte. Die Reue ist innerhalb des Verzeihungsgeschehens an die Bitte um Verzeihung gebunden, weil ihr ohne den Mitmenschen als den Adressaten des Bereuens die Dimension der Verantwortungsübernahme für das getane Unrecht fehlt. Andernfalls wird sie zu einer der sinnentleerten Spiegelfechtereien, von denen Arendt sprach, als sie die dem Verzeihen und dem Versprechen eigene Verbindlichkeit an die »Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln« band, weil es erst der »Ruf der Mitwelt« (VA, 302) ist, der unseren Versuch der moralischen Selbstvergewisserung in der Reue bestätigt und uns behilflich ist, unsere persönliche Geschichte im Bewusstsein unserer Schuld durchzuhalten. Die Gerichtetheit der Reue auf den anderen Menschen entspricht ihrer Überzeugung, dass das Verzeihen wie das Handeln überhaupt immer von der Beziehung zwischen Menschen handelt (vgl. VA, 308). Diese Wechselseitigkeit des Verzeihens ist insofern eine untergründig mitgeführte Annahme in der Vita activa, die Arendt erst auf Audens Nachfragen hin ausdrücklich bedenkt. Auden hatte Jesu Gebot zu verzeihen mit Jesu Haltung gleichgesetzt, dem Bösen nicht zu widerstehen, sondern dem Schläger auch die andere Wange darzubieten und das Tun des Guten als Selbstzweck angesehen: »[W]e are not to resist evil, if a man demand our coat we are to give him our cloak also«. 119 Arendt, die die reine Güte und das bloße Verbrechen als Akte absoluter Selbstbezüglichkeit ablehnt, ordnet hingegen das Verzeihen der Wechselseitigkeit zu, die außerhalb der Reichweite selbstgenügsamer Güte bleibe, und erklärt das am Beispiel der Reue, weil sich »the mutuality of the whole business« am klarsten in der unauflöslichen Verbindung der Bitte des Täters um und der Gewährung von Verzeihung seitens des Opfers zeige. Die reine Güte bei Auden bekommt den Mitmenschen nicht in den Blick, ob ich jemandem auch die andere Wange hinhalte oder ob ich ihm auch den Mantel gebe. Die Wechselseitigkeit des Handelns »remains outside all consideration in ›doing good‹« (HA/WA, 004865). 119 Auden: The Prince’s Dog, S. 201 f. Auden bezieht sich auf Mt. 5, 38–40: »Ihr habt gehört, daß da gesagt ist (Ex. 21, 24): ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel.«
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Die Angewiesenheit auf die einander zugewandte Gegenwart des Anderen »is essential for the act of forgiving«, aber die Lasten sind ungleich verteilt: »I do not know what is more difficult: to demand a coat or to give the cloak also, but I am quite sure that it is more difficult to ask than to give forgiveness.« (HA/WA, 004865) Wer um Verzeihung bittet, befindet sich immer in dem, was Arendt an anderer Stelle die »Verlegenheitssituation« 120 genannt hat. Er braucht Mut, mehr Mut, als es das die Person enthüllende und ungeschützt dem Anderen sich zeigende Handeln ohnehin bedarf, um sich in der Situation des Schuldig-Geworden-Seins an denjenigen zu wenden, an dem er schuldig geworden ist. Und nun lässt sich auch begründen, was am Ende des ersten Elementes des arendtschen Verzeihungsgeschehens noch offen bleiben musste. Der Mord ist deshalb ein untaugliches Beispiel zur Veranschaulichung der Verzeihung, weil in seinem Fall der Bitte um Verzeihung ihr rechter Adressat fehlt. Es gibt den Menschen nicht mehr, an den sich der Mörder wenden könnte, um Verzeihung zu erbitten. Mit seiner Schuld muss er auf anderen Wegen zurechtkommen, weil sich seine Reue, die er gleichwohl empfinden mag, nicht mehr an sein Opfer richten kann. 121 (iii) Die Freiheit und die Ungerechtigkeit des Verzeihens Die Wechselseitigkeit des Verzeihens zeigt auf den dritten Aspekt des Verzeihungsgeschehens, das in Arendts Schriften erkennbar ist. Das Unverzeihliche verdankt sich letztlich einer Entscheidung des Einzelnen, was er für verzeihlich hält und was nicht. Es fußt wie das Verzeihliche auf dem Grundsatz, »daß wir außerstande sind zu verzeihen, wo uns nicht die Wahl gelassen ist, uns auch anders zu verhalten« (VA, 307). Den persönlichen Charakter des Verzeihens, das sich an den Täter wendet und sich auf die Tat nur als Entscheidungshilfe für die je persönliche Verzeihlichkeit/Unverzeihlichkeit bezieht, denkt Arendt so weiter, dass das Verzeihen »daher auch objektiv ungerecht sein und sagen« kann: »quod licet Iovi non licet bovi.« (VA, 308) Genauer muss es heißen, dass die Entscheidung, jemandem Verzeihung zu gewähren, ungerecht sein kann und sich da120 Hannah Arendt: Waldemar Gurian, in: dies.: Menschen in finsteren Zeiten, S. 304– 317, hier S. 315. 121 Zum damit aufgeworfenen Problem der sogenannten stellvertretenden Verzeihung siehe Kapitel 7.c.b.
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rin vollkommen unterschieden von der Strafe zeigt, die sich auf die Tat bezieht und darin einen Maßstab für die Gleichbehandlung von Tätern ungeachtet der faktischen Ungleichheiten in Rechtsprechung und Strafvollzug findet. Während die Strafe ihre Rechtfertigung in der Tat findet und deshalb ihrer Idee nach alle Täter gemäß der Gleichheit vor dem Gesetz behandelt und gegebenfalls bestraft, bemisst sich das Verzeihen nach dem Täter, nicht nach der Tat, und hat deshalb keinen Gleichheitsmaßstab wie das Gesetz, der es anleiten könnte, sondern ist einzig und allein an die »Ungleichheit der Menschen« (MZ, 282) verwiesen. Die Gerechtigkeit der Strafe verstanden als Gleichbehandlung der Menschen ist dem Verzeihen per se nicht möglich, weil es immer mit einmaligen Menschen zu tun hat und seinen Maßstab in dem Blick des Verzeihenden auf denjenigen findet, der ihn um Verzeihung gebeten hat. Dass das Verzeihen im Vergleich zum Gleichheitsgrundsatz des Gesetzes per definitionem ungerecht ist, kann man in zwei Anläufen verdeutlichen. Gesetzt den Fall, jemand entschiede sich, zwei Personen dieselbe Tat zu verzeihen, nur weil es dieselbe Tat ist, verziehe er nicht mehr um der Person willen. Verzeiht er aber zwei Personen dieselbe Tat um ihretwillen, dann handelt es sich um einen personalen Zufall, aber nicht um eine irgendwie geartete Gleichheit der Personen, denen verziehen wurde. Oder gesetzt den Fall, jemand tut mir das gleiche Unrecht in einem zeitlichem Abstand zweimal an, gilt ebenfalls die Ungleichheit des Verzeihens, weil sowohl ich als auch der Täter zum Zeitpunkt der ersten Zufügung des Unrechtes genauso eine je andere Person sind, wie wir es zum dem Zeitpunkt der zweiten Zufügung des gleichen Übels sind. Unabhängig davon, ob ich mich für oder gegen die Gewährung von Verzeihung entscheide, sind zwei unterschiedliche Konstellationen der Begegnung zweier Menschen auseinanderzuhalten. Ungleich und daher im angegebenen Sinne möglicherweise ungerecht ist das Verzeihen dem Prinzip nach schon deswegen, weil der Lauf der Zeit es mit sich bringt, dass die am Verzeihungsgeschehen beteiligten Personen immer aus ihrer sich beständig entwickelnden Lebensgeschichte heraus handeln. Zu jedem der oben geschilderten Fälle entscheidet zwar ein und dieselbe Person über die Gewährung von Verzeihung, aber diese Person hat in der Zwischenzeit andere Überzeugungen gewonnen und verzeiht zum zweiten Zeitpunkt nicht mehr, was sie vorher noch verziehen hat – oder umgekehrt. 158
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Dass wir uns entscheiden, Verzeihung zu gewähren, wirft aber noch ein anders Licht auf die Ungleichheit oder, wenn man so will, die Ungerechtigkeit des Verzeihens, denn es wäre ja auch denkbar, dass zwei meiner Freunde zeitnah und möglicherweise auch in Absprache denselben absichtsvollen Scherz auf meine Kosten machen und in Kauf nehmen, mich zu beschämen. Doch muss sich beider Erwartung auf Verzeihung, nachdem ich sie über den demütigenden Charakter ihres Witzes aufgeklärt habe, nicht für jeden erfüllen. Dem einen verzeihe ich und dem anderen nicht. Oder ich zeige mich jemandem gegenüber, der mir auf dem Schulhof mein Pausenbrot entwendet, unerbittlich, während ich einem anderen, der mir mutwillig und betrügerisch einen Verweis einhandelt, bereitwillig die Hand reiche. Neben den Lauf der Zeit tritt die persönliche Entscheidung für oder gegen Verzeihung. 122 Aus diesem Grund kann die Wechselseitigkeit des Verzeihens nicht als »Kalkül« im Sinne eines Tausches verstanden werden, denn sonst »verlöre es seine Kraft«. 123 (iv) Die Motive des Verzeihens Dass sich das Verzeihungsgeschehen mit der Feststellung seines dezisionistischen Charakters nicht in Beliebigkeit auflöst, wird durch das vierte Element der Aufschlüsselung des Verzeihens verständlich, das bei Arendt auffindbar ist. Denn wenn wir uns für oder gegen die Gewährung von Verzeihung entscheiden, haben wir dafür Beweggründe. Diese Gründe sind der gesuchte Brückenschlag zwischen dem ersten Element des Beurteilens und dem dritten Element der Freiheit oder Ungerechtigkeit des Verzeihens, das heißt zwischen der gemeinsamen Feststellung der Verzeihungsbedürftigkeit einer Tat und der Entscheidung, dass diese Bedürftigkeit auch in reales Geschehen zwischen Opfer und Täter umgesetzt werden soll. Arendt hat diese Differenz zwar nicht eigens thematisiert, aber sie ergibt sich 122 Die Freiheit der Entscheidung für oder gegen die Verzeihungsgewährung könnte man, wäre Arendt in der Frage der Pflicht zur Verzeihung deutlicher zu Werke gegangen, als eine Abkehr vom Entdecker des Verzeihens werten. Jesus nämlich wählt im Vaterunser die imperativische Form der Verzeihungsbitte, die kennzeichnend für die Befürworter einer Pflicht zur Gewährung von nach der Bitte um Verzeihung ist (vgl. dazu Kapitel 5). 123 Pullich: Arendt, S. 9; vgl. Baier: Ethics, S. 334. Auf der Grundlage von Arendts Erläuterungen zur Rolle von Unrechtsbewusstsein, Verantwortung und Reue verliert die Kritik, sie liefere in Versprechen und Verzeihen eine stets vorgängige Harmonisierung der eigentlichen Konfliktträchtigkeit menschlichen Zusammenlebens, ihre Berechtigung; so Großmann: Arendts Politische Philosophie, S. 41–45.
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aus ihren Gedanken über mögliche Motive zu verzeihen. In der Vita activa erwägt sie zwei Gründe, sich im Angesicht eines Übeltäters für das Verzeihen auszusprechen. Wie man an der Geschichte von der Salbung Jesu durch die Sünderin 124 sehen könne, habe das Christentum die Liebe als das entscheidende Motiv zu verzeihen begriffen, weil sie in einer so ausgezeichneten Weise nur auf das Wer-einer-ist schaue, dass sie »das Um-seinet-Willen des Verzeihens« (VA, 310) nicht explizit machen müsse, sondern sie sei dieses Um-seinet-Willen selbst. Wenn aber der Fall eintritt, dass wir in keinem Verhältnis der Liebe zu unserem Übeltäter stehen, dann muss das Um-des-anderen-Willen in der Verzeihung wieder ausgesprochen werden, weil es sich nicht wie in der Liebe von selbst versteht. Wir kehren gewissermaßen in die Welt zwischen Menschen zurück, die sich in allen Beziehungen der Nicht-Liebe trennend und verbindend zwischen die Beteiligten schiebt, und sehen auf die Stärken und Schwächen der betreffenden Personen. In diesem weiten Raum menschlicher Bezüge übernimmt bei Arendt der Respekt die Funktion, das Verzeihen nicht nur zu ermöglichen, sondern für die jeweilige Person zu einer realen Handlungsoption zu machen. Denn er kann aus ungleich weiterer Entfernung als die Liebe den Verzeihung Erbittenden als Mitmenschen kennzeichnen, ohne dass ihm die schätzens- oder verachtenswerten Eigenschaften dieses Menschen das Bewusstsein für das Auch-einMensch-Sein des Anderen nähmen. Wenn sich Menschen einander in dieser Haltung zuwenden, dann ist der wechselseitige Respekt, den Menschen sich als Menschen unter ihresgleichen schulden, ein »hinreichende[r] Beweggrund, jemandem das, was er getan hat, zu vergeben, um dessentwillen, der er ist.« (VA, 310) 125 Der Respekt als Beweggrund zu verzeihen nimmt einen Gedanken aus den Elementen und Ursprüngen über die Unverzeihlichkeit des dort sogenannten radikal Bösen wieder auf. Dort sortiert Arendt wie gesehen zu den möglichen Alternativen des Verzeihens die ent124 Siehe Lk. 7, 47, wobei es sich um lukanisches Sondergut handelt: »Ihr sind viele Sünden vergeben, darum hat sie mir viel Liebe erzeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.« Vgl. dazu auch Arendts Überlegungen in DT, 110. 125 Der Sinn der Hervorhebung Arendts in diesem Zitat erschließt sich nicht aus dem Zusammenhang. Dass sie das »was« auszeichnet, mag einigen wieder Anlass geben, den Gegenstand des Verzeihens bei Arendt in der Missetat zu sehen. Doch ist auch hier, liest man weiter, »das gleiche Wer, das sich im Handeln und Sprechen unwillkürlich offenbart, auch der eigentliche Gegenstand des Verzeihens« (VA, 310).
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sprechenden Motive. Wir können uns aus Zorn rächen oder in Liebe das Leid ertragen oder unter Anleitung des Gesetzes strafen oder schließlich in Anbetracht unserer Freundschaft verzeihen (siehe EU, 701). Doch ist mit dieser Freundschaft nicht die persönliche Freundschaft zwischen zwei Menschen im Unterschied zur Liebe gemeint, sondern Arendt versteht den Respekt in als »eine Art ›politische Freundschaft‹« (VA, 310). Hinter dieser aristotelischen Anleihe scheint das radikal Böse auf, das auch deswegen unverzeihlich sein soll, weil es nach Maßgabe der »geschichtliche[n] Kontinuität« und der »Einheit des Menschengeschlechts« (EU, 704) schlechterdings nicht zu verantworten ist. Umgekehrt schulden wir aus genau diesen beiden Gründen jedem Menschen »die Achtung vor der Person« (VA, 310), die er ist, und sind deswegen aufgefordert, aber nicht verpflichtet, ihm zu verzeihen. Es ist also die Grundbedingung der Pluralität, dass nicht einer, sondern viele Menschen auf dieser Erde leben, auf die das Motiv des Respekts uns verweist. 126 Das ist eine denkbar dürftige Auskunft, wenn man sich die Vielfalt der möglichen Szenen der Verzeihung versuchsweise vor Augen führt. Denn zwischen den Polen der Liebe als der engsten Form zwischenmenschlicher Beziehungen und der Arendtschen Zugehörigkeit zur Menschengattung als der entferntesten Form klafft eine große Lücke, die sich in Sachen der Motive mit einer ebenso großen Menge denkbarer Gründe zu verzeihen füllen ließe. Als erstes wäre an die Freundschaft zu denken, die Arendt in der Vita activa anders als in den Elementen und Ursprüngen unverständlicherweise und ohne Angabe von Gründen auf die politische Freundschaft verkürzt. Gleichwohl kann man ihr hier zur Hilfe kommen, weil die vollständige Erfassung aller denkbaren Konstellationen des Verzeihens und die Bestimmung zugehöriger Motive keine unerlässliche Wegmarke einer Theorie des Verzeihens ist. Denn zu keiner Zeit ist mit Gewissheit anzugeben, welche Gründe jemand hat, zu verzeihen oder sich der Verzeihung zu verweigern. Der »Antrieb zu einer Handlung« ist »so tief im Herzen verankert«, »daß mit Gewißheit noch kein Menschenauge es hat durchschauen können« (ÜR, 122). 126 Splett sieht sich wegen Arendts Überlegungen über die Liebe als Motiv des Verzeihens zu der Frage veranlasst: »Darf man dies als eine charakteristisch weibliche Sicht bezeichnen?«; vgl. ders.: Vita Humana, S. 563, FN 16. Das darf man nicht, auch weil diejenige Liebe, die Splett gegen Arendts Liebe zwischen zwei Menschen in Stellung bringt, auf den Respekt hinausläuft, den Arendt für das der Liebe überlegene, weil alle Menschen erreichende Motiv zu verzeihen hält; siehe ebd.
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Was jemanden gegen oder zu einer Handlung bewogen hat, sollte mehr noch gar nicht im detektivischen Interesse der anderen liegen, denn das Bekenntnis zu einem bestimmten Motiv wird »sofort zum Gegenstand des Mißtrauens«, des eigenen wie dessen der anderen. Denn im Gegensatz zu den Handlungen, »die dazu da sind, in Erscheinung zu treten, ja ohne solches Erscheinen nicht einmal sind [sic],« erzeugen die Handlungsantriebe eine ganz andere und weniger greifbare Wirklichkeit des Anscheins, indem sie eine unendliche Verweisungskette auf immer neue Motive in Gang setzen, etwa »die Heuchelei, die Täuschung und die Selbsttäuschung« (ÜR, 122), in der niemand klaren Anhalt für oder gegen etwas finden kann. Deshalb sind die Entscheidung für den Akt des Verzeihens und dessen Ausführung für das Verständnis des Verzeihungsgeschehens von weitaus größerer Bedeutung als die persönlichen Beweggründe der beteiligten Personen, die unter dem Veto der Unerforschlichkeit des menschlichen Herzens stehen (das sich bei Arendt dem Einfluss Kants verdankt). Für die Analyse des Vermögens zu verzeihen macht die Rolle der Beweggründe vor allem erneut darauf aufmerksam, dass die Anerkennung der Verzeihungsbedürftigkeit allein noch keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass sich zwischen Menschen Verzeihung ereignet. Und in zweiter Linie macht sie noch einmal die Ungerechtigkeit des Verzeihens zum Thema. Arendt etwa wendet in ihrem fiktiven Urteil gegen Eichmann das Motiv des allen Menschen geschuldeten Respekts gegen ihn. Eichmann hat solche Taten begangen, dass selbst der Respekt für ihn keine Gültigkeit mehr haben soll, der seinem Gehalt nach eigentlich für alle Menschen gelten muss, weil er in der Lage ist, das Verzeihungsgeschehen von einer vorangehenden persönlichen Beziehung zwischen den Parteien zu lösen. Im Unterschied zu Arendt haben viele andere gerade im Angesicht der Judenvernichtung für die Verzeihung dieser Taten plädiert. So kann man es bei Simon Wiesenthal nachlesen. Er berichtet von einem sterbenden SS-Mann, der ihm von seiner Beteiligung am systematischen Morden erzählt und von ihm Verzeihung erbittet. Er lehnt ab und fragt später andere, wie sie sein Verhalten beurteilen, weil ihn seither Zweifel plagen, ob seine Verweigerung das Richtige gewesen sei. Einige bestätigen ihn, andere bedauern, dass er sich nicht dazu durchringen konnte, dem reuigen Mörder zu verzeihen. 127 Ohne zu dieser konkreten Geschichte 127
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Siehe Simon Wiesenthal: Die Sonnenblume. Von Schuld und Vergebung. Hamburg
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Stellung zu nehmen, kann sie doch das verdeutlichen, dass es keinen Automatismus der Verzeihung gibt: »[M]an kann sie lediglich erbitten oder erhoffen.« 128 Oder aus der Sicht des Verzeihenden ließe sich derselbe Sachverhalt so formulieren, dass die konkrete Person »letztes Maß moralischen Verhaltens« (ÜB, 85) ist. Das gemeinsame Unrechtsbewusstsein in der Verurteilung der Tat, die verantwortungsbewusste Reue in der Bitte um Verzeihung, die in die Freiheit des Adressaten dieser Bitte gestellte Entscheidung für die Gewährung von Verzeihung und zuletzt die Motive, die er dafür haben mag, sind die Elemente des Verzeihens, die man aus Arendts Schriften zusammentragen kann. Sie sind konstitutive Bedingungen, ohne deren Erfüllung sich mit Arendt in keinem Fall von Verzeihung sprechen lässt. Für sich genommen ist diese Beschreibung des Verzeihungsgeschehens die Durchführung der Grundbegriffe ihrer Handlungstheorie insbesondere entlang ihrer Auffassungen von Verantwortlichkeit, von dem die Person des Handelnden enthüllenden Charakter und von der damit unauflöslich einhergehenden Zwischenmenschlichkeit allen Handelns. Deshalb ist es nicht im Geringsten verwunderlich, dass in ihrer Anwendung dieser allgemeinen Prinzipien auf das besondere Handlungsvermögen zu verzeihen »das Wer, das sich im Handeln und Sprechen unwillkürlich offenbart, auch der eigentliche Gegenstand des Verzeihens ist«. Als Teil des Handelns ist das Verzeihen immer ein Geschehen zwischen Menschen, in dem sich Menschen als die unverwechselbaren Personen, die sie sind, ihren Mitmenschen zeigen, »was denn auch der tiefste Grund dafür ist, daß niemand sich selbst verzeihen kann: das Wer, um dessentwillen jemandem etwas verziehen wird, liegt außerhalb der Erfahrungen, die wir mit uns selbst zu machen vermögen; es ist überhaupt nur für andere wahrnehmbar.« (VA, 310) 1970 [= SB]; ders.: The Sunflower. On the Possibility and Limits of Forgiveness. With a symposium ed. by Harry J. Cargas and Bonny V. Fetterman, revised and expanded Edition, New York 1998 [= SF]. Von den vielen, die Wiesenthal um Antwort gebeten hat, treffen nur einige die eigentliche Schwierigkeit dieser Geschichte für eine philosophische Theorie des Verzeihens: die Frage, ob Wiesenthal dazu berechtigt ist, diesem Täter zu verzeihen; siehe die Antworten von Herbert Gold, Abraham J. Heschel, Jacob Kaplan, Robert M. W. Kempner, Hermann Kesten, Primo Levi, Jacques Maritain, Martin Niemöller, Kurt von Schuschnigg und Paul Henri Spaak, die im Kapitel Niemand kann vergeben, was andere erlitten versammelt sind; siehe SB, 128–152; siehe zur stellvertretenden Verzeihung Kapitel 7.c.b. 128 Pullich: Arendt, S. 9. A
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(v) Die Beurteilung der Person Wenn jemand einem anderen verzeiht, dann richtet er sich an die Person des anderen. Seine Verzeihung ist wie das Handeln überhaupt eine Weise, wie sich Menschen ihrem individuellen Wer-einer-ist versichern können. Das Verzeihen ist ein »Um-seinet-willen« (VA, 310) und eine Ermutigung für den Täter, die ihm nur derjenige geben kann, an dem er schuldig geworden ist. Denn was das Verzeihen von anderen Handlungen unterscheidet, ist der Umstand, dass wir in der Situation des Unrecht-Getan-Habens und des SchuldigGeworden-Seins nur stärker auf die Beglaubigung unseres Menschseins angewiesen sind als wir es ohnehin und zu jeder Zeit sind. Das Verzeihen zeigt in der Erfahrung des Scheiterns praktischer Selbstbestimmung nur deutlicher auf »the very great importance that we attach to the attitudes and intentions towards us of other human beings, and the great extent to which our personal feelings and reactions depend upon, or involve, our beliefs about these attitudes and intentions.« 129 Das mag damit zusammenhängen, dass uns die Bürde des Unrechtes unser Selbstverständnis möglicherweise stärker anficht als das Getan-Haben des Guten. Was das Verzeihen im Zustand des Schuldig-Geworden-Seins bestätigt, ist, dass der Täter nicht nur die Person ist, die diese Tat getan hat, sondern auch ein anderer war und wieder sein kann. Das Verzeihen trifft ein Urteil über die Person des Täters, das sich nicht von der Tat leiten lässt wie die Strafe, sondern von dem Urteil, das Opfer und Täter gemeinsam über das Unrecht-Sein der Tat getroffen haben. Die Tat selbst kommt in ihm nur als Entscheidungshilfe vor und wird zu Zwecken ihrer möglichen Bestrafung den Organen der politischen Gemeinschaft anvertraut. 130 Das Verzeihen rüttelt also nicht an der Tatsächlichkeit der Tat und der Schuld – im Beispiel aus Arendts Antwort an Auden: Die Verzeihung löscht weder den Betrug noch die damit verbundene Schuld aus: »I may forgive somebody who betrayed me but I am not going to condone betrayal ueberhaupt.« (HA/WA, 004864) 131 Und in dieser Eigenschaft des Verzeihens, dass es dem Menschen verzeiht und zugleich die Schuld beStrawson: Freedom, S. 5. Damit ist nicht gesagt, dass demjenigen, der verzeiht, notwendigerweise egal sein muss, ob das fragliche Unrecht auch bestraft wird; siehe dazu Kapitel 6. 131 Deshalb lässt sich das Verzeihen bei Arendt auch nicht als Ablösung von Schuld bezeichnen oder in deren Nähe rücken, siehe Wimmer: Schuldvergebung, S. 104, FN 10; Reist: Praxis, S. 163. 129 130
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nennt und die Selbstkritik des Täters verlangt, verortet Arendt den Gegensatz zum gängigen Verständnis der Nächstenliebe, das sie von den Lehren Jesu strikt trennt. Dieser Nächstenliebe geht es nicht um die gelebte Zwischenmenschlichkeit und die Person des Schuldigen. Sie schaut nicht auf denjenigen, der mir etwas angetan hat, sondern sieht den Betrüger nur als ein Gefäß des Betruges und als weitere Bestätigung der menschlichen Verfallenheit an die Erbsünde: »But charity […] forgives betrayal in the person who betrayed« (WA/ HA, 004864). Mit dem Wissen aus den vorangegangen Kapiteln kann man nun antworten auf die Frage, was jene von Arendt missverständliche und inkonsistent beschriebene Befreiung von den Folgen sein kann, die das Verzeihen sein soll, wenn sie nicht die Befreiung von den – von Arendt sachlich irreführend eingeführten – Verfehlungen sein kann. Diese Unklarheiten sind vermeidbar, wenn man die Passagen so liest, dass es die Folgen für die geschichtliche und moralische Personalität sind, von denen das Verzeihen befreit. Wenn man denn von Verfehlungen sprechen und dieses Wort Arendts beibehalten will, dann darf man damit nicht auf die Verfehlungen abzielen, die sich unbeabsichtigt als Folge anderer Handlungen einstellen. Sondern unsere Missetaten können allein deswegen Verfehlungen genannt werden, weil es unsere eigene Person ist, die wir in ihnen verfehlen. Aus diesen in der Reue als Selbstverfehlung erkannten Untaten erwächst das Bedürfnis des Täters nach Verzeihung durch sein Opfer, weil er in seiner Tat den Widerspruch zu demjenigen erkennt, der er vorher war und der er künftig wieder sein will, oder weil er einen Widerspruch entdeckt hat zwischen dem, der er vorher war, und dem, zu dem er in Zukunft werden will. Die fehlerhafte Rede von den Verfehlungen im Gegensatz zu den vorsätzlichen und deswegen vermeintlich unverzeihlichen Taten ist keine Nachlässigkeit Arendts, sondern ist eine unzulässige Ausweitung des Begriffes der Handlungsfolgen genau deswegen, weil sie die Person des Täters als den eigentlichen Gegenstand des Verzeihens und zugleich das Verzeihen als Befreiung von den Handlungsfolgen definiert. Die letzten beiden Bedingungen ergeben nur dann angesichts der Unwiderruflichkeit des Getanen einen Sinn, wenn man, wie hier vorgeschlagen, jene Befreiung des Verzeihens als Befreiung von den Folgen der Tat für das moralische Selbstverständnis des Täters begreift. Arendts Begriff der Tatfolgen, auf die sich das Verzeihen beziehen soll, enthält jedoch beides: die Verfehlungen, A
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die kein sinnvoller Gegenstand des Verzeihens sind, und die persönlichen Folgen für den Täter. Deshalb muss der Begriff der Folgen korrigiert werden, ergänzend zur Aufhebung von Arendts irreführender Unterscheidung des Verbrechens von den Verfehlungen und in Verfolg der Definition des Unverzeihlichen. Und deshalb muss ferner ein Handlungsvermögen benannt werden, das auf die nun korrekt definierten Verfehlungen (im Unterschied zu den Selbstverfehlungen und den Untaten) Anwendung finden kann, wobei Verfehlungen und verzeihungsfähige Taten gleichermaßen zu dem Wer-einer-ist beitragen. 132 Das Verzeihen, das etymologisch betrachtet ein Nicht-Mehr-Bezichtigen ist, verzeiht nicht in dem Sinne, dass der Täter nicht mehr der ist, der etwas getan hat, sondern in dem Sinne, dass er nicht nur der ist, der jene Tat getan hat. Der Täter wird nicht auf die Tat und seine Schuld reduziert, denn andernfalls wäre er für immer der, als der er sich in dieser Tat erwiesen hat. Seine Tat würde ihn unerbittlich bis an das Ende seiner Tage »im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen« (VA, 302). 133 Mit der Freiheit des Handelns und der Offenheit der Person, die bei Arendt immer in der Geschichte des Handelnden liegt, wäre das nicht vereinbar. Das Verzeihen ist wie alles Handeln nicht in der Lage, Geschehenes rückgängig zu machen, sondern es ändert den Lauf der Lebensgeschichte und gibt ihr eine neue »Richtung, die nicht in ihr lag.« (DT, 312). Weil es sich nur auf die handelnden Personen bezieht, kann es nur verhindern, dass die Geschichte des Übeltäters mit der fraglichen Übeltat endet. Es wird keine Schuld oder ein Unrecht verziehen, sondern es wird der schuldigen Person verziehen. Und das bedeutet, dass sie nicht für immer auf ihre Tat und Schuld festgeschrieben wird und im Zustand des Unverziehen-Seins ihr Leben fristen muss. Sondern das Verzeihen ist die ausgezeichnete Möglichkeit, sich der menschlichen Freiheit im Sinne Arendts zu bedienen, weil es den Neuanfang, der alles Handeln ist, trotz des Gehandelten und seiner unabänderlichen Folgen von Neuem ermöglicht (vgl. PP, 59). 132 Siehe zu meiner Kritik an Arendts Begriff der Verfehlungen und der Unverzeihlichkeit Kapitel 3.b.b; siehe zu den Verfehlungen und dem ihm zugehörigen Handlungsvermögen Kapitel 4.a. 133 Vgl. PP, 59, wo Arendt zur Veranschaulichung dieses Umstandes erinnert an »the man in the fairy tale who is granted one wish and then forever punished with that wish’s fulfillment.«
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Die missverständlichen Stellen über das Verzeihen als ein Rückgängigmachen (siehe VA, 302, 308) lassen sich im Rekurs auf die Grundbegriffe arendtscher Handlungstheorie einem kohärenten Verständnis zuführen. Außerdem gehen sie mit einer Klarstellung einher, wie diese Wortwahl zu verstehen ist (vgl. VA, 308). All diese Formulierungen, mit denen Arendt irrende Lesarten ihres Verzeihens provoziert hat, versieht sie aber im Einklang mit dem eigentlichen Gegenstand des Verzeihens, der Person (siehe VA, 310), zu Beginn ihrer Überlegungen mit einem Hinweis darauf, von welcher Art die Befreiung durch das Verzeihen ist. Dort ist nicht die Rede von Rückgängigmachung oder Befreiung, sondern von einer Verzeihung, in der wir »uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden.« (VA, 302; vgl. VA, 306) Das Verzeihen löst uns von den Fesseln unserer Taten. Es entfesselt von der Last der Schuld, nicht von der Schuld selbst, weshalb mit Entbindung treffender als mit Befreiung das Wesen des Verzeihens beschrieben ist. Diese Überlegungen hat Ricœur vor Augen, wenn er davon spricht, dass Arendt die Verzeihung auf halbem Wege als Akt des Entbindens »am Verbindungspunkt zwischen der Handlung und ihren Folgen« bestimmt, dieser Akt jedoch »zwischen dem Handelnden und der Handlung« (GGV, 753) lokalisiert werden müsse. Sicher entbinde die Verzeihung die Schuld von der Last des Schuldigseins – hier stimmt Ricœur Arendt zu und trifft auch den Punkt, weil es ihr gerade nicht darum geht, in der Verzeihung die Schuld auszulöschen. Aber dass die Verzeihung mehr tun solle, nämlich den Handelnden von der Handlung zu entbinden, macht meines Erachtens keinen Unterschied zu Arendt aus, weil Ricœurs Figur der Entbindung zum Ziel hat, den Schuldigen in die Lage zu versetzen, »noch einmal neu zu beginnen« (GGV, 754). Nicht nur in dieser Bestimmung des Verzeihens von Ricœur, die mit der Fähigkeit des Handelns im Allgemeinen und des Verzeihens im Besonderen bei Arendt übereinkommt, lässt sich der von ihm postulierte Gegensatz seiner Überlegungen zu denen Arendts nicht aufrechterhalten, sondern mehr noch wird die sachliche Übereinstimmung beider überdeutlich, wenn man sich klarmacht, von welcher Art die Entbindung ist, die ihm vorschwebt. Man kann sie sich nicht so vorstellen, dass der Täter von seiner Tat getrennt wird, so dass man einem anderen vergebe als dem, der die Tat begangen habe. Sondern man muss sie sich so vorstellen, dass die ausgeführte Einzeltat unterschieden wird von dem Vermögen zu handeln schlechthin. A
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Denn diese »interne Trennung bedeutet, dass sich die Fähigkeit des moralischen Subjektes zum Engagement nicht in ihren diversen Manifestationen im Lauf der Welt erschöpft,« sondern sie meint »einen Akt des Vertrauens, […] der den Erneuerungsmöglichkeiten des Selbst eingeräumt wird.« (GGV, 755) Intern bedeutet also, dass das Verzeihen dem Täter in Bezug auf sein Handlungsvermögen die Freiheit zuspricht, die ihm als handlungsfähigen Menschen an sich zukommt und ihn gerade nicht auf seine Worte und Taten festlegt (auf seine Manifestationen) und darin genau das tut, was Arendts Verzeihen leistet: nämlich die Person nicht auf ihre Handlungen festzuschreiben. Und dass diese Erneuerungsmöglichkeit dem Täter eingeräumt wird, das heißt von außen, durch sein Opfer an ihn herangetragen wird, zeigt auf eine weitere Gemeinsamkeit von Ricœur und Arendt, weil es auch bei Ricœur die Reue des Täters ist, die dem Opfer jenen Zuspruch des Mehr-als-seine-Taten-Seins, der die Verzeihungsgewährung ist, überhaupt erst ermöglicht (vgl. GGV, 755–759). 134 Arendt hat diesen Wesenszug des Verzeihens, wiederum veranlasst durch Audens Kritik, ohne die Missverständlichkeiten aus der Vita activa auf den Punkt gebracht. So schrieb sie an Auden: »I can forgive somebody without forgiving anything« (HA/WA, 004864). Und die Vorlesung über Some Questions of Moral Philosophy nimmt dies fünf Jahre später wieder auf: »Anders gesagt, wenn vergeben wird, dann wird nicht das Verbrechen vergeben, sondern der Person« (ÜB, 78). 135 Das ist keine Neuerung, sondern eine Bestätigung und Verstärkung dessen, was ihr ganzes Nachdenken über das Verzeihen anleitet, das »die gleichen Person-enthüllenden und Bezug-stiftenden Charaktere aufweist wie das Handeln selbst« (VA, 308). Wenn man sich Arendts Bestimmung des Gegenstandes und des eigentlichen Vorganges der Verzeihung vor Augen führt, dann wird 134 Hier geht es allein darum, dass die Differenz, die Ricœur zwischen seinen und Arendts Begriff des Verzeihens legt, so nicht Bestand haben kann. Er hat allerdings der Bedeutung der Reue weitaus gründlicher als Arendt Rechnung getragen, auch wenn sie bei beiden der maßgebliche Punkt ist, an dem sich der Begriff des Verzeihens und die Einschätzung dieses Handlungsvermögen entscheiden; siehe dazu Kapitel 7.c. 135 Dem Wortlaut nach spricht Arendt hier von der Verzeihlichkeit von »Verbrechen«, die sie in der Vita activa kategorisch von den verzeihlichen Taten ausgenommen hat. Wie man aus der Vorlesung insgesamt und dem Umkreis des Zitates sehen kann, ändert sich an dieser Überzeugung nichts. In Bezug auf die Grenze des Verzeihens liegt daher keine Selbstkorrektur Arendts vor, die ihre Inkonsistenzen in dieser Hinsicht beseitigte.
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man dem Urteil zustimmen, dass sich der neben Kodalle einzige deutsche Philosoph der Gegenwart, der dem Verzeihen einen bedeutenden Rang zuspricht, »ganz in den von H. Arendt gelegten Spuren bewegt«. 136 Genau besehen ist es mehr als ein Gehen in Spuren. Spaemanns Verzeihen kommt dem Arendts nicht nur in wesentlichen Punkten gleich, sondern er handelt es auch in der systematischen Entsprechung zum Versprechen ab: Verzeihen und Versprechen »statuieren eine Differenz zwischen personaler Identität und faktischem So-Sein in der Zeit. Das Versprechen stiftet Unabhängigkeit der Identität vom Ausgeliefertsein an die Faktizität. Verzeihung stellt diese Unabhängigkeit kontrafaktisch wieder her.« (P, 251; vgl. ders. GW, 248 f.) 137 (vi) Das Verstehen des Verzeihens In dieser Wendung an die Person oder in dieser Beziehung zwischen Menschen, die das Verzeihen schafft, hat das Verstehen im Verzeihungsgeschehen bei Arendt seinen Ort. Das Verzeihen stellt die Unrechtmäßigkeit und die Verantwortung des Missetäters für die Untat fest. Andernfalls gäbe es keinen Anlass zu verzeihen. Aber es blickt auf die Person und ihre Geschichte und findet dort im günstigen Fall einen Grund zu verzeihen: »Sofern die Redensart von dem ›Alles verstehen heißt alles verzeihen‹ überhaupt einen Sinn haben soll, so bezieht sich das Verstehen […] nicht auf das Getane, sondern auf die Person, die getan hat.« (VA, 308) 138 Es ist nicht einsichtig und bleibt auch ohne jede Erklärung, weshalb das Verstehen nicht »notwendigerweise« (VA, 308) ins Spiel kommen muss. Das hieße, dass es neben dem Verstehen noch eine andere Möglichkeit gibt, das für alle Verzeihung erforderliche Ansehen der Person zu bewerkstelligen. Dazu schweigt Arendt sich aus. Und es fragt sich, welches Ansehen der Person mit guten Gründen als ein Nicht-Verstehen gelten kann? Überdies müsste ja ein solches Nicht-Verstehen wie das Verstehen zu den Bedingungen der Verantwortung und des Unrechtsbewusstseins passen. Das Verstehen, das die Person in den Blick nimmt und die Geschichte der Tat betrifft, Frettlöh: Der Mensch, S. 194. Siehe auch ders.: Ein Tier, S. 336–345. 138 Dieses Verstehen ad personam ist daher von dem Verstehen als der Versöhnung mit der Welt, die so ist, wie sie ist, zu unterscheiden. So »heißt den Totalitarismus verstehen nicht irgend etwas entschuldigen, sondern uns mit einer Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind, versöhnen.« (ZVZ, 110) Vgl. DT, 315, 331. 136 137
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ist vielmehr notwendiger Teil der Gewährung von Verzeihung, weil sich andernfalls das Verzeihen von seinem eigentlichen Gegenstand bei Arendt, der Person des Täters, entfernte und geradewegs beliebigen Charakter annähme. Zum Verzeihen gehört zwar die Beurteilung der Tat. Aber das Urteil von der Unrechtmäßigkeit der Tat ist eher eine Voraussetzung des eigentlichen Verzeihungsaktes, dessen wesentliches Urteil den Täter betrifft. Es drückt ein Verständnis für ihn, für seine Reue und seinen Willen aus, es künftig anders zu halten. Das spezifische Verstehen des Verzeihens bezieht sich auf die Aporien des Handelns in ihrer je individuellen Erscheinung in der Person des Täters. Es wendet die Einsicht in die grundsätzliche Verzeihungsbedürftigkeit auf die konkrete Schuldverhaftung der einzelnen Person, die sich aus deren konkreter Tat ergeben hat, an und spricht dem Schuldigen wieder die Freiheit zu handeln zu, die für Arendt das Signum menschlicher Würde überhaupt ist. Wer einem anderen verzeiht, ist nicht nur als Grundlage seines Verstehens auf ein notwendig immer beschränktes Wissen um die Tatumstände und die Beweggründe des Täters angewiesen, auch wenn diese Form des Verstehens ein Anlass zu verzeihen sein kann – vor allem dann, wenn sich die Tat nicht aus einer gemeinsamen und vorangehenden Geschichte ergeben hat. Wer verzeiht, muss dadurch nicht nur in der Lage sein, diesem Geschehen eine Bedeutung in seiner Lebensgeschichte und der des Täters zu verleihen. Er sieht nicht nur sein eigenes Leid, sondern auch die Schuld und die Verstrickung des Täters in dessen Selbstverfehlung. Seine Gewährung der Verzeihung ist beides: ein Verständnis dieser Verstrickung und eine Ermutigung des Willens, sich aus dieser Verstrickung wieder zu befreien. Jede Person, die einer anderen verzeiht, übernimmt die Funktion des Erzählers (wie es schon beim Versprechen der Fall war), der in Arendts Handlungstheorie immer die Geschichte eines Lebens erzählt, nachdem dieses Leben zu Ende gegangen ist, weil sich dem Erzähler als erstem überhaupt die Gelegenheit bietet, dieses Leben in Gänze zu übersehen und als eine Einheit zu betrachten. Wer verzeiht, hat diese Möglichkeit nicht, weil er in Bezug auf das konkrete, verzeihungsbedürftige Ereignis Teil dieser Geschichte ist. In seiner Verzeihung öffnet er die Person des Täters hin auf die Erzählbarkeit seiner künftigen Geschichte, die mit seiner Tat nicht ausgeschlossen ist. Aus der Perspektive der Erzählung von Lebensgeschichten ist das Verzeihen das Bewusstsein von der Offenheit der Person, dass 170
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auch der Erzähler-Verzeiher nur annähernd wissen kann, wer sein Gegenüber ist, und dass darüber noch nicht endgültig entschieden ist. Was das Verzeihen zu einem ausgezeichneten Handlungsvermögen macht, ist der Umstand, dass in ihm jemand die Erzählbarkeit der Lebensgeschichte des Täters erneuert, der von dessen Taten leidvoll betroffen ist. Es übernimmt auf besondere Weise, was das Handeln zwischen Menschen immer tut, denn es verschafft uns auf dem Wege über unsere Mitmenschen – freilich nur vorläufigen – Aufschluss (aber anderes ist lebenden Menschen nicht möglich) darüber, wer wir sind: »[D]as Wer, um dessentwillen jemandem etwas verziehen wird, liegt außerhalb der Erfahrungen, die wir mit uns selbst zu machen vermögen; es ist überhaupt nur für andere wahrnehmbar.« (VA, 310) Die Besonderheit des Verzeihens aus der Sicht der Lebensgeschichten ist, dass es die Geschichte trotz dem, »was vorgefallen ist,« nicht abbricht, sondern die Fortsetzung ihrer Erzählung in einer »versöhnliche[n] Haltung gegenüber [ihr]en nur schwer erträglichen, schmerzhaften Bestandteilen« ermöglicht. 139 Weil dieser Teil der Erzählung auf einem Akt des Vertrauens in die moralische Umkehr ihrer Hauptperson beruht, kann der Erzähler-Verzeiher das Mehr-als-seine-Taten-Sein des Täters antizipieren und neuen Spielraum, neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. In dieser Vorwegnahme zeigt das erzählende Verzeihen, dass die rettenden Geschichten Arendts (siehe Kapitel 2.b) sich auf die Vergangenheit und die Zukunft desjenigen beziehen, dessen Lebensgeschichte sie sind: Sie geben dem Vergangenen eine eigene Bedeutung und eröffnen von neuem die Möglichkeit, das dem Zukünftigen einmal ebenfalls eine je persönliche Bedeutung unterlegt werden kann. Die Geschichte dessen, der verzeiht, beruht auf einem moralischen Urteil über die Tat, deren Opfer er geworden ist, und sie mündet in einem eben solchen Urteil darüber, dass der Täter seines Leids es wert ist, dass man ihm verzeiht. Dazu, dass wir diese Entscheidung überhaupt treffen können, bedarf es nicht nur unserer je persönlichen Beweggründe, sondern auch dessen, was Arendt in Anlehnung an König Salomon ein verstehendes Herz genannt hat. Es ist der Ort, an dem das Wissen um die Aporien des Handelns seine praktische und lebensweltliche Wirklichkeit annimmt:
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In diesem Sinne könnte das alte Gebet, in dem König Salomon […] Gott um ein ›verstehendes Herz‹ als größtes Geschenk, das ein Mensch erhalten und sich wünschen kann, gebeten hat, für uns noch immer von Bedeutung sein. Allein das menschliche Herz […] ist in der Welt bereit, die Last zu tragen, welche die göttliche Gabe des Handelns, des Ein-Anfang-Seins und deshalb des Fähigseins, einen Anfang zu machen, uns auferlegt hat. Salomon betete für diese besondere Gabe, weil er […] wußte, daß nur ein ›verstehendes Herz‹ (und nicht bloßes Nachdenken oder Fühlen) es für uns erträglich macht, mit anderen, immer fremden Menschen in derselben Welt zu leben, und es ihnen ermöglicht, uns zu ertragen. (ZVZ, 126) 140
(vii) Das Freigeben der Person Das verstehende Herz König Salomons, über das Arendt einige Jahre vor der Vita activa schrieb, taucht dort im Zusammenhang der Überlegungen zur Angewiesenheit auf gegenseitig gewährte Verzeihung auf. Wie das Verstehen stellt Arendt auch das Verzeihen dem Vermögen der Freiheit zur Seite. Frei sein und frei bleiben können Menschen nur dann, wenn unter ihnen das »dauernde gegenseitige SichEntlasten und Entbinden« (VA, 306) herrscht. Ihre Anmerkung zu dem Gebot Jesu, jemandem auch die siebte Missetat des Tages bereitwillig zu verzeihen, wenn er denn bereut (siehe Lk. 17, 4), gerät Arendt zu ihrer gelungensten Beschreibung der Verzeihung. Sie erwägt die Bedeutung der drei zentralen Wörter, die sich aus ihrer Sicht allesamt nicht befriedigend übersetzen lassen. ›Aphienai‹ bedeute, jemanden gehen lassen oder frei lassen, und erst auf diesem Wege: verzeihen. ›Metanoein‹ ziele auf die Sinnesänderung ab und stehe des Öfteren für das hebräische ›schuw‹. Dies wiederum bedeute Umkehr, aber nicht Buße im christlichen Sinne einer Versenkung des Sünders in seine Sünde. In ›hamartanein‹ aber stecke ein Vergehen, das »offenbar etwas ganz anderes ist, als was wir meinen, wenn wir von Sünde sprechen« (VA, 468, FN 81). Deshalb schlägt sie eine andere Übersetzung von Lk. 17, 4, vor: »›Und wenn er siebenmal des Tages gegen dich fehlen würde und siebenmal des Tages wiederkäme und spräche: ich änderte meinen Sinn, so sollst du ihn frei gehen lassen.‹« (VA, 468, FN 81) Das Verzeihen, von dem sie spricht, handelt 140 Siehe 1. Kön. 3, 9: »So wolltest du deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, damit er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und was böse ist.« Im Original heißt es »understanding heart«, siehe Arendt: Understanding and Politics, S. 322, weil die King James Bible so das gehorsame Herz bei Luther übersetzt; siehe The First Book of the Kings 3, 9: »Give therefore thy servant an understanding heart to judge thy people«.
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von dieser Sinnesänderung, das auf das verstehende Herz des anderen trifft. Es ist ein Gehenlassen und ein Freigeben in die Offenheit der Person. Dieses Gehenlassen und Freigeben gelangt für Arendt an ein Ende, wenn jemand schlechterdings unveränderlich ist. Das Märchen von Ritter Blaubart beschreibt einen solchen Fall. Blaubart stellt seine junge Frau auf die Probe, indem er ihr vor seiner Abreise einen Schlüsselbund mit der Auflage aushändigt, den goldenen Schlüssel nicht zu benutzen. Sie benutzt ihn und findet die ermordeten früheren Frauen von Blaubart. Vor dem zurückkehrenden Mörder wird sie im letzten Moment von ihren Brüdern gerettet. Blaubart wird bestraft. Arendts Folge im Sinne ihres Begriffs des Unverzeihlichen ist diese: »It [die Verzeihung, T. D.] will hardly pardon Bluebeard who is a murderer, but it may pardon a crime passionel because murder was committed by somebody who was not a murderer.« (HA/ WA, 004864) Wenige Jahre nach dem Brief an Auden (1960) spann Arendt diesen Faden in der Vorlesung Some Questions of Moral Philosophy (1965) weiter: »In dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammensein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, daß er niemals in unsere Nähe gelangt.« (ÜB, 149) Damit ist auch gesagt, dass der Blaubärte nur wenige sind und es nur die allerwenigsten Menschen sind, die wirklich unverzeihlich sind, weil das Was ihrer Taten bereits das Wer des Täters anzeigt und weil dieses Wer durch künftige Taten keinerlei substantielle Veränderungen mehr durchlaufen wird. Nur fehlen Arendt und überhaupt den Mitmenschen solcher Täter grundsätzlich die Mittel zu derartigen Feststellungen, denn solch Endgültiges weiß erst der Erzähler über einen Menschen zu sagen. Grundsätzlich kann man nicht wissen, dass Blaubart ein Mörder ist, sondern nur, dass er gemordet hat. Aber wir enthalten den Blaubärten dieser Welt unsere Verzeihung vor, weil sie sich wieder und wieder als Blaubärte erwiesen haben. Blaubart als der, als der er sich mordend gezeigt hat, kann uns schlechterdings nicht mehr davon überzeugen, dass er mehr ist als seine Taten und noch ein anderer werden kann als der, der er mordend geworden ist. Ein Mörder hingegen, der vor dem Mord noch nicht gemordet hat, bleibt zwar für immer jemand, der einen anderen Menschen ermordet hat und die mörderische Schuld nicht abtragen kann. Aber weil er vorher ein anA
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derer war, hat er grundsätzlich die Möglichkeit, uns begründete Hoffnung zu vermitteln, dass er in Zukunft mehr sein wird als der Mörder, der er nun auch, aber nicht nur ist. Wer einem solchen Mörder die Verzeihung verweigert, beschließt, in ihm fortan allein den Mörder zu sehen. 141 Und dass eine solche Haltung der Unversöhnlichkeit – abgesehen von Arendts konkretem Beispiel des Mordes, das aus den genannten Gründen problematisch ist – grundsätzlich unseren an uns schuldig gewordenen Mitmenschen nicht gerecht wird, ist in Arendts Worten zum Tode ihres Freundes Waldemar Gurian aufgehoben: Dabei vergessen wir häufig, daß es das große Vorrecht jedes Menschen bleibt, daß er wesensmäßig und allzeit mehr ist als alles, was er herstellen oder erreichen kann; daß er nicht nur nach jeder Arbeit oder Leistung als der noch nicht erschöpfte, gänzlich unerschöpfliche Quell weiterer Leistungen weiterbesteht, sondern sich in seinem wirklichen Wesen jenseits aller Leistungen befindet, unberührbar und durch sie nicht eingegrenzt ist. 142
c Die Zerbrechlichkeit des Verzeihens Das Verzeihen hat wie das Versprechen für die Unabsehbarkeit seine eigene Wirkung in Bezug auf die verschiedenen Dimensionen der Aporie der Unwiderruflichkeit. Identitätstheoretisch ermöglicht es den handelnden Personen, trotz des von ihnen begangenen Unrechts und des Leids, das sie anderen zugefügt haben, im Bewusstsein der grundsätzlichen Offenheit der eigenen Lebensgeschichte wie der Geschichte überhaupt neue Geschichten anzufangen und sich nicht in die sich unablässig fortentwickelnden Folgen vorangehender Ereignisse zu verstricken. Nur wenn diese unabwendbaren Verwicklungen nicht absolut sind, ist überhaupt eine Person denkbar, die sich als solche durch ein Handeln und die persönliche Geschichte auszeichnet, die mehr als eine bloße Kette von Handlungsfolgen ist. Pluralitätstheoretisch verleiht es den Menschen die Möglichkeit, weiterhin an dem wesentlich gemeinschaftlichen Handeln festzuhalten, auch wenn jeder Mensch Handelnder und Erduldender von unabsicht141 Vgl. die Unterscheidung zwischen dem Verzeihlichen und dem Unverzeihlichen bei J. W. Scott: Verzeihlich sind die Täter von Taten, die nicht »from the whole, true, complete character of the agent« herrühren, unverzeihlich sind die Täter, deren Taten »the real and genuine expression of the offender’s character« sind; vgl. dies.: Idealism and the Conception of Forgiveness, in: International Journal of Ethics 21 (1911), S. 189–198, Zitate S. 194. 142 Arendt: Gurian, S. 311.
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lichen Verfehlungen wie absichtlichen Taten ist, weil es ins Bewusstsein ruft und praktische Wirklichkeit werden lässt, dass ein jeder mehr ist als das, was er getan hat. Das Verzeihen kann sich wegen seines Bezuges auf den als vernünftige und moralische Person aufgefassten Handelnden, die in Arendts Handlungstheorie die grundlegende Vorstellung vom Handlungssubjekt ist, nur auf die Taten und deren Folgen beziehen, die wir dieser Person als ihre eigenen zuschreiben können. Die schlechterdings unabsehbaren Folgen, die sich ohne das Zutun ihres Verursachers einstellen und deswegen bei Arendt Verfehlungen heißen, sind jedoch – anders als sie behauptet – kein tauglicher Anhaltspunkt des Verzeihens, weil sie das Kriterium der moralischen Zurechenbarkeit nicht erfüllen, das sie in den Begriffen persönlicher Schuld und Verantwortung, der Reue und der Bitte um Verzeihung beansprucht. Diese persönlich-moralische Dimension des Zusammenhanges von Tat, Schuld, Verantwortung und Verzeihung mag zum einen noch einmal belegen, dass in der Vita activa Überlegungen zur unmittelbar zwischenmenschlichen Verzeihung vorliegen, während der – von Arendt uneingelöste – Anspruch auf die Umsetzung dieser Ideen für den politischen Raum lediglich mitgeführt wird. Zudem lassen die Bindung des Verzeihens an persönliche Schuld und Reue sowie die Unterscheidung von kollektiver Verantwortung und Scham über das, was man nicht selbst, sondern das Kollektiv, dem man unweigerlich angehört, getan hat oder was in dessen Namen angerichtet wurde, einen Begriff politischen Verzeihens in weite Ferne rücken (siehe dazu Kapitel 8). Ein Grund für die genannten Unstimmigkeiten liegt in der mangelnden Durchführung der drei vorgestellten Schulddimensionen. Werkgeschichtlich stellt Arendt ihre Gedanken erst nach der Vita activa in solcher Weise klar, dass wir die dortigen Anlagen für die dreifache Unterscheidung der existentiellen (Fehlbarkeit), der emotionalen (Schuldgefühl) und der persönlichen (moralischen) Schuld in den Bedingungen der Reue und der Vorhaltung und in den Überlegungen zur Verantwortung zu ebendieser Trias machen können. Anhaltspunkte für diesen – werkgeschichtlich daher unbedenklichen – Schritt finden wir schon vor der Vita activa in ihrer Überzeugung, dass zum Umgang mit zwischenmenschlicher Schuld ein »Bewußtsein, schuldig zu sein« und »eine Überzeugung von der Verantwortungsfähigkeit des Menschen« (OS, 42) gehört, welche an dieser Stelle als Merkmale persönlicher Schuld im Unterschied zur nichtA
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persönlichen Scham infolge der kollektiven und nicht der persönlichen Verantwortung auftreten. Daher können wir ihre Nachträge zur persönlichen Verantwortung auch in die Vita activa einzeichnen und so den quellenimmanenten Widerspruch umgehen, die missverständlichen Verfehlungen und die Bedingung der Reue zusammenzwingen zu müssen, und das Verzeihen der persönlichen Schuld zuordnen. Weil sie selbst nicht präzise vorgeht, beziehen sich ihre Ausführungen über das Verzeihen auf die Fehlbarkeit und die persönlichen, zurechenbaren Taten, von denen aufgrund von Arendts Bedingungen nur die Letzteren als Teil des Verzeihungsgeschehens gelten können. Die Klärung dieser Unklarheiten, die zu vermeidbaren und nur zum Teil ihr selbst anzulastenden Fehlinterpretationen der Reichweite und des Gegenstands des Verzeihens geführt haben, findet schon in der Vita activa wesentliche Anhaltspunkte und wird durch die Erweiterung der Quellenbasis vollends greifbar. Spätestens jedoch mit ihrer Antwort auf Audens Kritik an ihrem Verzeihensbegriff ist der vorgeschlagene Weg der Interpretation vorgezeichnet. Im Blick auf den erläuterungsbedürftigen Quellenbefund muss deswegen nicht nur nach einem Vermögen gesucht werden, das in Anbetracht der Verfehlungen infolge der menschlichen Fehlbarkeit an die Stelle des von Arendt angeführten Verzeihens treten kann (siehe dazu Kapitel 4.a). Vielmehr muss auch, nachdem zwischen Verfehlungen und persönlichen Taten unterschieden und das Verzeihen zu einem Handlungsvermögen mit einem spezifischen Anwendungsbereich geworden ist, den Arendt nicht deutlich genug markiert, untersucht werden, wie sich ihre Überlegungen zu den nun wohlverstandenen Verfehlungen in die Debatte um eine sogenannte ontologische Verzeihung einzeichnen lassen, wie sie von Spaemann und Kodalle angestoßen worden ist (siehe dazu Kapitel 7.b.g). Aus der Bindung des Verzeihens an die moralisch-vernünftige Person ist die Einschränkung des Gegenstandsbereiches des Verzeihens auf die persönlich zu verantwortenden Taten gefolgt. In diesem Sinne ist Arendts Begriff des Verzeihens ein retributiver Begriff. Zu bedenken ist allerdings, dass mit ihrem Begriff des Unverzeihlichen auch dessen Identifikation mit dem Unbestrafbaren zu Fall gebracht ist und die Frage nach dem Verhältnis von Strafe und Verzeihung neu gestellt werden muss (siehe dazu Kapitel 6). Korrigierte man Arendt nicht in dieser Weise und unter Rekurs auf ihre eigenen Überlegungen, wären nur die Täter der absichtslosen Verstrickungen und nicht die Täter der vielen großen und kleinen Weisen der Schädigung 176
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menschlicher Beziehungen verzeihlich, auf die ihre Mitmenschen dann nur mit Abwendung oder Gewalt, die nicht immer dem Mühlsteinprinzip Jesu folgen muss, antworten könnten. Aus personalitäts-, pluralitäts- und verantwortungstheoretischer Perspektive zeigt sich gleichermaßen die Maßlosigkeit des Mühlsteinprinzips, wenn man das Verzeihen strikt an die Verfehlungen im arendtschen Sinne bände. Dass der Ausschluss der Nicht-Verfehlungen weder in der Absicht Jesu noch der Arendts lag, zeigen ihre jeweiligen Begriffe des Unverzeihlichen, die nur einen bestimmten Ausschnitt der Nicht-Verfehlungen, der absichtlichen Taten, umfassen. Der restliche Teil dieser Taten ist in Übereinstimmung mit der Annahme einer moralisch-vernünftigen Person des Handelnden das Verzeihliche, das die absichtlichen und nicht die unabsichtlichen Taten umfassen muss. Für das Unverzeihliche musste daher ein anderes Kriterium gefunden werden als das der Absichtlichkeit. Beließe man es bei Arendts Unstimmigkeiten, läge in ihrer Begrenzung des Verzeihens ein Dementi gerade desjenigen Vermögens, das weder mit seinem zentralen Status am systematischen Angelpunkt ihrer Handlungstheorie übereinkäme noch eine Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Nicht-Souveränität und der Evidenz menschlicher Freiheit bieten könnte, also in Arendts Worten den Menschen die Fähigkeit nähme, den Preis der Freiheit zu zahlen: handeln zu wollen und zu können trotz der unabwendbaren Verstrickungen in Fehlbarkeit und persönliche Schuld. Ein mit diesen grundsätzlichen Korrekturen an Arendts Gegenstandsbereich des Verzeihens übereinstimmendes Kriterium des Unverzeihlichen findet sich in ihren Gedanken zur Ungerechtigkeit des Verzeihens, die die Entscheidung für die Gewährung von Verzeihung infolge einer Bitte um dieselbe in die Freiheit des um Verzeihung Gebetenen stellt. An diesem Ort und nirgendwo anders fällt die nicht beliebige und immer wieder neu zu treffende Bestimmung dessen, was verzeihlich oder unverzeihlich ist. Diese Entscheidung verdankt sich einem Urteil des Gebetenen über den Täter und seine Tat, aber der Akt des Verzeihens selbst richtet sich an den Täter und nicht die Tat. Es legt sich daher auch für die Grenze des Verzeihlichen nah, Arendts Trennung der Verfehlungen von den Verbrechen mit ihren normativen Voraussetzungen aufzugeben und stattdessen die verzeihlichen von den unverzeihlichen Taten zu unterscheiden. Denn die Übertragung der jesuanischen Unterscheidung zwischen den lässlichen Sünden und den Skandala mündet in phänomenologischen A
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Ungenauigkeiten und überspielt ihre eigene Überzeugung, dass die Frage nach dem Unverzeihlichen nur individuell zu entscheiden ist. Auf diese Weise ist nicht zuletzt der fundamentale Widerspruch einer derartigen Festschreibung des Unverzeihlichen mit der Grundbedingung der Natalität vermieden. Von hier aus muss schließlich auch Arendts vage bleibende Vorstellung einer Pflicht zu verzeihen auf den Prüfstand gestellt werden, die sie in Bezug auf ihren missverständlichen und hier präzisierten Begriff der Verfehlungen vorschlägt. Ein pflichtgemäßes Verzeihen von arendtschen Verfehlungen passt weder zu ihrem Begriff moralischer Personalität noch zur persönlich-freiheitlichen Entscheidung für oder gegen die Gewährung von Verzeihung. Diese hat nur dann unverwechselbare Bedeutung, wenn sie im Kontext einer normativen Ordnung das Ergebnis einer Entscheidungsfindung ist, die auch anders hätte ausfallen können. Deshalb ist weniger nach einer Pflicht oder einer weniger starken Vorstellung über die Angezeigtheit eines bestimmten moralischen Verhaltens, die sich auf die wohlverstandenen Verfehlungen infolge der Fehlbarkeit überhaupt bezieht, zu fragen, als vielmehr danach, ob und, falls ja, mit welchen Argumenten das zwischenmenschliche Verzeihen vor persönlicher Willkür oder untauglichen Handlungsvorschriften bewahrt werden kann (siehe dazu Kapitel 7). Das zweite Argument gegen eine unbesehene Pflicht zu verzeihen ist, dass sie die Authentizität der Reue voraussetzt, denn ohne die Gewissheit über die Aufrichtigkeit der Reue ließe sich das starke moralisches Instrument einer Pflicht, unter bestimmten Bedingungen immer so und nicht anders zu handeln, kaum aufrechterhalten. Wie der Verzeihende aber diese Gewissheit erlangen kann und wie sie in Übereinstimmung mit der wohlbegründeten Überzeugung von der Unergründbarkeit des menschlichen Herzens und – in Bezug auf die hiesigen Fragen – der Beweggründe des Handelns zu bringen ist, führt auf den Kern des Verzeihungsgeschehens: auf die Reue, die Arendt ohne weitere Erläuterungen als Bedingung des Verzeihens setzt. Die Aufgabe einer jeden Interpretation der Verzeihung im Denken Arendts ist daher die Überprüfung, inwiefern ein gründlicher Aufweis der Reue zu den Anforderungen passt, die die Struktur des Verzeihungsgeschehens und besonders das bedingende Verhältnis von Reue und Gewährung von Arendts Seite her stellen (siehe dazu Kapitel 7.b). Die bis zu diesem Punkt vorliegende Interpretation von Arendts 178
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Begriff des Verzeihens beruht auf einigen begrifflichen Präzisierungen, die wiederum Anhalt in der Erweiterung der Quellenbasis um einige ihrer veröffentlichten und nachgelassenen Schriften vor allem über das Verzeihen, die persönliche Verantwortung und das Unverzeihliche finden. Hinzu kommen einige Aspekte, die wegen ihrer Randständigkeit bei Arendt nicht als unverzichtbare Bestandteile ihres Begriffs der Verzeihung gelten können, jedoch der Sache nach zu einer vollständigen Analyse des Verzeihens gehören. Die Rolle des Vergessens etwa bleibt blass und widersprüchlich. Mal ordnet sie es der menschlichen Fähigkeit zu, mit dem Handeln und seinen Aporien umzugehen, wie sie es sonst nur für Verzeihen und Versprechen behauptet (siehe VA, 306). Kurz zuvor erhebt sie gegen die zugestanden große Macht des Vergessens, das gegen die ungeheure Zähigkeit des Getanen gleichwohl nichts ausrichten könne, den innerhalb ihrer Überlegungen schwerwiegenden Vorwurf, Ursachen und Verantwortlichkeiten zu verbergen (siehe VA, 296). Auch die Frage nach den Alternativen und den Gegensätzen des Verzeihens hat sie nicht weiter verfolgt. Über die Notwendigkeit hinaus, das Verhältnis von Strafe und Verzeihung genauer zu fassen, als Arendt das tat, müssen wir zwecks seiner Profilierung nach weiteren verwandten Handlungsweisen suchen und dabei auch diejenigen nicht außer Acht lassen, mit denen das Verzeihen oft verwechselt oder mit denen es zu Unrecht kurzerhand gleichgesetzt wird und von denen allein das Vergessen von Arendt – freilich am Rande und ohne eine präzise Einordnung in der Sache – genannt wird (siehe dazu Kapitel 4). Das Vermögen des Begnadigens ist nur einer der Kandidaten, jedoch der, zu dem sie einige wenige, verstreute Hinweise gibt (siehe dazu Kapitel 6.b). Auf der Hand liegt es auch, wegen ihrer These von der zwischenmenschlichen Entdeckung des Verzeihens durch Jesus und der zugehörigen Kritik an der Kirche, sich dieses Erbes nicht würdig erwiesen zu haben, und wegen ihrer in theologischen und frommen Ohren forsch klingenden Überzeugung von der Abkünftigkeit des göttlichen vom menschlichen Verzeihen nach dem Unterschied zwischen Verzeihung und Sündenvergebung zu fragen (siehe dazu Kapitel 5). Abgesehen von all diesen größeren und kleineren Kritikpunkten und Ergänzungen, derer Arendts Begriff des Verzeihens bedarf und denen im Folgenden nachgegangen wird, geben die Momente der moralischen Vernünftigkeit und des Entscheidungscharakters des Verzeihens Gelegenheit, in diesem Zwischenfazit ausdrücklich zu beA
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tonen, dass sie im Verzeihen ein zwischenmenschliches und nicht gottgewirktes Handlungsvermögen sieht. Wie das Versprechen ist das Verzeihen ein Handeln aus menschlicher Freiheit, die zwar eine gottverliehene Gabe sein mag. Aber dieses Geschenk verlöre für die, die es annehmen wollen, jede Bedeutung, stellte man sich Gott als einen solchen vor, der sein Geschenk umgehend von uns zurückverlangte, oder wären andersherum die Menschen zu nichts Anderem bestrebt, als ihm seine Gabe gleich wieder zurückzugeben. Das Verzeihen (wie das Versprechen auch) ist Arendts Antwort im Sinne der Aufgabenstellung, Freiheit und Nicht-Souveränität zusammenzudenken und mit den Schwierigkeiten des Handelns zurande zu kommen (VA, 300). Mein Vorschlag, der in den folgenden Kapiteln im Sinne der Fragestellungen aus diesem Zwischenfazit ausgearbeitet werden wird, ist daher der, dass das arendtsche Verzeihen als praktische Umsetzung und Bewahrheitung der theoretischen Einsichten in das nicht-autonome Subjekt gelesen werden sollte, ohne dass mit Letzterem die Kategorien der Identität, Freiheit und Verantwortlichkeit aufgegeben werden müssten. So befindet Arendt sich in deutlichem Kontrast zu denjenigen Vertretern postmoderner Subjektivitätstheorien, die sich gleichwohl auf sie berufen und an zweierlei scheitern: Sie können die genannten drei Begriffe moralischen Selbstbewusstseins nicht überzeugend begründen und handeln sich in Bezug auf Arendt die Schwierigkeit ein, dass sie die Grundbedingung der Pluralität ignorieren und in der Folge nicht mehr angeben können, welche Bedeutung der Natalität (als dem Ursprung allen Ich-Bewusstseins bei Arendt) ohne ein angemessenes Verständnis der Pluralität noch zukommen kann. 143 In der Alternative betreffs des Umganges mit den Handlungsaporien bildet das Verzeihen die Gegenseite zur Abwendung vom gemeinschaftlichen Handeln. Zu dieser Absage an die platonische Identifikation von Freiheit und Souveränität, anders gesagt: Zu dieser Absage an Platons Trennung von Anfangen (Herrschen, Wissen) und Durchführen (Beherrscht-Werden, Tun) gehört die Einschränkung, dass die natalitätsbegabten Menschen frei sind nur im Anfan143 Arendts Handlungstheorie, als ihren Versuch der »Überwindung des klassischen Souveränitäts- und Autonomieparadigmas«, hat Brunkhorst gegen Villas Versuch verwahrt, diese als eine postmoderne Kritik an Konzeptionen persönlicher und politischer Autonomie zu verstehen; Brunkhorst: Arendt, S. 127; vgl. Honig: Towards; Villa: Arendt; siehe auch FN 37, S. 71.
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gen, nur in der Spontaneität. 144 Trotzdem ist das Verzeihen (wie das Versprechen) eine besondere Weise, sich handelnd seiner Freiheit bewusst zu werden, an deren Realisierung die Möglichkeit hängt, sich nicht verächtlich, verzweifelt oder auf andere Weise aus der Welt und den zwischenmenschlichen Angelegenheiten wegen ihrer Zerbrechlichkeit und Unzuverlässigkeit zurückzuziehen. Wenn Menschen ihren Sinn ändern, oder mit einem anderen Ausdruck Arendts gesagt: wenn Menschen bereuen, in ein moralisches Selbstverhältnis eintreten oder zurückkehren und in einem auf diesem Selbstbezug gründenden Bewusstsein der eigenen Geschichte eine neue Richtung geben (vgl. DT, 312), dann können sie »ein so ungeheures und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen […] handhaben.« (VA, 306) Der für die totale Herrschaft anfällige Mensch unterwirft sein Selbstverständnis ganz der Annahme, »daß Widerspruch alles sinnlos macht, daß Sinn und Stimmigkeit das gleiche sind« (EU, 722). Die totalitäre Ideologie – hier ganz bei der entscheidenden Funktion des ideologischen Denkens überhaupt – bietet ihm ein System, in dem alles widerspruchsfrei zusammenpasst, sich das eine aus dem anderen mit zwingender Notwendigkeit ergibt und in dem er alle Unwägbarkeit der »nie versagenden Folgerichtigkeit eines ganz abstrakten logischen Räsonierens« (EU, 724) und der dadurch angeleiteten Herrichtung oder Vergewaltigung der Wirklichkeit anheimgeben kann. Das Handeln und seine beiden zentralen Vermögen zu verzeihen und zu versprechen lassen einen anderen Umgang mit den Widersprüchlichkeiten der persönlichen und der gemeinsamen Geschichte zu. Die vollständige »Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung« (EU, 723), die sich im Grunde »alle Begegnung mit der wirklichen […] Welt versagt […] [und sich] alle Erfahrungen eines menschlichen Lebens erspart« (EU, 724), ist nicht die einzige Antwort auf die Angst, sich »selbst im Widersprechen zu verlieren« 144 Arendt hat zu keiner Zeit eine argumentative Rechtfertigung einer solchermaßen in ihre Handlungstheorie eingeschriebene Freiheitstheorie geliefert, auch nicht in ihrem letzten Werk Vom Leben des Geistes, dessen offenes Ende gerade im Blick auf die Freiheit im nie geschriebenen dritten Band aufgelöst werden sollte. Was wir aber aus den erhaltenen Vorlesungsmanuskripten und Seminarnotizen über Arendts Urteilstheorie, die jene Lösung liefern sollte, ersehen können, ist dies, dass diese Fragmente nicht die These rechtfertigen, Arendt habe den Begriff der Natalität und ihren kantisch inspirierten Begriff der Freiheit aufgegeben; siehe Kapitel 2.b.
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(EU, 723). Wenn Menschen einander verzeihen oder sich gegenseitig Versprechen geben und halten, bedienen sie sich der Spontaneität des Handelns als eines wirkungsvollen Gegenmittels. Der »Akt des Sichaneinanderbindens« (ÜR, 221) ist Arendts Antwort auf das Scheitern praktischer Selbstbestimmung und die Erfahrungen des Erleidens und des Schuldigwerdens. Die Grundbedingung der Pluralität, dass Menschen nur in der Vielheit existieren und nur in der Gegenwart ihresgleichen die Erfahrung der Wirklichkeit und eines menschlichen Lebens machen können, liegt ihrer Überzeugung zugrunde, dass nur gemeinschaftliches Handeln dem Einzelnen ein Selbstverständnis ermöglicht, das auch mit den unweigerlich sich einstellenden Brüchen in der eigenen Lebensgeschichte und der gemeinsamen Geschichte mit anderen Menschen fertig zu werden vermag. Es wendet sich gegen die Maßlosigkeit und die Dramatisierung dieses Scheiterns durch den im eigentlichen Sinne unmenschlichen, weil Menschen unerfüllbaren Anspruch auf ein einheitliches Selbstbild und auf einen widerspruchsfreien, das heißt einen sich zu keiner Zeit selbst verfehlenden Lebensvollzug. Wenn sich Verzeihen und Versprechen daher als Arendts Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und der Unmöglichkeit der Souveränität verstehen lassen und darin auch als Mächte einer eingeschränkten Selbstbeherrschung und -verwirklichung aufgefasst werden könnten, wirft das die Frage auf, inwiefern sie dazu in der Lage sind, nicht nur diese Begründungslast zu tragen, sondern auch die Kritik an der grundlegenden platonischen Zweiteilung und den ihr folgenden Versuchen zu schultern, Handeln durch Herstellen zu ersetzen. Verzeihen und Versprechen können mit den Unwägbarkeiten des Handelns insoweit umgehen, als der platonische »Weg der Selbst-Beherrschung und der Herrschaft über andere« (VA, 312) nicht mehr gegangen zu werden braucht. In dieser Fähigkeit, sich gegenseitig aneinander zu binden, sind sie »die einzigen Bindungen, welche einer Freiheit adäquat sind, die unter den Bedingungen der Nicht-Souveränität gegeben ist.« (VA, 312). In diesem Sinne hat Arendt das Versprechen gegen die Bedeutung abgegrenzt, es könne die Zukunft verfügbar, das heißt beherrschbar machen. Wäre es mehr als eine »Insel in einem Meer der Ungewißheit« (VA, 313) und bahnte es gesicherte Wege in die Zukunft, würde es zu einer Spielart platonischen Herrschens und verlöre seine die Menschen miteinander verbindende Kraft. Und so höbe sich der Gegensatz Arendts zur platonischen Lösung des Problems 182
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auf, und der Unterschied zwischen beiden wäre nur der zwischen Souveränität, die nur dem gemeinschaftlichen Handeln vieler möglich ist, und Meisterschaft, die in der Isolierung ihr Meisterwerk vollbringt (vgl. VA, 314). Und die Rede von den »Heilmitteln« müsste so verstanden werden, dass es sich tatsächlich um Fähigkeiten des Handelns handelte, die den Unwägbarkeiten des Handelns entgingen. Aber obwohl wir wissen, dass solches gerade nicht in Arendts Absichten lag, ist in ihren Überlegungen zu den sogenannten Heilmitteln nur in Ansätzen ein Bewusstsein davon spürbar, dass die aporetische Struktur des Handelns auch auf die aus ihm selbst erwachsenden Vermögen zu versprechen und zu verzeihen Anwendung finden müssen, seinen Unwägbarkeiten zu begegnen. Wie beim Versprechen zielt diese Kritik an Arendt auch beim Verzeihen nicht darauf ab, ihr einen »Rückfall« in platonische Schemata vorzuwerfen. Es sind die von Arendt nicht aufgelösten, aber auf den gezeigten Wegen auflösbaren Widersprüchen in der Formulierung des eigentlichen Gegenstandes des Verzeihungsgeschehens (der Person des Täters) über die Möglichkeit des Rückgängigmachens im Verzeihen, die eine Erklärung dafür bieten können, dass sie dem fundamentalen Umstand nicht hinreichend Rechnung getragen hat, dass die Zerbrechlichkeit, die alles Handeln unter den Grundbedingungen der Natalität und Pluralität unweigerlich in die menschlichen Angelegenheiten hineinträgt, auch vor dem Verzeihen und Versprechen nicht haltmacht. Im günstigen Fall gilt auch für die Neuanfänge des Verzeihens und Versprechens, dass sie sich im undurchschaubaren Bezugsgewebe bewähren müssen und dass wir von ihnen nicht wissen, was aus ihnen wird. Im ungünstigen Fall werden Versprechen nicht gehalten, sondern gebrochen, und genauso können sich die Bitte um oder die Gewährung von Verzeihung als Heuchelei oder arglistige Täuschung entpuppen. Dass man auf solche wiederholte Schlechtigkeit auch im Moment ihrer vermeintlichen Aufhebung in ein neues Vertrauensverhältnis immer wieder mit der Bereitschaft zu weiteren Versprechen und neuerlichem Verzeihen reagieren kann und soll, hat Arendts Gewährsmann in der Sache des Verzeihens, Jesus, vorgeschlagen. Auf Petrus’ Frage: »Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal?« antwortet er: »Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebenzigmal mal siebenmal.« (Mt. 18, 21–22; vgl. Lk. 17, 4) Wo aber die Aussicht auf jenseitige Belohnung fehlt, die möglicherweise die Motivation für diese entweA
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der tugendhafte oder gerade amoralische Bereitschaft zu verzeihen sein mag, ändert das nichts an der Problematik, sondern verschärft sie nur. Das Unverzeihliche, das in der Entscheidungsgewalt des Verzeihenden liegt und ein je anderes ist, ließe sich auf diesem Hintergrund als eine mögliche Antwort Arendts lesen, hätte sie diese Schwierigkeit zum Gegenstand ihrer Ausführungen gemacht. Man wird diese Unklarheiten, ob Arendt sich dieser Grenzen ihrer Heilmittel bewusst gewesen ist, nicht zufriedenstellend auflösen können, auch wenn man sich auf die erwähnten Korrekturen an ihrem Gegenstand des Verzeihungsaktes einigen kann. Denn das Verzeihen wird zunächst als ein Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit eingeführt, das noch offen lässt, ob damit auch ein Rückgängigmachen gemeint ist (VA, 301). In der Folge stehen sich die Person als Gegenstand des Verzeihens und die mal stärkere Redeweise von den Heilmitteln oder die schwächere von den Gegenmitteln (VA, 304) unvermittelt gegenüber. Die hier vorgeschlagenen Präzisierungen im Begriff des Verzeihungsgegenstandes und -geschehens, das den Täter von der unendlichen Last der Schuld entbindet, ohne an der Tat oder der Schuld selbst zu rütteln, bringen es jedenfalls mit sich, dass man Arendts Rede von den Heilmitteln mit Skepsis aufnehmen muss, weil diese in den Vermögen zu verzeihen und zu versprechen mehr zu versprechen scheint, als sie halten kann. Da Arendt sich selbst nicht zu diesen Schwierigkeiten geäußert hat, bleibt an diesem Punkt nur die eben nicht bei ihr selbst vorfindliche Feststellung, dass die Vergeblichkeit des Handelns nicht vor seinen sogenannten Heilmitteln halt macht. Man muss die Klammer der Zerbrechlichkeit auch um die Vermögen zu verzeihen und zu versprechen setzen. 145 Dass Arendt die Zerbrechlichkeit des Verzeihens entgangen ist – was man auch vom Versprechen so sagen kann, weil sich bis auf einen Hinweis auf »das gegebene Wort […], das ja immer auch eine Lüge 145 Aus diesem Grund bin ich skeptisch gegenüber Brunkhorsts Formulierung, dass sich der »Souveränitätsverlust im Handlungsvollzug […] nur intersubjektiv korrigieren läßt«; siehe Brunkhorst: Arendt, S. 127, weil die intersubjektive Korrektur in die Richtung einer Sicherheit weist, die dem Handeln nicht möglich ist, und nicht an der Zerbrechlichkeit von Arendts Heilmitteln gemessen wird. Zudem liegt auch kein Verlust vor, denn Arendt bindet die Möglichkeit menschlicher Freiheit an das menschliche Miteinander, in dem Souveränität weder ein erstrebenswerter noch abzulehnender Bestandteil ist, gerade weil ihr Verzeihen und Versprechen als Quelle menschlichen Stolzes über das den gemeinsam Handelnden Mögliche gelten (siehe VA, 297).
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sein kann« (ÜR, 110), nichts Widersprechendes findet –, kann man in ihren Überlegungen zur Aporie der Unwiderruflichkeit und einem möglichen Umgang mit dieser Ausweglosigkeit im Wesentlichen auf zwei Unzulänglichkeiten zurückführen. Beide hätten sie darauf aufmerksam machen können, dass die aus dem Handeln selbst stammenden »Heilmittel« keine sind, sondern genauso zerbrechlich wie alles andere Handeln auch – wenn man davon absieht, dass sich diese Erkenntnis auch ohne die folgenden Hinweise aus der Konzeption arendtscher Handlungstheorie von selbst ergibt. Was Arendt nämlich erstens in der Vita activa nur in einer kurzen, aber entscheidenden Erwähnung und später im Brief an Auden etwas ausführlicher thematisiert, ist das Phänomen der Reue, die sie zu einer Bedingung für die Gewährung von Verzeihung macht. Wenn nämlich die Reue eine Bedingung im genannten Sinne sein soll und der Verzeihende bei ihrer Erfüllung dazu angehalten – und bei Arendt gar verpflichtet – sein soll, Verzeihung zu gewähren, dann lässt sich – Pflicht hin oder her – die Rede von den Heilmitteln doch noch halten, wenn sich der Verzeihende Gewissheit über die Authentizität der Reue verschaffen kann. Wie das aber vonstatten gehen kann und welche Auswirkungen das wiederum auf die Funktion der Reue innerhalb des Verzeihungsgeschehens hat (siehe dazu Kapitel 7.b), ist eine Dimension des Verzeihens, zu der Arendt sich weitgehend ausgeschwiegen hat. Die zweite Nachlässigkeit betrifft die inkonsequente Durchführung der Überzeugung, dass das Verzeihen ein intersubjektives Geschehen ist, es also Selbstverzeihung (siehe dazu Kapitel 4.f) nicht geben kann (vgl. VA, 302–304, 310 f.). Doch diese Wechselseitigkeit, die Arendt im Brief an Auden anhand des Unterschiedes zwischen der Bitte um und der Gewährung von Verzeihung als »essential for the act of forgiving« (HA/WA, 004865) betrachtet, wird in der Vita activa nicht zur Geltung gebracht. Die einzelnen Elemente des Verzeihungsgeschehens, wie sie sich aus ihren Überlegungen herausschälen lässt, werden dem an die Zwischenmenschlichkeit gebundenen, die Person enthüllenden und dem Bezüge stiftenden Charakter des Handelns nicht zur Gänze gerecht. So betrachtet Arendt die Person des Täters als den eigentlichen Bezugspunkt des Verzeihungsaktes, was mit ihrer grundsätzlichen Überzeugung vom pluralitären Handeln nicht übereinstimmt. Es reicht nicht aus, anlässlich der Abgrenzung zur Rache Täter und Opfer die negative Befreiung von der Rache durch die Verzeihung zu attestieren (vgl. VA, 307). Denn wie A
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wirkt sich das Verzeihen auf die Person des Opfers aus? Von welcher Entbindung könnte man aus seiner Perspektive sprechen (siehe dazu Kapitel 7.c)? Oder aber Arendt begreift die Taten als das Entscheidungsinstrument des Opfers für oder gegen die Gewährung und schreibt damit gleich eine doppelte und in ihrer Berechtigung dahinstehende Einseitigkeit fest, dass nur der Täter in der Bitte um Verzeihung Initiator des Geschehens sein kann, während anderseits unter der Bedingung der von Arendt vorausgesetzten Bitte des Täters nur das Opfer über den tatsächlichen Vollzug des Verzeihens verfügt; eine begrenzte Sichtweise, die sich in der Zuordnung der Motive allein zur Gewährung und nicht zur Bitte um Verzeihung fortsetzt. Auch scheint die Verständigung zwischen Täter und Opfer über die Unrechtmäßigkeit der Tat allein auf das Schuldbewusstsein des Täters und seine Reue abzuzielen, während die Ausformung des Unrechtsbewusstseins auf der Opferseite im Dunkeln bleibt. Das ist eine Schlagseite ihrer Überlegungen, die zwar insofern zu Recht auf das Opfer als den Verzeihenden gerichtet ist, als es in dieser Frage um die Rechtfertigung der Gewährung von Verzeihung geht, die sie in die Hände des Opfers legt. Anderseits begreift sie dort, wo sie zum Kern ihres Verzeihensbegriffes gelangt, das urteilende Freigeben und Gehenlassen der Person allein als ein solches in Bezug auf den Täter. Schließlich kann man im Zusammenhang dieser unzureichend durchgeführten Wechselseitigkeit erneut auf die Reue zu sprechen kommen. Sie ist wesentlicher Teil des Verzeihungsgeschehens, der eine Aufgabe des Täters angibt. Aber bei Arendt geschieht das im Gefolge ihres Gewährsmannes Jesus auf die Art, dass sie wie die Vorhaltung Teil einer Verhaltensanweisung für das Opfer ist, unter welchen Bedingungen es verzeihen darf und soll. Dieser Umweg über das Opfer bringt es mit sich, dass die Reue nicht als eigenständiges und in erster Linie den Täter betreffendes Moment des Verzeihens untersucht wird. Denn die Freiheit des Opfers, nicht zu verzeihen, trifft auf die Freiheit des Täters, nicht zu bereuen. Und so sehr eine Pflicht zu verzeihen fraglich ist, so ist es auch eine zu bereuen. Auch auf diese Art wird klar, dass es keinen Automatismus der Verzeihung gibt und sich auch der Täter für denjenigen Abbruch der Geschichte entscheiden kann, den Arendt nur als Verweigerung der Gewährung von Verzeihung kennt. Diese Freiheit des Täters, die in der Frage der von ihr nicht hinreichend bedachten Zerbrechlichkeit des Verzeihens dem Problem der Glaubwürdigkeit die mögliche Verweigerung des 186
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Bereuens zur Seite stellt, macht es notwendig, die systematische Beziehung der einzelnen Bestandteile des Verzeihungsgeschehens (vgl. Kapitel 3.b.g) zu überdenken. Denn sie stehen offensichtlich in einer komplizierteren Beziehung zueinander, als es die in Arendts Schriften herauslesbare Abfolge von Tat, Reue, Verzeihung und Versöhnung zu behaupten scheint (siehe dazu Kapitel 7–9). Mit der Versöhnung ist eine letzte Schwierigkeit des Verzeihens angesprochen, die sich nicht direkt Arendts mangelndem Verständnis der Zerbrechlichkeit ihrer Heilmittel anlasten lässt, aber doch in diesen Zusammenhang gehört. Zum einen ist das Verzeihen bei ihr der Akt, der die Festschreibung des Täters auf seine Tat verhindert, ihm die Fähigkeit des Anfanges neu zuspricht und den Geschichten eine neue Richtung zu geben imstande ist. Zum anderen aber soll mit der Verzeihung eine persönliche Beziehung etabliert werden (VA, 308), die von Arendt offenbar so gemeint ist, dass diese Beziehung über das Verzeihungsgeschehen selbst hinausweist auf die künftigen Lebensgeschichten der beteiligten Personen. Die Rede von der Etablierung einer persönlichen Beziehung macht die Verzeihung nicht abhängig davon, dass die ihr vorausgehende Tat Teil einer schon vorher bestehenden Beziehung gewesen sein muss. Und auch wenn ihre allgemeine Orientierung am Zusammenleben der Menschen in die Richtung einer künftigen gemeinsamen Geschichte zeigt, äußert sich Arendt letztlich nicht eindeutig über die Verzeihung als Begründung einer gemeinsamen Geschichte von Täter und Opfer als Folge des Verzeihungsgeschehens. Denn als ein Freigeben und Gehenlassen der Person lässt es beide Antworten auf die in der Forschung zumeist unter der Überschrift eines möglichen Zusammenhanges von Verzeihung und Versöhnung verhandelte Frage in Betracht kommen, auch wenn aus der grundsätzlichen Anlage von Arendts Handlungstheorie wegen ihres starken Akzentes auf dem Miteinander der Menschen eine Option für diesen – notwendigen oder möglichen – Zusammenhang ersichtlich ist (siehe dazu Kapitel 9).
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III Vergeben und Verzeihen
Um der zuvor genannten (siehe Kapitel 1.b) und unten näher erläuterten Aufgabe von Teil III und IV nachkommen zu können, füge ich zwei kurze Zwischenbemerkungen ein, die es gleichermaßen erleichtern, erstens die an Arendts Skizze einer Theorie des Verzeihens gestellten Fragen (siehe Kapitel 3.c) zu beantworten, zweitens ihre Gedanken in Beziehung zum gegenwärtigen Nachdenken über das Verzeihen und die ihm verwandten Handlungsweisen zu setzen und drittens einen ordnenden Zugriff auf die bereits innerhalb der philosophischen und erst recht in der interdisziplinären Perspektive teils erheblich voneinander abweichenden und durch die Methoden und Denkstile des jeweiligen Faches geprägten Begriffe des Verzeihens oder dessen, was als Verzeihung ausgegeben wird, zu ermöglichen.
Erste Zwischenbemerkung: Täter und Opfer Die erste Zwischenbemerkung schließt an die Beobachtung an, dass Arendt weder in der Beschreibung noch in der philosophischen Interpretation des Verzeihungsgeschehens dessen Wechselseitigkeit konsequent zur Geltung gebracht hat. Sie argumentiert überwiegend aus der Perspektive des Opfers und nur ausnahmsweise aus der des Täters und übersieht dabei, dass wir bei der Menge der infrage kommenden Taten häufig nicht eindeutig zwischen Täter und Opfer unterscheiden können. Es gibt zwar beziehungslose Taten, in denen das Opfer ganz ohne sein Zutun zum Opfer des Täters wird. Manch ein Amoklauf etwa erfüllt die Bedingung, dass ein Opfer in keiner persönlichen Verbindung zum Täter stand und dass dieser keine Anhaltspunkte hatte, genau diesen Menschen zu seinem Opfer zu machen. In diesem Fall käme die strikte Einteilung in Nur-Opfer-Sein auf der einen und Nur-Täter-Sein auf der anderen Seite in Bezug 188
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Erste Zwischenbemerkung: Täter und Opfer
auf die Geschichte der Tat den tatsächlichen Verhältnissen gleich, eben weil es keine gemeinsame Vorgeschichte von Täter und Opfer gibt. Das aber ist die Ausnahme des Umstandes, dass Menschen in Gemeinschaft leben und die meisten Taten Beziehungstaten mit einer Vor- und Nachgeschichte sind. Noch sollte jene Trennung in ihrer strikten Form zum Strukturprinzip des Verzeihens gemacht werden, weil so dasjenige Leid, das sich in zwischenmenschlichen Beziehungen ereignet, von vornherein von der Möglichkeit der Verzeihung ausgeschlossen wäre und man sich wie bei Arendts abwegigem Ausschluss der absichtlichen Taten aus dem Verzeihungsgeschehen fragen müsste, welchen Sinn ein derart beschränktes Vermögen haben könnte. Wie die Ohrfeige oder der Ehebruch sind die meisten Taten Teil einer Vor- und Nachgeschichte und geschehen nicht aus heiterem Himmel. Zwischenmenschliche Verzeihung muss auf beides antworten können, auf beziehungslose und geschichtliche Taten, von denen die Letzteren unser tägliches Brot sind. Ob die schuldhaften Ereignisse in diesen Beziehungen nun Ausnahmen sind oder ob das Verzeihen am Ende einer Geschichte gegenseitiger Verletzungen steht, ändert nichts daran, dass sich die Brauchbarkeit oder Untauglichkeit des Verzeihens zuerst an diesen gewöhnlichen Taten in gewöhnlichen Beziehungen erweisen muss und nicht voreilig auf die schweren Verbrechen beschränkt werden darf, die wegen ihres Sensationspotentials unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die konstruktive Unterscheidung von Täter und Opfer machen wir aus Gründen analytischer Klarheit in dem deutlichen Bewusstsein davon, dass »Schuld und Unschuld zwischen Menschen meist nicht so eindeutig verteilt« 1 sind, wie es nicht nur Arendt anzunehmen Anschein scheint. Für Arendts Betonung des gemeinschaftlichen Charakters allen Handelns ist diese Präzisierung ein Korrektiv ihrer mangelhaften Durchführung der Wechselseitigkeit des Verzeihungsgeschehens, das in ihren Beiträgen zur deutsch-jüdischen Emigrantenzeitung »Der Aufbau« einen Anhaltspunkt hat. Während des Zweiten Weltkrieges ergriff sie für eine Beteiligung des jüdischen Volkes am Kampf gegen die Nationalsozialisten Partei, weil nur der das Recht Klaus Jacobi: Versöhnung – wo sie not tut – und wo nicht, in: Thomas Eggensperger/ Ulrich Engel/Otto Hermann Pesch (Hg.): Versöhnung. Versuche zu ihrer Geschichte und Zukunft. FS für Paulus Engelhardt OP, Mainz 1991, S. 9–16, hier S. 12.
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III Vergeben und Verzeihen
habe, politische Forderungen zu stellen, der sich an der Befreiung vom Nazi-Joch beteiligt habe. Ihre Kritik an der Neigung, »daß wir [das jüdische Volk, T. D.] uns geradezu rühmen, nur Opfer, unschuldige Opfer zu sein« 2 , ist als Einspruch gegen die über das historische Beispiel hinaus gültige Verlockung zu lesen, es sich in der vermeintlich überlegenen Position des Opfers bequem zu machen. Solche Ausflucht unterschlägt die Gemeinschaftlichkeit der Geschichte überhaupt und mündet in der Selbstaufgabe der individuellen Fähigkeit zu handeln. Und daran kann auch das Opfer kein Interesse haben, was Arendt in ihrem Plädoyer für ein aktives Gegenhandeln der jüdischen Gemeinschaft so formulierte: »Es ist nicht wahr, daß wir immer und überall die unschuldig Verfolgten sind. Wäre es aber wahr, so wäre es furchtbar: Es würde uns nämlich endgültiger ausscheiden aus der Geschichte der Menschheit als alle Verfolgungen.« 3 Allgemein gesprochen mutet daher die Nachgabe gegenüber der Versuchung des Nur-Opfer-Seins wie ein Ablenkungsmanöver von der eigenen Verstrickung an. Denn in der »geschichtlichen Verhaftung«, der niemand entgeht, der unter seinesgleichen lebt, »hört man nicht auf, mitverantwortlich zu sein, nur weil man Opfer von Unrecht geworden ist.« (EU, 29) 4 Hannah Arendt: Eine Lehre in sechs Schüssen (11. August 1944), in: dies.: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941–1945, hg v. Marie Luise Knott, München/Zürich 2000, S. 154–157, hier S. 155. 3 Hannah Arendt: Ceterum Censeo … (26. Dezember 1941), in: dies.: Vor Antisemitismus, S. 29–35, hier S. 31. 4 Der Kontext dieser nun als Prinzip formulierten Verstrickung in die Geschichten und der daraus folgenden persönlichen Mitverantwortung für die Geschichten ist in den Elementen und Ursprüngen Arendts Kritik an der Sündenbocktheorie des Antisemitismus, weil diese eine Beziehung vollkommener und deshalb unmenschlicher Unschuld zwischen dem Opfer und seinen Widerfahrnissen etabliere. Die Überzeugung, dass man sich nicht in der Rolle des unschuldigen, weil untätigen Opfers einrichten darf, wirkt im Eichmann-Buch fort. Was dort am Beispiel der Judenräte für einen Skandal sorgte, hatte zwölf Jahre zuvor niemanden derart gestört, obwohl sie denselben Gedanken am Geschehen in den Vernichtungslagern und an der erzwungenen Verwicklung der Opfer in ihre eigene Vernichtung erörterte (vgl. EU, 692–694). Die von den Nazis betriebene Verwischung der Grenze zwischen Tätern und Opfern ist für Arendt deswegen ein ernstes Problem, weil sie die Kategorien der Schuld und Verantwortung an sich zu Grabe trägt. Dass aber hier Unterscheidungen zu treffen sind, im Beispiel zwischen Nazis und KZ-Insassen und unter den Häftlingen selbst, trennt Arendt, wie gesehen, nicht von einem ihrer schärfsten Kritiker, Scholem, der sich daher wie alle anderen Gegenspieler Arendts in der Debatte um EJ zumindest fragen lassen muss, warum er jenem Argu2
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Erste Zwischenbemerkung: Täter und Opfer
Die Überzeugung, dass niemand nur Opfer oder Täter ist, muss gegen zwei Missverständnisse abgegrenzt werden. Einerseits darf sie nicht auf das Feld kontrafaktischer Spekulationen führen; etwa in der Art, dass der Täter ein Opfer der politischen, sozialen oder anderweitigen Umstände sei und vielleicht aus der Erfahrung erlittener Gewalt heraus agiere. Auch ist mit der Rede von der Selbstverfehlung des Täters durch seine Unrechtstat nicht beabsichtigt, ihn im Stile taktischer Schuldverwischung zum moralischen Opfer seiner Tat zu erheben, hinter dem das moralische und persönliche Opfersein des Opfers seiner Unrechtstat verblasse. Im Verzeihen geht es um einen bestimmten Ausschnitt der gemeinsamen Geschichte, aus dem sich ergibt, wer Täter und wer Opfer im konkreten Fall ist. Aber ebenso wird auf diese Weise die Dichotomie zwischen beiden aufgehoben, weil unter dieser Bedingung auch das Opfer als Teil derjenigen Geschichte sichtbar gemacht wird, die zur Untat geführt hat. Von nachgeordneter Bedeutung ist, ob das der Tat vorangehende Handeln des Opfers nun seinerseits als verzeihungsbedürftig oder nicht angesehen wird. Denn die Wechselseitigkeit des Verzeihens stellt nicht auf das leidige Geschäft des Aufrechnens der aneinander verübten Taten ab, sondern auf ein intersubjektives und nicht intrasubjektives Geschehen, in das sich Täter und Opfer mit ihren je eigenen Ansprüchen und Aufgaben einbringen. Dass wir Opfer und Täter unterscheiden, hat also die Zwecke, dass die Tat nicht verharmlost oder Unrecht gerechtfertigt wird und wir diese Trennung als Teil der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit ansehen, oder anders gesagt: als Bedingung dafür betrachten, dass wir überhaupt sagen können, wer was weshalb getan oder erlitten hat und welche Folgen das für ihn hat. Mit dieser Erläuterung lässt sich auch das zweite Missverständnis, das diese Unterscheidung hervorrufen kann, vermeiden. Denn mit ihrer Hilfe können wir das Verzeihen von der verbreiteten, politischen wie privaten Strategie des Opfer-Seins abgrenzen. Diese Versuchung rührt im Wesentlichen daher, dass sich mit dem Opfer-Status den gesellschaftlichen Gepflogenheiten folgend für gewöhnlich die moralische Vormachtstellung verbindet, auf die nicht nur im politischen Kontext handfeste und nicht nur materielle Vorteile folgen. Wenn der Opferstatus zu einer Waffe wird, verkehrt sich das auf ein ment nicht schon zuvor widersprochen hat – vorausgesetzt, dass er dessen gewahr war (vgl. Kapitel 3.b.g). A
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Miteinander ausgerichtete Handeln zu einem Gegeneinander, das jegliche Verzeihung unmöglich macht. 5 Mit der Unterscheidung von Täter und Opfer ist somit immer auch die jeweilige Dynamik sozialer Machtverteilung angesprochen, die zum einen im realen Verzeihungsgeschehen handfeste Auswirkungen hat etwa auf die Verzeihungsbereitschaft und die Art und Weise, wie um Verzeihung gebeten oder wie diese gewährt wird. Zum anderen aber ist es entgegen der voreiligen Parteinahme für das Opfer aus den genannten Vorurteilen heraus keineswegs notwendig der Fall, dass sich die sozialen Machtverhältnisse zuungunsten des Opfers auswirken. Dass das Opfer das Opfer der Unrechtstat geworden ist, berechtigt uns in der Analyse des Verzeihungsgeschehens nicht zu der Annahme, dass sich das Opfer in Bezug auf die soziale Dynamik der fraglichen Beziehung zum Täter in der unterlegenen, schwächeren Position befindet. 6 Die systematische Konzeption des Verzeihungsgeschehen kann daher unter Berücksichtung jener Unterscheidung der handelnden Personen innerhalb der geschichtlichen Verhaftung den Verzeihenden nicht, auf welche Weise auch immer, »in a position of moral superiority« 7 stellen, die ihm weder in Bezug auf eine beziehungsSiehe zur Strategie der (Selbst-)Viktimisierung Michael Reiter: Opferphilosophie. Die moderne Verwandlung der Opferfigur am Beispiel von Georg Simmel und Martin Heidegger, in: Gudrun Kohn-Waechter (Hg.): Schrift der Flammen. Opfermythen und Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 129–147, bes. S. 129–131; vgl. AT, 8; Govier: Forgiveness and Revenge, S. 49, 128, 152–157 (zu den »temptations of grievance and victimhood«). 6 Dass diese soziale Dynamik überhaupt in der philosophischen Theorie des Verzeihens eine Rolle spielt, ist den psychotherapeutisch und psychologisch informierten Idee der Selbstverzeihung zu verdanken. Weil das Ungleichgewicht sozialer Macht aber ein prinzipielles Element aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist, berechtigt es meines Erachtens nicht zu der systematischen Konsequenz, dass »discussions of forgiveness in our culture, therefore, cannot be seperated from gender politics«, so Judith A. Boss: Throwing Pearls to the Swine. Women, Forgiveness, and the Unrepentant Abuser, in: Laura Duhan Kaplan/Laurence F. Bore (Hg.): Philosophical Perspectives on Power and Domination. Theories and Practices, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 235–247, hier S. 235, oder dass »gender […] central to forgiveness« und es nicht verwunderlich sei, »that philosophers with the most gender-neutral accounts are also the philosophers least likely to discuss power imbalances within relationships«, so Norlock: Forgiveness, S. 4, 3. Während mit dem letzteren Teilsatz durchaus ein erklärungsbedürftiges Desiderat gerade der philosophischen Theorien der Verzeihung benannt ist, ist der Grund dafür nicht notwendig mit ersten Teilsatz benannt. 7 So Joanna North: Wrongdoing and Forgiveness, in: Philosophy 62 (1987), S. 499–508, hier S. 507; vgl. dagegen Jean Hampton: Forgiveness, resentment and hatred, in: Murp5
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Zweite Zwischenbemerkung: Vergeben versus Verzeihen
lose Tat noch auf eine Beziehungstat zukommt. Beanspruchte das verzeihende Opfer diese moralische Überlegenheit für sich, wäre das Verzeihen das ganze Gegenteil dessen, was es bei Arendt ist: ein Freigeben und Gehenlassen der Person auf ihr künftiges Leben hin. Mit der Festschreibung des Täters auf seine Tat durch das Opfer geht auch die Selbst-Festschreibung des Opfers auf das VerletztWorden-Sein einher. Das entgeht den Verfechtern jener moralischen Überlegenheit des Opfers. Die Geschichtlichkeit der Tat hingegen kann ein Anlass sein, um dieser Geschichte oder zumindest um der eigenen Verstrickung willen um Verzeihung zu bitten oder diese zu gewähren. Denn für die Geschichten sind alle, die in ihnen eine Rolle spielen, persönlich verantwortlich, weshalb die Erfahrungen des Scheiterns gemeinschaftliche Erfahrungen sind. Das wechselseitige Verzeihen kann dazu beitragen, trotz des Leids wieder das Gemeinsame hervorzuheben und im günstigen Fall auch die Erfahrung des Schiffbruches zum Teil erneuerter Beziehungen zu machen.
Zweite Zwischenbemerkung: Vergeben versus Verzeihen Die zweite Zwischenbemerkung betrifft die synonyme Verwendung von ›vergeben‹ und ›verzeihen‹, die sich bei Arendt und in weiten Teilen der Forschung findet. Die Alltagssprache bildet das ab, insofern man demjenigen, den man geohrfeigt hat, genauso gut mit den Worten ›Bitte verzeihe mir!‹ wie mit den Worten ›Bitte vergib mir!‹ gegenübertreten kann. Das Deutsche aber trennt zugleich in der alltäglichen Sprache das Vergeben vom Verzeihen, das heißt: die religiöse von der zwischenmenschlichen Sphäre, weil wir von ›Sündenvergebung‹ und nicht von ›Sündenverzeihung‹ sprechen. Man kann diese umgangssprachliche Spur etymologisch weiter verfolgen. 8 Das Verb ›verzeihen‹ geht auf das Verb ›zeihen‹ zurück, hy/dies.: Forgiveness and Mercy, S. 35–87, hier S. 60; Jean Harvey: Forgiving as an Obligation of the Moral Life, in: International Journal of Moral and Social Studies 8 (1993), S. 211–221, hier S. 217. 8 Siehe zum Folgenden Gerhard Angst: Wortfamilienbuch der deutschen Gegenwartssprache, in Zusammenarbeit mit Karin Müller u. a., Tübingen 1998 (Art. ›ver-‹, ›vergeben‹, ›verzeihen‹); Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache in 8 Bänden, 2. völlig neu bearb. und stark erw. Auflage, hg. und bearb. v. Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion, Mannheim u. a. 1995 (Art. ›ver-‹, ›vergeben‹, ›verA
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das ›anzeigen‹ und spezifischer ›auf einen Schuldigen hinweisen‹ oder auch ›beschuldigen‹ bedeuten kann. Denken wir an Arendts Bedingung des Vorhaltens, ist die Ableitung von ›zeihen‹ aus ›zeigen‹ von Interesse, weil aus der indogermanischen Wurzel der Wortfamilie auch der ›Zeiger‹ im Sinne von ›Finger‹ stammt. Jemanden einer Sache zu zeihen, bedeutet also auch, mit dem Finger auf ihn zu zeigen. Das Präfix ›ver‹ hat nun in seiner Verbindung mit dem Verb ›zeihen‹ die Bedeutung von ›etwas in sein Gegenteil zu wenden‹. Demnach bedeutet ›Verzeihen‹, jemanden gerade nicht mehr zu ›zeihen‹, oder in einer modernen Wendung gesagt: ›zu bezichtigen‹, also jemandem ›eine Schuld nicht mehr anzurechnen‹. Grimms Wörterbuch berichtet zudem von der Verwendung im religiös-ethischen Bereich, in dem ›verzeihen‹ besonders auf die Willensentscheidung zu verzeihen im Unterschied zu anderen Handlungsmöglichkeiten verweise. Jedoch habe sich in der modernen Sprache ›verzeihen‹ mehr dem Sinne von ›vergeben‹, ›entschuldigen‹ oder ›nachsehen‹ angeglichen; das jedoch nicht so sehr, dass sich nicht mehr erkennen lasse, dass ›verzeihen‹ dem ›vergeben‹ in der Sinntiefe nachstehe, weil ›vergeben‹ seit seinen ersten Bezeugungen im Gotischen an die christliche Erlösungslehre gebunden sei, während ›verzeihen‹ seine Wurzeln im höfisch-rechtlichen, das heißt im säkularen Bereich habe und erst von dort aus auch in religiösen Zusammenhängen auftauche. 9 Wenn man ›verzeihen‹ im Sinne des eher religiösen ›vergeben‹ gebraucht, trägt man Bedeutungsschichten von ›geben‹ und ›Gabe‹ in es hinein, weil das ›vergeben‹ (nicht das ›geben‹) den Akzent darauf legt, dass man einem anderen etwas schenkt, worauf man einen Anspruch hat, und der Unterschied zwischen ›Verzeihen‹ und ›Vergeben‹ also einer zwischen ›nicht mehr anrechnen‹ und ›seinen Anspruch verschenken‹ (in der Form von ›eine Sache aufgeben, zeihen‹); Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Stuttgart 1854–1954, Nachdruck München 1984 (Art. ›geben‹, ›ver‹, ›vergeben‹, ›verzeihen‹, ›zeihen‹); Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. v. Elmar Seebold, 24. durchges. und erw. Auflage, Berlin/New York 2002 (Art. ›ver-‹, ›verzeihen‹) und das Herkunftswörterbuch, 3 2007 (Art. ›geben‹, ›ver-‹, ›vergeben‹, ›verzeihen‹, ›zeihen‹), die Sinn- und sachverwandten Wörter, 2 1986 (Art. ›vergeben‹, ›Vergebung‹, ›verzeihen‹, ›Verzeihung‹, ›verzeihlich‹, ›Verzeihung‹) und das Bedeutungswörterbuch, 3 2002 (Art. ›vergeben‹, ›verzeihen‹, ›Verzeihung‹) aus dem Hause Duden. 9 Dem folgt das Historische Wörterbuch der Philosophie, siehe Carolin Boßmeyer/Tobias Trappe: Art. Verzeihen; Vergeben, in: HWPh Band 11: U-V, Spalte 1020–1026.
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hingehen lassen‹) ist. Mit der religiösen Herkunft von ›vergeben‹ passt das insofern zusammen, weil in ›vergeben‹ die Sühne als Vorstellung einer göttlichen Gabe oder Schenkung aufgehoben ist, während ›verzeihen‹ stärker auf den Verzicht auf einen Anspruch abhebt. In diesem Sinne ist ›vergeben‹ mit dem lateinischen ›perdonare‹ verwandt, was so viel bedeutet, wie ›jemandem etwas ganz schenken‹. Die Präfixe ›per‹ und ›ver‹ haben in beiden Fällen eine verstärkende Wirkung: Sie sagen aus, dass die bezeichnete Tätigkeit mit einer besonderen Ausdrücklichkeit getan wird. Man schenkt aber entweder ganz oder gar nicht. Und wenn ich jemandem seine Schuld schenke, dann lässt sich ›vergeben‹ nicht als das Nicht-mehr-Vorhalten des Verzeihens verstehen, von dem sowohl bei Arendt als auch in der etymologischen Erläuterung des Zeihens die Rede war, sondern seine Bedeutung ist die eines Gar-nicht-Vorhaltens. Diese etymologischen Erwägungen beanspruchen lediglich, die folgende analytische Unterscheidung von Vergeben und Verzeihen zu plausibilisieren, die den etymologischen Hinweis aufnimmt, dass das Vergeben der religiösen und das Verzeihen der zwischenmenschlichen Sphäre zuzuordnen ist. 10 In der Vergebung, die der christliche Gott dem Täter gewährt, vergibt Gott dem Menschen etwas, was eine Tat innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung war, etwa der in den Dekalog aufgenommene Ehebruch. Was hier geschieht, ist das Eingreifen eines Dritten in ein Ereignis zwischen den Eheleuten, jedoch nicht in der Art, dass dieser Dritte sich daran machte, die zerstrittenen Parteien miteinander auszusöhnen, sondern dass er den Täter in Bezug auf dessen Verstoß gegen das Gebot »Du sollst nicht ehebrechen« maßregelt und gegebenenfalls dem reuigen Sünder vergibt. Der Struktur nach liegt vor: Ein Mitglied einer Gruppe verstößt gegen Normen oder Verhaltensregeln, denen er aufgrund seiner Mitgliedschaft Folge leisten müsste. Die Ordnung dieser Gruppe kennt ein Amt, das mit der Wahrung dieser Normen beauftragt ist und nach bestimmten Regeln die Befugnis hat, Verstöße zu sanktionieren. Im Falle eines Verstoßes gegen die Gesetze eines Landes kann 10 Vgl. in diesem Sinne Derrida: TF, 22 f.; Aurel Kolnai: Forgiveness, in: Proceedings of the Aristotelian Society 74 (1973/1974), S. 91–106, hier S. 94 f.; Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, fünfte, durchges. Auflage hg. mit einem Anhang v. Maria Scheler, Bern/München 5 1966 (= Gesammelte Werke 2), S. 368; Witschen: Bedingungen, S. 105 f.
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der Richter qua seines Amtes eine Strafe gegen den Rechtsbrecher verhängen. Wiederum nach bestimmten Regeln verfügt der Amtsinhaber auch über die Möglichkeit, auf die eigentlich vorgeschriebene Sanktion zu verzichten, das heißt die übliche Rechtsfolge auf den Rechtsbruch auszusetzen, von seiner institutionellen Macht Gebrauch zu machen und dem Täter zu vergeben, im Rechtsstaat heißt das: die noch näher zu erläuternden Möglichkeiten der Amnestie und der Begnadigung anzuwenden. In diesem Sinne ist Vergebung eine institutionelle und hierarchische Handlung, die nur zwischen Mitgliedern einer Gemeinschaft stattfinden kann, die ein entsprechendes Regelwerk hat. Der Unterschied zwischen der Vergebung im staatlichen System und der Sündenvergebung in der christlichen Religion ist dabei der, dass der staatlich bestellte Richter als Würdenträger den Staat repräsentiert, während der christliche Gott in einer personal aufgefassten Beziehung zum Gläubigen selbst Ursprung des Verhaltenskodexes ist. Die entscheidende Gemeinsamkeit besteht darin, dass die geschädigte Person im Vergebungsgeschehen eine sekundäre Rolle spielt. Das Augenmerk des vergebenden Gottes liegt auf dem Verstoß gegen sein Gebot, dessen Geltung vom Täter angezweifelt wurde, und gerade nicht auf dem Leid, das der Ehebrecher seiner Frau zufügt. Die Sündenvergebung handelt von der beschädigten Beziehung des Sünders zu seinem Gott, zur Normeninstanz. Staatliches Vergebungshandeln kann sich auf Rechtsverstöße beziehen, deretwegen nicht unbedingt eine andere Person zu Schaden gekommen sein muss, aber wenn dies der Fall ist, dann schaltet sich eine dritte mit den nötigen Kompetenzen ausgestatte Person ein. Und wenn dieser Dritte vergibt und nicht straft, dann tut er das in der Absicht, den Täter wieder in die Gemeinschaft einzugliedern, der durch seinen Verstoß seine Mitgliedschaft infrage gestellt hat. Von diesem Begriff eines institutionellen Vergebens aus lässt sich ein unmittelbar zwischenmenschliches Verzeihen insofern abgrenzen, als es den auch vergeblichen Sünder (dem Sünder, dem vergeben werden kann) wieder zu einem verzeihlichen Täter macht. Um die Anerkennung des zugefügten Leides und die Übernahme von Verantwortung angesichts des Geschädigten und im günstigen Falle um die Wiederherstellung oder den Neuanfang in persönlichen Beziehungen geht es im Verzeihen. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen Verzeihen und Vergeben ist die Zwischenmenschlichkeit: Das Vergeben betrifft das Verhältnis des Täters zum allgemeinen und 196
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anerkannten Regelwerk seiner Gemeinschaft und seine von ihm selbst angezweifelte Mitgliedschaft. Das Verzeihen betrifft die Beziehung zwischen dem Täter und seinem Opfer und folgt seinerseits bestimmten Vorstellungen, denen aber keine hierarchische oder institutionelle Stärke eignet, sondern die eher den moralischen und nicht rechtlich, sondern bestenfalls sozial bewehrten Gepflogenheiten folgen. Wenn der Staat amnestiert oder begnadigt, dann tut er dies als institutionelles Organ derjenigen Menschen, die sich zu dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen haben und nach deren Regeln er seine Funktion ausübt. Seine Vergebung spricht er nicht für das Leid aus, das dem Opfer zugefügt wurde, sondern für den Regelverstoß. Für das Opfer vergibt der amnestierende oder begnadigende Staat nur in dem engen Sinne, dass auch das Opfer von der Tat betroffen ist, sofern es Mitglied der Gemeinschaft ist. Vergebung geschieht um des gemeinschaftlichen Regelwerkes willen, Verzeihung im Namen der unmittelbar Beteiligten. 11 Diese Unterscheidung von Verzeihen und Vergeben ist der geeignete analytische Griff, die inter- und intradisziplinär auseinanderstrebenden Debatten über das Verzeihen unter ein Dach bringen zu können. Auf diese Weise rückt eine phänomenologische und begriffliche Ordnung der verschiedenen Umgangsweisen mit zwischenmenschlichem Leid und der verbundenen Schuld in Reichweite, die ein präziseres Sprechen über Verzeihung und Vergebung ermöglicht und zugleich in der Lage ist, Verzeihen und Vergeben als vereinbare Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen, weil es in ihnen um verschiedene, aber in dem zugrundeliegenden Geschehen aufeinander bezogene Gegenstandsbereiche geht. Deshalb ist dieser Vorschlag auch anderen Anregungen wie der im theologisch-psychologischen Diskurs vorfindlichen Idee überlegen, das Vergeben den schwerwiegenden und das Verzeihen den 11 Diese Trennung von Vergebung und Verzeihung entlang der Zwischenmenschlichkeit verdanke ich einem Gedankenaustausch mit Georg Lohmann, der mir sein Manuskript »Verzeihen und Vergeben« (Vortrag aus Anlaß des 60. Geburtstages von Klaus-M. Kodalle, Jena, 17. Oktober 2003, unveröffentlichtes Manuskript 2003) zur Verfügung gestellt hat, das in einer leider um die im Titel benannte Unterscheidung gekürzten Fassung publiziert wurde; vgl. ders.: Verzeihen. In Ergänzung zu Lohmann lege ich Wert auf die Feststellung, dass im staatlichen Vergebungshandeln jene dritte Person nur insofern »für« die geschädigte Person Vergebung gewährt, insofern diese Mitglied in der Gemeinschaft ist, sich aber der staatliche Repräsentationsanspruch in keinem Fall auf die Befindlichkeit des Geschädigten selbst oder dessen Beziehung zum Täter ausdehnt; vgl. Lohmann: Verzeihen und Vergeben, S. 11.
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leichteren Taten vorzubehalten. 12 Abwegig ist auch der Vorschlag, das Vergeben als eine allein Gott mögliche Handlung auszugeben, während das Verzeihen eine Fähigkeit und Aufgabe des Menschen sei. 13 Kodalle nutzt ihn, um seine grundsätzliche Ablehnung solcher Versuche darzulegen, weil sie sich »[g]emessen am alltäglichen wie am literarischen allgemeinen Sprachgebrauch« (AT, 4) nicht durchgesetzt hätten. Vielmehr seien beide Wörter ihrem Sinn nach identisch, auch wenn die Theologie »Vergebung« bevorzuge. Die Tatsache zweier Wörter reicht jedoch hin, wegen der sprachlichen Zweiheit über eine Differenz der bezeichneten Phänomene nachzudenken. Dabei wird man den alltäglichen Sprachgebrauch nicht ignorieren können. Man kann ihn aber auch nicht zum Gradmesser der Tauglichkeit und Plausibilität philosophisch-analytischer Begrifflichkeiten machen, als sei jener der eigentliche Prüfstein der Letzteren.
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Verwechslungen
Das Kapitel 4 und die Kapitel 5–6 beschäftigen sich mit zwei Vorarbeiten, ohne die sich die Einzeichnung von Arendts Begriff des Verzeihens in die philosophische Debatte nicht durchführen lässt. Kapitel 4 handelt dabei von der Abgrenzung des Verzeihens von anderen Weisen des Umganges mit zwischenmenschlicher Schuld, die sich mittels der angesprochenen Erweiterung des Quellenkorpus auch im Sinne Arendts in Angriff nehmen lässt. Von Verwechslungen ist nicht deshalb die Rede, weil es sich im Unterschied zum Verzeihen um verwerfliche Möglichkeiten handelte, auf die vielschichtigen Erfahrungen des Leides unter Menschen zu reagieren. Auch behauptet Siehe Reinhard Tausch: Vergeben – ein bedeutsamer seelischer Vorgang, in: Karin Finsterbusch/Helmut A. Müller (Hg.): Das kann ich Dir nie verzeihen!? Theologisches und Psychologisches zu Schuld und Vergebung, Göttingen 2 1999, S. 39–66, hier S. 44; Weingardt: wie auch wir, S. 11. 13 Siehe Dietrich von Hildebrand: Moralia. Nachgelassenes Werk (= Gesammelte Werke IX), Regensburg und Stuttgart 1980, hier S. 324; vgl. dazu Kodalles Kritik in ders: Reinach, S. 71 f., und seinen Hinweis auf die phänomenologische Unsinnigkeit von von Hildebrands zusätzlicher Differenz eines Verzeihens im vollem Sinne aus Demut und Liebe, das nur dem Christen offenstehe, zu einem aus Großmut, das auch dem Heidenmenschen möglich sei; siehe Hildebrand: Moralia, S. 331–333, 342–349, und ergänze dazu Eva Fleischners notwendigen Hinweis, dass »forgiveness is no Christian invention.« (SF, 139) 12
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die These, dass das Verzeihen mit jenen Möglichkeiten unzulässig vermengt wird, nicht, dass es sich in jedem Fall um gegensätzliche Handlungen handelte. Vielmehr sind es von Verzeihung je unterscheidbare Handlungen, die jeweils einen anderen Weg wählen, mit der Unausweichlichkeit der Schuld zwischen Menschen zurande zu kommen. Die Gedanken in den Kapiteln 4–6 greifen daher in der Absicht weiterer phänomenologischer wie begrifflicher Präzisierung des Verzeihens auf Psychotherapie, Theologie und Rechtswissenschaften in dem Wissen aus, dass deren Beiträge zur Frage des zwischenmenschlichen Verzeihens auf eigenen Methoden und Fachsprachen beruhen. Wenn sie dennoch unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Theorie des Verzeihens herangezogen werden und daher ihrer Eigengesetzlichkeit nicht Genüge getan werden kann, geschieht dies in dem Bewusstsein, dass ein interdisziplinäres Gespräch gerade dann von der Differenz der Methoden und Denkstile profitiert, wenn jene Unterschiedlichkeit aus einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachtet wird. a
Die Entschuldigung
In der Riege möglicher Verwechslungen des Verzeihens steht die Entschuldigung in vorderster Reihe. Sie soll in zwei Anläufen vor ihrer Vermengung mit dem Verzeihen bewahrt werden, die in der Alltagssprache beginnt. Das achtlos dahingeworfene »Entschuldige!« oder »Pardon!«, das wir jemanden im Vorübergehen sagen, den wir aus Unachtsamkeit angerempelt haben, erinnert an die imperativische Verzeihungsbitte: »Verzeihung!« oder »Oh, verzeih!«. Wie diese schreibt es dem Angerempelten vor, wie er mit unserer Verfehlung umzugehen hat. Er kann sich kaum gegen die eingeforderte Erfüllung unserer Bitte, die eine unverhohlene Aufforderung ist, wehren. Und doch wäre nicht ein »Entschuldige!« die angezeigte Folge auf den von uns verschuldeten Zusammenstoß, sondern die Frage »Kannst Du mir verzeihen?«, die nicht mit der immer schon gewährten Entschuldigung rechnet. 14 14 Siehe für die Differenz zwischen Verzeihung und Entschuldigung Kathleen Gill: The Moral Functions of an Apology, in: The Philosophical Forum 31 (2000), S. 11–27; Govier: Forgiveness and Revenge, S. 55–59; Lohmar: Moralische Verantwortlichkeit,
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Denn entschuldigungsfähig sind wir erstens dann, wenn man uns zu Unrecht beschuldigt. Wenn mich im Gedränge der Fußgängerzone ein Passant stößt, so dass ich einen Dritten mit zu Boden reiße, dann bin ich es, aufgrund dessen dieser Dritte in Mitleidenschaft gezogen wird, und er kann mir diese Tat zurechnen. Aber im Sinne moralischer Verantwortung schuldig daran, dass er gestürzt ist, bin nicht ich, sondern der unachtsame Rempler. Und wenn ich nun um Entschuldigung bitte, ist das die angemessene Reaktion auf den Vorfall, weil ich nur das Instrument eines von einem anderen angerichteten Schadens war und mich ein ausgesprochener oder von mir in meiner Bitte um Entschuldigung nur vorweggenommener und durch diese selbst bereits abgewiesener Schuldvorwurf zu Unrecht träfe. Ich kann in dieser konkreten Angelegenheit einen Entschuldigungsgrund anbringen, zu denen im Allgemeinen Zwang, Unwissenheit, in manchen Fällen auch Krankheit oder die von Arendt her bekannte Unvorhersehbarkeit der Folgen zählen. Wenn Arendt sich auf Lk. 23, 34, Jesu Kreuzesbitte, beruft und Verzeihung verlangt für diejenigen, die nicht wissen, was sie tun, findet man sich daher an Nietzsches Seite wieder und fragt sich ob dieses Entschuldigungsgrundes, was denn eigentlich verziehen werden kann, wenn sie doch nicht wissen, was sie tun: »Man hat gar nichts zu vergeben.« 15 In der Umgangssprache unterscheiden wir nicht zwischen der Bitte um Verzeihung und der um Entschuldigung, worin ein Grund für ihre Vermengung benannt ist. Doch wenn ich jemandem ansinne, mich zu entschuldigen, gebe ich ihm zu verstehen, dass ich für die fragliche Tat nicht verantwortlich bin und deshalb ein Schuldvorwurf zur Gänze zurückgenommen werden muss. Wenn ich aber um Verzeihung ersuche, gebe ich damit zu verstehen, dass mir die Tat nicht nur zugerechnet, sondern auch die moralische Verantwortung für sie angelastet werden kann. Die Entschuldigung durch einen anderen, die ich genau besehen nicht erbitten muss, sondern verlangen darf, ist der Widerruf einer ungerechtfertigten Anklage, oder anders gesagt: der Hinweis darauf, dass gar keine Verletzung einer Norm oder Regel vorliegt. Wo jemanden auf diese Weise ohne Schuld ist, ist Verzeihung fehl am Platze. 16 S. 318–323; Glen Pettigrove: Understanding, Excusing, Forgiving, in: Philosophy and Phenomenological Research 74 (2007), S. 156–175; Scarre: After Evil, S. 139–155, 161. 15 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: ders.: Werke in drei Bänden, Erster Band, hg v. Karl Schlechta, München 1954, S. 435–1008, hier S. 907. 16 Vgl. hingegen für die Gleichsetzung von Verzeihung und Entschuldigung Ludger
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Von der Entschuldigung unterschieden ist wiederum die Rechtfertigung, weil sie eine Differenz in der moralischen Beurteilung zu verstehen gibt. Während die Entschuldigung nicht darüber streitet, ob ein Rempler im engen Gedränge grundsätzlich etwas ist, das zu vermeiden zu den Pflichten eines jeden gehört, macht die Rechtfertigung genau dies zum Problem. So kann ich jemandem entgegnen, dass es einfach zum Wesen des Gedränges in Fußgängerzonen gehört, mit anderen Passanten zusammenstoßen, und wegen solcher Bagatellen niemand berechtigt ist, dem anderen böse Absichten zu unterstellen. Gleichwohl kann der andere darauf beharren, dass schon ein versehentlicher Rempler das Gebot der Achtsamkeit verletze. Wie auch immer dieser Streit ausgeht, ist auch die anerkannte oder abgelehnte Rechtfertigung nicht mit Verzeihung gleichzusetzen. Zweitens ist von der Entschuldigung die Entschuldung abzugrenzen, die man sich selbst gewährt oder von geneigten Personen zusprechen lässt, ohne dass im Verein mit allen Betroffenen festgestellt worden wäre, dass man für die fragliche Tat keine Verantwortung zu übernehmen hat. Wir ziehen uns angesichts von Schuldvorwürfen lieber in die Gesellschaft »exkulpationsbereiter Freunde« zurück und stützen uns auf eine »Ingroup-Nachsichtigkeit« 17 , die nur eine andere Spielart derjenigen Solidarität mit den Tätern ist, von der Arendt sprach, als sie die Schulderklärungen der Unschuldigen geißelte, weil sie in ein absichtsvolles Dunkel führe, in dem alle gleich schuldig, also unschuldig sind. 18 Solche Entschuldung ist ein Selbstverhältnis desjenigen, der sich einer expliziten oder nur imaginierten Beschuldigung gegenübersieht, weil die anderen, deren entlastende Bestätigung er einholt, nur ein Spiegel seiner Empörung über den beschuldigenden Vorwurf sind. Solches Vorgehen zeigt oftmals das ganze Gegenteil an, nämlich eine Disposition des Selbstentschulders, dass er den Schuldvorwurf insgeheim für gerechtfertigt hält. »Wer sich entschuldigt, beschuldigt sich selbst.« 19 Oeing-Hanhoff: Verzeihen. Ent-schuldigen. Wiedergutmachen. Philologisch-philosophische Klärungsversuche, in: ders.: Metaphysik und Freiheit. Ausgewählte Abhandlungen, hg. v. Theo Kobusch und Walter Jaeschke, München 1988, S. 45–56 (erstmals 1978), hier S. 47 f; Nicholas Tavuchis: Mea Culpa. A Sociology of Apology and Reconciliation. Stanford 1991; 17 Kodalle: Verzeihung nach Wendezeiten, beide Zitate S. 45. 18 Siehe diese mehrfach geäußerte Überzeugung Arendts in EJ, 24; dies.: Der »Fall Eichmann«, S. 39; RJ, 147. 19 Hannah Arendt an Walter Benjamin am 22. Oktober 1939, in: Hannah Arendt – WalA
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Zur Veranschaulichung sei an Maschmann erinnert, die als selbst auferlegte Buße für ihr Tun während der NS-Zeit karitative Arbeit in Indien verrichtete und den Erfolg dieses Unternehmens so beschrieb, dass ihr die verzeihende Liebe, die ihr in den indischen Menschen begegnet sei, geholfen habe, mit ihrer Geschichte fertig zu werden. Was ihr Vorgehen zur Selbstentschuldung macht, ist ihr Selbstzuspruch jener angeblich verzeihenden Liebe, der ihr Entlastung verschafft, ohne dass sie sich mit denen in ein Einvernehmen gesetzt hätte, die von ihrem, nun als Unrecht betrachteten Tun betroffen waren. Und der kurze Briefwechsel mit der nur als Stellvertreterin agierenden Arendt zeigt zum einen, dass die Entlastung von den Betroffenen weitaus schwerer zu bekommen war als von den Nicht-Betroffenen, und zum anderen die Verführungskraft der Selbstentschuldung an sich. Das Bewusstsein des von ihr selbst getanen Unrechts trennt Maschmann zwar von denen, die sich selbst umstandslos entschulden, aber die Strategie ihres Umganges ist dieselbe. Weder von Verzeihung noch von Entschuldigung, die beide den persönlichen Umgang der am fraglichen Geschehen Beteiligten verlangen, kann angesichts der für sie befreienden Liebe der indischen Menschen, um die sie sich kümmerte, die Rede sein. 20 Im Ergebnis ist die Entschuldigung genau die (in Kapitel 2 und 3 mehrfach nachgefragte) Möglichkeit, auf die Erfahrung zwischenmenschlichen Leids zu reagieren, die zu Arendts Verfehlungen gehört. Verfehlungen hatte sie als die Folgen unserer Taten bestimmt, die sich ohne unser Zutun aus den Anfängen ergeben, die wir in die ter Benjamin: Briefwechsel (1936–1940), in: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, hg. v. Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla, Frankfurt/Main 2006, S. 121–141, hier S. 132. Als Beispiel für diese Disposition kann die westdeutsche Praxis kollektiver Selbstentschuldung in den fünfziger Jahren gelten. Vgl. dazu Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, vor allem Teil I über die vergangenheitspolitische Gesetzgebung; siehe auch Jaspers: Schuldfrage, S. 49–51. 20 Siehe Maschmann: Fazit, S. 213, und die Fortschreibung von Maschmanns Strategie bei Traugott Koch: Strafe und Schuld im Horizont von Reue und Vergebung, in: KlausMichael Kodalle (Hg.): Strafe muß sein! Muß Strafe sein? Philosophen – Juristen – Pädagogen im Gespräch, Würzburg 1998, S. 69–80, hier S. 78, und Kodalle, AT, 51 f., der Kochs Interpretation übernimmt. In derselben Selbstentschuldung übt sich auch von Wiese, der die Debatte um die NS-Vergangenheit seiner Generation mit dem Hinweis erledigt wissen möchte, dass diese ganze Fragerei eine Kluft wieder aufreiße, die sich doch längst organisch geschlossen habe. Die Kluft, von der er spricht, ist jedoch nur die zwischen Remigranten und von Wieses »Opfern des Zeitgeistes« und wird von Arendt entsprechend als Verfälschung der Tatsachen kritisiert (siehe HA/BW).
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Verwechslungen
Welt setzen, ohne auch nur im Geringsten absehen zu können, dass sie für andere leichtere oder schwerere Nachteile bewirken (siehe das Beispiel der Mütter contergangeschädigter Kinder in Kapitel 2.c.g). Die Verfehlungen aber können nicht als Teil des Verzeihungsgeschehens behandelt werden, weil sie nicht zu den persönlich zu verantwortenden Handlungen zählen. Wenn wir also den in Arendts Begriff der Verfehlungen auch angesprochenen Unterschied zwischen Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit begründet geltend machen können, dann trifft uns keine persönliche Schuld, sondern wir haben in diesem Fall das Recht auf Ent-Schuldigung: Wir werden wieder in den Stand zurückversetzt, in dem wir uns befanden, bevor uns der ungerechtfertigte Schuldvorwurf traf. Entschuldigung, Rechtfertigung und in den beschriebenen Grenzen die (Selbst-)Entschuldung gehören jedoch insofern zusammen, da sie dasjenige Urteil in sein Gegenteil verkehren, dass es überhaupt etwas zu verzeihen gibt. b
Die Nachsicht
Eine zweite Form der Verwechslung des Verzeihens oder seiner Eintrübung ist die Vermengung mit der Möglichkeit, Nachsicht zu üben. Aus der Sicht dessen, der verzeiht, hat Jankélévitch diesen Vorgang in kritischer Absicht eine intellektuelle Entschuldigung genannt, die deshalb auf eine Verzeihung hinauslaufe, weil sie im Grunde die Nichtigkeit des Übels anerkenne. 21 So könnte man dem Raubein, das sich darauf beruft, dass das Anrempeln zu den Fährnissen der Fußgängerzone gehört, und sich so zu rechtfertigen sucht, zwar die Zustimmung verweigern und an dem Gebot der Achtsamkeit festhalten. Aber zugleich stünde dem kaum etwas im Wege, wegen der Nebensächlichkeit eines folgenlosen Zusammenstoßes nachsichtig zu sein und die Unachtsamkeit zu erdulden, weil man das Geschehen nicht für den geeigneten Anlass hält, das Gebot der wechselseitigen Rücksicht durchzusetzen. 21 Siehe F, 57–92. Dass Jankélévitch selbst intellektuelle Entschuldung als Unform der Verzeihung zurückweist (F, 60), kommt in Crespos Interpretation ebenso zu kurz wie ihm entgeht, dass Jankélévitch von Nachsicht und nicht von Entschuldigung hätte sprechen müssen, unter welchen Oberbegriff auch das Verstehen falle, von dem in der bekannten Gleichsetzung des Verzeihens mit dem Verstehen die Rede ist (F, 66–70, 93); vgl. Mariano Crespo: Das Verzeihen. Eine philosophische Untersuchung, Heidelberg 2002, hier S. 31 f.
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III Vergeben und Verzeihen
Nachsicht fußt auf dem Entschluss, eine Handlung gewissermaßen nicht als die zu nehmen, die sie ist. Das fällt uns je nach dem Grad unserer Betroffenheit leichter oder schwerer. Und man mag aus der Scheu vor Konflikten sich lieber einreden, dass ein Streit nicht lohnt, und seine Kräfte darauf verwenden, die Tat als eine Bagatelle zu sehen. Wie dem auch sei, die Nachsicht geht mit dem Bewusstsein zusammen, dass ein Verstoß gegen eine Regel oder Norm vorliegt, denn zu ihr gehört die Entscheidung des Geschädigten, sich nicht gegen die Tat zur Wehr zu setzen. Ob wir unsere Überzeugung nun dem Rempler kundtun oder ob wir es vorziehen, mit einem Stirnrunzeln unserer Wege zu ziehen, ändert nichts daran, dass die Nachsicht weder eine Entschuldigung ist, weil ihr ein Unrecht vorliegt, noch ein Verzeihungsakt, weil sie davon absieht, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Was mit der Nachsicht angesprochen ist, kann man anhand Kodalles später ausführlicher zu untersuchenden Versuches verdeutlichen, das Eltern-Kind-Verhältnis als Modellfall des Verzeihens zu etablieren. Eltern sind angesichts der vielen kleinen und großen Ärgernisse ihrer Kinder angehalten, ihre Überlegenheit nicht auszuspielen und nicht zu reagieren, als hätten sie erwachsene Mitmenschen vor sich, sondern sie müssen »situationsspezifisch, nicht delikt-spezifisch« (AT, 25) reagieren. Damit ist genau die Situation der Nachsicht beschrieben, in der wir jemandem im sicheren Wissen, dass er etwas Falsches getan hat, eine an sich gerechtfertigte Sanktion ersparen. Wir sehen von unserem Recht ab. Wir bestrafen das Kind nicht, wir verlangen keine Entschuldigung und wir erwarten auch keine Bitte um Verzeihung. Die irrende Kennzeichnung der Nachsicht als »Abschattung« (AT, 13) der Verzeihung ist wie folgt erklärlich. Was nämlich die Nachsicht mit der Verzeihung verbindet, ist gerade ihr Widerstand gegen Bestrebungen, »individueller Verantwortung eine Art Ausnahmecharakter zuzuschreiben.« 22 Sie artikuliert ihr Unrechtsbewusstsein. Aber anders als das Verzeihen verlangt sie keine Reue oder konkrete Verantwortungsübernahme (auch wenn sie darauf hoffen mag) und belässt es dabei, den Täter wissen zu lassen, dass Kodalle: Verzeihung nach Wendezeiten, S. 51. Gleichwohl lässt sich keine Klarheit für Kodalles Begrifflichkeiten erreichen, weil er Nachsichtigkeit, Entschuldigung und Verzeihen nicht in ein erläutertes Verhältnis zueinander setzt; siehe dazu ausführlich Kapitel 7.b.b.
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man um das Unrechte seiner Tat weiß. Auf exakt diese Weise verhält sich Arendt gegenüber dem uneinsichtigen von Wiese. Ihm schreibt sie auf seine Rechtfertigungsversuche hin, dass sie ihn »weiss Gott nicht verdammen« wollte. Aber sie sei nach wie vor der Ansicht, dass er nicht genügend über die Dinge nachgedacht habe und es besser wäre, »den Mund zu halten, wenn Du keine Klarheit hast. […] Ihr habt […] zweimal versagt, nicht nur unter Hitler, sondern vor allem danach. Wie das aber auch sei, lass uns wieder Frieden schliessen und uns nicht auf unsere alten Tage in die ergrauten Frisuren geraten.« (HA/BW, 010330) In welchen Fällen wir die Nachsicht der Verzeihung oder anderen Handlungsweisen vorziehen, mag auch davon beeinflusst sein, was wir über die Umstände der Tat wissen und inwieweit uns der Täter dazu erklären kann, weshalb es zu jenem Ereignis kommen konnte. Wir mögen dann eher geneigt sein, von seiner persönlichen Verantwortung abzusehen und uns für die Nachsicht anstelle der strengeren Verzeihung zu entscheiden. Mildernde Umstände, die am Unrechtmäßigen der Tat nicht rütteln, erkennen wir etwa an, wenn es sich um einen jugendlichen oder in anderer Hinsicht unerfahrenen Täter handelt oder wenn sich jemand in einer schweren persönlichen Lage befindet. 23 Und insofern der Täter in diesem Vorgang eine Rolle spielt, gehen auch rechtfertigende Elemente in die Nachsicht ein. Die Nachsicht kann daher nicht auf Arendts Verfehlungen Anwendung finden, gerade weil sie auf der persönlichen Verantwortung des Täters fußt und in ihrem Kern ein Absehen von der konkreten Geltendmachung persönlicher Verantwortung etwa durch ein Schuldbekenntnis oder die tätige Beglaubigung von Reue ist. c
Die Gnade
An die Nachsicht schließen sich zwei weitere Verwechslungen des Verzeihens an, in die auf unterschiedliche Weise Elemente der Nachsicht eingehen. Dass zu dieser eine gewisse Großzügigkeit gehört und sie durchaus mit Groll oder Vorbehalten gegenüber dem Täter einhergehen kann, gibt die Gelegenheit, von ihr und dem Verzeihen 23 Vgl. Witschen: Bedingungen, S. 110 f.; siehe ferner zum Zusammenhang von Nachsicht, persönlicher Verantwortung und mildernden Umständen F, 70–82, 91; Robert C. Roberts: Forgivingness, in: APQ 32 (1995), 289–306, hier S. 294–296.
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die Gnade zu unterscheiden. Angesprochen ist nicht die sogenannte Gnade, die als Begnadigung oder in Anrechnung mildernder Umstände vor Gericht mit strafverringernder Wirkung gewährt wird. In den Fokus rückt vielmehr die auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zu beschränkende Gnade, die ein Opfer einem Täter ohne Zwischenschaltung vergebender Instanzen in Aussicht stellt und die sehr viel weniger die bewundernswerte oder Respekt heischende Geste ist, für die sie gemeinhin gehalten wird. Die Stellungnahmen, die Gnade, Begnadigung, Erbarmen, richterliche Milde und mildernde Umstände über die disziplinären Grenzen hinweg ohne hinreichendes Differenzierungsbewusstsein benutzen, schenken vor allem dem Abgrund zu wenig Beachtung, der die regelgestützte Begnadigung von der im Unterschied dazu regellosen Gnade trennt, die ein Mensch dem anderen erweist. Rechtsintern unterscheidet man das Begnadigungsrecht als Recht zu begnadigen von dem Gnadenrecht als den gnadenrechtlichen Vorschriften. Damit kann man die staatliche und die gesellschaftliche Dimension (man denke an Satzungen von Vereinen und Verbänden) auseinanderhalten, aber die Abgrenzung zu der Gnade zwischen Menschen ist so unmöglich und kann auch nicht mit dem davon unterschiedenen Erbarmen beschrieben werden. Abgesehen von der Unterscheidung zwischen Gnade und Begnadigung ist der hier vorerst interessierende Gegenstand der Unterschied zwischen Gnade und Verzeihung. 24 Von Arendt her weitergedacht wird er greifbar in den gegensätzlichen Paaren von Verpflichtung und Drohung, Pluralität und Souveränität sowie Handeln und Herrschen. Was der Verzeihung vor allem von denjenigen, die gegen ihre Bedingung der Reue angehen, vorgeworfen wird, dass sie den Schuldigen im Zustand der Schuld festhalte und entwürdige, ist vielmehr ein Einwand gegen die Gnade. Denn sie schreibt die Großherzigkeit, die noch mit der Nachsicht oder Duldung einhergehen kann, fort in Richtung auf ein Verschuldet-Sein des Täters, Siehe die Ausgabe der Begnadigung als Gnade bei Alwynne Smart: Mercy, in: Philosophy 43 (1968), S. 345–359, und das gegen Smart gerichtete Plädoyer für die Eigenständigkeit zwischenmenschlicher Gnade von P. Twambley: Mercy and Forgiveness, in: Analysis 36 (197/76), S. 84–90. Vgl. zum folgenden Card: Atrocity, S. 173, 189–194; George W. Rainbolt: Mercy: An Independent, Imperfect Virtue, in: APQ 27 (1990), S. 169–173, und vor allem Twambley: Mercy, und die einführenden Überlegungen von Hussain/Sarat: Towards, zur Unterscheidung von »forgiveness« (Verzeihung), »mercy« (Gnade) und »leniency/clemency« (Milde/Begnadigung).
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dem keine Selbstverpflichtung des Opfers entspricht, wie sie das Verzeihen als ein Freigeben und Gehenlassen kennt. Ganz im Gegenteil kehrt mit der Gnade in die Beziehung von Opfer und Täter ein bedrohliches Element ein, weil das Opfer den Täter beherrscht, indem es die Geltendmachung seiner Ansprüche aus der Tat in der Hinterhand hält. Dass diese strategische Reserve gegen den Täter eingesetzt werden kann in den Akten der Gnade, die immer die Unterordnung des schuldigen Täters unter das Opfer offenbar machen, trennt diese möglicherweise von der Nachsicht und sicher von der Verzeihung, die ohne Gesten der Hierarchisierung auskommt. War der Täter in der Tat der Souverän, der sich zum Herrscher über das Opfer aufgeschwungen hat, verkehren sich die Verhältnisse in der Gnade: Nun ist das Opfer souverän – und zwar souverän, weil die Gnade auf das Wissen von Opfer und Täter setzt, dass das Opfer in der Gewährung von Gnade die Gerechtigkeit außer Kraft setzt. Denn der nach gerechten und anerkannten Maßstäben dem Opfer zustehende Anspruch wird nicht eingefordert. Geltende Regeln werden gebrochen. Und das Bewusstsein dieses Regelbruches und der Ungerechtigkeit der Gnade ist dem Opfer als Macht und dem Täter als Ausgeliefertsein eingeschrieben, gerade weil beide um den Gegensatz zwischen Gnade und Gerechtigkeit wissen und die Möglichkeit im Raume steht, dieses Missverhältnis jederzeit zugunsten der Gerechtigkeit aufzulösen, ohne dass dafür ein Regelwerk wie bei der Begnadigung zur Verfügung stünde. Das Opfer hat zwar seine Rechte erwogen und sich zum Verzicht auf deren Einlösung entschlossen. Aber diese Verzichtserklärung muss sich nicht notwendig aus Mitgefühl oder Mitleid speisen. Sie kann auch weniger ehrbare Motive haben, weshalb die Gnade nicht ohne Weiteres eine Tugend ist und ihre Antwort aufseiten des Täters nicht etwa die Dankbarkeit sein muss, 25 sondern vielmehr die Furcht vor der möglicherweise noch folgenden Einlösung der strategischen Reserve des Opfers sein kann. Dieser Umstand verleiht der Gnade ihren bedrohlichen Charakter, der im Gegensatz dazu steht, dass sie ihrem Wortlaut nach zumeist eine befriedete Beziehung zwischen Täter und Opfer in Aus25 Siehe die Engführung der Gnade auf ihren Tugendcharakter bei Haber: Forgiveness, S. 65; Kathleen Dean Moore: Pardons: Justice, Mercy and the Public Interest, Oxford 1989, S. 188; Rainbolt: Mercy; und zur Reaktion der Dankbarkeit bei Card: Atrocity, S. 189.
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sicht stellt, und der sie vom Tun des barmherzigen Samariters (siehe Lk. 10,25–37) trennt. Und im Unterschied zum Verzeihen ist sie kein Freigeben und Gehenlassen im Sinne Arendts, sondern sie bindet beide nach Maßgabe jenes Bedrohlichen aneinander. Das Verzeihen hingegen bindet Täter und Opfer durch die Bitte um und die Gewährung von Verzeihung im Sinne von Selbstverpflichtungen aneinander. d
Die Verharmlosung
Die zweite Verwechslung des Verzeihens, die an die Überlegungen zur Nachsicht anknüpft, ist das Verharmlosen, das zu einem Verschweigen werden kann. Nicht nur ist die Nachsicht letztlich nicht trennscharf von der Gnade zu trennen. Überschneidungen ergeben sich auch mit der Verharmlosung und dem Verschweigen an dem Punkt, an dem sich die Frage nach der Versprachlichung der Nachsicht gestellt hatte. Denn wenn der Nachsichtige sich nicht an den Täter wendet, dann entscheidet er sich dafür, sein Unrechtsbewusstsein für sich zu behalten. Die Verharmlosung, die solches Verschweigen ist, geht zur Tagesordnung über und sieht nach außen über das Unrecht hinweg. Sie unterdrückt gerade den Impuls, sich gegen das Unrecht zu wehr zu setzen und ist gerade darin eine stillschweigende Verharmlosung. 26 Deshalb ist die Vorzugswürdigkeit des Verharmlosens gegenüber dem auf der Verantwortlichkeit bestehenden Verzeihen keine Selbstverständlichkeit. Umgekehrt liegt die Rechenschaftspflicht aufseiten der Verharmlosung. Sie entschuldigt den Täter zwar nicht, aber sie begibt sich in eine Art Mittäterschaft, weil sie anders als das Verzeihen auf eine unmissverständliche Stellungnahme zur unrechten Tat verzichtet und in solchem Stillschweigen die Richtung einer – das ist entscheidend – äußerlichen Anerkennung der Tat einschlägt. Denn Weil Langenscheidts Wörterbuch das englische ›to condone‹ auch mit ›verzeihen‹ übersetzt, sieht sich Scheiber: Vergebung, S. 3, 268–269, in der Lage, das Verzeihen ausschließlich als ein »duldendes Verzeihen« zu bestimmen, das bei ihr der stillschweigenden Duldung gleichkommt, die »auf einen moralischen Protest« verzichte. Weil sie nicht zwischen expliziter und stillschweigender Nachsicht unterscheidet und weder die deutsche Etymologie noch die philosophische Begriffssprache des Verzeihens noch die Tatsache berücksichtigt, dass ›to forgive‹ und nicht ›to condone‹ die übliche Übersetzung von ›verzeihen‹ ins Englische ist, steht dieser terminologische Versuch auf dünnem Eis. Die angelsächsische Forschung verwendet ›forgiveness‹ und ›condonation‹ denn auch im Sinne des deutschen Unterschiedes zwischen ›Verzeihung‹ und ›Verharmlosung‹.
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»[c]ondonation means that Fred [the victim, T. D.] is clearly aware of Ralph’s [the perpetrator’s, T. D.] wrongdoing […] and per se disapproves of it but deliberately refrains from any retributive response to it.« 27 Wird die Verharmlosung jedoch in Worte gefasst, hat sie ein zweifaches Gesicht. Auf der Täterseite ist sie an der imperativischen Form der umgangssprachlichen (und nicht begriffssprachlichen) Verzeihungs- oder Entschuldigungsbitte erkennbar. Denn dass wir uns in alltäglichen Situationen oft für »Oh, verzeih!«, seltener für »Bitte verzeih/vergib!« und am seltensten für die Frage »Verzeihst/vergibst Du mir?« entscheiden, zeigt unsere gewöhnliche Tendenz zur Verharmlosung an. In der imperativischen Form geben wir unserem Gegenüber immer schon zu verstehen, dass er sich nicht anstellen und über die fragliche Tat hinwegsehen möge. Und selbst die Frageform drückt in Alltagssituationen oft die sichere Erwartung aus, dass ihr entsprochen wird. Auf diese Weise nimmt der Täter seinem Opfer nicht nur die Freiheit, über seine Reaktion selbst zu entscheiden, sondern er bestreitet seine Verantwortung und die Verzeihungsbedürftigkeit des Geschehens, weil die imperativische Verzeihungsbitte der unverhohlenen Forderung gleicht, ihn zu entschuldigen. Auf der Opferseite wendet die Verharmlosung die Strategie der guten Miene zum bösen Spiel an. Sie lässt die Dinge nicht auf sich beruhen wie das Verschweigen oder die Nachsicht, sondern geht einen Schritt weiter. Sie spielt das Unrecht herunter und bestreitet vielleicht gar wider besseres Wissen, dass die Tat ein Unrecht war, verleugnet die innere Verletztheit und bagatellisiert nach außen. Dieser Übergang vom Stillhalten zu einer aktiven Beschönigung verkauft das Verzeihen für zu billige Münze und verdient seinen Namen nicht, vor allem deswegen, weil »[p]eople who forgive too readily […] do not manifest the right degree of self-respect; they underestimate their own worth and fail to take their own projects and entitlements seriously enough.« 28 Wir finden hier einen Gedanken wieder, der bereits aus den Untersuchungen zu Arendts Begriff des Verzeihens und seinen Anleihen bei der jesuanischen Lehre bekannt ist. Denn es ist die Vorhaltung, die klare Benennung des Unrechtmäßigen der Tat, die das Kolnai: Forgiveness, S. 95. David Novitz: Forgiveness and Self-Respect, in: Philosophy and Phenomenological Research 58 (1998), S. 299–315, hier S. 299. 27 28
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Verzeihen daran hindert, mit der Verharmlosung und dem Verschweigen oder der Nachsicht und der Duldung in einen Topf geworfen zu werden. »But rebuking the wrongdoer […] highlights the point that the act of forgiveness […] is not designed to minimize the offense«. 29 Es ist allerdings voreilig, das leichtfertige Verharmlosen auf mangelnden Selbstrespekt zurückzuführen. Das überzeugt nur dann, wenn man fälschlicherweise annimmt, dass die Verharmlosung von dem eigentlich angezeigten moralischen Protest gegen das Unrecht nichts, schlechterdings gar nichts weiß. Diese Annahme verkennt ihrerseits, dass, wer verharmlost, sich dafür entscheidet, eine Sache in einem günstigeren Licht darzustellen, als nach seiner Überzeugung angebracht wäre. Aus diesem Grund ist Jean Hamptons Vorschlag nicht überzeugend, die Verharmlosung gänzlich von dem moralischen Protest gegen das Unrecht zu lösen, denn sie verzichtet nur auf den äußeren Protest, setzt den inneren aber gerade voraus. 30 Gründe für die Verharmlosung mag es viele geben: Man will eine lästige Debatte vermeiden, zieht den Status Quo den Unwägbarkeiten einer Auseinandersetzung vor. Vielleicht hoffen wir, auf Umwegen eine Verhaltensänderung beim Täter herbeiführen zu können, weil der lautstarke Protest eine Besserung der Verhältnisse verunmöglichen würde. 31 Oder wir wollen im Gegenteil die Person des Täters aus unserem Umfeld entfernen und gedenken ihn auf diese Weise loszuwerden. Diese Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten verlängern, aber es dürfte auch so hinreichend deutlich sein, dass Verschweigen, Verharmlosen und beschwichtigendes Beschönigen nicht per se verwerflich sind, denn »[t]o condemn all condonation might, however, amount to overseverity; for it seems plausible that without condoning some faults we could not possibly live together with others nor, for the matter of that, with ourself.« 32 Es ist nicht ratsam, in dem Bestreben, das Verzeihen als eine zwischenmenschliche Handlungsweise zu etablieren, die mit der Fehlbarkeit und der Unausweichlichkeit des Scheiterns praktischer Selbstbestimmung umzugehen versteht, angesichts der Ambivalenz Newman: The Quality of Mercy: On the Duty to Forgive in the Judaic Tradition, in: Journal of Religious Ethics 15 (1987), S. 155–172, hier S. 162. 30 Siehe Hampton: Forgiveness, resentment and hatred, S. 40. 31 Wie David Novitz gezeigt hat, verwechselt Joanna North solches Vorgehen mit dem Verzeihen; siehe ders.: Forgiveness, S. 307; vgl. North: Wrongdoing, S 504–506. 32 Kolnai: Forgiveness, S. 96. 29
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moralischer Autonomie immer diejenigen Handlungsweisen vorzuziehen, die den Menschen ohne Rücksichtnahme auf die konkrete Situation ihre Verantwortlichkeit im strengen Sinne zumuten. Sicher ist hingegen, dass das Verharmlosen oder Verschweigen, ob nun aus »Bequemlichkeit, Feigheit, Gleichgültigkeit« (AT, 73) oder anderen Gründen, nicht dem Verzeihen gleichkommt, was auch Arendts Ansicht zu diesen Verwechslungen des Verzeihens gewesen sein dürfte. Dass sie die Entscheidung für oder gegen das Verzeihen in die Freiheit des Opfers gestellt hat, lässt vermuten, dass sie nicht per se das Verzeihen als das vorzuziehende Handlungsvermögen angesehen hätte. Denn die Bedingungen des Vorhaltens und der Reue sind eben Bedingungen des Verzeihens und nicht des Verschweigens und so weiter. Einen Hinweis, der gleichwohl ihre Option für das verantwortlich machende Verzeihen im Unterschied zur Verharmlosung und dergleichen wahrscheinlich macht, können wir in ihrer Entlarvung des Gehorsams als Zustimmung in ihrem fiktiven Urteil über Eichmann und in ihrer strengen Zurechtweisung Maschmanns und von Wieses ob deren beschönigender Sprache finden (vgl. Kapitel 2.c.g und 3.b.g). 33 e
Das Vergessen
An das Verschweigen lassen sich erste Überlegungen zum Vergessen und seinem komplizierten Verhältnis zur Verzeihung anschließen. In seiner einfachen Form ist das Vergessen eines, das das vergangene Ereignis aus dem gegenwärtigen Bewusstsein auszuschließen versucht und sich gegen ein Verzeihen stellt, das die Tat für unwiderruflich und unvergesslich hält. In gewisser Weise ist das Vergessen unausweichlich und die Forderung einer vollständigen und andauernden Erinnerung nicht nur sachlich wenig überzeugend, sondern auch nicht lebensdienlich, nicht praktikabel. Mit einem pauschalen Vergessen aber, das an nichts mehr erinnert werden will, hat das Verzeihen nichts gemein. Und wo dieses als jenes ausgegeben wird, hat man es erstens mit den Interessen der Täterseite zu tun und wird zweitens 33 Vgl. Arendts Kritik an der westdeutschen Bevölkerung der fünfziger Jahre, die sich in Rechtfertigungen und dem Geschäft der Aufrechnung übe, doch sei das eine einzige Flucht vor der Wirklichkeit und der eigenen Verantwortung (dies.: Die Nachwirkungen, S. 40–41), und an denen, die immer dann das »Fiat justitia et pereat mundi« angriffen, »wenn es darum gehe, Unrecht und Verbrechen zu entschuldigen« (dies: Ziviler Ungehorsam, S. 290).
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daher sagen dürfen, dass es sich eher um Selbstentschuldung und verharmlosendes Verschweigen handelt oder – in politischen Kontexten – um das verordnete Vergessen der Amnestie (siehe dazu Kapitel 6.a). Allerdings hat es für die Verbindung des Vergessens mit dem Verzeihen damit noch nicht sein Bewenden. Die Aufforderung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen und zu vergessen, ist für die Opfer schwerer Verbrechen wie leichter Vergehen gleichermaßen eine Anfechtung. Es dürfte zwar kaum strittig sein, dass eine gelegentliche Verspätung unter Freunden kein Anlass ist, des sprichwörtlichen Elefantengedächtnisses zu frönen oder gar Reue und Verzeihungsbitte einzufordern. Wenn aber die Verspätung zu einer Gewohnheit wird und die Freunde anderweitigen Anlass haben, Absicht zu unterstellen, erscheint die Angelegenheit schon in einem anderen Licht. Worum es in dieser Zuspitzung des Beispiels geht, ist der Umstand, dass es wie schon bei der Bestimmung des Unverzeihlichen zunächst Sache der Betroffenen ist, wie sie das fragliche Ereignis in ihr Selbstverständnis einfügen und inwiefern dazu ein Vergessen gehört. Zum einen könnte man sich darauf berufen, dass es »das gute Recht des Betroffenen« ist, »eben das zu vergessen, was nicht zu verzeihen ist.« 34 Die Entscheidung für solches Vergessen treffen wir meist aus zwei Gründen. Es ist schlicht niemand da, an den wir uns wenden können, oder wir haben von der Existenz des entsprechenden Adressaten keine Kenntnis. Oder wir können wir uns selbst von der Unverzeihlichkeit der Tat überzeugen und aus diesem Grund »auf das allmähliche Vergessen« 35 und auf die – freilich niemals vollständige – Beseitigung der Vergangenheit aus dem persönlichen Bewusstsein hoffen. Denn was Jankélévitch über die Judenvernichtung gesagt hat, gilt für alle Ereignisse, die wir für unverzeihlich halten. Angesichts einer solchen, zumindest für uns persönlich zutreffenden Last ist es zwar nicht vollends »unverständlich«, aber unwahrscheinlich, »daß die Zeit, ein natürlicher Vorgang ohne normativen Wert, eine mildernde Wirkung […] ausüben könnte.« (V, 250) Aus diesem Grund bleibt auch das Sprichwort von der Zeit, die angeblich alle Wunden heile, in den Untersuchungen über das Verzeihen auf der Das berichtete der Schriftsteller Jiri Gusha über Vaclav Havels Kommentar, nachdem dieser seine Geheimdienstakte gelesen hatte; hier zitiert nach Kodalle: Verzeihung nach Wendezeiten, S. 1. 35 Ebd. 34
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Strecke, wie es Jankélévitch lakonisch zu sagen weiß: »Do not, then, make too much haste to rejoice over the consoling virtues of time«. (F, 29) Dass das Vergessen weder für sich heilende Kräfte besitzt noch als ein absolutes Erfolg verspricht, hat auch Arendt so gesehen. Denn es sei noch lange vor dem totalitären Terror und der Arbeit der Public-Relations-Spezialisten die älteste Methode, mittels derer die Menschen die Vergangenheit ausradieren wollten. Aber weil wir in einer gewordenen, geschichtlichen Welt leben, die »in jedem Augenblick auch die Welt der Vergangenheit ist« und in der persönlichen wie der politischen Sphäre »aus den Zeugnissen und Überresten dessen« besteht, »was Menschen im Guten wie im Schlechten getan haben«, 36 ist das absolute Vergessen unmöglich und seine Ausgabe als Verzeihung nur eine weitere von dessen Verwechslungen. Wenn aber das absolute Vergessen unmöglich und das teilweise Vergessen unausweichlich ist, dann muss auch für Arendts Begriff des Verzeihens das Verhältnis zum unausweichlichen Vergessen bestimmt werden. Bei Arendt wäre das eine Form des Vergessens, die damit übereinkommt, dass jenes Verzeihen eine klare Auffassung von der Tat und ihrer Unrechtmäßigkeit und der entsprechenden Zuschreibung von Verantwortung voraussetzt. Das gilt, auch wenn die Tatzusammenhänge, die diesem Verzeihen vorangehen, dem unweigerlichen Vergessen nicht entgehen können und der Umfang des Tatsachenbewusstseins mit dem Vergehen der Zeit abnehmen wird. Bei Arendt aber bleibt immer ein Rest, der sich dem Vergessen entzieht. Widerständig gegen »die großen Mächte des Vergessens und Verwirrens« (VA, 296) ist die Zähigkeit des Getanen, von der Arendt spricht und die bezogen auf die Leidensgeschichten auch als das Unverfügbare der Erinnerung verständlich ist. Denn die Erinnerung lässt sich nicht steuern. Wir werden durch Ereignisse an etwas erinnert, die wir nicht beherrschen können. Wo Menschen in leidvollen Geschichten einander verbunden sind, ist dieses Unverfügbare mit der Erfahrung des Opfer-Geworden-Seins und des Täter-Geworden-Seins verknüpft, mit Schmerz und Schuld als Teil der Lebensgeschichten von Opfer und Täter. 36 Hannah Arendt: 200 Jahre Amerikanische Revolution, in: dies.: In der Gegenwart, S. 354–369 (erstmals unter dem Titel: Home to Roost, in: Sam Bass Warner Jr. (Hg.): The American Experiment: Perspectives on 2000 Years, Boston 1976, S. 62–79), hier S. 365.
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Von der Zähigkeit des Getanen lässt sich eine Verbindung zu Ricœurs Unterscheidung zwischen dem passiven und dem aktiven Vergessen aufmachen, die sich wiederum seinem leichten und schweren Verzeihen zuordnen lassen. Das passive Vergessen teilt sich in seine traumatische und seine »hinterhältige[]«, eskapistische Variante, die »in einem narzißtischen Selbstverhältnis befangen« (RV, 145) ist. Das aktive Vergessen entsteht erst in der Vermittlung durch das Bewusstsein des Opfers, das heißt vor allem durch die Annäherung von Täter- und Opferperspektive. Und genau hier wird eine Beziehung von Verzeihen und Vergessen greifbar, die das Vergessen zu einer Ausnahme unter den üblichen Verwechslungen des Verzeihens macht, weil das aktive anders als das passive Vergessen als Teil des Verzeihungsgeschehens denkbar wird. Denn unter der Maßgabe, dass das Verzeihen ein Freigeben und Gehenlassen in Arendts Sinne ist, zeigt sich ein Begriff des Vergessens, der Ricœurs aktives Moment desselben bewahrt und dieses zugleich mit Arendts Bedingungen des Vorhaltens und der Reue in Einklang bringt. Denn das aktive Vergessen kettet Opfer und Täter nicht an ein endloses Tatsachenbewusstsein und einen sinnlosen Kampf gegen das unweigerliche Vergessen, sondern es bietet eine Umgangsweise mit der Zähigkeit des Getanen an, das heißt mit den Momenten von Leidensgeschichten, die weder dem verordneten noch dem unausweichlichem Vergessen überlassen werden können. Was das aktive Vergessen Ricœurs vergisst, ist nämlich nicht das schuldhafte Ereignis, »sondern die Schuld«, die Gedächtnis und Handlungsvermögen gleichermaßen lähmt, und »ihre Bedeutung und ihr Ort im Ganzen der Dialektik des geschichtlichen Bewußtseins.« (RV, 145) Das aktive Vergessen von Schuld und ihrer geschichtlichen Bedeutung aber macht es fraglich, ob mit ihm schon der gesuchte Begriff des Vergessens gefunden ist, weil dieser sich noch mit den Bedingungen der Vorhaltung und der Reue harmonisieren ließe, aber mit der Unwiderruflichkeit des Getanen und dessen unabwendbaren Einfluss auf das Wer-einer-ist bei Arendt unvereinbar ist und folglich die Frage nach einem gelingenden Verhältnis von Verzeihen und Vergessen zunächst aufschiebt (siehe dazu Kapitel 7.c).
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Die Selbstverzeihung
Dass sich die Dinge, die uns mal schwerer und mal weniger schwer belasten, nicht einfach auf die Seite schieben lassen, führt zur letzten der möglichen Verwechslungen des Verzeihens: zur sogenannten Selbstverzeihung, die sich an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Psychotherapie befindet und sich in ihren therapeutischen Verwendungszusammenhängen mit einem spezifischen Verstehen verbindet. Im Vergleich zum Vergessen schlägt sie den entgegengesetzten Weg ein und will das Geschehene möglichst genau verstehen. Das entscheidende Instrument dieser Idee des Verzeihens ist das sogenannte »Reframing« mit folgender Struktur: Opfer O wird durch das Wissen W mit dem Geschehnis G versöhnt, dessen Urheber U für das Zustandekommen der inneren Befriedung von O jedoch unerheblich ist. Zentrales Thema der Selbstverzeihung ist das mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen allein gelassene Opfer und dessen Möglichkeiten, die Erfahrung des Opfer-Geworden-Seins zu überwinden. Die Tätigkeit, von der hier die Rede ist, soll das Opfer vor einem dauerhaften Schaden an seiner Seele und seinem Selbstwertgefühl bewahren. 37 Erst danach könne die Beeinträchtigung, die die Tat für die Beziehungen des Opfers zum Täter und anderen Mitmenschen ist, aufgehoben und neue Bande geknüpft werden. In dem neunstufigen Schema zur Selbstverzeihung von Joanna North, wird das Verlangen des Opfers zu verzeihen (Stufe 6) auf der Stufe 7 durch das Reframing gestärkt, womit die gründliche Arbeit des Opfers an der umfassenden Kontextualisierung der Tat auf der Täterseite gemeint ist, die schließlich in der Fähigkeit des Opfers münden soll, den Täter von seiner Tat zu trennen – »the most crucial stage in the whole process of forgiveness«. Allerdings – und diese Zurücknahme ist entscheidend – hängen der Akt der Verzeihung 37 Zu diesem Zweck wendet man eine Methodik zur Messung des seelischen Wandels des Opfers an und preist deren psychometrische Brauchbarkeit an; siehe etwa den Teil III »Applications in Counseling, Psychotherapy, and Health« in: Michael E. McCullough/ Kenneth I. Pergament/Carl E. Thoresen: (Hg.): Forgiveness: Theory, Research and Practice, New York/London 2000. Gegen den positivistischen Optimismus dieser Arbeit an den Seelen regt sich erster Widerspruch gegen übertriebene Erwartungen daran, nicht jedoch gegen die Möglichkeit handwerklicher Herstellung der Verzeihung überhaupt; siehe Sharon Lamb/Jeffrie G. Murphy (Hg.): Before Forgiving. Cautionary Views of Forgiveness in Psychotherapy, Oxford 2002.
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und die Versöhnung von der gelungenen Ersetzung der negativen durch positive Gefühle gegenüber dem Täter ab, denn »forgiveness is principally an internal change of heart and mind, even while being other-directed.« Sie sei auch dann geschehen, wenn der Übeltäter »is no longer around and cannot be informed of IP’s [the injured person’s, T. D.] forgiveness«. 38 Um von Verzeihung sprechen zu können, reicht die innere Veränderung des Opfers aus, die Verständigung mit dem Täter ist nicht mehr als ein Zubrot (Stufe 8 und 9). Andernfalls zeige sich die Verzeihung in »some outward manifestation in our behaviour towards others« oder »simply telling someone else of one’s change of heart.« In dieser Selbstbefreiung des Opfers vom tatverursachten Leid, liegt das Ziel dieses therapeutischen Verstehens. Denn dadurch wird das Opfer befähigt, »[to, T. D.] exercise some healing power« 39 – und zwar sich selbst betreffend. Die Überlegungen von North sind in der psychotherapeutischen Forschung zum Verzeihen insofern eine Ausnahme, da sie sich an der Abbildung der Selbstverzeihung auf der Täterseite versucht.40 Ansonsten dominiert das Modell, das das Verzeihen als einen inneren Wandel des Opfers im Blick auf die negativen tatgebunden Gefühle Joanna North: The »Ideal« of Forgiveness. A Philosopher’s Exploration, in: Robert D. Enright./dies. (Hg.): Exploring Forgiveness, Madison/London 1998, S. 15–34, Zitate S. 23, 24, 24; dort auch die ausführliche Beschreibung aller Stufen, die für die hiesigen Zwecke beiseitegelassen werden kann. Wer sich einen Überblick über die zahllosen Beiträge der Psychologie, Psychotherapie und Pastoralpsychologie verschaffen will, wie sie besonders die amerikanische Forschung kennzeichnen und deren Grenzen zu der »huge pop-psychology literature on the subject [of forgiveness, T. D.]« fließend sind, wie es Griswold: Forgiveness, S. 122, treffend sagt, sei an folgende Internetseiten verwiesen: www.brandonhamber.com/resources_forgiveness.htm; www.for giving.org; www.learningtoforgive.com; www.forgivenessweb.com; www.loveandfor give.org; www.forgivenessinstitute.org (zuletzt eingesehen am 19. Juli 2009). 39 Ebd., S. 20. 40 Ich halte diesen ebenfalls neunstufigen Versuch für gescheitert, weil er die Arbeit der Kontextualisierung (Stufe 3), die der Täter wie das Opfer für die Täterseite abzuleisten hat (nicht für die Opferseite) und die zu neuer Selbstachtung, das heißt Selbstverzeihung (Stufe 4) führt, in ihrem Gelingen von der Anerkennung des Opfers (Stufen 5–7) und gegebenenfalls von seiner Annahme der Anerkennung (Stufe 8 und 9) abhängig macht. Das nun führt North’ Rede von der Selbstverzeihung ad absurdum und wirft die Frage auf, warum sie trotz der systematischen Einbeziehung der Wechselseitigkeit des Verzeihens (durch die Bewährung der inneren Wandlung des Täters in Reue, Bitte und Gewährung von Verzeihung) am Begriff der Selbstverzeihung festhält; vgl. North: Ideal, S. 33. 38
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und den Täter ausgibt. 41 Dem Anschein nach könnte es eher eine Bedingung des Verzeihens sein (siehe dazu Kapitel 7.a), welches seinerseits in diesen Forschungen ohne weitere Begründung als Versöhnung im Sinne eines befriedeten Zusammenlebens von Opfer und Täter ausgegeben wird, als sei die Versöhnung das automatische Ergebnis der Verzeihung (siehe dazu Kapitel 8 und 9). Unauflösbare Schwierigkeiten bereitet letztlich die Engführung des Verzeihens auf eine innere Angelegenheit des Opfers in der nachvollziehbaren Absicht, die seelische Belastung des Opfers zu verringern oder zu beenden. Wozu diese Ausrichtung das psychotherapeutische Verzeihen letztlich macht, beschreibt Jean Amérys Antwort auf die erwähnte Frage Wiesenthals, ob er dem SS-Mann hätte verzeihen sollen, genau: nämlich zu einer »Frage des Temperaments oder auch einer Stimmung.« (SB, 218). Dass damit das zwischenmenschliche Verzeihen nicht getroffen ist und welches Anliegen sich hinter der irreführenden Begrifflichkeit (des therapeutischen Verstehens) verbirgt, vermag die Auseinandersetzung um die Bemühungen der ehemaligen Auschwitz-Insassin Eva Mozes Kor verdeutlichen. Sie kontaktierte den vormals in Auschwitz tätigen SS-Arzt Hans Münch und überzeugte ihn, ebenda am 27. Januar 1995, dem Jahrestag der Befreiung des Lagers, ihrer Erklärung beizuwohnen, deren Kern sie in einer Rede so auf den Punkt brachte: »Ich habe den Nazis vergeben. Ich habe allen vergeben.« Der Entschluss zu dieser ungewöhnlichen Aktion beruhte auf ihrer Erkenntnis, dass man nicht länger an der Last der Vergangenheit tragen solle, sondern sich selbst heilen müsse: »Ich fühlte, wie eine Bürde des Schmerzes von meinen Schultern genommen wurde. Ich war nicht länger ein Opfer von Auschwitz. Ich war nicht länger eine Gefangene meiner tragischen Vergangenheit. Ich war endlich frei.« 42 41 Im Normalfall gilt Verzeihung als ein »intraindividual, prosocial change toward a perceived transgressor« und zugleich als ein »psychological construct« für die empirische Forschung darüber, »whether such change (i. e. forgiveness) is necessarily developmental in nature, whether intentionality is indispensable, and so on«; siehe Michael E. McCullough/Kenneth I. Pergament/Carl E. Thoresen: The Psychology of Forgiveness: History, Conceptual Issues, and Overview, in: dies. (Hg.): Forgiveness, S. 1–16, alle Zitate S. 9, die sich damit, wie sie durch eine kurze Forschungsgeschichte selbst nachweisen, in Übereinstimmung mit den anderen Varianten therapeutisch-empirischer Verzeihensforschung befinden; vgl. die Beiträge in Enright/North (Hg.): Exploring Forgiveness, und die Hinweise in FN 38, S. 216. 42 Eva Mozes Kor: Heilung von Auschwitz, in: Universitas. Orientierung in der Wissenswelt 56 (2001), Nr. 665, S. 1100–1114, Zitate S. 1110, 1112.
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Es ist diese Selbstheilung der Opfer, die mit dem Verzeihen selbst verwechselt wird und ihre entscheidende Wirkung darin hat, dass sie das Opfer in seiner Selbstwahrnehmung wieder zu einem Menschen macht, der mehr ist als nur ein Opfer. Das bedrückende Geschehen verliert seine Macht über die Person, die deshalb mit ihrer Vergangenheit Frieden schließen kann. Sie gewinnt eine innere Sicherheit, die Scham, Selbstmitleid oder Wut und dergleichen mehr in weite Ferne gerückt hatten. Das Opfer stellt das belastende Ereignis zurück ins Glied der langen Reihe der Begebenheiten, die das eigene Leben ausmachen, und kann dem Vergangenen einen neuen Platz zuzuweisen. Es kommt wieder mit sich selbst und der Welt ins Reine. Es erlangt, wie Mozes Kor glaubt, »die Autonomie über sein Leben« zurück. 43 Der Dokumentarfilm über Mozes Kor trägt zwar den Titel »Forgiving Dr. Mengele« 44 , aber von einer Verzeihung zwischen Josef Mengele und Mozes Kor handelt er nicht, sondern von ihrem Bestreben, ihre Art der Selbstbefreiung zu rechtfertigen, und von ihrem Bemühen, Nachahmer zu finden. Der von North schon bekannten Struktur nach versöhnt sich die Person A (Mozes Kor) durch B (ihren Willen, nicht mehr Opfer zu sein) mit dem Geschehen C (der Folter in den Menschenversuchen), ohne dass der Täter D (Mengele) Teil des Geschehens wäre. Und diese Struktur bilden auch der Dokumentarfilm und seine Erläuterungen durch Mozes Kor ab. Sie fragt Münch, ob er mitkommt, und möchte ihm etwas zurückgeben, weil er tatsächlich mitgekommen ist, und kommt auf die Idee, »daß ich ihm einfach vergeben könnte, was er getan hatte«. 45 Aber zu keiner Zeit macht Münch Anstalten, sie um Verzeihung zu bitten. Mehr noch formuliert schon im Film eine namentlich unbekannte Kritikerin naheliegende Einwände gegen Mozes Kor: dass Verzeihen ein Geschehen zwischen Menschen sei, das man nicht einfach mit sich selbst ausmachen könne, das an die Bedingung der Reue gebunden sei und nicht aus der Position der Schwäche erfolge, dass man nicht mehr Opfer sein wolle. 46 Dieses Bedürfnis wird nicht in seiner BeHarald Welzer: »Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben«. Eva Mozes Kor, in Mengeles Experimenten gepeinigter Zwilling, über ihre Befreiung aus der Opfer-Rolle, in: FR vom 13. Juni 2003, S. 2. 44 Siehe Forgiving Dr. Mengele. A Film by Cheri Pugh and Bob Hercules, USA 2003. 45 Welzer: Ein Überlebender, S. 2. 46 Siehe Forgiving Dr. Mengele, bei 0:55 h, Transkript vom Verfasser. Woher Gerl-Falkovitz die Gewissheit nimmt, dass Münch Mozes Kor um Verzeihung gebeten habe, 43
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rechtigung bestritten, sondern die Behauptung, dass es sich dabei um Verzeihung handelt. Um die Kluft zwischen zwischenmenschlicher Verzeihung und Selbstbefreiung zu erfassen, spreche ich von SeinenFrieden-Machen. Dieses Friedenschließen steht nicht in einem gegensätzlichen Verhältnis zum Verzeihensakt, sondern ist ihm dienlich, sofern wir es als Kultivierung einer Bereitschaft zu verzeihen auffassen. 47 Die Verwechslung der Selbstbefreiung mit der Verzeihung ist auch das herausstechende Kennzeichen der Debatte um Mozes Kor in der Frankfurter Rundschau. Micha Brumlik und Lena Inowlocki führen gegen Harald Welzers These, Mozes Kors Selbstbefreiung sei ein Gegenentwurf zur Traumatherapie, die die Opfer auf die Opferrolle festschreibe, die Differenz zwischen persönlichen Bewältigungstechniken und der Verzeihung an. Welzer reduziert das Verzeihen auf die Emanzipation von der Opferrolle und glaubt, sich dabei auf Arendt berufen zu können, die das Verzeihen als persönlichen Akt bezeichne, und übersieht dabei, dass »persönlich« an besagter Stelle (VA, 308) nichts anderes als zwischenmenschlich bedeuten kann. 48 Wenig überraschend findet sich die Verwechslung des Verzeihens mit dem Seinen-Frieden-Machen auch im Blick auf den Täter. Wenn dieser seinen Frieden mit der Tatsache schließt, dass er an jemandem schuldig geworden ist, dann setzt das ein Unrechtsbewusstsein und ein schlechtes Gewissens voraus. Das Seinen-Frieden-Machen des Täters stellt sich formal so dar, dass Täter T sich aus der obwohl sich das weder mit der von ihr unvollständig herangezogenen Debatte in der Frankfurter Rundschau (siehe FN 43, S. 218 und 48, S. 219) noch mit Mozes Kors Film (siehe FN 44, S. 218) noch mit deren Rede (siehe FN 42, S. 217) belegen lässt, ist schleierhaft; siehe Gerl-Falkovitz: Verzeihung, S. 11. 47 Diesen Aspekt bringt weder die Philosophie noch die Psychologie auf den Punkt, sondern die Ratgeberliteratur zum als Verzeihen ausgegebenen Seinen-Frieden-Machen, die nicht selten wegen ihrer Ähnlichkeit zu Bau- oder Bedienungsanleitungen die in sich fragwürdige Rede von der Verzeihung als therapeutischem Werkzeug ins Komische verzeichnet; siehe etwa Beverly Flanigan: Forgiving yourself: A Step-by-Step Guide to Making Peace with your Mistakes and Getting on with your Life, New York 1996. 48 Siehe Welzer: Ein Überlebender; ders.: Vergebung ist ein Recht aller Opfer. Rückgewinnung der eigenen Autonomie ist das entscheidende Ziel, in: FR vom 30. Juni 2003, S. 8; Micha Brumlik/Lena Inowlocki: Die grundlegende Bedeutung der Vergebung. Eine Antwort auf Harald Welzers Umgang mit der Trauma-Therapie, in: FR vom 23. Juni 2003, S. 8. A
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Gewissheit G mit seiner Unrechtstat U versöhnt, ohne dass sein Opfer O an dem Geschehen G beteiligt wäre. »Self-forgiveness […] can restore only the personal wholeness of the offender.« 49 Wie bei Mozes Kor ist die sogenannte Selbstverzeihung des Täters »in hohem Maße psycho-therapeutisch«, genauer: auto-therapeutisch, denn sie »vermindert ein Ignorieren, das sog. Verdrängen«. 50 Sie ist die Befreiung von auto-destruktiven Schuldvorwürfen und die Erkenntnis, dass man ein fehlbarer, aber doch ein Mensch ist, der wie jeder andere Mensch ein Recht hat auf die Lebensqualität der »at-homeness […] accompanied by peace of mind, a sense of unity, a feeling that life is fundamentally right and needs no correction.« 51 Am Recht eines jeden Menschen auf diese je individuelle Beheimatung in der Welt wird niemand rütteln wollen. Aber das SeinenFrieden-Machen des Täters hat nicht die Dienlichkeit für das Verzeihen im Sinne einer Verzeihungsbereitschaft wie das des Opfers, denn seine sich selbst gewährte Befreiung von der selbst auferlegten Schuld steht gerade im zwischenmenschlichen Akt der Verzeihung auf dem Prüfstand und ist abhängig von der Beglaubigung des Opfers. Die Selbstentlastung des Täters kann so im Unterschied zu der Selbstbefreiung des Opfers, wenn sie auch keine billige Selbstentschuldung sein muss, zumindest ein Hindernis gelingender Verzeihung sein. Zum anderen zeigt sich in der Verhältnisbestimmung zum Verzeihen für den Friedensschluss des Täters mit sich selbst, dass er niemals dem Geruch billiger Selbstentschuldung entgeht. Wie die Selbstanklage (»Das kann ich mir nicht verzeihen.«) verbleibt er im »Zirkel der Selbstbehauptung« und unterliegt derselben »Hybris« (GW, 247) wie in seiner Untat. Die irrigerweise Verzeihung genannte Selbstentlastung des Täters findet ihre Grenze in der »Dualität der Rollen des Aggressors und des Opfers«; und deren »Verinnerlichung« (GGV, 733) in die emotionale und pseudo-moralische Selbstgenügsamkeit des Täters gilt es zu widersprechen, weil sich in dieser So die Einschätzung von Nancy Snow, der einzigen Verfechterin der Selbstverzeihung, die diesen entscheidenden Nachteil sieht, gleichwohl an der irreführenden Begrifflichkeit festhält; vgl. dies.: Self-Forgiveness, in: The Journal of Value Inquiry 27 (1993), S. 75–80. 50 Tausch: Vergeben, beide Zitate, S. 58. 51 So die Beschreibung der »self-forgiveness« mittels »at-homeness« bei Lin Bauer u. a.: Exploring Self-Forgiveness, in: Journal of Religious Health 31 (1992), No. 2, S. 149–160, hier S. 158. 49
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Verkürzung einer zwischenmenschlichen Schuld um ihr Opfer mehr noch als in der um ihren Täter das therapeutische Verstehen als Verharmlosung und Verschweigen zeigt. Mit diesen Anmerkungen Spaemanns und Ricœurs ist der Bogen geschlagen zu Arendts Überzeugung, dass niemand sich selbst verzeihen (vgl. GW, 247) oder sich selbst gegenüber Versprechen einhalten kann. Mit dem geschilderten Begriff eines kontextualisierenden Verstehens oder mit dem Seinen-Frieden-Machen hat Arendt sich im Zusammenhang ihrer Überlegungen zum Verzeihen nicht befasst. Ihre Kritik an diesen Verwechslungen ergibt sich jedoch auf der Grundlage ihrer Gedanken zur Psychologie respektive Psychotherapie. Als sie an ihrer nie geschriebenen Einführung in die Politik arbeitete, hat sie häufig das gleichermaßen anthropologische wie zivilisationskritische Metaphernpaar der Wüsten und Oasen verwendet (siehe WP, 80, 121–124, 192–194; EU, 712, 727–730; siehe Kapitel 2.a.b). Die Wüste ist der sich ausbreitende Raum in der Welt zwischen Menschen, in der ihre emphatische Auffassung des Miteinander-Sprechens und -Handelns immer mehr an Bedeutung verliert. Die Oasen gelingender Zwischenmenschlichkeit (etwa Liebe und Freundschaft) vermögen nicht, die Wüste abzuschaffen, sondern sollen »lebensspendende Brunnen« sein, »die uns befähigen, in der Welt zu leben, ohne uns mit ihr zu versöhnen.« (WP, 183) Die Psychologie gerät deswegen ins Kreuzfeuer der Kritik, weil sie »die Psychologie der Wüste« (WP, 181) ist, die die Anpassung an die Bedingungen der Wüste zu ihrem Zweck macht und auch noch den letzten Aufrechten Pathologien unterstellt, gerade weil diese »unter den Bedingungen des Wüstenlebens nicht leben können und deshalb die Fähigkeit zu urteilen, zu leiden und zu verdammen« (WP, 181) zu verlieren fürchten. Wie es auch auf die Überzeugung von der psychotherapeutischen Nutzbarkeit des vermeintlichen Verzeihens anzuwenden ist, verdächtigt Arendt die Psychologie der Bereitstellung selbstbezogener Techniken im Sinne jener Anpassung an das Wüstenleben, in denen von der Freiheit des Handelns, der Offenheit der Person und der Unwägbarkeit des Handelns – und das gilt gerade im Umgang mit zwischenmenschlicher Schuld – nichts mehr zu spüren ist. Auch für die Erfahrung der Schuld gilt, was Arendt zuvor über den Unterschied zwischen Verbrechen, die von freien Menschen verübt werden, und Lastern, die einer natürlichen Veranlagung folgen, gesagt hat: Dass nämlich in der moralisierenden und bornierten Verwechslung von Lastern mit Verbrechen »mehr A
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Respekt vor der menschlichen Person, vor der Freiheit des Menschen« bewahrt ist, »als in dem humanen ›Verstehen‹ moderner Psychologen, welche den Menschen zu einem nach Gesetzen automatisch funktionierenden Mechanismus erniedrigen.« (EU, 156). 52 Auch wenn man diese Demontage der Psychologie/Psychotherapie nicht teilen mag, wird doch das Problem deutlich, dass sich aus dieser Kritik für die Verwechslung des Verzeihens mit dem SeinenFrieden-Machen ergibt. Denn als nicht-zwischenmenschliche Umgangsform mit den zwischenmenschlichen Erfahrungen des Unrechts rückt es aus der arendtschen Perspektive in die Nähe der Phänomene, die Menschen unfähig machen, miteinander zu leben, oder die es ihnen erschweren, Teile der Wüste in eine menschliche Welt verwandeln zu können. Diese Fähigkeit zum Widerstand in der Wüste ist gebunden an die Bedingungen, dass Menschen in Gemeinschaft ihr Leben vollziehen, dass zu dieser Wirklichkeit auch die Erfahrung des zwischenmenschlichen Leides gehört und dass dieses Leid Gegenstand von moralischen Urteilen wird. Das Leid ist dabei nicht die einzige, aber doch eine wesentliche Form der Bewusstwerdung, dass sich das menschliche Leben im Miteinander und nicht in der Isolation, auch der des Seinen-Frieden-Machens, vollzieht. Die Psychologie/Psychotherapie »als Disziplin des angepaßten […] Lebens in der Wüste« (WP, 182) wendet sich in Arendts Sichtweise gegen zwei Vermögen des Menschen, mit denen er sich gegen die Verkümmerung des gemeinsamen Lebens stellen kann: die Fähigkeiten zu leiden und zu handeln. Die Kritik ist daher als Kritik an der Verabschiedung des handlungstheoretischen Zusammenhanges von Schuld, Verantwortung und Urteilen zu verstehen. Dieser ist als Mittel einer Beheimatung in der Welt und des Widerstandes gegen die Zerstörung dieser Welt nur in einem intersubjektiven Begriff des Verzeihens aufgehoben, nicht aber in der intrasubjektiven Verzeichnung der Verzeihung.
Von hier aus wird der tiefe Graben zwischen Arendts und Kristevas Konzepten der Verzeihung deutlich, auf den Weigel gegen Kristevas Vereinnahmungsversuche hingewiesen hat; siehe Kristeva: Forgiveness; Weigel: Secularization.
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Der zweite Abschnitt der Vorarbeiten für die Einzeichnung von Arendts Begriff des Verzeihens in die gegenwärtige philosophische Debatte betrifft keine Verwechslungen, sondern mit der Sündenvergebung (Kapitel 5) und dem staatlichen Vergebungshandeln (Kapitel 6) zwei Umgangsformen mit zwischenmenschlicher Schuld, die entsprechend der analytischen Differenz zwischen einem hierarchisch-institutionellen Vergeben und einem unmittelbar zwischenmenschlichen Verzeihen grundsätzlich mit Letzterem vereinbar sind. Auf diese Weise kann das schuldhafte Geschehen aus zwei Perspektiven verstanden werden: aus der desjenigen, der mit der Bewahrung der kollektiven Normen und Regeln beauftragt ist (dem Vergebenden), und aus der von Täter und Opfer, also der am Verzeihungsgeschehen beteiligten Personen. Für die Theologie hat Frettlöh eine erste Auseinandersetzung mit Arendts Verzeihen vorgelegt und ihr unter anderem eine enttheologisierende Lektüre der Evangelien vorgeworfen. Was ihr nicht behagt und zur Kernfrage der Verhältnisbestimmung von Sündenvergebung und Verzeihung führt, ist Arendts Überzeugung, dass göttliche Vergebung in ihrer Möglichkeit von der zwischenmenschlichen Verzeihung abhänge, denn so »kann es [das Verzeihen, T. D.] auch für sich betrachtet werden. Das Verzeihen, so wie es H. Arendt versteht, bedarf keines Gottesbezuges, um menschenmöglich zu sein.« Allerdings sei das »Vergebenkönnen« keine menschliche Fähigkeit, sondern ein Vermögen, »zu dem sie [die Menschen, T. D.] befreit und ermächtigt werden« müssten. Es ist die »Ausblendung der Gottesrelation« des Menschen und des Verzeihens im Besonderen, die zu Arendts Verzicht auf die »Wahrnehmung der Schuld als Sünde« führe und die deren Auffassung von der Verzeihung um deren entscheidende Dimension ermäßige. Schuld aber sei nicht nur die Schuld am Mitmenschen, sondern auch die Schuld vor Gott (es müsste heißen: Sünde). Deren Ursache könne nicht einfach in die »Endlichkeitsbedingungen menschlichen Daseins« verlegt werden, wie Arendt es täte, sondern der gesuchte Grund sei »in einer grundlegenden Verfehlung der Gottesbeziehung« des Menschen auffindbar, das heißt »in der Ursünde.« Wessen Gottesverhältnis aber von der menschengemachten Beschädigung in der allein Gott möglichen Sündenvergebung geheilt werde, nur der werde seinerseits »ver-
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gebungsfähig« und könne mehr vergeben als der Vergebende bei Arendt, der nur das versehentliche Unrecht vergeben könne. 53 Am Nachsatz zur fünften Vaterunserbitte lässt sich der Unterschied in der Auslegung und damit im Begriff des Verzeihens festmachen: »Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern« (Mt. 6, 12). Anders als Arendt versteht Frettlöh den Nachsatz nicht als ein Verziehen-Haben des Menschen, weil solches nicht Teil eines an Gott gerichteten Menschengebetes, auch nicht als Absichtserklärung eines künftigen Verzeihen-Wollens, sein könne, sondern Teil der Bitte an Gott um die Vergebung der Sünden sei. Was in der fünften Vaterunserbitte geschieht, soll ein Mehrfaches sein: das Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, die Bitte um göttliche Vergebung und die Bitte um die Fähigkeit, der göttlichen Sündenvergebung auch im Zwischenmenschlichen entsprechen zu können. Der entscheidende Punkt aber ist nun der, dass diese Entsprechung nicht im Miteinander der Menschen ihren Ort hat, wie das Verzeihen bei Arendt, sondern sich im Sprechakt der Vaterunserbitte ereignen soll. Es liegt eine »präsentisch-eschatologisch verstandene Vergebungsbitte« 54 vor, in der die imperativische Form der Vergebungsbitte an Gott wegweisend für das Verständnis der zwischenmenschlichen Verzeihung ist: »[…] und vergib [meine Hervorhebung, T. D.] uns unsere Schuld« (Mt. 6, 12). Denn die »Vergebungsbitte selber ist offenbar von irritierender Vollmacht« und stoße ein Geschehen an, das zwingend auf die Entschuldung des Schuldigen und die Verschuldung des Gläubigers hinauslaufe, denn »[w]ie kann Vergebung dem versagt werden, der darum bittet?« 55 Wenn man die Bitte so definiert, dass sie den Charakter der Bitte verliert, nämlich die Freiheit des Gebetenen einzieht, dass er der Bitte nicht entsprechen muss, sondern sie auch abschlägig bescheiden darf, Frettlöh: Der Mensch, alle Zitate S. 197–199; siehe zum Irrtum Frettlöhs in letzter Sache Kapitel 3; vgl. zum Folgenden ebd., S. 197–215. An dieser Stelle kann es allein darum gehen, die theologischen Überlegungen zur Sündenvergebung unabhängig von den konfessionellen Unterschieden in ihrer Bezogenheit auf das Verzeihen zwischen Menschen einzubeziehen, und auch dies nur mit besonderer Aufmerksamkeit für die spärlichen Bezüge auf Arendts Begriff des Verzeihens. 54 Frettlöh: Der Mensch, S. 211. 55 Philipp Stoellger: Vergebung als Gabe, in: Hermeneutische Blätter 1 (2002), S. 33– 46, hier S. 44. Er meint hier zwar die zwischenmenschliche Verzeihung, müsste aber der Sache nach den Befehlscharakter der Verzeihungsbitte auch auf die Sündenvergebungsbitte des Vaterunsers ausdehnen. 53
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kann man den Vollzug der zwischenmenschlichen Verzeihung in das Tätergebet der fünften Vaterunserbitte verlegen. Unter dieser Bedingung ist immanent stimmig, dass Frettlöh den präsentischen Charakter der Vergebungsbitte, deren Entsprechung sich der Bittende in der imperativischen Form der Bitte selbst gewährt, auf den Hauptsatz und den Nebensatz der fünften Vaterunserbitte, also auf die Gottesbeziehung und die zwischenmenschliche Beziehung anwendet. Und dann gilt auch umgekehrt, dass, wer Gott um die Vergebung seiner Sünden bittet, »gar nicht mehr anders« kann, »als selbst seinen Schuldnern zu vergeben«: Er »hat es im Aussprechen der Bitte bereits getan.« 56 Ist die zwischenmenschliche Verzeihung in dieses Abhängigkeitsverhältnis zur göttlichen Sündenvergebung gebracht, wird auch verständlich, weshalb Frettlöh ihre Auslegung im Blick auf die Grenze des Verzeihens den Arendtschen Überlegungen für überlegen hält: Sie könne erklären, »wie menschenunmögliche Vergebung nicht nur möglich, sondern verbindlich wird«. 57 Denn für die imperativische Vergebungsbitte kann schlechterdings nichts unverzeihlich sein; sie hat sich immer schon selbst entlastet und das Opfer in die Verschuldung gesetzt, der Bitte zu entsprechen. 58 Wohin solche Vergebungsgewissheit führt, die sich zugleich die Verzeihungsgewissheit zuspricht, sei an zwei Beispielen veranschaulicht. Das erste Beispiel setzt Sünde und Schuld, Gottesbezug und Mitmenschlichkeit in ein solches Verhältnis, dass die Verzeihung zum Derivat göttlicher Sündenvergebung wird und die Einlösung der Opferansprüche deutlicher noch in die eschatologische Begegnung mit dem gekreuzigten Christus verlegt wird, und macht wegen einer besonderen Wendung jener Verschuldung der Opfer diese Vorstellung von der Sündenvergebung als Variante der Verharmlosung lesbar. So legt man den Opfern von nationalsozialistischer Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik den Gedanken nahe, »dass sich in der Passion Christi Momente aufweisen lassen, die dem Opfer einen Weg der Versöhnung eröffnen können.« Denn weil Jesus seinen Tod Frettlöh: Der Mensch, S. 209. Ebd., S. 204. 58 Die Formulierung, dass der Gläubige die göttliche Vergebung empfange und die von ihm selbst gewährte Verzeihung für die an ihm schuldig gewordenen Menschen von Gott geschenkt bekomme, ändert an der Verkehrung der Bitte nichts. Dazu gilt, was Kolnai über die der Verzeihung übergestülpte christliche Sündenvergebung gesagt hat: »[It] threatens to collapse in condonation«; siehe Kolnai: Forgiveness, S. 97. 56 57
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auch für die auf sich genommen habe, die ihn ans Kreuz schlagen ließen, stelle sich die Frage, »ob der Weg der Versöhnung für die Opfer nicht letztlich im Mitvollzug der Versöhnungstat Christi liegt.« Allerdings sei die Vernichtung über die jüdischen Opfer gekommen, ohne dass sie sich wie Jesus dafür hätten entscheiden können. Insofern müssten sich die Opfer den Sinn des Leidens Christi aneignen, so dass sie ihre Täter als verzeihungsbedürftige Täter ansehen könnten: »Können die Opfer von Auschwitz sich in der Leidensgeschichte Christi wiedererkennen?« »Führt eine solche Parallelisierung der Passion Christi und der Leidensgeschichte der Opfer weiter? Droht sie nicht die je eigene Würde der Opfer durch Vergleich zu verletzen?« 59 Nicht anders als das Unbehagen an den Konsequenzen solcher Ideen ist da die Anfrage an einen Fachkollegen zu verstehen, der noch das grauenhafteste Leid als miterlösendes Leid dem Kreuzestod Christi zuordnet und ebenfalls fragt, »ob dem konkreten Leid der Opfer posthum eine sühnende Funktion zugesprochen werden kann.« 60 Denn es ist die gemeinsame Idee, dass das Opferleid die Täterschuld auch im Angesicht der NS-Vernichtungspolitik sühne. Diese Verdrehung, dass die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern gemordeten Opfer die Schuld der Täter auf sich nehmen und abtragen sollen, wofür man das Wort »anonyme Kreuzesnachfolge« findet und dabei die Konnotationen dieses Vorschlages eines Christenmenschen an die jüdischen Opfer übergeht, bereitet zumindest so viel Unwohlsein, dass man scheinbar innehält und scheinbar zögernd feststellt, man weise schließlich der Qual der Opfer die Aufgabe zu, »die eschatologische Harmonie der menschlichen Freiheitsgeschichte zu retten.« 61 Noch einen Schritt weiter in dieser sündentheologisch gerechtfertigten Verschuldung der Opfer gehen Edward H. Flannery (SF, 135–138), Christopher Hollis (SB, 156–162), Luise Rinser (SB, 176– Jan-Heiner Tück: Versöhnung zwischen Tätern und Opfern? Ein soteriologischer Versuch, in: Theologie und Glaube 89 (1999), S. 364–381, Zitate S. 378, 380, 378, 379. 60 Ebd., S. 381, FN 47; gemeint sind die Überlegungen Hans Urs von Balthasars, nach denen »das Leid des Gekreuzigten […] das sich selbst unverständliche Weltleid in ein miterlösendes verwandeln kann,« so dass »die […] grauenhaftesten Foltern, Kerker und Konzentrationslager und was es an Greueln mehr gibt, in eine große Nähe zum Kreuz« gerückt werden könnten; siehe ders.: Theodramatik. Band 4: Das Endspiel, Einsiedeln 1983, S. 458. 61 Tück: Versöhnung, S. 381, FN 47. 59
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181) und Dorothee Sölle (SF, 243–245), die Wiesenthal mehr oder weniger unverblümt der Sünde der Unverzeihlichkeit bezichtigen: etwa in Flannerys Parallelisierung von Wiesenthals Verzeihungsverweigerung mit den Zuschauern der Judenvernichtung. Dagegen ist darauf zu bestehen, dass erstens das, wofür der SS-Mann Wiesenthal um Verzeihung bittet, noch eine reale Lebensgefahr für Letzteren ist (SF, 114, 143), dass es zweitens keinen Hinweis auf die Aufrichtigkeit des SS-Mannes gibt (SF, 144, 262–264) und dass drittens das Reuebekenntnis – in der jüdischen Tradition – auf die Buße wartet und Wiesenthal die »Reue« des SS-Mannes gerade nicht ohne Weiteres für bare Münze nehmen muss (SF, 195), dass viertens das jüdische Opfer so in das Prokrustesbrett einer christlichen Vergebungsdogmatik gezwungen wird, die sich darin gerade nicht auf Jesus berufen kann (siehe Kapitel 3.b.a-b) und dass fünftens in der fünften Vaterunserbitte nicht von stellvertretender Verzeihung die Rede ist (SF, 140 f.) und daher an christlichen und jesuanischen Maßstäben gemessen nicht Wiesenthals Weigerung, sondern die Bitte des SSMannes als Sünde zu bezeichnen ist (SF, 132 f.). 62 Zum Verständnis des zwischenmenschlichen Verzeihens vermag diese Theorie der Sündenvergebung trotz anders lautender Ansprüche nichts beizutragen, weil sie »die Unterscheidung zwischen freiwilligem (erlösendem) und unfreiwilligem (unerlöstem) Leiden« 63 nicht trifft, das heißt mit Arendt gesprochen: das jesuanische Erbe für ein christliches Sündenverständnis unter dem dominierenden Einfluss des paulinischen marginalisiert. Das zeigt auch das zweite Beispiel: das Tun der evangelischen Kirche in Deutschland nach dem Ende der NS-Diktatur. 64 Neuere kir62 Vgl. für diesen letzten Punkt Linda Radzik: Making Amends. Atonement in Morality, Law, and Politics, Oxford u. a. 2009, S. 146 f. 63 Sarah K. Pinnock: Die Theologie der zweiten Generation nach Auschwitz, in: Katharina von Kellenbach/Björn Krondorfer/Norbert Reck (Hg.): Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt 2001, S. 95–109, hier S. 107. 64 Siehe zum Folgenden Katharina von Kellenbach: Theologische Rede von Schuld und Vergebung als Täterschutz, in: dies./Krondorfer/Reck (Hg.): Von Gott, S. 46–67; dies.: Christliche Vergegbungsdiskurse im Kontext von NS-Verbrechen. Ein protestantisches Plädoyer für eine revitalisierte Bußlehre, in: Lucia Scherzberg (Hg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, Paderborn u. a. 2005, S. 179–195; Norbert Reck: Der Gott der Täter. Subjektverbergung, Objektivismus und die Un-/Schuldsdiskurse in der Theologie, in: von Kellenbach/Krondorfer/ders. (Hg.): Von Gott, S. 29–45.
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chengeschichtliche Forschungen haben (ganz in Arendts Sinne der Unterscheidung der jesuanischen von der christlichen Lehre) gezeigt, wie man die paulinische Sündenlehre als Ausgangspunkt der politischen Parteinahme der Kirche für die NS-Täter interpretieren kann und wie die Vorstellung einer unbedingten und grenzenlosen Sündenvergebung im Sinne jener zum Befehl verkehrten Vaterunserbitte die Auseinandersetzung um persönliche Schuld und Verantwortung mittels politisch instrumentalisierter Erörterungen über die Universalität der Sünde und die Gleichheit der Sünder vor Gott so unterbunden werden konnte. Dementsprechend galt die Kritik nicht den NS-Tätern, sondern deren Strafverfolgern. Die Theologie der Sündenvergebung erklärte sich im öffentlichen Raum solidarisch mit den Tätern und machte mehr noch den alliierten Versuchen, die NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen, den Vorwurf moralischer Heuchelei. Denn wie Paulus schreibe, seien alle Menschen ohne Unterschied Sünder und würden gerecht ohne Verdienst und allein aus der Gnade Gottes (Römer 3, 23–24). Folglich dürfe sich kein Mensch zum Richter über andere Menschen erheben, das sei allein das Vorrecht Gottes. Aus Tätern werden so Opfer, und aus persönlicher Schuld und Verantwortung wird »die Solidarität der Sünde […], die eine differenzierte Aufarbeitung von persönlicher, politischer und rechtlicher Schuld nicht zulassen will.« 65 Weil die theologische Viktimisierung der Täter den Unterschied zwischen der paulinischen und der jesuanischen Sündenlehre missachtet, kann man so verfahren, als seien Täter keine Täter, sondern Opfer ungerechtfertigter Schuldvorwürfe von Menschen, die die Sünde begingen, sich zu Richtern über andere Menschen aufzuschwingen. Jesus aber – und dafür lassen sich nicht nur die von Arendt genannten Stellen (etwa Lk. 17, 1–4) heranziehen – verzeiht nicht alles und auch nicht bedingungslos. Das geht auch aus der oft für das Gegenteil beanspruchten Geschichte von der Ehebrecherin hervor. Denn Jesus bindet seine Zusage, dass er sie nicht verdamme, an die Bedingung, dass sie fortan nicht mehr sündigen möge (Joh. 8, 11), also umkehren und künftig einen besseren Lebenswandel pflegen möge. Kellenbach: Theologische Rede, S. 56, mit dem sprechende Beispiel von Hans Frank, ehedem Generalgouverneur Polens, der Vergebung für sich zu erzwingen versuchte mit Jesu Anweisung, man solle seinen Feinden (in Mt. 18, 21–22, steht: Bruder) nicht siebenmal, sondern siebenmal siebzigmal verzeihen.
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Solche Stellen müssten jenseits der amtskirchlichen Parteinahme für NS-Verbrecher ein hinreichender Anlass sein, individuelle Schuld und persönliche Verantwortung in die Sündenlehre einzubeziehen und gerade nicht auf moralisches Beurteilen, Strafen und Bereuen zugunsten einer prinzipiellen und sich in den konkreten Geschichten als »Täterschutz« zeigenden unbedingten Sündenvergebung zu verzichten. Die strukturelle Dienstbarkeit dieser Sündentheologie für die Strategien kirchlicher Vergangenheitspolitik im Besonderen, für die Marginalisierung persönlicher Schuld und Verantwortung im Allgemeinen, für die der Verharmlosung (und weder dem Vergeben noch dem Verzeihen) eigenen Entmoralisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen und für jene Verschuldung der Opfer, die bisweilen auch vor der Diffamierung legitimer Opferansprüche nicht haltmacht, verdiente eine eigene Abhandlung. Zur gründlicheren, sündentheologischen und kirchengeschichtlichen, Kritik der in der Vergebungsgewissheit inbegriffenen Verzeihungsgewissheit sei daher auf einige Fallstudien verwiesen. 66 Ist wegen der in ihr Gegenteil verkehrten Vaterunserbitte nichts gesagt über das Möglich- oder gar Verbindlich-Werden der Verzeihlichkeit des sogenannten Unverzeihlichen, greift darüber hinaus Frettlöhs Kritik an Arendts angeblicher Ermäßigung des zwischenmenschlichen Verzeihens zu kurz. Denn in der Vita activa selbst gibt die Bindung des Verzeihens an die Vorhaltung und die Reue den Hinweis, dass die Frage nach dem Unverzeihlichen und dem zwischenmenschlichen Verzeihen gründlicherer Untersuchungen bedarf. Und deren Ergebnis war, dass sich die von Frettlöh kritisierte Beschränkung des Verzeihens auf die Verfehlungen unter Rückgriff auf Arendts Überlegungen zur Verantwortlichkeit und moralischen Personalität ins Lot bringen lassen. Von einer Ermäßigung des Verzei66 Siehe Katharina von Kellenbachs Studie zur »Verkündigung des Evangeliums als Schuldentlastung« über die NS-Verbrecher Oswald Pohl, Werner Raabe und den Bischof Matthias Defregger; dies.: Christliche Vergebungsdiskurse, Zitat S. 181; vgl. Rainer Kampling: »Da hilft es nichts, zu vergessen, oder zu tun, als ob nichts wäre …«. Anmerkungen zu Romano Guardinis »Verantwortung. Gedanken zur jüdischen Frage«, in: Scherzberg (Hg.): Theologie, S. 153–162; von Kellenbach: Theologische Rede (zur EKD-Denkschrift von 1949); Björn Krondorfer: Protestantische Theologenautobiographien und Vergangenheitsbewältigung: Helmut Thielicke als Beispiel für einen nachkriegsdeutschen Diskurs, in: Lucia Scherzberg (Hg.): Vergangenheitsbewältigung im französischen und deutschen Protestantismus, Paderborn u. a. 2008, S. 203–222; Pinnock: Theologie (über Jürgen Moltmann, Johann B. Metz und Dorothee Sölle); Reck: Der Gott der Täter (über Michael Schmaus).
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hens, das zur Überwindung seiner Grenzen der göttlichen Ermächtigung in der Sündenvergebung bedürfe, kann im Blick auf Arendt keine Rede sein. Hingegen fragt sich, welchen Status Frettlöhs Bewährung der göttlichen Sündenvergebung »im zwischenmenschlichen Vergeben« haben kann, wenn das Letztere sich immer schon in der zweiteiligen Bitte des Vaterunsers, also im Gebet vor Gott, ereignet haben soll. Die Rede von der Kirche als Bewährungsraum der Verzeihung hat bei ihr nicht den bloß illustrativen Charakter, der sie noch mit ihren vorangehenden Ausführungen über die Vergebung vereinbar machte. Vielmehr trennt sie die Verzeihung von der »Erfahrung der gratis geschenkten göttlichen Vergebung« 67 und nimmt ihre Interpretation der fünften Vaterunserbitte so zurück, dass sie bei Arendts Trennung von Verzeihung und Sündenvergebung sowie der Freiheit und der möglichen Ungerechtigkeit der Verzeihung ankommt. Denn nun soll in der Zwischenmenschlichkeit die Bitte, wie es ihrem Wesen entspricht, eine ergebnisoffene Bitte sein, die Abel – im schiefen Beispiel – selbst die Entscheidung überlässt, ob er Kain verzeihen wird (siehe Gen. 4, 1–16). Was zu dieser Zurücknahme führt, ist die in einer Fußnote abgelegte Aufnahme eines zentralen Gedankens aus dem jüdischen Verständnis der Verzeihung, dass die Verzeihung durch einen Dritten ausgeschlossen ist und dieser Umstand auch für Gott gilt. 68 Die jüdische Perspektive auf das Verzeihen kommt jener doppelten Sichtweise gleich, die auch Arendts zuvor von Frettlöh als enttheologisierend verworfene Lesart der Evangelien bestimmt: dass die eine Tat in der zwischenmenschlichen Beziehung, in der sie ihren angestammten Ort hat, als Schuld und zugleich in der Beziehung des Gläubigen zu seinem Gott, der die Abstraktion vom Leben des Menschen unter seinesgleichen vorausgeht, als Sünde aufgefasst werden kann. In der Mischna heißt es: »Verfehlungen zwischen Mensch und Gott sühnt der Versöhnungstag. Verfehlungen zwischen ihm (dem Menschen) und seinem Nächsten sühnt der Versöhnungstag nicht, bis er sich mit seinem Nächsten geeinigt hat.« 69 Der Lehrsatz bezieht sich auf Lev. 16, 30 (»Denn an diesem Tage geschieht eure EntsühFrettlöh: Der Mensch, S. 213. Ebd., S. 214, FN 82; vgl. ebd., S. 213 f. 69 Mischna, Traktat Joma, Kapitel 8, Mischna 9, hier zitiert nach: Die Mischna. Festzeiten. Seder Mo’ed, Aus dem Hebräischen übers. und hg. v. Michael Krupp in Zusammenarbeit mit Barbara Eberhard u. a., Frankfurt/Main 2007, S. 163. 67 68
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nung, daß ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn.«), und ist derselbe Gedanke, den Jesus in der Bergpredigt noch vor der fünften Vaterunserbitte äußert: »Wenn du eine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe.« (Mt. 5, 23–24) 70 Emmanuel Lévinas hat in seinen Talmud-Auslegungen anhand der Gemara-Kommentare zur zitierten Mischna-Stelle den Grund für die Verführungskraft unbedingter Verzeihung herausgearbeitet: nämlich »seine Vergebung in der Tasche zu haben«. 71 Die rabbinischen Auslegungen hingegen bestimmen den Täter als denjenigen, der Verantwortung übernehmen und sich an sein Opfer mit dem Bekenntnis der Reue und der Bitte um Verzeihung wenden muss und sich der Verzeihung gerade nicht sicher sein kann. Im Kern geht es dabei um den Widerspruch dagegen, dass an zwischenmenschlichem Unrecht nicht das menschliche Leid das entscheidende Ereignis sei, sondern »[d]as irreparable Vergehen […] gegen Gott«. Und »gegen diese These, die die universale Ordnung der interindividuellen überordnet, wendet sich die Gemara« (VTL, 8) – wie das auch Jesus 72 und in seinem Gefolge auch Arendt tun. Die Bestimmungen über materielle Gutmachung liegen ganz auf dieser Linie. Denn das Beharren auf tätiger Buße hat nichts mit »einem schäbigen Materialismus« zu tun, sondern »entlarvt […] die Heuchelei des ätherischen Spiritualismus«: »Ohne die harte Arbeit der Versöhnung […] lassen sich die Bitte um Vergebung und selbst die Erniedrigung, die darin steckt, leicht mit Lauheit und Trägheit vereinbaren. Fromme Versprechen zu geben ist leicht« (VTL, 40). Der Einwand gegen eine unbedingte Vergebung der Sünden ist daher auch einer für das Primat der zwischenmenschlichen Beziehungen und den moralischen Ernst zwischenmenschlichen Unrechts. 73 70 Dass die Geschichte vom Zöllner Zachäus ebenfalls die jesuanische Übernahme dieser jüdischen Grundeinsicht belegt, zeigt Robert Gibbs: Returning/Forgiving. Ethics and Theology, in: Caputo/Dooley/Scanlon (Hg.): Questioning God, S. 73–91, hier S. 76–79. 71 Emmanuel Lévinas: Dem anderen gegenüber, in: ders.: Vier Talmudlektionen, Frankfurt a. M. 1993 (franz. Original 1968), S. 23–55 [= VTL], hier VTL, 32; vgl. Newman: Quality; Gibbs: Returning. 72 Siehe dazu Crossley: Semitic; Hägerland: Jesus. 73 Siehe neben Lévinas (VTL, 25–55) Newman: Quality, und Gibbs: Returning. Nur am Rande sei darauf aufmerksam gemacht, dass diese Verhältnisbestimmung von Sünden-
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In den Quellen findet sich kein Hinweis auf einen direkten Einfluss der Verzeihungsvorstellungen aus der Mischna und der rabbinischen Exegese auf Arendts Überlegungen. Aber die Evangelien bewahren in vielen Jesus-Worten die grundlegenden Einsichten aus der jüdischen Tradition über deren Verbindung von zwischenmenschlicher Verzeihung und göttlicher Vergebung auf. Zu nennen sind auch die Geschichte über den verdorrten Feigenbaum (Mk. 11, 12– 26), die Abschnitte aus der Bergpredigt (Mt. 5, 23–24; Mt. 6, 12) oder die Geschichte vom Schalksknecht (Mt. 18, 21–35). Auch in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Arendt die wesentlichen Bestimmungen eines der höchsten Festtage im jüdischen Kalender nicht gekannt haben sollte, hat auf diesem indirekten Weg die jüdische Tradition Eingang in ihren Verzeihensbegriff gefunden. Wenn man sich daher an ihre Interpretation des Vaterunsers hält und damit auch der jüdischen Einsicht in die Notwendigkeit der Unterscheidung von Sünde und Schuld Raum verschafft, gerät man nicht in die Verlegenheit, den Gottesbezug in der Sünde und den zwischenmenschlichen Bezug in der Schuld in einem letztlich unklaren Verhältnis wie bei Frettlöh zu belassen. Inwiefern dieses jüdische Erbe in der jesuanischen Vergebungs-/ Verzeihungsvorstellung aus der christlichen Sündentheologie wirklich entfernt worden ist, wie es Arendt Paulus anlastet (siehe Kapitel 3.b.a-b), und was es über diese aussagt, dass dessen Wiederaneignung zumindest in deutschen Landen durch die Verbrechen der Nazis angestoßen worden zu sein scheint, ist Sache theologischer Selbstverständigung. Abgesehen davon, dass diese Thematik die Unbedachtheit der verbreiteten Rede vom jüdisch-christlichen Verzeihungskonzept offenlegt, 74 ist für die hiesigen Zusammenhänge entscheidend, dass es in der Debatte um die Verzeihung zwischenmenschlicher Schuld auch von christlich-theologischer Seite Stimmen gibt, die im Sinne Jesu und Arendts einem differenzierteren Verhältnis von Schuld und Sünde das Wort reden und so die Sündenvergebung vor zweierlei bewahren: erstens davor, dass das Motiv des vergebung und zwischenmenschlichen Verzeihen das Christentum auf der einen Seite von Islam und Judentum auf der anderen Seite trennt; siehe mit weiteren Hinweisen Dan Bar-On: Will the Parties Conciliate or Refuse? The Triangle of Jews, Germans, and Palestinians, in: Yaacov Bar-Siman-Tov (Hg.): From Conflict Resolution to Reconciliation, Oxford u. a. 2004, S. 239–253, hier S. 246 f. 74 So etwa bei Glen Pettigrove: The dilemma of divine forgiveness, in: Religious Studies 44 (2008), S. 457–464, hier S. 457; siehe dazu die vorige FN.
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Sündenbekenntnisses, »die Schuld auf diese Weise irgendwie loszuwerden«, das alleinige wird; zweitens vor der Entwürdigung der Sündenvergebungsbitte selbst durch die in ihr Gegenteil verkehrte Bitte als einer »Zuwendung zu Gott im Zeichen einer zu erwartenden Entlastung.« 75 Dass im Sündenbekenntnis der fromme Mensch seine Freiheit nutzt, seine Schuld auch vor seinen Gott zu bringen, aber Letztere nicht marginalisieren darf, setzt Lévinas’ und anderer Einwand um, dass mit dem Sündenbekenntnis für das gemeinsame Leben der Menschen auf der Erde nicht per se etwas gewonnen sei. Wer es mit der einbekannten Sünde bewenden lasse, mache sich im Ergebnis der Verharmlosung schuldig. Denn er verweigere sich der eigentlichen, zwischenmenschlichen Schuld und übergebe sie fern seiner zwischenmenschlichen Lebensvollzüge der immer schon gewährten Vergebung seines Gottes. Sofern Michael Weinrich den Schritt von der »Sünde als Verharmlosung der Schuld« zur »Sünde als Radikalisierung der Schuld« 76 in Angriff nimmt und die Sündenvergebung als Erleichterung der Bitte um Verzeihung begreift, steht er am anderen Ende des Spektrums als die verbreitete Verschuldung der Opfer in der verkehrten Vaterunserbitte und geht einen entscheidenden Schritt weiter als Frettlöh, weil bei ihm Sünde und Schuld im Sinne der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Verzeihen und Vergeben als zwei verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen lesbar werden. Auf diesem Wege wird ein Verständnis der Sündenvergebung greifbar, dass die sogenannte Harmonie der menschlichen Freiheit nicht eschatologischen Erwartungen anvertraut, sondern im Diesseits unter fehlbaren und fehlenden Menschen erhofft – so wie Arendt es sich von dem verstehenden Herz verspricht, um das König Salomo betet (1. Kön. 3, 5–15) und das allein »die göttliche Gabe des Handelns« (ZVZ, 126) zu tragen vermag. Für das zwischenmenschliche Verzeihen sind solche Überlegungen von Bedeutung, weil sie die christliche Rede von der Verzeihung auf eine Denk- und Lebbarkeit einer Sündentheologie hin öffnen, die den von Jesus und der jüdischen Tradition eingeforderten Schritt des Täters auf sein Opfer zu nicht in das Belieben des Täters stellt, sondern zu einer Bedingung von Verzeihung wie Vergebung macht und 75 Michael Weinrich: Schuld und Sünde. Zusammenhänge und Unterscheidungen, in: Ebach u. a. (Hg.): Wie, S. 88–123, Zitate, S. 95, 96. 76 Weinrich: Schuld, Zitate S. 94, 100; vgl. ebd., S. 98–100.
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Abstand nimmt von den Konzeptionen der Sündenvergebung als Überbietung der Verzeihung. 77 An dem sachlichen Prä von Sündenbekenntnis und Gottes Vergebung, das Weinrich gleichwohl setzt, ist nichts auszusetzen, solange nicht die Fähigkeit des Menschen bestritten wird, auch ohne den Gottesbezug in der »persönliche[n] Begegnung« zwischen Menschen »die gegenseitige Aufarbeitung« anzugehen und zu einem Einverständnis zu gelangen. Auch wenn er die Antwort schuldig bleibt, was es für das Vermögen zu verzeihen bedeutet, dass die Sündenvergebung den Menschen an Gottes Taten für ihn erinnere, auf dass er »vergleichsweise kleine Taten der Versöhnung« vollbringe, 78 so bleibt seine Auffassung der Sündenvergebung mit der Autonomie des moralischen Handlungssubjektes und mit der Fähigkeit zu verzeihen als Teil der menschlichen Fähigkeit zu handeln vereinbar. In der Welt pluraler Moralvorstellungen zeugt hingegen die fromme Vergebungsgewissheit noch der grauenhaftesten Taten von der Sprachlosigkeit angesichts des Leides. Und das gilt sowohl für das Leid jener, die an ihrer frommen Gewissheit keinen Anteil haben oder nehmen, als auch für das Leid jener, die gleichen Glaubens sind und ihre Gewissheit teilen. In dieser Gefahr der Sprachlosigkeit steht auch Scheibers Vorgehen, ihren Begriff der Verzeihung gerade in und aus der Öffnung der bloß zwischenmenschlichen Dimension hin zur Gottesbeziehung zu konzipieren, weil sich für den Christen das Verzeihen anders darstelle als für den Nicht-Christen. Dieser Versuch muss da enden, wo er das Verzeihen als ethisch beschreibbares Handlungsmuster bestimmt, »das grundsätzlich allen Personen und nicht nur Mitgliedern einer bestimmten Partikulargemeinschaft zur Verfügung steht.« 79 Auch hier zeigt sich die Überlegenheit von Weinrichs und anderer Unterscheidung von Sünde und Schuld, weil sie die Sündentheologie Siehe diese Überbietung bei Dirk Ansorge: Vergebung auf Kosten der Opfer? Umrisse einer Theologie der Versöhnung, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 6 (2002), S. 36–58; Gerl-Falkovitz: Verzeihung, S. 195, 215–223, 234–246 (mit dem Versuch, Derrida für diese Zwecke zu vereinnahmen); Marilyn McCord Adams: Forgiveness: A Christian Model, in: Faith and Philosophy 8 (1991), No. 3, S. 277–304; Scheiber: Vergebung, S. 297–314; Reiner Wimmer: Schuldvergebung?, in: ders.: Religionsphilosophische Studien in lebenspraktischer Absicht, Freiburg/Wien 2005, S. 103–122, hier S. 113, FN 49. 78 Weinrich: Schuld, Zitate S. 109, 109, 123. 79 Scheiber: Vergebung, alle Zitate S. 10. 77
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dafür sensibilisiert, dass die Verhandlung der Schuld vor dem Sündengericht des christlichen Gottes all denen nichts sagen kann, die nicht desselben Glaubens sind. Man kann von Schuld sprechen, ohne etwas von der Sünde zu verstehen, aber nicht von Sünde sprechen, ohne etwas von Schuld zu verstehen. Wenn sich der schuldig gewordene Fromme angesichts seiner Untaten mit dem Nicht- oder Andersgläubigen ins Einvernehmen setzen will, bleibt er, »wenn er denn nicht an seiner Schuld ersticken will, an das Opfer verwiesen, dem er seine Schuld einzugestehen hat.« (AT, 31, FN 22) Das Leid, das Menschen einander zufügen, ist die Tat einer moralisch autonomen Person mit der ihr eigenene »Würde, Selbstachtung und Vernunftfähigkeit« (AT, 24). Gleichwohl steht es jedem frei, seine Schuld auch als Sünde vor seinen Gott zu bringen. Aber diese Freiheit ist an die Bedingung Kierkegaards zu knüpfen: »[D]as, was eigentlich die menschliche Schuld zur Sünde macht, ist, dass der Schuldige das Bewusstsein hat, vor Gott dazusein.« 80 Die Sündenvergebung nimmt dem schuldigen Menschen nicht die Aufgabe ab, sich an seinen Mitmenschen zu wenden, wenn er denn zwischenmenschliche Verzeihung für erstrebenswert erachtet. Sie ist ein prekärer Umweg zum Opfer, denn »[w]o dieses ›um Gottes Willen‹« nicht zum Opfer hinführt, sondern »funktional im Dienste der Steigerung des eigenen Gottesverhältnisses« (AT, 43) steht und wie die Güte bei Arendt zu verstehen ist, die sich aus dem Miteinander unter Menschen in das selbstgenügsame Füreinander verabschiedet (vgl. VA, 220), da muss sich »solche[] Loslösung des Gottesverhältnisses« vom gemeinschaftlichen Leben unter Menschen daran erinnern lassen, dass »[d]ie Türen zu Gott und die Türen zu den Menschen […] mit einem Scharnier verbunden [sind]« (AT, 43) – so wie es die jüdische, die jesuanische und die arendtsche Verhältnisbestimmungen von Verzeihen und Sündenvergebung sagen. Um die Versuchungen jenes Umweges und diese Erinnerung ist auch die Ansicht zu korrigieren, dass die göttliche Sündenvergebung »can bring one comfort without disregarding the moral standing of the human person one has wronged« 81 – der Umweg der Sünden80 Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Übersetzt, mit einer Einleitung und Kommentar hg. v. Hans Rochol, Hamburg 1995, S. 81; vgl. denselben Gedanken bei Nicolai Hartmann: Ethik, Berlin 3 1949 (Berlin/Leipzig 1 1926), S. 817. 81 Pettigrove: Dilemma, S. 463.
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theologie jedoch wird leicht zu einer Sackgasse, aus der die Sünder nicht mehr den Weg zurück ins Schuldig-Sein und zu ihren Mitmenschen finden. Nur folgt aus der Doppelung der Perspektive in Schuld und Sünde nicht, was Abraham Heschel auf Wiesenthals Frage antwortet, dass »sogar Gott selbst nur die gegen Ihn begangenen Sünden vergeben« kann, »nicht aber die gegen Menschen begangenen.« (SB, 131) Denn die Mischna knüpft die Vergebung nur an die chronologische Bedingung, dass zuvor die Verzeihung erfolgt sein muss: Es heißt, dass Gott seine Sündenvergebung verweigert, »bis er [der Täter, T. D.] sich mit seinem Nächsten geeinigt hat.« 82 Die Einigung ist keine sachliche Bedingung der Befähigung Gottes zu seiner Vergebung der Sünden. Auch sind Sünde und Schuld begriffliche Unterscheidungen und keine phänomenologischen, als könnte man entscheiden, ob etwa Davids Ehebruch mit Bathseba und der Mord an Uria entweder eine Sünde oder eine Schuld sei (siehe 2. Sam. 11, 1– 12, 25). Für den Gläubigen sind sie aber prinzipiell beides: Schuld und Sünde. Und es steht ihm frei, sein Tun lediglich als Sünde vor das Gericht seines Gottes zu bringen. Für den philosophischen Standpunkt ist das Sündenbekenntnis als Reaktion auf ein Schuldig-Geworden-Sein genauso eine Option wie das dem Mitmenschen geltende Eingeständnis der Schuld, ob es nun das Schuldbekenntnis ersetzt oder ob die göttliche Sündenvergebung in den Augen des Sünders der Ermöglichungsgrund seiner Verzeihungsfähigkeit (der Bitte um und der Gewährung von Verzeihung) ist. Ebenso folgt auch aus der fünften Vaterunserbitte (vgl. Mt. 6, 12) und ihrer Erläuterung (vgl. Mt. 6, 14–15) nicht Arendts Schluss, dass man die Ansicht der Pharisäer und Schriftgelehrten umkehren müsse, nach der die Fähigkeit der Verzeihung auf die göttliche Fähigkeit der Vergebung zurückzuführen sei, dass also erst die Menschen einander verzeihen müssten, damit ihnen auch Gott verzeihen könne (vgl. VA, 305). 83 Wie in der Mischna steht – immer mit Arendts unMischna: Traktat Joma, Kapitel 8, Mischna 9. Vgl. auch PP, 57: »He [Jesus, T. D.] even went so far as to deny explicitly that forgiving is the sole prerogative of God (Luke 5:21–24) and dared to think that God’s mercy for the sins of men may ultimately depend upon man’s willingness to forgive the trespasses of others (Mathew 6:14–15).« In diesem Vorlesungsmanuskript aus den frühen fünfziger Jahren lässt Arendt das genaue Bedingungsverhältnis von Verzeihung und Vergebung noch offen, entscheidet es aber in der Vita activa so, dass das Verzeihen eine sachliche Ermöglichungsbedingung des Vergebens sein soll.
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voreingenommener Lesart gesehen – auch im Matthäus-Evangelium nichts davon, dass Gott nur vergeben kann, weil die Menschen einander verzeihen, sondern nur, dass er nicht vergeben wird, solange die Menschen einander in Unversöhnlichkeit begegnen. Bei Jesus ist in der Perspektive des Zwischenmenschlichen der Verzeihlichkeit keine Grenze gesetzt: unaufhörlich sollen die Menschen einander verzeihen (siehe Lk. 17, 1–4; Mt. 18, 21–22). Unvergebbar sind hingegen die Täter, also Sünder, die die Gottesbeziehung von Menschen beschädigen (vgl. Kapitel 3.b.b). Dieser Bereich von Untaten ist nicht gleichen Umfanges mit der Bandbreite menschlicher Schlechtigkeit, aber er allein zählt für die Sündenvergebung. Weil aber unter Menschen alle Taten prinzipiell als Sünde und Schuld betrachtet werden können, ist das Unvergebbare nicht mit dem Unverzeihlichen identisch. So kann, was aus göttlicher Sicht unvergebbar ist, aus menschlicher möglicherweise unverzeihlich sein, muss es aber nicht. Die Einzeichnung der Unterscheidung zwischen dem Verzeihlichen und dem Vergebbaren in Arendts Auslegung der Jesus-Worte brachte zunächst den Gewinn, ihre Annahme, Jesus verfechte einen substantiellen Begriff der Unverzeihlichkeit (im Unterschied zu seinen Bedingungen des Verzeihens), zu korrigieren. Für ihren Begriff der Unverzeihlichkeit und seine notwendigen Korrekturen war das unerheblich, ist aber bei der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Zugangsweisen auf die eine Tat von Bedeutung. Denn diese jesuanische Unterscheidung weist auf die prinzipielle Eigenständigkeit der beiden Perspektiven von Schuld und Verzeihung oder Sünde und Vergebung, ohne ihre Vereinbarkeit zu bestreiten. Für die Rechtfertigung des Verzeihens als eines menschlichen Vermögens in seinem Verhältnis zur Sündenvergebung reicht die Doppelung der Perspektiven aus. Der Unterordnung des Verzeihens unter das Vergeben, wie sie Scheiber vertritt, muss man jedoch mit Skepsis begegnen, weil sie nicht nur ihren Interpretationsrahmen des Verzeihens aus der Sündenvergebung gewinnt (wogegen prima facie nichts einzuwenden wäre), sondern daraus das Verzeihen dogmatisch ableitet: »[W]enn ich jemandem vergebe, geschieht dies unter Inanspruchnahme der Fähigkeiten und Möglichkeiten, die Gottes Vergebungswille mir und den anderen bereithält.« 84 Für eine Rechtfertigung des Vermögens zu verzeihen reicht das nicht hin. Denn ohne 84
Scheiber: Vergebung, S. 297; vgl. ebd., S. 45–48, 290–314, und FN 77, S. 234. A
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die Unterscheidung von Schuld und Sünde und die damit verbundenen Begriffe der persönlichen Schuld und Verantwortung bleibt offen, welche konkrete, zwischenmenschliche Bedeutung sie im Rahmen einer der göttlichen Sündenvergebung allein sich verdankenden Verzeihung zwischen Menschen haben können. Weil sich auch in diesem Fall fragt, wie ein solchermaßen abgeleitetes Verzeihen mehr sein kann als eine eschatologische Vertröstung der Opfer, gilt zwar die prinzipielle Möglichkeit beider Perspektiven, wobei diejenige der Schuld und der Verzeihung im Unterschied zu der der Sünde und Sündenvergebung nicht auszuweichen droht in ein exklusives Gottesverhältnis, sondern der Gabe menschlicher Freiheit und ihrem moralischen Ernst dort Geltung verschafft, wo sie ihren angestammten Ort hat: im MiteinanderHandeln und -Sprechen der Menschen und nicht in der Abstraktion der Sünde, die die Gabe der Freiheit von sich weist und an Gott weiterreicht, – »als vergäben nicht die Menschen einander, sondern Gott den Menschen, indem er sich eines menschlichen Mediums bedient« (VA, 305). Dass aber die Perspektive der zwischenmenschlichen Verzeihung nicht frei ist von den vielfältigen (und nicht nur sündentheologischen) Versuchungen des Ausweichens vor der zwischenmenschlichen Schuld, war zuvor schon Gegenstand der Überlegungen (siehe Kapitel 4) und wird es erneut in Kapitel 7 sein.
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Arendts fiktives Urteil über Eichmann hatte schon zu verstehen gegeben, dass für sie die Strafe nicht in den Motiven oder dem Innenleben des Täters, sondern allein in seinen »wirklichen Handlungen« (EJ, 328) ihren Grund hat. Auch wenn sie sich nicht eingehend mit philosophischen Theorien der Strafe beschäftigt hat, wird man diesen Begriff der Strafe den retributiven Rechtfertigungstheorien derselben zurechnen dürfen. So hat sie dem Begründer der Besserungstheorie der Strafe, Platon im Gorgias, vorgehalten, dass der Täter nicht »durch Strafe gebessert werden kann«, und gegen die Präventionstheoretiker gewandt hinzugefügt, dass die Strafe auch kein »abschreckendes Beispiel für andere darstellt«, sondern dass der Täter durch seine Tat »die Weltordnung als solche verletzt« (ÜB, 121) hat und seine Strafe auf diesen Verstoß reagiert. Diese Rechtfertigung 238
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der Strafe fügt sich zu einem aus dieser Perspektive retributiv zu nennenden Begriff der zwischenmenschlichen Verzeihung, der gleichfalls die Voraussetzung einer moralisch autonomen und verantwortlichen Person macht. 85 Wenn aber die Strafe allein auf die Tat reagiert, das Verzeihen sich jedoch an die Person des Täters richten soll, dann ist in dieser verschiedenen Gegenstandsbestimmung angelegt, dass Arendt Audens Kritik an ihrem alternativen Verhältnis von Verzeihen und Strafe entsprechen muss (siehe HA/WA, 004865). Also hat sie dem in späteren Veröffentlichungen Rechnung getragen (siehe LG, 181; MZ, 281 f.) und Verzeihen und Strafe in ein komplementäres Verhältnis gesetzt und wie in der hier vorgeschlagenen Trennung von Vergeben und Verzeihen unterschieden: nämlich so, dass die Strafe sich dem Gesetz folgend mit dem Verstoß gegen das Recht zu befassen hat und dabei unabhängig ist von den Überlegungen des Opfers, ob es verzeihen, vergessen oder wie auch immer reagieren will (vgl. Kapitel 3.b.b), 86 während das Verzeihen sich an den Täter wendet. In beiden möglichen Lesarten ist die Alternative von Verzeihen und Strafe also ein Irrweg. Zum einen können sich Strafe und Verzeihen zugleich mit ein und derselben Tat beschäftigen, denn jede hier infrage kommende Tat lässt sich unter den Aspekten der zwischenmenschlichen Schuld und des staatlichen Rechtsverstoßes betrachten. Allerdings tritt das Verzeihen nicht mit Notwendigkeit zur Strafe hinzu, denn Opfer und Täter können sich nach einem Ge85 Vgl. OS, 42; Arendt: Über den Zusammenhang, S. 149. Siehe aus der Fülle der Literatur die instruktiven Überlegungen von Wolfgang Kersting: Zur philosophischen Begründung der Strafe. Historische Skizzen und systematische Probleme, in: Hans-Helmuth Gander/Monika Fludernik/Hans-Jörg Albrecht (Hg.): Bausteine einer Ethik des Strafens. Philosophische, juristische und literaturwissenschaftliche Perspektiven, Würzburg 2008, S. 3–46; Michael Pawlik: Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation von Strafe, Berlin 2004; siehe hingegen für die dem Abolitionismus zugrundeliegende Verwechslung der Rechtfertigungs- mit der Vollzugstheorie der Strafe, der die Praxis des Strafvollzuges zum Anlass wird, die Strafe überhaupt abzuschaffen, Nils Christie: Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?, München 2005. 86 Siehe die in der deutschen Fassung von Eichmann in Jerusalem nicht enthaltene Passage aus dem Nachwort der zweiten amerikanischen Ausgabe von 1965, das in der deutschen Ausgabe zum Vorwort wurde (vgl. EJ, 9–25): »Justice, but not mercy, is a matter of judgment«; Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. Introduction by Amos Elon, New York u. a. 2006 (Nachdruck der zweiten amer. überarb. und erw. Auflage 1965), S. 296, was Beiner aus dem Zusammenhang heraus übersetzt mit: »Gerechtigkeit, nicht Vergebung ist Sache des Urteils«; Beiner: Arendt, S. 127.
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richtsverfahren gegen eine persönliche Verständigung entscheiden und es beim Gerichtsurteil belassen. Auch wird nicht jede Unrechtstat vor Gericht gebracht, sondern kann auch ohne die rechtsstaatliche Strafe auf dem Wege des Verzeihens oder mit anderen Mitteln verhandelt werden. Oder es handelt sich um eine der vielen Begebenheiten, die wir etwa als Verstoß gegen gesellschaftliche Benimmregeln oder gegen die noch weniger greifbaren Umgangsformen in Freundschaften oder Partnerschaften verstehen, die nicht kodifiziert sind und die wir dennoch so erfahren, dass wir die Bitte um Verzeihung für angebracht halten. Schließlich bedeutet umgekehrt ein geglücktes Verzeihungsgeschehen nicht, dass nicht auch der Staat nach Maßgabe des Rechts gegen den Täter vorgeht. Gälte zum anderen aber Arendts, wie gesehen, revidierte These, dass wir nur verzeihen können, wenn wir auch bestrafen können, so wäre das Verzeihen an die Möglichkeit strafrechtlicher Sanktionen gebunden. Wir kennen aber Taten, die wir nicht in Rechtsbegriffe fassen können und die wir, wie im Falle Eichmanns, nur aus der Verlegenheit heraus bestrafen, keine angemessene Rechtsantwort auf sie zu haben. Doch bleibt zumindest die Möglichkeit, auch diese Taten, an denen das Rechtssystem versagt, zu verzeihen. Treffen aber im günstigen Fall Strafe und Verzeihung zusammen, ist gewährleistet, dass das geschehene Unrecht nicht nur staatlich-strafend, sondern auch zwischenmenschlich-verzeihend behandelt wird. Erst dann verbinden sich die normbewahrende und die personale Komponente des Umganges mit Schuld und Leid. Insofern die Strafe gerade nicht von der vorgeschriebenen und gerechtfertigten Sanktion gegen das Fehlverhalten absieht, fällt sie nicht unter das vergebende Verhalten der Instanz, die im Auftrag der Gemeinschaft mit der Bewahrung und Einhaltung der Gesetze beauftragt ist. Sie ist die nach feststehenden Regeln vom Staat als dem Hüter der allgemein geltenden und von den Mitgliedern der Gemeinschaft anerkannten Gesamtheit der Normen verhängte Strafe gegen denjenigen, der gegen die gemeinsamen Regeln verstoßen hat. Im Rahmen der Unterscheidung von Verzeihen und Vergeben ist sie dennoch einige Überlegungen wert. Denn im Vergleich zur theologischen Debatte über die Sündenvergebung ist dem Staat und seinem strafenden oder vergebenden Handeln ein deutlicheres Bewusstsein von der Dürftigkeit einer allein strafenden oder vergebenden Reaktion eingeschrieben, weshalb er deren praktischem und systematischem Ergänzungsbedarf nachzukommen versucht. 240
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Der gegenwärtige Rechtsstaat weiß um die Defizite seiner Ausrichtung allein an der Normwiederherstellung und der Strafe für den Täter und versucht deshalb, mit dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) 87 die zwischenmenschliche Dimension zwischen Opfer und Täter in sein Handeln einzubeziehen, weil die Strafe lediglich eine Verhandlung zwischen dem Rechtsbrecher und dem Staat als Hüter von Recht und Ordnung ist. »In der […] Entstehung staatlichen Strafrechts als wesentlichem Kern des Gewaltmonopols kam es tatsächlich zu einem Prozeß nicht nur der Marginalisierung des Opfers, sondern einer vollständigen Bedeutungslosigkeit des Opfers […]. Die relevanten Beziehungen werden im und durch das Strafrecht auf die Beziehung zwischen Staat und Täter konzentriert.« 88 Aus dem Verbrechen gegen das Opfer wird vor dem staatlichen Gerichtshof ein Verstoß gegen geltendes Recht, aus dem zwischenmenschlichen Geschehen wird ein Verhältnis zwischen Staat und Rechtsbrecher. In der Absetzbewegung von dieser rechtsgeschichtlichen Entwicklung gilt das herkömmliche Strafrecht und seine Strafpraxis einigen Kritikern im Blick auf den Ausgleich zwischen Täter und Opfer als »überfordert, hinderlich und gar kontraproduktiv«. 89 Dass der Staat auf den TOA und ähnliche Mittel zurückgreift, ist eine Reaktion auf den beschriebenen Ergänzungsbedarf und zugleich eine von der Kritik angeregte und erhebliche Ausweitung des Aufgabenbereiches staatlicher Strafe, die nicht nur die rechtliche, sondern auch die persönliche, die soziale und die materielle Dimension des Unrechts zu regeln habe. Diese Konzepte eines sogenannten restaurativen Strafrechts 90 gehen davon aus, dass sich die Bürger mit den Methoden der soge87 Um zu zeigen, dass dem Rechtssystem ein höheres Differenzierungsniveau bezüglich des Verhältnisses von Vergeben und Verzeihen als der Sündenvergebung eignet, reicht der TOA als Beispiel für das weite Feld der Schlichtungsverfahren aus; vgl. als Überblick: The European Forum for Victim-Offender Mediation and Restorative Justice (Hg.): Victim-Offender Mediation in Europe. Making Restorative Justice Work, Leuven 2000; siehe zu den historischen und rechtswissenschaftlichen Entstehungskontexten des TOA Winfried Hassemer/Jan Philipp Reemtsma: Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit, München 2002, S. 88–91. 88 Hans-Jörg Albrecht: Strafe und Herrschaft, in: Gander/Fludernik/ders. (Hg.): Bausteine, S. 95–115, hier S. 101; vgl. zum Folgenden neben der in der vorigen FN genannten Literatur ebd., S. 99–111. 89 Albrecht: Strafe, S. 101. 90 Siehe als Vertreter einer restaurativen Strafrechtskonzeption, die überwiegend auch eine abolitionistische ist, Christie: Wieviel Kriminalität, bes. S. 68–74, 124, 157–161.
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nannten Wiedergutmachung ein Recht zurückholten, das sich der Staat unrechtmäßig angeeignet habe. Zu fragen ist aber, ob solche restaurativen Konzepte überhaupt als Strafe gelten und die Funktion der Strafe übernehmen können. Denn zum einen bedeutet der Verzicht auf strafrechtliche Sanktionen die Engführung der Tat auf die Beziehung zwischen Täter und Opfer. Damit wäre die Funktion der Strafe verfehlt, dass sie auf einen Verstoß gegen die allgemein anerkannten Normen so reagiert, dass die Gefahr der Selbsthilfe gebannt ist. Denn Rache und Vergeltung oder der Verzicht auf die jeweiligen Interessen treten dann in den Vordergrund, wenn die Schlichtungsverfahren, denen kein staatliches Sanktionspotential mehr zur Verfügung steht, scheitern sollten. Insofern nimmt der Staat den Beteiligten nichts, sondern er verleiht ihnen ein erhebliches Maß an Sicherheit und Gerechtigkeit, über das sie ohne ihn nicht verfügten. Zum anderen verkennen die restaurativen Konzepte den Gegenstand der Strafe überhaupt. Sie reagiert auf die Verletzung einer Norm und den Anspruch der Allgemeinheit auf Bewahrung dieser Norm. Dass die Tat eine weitere Dimension in der Beschädigung eines unmittelbar zwischenmenschlichen Verhältnisses hat, ist mit ihr nicht angesprochen. Sie ist die »Antwort auf das Geltungs- und Sanktionsproblem […], nicht jedoch auf das, was als der einzelnen Straftat vorgelagerter oder aus ihr folgender Konflikt oder Störung verstanden werden kann.« 91 Wer aufgrund der Marginalisierung des Opfers im modernen Strafrecht den Schluss zieht, das Strafrecht selbst abzuschaffen, verkennt zum einen die gesellschaftliche Befriedungsfunktion der Strafe und öffnet zum anderen der anarchischen Selbsthilfe Tür und Tor. Darüber hinaus – und das ist der für die Vereinbarkeit von Strafe und Verzeihung entscheidende Punkt – ignoriert er die überpersönliche Bedeutung jeden Unrechts, benennt den übrigbleibenden zwischenmenschlichen Umgang mit der persönlichen Dimension des schuldhaften Ereignisses terminologisch wenig hilfreich trotzdem als Strafe und legt damit die Verwechslung des zwischenmenschlich-verzeihenden mit dem staatlichstrafenden Umgang mit dem Unrecht nahe. Die restaurativen Bestrebungen legen den Finger in die Wunde des zwischenmenschlichen Defizits des Strafrechts, aber sie schießen in der Verkennung seiner Aufgabe über das Ziel hinaus. Die Strafe ist für den Ausgleich zwischen den Tatbeteiligten nicht zuständig und 91
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kann daher per se nicht in dem Sinne überfordert oder gar kontraproduktiv sein, wie es ihr unterstellt wird. Sie ist nicht dazu da, »soziale Harmonie« zu stiften. 92 Gegen den Optimismus der restaurativen Straftheorie wäre vielmehr darüber nachzudenken, ob nicht der Staat im TOA und dergleichen mehr gerade deswegen das Feld seiner strafenden Tätigkeit überschreiten muss, weil seine Bürger zu einer eigenständigen Verständigung nicht fähig sind. Die drängende Frage ist daher, wie sich Strafe und persönliche Ausgleichsbemühungen so ergänzen, dass die staatliche Sanktion die Verständigung zwischen seinen Bürgern nicht unmöglich macht. Von welcher Art muss die staatliche Reaktion auf die Straftat sein, dass die zugrundeliegende Beschädigung der persönlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer nicht auf Dauer gestellt wird, sondern für beide diejenigen Schlichtungsmechanismen zu gangbaren Wegen werden können, die jenseits des staatlichen Systems in jeder Gesellschaft prinzipiell zur Verfügung stehen, aber – das zeigt die bloße Existenz solcher Instrumente wie des TOA – längst nicht zum Repertoire aller seiner Bürger gehören? Dass allerdings diese Ausgleichsverfahren an die Möglichkeit einer Wiederaneignung des Streitfalles durch den Staat gebunden bleiben müssen, erhellt zum einen aus der Pflicht des Staates, diese Mechanismen nicht zu Einfallstoren der regellosen Selbsthilfe werden zu lassen. Zum anderen wird daraus verständlich, dass der TOA und andere Schlichtungsverfahren ein Zwitter aus Verzeihung und Vergebung sind. Der Staat verzichtet auf die vorgeschriebene Sanktion zugunsten einer persönlichen Verständigung und setzt auf die Entscheidung von Täter und Opfer für ein Schlichtungsverfahren. Insoweit können wir von Verzeihen sprechen. Andererseits handeln die Schlichter in Vertretung der Allgemeinheit, deren eigentlicher Vertreter, der Staat, die Interessenwahrung nur delegiert hat. Sein prinzipieller Anspruch auf die Durchsetzung der Interessen der Allgemeinheit steht im Hintergrund des TOA. Daher können wir auch von Vergeben sprechen. 93 Die Praxis des TOA kommt dem Ideal einer konzertierten Akti92 Jean-Claude Wolf: Strafe als Wiederherstellung eines Gleichgewichts, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 199–216, hier S. 213. 93 Jan Philipp Reemtsma hat auf die rechtsdogmatische Schwierigkeit hingewiesen, dass der TOA sich nicht mit Zwang verträgt und die freie Entscheidung der Betroffenen braucht. Doch muss der Staat dem Gleichheitsgrundsatz Rechnung tragen und darf »den Zufall der Wiedergutmachungsbereitschaft des konkreten Opfers nicht zur Grundlage
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on von Staat und Beteiligten nicht immer nach und hat deswegen zu heftiger Kritik geführt. Dabei ist es weniger das Problem, dass im vorgerichtlichen Ausgleich auch finanzielle und arbeitsökonomische Interessen aufseiten des mit der Menge der Verfahren überlasteten Staates im Spiel sind. Das muss die Aufrichtigkeit der involvierten Parteien nicht notwendig in Mitleidenschaft ziehen. Zum Problem wird die Praxis des TOA dann, wenn dem Staat die Mittel fehlen, sein Angebot, das er ohne die Einwilligung der Beteiligten nicht aufrechterhalten kann, auch gegen Missbrauchsversuche durchzusetzen, oder wenn er Umsetzungen der Schlichtungsidee zulässt, die die beabsichtigte Verständigung ad absurdum führen. Die Vorstellung von »begegnungsfreien Wiedergutmachungsbemühungen« ist ebenso widersinnig wie eine Rechtsprechung, die in dem einen Fall das Schreiben des Rechtsbeistandes des Täters an den Rechtsbeistand des Opfers für hinreichend erachtet und die in dem anderen Fall das Schreiben des Täters an die Opfer eines Bankraubes für unzureichend im Sinne des TOA hält. 94 Der TOA ist auf eine klare Struktur angewiesen, die das Verfahren regelt, zugleich die Gefahr der Ritualisierung bannen und zudem der Judikative wirksame, aber nicht kontraproduktive Kontrollmittel an die Hand geben muss. Zwischen der Skylla der Verfahrenssicherheit und der Charybdis der in Reue und ihrer materiellen Entsprechung lebendigen Verständigung mutet er wie die Quadratur des Kreises an. Welche Irrwege bis zu einer solchen Verfahrenssicherheit des TOA auch noch zurückgelegt werden müssen (wenn sie denn überhaupt möglich ist), ändert all das doch nichts an der Ergänzungsbedürftigkeit der staatlichen Strafe und ihrer prinzipiellen Vereinbarkeit mit der Verzeihung, was nachzuweisen das vordringliche Ziel dieser einleitenden Überlegungen zum staatlichen Vergebungshandeln war: »Die juristisch-legitimierte Bestrafung stellt vielleicht die Ordnung wieder her – aber sie heilt nicht das verletzte Leben.« 95 Und nicht alles, was wir als Straftat auffassen, lässt sich letztlich mit den Mitteln des Rechts begreifen, auch wenn wir es auf diese Weise handhaben. Zu denken ist etwa an Arendts Beispiel für diesen Sachverhalt – die nationalsozialistische Vernichtungspolitik – oder an die von Strafrechtsfolgen für den konkreten Täter machen«; vgl. Hassemer/Reemtsma: Verbrechensopfer, S. 94–98. 94 Diese Beispiele nach Hassemer/Reemtsma: Verbrechensopfer, S. 97, FN 86. 95 Kodalle: Verzeihung des Unverzeihlichen, S. 420.
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körperlichen und seelischen Folgen der Folter. Es sind gerade solche Taten, die mehr als andere und über die prinzipielle Ergänzungsbedürftigkeit der Strafe hinaus nach einem multiperspektivischen Umgang mit demjenigen Leid verlangen, das sie angerichtet haben. Andersherum verfehlt das Verzeihen denjenigen »überindividuellen Schaden, der das Interesse potentiell aller Rechtsbürger tangiert«. (AT, 79) Es reicht in gewisser Weise weiter als die Strafe, ersetzt sie aber nicht. So hat Arendt in Bezug auf die westdeutsche Vergangenheitspolitik diesen doppelten Zugriff folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Politisch [meine Hervorhebung, T. D.] […] wird das deutsche Volk berechtigt sein, diese furchtbare Vergangenheit für bewältigt zu erklären, wenn es die Mörder, die immer noch unter ihm unbehelligt leben, abgeurteilt und alle wirklich Belasteten aus den Positionen des öffentlichen, nicht des privaten und Geschäftslebens [meine Hervorhebung, T. D.] entfernt hat. 96
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Die Amnestie
In der Amnestie leistet der Staat in seiner Funktion als Hüter der allgemeinen Ordnung genau den Verzicht auf die in den Regeln vorgeschriebene Reaktion, die er in der Strafe noch verwirklicht. Wenn Regierungen sich als Initiatoren von Amnestie-Gesetzgebung betätigen, möchten sie zumeist den gerichtlichen Schuldspruch und das schuldhafte Geschehen zwischen Menschen umgehen, weil sie das zukünftige und befriedete Zusammenleben der Staatsbürger für das höhere Gut halten. In dieser Absicht richten sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf den Täter, sondern auf einen oder mehrere Straftatbestände, von deren rechtsförmiger Verfolgung sie so schwere Auswirkungen auf den erwünschten gesellschaftlichen Frieden befürchten, dass sie davon Abstand nehmen. Die staatlichen Organe untersagen per Amnestie gesetzlich, Täter zu ermitteln, Rechtsverstöße zu benennen, Zurechenbarkeiten festzustellen und Verfahren einzuleiten. Mit Amnestien schreibt der Staat mit den Mitteln des Rechts vor, die Anwendung des Rechts zu unterlassen. Sie etablieren daher im Unterschied zur Strafe keine Beziehung zwischen Übeltäter und Normbewahrungsinstanz, sondern sie sind Formen der Selbstverständigung Letzterer darüber, von ihren gesetzlich vorgeschriebenen 96
Arendt: Der »Fall Eichmann« S. 40. A
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Aufgaben abzusehen. Sie legen den Schleier der Rechtmäßigkeit über die Selbstentmächtigung des Staates. Damit ist auch der rechtliche Status des Opfers betroffen, weil sich rechtlich ein Opfer nur da identifizieren lässt, wo auch ein Täter bekannt ist. Wo es sich um eine strafrechtliche Amnestie handelt, besteht die Möglichkeit eines zivilrechtlichen Verfahrens, ist also das Handlungsverbot der legislativen Gewalt für die Judikative (und die ihr zuarbeitende Exekutive) kein umfassendes. Ist es eine strafund zivilrechtliche Amnestie, ist die »Trennwand zwischen Lebenswelt und Rechtswelt« 97 wasserdicht. Weil aber eine Amnestie immer auch das Eingeständnis ist, vor den befürchteten Kosten einer strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen zurückzuschrecken, ist sie ein klares Zeichen für ein Unrechtsbewusstsein. Deshalb kann man sie als pragmatische und eminent politische Verlegenheitslösung bezeichnen, die der Staat anwendet, wenn massenhaftes Unrecht vorliegt, das er kaum wirksam ahnden kann, das er aber als Rechtsbruch verstanden wissen will. Oder er greift auf sie zurück, weil er es mit Systemunrecht, wie etwa dem südafrikanischen Apartheidsregime, zu tun hat und er die prinzipiell mögliche Trennung von kollektiver Verantwortung und persönlicher Schuld und die Personalisierung politischer Strukturen nicht angehen will. Gegen diese Strategie kann man analog zu Arendts Entlarvung des Gehorsams als Zustimmung (vgl. EJ, 328 f.; PVD, 38) einwenden, dass die einzelnen Personen in den Strukturen handeln und dementsprechend auch an der Verhandlung der Schuld und der Beilegung der Konflikte teilhaben müssen. Denn trotz der verständlichen Neigung, »makrokriminelles Unrecht […] durch faktische Entkriminalisierung und stillschweigende Amnestien« zu erledigen, ist die Isolierung »individueller Schuld« auch im Falle von Systemunrecht genauso möglich, wie die Zuschreibung persönlicher Schuld im strafrechtlichen Normalfall nicht ohne ein bestimmtes Maß an Vereinfachung und Fiktionalisierung auskommt. 98 Problematisch an der Norbert Campagna: Amnestie: Wenn das Vergessen zur staatsbürgerlichen Pflicht wird. Überlegungen zum Wesen und zur Legitimität des befohlenen Vergessens, in: ARSP 90 (2004), S. 530–549, hier S. 536; vgl. Johan Georg Schätzler: Handbuch des Gnadenrechts, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage, München 1992, S. 16–18, 208–219. 98 Siehe Herbert Jäger: Amnestie für staatliche Verbrechen?, in: Kritische Justiz 23 (1990), S. 467–474, Zitate S. 468, 469. 97
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Amnestie ist also ihr Verzicht auf strafrechtliche Verfolgung von Unrecht, so dass es zu keinem Urteil kommen kann, das die Wahrheit über die Tat und die persönliche Verantwortung des Täters, ganz zu schweigen von den vorgeschriebenen Rechtsfolgen, öffentlich zum Ausdruck bringen könnte. Im Blick auf das zwischenmenschliche Verzeihen und die prinzipielle Vereinbarkeit von Verzeihen und Vergeben ist von Bedeutung, dass im Nebel der Amnestie persönliche Schuld und Verantwortung zu rein privaten Angelegenheiten werden und keine öffentlichen Angelegenheiten mehr sind. So wie die Ideen eines restaurativen Strafrechts bestreitet die Amnestie die öffentliche Relevanz des Vorgefallenen. Sie breitet nicht zwingend den Schleier des Vergessens aus, aber sie verdeckt Wahrheit und Verantwortung. Dagegen verblasst, dass sie nicht die prinzipielle Strafbarkeit der amnestierten Straftatbestände leugnet und ebenso wenig einem Freispruch gleichkommt. Ihr wichtigstes Kennzeichen ist die Vermeidung eines Schuldspruches in der Verfolgung ihres politischen Ziels der »Wiederherstellung der Einheit des Gemeinwesens.« 99 Damit ist noch nicht entschieden über ihre Vereinbarkeit mit dem zwischenmenschlichen Akt der Verzeihung. Aber insofern die Amnestie immer eine Vorentscheidung darüber ist, was zum Gegenstand des politischen und gesellschaftlichen Gedächtnisses gehört, wird es dem Opfer schwerfallen, gegen das verordnete und legitimierte Vergessen seine unter den Bedingungen der Amnestie eben nur individuelle Wahrheit überhaupt aufrechtzuerhalten, ganz zu schweigen davon, auch den Täter von seiner Wahrheit zu überzeugen, die etwas anderes sagt als die offizielle Erinnerungskultur. Denn die Amnestie ist kein bloßes Rechtsinstitut, sondern formt in einem wesentlichen Sinne den kollektiven Bezug auf schuldbeladene Vergangenheiten. Natürlich wird man einwenden können, dass das Recht nur eine unter im Grunde unendlichen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Gestaltung des kollektiven Gedächtnisses ist und es wegen seines Abstraktionsgrades vielleicht noch weniger als andere Möglichkeiten in der Lage ist, der geschichtlichen Wirklichkeit gerecht zu werden. Und es hat einiges für sich, dass sich mit rechtlichen Mitteln keine endgültigen Umgangsweisen mit der belastenden Vergangenheit etablieren lassen.
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Aber für das Opfer stellt sich im Falle der Amnestie der prinzipiell ergebnisoffene Prozess, welches Verhältnis die Mittel des Rechts, der Politik, der Gesellschaft und des Einzelnen in den Verhandlungen über die konkrete Gestalt des kollektiven Gedächtnisses in der ihn betreffenden Sache eingehen, gerade nicht als ergebnisoffene Angelegenheit dar. Mit der Amnestie sind wesentliche Vorentscheidungen getroffen, die einen Schatten auf sein Verhältnis zu seinem Peiniger werfen. Das strukturelle Problem der Amnestie, das sich in ihrer gedächtnispolitischen Erläuterung zeigt, und ihre besondere Zumutung für die Opfer sind Teil ihrer »instabilen Einheit von Anamnese und Amnesie«, innerhalb derer »mit der Zeit die Amnesie die Anamnese in den Schatten stellen wird.« 100 Die Amnestie bestreitet nicht den Wirklichkeitscharakter dessen, was die Opfer erlitten haben, aber sie stellt dessen öffentliche Relevanz infrage. Sie deckt den Mantel des Schweigens über das Geschehene und gibt im Verbund mit dem Absehen von Strafverfolgung zu verstehen, dass die Sache nicht so bedeutsam war, dass man sie – um es in Arendts Worten zu sagen – zu den öffentlichen Angelegenheiten zählen müsse, die das politische wie rechtliche Interesse aller betreffen. Für das Opfer ist die Amnestie daher eine dreifache Zumutung: Erstens nimmt die Obrigkeit dem Opfer die Möglichkeit einer rechtlichen Anerkennung, wobei der Unterschied zwischen einer strafrechtlichen und zivilrechtlichen Amnestie zu beachten ist, weil dieser auch angibt, in welcher Hinsicht sich die Gesamtheit der Bürger so verhalten soll, als ob man niemanden (straf- oder zivilrechtlich) verantwortlich machen könne. Zweitens nötigt die Obrigkeit das Opfer zum Verzicht auf die politisch-öffentliche Anerkennung seines Leids. Und drittens rückt zuletzt auch die zwischenmenschliche Genugtuung in die Ferne, weil die Amnestie dem Täter signalisiert, keinerlei Anlass zu Bedauern oder gar tätiger Reue haben zu müssen, und weil sie damit rechnen muss, vom Täter und der Allgemeinheit als Billigung der Straftat missverstanden zu werden: »Amnesty always implies some level of social acceptance of the violation, or at least some justification of it.« 101 Daher leuchtet es ein, sie »the burden of 100 Kendall Thomas: Die Verfassung der Amnestie: Der Fall Südafrika, in: Smith/Margalit (Hg.): Amnestie, S. 179–191, hier S. 187; vgl. dazu Adam Czarnota: Law as Mnemosyne and as Lethe: Quasi Judicial Institutions and Collective Memories, in: Emilios Christodoulidis (Hg.): Lethe’s Law. Justice, Law and Ethics in Reconciliation, Oxford/ Portland 2001, S. 115–128. 101 Brandon Hamber: Does the Truth Heal? A Psychological Perspective on Political
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victims« zu nennen 102 und als »gewolltes oder befohlenes Vergessen« zu verstehen. 103 Weil die Amnestie – »[d]ipped in a patina of legitimacy and concern for ›reconciliation‹« 104 – die Täter vor der strafrechtlichen Verfolgung schützt, ist sie von Ricœur als politische Entsprechung jenes Missbrauches der Verzeihung identifiziert worden, der hier Verharmlosung im Unterschied zur Nachsicht genannt wurde. Denn die Amnestie harmonisiert das kollektive Gedächtnis um den Preis des Ausschlusses derjenigen Ereignisse, »die die Zukunft vor den Irrtümern der Vergangenheit schützen können« (GGV, 695) und um die folglich auch in der Frage ihrer möglichen Verzeihung nicht mehr gestritten werden darf. Deshalb wird die Amnestie ihre verharmlosende Wirkung nicht los, auch wenn ihre rechtstheoretische Formulierung sich dagegen zu verwahren sucht. Der Vorwurf der Heuchelei hingegen ist keiner, der sich pauschal gegen die Amnestie erheben ließe, sondern den politischen Kontext oder den politischen Charakter, nicht aber das Rechtsinstitut der Amnestie selbst betrifft. Sofern sie vorgibt, an der Befriedung interessiert zu sein und damit eben auch die Fragen nach »Anklage, Verurteilung und Bestrafung« (GGV, 691) zu erledigen können glaubt, wird die Amnestie, wie Ricœur zu Recht anmerkt, zu einer »Karikatur der Vergebung [Angesprochen ist das zwischenmenschliche Verzeihen, T. D.]« (GGV, 750). Denn dort, wo sich diese Fragen stellen, hat auch »die Frage des Vergebens [Angesprochen ist das zwischenmenschliche Verzeihen, T. D.]« (GGV, 690) ihren angestammten Ort. Ricœurs Kritik an der Amnestie ist vor allem deswegen überzeugend, weil sie einen wichtigen Aspekt in der Debatte um die Rechtmäßigkeit der Amnestie aufgreift: nämlich ihr Schillern zwiStrategies for Dealing with the Legacy of Political Violence, in: Nigel Biggar (Hg.): Burying the Past: Making Peace and Doing Justice after Civil Conflict, Washington/D.C. 2001, S. 131–148, hier S. 140. 102 Richard Lyster: Amnesty: the burden of victims, in: Charles Villa-Vicencio/Wilhelm Verwoerd (Hg.): Looking Back Reaching Forward. Reflections on the Truth and Reconciliation Commission of South Africa, Cape Town/London 2000, S. 184–192; vgl. Thomas Macho: Fragment über die Verzeihung, in: Zeitmitschrift. Journal für Ästhetik 1988, S. 135–145, hier S. 138, der denselben Sachverhalt so beschreibt, dass den Opfern die »Vergeßlichkeitsbereitschaft der Täter« aufgezwungen werde. 103 Campagna: Amnestie, S. 533; vgl. Ricœur, der »das geistige Ziel der Amnestie« so angibt: »Das Nicht-Vergessen des Gedächtnisses zum Schweigen zu bringen.« (GGV, 769). 104 Verdeja: Derrida, S. 41. A
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schen ihrer rechtstheoretischen Formulierung und ihrem gedächtnispolitischen und moralischen, aber oft hinter jener Formulierung verdeckten Anspruch, andere Möglichkeiten des Umganges mit schuldbeladener Vergangenheit zu ersetzen. Im Ergebnis fällt die Amnestie aus dem analytischen Begriffspaar Vergeben und Verzeihen heraus. Weil sie keine Instanz vorsieht, vor der sich der Täter verantworten muss, erscheint sie als verharmlosendes Verschweigen, das nicht nur aus diesen Gründen unvereinbar mit dem Verzeihen ist, sondern stärker noch als in Ricœurs Diktum »eher der Gegensatz als das staatliche Pendant zum individuell motivierten Verzeihen« 105 ist. Sie ist zwar ein institutionalisierter Rechtsakt, verdient aber nicht das Prädikat »Vergebung« im vorgeschlagenen Sinne, weil sie im Unterschied zur Sündenvergebung keine wahrheitsgemäße Tatsachenfeststellung, kein Schuldeingeständnis und keine Verantwortungsübernahme des Täters vor der Normbewahrungsinstanz kennt. In der göttlichen Vergebung der Sünden geschieht all das vor dem inneren Gerichtshof des Gottesverhältnisses, für gewöhnlich in der Beichte und im Gebet. Aber die Amnestie sieht, was in der Natur eines solchen hoheitlichen Aktes liegt, gänzlich von der inneren Verfasstheit des Täters ab. Die gesellschaftliche und die zwischenmenschliche Verständigung sind anders als die politisch-rechtliche damit nicht ausgeschlossen, aber erheblich erschwert. Was die Amnestie nicht erwägt, ist der Umstand, dass eine übereinstimmende Beurteilung des Unrechts von Täter und Opfer Voraussetzung einer tragfähigen Verständigung ist und dass dieser Übereinkunft gerade von ihren politischen und das Rechtsbewusstsein betreffenden Signalen der sprichwörtliche Bärendienst erwiesen wird. Amnestien ignorieren – aus politisch-strategischen Erwägungen heraus – die für die Opfer maßgebliche Frage (was etwas anderes ist als der Fall, dass sie keine Antwort darauf haben könnten): [H]ow can victims share civic space with wrongdoers, when these wrongdoers do not acknowledge that their victims are worthy of an apology? 106 Axel T. Paul: Das Unmögliche, S. 53. Christopher Bennett: Is Amnesty a Collective Act of Forgiveness?, in: CPT 2 (2003), S. 67–76, hier S. 69. Wer sich eine Vorstellung von diesen Erschwernissen machen will, kann mit den Arbeiten Freis über die Auswirkungen der bundesdeutschen Praxis der Selbstentschuldung (auf dem Wege der Amnestie) nach dem Ende der NS-Zeit beginnen; siehe ders.: Vergangenheitspolitik; ders.: Erfindungskraft. 105 106
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Die Begnadigung
Die Begnadigung ist wie schon angedeutet (Kapitel 4.c) von der einem anderen Menschen erwiesenen Gnade und dem Erbarmen zu unterscheiden ist. Die rechtswissenschaftliche Sprache verwendet Gnade und Begnadigung häufig synonym. Die persönliche Gnade aber, die nicht auf ein Schuldeingeständnis oder Reue angewiesen ist, gibt dem Schuldigen zu verstehen, dass sie eine sozialen (und nicht rechtlich kodifizierten) Anspruch auf Satisfaktion gerade nicht zur Durchführung bringt, aber doch um diesen Anspruch weiß. Insofern wohnt der Gnade der unverhohlene Verweis auf diesen uneingelösten, aber jederzeit einlösbaren Anspruch bei. Während das Verzeihen im Unterschied dazu die Zusicherung des Nicht-Mehr-BezichtigenWollens infolge einer Verantwortungsübernahme ist, bedeutet die Begnadigung den rechtsförmigen und damit verbindlichen Verzicht der institutionellen Rechtsorgane, den Anspruch auf Bestrafung in die Tat umzusetzen. Ihr fehlt, wie dem Verzeihen, das Unausgesprochene und Bedrohliche der Gnade. Die Begnadigung steht, das dürfte nach dem Ausschluss der Amnestie aus dem Begriffspaar von Verzeihen und Vergeben kaum verwundern, im Gegensatz zur Amnestie. Formal und rechtstheoretisch gesehen betrifft der Begnadigungsakt immer eine einzelne Person und nicht einen Straftatbestand, unter den eine Vielzahl von Personen gerade ohne Ansehen der einzelnen Person subsumiert wird. Die Amnestie verlangt nach einem Gesetz und fällt in den Bereich der legislativen Gewalt, während die Begnadigung in Form eines Erlasses erfolgt. Am deutlichsten tritt der Gegensatz darin zutage, dass die Begnadigung auf ein Gerichtsverfahren folgt und weder Wahrheit verschweigt noch persönliche Verantwortung vertuscht noch ein Schuldeingeständnis verhindert oder die politische und rechtliche Bedeutsamkeit des Gesetzesverstoßes und des Opferleides, das die Tat zugleich ist, bestreitet. An all dem rührt der Staat nicht, wenn er begnadigt. Während die Amnestie verhindert, dass die Tat Teil der öffentlichen und rechtlichen Welt wird, belässt es die Begnadigung bei einer Kürzung (oder Aussetzung) der gerichtlich verhängten Strafe. Sie bestreitet nicht die Rechtmäßigkeit des Urteils, hebt das Recht nicht auf, sondern sie betrifft den Vollzug der Strafe und befreit den Täter von den Konsequenzen, die er aufgrund seiner Tat verdient hätte, oder mindert die Straffolgen. In dieser Begrenzung greift sie auch nicht über die A
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rechtlich-öffentliche Dimension hinaus, wie es die für das Vergessen plädierende Amnestie tut. Sie sieht, anders als Downie meint, gerade nicht über die Untat hinweg, behandelt den Täter nicht mit Nachsicht und läuft auch nicht auf die Verharmlosung des Geschehenen hinaus. Diese Kritik beschreibt vielmehr die Amnestie, die er nicht in seine Überlegungen einbezieht und die gleichwohl zu den Abgrenzungen des Verzeihens gehört. 107 So wie sich die Begnadigung jedes – positiven wie negativen – Urteils über das Leid des Opfers enthält, ist das begnadigungsbefugte Verfassungsorgan zu keinerlei Rücksichtnahme auf den Willen des Opfers im Zuge seiner Entscheidungsfindung verpflichtet. Dem Geschädigten (oder seinem Umfeld) bleibt nur der Weg, über die Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, wie das in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Begnadigung Angehöriger der Roten Armee Fraktion geschehen ist. Strittig war unter anderem der Punkt, dass der Staat in seinen Gnadenordnungen die Gewährung der Begnadigung nicht von der Reue des Täters abhängig macht, auch wenn sie seiner Sache sicher nicht schadet. Nur ist die staatliche Begnadigung ihrem Wesen nach kein Verdienst, das auf eine Leistung folgt, sondern ein Vertrauensvorschuss, der ohne Demutsgesten oder Reuebekundungen des Täters auskommt. Anhaltspunkte können ihr die durch Fachgutachten abgesicherten Erwartungen darüber sein, dass der Täter sich des Vertrauensvorschusses, der ihm in der Begnadigung gewährt wird, auch würdig erweisen wird. Sie müssen es aber nicht: In Vorleistung tritt allein der Staat, und es wird sich erst im Nachhinein zeigen, ob das in den Täter gesetzte Vertrauen berechtigt war. Einmal angenommen, das Opfer hätte die Wahl, so zöge es die Begnadigung der Amnestie vor, auch wenn ihm das wie die Wahl zwischen Pest und Cholera erschiene. Denn in der Begnadigung geht es wie in der Strafe um eine Beziehung zwischen dem Staat und dem Täter. Und ähnlich wie die Strafe legt die Begnadigung der zwischenmenschlichen Verständigung durch das Verzeihen keine Steine in den Weg. Sie sagt dem Täter auf ihre Weise das, was die Verzeihung ihm zuspricht: Du bist nicht allein der Gesetzesbrecher, der gegen 107 Siehe Downie: Forgiveness, S. 131 f, 134. Ich lasse beiseite, dass auch die Korrektur eines Fehlurteils Begnadigung genannt wird, wofür Freispruch oder Rehabilitation die präziseren Begriffe wären; siehe für die rechtskorrektive Engführung der Begnadigung Moore: Pardons; vgl. zur Definition der Begnadigung Campagna: Amnestie, S. 535 f.; ders.: Das Begnadigungsrecht: Vom Recht zu begnadigen zum Recht auf Begnadigung, in: ARSP 89 (2003), S. 171–185; Schätzler: Handbuch, bes. S. 33–39, 64–77, 120–127.
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eine bestimmte Regel verstoßen hat, sondern wir haben Grund zu der Annahme, dass du im Ganzen ein Bürger bist, der das Vertrauen der Allgemeinheit in dich rechtfertigen und sich wieder als ein aktives Mitglied unserer Gemeinschaft erweisen wird. Die staatlichen Organe in Vertretung der staatsbürgerlichen Gesamtheit sehen in dem Verurteilten nicht mehr allein den Straftäter, dem man misstrauen und deshalb etwa in der Gefängnishaft belassen muss, sondern wieder den Bürger, dem man vertrauen darf. Verzeihen und Begnadigung treffen im Grunde die gleiche Aussage: Der Staat hat den Bürger (oder das Mitglied der Rechtsgemeinschaft) und das Opfer den Mitmenschen in der Person des Täters im Auge. Aufgrund dieser strukturellen Gleichheit bei dimensionaler Unterschiedenheit scheitern sowohl die Versuche, Verzeihung und Begnadigung miteinander zu identifizieren 108 als auch der Versuch, die Verzeihung mittels der rechtsaufhebenden Wirkung der Begnadigung zu erläutern, um dem als unbedingt gedachten Verzeihen analog moralaufhebende Wirkung zusprechen und es als gerechtigkeitstranszendent inszenieren zu können. Weder hebt die Begnadigung Recht auf noch ist die Verzeihung ein außermoralisches Vermögen. Vielmehr zeigt sich in diesen Versuchen ein Unverständnis für die notwendigen phänomenologischen und begrifflichen Differenzierungen, die eine Theorie des Verzeihens verlangt und die man somit zu umgehen sucht, so dass man bei einer Verzeihung landet, die phänomenologisch und begrifflich kaum Signifikanz besitzt. 109 Es ist jener Aspekt der strukturellen Gleichheit und der dimensionalen Unterschiedenheit, den Arendt im Blick hat, wenn sie Audens Kritik aufnimmt und Strafe und Begnadigung, und nicht das Verzeihen, aus der Perspektive des Gesetzes in ein alternatives Verhältnis setzt: »You [Auden, T. D.] are entirely right […] in that punishment is a necessary alternative only to judicial pardon.« (HA/ WA, 004865). Denn er habe sie überzeugt, »that a line should be drawn between forgiveness and judicial pardon« (HA/WA, 004864), weil die Begnadigung auch erfolgen könne, ohne das der Täter bereue. 110 108 Das hat schon R. J. O’Shaughnessy nachgewiesen; siehe ders.: Forgiveness, in: Philosophy 42 (1967), S. 336–352; siehe als Beispiel für jene scheiternden Identifikationsversuche Carl Reinhold Bråkenhielm: Forgiveness, Minneapolis 1993 (schwed. Original 1987), S. 70–72. 109 Siehe Gerl-Falkovitz: Verzeihung, hier S. 193, aber im Grunde durchgängig. 110 Barbara Hahn übersetzt »judicial pardon« mit »juridischem Verzeihen« im Unter-
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Abgesehen von dem Umstand, dass Arendt und Auden hier irren, weil die Begnadigung nicht in einem alternativen, sondern konsekutiven Verhältnis zu Strafe steht, ist damit der Grund benannt, aus dem für sie Begnadigung und die von Arendt kritisierte christliche Nächstenliebe in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen. Zugleich aber blickt die Begnadigung in einem besonderen Sinne auf den Schuldigen, allerdings und im Unterschied zum Verzeihen nach Maßgabe des Gesetzes und aus der Perspektive der Allgemeinheit, in deren Namen sie spricht, und nicht aus der je individuellen und unvertretbaren Perspektive des Opfers selbst. Und erst diese Differenzierung macht es möglich, Arendts beiläufiger Assoziation, dass sich im römischen Prinzip des parcere subiectis und im modernen Begnadigungsrecht Spuren der jesuanischen Einsicht in die Bedeutung des Verzeihens fänden (VA, 305; vgl. PP, 58), einen konkreten Sinn beizulegen. Das gemeinsame Moment von Verzeihen und Begnadigen liegt jedoch in der sie beide anleitenden Struktur des Freigebens und Gehenlassens des jeweiligen Mitmenschen beziehungsweise des Straftäters: »Judicial pardon shares with forgiving that it pardons a crime for the sake of the person who did it.« (HA/WA, 004864) Verzeihen und Begnadigung stehen gerade nicht in einem alternativen, sondern, wie das in der analytischen Unterscheidung von Vergeben und Verzeihen angedacht ist, in einem komplementären Verhältnis zueinander. Ritter Blaubart kann nicht begnadigt werden, weil er schlechterdings ein Mörder ist. Von ihm kann niemand mehr behaupten, dass ihm jenes vorlaufende Vertrauen geschenkt werden kann, das die Begnadigung ist. Aber die zuständige Institution »may pardon a crime passionel because murder was committed by somebody who was not a murderer« (HA/WA, 004864) und der auch in Zukunft keine weiteren Mordtaten begehen wird – so jedenfalls die in der Begnadigung mit ausgesprochene Erwartung. schied zum »moralischen« Verzeihen, wie man hinzufügen könne. Weil aber Arendt wie in ihren anderen Schriften für das moralische Verzeihen, das das zwischenmenschliche ist, immer »forgiveness« nutzt und weil sie »judicial pardon« zuvor als »the point where the law breaks down« (HA/WA, 004864) bestimmt hat und weil es um die Rechtskategorie der Strafe und deren Alternativen geht, sollte »judicial pardon« mit »Begnadigung« übersetzt werden, denn ihr Empfänger ist »no longer judged solely according to law.« (ebd.) Siehe Barbara Hahn: Wystan Hugh Auden, in: dies./Marie Luise Knott: Hannah Arendt – Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit. Ausstellung Literaturhaus Berlin, Berlin 2007, S. 180–185, hier S. 184.
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Deshalb ist die Begnadigung das Moment des Rechtes, in dem sich die zwischenmenschliche Verzeihung Geltung verschafft; sie hebt das Recht nicht auf, aber sie macht es in der aufschließenden Formulierung von Kodalle »›gelenkig‹« (AT, 70). Die Aussetzung des Vollzuges der Strafe oder seine vorzeitige Beendigung ist der Punkt, »where the law breaks down; the man who receives it is no longer judged solely according to law.« (HA/WA, 004864) Das hat Derrida, der meist als Gegenspieler Arendts gilt, nicht anders gesehen: »The only inscription of forgiveness in the law, in juridical legislation, is no doubt the right to grant clemency«. (TF, 32) Weil die Begnadigung also ein Mittel des Rechts ist, seine notwendige Formalität mit der Unabbildbarkeit der Verschiedenheit seiner Anwendungsfälle zu vermitteln, zieht man den Unterschied, den es zwischen dem Rechtsbrecher und dem Missetäter in der Person des Täters und zwischen der rechtlichen und der persönlichen Dimension des Unrechts zu machen gilt, wieder ein, wenn man von der Verzeihungsfähigkeit des Rechts und von »individual forgiveness« und »forgiveness by the criminal law« spricht. 111 Um den Charakter der Vergebung im Recht zu verdeutlichen, ließe sich der Sachverhalt auch formal ausdrücken: Die Begnadigung, sehr viel mehr als die zwielichtige Amnestie, ist ein Instrument für das Recht zur Selbstreflexion auf seine systematische wie historische Bedingtheit und Fehlbarkeit, auf sein Wesen als eines falliblen und geschichtlichen Kulturproduktes des Menschen. Diese Bestimmung der Begnadigung gibt Gelegenheit zu der weiteren begrifflichen Profilierung, dass mildernde Tatumstände nicht begnadigende Wirkung haben. Sie sind rechtliche Mittel zur Differenzierung innerhalb eines Straftatbestandes und reagieren auf den schon angesprochenen Umstand, dass die Formalität des Rechts mit der unendlichen Variabilität seiner Anwendungsfälle in Übereinstimmung gebracht werden muss. So lässt sich auch der richterliche Ermessensspielraum verstehen, der die notwendig immer nur annähernde Angabe, welche Strafe auf welchen Straftatbestand zu folgen hat, in die konkrete Verhandlung zu übersetzen hat. Mildernde Umstände sind rechtliche Mittel der Tatidentifikation und der Strafbestimmung, auf die eine Begnadigung erst folgen kann. 112 111 Siehe Alexander McCall Smith: Time, Guilt and Forgiveness, in: Christodoulidis (Hg.): Lethe’s Law, S. 47–61, hier S. 60. 112 Vgl. Campagna: Begnadigungsrecht, S. 171.
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An dem Kernproblem allen Vergebungsgeschehens, ob der Sündenvergebung oder der staatlichen Vergebung, ändert die an den Maßstäben des Verzeihungsgeschehens bei Arendt gemessene Begnadigung aber nichts, auch wenn sie aus der Perspektive der Opfer der Amnestie überlegen erscheint. Denn auch sie vermittelt zwischen Täter und der repräsentativen Normbewahrungsinstanz und nicht zwischen Täter und Opfer. Nicht allein die Amnestie ist eine Last für die Opfer, sondern auch die Begnadigung, die daher genau so ergänzungsbedürftig ist wie die Strafe: »The ethical burden to be met when mercy [gemeint ist Begnadigung, T. D.] is undeserved is showing how mercy for perpetrators who have not suffered more than just punishment would impose is compatible with respect for victims of the offense, who have suffered more than the perpetrators.« 113
Von diesem Manko unbeschadet bleibt der rechtsstaatliche Anspruch auf Einhaltung seiner Gesetze und Sanktionen. Und es mag auch nachvollziehbare Gründe geben, warum sich die staatlichen Organe für eine Amnestie und gegen die strafrechtliche Verfolgung von Rechtsverstößen entscheiden. Insofern ist die Kritik an der Amnestie einzuschränken, weil die ausschließliche Betrachtung der Amnestie als Anmaßung verkennt, dass wir nicht nur private Wesen sind und dass mit Unrecht nicht nur verzeihend umzugehen ist, sondern auch vergebend, weil wir jenseits unserer privaten Bindungen immer Teil größerer Vergemeinschaftungen sind, in deren Rahmen dem Unrecht eine je andere Bedeutung zukommt. Allerdings ist mit diesem über-privaten Rahmen auch die Grenze des Vergebens beschrieben. Dort, wo es über diese Grenze hinausgreift, gerät es in der Tat zu einer Anmaßung, zu jener Karikatur, von der Ricœur mit seinem untrüglichen Gespür für das Schillern der Amnestie gesprochen hat (vgl. GGV, 750). Ob aber die Unterscheidung zwischen dem Verzeihen und dem Vergeben und damit auch das Mehr des Verzeihens so formuliert werden kann, dass die Begnadigung »palliative« sei – nur für den Täter und seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, wie hinzugefügt werden muss –, während Verzeihung »essentially restorative« 114 sei, womit das in dieser These vorausgesetzte Ziel eines jeden VerzeiCard: Atrocity, S. 194. Paul Lauritzen: Forgiveness: Moral Prerogative or Religious Duty?, in: Journal of Religious Ethics 15 (1987), S. 141–154, hier S. 143. 113 114
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Verzeihen als zwischenmenschliches Handeln
hungsgeschehens, nämlich die zwischenmenschliche Versöhnung, gemeint ist, wird sich erst klären lassen, wenn nach diesen beiden Zwischenschritten über die Verwechslungen und Abgrenzungen des Verzeihens vom Vergeben Arendts Begriff des Verzeihens auf den Prüfstand der philosophischen Debatte über dieses selbst gestellt worden ist.
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Verzeihen als zwischenmenschliches Handeln
Nach der Abgrenzung des Verzeihens von seinen Verwechslungen und seiner Unterscheidung von den Formen des Vergebens stehen neben den Überlegungen zu Arendts Begriff des Verzeihens die beiden anderen Teile der nötigen Richtschnur zur Verfügung, um ihre Skizze des Verzeihungsgeschehens in der Absicht der wechselseitigen Erhellung in die philosophische Debatte um das Verzeihen einzuzeichnen. Mit diesem Fundament lässt sich ihre Forderung nach einem politisch gewendeten Verzeihungsvermögen, die sie mit Derrida und Kodalle verbindet, einer Prüfung unterziehen. Ich unterteile die folgenden Abschnitte in Entsprechung zu den Überlegungen in Kapitel 1.b und 3.c: An die Beschreibung des Verzeihungsgeschehens im weiteren Sinne, das heißt an dessen Voraussetzungen (Kapitel 7.a-b), schließen sich die Erörterungen des Verzeihens selbst an (Kapitel 7.c). Die Bedingungen des Verzeihungsgeschehens nach Arendt sind im Kontext der philosophischen Forschung zum Verzeihen nicht strittig, bedürfen aber in einer Hinsicht der Präzisierung und in einer weiteren der Ergänzung (Kapitel 7.a). Die Reue als entscheidende Bedingung des Verzeihens (Kapitel 7.b) macht es möglich, den Übergang von den Bedingungen zur Verzeihung selbst so zu gestalten, dass die strittigen Einzelfragen der Forschung wie durch ein Prisma gesehen in die Überlegungen einbezogen werden können und sich für die Interpretation des Verzeihungsgeschehens selbst (Kapitel 7.c) Anknüpfungspunkte ergeben. Kapitel 7.b ist der geeignete Ort, um die gegensätzlichen Positionen eines bedingten oder unbedingten Verzeihens zu diskutieren. Dabei wird, wie schon aus den einleitenden Überlegungen und der Interpretation von Arendts Begriff des Verzeihens bekannt, Partei für eine Theorie des bedingten Verzeihens ergriffen, zu der im dritten Teil dieses Kapitels die Interpretation von Arendts Akt des Verzeihens selbst als Schlussstein hinzugefügt wird (Kapitel 7.c). A
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III Vergeben und Verzeihen
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Die Bedingungen des Verzeihens
In der Aufschlüsselung von Arendts Verzeihungsgeschehen, das aus ihren Überlegungen herauszulesen war, ließ sich die Bedingung der Vorhaltung dahingehend ausführen, dass sie auf ein gemeinsames Bewusstsein von Opfer und Täter über den Unrechtscharakter abzielt, ohne das die Reue schon einen Gegenstand angeben müsste. Zur »Vorhaltung« greift in der philosophischen Theorie des Verzeihens nur Arendt. Ihre Übersetzung in die Bedingungen des gemeinsamen Unrechtsbewusstseins und der Verzeihungsbedürftigkeit macht eine Integration in die Reihe der üblichen Bedingungen des Verzeihens möglich, zeigt aber auch, dass beide Bedingungen für das Verzeihungsgeschehen konkrete Bedeutung nur erlangen, wenn sie ihren Grund in der Bedingung der Wahrheit finden. (i) Die Wahrheit Die Wahrheit, um die es im Verzeihungsgeschehen geht, ist in die vier Dimensionen der faktischen, der subjektiven, der intersubjektiven und der sogenannten heilenden Wahrheit aufzuteilen. 115 Wenn etwa – um mit der faktischen Wahrheit zu beginnen – Amnestien eine Vorentscheidung darüber getroffen haben, was zum Bestand des gesellschaftlich Erinnerten gehört, dann hat das zwangsläufig nachteilige Auswirkungen auf die anderen Regeln gehorchende persönliche Verständigung zwischen Täter und Opfer. Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses ist die Bedeutung, die man den Ereignissen in ihrer gesellschaftlichen Dimension zuweist und die eine andere ist als die persönliche Bedeutung. Insofern hat die Enthüllung dessen, was geschehen ist, auch den Effekt, dass es dieses Geschehen von seinen Bedeutungen abgrenzt, die ihm in verschiedenen Kontexten beigelegt werden – abgesehen davon, dass auch die persönliche Erinnerung dem Prinzip kontextgebundener Vergegenwärtigung gehorcht und dem Anspruch auf faktisch-vollständige Erinnerung nicht genügt. In den Fällen, in denen sich die zwischenmenschliche und die politisch-gesellschaftliche Dimension einer schuldhaften Tat nicht über115 Ich wandle hier Überlegungen der Truth and Reconciliation Commission ab; siehe Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report, Band 1, S. 110–114; vgl. mit weiteren Hinweisen »Part III. Truth Findings« in: Audrey R. Chapman/Hugo van der Merwe (Hg.): Truth and Reconciliation in South Africa. Did the TRC deliver?, Philadelphia 2008.
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lagern, sondern in denen es allein um die private Beziehung geht, innerhalb derer ein Unrecht geschehen ist, kann der Klarstellung der faktischen Wahrheit auch die Funktion zukommen, dem anderen erst das Ereignis anzuzeigen, über dessen Verzeihungsbedürftigkeit zu sprechen ist. Ein Täter etwa kann seinem Opfer seine Hinterlist offenbaren, von der es bis zu diesem Geständnis nichts wusste. Die faktische Wahrheit macht darauf aufmerksam, dass der bloße Austausch von Verzeihungsformeln noch nichts besagt. Er lässt offen, ob beide von demselben Ereignis sprechen und was der Gegenstand des jeweiligen Bedürfnisses nach Verzeihung ist. Der Täter, der um Verzeihung bittet, ohne zu sagen, wofür er dies tut, belässt die Dinge in demselben Dunkel wie das Opfer, das verzeiht, ohne mitzuteilen, wofür es wem verzeiht. Wenn zerstrittene Menschen aufeinander zu gehen, sie es aber unterlassen, einander die erlittenen Verletzungen zu benennen, bleibt unklar, ob das Verzeihungsgeschehen sich auf die Dinge bezieht, die als Verletzungen erfahren worden sind. Und auch die Unsicherheit darüber hat Bestand, welche Verhaltensweisen als diejenigen markiert worden sind, derer man sich künftig enthalten soll. Um zu vermeiden, dass die Verletzungen untergründig weiterarbeiten, bis sie wieder an die Oberfläche zurückkehren, muss man den umgekehrten Weg gehen: Die »Enthüllung und sprachlich eindeutige Anerkennung der Wahrheit erledigt auch in gewisser Weise das ›verbohrte‹ Interesse an dieser Vergangenheit!« (AT, 50). Die zweite Dimension der Wahrheit ist die persönliche oder subjektive Wahrheit. Das Verzeihen beruht auf einer Geschichte über die Tat, die diese in die Lebensgeschichten von Täter und Opfer einfügt und ihr darin einen Ort von je verschiedener Bedeutung zuweist. Das kann im Seinen-Frieden-Machen ohne jeden Kontakt mit der anderen Seite geschehen, ist aber dann, wenn es zu einer Verständigung kommt, nicht von dem Ergebnis des Gespräches zwischen Täter und Opfer zu trennen. So hat Mozes Kor gerade aus dem Schweigen der Täter die Konsequenz gezogen, ihren persönlichen Frieden mit dem Leid und denen zu schließen, die ihr solches angetan haben. »Die Aussagen der Täter würden die Leiden der Opfer bestätigen. So wie es heute aussieht, habe ich immer noch nicht verstanden, was uns angetan wurde. Aber Mengele hätte dieses Problem lösen können, wenn er ausgesagt hätte.« 116 Wenn diese gegenseitigen Erklärungen 116
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der Tat und der Tatumstände fehlen, dann ist jeder auf sich selbst zurückgeworfen mit der Aufgabe, dem Geschehen einen Sinn zu verleihen, der sich in seine Lebensgeschichte einfügt. Die subjektive Wahrheit kann daher zum Verzeihungsgeschehen gehören, aber ebenso zum Verschweigen, Dulden oder zur Nachsicht. Wenn aber Täter und Opfer sich bei der Findung einer subjektiven Wahrheit behilflich sind, lässt sich die Brücke zum dritten Aspekt der Wahrheit schlagen, nämlich zur sozialen oder intersubjektiven Wahrheit. Sie zielt auf die Bedeutung des Unrechts ab, die es zunächst für die Beziehung von Opfer und Täter hat und dies auch, wenn es sich um Taten handelt, die nicht allein in der Zweisamkeit ihren Ort haben, für das soziale Umfeld haben kann. Wenn sich die persönlichen Erlebnisse nicht so weit zur Deckung bringen lassen, dass die unhintergehbare Verschiedenheit der Perspektiven auf die Tat bis zu einem gemeinsamen Verständnis der Tat zurückgedrängt werden kann, fehlt der Ausgangspunkt der Verzeihung. Am Beispiel einer Beleidigung wird deutlich, dass die Einigung darüber, welche Bedeutung sie für die Beziehung der Protagonisten hat, nicht immer auf der Hand liegt. Was der eine als harmlosen Scherz betrachtet, empfindet der andere als Entwürdigung. Vielleicht wollte der Scherzende durch ein Augenzwinkern anzeigen, dass der Witz zwar auf Kosten des anderen gehen sollte, aber nicht in der Absicht erfolgte, den anderen zu beschämen. Weil die soziale Bedeutung einer Tat nicht mit ihr selbst gegeben ist, gibt es selbst zwischen vertrauten Freunden Begebenheiten, die unser Bewusstsein dafür schärfen, dass die Täter-Empfindung einer konkreten Schuld dem Opfer zunächst signalisiert, dass es sich verletzt fühlen sollte. Anders formuliert kennen wir viele Taten, in denen die Empfindung eines konkreten Leides nicht erst den Hinweis braucht, dass sich der Täter schuldig fühlen soll, damit er auf das Schuldhafte der Tat aufmerksam wird. Bei der Ohrfeige ist klar, dass sie ein Unrecht ist und die Beziehung zwischen Absender und Empfänger beeinträchtigen wird. Wieder anders stellen sich die Dinge dar, wenn beiden Parteien klar ist, dass die Tat ein Unrecht war, aber der Täter ob der befürchteten Folgen die Tat leugnet. Das Opfer eines Raubes oder einer Vergewaltigung wird in diesem Fall versuchen, Zeugen zu finden oder den Täter zu einem Geständnis zu bewegen, oder andere Wege der Feststellung nicht nur der faktischen, sondern auch der sozialen Wahrheit beschreiten. Gelingt dies nicht, so haftet dem Geschehen 260
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immer der Geruch an, die Trennlinie zwischen Recht und Unrecht zu verwischen, das Leid der Opfer zu marginalisieren und die Taten der Täter zu rechtfertigen. Doch die Einigung auf eine bestimmte intersubjektive Wahrheit lässt die Möglichkeiten der Duldung oder der Nachsicht offen, hat also keinen unauflöslichen Bezug zur Verzeihung. Viertens wird häufig die sogenannte heilende Wahrheit genannt, wenn die Bedeutung der Wahrheit für das Verzeihungsgeschehen erklärt werden soll. Der Gedanke der Heilung setzt das Bekanntsein des Geschehens und seine Integration in den persönlichen wie sozialen Lebenszusammenhang von Täter und Opfer voraus. Denn selbstredend muss dieser Anspruch, den man an die Wahrheit als eine heilende richtet, auch den Täter einschließen. Bestehen an der Verständigung über die drei vorangehenden Aspekte der Wahrheit auf einer der beiden Seiten Zweifel, wird das die Aussichten auf einen heilenden Effekt der Wahrheit schmälern. Ohnehin sind Zweifel an einem ursächlichen Verhältnis zwischen der Enthüllung der Wahrheit und einer wie auch immer definierten Heilung angebracht. Seelische Heilungsprozesse verlaufen zwischen und in den einzelnen Menschen selbst auf so unterschiedlichen und für die zuständigen Wissenschaften oft im Dunkeln bleibenden Wegen, dass man der Offenlegung der objektiven Wahrheit zwar bescheinigen kann, dass sie einen heilenden Effekt im Blick auf die Bedeutsamkeit einer tragfähigen persönlichen und auch sozialen Wahrheit haben kann. Und die vielen Wahrheitskommissionen der letzten Jahrzehnte haben unter anderem gezeigt, dass die öffentliche Anerkennung des Opferleides zur Wiederaufbauarbeit der beschädigten Leben beiträgt. 117 Aber das Prädikat des heilsamen Charakters gebührt der Wahrheit weder in den politischen noch in den privaten Kontexten, weil sich weder in der öffentlichen noch in der privaten Sphäre darüber verfügen lässt, welche Bedeutungen und welche seelischen Belastungen sich mit dem Geschehen verbinden und auf welchen Wegen diese geheilt werden könnten. Was wir wissen, ist, dass die Wahrheit lindernde Wirkung haben kann – und zwar für das von seinem Leid geplagte Opfer wie den von seinen Schuldgefühlen geplagten Täter, 117 Siehe dazu mit weiteren Hinweisen Priscilla B. Hayner: Unspeakable Truths. Facing the challenge of truth comissions, New York u. a. 2002; vgl. Chapman/van der Merwe (Hg.): Truth.
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um einmal neben die vielen Berichte über die positiven Auswirkungen der Wahrheit auf die Opfer auch dieselben auf die Täter herauszustellen. 118 Gleichwohl bleibt der Heilungsprozess ein Vorgang mit ungewissem Ausgang und vollzieht sich in vielen verschiedenen Dimensionen: »Telling the story is only one component of the victim’s typically lengthy and painful healing process.« 119 Wir zögern, auch dem Täter einen Heilungsprozess zuzugestehen, weil wir uns aus Gewohnheit und wegen der vermeintlichen moralischen Vorteile mit dem Opfer identifizieren. Das Recht jedoch, das Unrecht im Sinne einer persönlichen Wahrheit in die eigene Lebensgeschichte einzugliedern, und das Recht auf die dafür notwendige Selbstprüfung müssen wir dem Täter nicht nur zugestehen, sondern wir verlangen sie ihm in der Verzeihung immer schon ab, wenn denn die Reue – wie bei Arendt und vielen anderen – eine Bedingung der Verzeihung sein soll. In diesem Licht muss die dadurch nicht angezweifelte Tatsache gesehen werden, dass die Erfahrung des OpferGeworden-Seins, also die Ohnmachtserfahrung in ihren vielen Facetten und unübersehbaren Folgen, im Normalfall mehr seelische und oft auch körperliche und berufliche Wiederaufbauarbeit verlangt als die Erfahrung des Täter-Geworden-Seins. Nur berechtigt das nicht zu der Annahme, auch nicht im Falle schwerer Verbrechen, dass sich eine »substantial magnitude gap between victims and perpetrators« auftue und dass die Tat »tends to be an enormous and terrible thing« für die Opfer, während für die Täter »the time frame is short and the wrong act […] tends to appear as a slight blip along the path«. 120 Die ersten drei Dimensionen der Wahrheit machen in ihrer Summe verständlich, weshalb die Einigung über das, was geschehen ist, den Bedingungen des Unrechtsbewusstseins und der Verzeihungsbedürftigkeit vorausgeht. In Arendts Überlegungen lässt sich das ohne Weiteres integrieren, weil sie Wahrheit implizit als Bedingung anerkennt. Nur sei daran erinnert, dass immer dann, wenn das Verzeihungsgeschehen ein intersubjektives ist, die Unterscheidung zwischen Täter und Opfer in der Mehrheit der Fälle dazu führt, dass es immer eine bestimmte Wahrheit ist, auf die sich Täter und Opfer einigen. Sie betrifft einen Ausschnitt der gemeinsamen Geschichte. 118 Siehe die Geschichte des Kommandanten einer südafrikanischen Todesschwadron, Eugene de Kock, von der Gobodo-Madikizela: Das Erbe der Apartheid, erzählt. 119 Hamber: Does the Truth Heal, S. 136. 120 Govier: Forgiveness and Revenge, S. 128.
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Und wäre es ein anderer Ausschnitt, ergäbe das wiederum ein entsprechend verändertes Urteil über den Unrechtscharakter und die Verzeihungsbedürftigkeit der Tat, die eben Teil einer Geschichte ist – mit Ausnahme der wirklich beziehungslosen Taten. 121 Dennoch ist die Wahrheit keine hinreichende Voraussetzung des Verzeihens, weil sie für alle Umgangsweisen mit zwischenmenschlicher Schuld gilt: Für die Varianten der Vergebung wie für die Verwechslungen, also für die Nachsicht, die Duldung und das Verharmlosen und selbst für das Verschweigen und das Vergessen. Wer verschweigt, hat eine Vorstellung davon, was er verschweigt. Und wer vergisst, dem war einmal gegenwärtig, was er später vergessen haben wird und was er sich vielleicht einmal ins Gedächtnis rufen wird. Arendts Bedingung der Vorhaltung unterscheidet ferner nicht zwischen den unabsichtlichen und den absichtlichen Taten, also zwischen den Versehen und den Vergehen. Vorhaltungen müssen sich beide machen lassen: derjenige, dem die wirklich unabsehbaren Folgen seiner Taten zu Unrecht vorgeworfen werden und der folglich entschuldigt werden muss, und derjenige, dessen Tat und deren Folgen sich als eine absichtliche Handlung herausstellen. Letzteren trifft der Vorwurf zu Recht. Aber was das Verzeihen betrifft, ist es erst die Reue, die die Vorhaltung an die Vergehen bindet. (ii) Das Unrechtsbewusstsein Wie die Wahrheit ist auch das Unrechtsbewusstsein noch keine signifikante Bedingung des Verzeihens. Es ist ein Teil der von den Beteiligten anerkannten, sozialen Wahrheit, dass es sich um ein schuldhaftes Geschehen handelt. Man kann schlechterdings niemanden moralisch verantwortlich machen für seine Taten, wenn es keine gemeinsame moralische Basis gibt, aufgrund derer man erst in der Lage ist, Verantwortung zuzuschreiben. 122 Lévinas hat zwei Bedingungen des Verzeihens benannt: die Verzeihungsbereitschaft des Opfers und das Schuldbewusstsein des 121 Siehe dazu Ervin Staub/Laurie Anne Pearlman: »The truth is often complicated. Often harm-doing is mutual. Even when one group is clearly the perpetrator […] there has often been some form of mutual victimization in the course of prior history«; dies.: Healing, Reconciliation, and Forgiving after Genocide and Other Collective Violence, in: Raymond G. Helmick/Rodney L. Petersen (Hg.): Forgiveness and Reconciliation, Philadelphia/London 2001, S. 195–217, hier S. 207. 122 Siehe Lohmar: Moralische Verantwortlichkeit, S. 299 f.; vgl. Hartmann: Ethik, S. 733.
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Täters. Wenn nun einem ersten Fall der Beleidiger »sich […] seiner Tat nicht bewußt« ist, dann »wäre demnach Vergebung […] unmöglich.« (VTL, 47) 123 Kodalle hat dagegen zu Recht eingewandt, dass dieses Bedingungsgefüge über das Ziel hinausschießt: »Der Beleidiger […] kann aus sich heraus ja womöglich gar nicht zu einer qualitativ-neuen Bewertung seiner begangenen Taten kommen!« 124 Nun ist der Täter nicht per se auf einen anderen Menschen angewiesen, um den Unrechtscharakter seiner Tat einzusehen und möglicherweise zu bereuen, aber er kann sich in jedem Fall von seinem Opfer über den moralischen Wert seiner Tat belehren lassen. Und weshalb wir dieser von außen angestoßenen Schuldeinsicht die Verzeihungsfähigkeit absprechen sollen, bleibt bei Lévinas unbegründet. Allerdings kann sich der Täter dem moralischen Urteil des Opfers anschließen und dennoch keinerlei Notwendigkeit daraus folgern, dass er sich um einen Ausgleich mit seinem Opfer zu kümmern habe. Denn dass sich jemand eine Tat zurechnen lässt und einen Schuldvorwurf akzeptiert, besagt für die Verzeihung noch nichts, sondern kann genauso Bestandteil der Nachsicht oder Duldung sein. Auch in dem anderen Fall, dass jemand in vollem Bewusstsein der rechtlichen und/oder moralischen Verfehlung einem Mitmenschen ein Unrecht antut, kann er desjenigen Bedürfnisses ermangeln, das ihn die Richtung des Verzeihens einschlagen ließe. Zwischen dem Schuldbewusstsein und dem Bedürfnis, aufgrund der Schuld an einem Mitmenschen auf eben diesen Menschen zuzugehen, ist eine Trennlinie zu ziehen. So kann sich der seiner Schuld bewusste Täter in der Anwesenheit eines anderen Menschen Erleichterung verschaffen. Es steht ihm auch frei, seine Schuld mit sich selber auszumachen, so wie es die sogenannte Selbstverzeihung beschreibt, oder seine Schuld als Sünde vor seinen Gott zu bringen und diesen um Vergebung zu bitten. Oder das Unrecht kümmert den Täter nicht weiter, so dass er es ist, der an seinem Opfer vorübergeht. Sein Selbstbild ist nicht angegriffen und sein Interesse an der Beziehung
123 Im gegenteiligen Fall der Schuldbewusstheit des Täters falle es dem Opfer hingegen schwer, dem Täter zu verzeihen, denn das Bewusstsein des Täters von sich selbst gilt Lévinas sowohl als Ursache seiner Verzeihlichkeit als auch seiner Schuld. Aus diesem Grund ist bei ihm die Verzeihung eine Gabe, »die das Ich nicht erwarten und noch weniger verlangen kann«; Pascal Delhom: Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000, S. 64. 124 Kodalle: Lévinas, S. 340.
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zum Opfer ist zu gering, um den Weg der Verständigung einzuschlagen. 125 (iii) Die Verzeihungsbedürftigkeit Bei Arendt sind zwischen den Zeilen aus der Vorhaltung die Momente des Unrechtsbewusstseins und der Verzeihungsbedürftigkeit hervorgegangen, weil der Gedanke der Vorhaltung das Unrecht, auf das er hinweist, als ein solches voraussetzt. Das lässt den Umstand in den Hintergrund treten, dass weder die objektive, subjektive oder intersubjektive Wahrheit noch das Unrechtsbewusstsein von selbst zum nächsten Schritt des Verzeihungsgeschehens führen: nämlich der beiderseitigen Feststellung der Verzeihungsbedürftigkeit, die bei Arendt implizit und von vielen anderen explizit mit der Anerkennung, etwas Unrechtes getan zu haben, gleichgesetzt wird: »To acknowledge wrongdoing is to accept responsibility for it, and the acceptance of such responsibility is likely to have practical implications and costs« 126 Wer das Unrecht, das er getan hat, faktisch und moralisch anerkennt, stimmt damit zu, dass er es war, der dies getan hat, und dass es ein Unrecht war. Er tut aber nicht das, was wir eigentlich meinen, wenn wir sagen: Jemand übernimmt Verantwortung für das, was er getan hat. Dass er aus dieser Überzeugung heraus tätig wird, verlangt nämlich den Zwischenschritt, dass er aus dem Unrechtscharakter seiner Tat und ihrem Kontext die Konsequenz zieht, etwas gegen diese Selbstverfehlung und für die durch seine Tat beschädigte Beziehung zu seinem Opfer unternehmen zu müssen und zu wollen. Erst wenn er die Verzeihungsbedürftigkeit seiner Tat erkannt hat, wenn er also nicht nur subjektive, sondern auch intersubjektive Konsequenzen aus seiner Tat zieht, ist es gerechtfertigt, neben die Anerkennung des Unrechts auch den Willen zur eigentlichen Übernahme von Verantwortung zu stellen – und dieses Tätig-Werden unterschei125 Vgl. Robin S. Dillon: Self-Forgiveness and Self-Respect, in: Ethics 112 (2001), S. 53– 83, hier S. 58, die einen ähnlichen Gedanken aus der Perspektive der irreführenden Selbstverzeihung äußert: »The first thing to note […] is that doing wrong is not sufficient to call for forgiveness. For if one doesn’t call it wrong, or isn’t bothered by it, or is bothered but gets over it, the need to forgive oneself doesn’t arise.« Der Zusatz allerdings, dass »self-reproach is required« (ebd.), damit überhaupt Verzeihung in Reichweite rücken könne, nimmt ihrem Hinweis wieder die Spitze, denn der Selbst-Tadel ist auch möglich für den, der den Unrechtscharakter, aber gerade nicht die Notwendigkeit der Verständigung mit seinem Opfer einsieht. 126 Govier: Forgiveness and Revenge, S. 147 f.
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det sich auf das Deutlichste von den Lippenbekenntnissen, die als Verantwortungsübernahme verlauft werden. Auf die Frage, was Menschen dazu befähigt, von der Erkenntnis der Verzeihungsbedürftigkeit zur tatsächlichen Übernahme von Verantwortung überzugehen, kennt Arendt im Wesentlichen die Antwort des Gewissens. Sie sieht das Gewissen als das sokratische Gespräch des Menschen mit sich selbst, in dem er vor dem Gerichtshof, der er selbst für sich ist, seine unverwechselbare moralische Personalität ausbildet. Wann immer der Täter zu dem Schluss kommt, dass das, was er getan hat, unter den moralischen Geboten, die für ihn gültig sind, ein Falsches war und er es besser nicht getan hätte, liegt das vor, was wir Reue nennen. Es ist nicht das Bewusstsein der moralischen Schuld allein, sondern vielmehr muss die Erkenntnis hinzutreten, dass ich das, was ich einem anderen angetan habe, besser unterlassen hätte. Es sind die moralische Selbstdistanzierung und der zugehörige Wille, es künftig anders zu halten, die den Unterschied ausmachen. Die Zuschreibung moralischer Schuld ist Selbstzuschreibung im Sinne der Anerkennung persönlicher Verantwortung. Die faktische Zurechenbarkeit benennt hingegen nur den Verursacher einer Tat und ihrer Folgen und trifft gerade keine Aussagen über das moralische Selbstverhältnis des Täters und zwischenmenschlicher Folgen aus diesem. 127 Die Aussage der Reue, dass man etwas lieber nicht getan hätte, ist in Arendts Verzeihungsgeschehen noch nicht das letzte Moment, um von Verzeihungsbedürftigkeit sprechen zu können. Sie hat auf die Freiheit und die Ungerechtigkeit des Verzeihens hingewiesen und damit – freilich in der Verkürzung des intersubjektiven Geschehens auf das Opfer – die Motive auf der einen und deren Umsetzung in den Akt der Gewährung von Verzeihung auf der anderen Seite in das Blickfeld gerückt. Für Täter und Opfer kann es gleichermaßen Gründe geben, selbst zu dem Zeitpunkt, da der Täter bereut oder die Empörung des Opfers gewichen ist, aus dem Verzeihungsgeschehen auszusteigen, seinen persönlichen Frieden mit dem Geschehen zu machen (die persönliche Wahrheit) oder sich hinter den öffentlichen Wahrheiten zu verstecken. Die Beweggründe, sich für oder gegen die Verzeihung zu entscheiden, sind der sichtbarste Punkt, an dem im Verzeihungsgeschehen außermoralische Gründe in eine moralische 127 Siehe Dominic Kaegi: Was ist metaphysische Schuld?, in: Selbstorganisation 10 (1999), S. 37–59, hier S. 43.
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Reaktion Eingang finden. Denn unser allgemeines Urteil über eine Person kann »getönt und imprägniert« sein »durch die Erfahrungen und Erwartungen«, die sich für uns mit dieser Person verbinden, das heißt in die Verzeihensentscheidung gehen auch parteiliche Motive ein, die etwa in Liebe, Freundschaft oder gemeinsamen Überzeugungen ihren Grund haben, und nicht allein in den Ergebnissen der vernunftgemäßen Erwägung, welche Handlung die moralisch gerechtfertigte sein könnte. 128 (iv) Die Überwindung des Übelnehmens Die Wahrheit ist in Arendts Bedingung der Vorhaltung vorausgesetzt. Durch die subjektive Wahrheit lässt sich eine mögliche Bedeutungsschicht der Vorhaltung ergänzen, die bei Arendt nicht thematisch ist, aber in der englischsprachigen Forschung und der psychotherapeutischen Interpretation des Verzeihens prominent ist: die emotionale Dimension der Vorhaltung. Insofern der Akt der Vorhaltung auf ein Unrecht hinweist und seinen Adressaten für schuldig erklärt, fragt sich, in welchem Verhältnis dieser Akt zu dem Gefühl des Verletztseins auf der Seite des Opfers steht. Welche Form muss die Empörung, Opfer geworden zu sein, annehmen, dass die Vorhaltung nicht jede Verzeihung unmöglich macht? Die Schwierigkeit, die sich aus der empfundenen – moralischen, seelischen und eventuell körperlichen – Verletzung für das Verzeihungsgeschehen ergibt, ist die, dass sich die beschuldigende Vorhaltung offenhalten muss für jenes Freigeben und Gehenlassen der Person, von dem Arendt spricht und das sich in der etymologischen Untersuchung gerade als ein Nicht-mehr-Bezichtigen gezeigt hat. Um nicht schon bei den Bedingungen des Verzeihens, an – so die Befürchtung – unüberwindbaren Hindernissen zu scheitern, ist die Überwindung der negativen, von der Tat herrührenden Gefühle als weitere Bedingung des Verzeihens benannt worden. Mehr noch ist die Überwindung der negativen Gefühle (overcoming of resentment) als Verzeihen selbst ausgegeben worden. Von philosophischer Seite her geschieht das zumeist in der Verengung auf die Opferperspektive, 129 während die psychotherapeutische Forschung einen analogen Siehe dazu Lohmann: Verzeihen, S. 197–200, Zitat, S. 198. Siehe etwa Macalaster Bell: Forgiving Someone For Who They Are (and Not Just What They’ve Done), in: Philosophy and Phenomenological Research 77 (2008), S. 625–658; Martin P. Golding: Forgiveness and Regret, in: The Philosophical Forum 128 129
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Prozess auch für den Täter reklamiert und die Verwandtschaft dieser Überlegungen mit der von ihren Verfechtern sogenannten Selbstverzeihung von Anfang an offenlegt (vgl. Kapitel 4.f). Denn einer der bevorzugten Wege jener emotionalen Bewältigung der tatgebundenen negativen Gefühle ist das Sammeln von Informationen über den Täter und seine Beweggründe, das wir in der Erörterung des psychotherapeutischen Zugriffs auf die Verzeihung als die Methode des sogenannten Reframing kennengelernt haben. Gleichwohl ist das Abklingen der negativen Gefühle nicht auf diese besondere Art des Verstehens des Täters angewiesen, sondern kann auf vielen Wegen zustande kommen: etwa durch die Rechtsstrafe und die moralische wie emotionale Genugtuung, die sie dem Opfer verschaffen kann, oder durch individuelle Bewältigungstechniken im Umgang mit negativen Gefühlen oder öffentliche Anerkennung des Unrechtes. Als Begründer der im Folgenden sogenannten ResentmentTheorie gilt gemeinhin Joseph Butler. In einer Sammlung seiner Predigten finden sich zwei Texte über die Verzeihung und das Übelnehmen, die beide mit dem Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt eingeleitet werden (Mt. 5, 43–44) und seine Definition der Verzeihung an jenes Gebot anschließen: Mit diesem verbinde sich keineswegs das Verbot der Verstimmung oder des Unwillens (wie sich »resentment« auch übersetzen lässt), weil das Bewusstsein, eine moralische Verletzung erlitten zu haben, uns vor weiterem Schaden beschützen könne und dennoch nicht zu der Liebe zu unseren Mitmenschen oder gar Feinden im Widerspruch stehe. Nur das zum Exzess sich steigernde Übelnehmen, etwa die Rache, könne nicht mit dem Wohlwollen für andere Menschen einhergehen, das in der jesuanischen Aufforderung, zu verzeihen und seine Feinde zu lieben, angesprochen sei. Verzeihung ist daher bei Butler »the overcoming or foreswearing of abusive or excessive resentment. That is, forgiveness is the checking of revenge, or forbearance.« 130 Im Sinne der zweiten Variante, also der Abstandnahme von der Rache, die mehr auf die moralische Entscheidung des Opfers gegen die Rache abhebt, 16 (1984–85), S. 121–137; Govier: Forgiveness and Revenge; H. J. N. Horsbrugh: Forgiveness, in: Canadian Journal of Philosophy 4 (1974), S. 269–282; Martin Hughes: Forgiveness, S. 113–117; Moore: Pardons; Murphy/Hampton: Forgiveness and Mercy; Novitz: Forgiveness; Glen Pettigrove: Forgiveness and Interpretation, in: Journal of Religious Ethics 35 (2007), S. 429–452; Roberts: Forgivingness. 130 Newberry: Butler, S. 233–238, dessen Überlegungen ich hier folge und der sich auf Butler: The Works of Bishop Butler, stützt.
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im Unterschied zur bloßen Zügelung des Vergeltungsbedürfnisses, hat auch Scheler die Verzeihung verstanden: »›Verzeihen‹ ist ein positiver Akt freier Opferung des positiven Sühnewertes, ein Akt also, der den Racheimpuls voraussetzt, und nicht etwa in seinem Fehlen besteht.« 131 Butlers Bestimmung der Verzeihung als Zügelung des ursprünglichen Rachebedürfnisses oder Abstandnahme von der Rache unterscheidet sich – was oft übersehen wird – von der bekanntesten Stimme der zeitgenössischen Resentment-Theorie, der von Jeffrie G. Murphy, der das Verzeihen als eine Überwindung schlechter Gefühle begreift und sich dabei in der Gefolgschaft Butlers verortet. Zunächst sei das Übelnehmen die individuelle Reaktion darauf, dass ich eine Tat als moralische Verletzung auffasse und mich davon betroffen sehe. Und worum es in ihm zuallererst gehe, sei die Demonstration hinreichenden Selbstrespekts des Opfers. Dass man jemandem übelnehme, was er einem angetan habe, und Rachegelüste als notwendiges Durchgangsstadium anerkennen solle, finde seine Begründung in der derart bestätigten Gewissheit darüber, dass man sich selbst als Mensch verstehe, der solche Misshandlung nicht verdiene und dem Achtung und Respekt qua Menschsein gebühre. 132 Die Verzeihung nun reagiere ihrerseits auf die Reaktion des Übelnehmens, weil Letzteres sich neben anderen Hürden als ernstes Hindernis für »the restoration of equal moral relations among persons« erweisen könne. 133 Sie soll also ein Hilfsmittel sein, das dem aus den Fugen geratenen Gefühlshaushalt bei seiner Beruhigung unter die Arme greift. Sie soll eine Art Selbstbehandlung des Opfers sein, die ihm erst wieder die Möglichkeit eröffnet, mit anderen in Beziehungen zu treten, weil der moralische Ärger überwunden ist: »Forgiveness is primarily a matter of how I feel about you (not how I treat you).« 134 Das ist exakt der Gedanke, aufgrund dessen sich die Kritik an der sogenannten Selbstverzeihung in Amérys Antwort an Wiesenthal über den psychologischen Aspekt des Verzeihens zusam131 Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: ders.: Vom Umsturz der Werte, Bern/München 4 1955 (= Gesammelte Werke 3), S. 33–148, hier S. 93, FN 1. 132 Siehe Jeffrie G. Murphy: Hatred: A qualified defense, in: ders./Hampton: Forgiveness and Mercy, S. 88–110. 133 Jeffrie Murphy: Forgiveness and resentment, in: ders./Hampton: Forgiveness and Mercy, S. 14–34, hier S. 16 f. 134 Jeffrie Murphy: Forgiveness and resentment, in: Midwest Studies in Philosophy 7 (1982), S. 503–516, S. 506; hier zitiert nach McCord Adams: Forgiveness, S. 284.
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menfassen ließ, dass nämlich das Verzeihen so zu »nichts als einer Frage des Temperaments oder auch einer seelischen Stimmung« (SB, 218) werde. Innerhalb dieser Gefühlsveränderung unter dem Namen der Verzeihung ist es die Funktion des Täters, durch sein Verhalten Gründe für die Überwindung der schlechten Gefühle zu geben, die dem Postulat der moralischen Selbstachtung des Opfers nicht widersprechen. Zu diesen Gründen zählt Murphy die Reue, die guten Absichten des Täters, der uns nachweislich nichts Schlechtes wollte, die Überzeugung, der Täter habe nun genug an seiner Tat gelitten, die Selbsterniedrigung des Täters und den Verweis auf die guten alten gemeinsamen Zeiten. 135 Die Verschärfung der Resentment-Theorie, dass es nicht allein um das Abschwören vom Übelnehmen gehe, sondern die Verzeihung als Überwindung einer ganzen Reihe negativer Gefühle zu verstehen sei, ändert nichts an dem Befund, dass solches Verzeihen die Abgrenzungen zur Nachsicht (die guten alten Zeiten), zum Erbarmen (genug Täterleid) oder zur Entschuldigung (die für den Täter unabsehbaren Folgen) einzieht und in die Nähe der moralischen Selbstüberhebung rückt, weil die Selbsterniedrigung des Täters ein erläuterungsbedürftiger Begriff im Zusammenhang mit der Reue ist, die weniger eine Selbstverkleinerung des Täters als vielmehr eine Wiederherstellung seiner moralischen Integrität ist. Dass also das Verzeihen die Überwindung des Übelnehmens und von Ärger, Hass, Abscheu, Verachtung, Gleichgültigkeit, Enttäuschung und Traurigkeit sein soll, bestätigt den Eindruck, dass die Verzeihung hier als emotional-intrasubjektiver Vorgang und nicht als zwischenmenschliche Handlung bestimmt wird. 136 Bei der Einbindung der Verletzung (in ihrer moralischen, seelischen und körperlichen Dimension) in das Bedingungsgefüge des Verzeihens kommt man hingegen einen entscheidenden Schritt weiter, wenn man sich an Paul M. Hughes’ Präzisierung der ResentSiehe Murphy: Forgiveness and resentment, S. 26–29. Siehe Norvin Richards: Forgiveness, in: Ethics 99 (1998), S. 77–97, hier S. 79: »[T]o forgive someone […] is to abandon all negative feelings towards this person«. Vgl. dazu Jeffrie G. Murphy: Jean Hampton on Immorality, Self-Hatred, and Self-Forgiveness, in: Philosophical Studies 89 (1998), S. 215–236, hier S. 217, wo er auf seine Belehrung durch Richards verweist; vgl. ferner als jüngsten Beitrag dieser Richtung Lucy Allais: Wiping the Slate Clean: The Heart of Forgiveness, in: Philosophy & Public Affairs 36 (2008), S. 33–68. 135 136
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ment-Theorie hält. Sein Vorschlag, »that forgiveness typically involves the overcoming of moral anger« und nicht von »all instances of anger (or other negative emotions)«, 137 ist die gut begründete Rückkehr zu einer Einsicht Butlers. Der hatte lediglich von der Zähmung der unmittelbaren Rachegelüste gesprochen. Der Grundgedanke von Hughes und Butler ist der, dass das tatbezogene Einvernehmen zwischen Täter und Opfer nicht durch emotionale Überforderungen zu etwas Menschenunmöglichem gemacht werden sollte. Und zudem berücksichtigen Hughes’ Klarstellungen auch, dass das Übelnehmen auch ohne jedes Bewusstsein moralischer Übervorteilung vorkommen kann. Dementsprechend ist der moralische Ärger definiert durch das Bewusstsein, »that one has been wrongfully harmed by another«, und unterscheidet sich dadurch von anderen emotionalen Reaktionen auf erlittenes Unrecht wie Empörung, Zorn, Hass, Groll oder Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. All die Gefühle, die laut der radikalisierten Resentment-Theorie zum Verzeihen gehören, »do not necessarily involve the belief that one has been wrongfully harmed«, und »forgiveness indeed typically involves the overcoming of moral anger, rather than some other emotion.« 138 Damit der moralische Ärger nicht als Teil der verschärften Resentment-Theorie missverstanden wird, ist es hilfreich, sich den prozessualen und unabgeschlossenen Charakter der Überwindung der tatgebundenen Gefühle zu vergegenwärtigen. Das Opfer kann Möglichkeiten finden, sich mit dem Geschehenen zu arrangieren, ohne von der Tat grundlegend eingeschränkt zu sein. Aber selbst wenn diese Wiederaufbauarbeit Erfolge zeitigt, ist nicht auszuschließen, dass es durch irgendwelche Ereignisse an die Tat erinnert wird und dadurch die tatgebundenen Gefühle reaktiviert werden. Die betrogene Ehefrau wird immer dann an den Betrug denken müssen, wenn ihr Ehemann ein ihr zweifelhaft erscheinendes Interesse an einer anderen Frau zeigt. Solche Erinnerungen lassen sich auch dann nicht vermeiden, wenn Täter und Opfer keine gemeinsame Nachgeschichte mehr haben. Die Rede von der Überwindung schlechter Gefühle ist 137 Paul M. Hughes: What Is Involved in Forgiving?, in: Philosophia. Philosophical Quarterly of Israel 25 (1997), S. 33–49, alle Zitate S. 33; vgl. ders.: Moral Anger, Forgiving, and Condoning, in: Journal of Social Philosophy 26 (1995), No. 1, S. 103–118; Pamela Hieronymi: Articulating an Uncompromising Forgiveness, in: Philosophy and Phenomenological Research 62 (2001), S. 529–555, hier S. 529–531. 138 Paul M. Hughes: What Is Involved, S. 33.
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letztlich ungenau und wenig hilfreich für den Verzeihungsbegriff, weil die auch in der Erinnerungsfähigkeit aufgehobenen Gefühle, die sich mit der Demütigung verbinden, dass man Opfer geworden ist, auch nicht-aggressiver Natur sein können und trotzdem nicht, wie alle Gefühle, per Willensentscheidung beherrschbar sind. 139 Die Befürchtung einer möglichen Wiederholung des Ehebruches stellt sich unweigerlich ein, und zwar unabhängig davon, ob der Ehemann das befördert oder ob sich die betrogene Ehefrau vorgenommen hat, sich von diesen Ängsten zu befreien. Das Verzeihungsgeschehen führt hier nur deutlich vor Augen, dass Gefühle im Allgemeinen unverfügbar sind und im Besonderen »der Gestus des Verzeihung-Gewährens […] noch aus eigener tiefer Verletztheit heraus« (AT, 35) ernormen Mut verlangt. Wenn wir also ein Übelnehmen zu überwinden haben, um überhaupt verzeihensbereit zu sein, dann kann es sich dabei nur um dasjenige Gefühl der Empörung handeln, das an die Gewissheit gebunden ist, Opfer einer moralisch schlechten Tat geworden zu sein. Das moralische Urteil selbst ist nicht Gegenstand der Überwindung, sondern nur der Groll, den wir gegen den Missetäter ob seines moralischen Vergehens hegen. Und wir müssen das moralische Urteil auch nicht als Bedingung dafür fallenlassen, dass wir den Missetäter wieder in unser Leben aufnehmen können. Wenn dem so wäre, wäre erstens die Rechtmäßigkeit dieses Urteils (und damit auch des Verzeihungsgeschehens) infrage gestellt, zweitens die Versöhnung als unhintergehbares Telos der Verzeihung gesetzt und drittens wäre damit auch grundsätzlich die Fähigkeit des Verzeihens in Zweifel gezogen, den Menschen ein Leben mit dem Leid und der Schuld zu ermöglichen. Bestreiten wir die Rechtmäßigkeit des moralischen Urteils, wird im Ergebnis erneut die Unterscheidung des Verzeihens von der Verharmlosung zu einer unlösbaren Aufgabe. Dagegen gilt, dass ich nicht nur Betroffener einer moralischen Verletzung sein muss, sondern mich auch als ein solcher sehen muss, um überhaupt verzeihen 139 In diesem Sinne sind Jankélévitchs Überlegungen zu akzentuieren, der die abnehmende Intensität der in der Erinnerung vergegenwärtigten tatnahen Empfindungen im Blick hat, wenn er dem bloßen Vergehen der Zeit die Fähigkeit zuspricht, die Intensität des Ressentiments verblassen zu lassen. Allerdings werden sich jenseits der tatnahen Empfindungen diejenigen Gefühle mit der Zeit verstärken, die mit der Einfügung des Ereignisses in die Lebensgeschichten und der darin begründeten biographischen und zwischenmenschlichen Bedeutung verbunden sind (vgl. F, 25).
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zu können. Die Tat und das zugehörige moralische Urteil müssen präsent sein; und zwar auf eine solche Weise, dass sich die moralische Empörung gelegt hat, aber dieses Abflauen gerade nicht die Gewissheit über die Rechtmäßigkeit des Urteils genommen hat. Die Resentment-Theorie formuliert also auch in der Variante von Hughes eine – noch zu überprüfende – Bedingung und definiert nicht den Verzeihungsakt selbst, wie es Butler und seine Nachfolger behaupten. Das Verzeihen muss mit den tatgebundenen Gefühlen und deren Unbeherrschbarkeit zusammen bestehen können; und zwar – um die unangemessene Fixierung auf die Opferperspektive aufzubrechen – sowohl mit den Gefühlen des Verletzt-worden-Seins des Opfers und den Selbstzweifeln des Täters. Diese Überwindung betrifft so etwa das Bedürfnis, sich selbst in der Stellung des Schuldigen zu halten, nicht aber die Beurteilung der Tat. Das Verzeihen wiederum macht eine Aussage, wie mit diesem Urteil künftig zu verfahren ist: gerade nicht auf die Weise einer Wiederholung jener Vorhaltungen oder Selbstbeschuldigungen. Das Freigeben und Gehenlassen der Person ist nur dann ein verständlicher Vorgang, wenn er seinen Ausgangspunkt in dem gemeinsamen Urteil über die Tat hat. Weil das Verzeihen sich auf die prinzipielle Offenheit der Person bezieht und dem Täter zuspricht, dass er nicht nur der Täter jener Tat ist, sondern ein Mensch, der auch zu anderen Taten fähig ist, ist die Möglichkeit gegeben, dass es mit den tatgebundenen Gefühlen zusammen Bestand haben kann, die jenseits von Hass und Empörung in jeder Erinnerung an das Geschehen mit vergegenwärtigt werden. Unabhängig von der ausstehenden Antwort auf die Frage, inwiefern das Verzeihen notwendig die Heilung einer beschädigten Beziehung bewirken kann, bleibt das Verzeihen daher ein zwischenmenschlicher Akt, weil das in ihm enthaltene moralische Urteil über die Tat Wirklichkeit und Bedeutung erst gewinnt, wenn es von den beteiligten Personen anerkannt wird. Wenn wir auf diese Gemeinsamkeit im moralischen Urteil durch die Verkürzung des Verzeihens auf eine innere Bewusstseinsveränderung des Opfers verzichten, ist das Verzeihen in zweifacher Weise eine Distanznahme des einen Menschen vom anderen: zum einen in der noch nicht abschließend untersuchten Frage nach der persönlichen Beziehung und zum anderen in der moralischen Beziehung, in der wir zu allen Menschen stehen, mit denen wir gemeinsam leben, und die sich gerade dann bewähren muss, wenn sie durch Verstöße gegen Moral- oder Rechtsnormen beschädigt worden ist. Die Verzeihung missverstanden als A
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jene Überwindung oder als die damit eng verwandte Selbstverzeihung liefe darauf hinaus, »that we are prevented from expecting moral behaviour from those close to us«, 140 und zeigt uns, dass die Resentment-Theorie eher der Duldung oder der Verharmlosung gleicht. Dass Margaret Holmgren als eine der bekanntesten Vertreterinnen der Selbstverzeihung denselben Missverständnissen in der Interpretation ihres vermeintlichen Ahnherren Butler unterliegt wie Murphy als dem bekanntesten Vertreter der Resentment-Theorie, ist kein Zufall. Beide wenden die Strategie an, die eigenen Lebenszusammenhänge denen des anderen zu entziehen: »[T]he point of relinquishing moral anger is to remove one’s emotional, personal world from the reaches of the agent. In such cases, forgiveness is a turning away from the agent rather than coming to terms with him or her as moral agent« 141 – eine Abwendung nicht nur vom Täter, den wir aus unserer engeren Lebenswelt fernhalten wollen, sondern auch vom Mitmenschen, den wir nicht mehr als autonomes Handlungssubjekt betrachten und an den wir deshalb keine ethische Forderungen mehr stellen wollen. Dass sich die Resentment-Theorie als eine Spielart des SeinenFrieden-Machens offenbart, ändert sich auch dann nicht, wenn man sie mit Arendts Beharren auf der Ungerechtigkeit des Verzeihens in Beziehung setzt, dass wir uns immer wieder neu entscheiden, ob wir mit der Option des Verzeihens oder anders reagieren. Ein Opfer, das von zwei verschiedenen Menschen eine Ohrfeige bekommen hat, verzeiht dem einen und dem anderen nicht. Genauso kann der Täter das eine Opfer seiner Beleidigung um Verzeihung bitten, während er eine andere Person, die er unflätig beschimpft hat, gerade nicht um Verzeihung bittet. Die Wege, auf denen Menschen ihren Frieden mit dem machen, was ihnen widerfahren ist oder was sie anderen angetan haben, sind vielschichtig. Nicht zuletzt dadurch machen sie darauf aufmerksam, dass die Überwindung der schlechten Gefühle ganz ohne die verzeihende oder andersartige Verständigung zwischen Täter und Opfer auskommen kann. Die Beschränkung auf die emotionale Innerlichkeit ist eine von vielen Möglichkeiten, den zwischenmenschlichen Charakter des Verzeihens zu übergehen. 140 Kim Atkins: Friendship, Trust and Forgiveness, in: Philosophia 29 (2002), S. 111– 132, hier S. 124. 141 Ebd., S. 125.
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Wenn die Überwindung schlechter Gefühle sich als Variante des Seinen-Frieden-Machens entpuppt, stellt sich nur umso dringlicher die bereits angeklungene Frage, in welchem Verhältnis sie zur zwischenmenschlichen Verzeihung steht: Von der Kritik an denen, die Verzeihen mit jener Überwindung identifizieren, lässt sich nicht ohne Weiteres übergehen zu der Meinung, dass »[f]orgiveness […] involves foreswearing hostile reactive attitudes and a commitment to the well being of the one who has wronged us.« 142 Sicherlich verträgt sich das Verzeihen nicht mit anhaltender Feindschaft. Aber hinsichtlich des angesprochenen Wohlwollens, das weit über das Abklingen nicht nur feindlicher, sondern auch ärgerlicher Empfindungen hinausgeht, muss zunächst geprüft werden, ob sich die weitaus bescheidenere These aufrechterhalten lässt, dass jene Überwindung wenn schon nicht zu den Elementen, dann wenigsten zu den Bedingungen des Verzeihungsaktes gehört. Wenn also Verzeihen im Sinne von Hughes, mit der gebotenen Vorsicht gesagt, auf der Überwindung des moralischen Ärgers beruht, wird die vorschnelle Gleichsetzung des Verzeihens mit der Wiederaufnahme und Heilung einer vormals beschädigten Beziehung verhindert, das heißt die Betonung des retributiven Charakters der Verzeihung verhindert, sie auf dem Weg jener maximalen Überwindung mit der Versöhnung kurzzuschließen. Gefunden werden muss daher ein Begriff des Verzeihens, der keine unerfüllbaren Ansprüche an die Opfer stellt, sondern eine Umgangsform mit zwischenmenschlicher Schuld beschreibt, die die Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten im Allgemeinen und die Unwägbarkeit des Handelns im Besonderen bedenkt und nicht wie die sogenannte Selbstverzeihung und die Resentment-Theorie in das Fahrwasser jenes übersteigerten autonomen Subjektes gerät – hier in Bezug auf die Beherrschbarkeit des Gefühlshaushaltes –, zu dessen Gegenentwurf das Verzeihen einen Beitrag im Sinne der praktischen Umsetzung leisten soll. In Wiederaufnahme und Ergänzung von Arendts Aufschlüsselung des Verzeihungsgeschehens zeigt sich also, dass der Abfolge von der Anerkennung der Wahrheit über das gemeinsame Unrechtsbewusstsein und die Verzeihungsbedürftigkeit hin zum tatsächlichen Verzeihensakt keine Notwendigkeit innewohnt, was in den Überlegungen dazu, was überhaupt zusammenkommen muss, damit sich 142
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begründet von Verzeihung sprechen lässt, nicht untergehen darf. So wird das Bewusstsein dafür geschärft, dass das Verzeihen kein Automatismus ist und ohne den dauerhaften Willen aller Beteiligten, zu einem Ausgleich zu kommen, zum Scheitern verurteilt ist. Die hier genannten konstitutiven Bedingungen des Verzeihens, denen im Folgenden noch die der Reue hinzugefügt wird (siehe Kapitel 7.b), und die einzelnen Elemente des Verzeihungsgeschehens selbst (siehe Kapitel 7.c) sind dabei nicht nur als analytische Begriffe zu verstehen, sondern auch als Schritte des realen Verzeihens, an denen sich die individuelle Verzeihungsbereitschaft im konkreten Fall beständig zu bewähren hat. b
Die Reue
In Arendts Gedanken ist die Reue in ihrem bedingenden Charakter für die Verzeihung ein Element des Verzeihungsgeschehens, das immanent auf seine Entäußerung drängt. Und wenn sie eine Bedingung in dem Sinne ist, wie sie von ihr im Anschluss an Jesus bestimmt wird, dann benötigt das verzeihende Opfer einen Anhaltspunkt für die Reue des Täters, die dieser daher in irgendeiner Form sichtbar machen muss. Unter diesem Blickwinkel ist die in ihr aufgehobene Verbindung der moralischen Verurteilung der Tat mit der Verzeihungsbedürftigkeit des Täters und der Übernahme von Verantwortung zu verstehen, die schon zu den Elementen der bei Arendt vorgefundenen Aufschlüsselung des Verzeihungsgeschehens zählten. Der maßgebliche Gedanke, der dieser Verbindung zugrundeliegt, ist die Auffassung der Reue als Moment der moralischen Selbstvergewisserung des Täters. Der einsichtige Täter ergreift die Gelegenheit zur Anerkennung seines moralischen Vergehens und konstituiert sich vor dem Gerichtshof seiner selbstbezüglichen moralischen Ansprüche wieder als ein jemand, der diesen Ansprüchen qua Moralität auch Genüge leisten kann. Dass er dazu fähig ist, beweist ihm gerade seine Fähigkeit zur kritischen Selbstbeurteilung. Unter denen, die wie Arendt, Jesus und die Mischna (vgl. Kapitel 5) die Reue zu den Bedingungen des Verzeihens zählen, 143 ist die Reue we143 Zu den Verfechtern der Reue als entscheidender Bedingung des Verzeihens zählen neben Jankélévitch (F, bes. 26–27, 39, 49, 124, 151 f., 157 f.; V, 254, 268–273), Lévinas (VTL, 34–37), Ricœur (GGV, 755–759) und Spaemann (P, 248) auch Atkins: Friendship, S. 126 f., Gibbs: Returning, S. 81–87, Gill: Moral Functions, S. 12–18, Haber: Forgive-
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der als maßgebliche Bedingung noch in ihrer Interpretation als der Ort, an dem sich der Täter kritisch über sich selbst äußert, umstritten. In ihr wird die Wahrheit im Schuldbekenntnis ausgesprochen: »Reue« besteht zunächst darin, »nicht zu vergessen, was man getan hat, indem man dahin ›zurückkehrt‹, wie das hebräische Verb ›shav‹ andeutet.« (ÜB, 75) Sie akzeptiert die Verantwortung nicht nur dem Lippenbekenntnis nach, sondern in der tätigen Reue, und ist der Grund, in dem die Bitte um Verzeihung wurzelt. Bis zu diesem Punkt befinden wir uns noch auf dem Boden der interpretatorischen Konsequenzen, die sich aus der arendtschen Handlungstheorie, vor allem aus ihren Begriffen der moralischen Personalität und Verantwortlichkeit, für ihre Einbindung der Reue in das Verzeihungsgeschehen ziehen lassen. Gleichwohl bleibt Arendts Reue, auf deren zentrale Bedeutung sie erst durch Audens Kritik aufmerksam wurde, eigenartig blass, und zwar sowohl in der Vita activa als auch in ihrer Antwort an Auden. Wenn die folgenden Ausführungen sich an die Aufgabe machen, diese Lücke zu füllen, dann geschieht dies so, dass die Reue in der geschilderten Funktion für das Verzeihungsgeschehen die bisher genannten konstitutiven Bedingungen des Verzeihens in sich einschließt. In der Reue erkennen wir, dass wir Täter einer verwerflichen Tat sind, und schämen uns dafür, dass wir uns durch diese Tat als jemand zu erkennen gegeben haben, der wir nicht sein wollen. Wir haben eine Vorstellung davon, wer wir sein wollen, und sehen ein, dass unser Handeln unseren Mitmenschen etwas anderes sagt. Deswegen hat Peter Bieri von der »Trauer darüber« gesprochen, »daß ich mich vorübergehend verloren hatte […]. Verloren […] als eine Person, die sich vom moralischen Standpunkt her verstanden hatte und dies nun wieder tut«. 144 Die Korrektur dieser Botschaft fußt auf der Einsicht und dem eigenen Leid daran, ein Unrecht getan zu haben, das besser nicht geschehen wäre und aufgrund dessen man Mitleid mit seinem Opfer empfindet. Dieses Mitleiden wiederum mündet in das Bestreben, etwas zur ness, S. 90–103, Hieronymi: Articulating, S. 549–552, La Caze: Asymmetry, S. 450, Lauritzen: Forgiveness, S. 143–147, Lohmann: Verzeihen, S. 195, Oeing-Hanhoff: Verzeihen, S. 47 f., Verdeja: Derrida, S. 42–43, und Vossenkuhl: Bedingungen, S. 122. Die meines Wissens gründlichste Darstellung der Reue innerhalb des Verzeihungsgeschehens liefert Scheiber: Vergebung, bes. S. 151–162, 254–265 und 307 f. 144 Siehe Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001, S. 364. A
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Linderung des Leides zu tun, wenn schon das Ungeschehen-Machen unmöglich ist. Wer bereut, lamentiert nicht, sucht nicht nach Ausflüchten und rechtfertigt sich nicht. Anders als in der Entschuldigung verteidigt er sich nicht gegen ungerechtfertigte Schuldvorwürfe, sondern er erkennt die Berechtigung einer – vielleicht noch nicht ausgesprochenen – Anschuldigung an. So wie der Täter der retributiven Strafrechtfertigungstheorie seine Strafe wollen muss, muss er die Reue als notwendigen Nachweis seiner eigenen Moralität selbst wollen. Die Reue ist ein Akt der Selbstbefreiung und nicht der Selbsterniedrigung des Täters. Denn in der Erkenntnis, dass er die eigenen moralischen Ansprüche verfehlt hat, vollzieht sich auf dem Forum seines eigenen Gewissens eine praktische Selbstbeurteilung in Form der Selbstdistanzierung. Dadurch eröffnet er sich wieder die Freiheit zu handeln, die es braucht, um mit oder trotz des Wissens um das Gefehlt-Haben weiterhin unter Menschen sprechen und handeln zu können. Handlungen der Reue sind auf eine gesteigerte Form des Mutes angewiesen, den es laut Arendt für alles Handeln und die in ihm beschlossene Offenbarung des Wer-einer-ist braucht. Denn die Zähigkeit des Getanen betrifft nicht nur die endlose Folgenkette einer einmal getanen Tat, sondern mit ihr ist auch für immer in der Welt, was diese meine Tat über mich aussagt. Und gerade in Bezug auf diesen Umstand führt die Reue als Befreiung zu einer Erleichterung und gibt eingedenk ihres Grundes keinen Anlass zu moralischer Selbstüberschätzung. Ihre Haltung ist die der Bescheidenheit und der Mäßigung (im Unterschied zur Unterwürfigkeit), und sie versagt sich sündenstolze Sätze: »Reue ist nichts für Schwächlinge.« 145 Die Reue ist kategorial missverstanden als »Drohung mit Selbst-Bestrafung« (ÜB, 51), wie Arendt formuliert, und zugleich mehr als nur eine Erniedrigung des Täters im Angesicht seines Opfers. Sie setzt sich ohne Zweifel dem Opfer aus, insofern dieses die Anerkennung jener moralischen Selbstdistanzierung selbst dann verweigern kann, wenn sich der Täter an ihre Beglaubigung durch – unten erörterte – Versuche der Entschädigung macht. Aber die Reue bleibt trotz ihrer zwischenmenschlichen Ausgesetztheit ein Zeichen der sittlichen Umkehr des Missetäters und ist darin Bedingung einer 145 Geiko Müller-Fahrenholz: Vergebung macht frei. Vorschläge für eine Theologie der Versöhnung, Frankfurt/Main 1996, S. 34; vgl. Scheiber: Vergebung, S. 157.
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ihretwegen dennoch nicht einforderbaren Verzeihungsgewährung des Opfers. Diese Beschreibung der Reue geht auf Max Scheler zurück, der ihre Verweisstruktur in eindrückliche Worte gekleidet und sie gegen ihre Verächter verteidigt hat. 146 Er stellt sie als Form der persönlichen Erinnerung dar, die »im Hinbeugen auf ein Stück Vergangenheit unseres Lebens einen neuen Glied-Sinn und einen neuen GliedWert diesem Stück« beimisst (RW, 35). Die Reue geht einher mit einem Gefühl der Schuld, richtet sich aber auf die Schuld aus der Tat selbst, wobei sie zwar auf die persönliche Vergangenheit und das konkrete Vergehen schaut, sich aber auf die Zukunft ausrichtet. Als »Entmächtigung der Schuld« (RW, 48) und »mächtige Selbstregenerationskraft der sittlichen Welt« (RW, 49) ist sie selbst der erklärte Wille, es künftig besser zu machen. Weder ist sie ein Hindernis der Besserung noch sollte man sich falsche Vorstellungen von ihrer Wirkungskraft machen. Denn sie vermag nichts gegen die Tat, deren Folgen oder gegen die Schuld selbst auszurichten: »Diese alle bleiben in der Welt.« Schelers ausdrucksstarke Wendungen, in denen er vom Ausstoß der Tat aus der Person ihres Täters, von der Löschung des moralischen Unwertes der Tat oder von der in Anführungen gesetzten »›Wiedergeburt‹« spricht, durch die »die letzte Wurzel unserer sittlichen Akte: das geistige Personzentrum sich selbst (unbeschadet seiner formalen und individuellen Identität) in seinen letzten materialen Intentionen zu verbrennen und neu aufzubauen« (RW, 42) scheine, 147 unterliegen dieser Grenze der Reue: Sie ist ein »Gesinnungswandel« (RW, 42) und fußt auf der Erinnerung an unser Vergehen, das gerade durch das Erinnert-Werden aus der Summe unserer Erlebnisse herausgenommen wird, die unser Hier und Jetzt bestimmen: »Die gewußte Geschichte macht uns frei von der Macht der gelebten Geschichte.« (RW, 35) Wenn man die Reue als moralisch-inneren Vorgang im Täter begreift, dann wird sie, deutlicher als in Arendts kargen Überlegun146 Max Scheler: Reue und Wiedergeburt, in: ders.: Vom Ewigen im Menschen, Bern/ München 4 1954 (= Gesammelte Werke 5), S. 27–59 [= RW], hier RW, 29–33; vgl. auch ders: Formalismus, S. 364–366. 147 Ich stimme Scarre und Scheler zu, dass die Reue keineswegs die bereuende Person auf eine solche Weise von ihrer in der Vergangenheit liegenden Tat trennt, dass sie nicht mehr die Person ist, die das getan hat und der man deswegen auch nicht verzeihen könne, wie das Derrida, OF, 38–39, und JV, 12,3, behauptet; siehe Scarre: After Evil, S. 60– 61.
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gen, als Bedingung des Verzeihens sichtbar, die mit dem Akt des Verzeihens selbst nicht zu verwechseln ist. Sie ist für sich existent, auch wenn sie äußerlich veranlasst sein mag, das heißt: wenn sich der Täter so sehr in die Geschichte seiner Tat und ihrer Folgen verstrickt hat, dass er in Bezug auf jene kritische Selbstbeurteilung im sokratischen Gespräch mit sich selbst, das Arendt Gewissen nennt, der Hilfe anderer bedarf. Für die Verzeihung gewinnt sie aber erst Bedeutung, wenn sie im Angesicht dessen ausdrücklich wird, an dem wir uns vergangen haben. Ohne Reue ist die Verzeihung gerade nicht »simply a state of mind«, sondern es liegt gar keine Verzeihung vor. Erst die Reue macht die Verzeihung zu einem »social or moral bond, as a medium for restoring civilized relations between the injured and the injurer«. 148 Und nun lässt sich auch übergehen zu einer Einsicht, die in Fortführung arendtscher Gedanken in die Debatte um die Reue innerhalb des Verzeihungsgeschehens einzubringen ist. Denn ihre Antwort an Auden sensibilisiert dafür, dass die Reue des Täters auch für das Opfer von entscheidender Bedeutung für die wechselseitige Achtung der Würde und der moralischen Personalität des anderen ist. Dass das Opfer sich überhaupt von der Reue des Täters überzeugen lassen kann, hängt auf seiner Seite von Voraussetzungen ab. Die Zumutung der Verantwortung bedeutet nämlich nicht nur erstens, dass man dem Täter den Mut abverlangen muss, den es braucht, sich vor sich selbst und anderen als schuldig zu bekennen und die Folgen zu tragen. Diese Zumutung für den Täter verlangt dem Opfer wiederum ab, dass es dem Täter zweitens die Fähigkeit zutrauen muss, jene erste Zumutung annehmen zu können. Und solches Zutrauen in die moralische Personalität des Täters ist für das Opfer selbst eine Zumutung im ersten Sinne. Sie ist genau der Punkt, an dem Arendt warnend den Zeigefinger erhebt und deutliche Worte für die findet, die solche Geduld und Zuversicht in den Übeltäter nicht aufbringen, vorauseilend vermeintliche Verzeihung gewähren und damit dem Täter die Gelegenheit zur Wiederherstellung seiner moralischen Selbstachtung nehmen (vgl. HA/WA, 004864). Derselbe Sachverhalt lässt sich auch aus der Perspektive von Arendts irriger Bindung des Verzeihlichen an das Strafbare darstellen, die in Übereinstimmung mit der Freiheit und der Ungerech148 So ist meines Erachtens Susan Jacoby: Wild Justice: The Evolution of Revenge, New York 1983, S. 347, zu korrigieren.
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tigkeit des Verzeihens zumindest anzeigt, dass ein Verzeihen von aufschließender Qualität nur da möglich ist, wo es auch Handlungsalternativen gibt. Dementsprechend kann sich wechselseitiges Vertrauen im Verzeihungsgeschehen nur einstellen, wenn die Option auf andere Handlungen gegeben ist. Täterreue ist für das Opfer daher ein verlässlicher Hinweis auf dessen freie Einsicht und ebenso freie Entscheidung für die Bitte um Verzeihung, im Unterschied zu vorauseilender Gewährung von Verzeihung oder dem Täter abgerungener Reue. Auch wäre in letzterem Fall die Reue nicht mehr der Ort, an dem sich die Möglichkeit auftäte, Verzeihen und das Fortbestehen tatgebundener Gefühle in Einklang zu bringen. Wenn die Resentment-Theorie einen Ertrag hat, dann den, dass sich das Verzeihen als ein Nicht-mehr-Bezichtigen mit dem moralischen Ärger nicht verträgt. Er ist es, der überwunden werden muss. Und die Reue ist es, die diese Überwindung möglich machen kann, auch wenn sich jenseits des Verzeihungsgeschehens im Rahmen des Seinen-Friedens-Machen viele Wege finden, auf denen Menschen die emotionalen Belastungen im Gefolge einer Unrechtstat bewältigen oder zumindest lindern können. Nur zeigt die Reue als moralische Neubestimmung einen Weg auf, wie der Anlass für das moralische Übelnehmen entfallen und wie das Unrechtsbewusstsein und das vielleicht fortbestehende körperliche und seelische Leiden des Opfers mit dem Nicht-Mehr-Vorhalten und dem Nicht-Mehr-BeschuldigtWerden zusammengehen können. a Die Reue und die Entschädigung Weil die moralische Selbstdistanzierung zumindest die Tendenz zum Praktisch-Werden mit sich führt, ist mit der Reue die Übernahme der Verantwortung jenseits des Lippenbekenntnisses angesprochen, das uns oft genügt, um ungenau und bisweilen taktisch motiviert von jener Übernahme zu sprechen. Man denke an die öffentlichen, meist in der politischen Sphäre vernehmbaren Schuldbekenntnisse und scheinbar bereitwilligen Erklärungen, Verantwortung zu übernehmen, aus denen gleichwohl nichts folgt. Diejenige Übernahme der persönlichen Verantwortung aber, die sich der Reue verdankt, ist mehr als bloßes Eingeständnis der Schuld und findet ihren Ausdruck in Worten und Taten. Weil der Täter bereut, wird er sich, weil er das Unrecht nicht ungeschehen machen kann, an der Wiederaufbauarbeit seines Opfers beteiligen. Reue und Buße sind nicht einfach zuA
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sammen die Verantwortung für das Getane, sondern die Reue formuliert die Verantwortung vor sich selbst. Sie drängt als Selbstrevision auf die Verantwortungsübernahme vor anderen und für andere. Insofern ist die Reue im Unterschied zur Anerkennung der Wahrheit, zum Unrechtsbewusstsein und der Anerkennung der Verzeihungsbedürftigkeit der Ort, an dem die Bedingungen des Verzeihens praktisch werden. Denn wer sich als moralische Person begreift und sich wegen seiner Reue wieder als solche begreifen zu dürfen glaubt, der wird sich schon aus Eigeninteresse an der Plausibilität seines Gesinnungswandel nicht den praktischen Folgen, also der zwischenmenschlichen Verantwortung, entziehen wollen. Denn die innerlich-bleibende Reue kommt der ausgebliebenen Einlösung der moralischen Umkehr gleich und verkehrt die Reue in ihr Gegenteil: »Nach dem nichtausgeführten guten Vorsatz ist die Seele nicht auf ihrem alten Niveau. Sondern sie findet sich weit tiefer hinabgestürzt als vorher.« (RW, 37) Nur die nach außen gewandte Reue verschafft die Aussicht auf die Wiederherstellung der moralischen Integrität. 149 Der springende Punkt ist der, dass aus der Reue als Selbstrevision allein noch nichts folgt: »Erst im Reueakt geht uns darum die volle evidente Erkenntnis jenes Gekonnthabens eines Besseren auf. Aber diese Erkenntnis schafft nichts […]. Sie schafft nicht, sie zeigt nur an« (RW, 41), dass man zu einem Besseren fähig ist und dass die praktische Bestätigung dieser Fähigkeit noch aussteht. Die Reue verlangt also immanent nach dem, was Scheler Buße nennt und hier Entschädigung heißen soll. Gegenüber diesem moralischen Begriff der Reue verkürzt die psychologische Kritik die Reue auf einen Hemmnischarakter und das Handeln selbst auf eine Frage der richtigen Technik. Der moralische Begriff der Reue macht überhaupt erst die persönliche Motivation sichtbar, künftig etwas besser machen zu wollen. An die Stelle des laut Scheler auf Nietzsche zurückgehenden Mottos »›Nicht bereuen, sondern besser machen‹« (RW, 30) setzt er die Zuversicht der Reue: »›Bereuen, und eben darum besser machen‹« (RW, 50). Und in diesem Darum steckt das Praktisch-Werden der Reue, die Übernahme der Verantwortung im eigentlichen Sinne des Wortes, da wir uns in der Reue unserer zwischenmenschlichen Verantwortung be149 Ergänze dazu RW, 36 f.: »Der Weg zu äußerster Selbstverachtung geht fast immer durch unausgeführte gute Vorsätze, denen keine rechte Reue voranging.«
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wusst werden: Die »Mitverantwortlichkeit ist für den Bestand eines moralischen Subjekts genauso wesentlich wie es die Selbstverantwortlichkeit ist.« Mitverantwortung übernehmen wir durch »Akte der Verpflichtung oder durch ein Versprechen gegen andere« (RW, 51). 150 Anders gesagt: Reue ist nur dann Reue, wenn sie auch zur tätigen Reue wird. Der Spruch des Gewissens beruht zwar auf einer Distanznahme zu den eigenen handlungsanleitenden Interessen, aber er ermöglicht in der Rechenschaft über das eigenen Leben nicht nur die Verantwortung, die man vor und für sich selbst zu tragen hat, sondern die Verantwortung, die man vor jedem Menschen und besonders für den Menschen hat, dem man ein Unrecht angetan hat. Das Schuldgefühl, ohne das niemand überhaupt etwas zu bereuen hätte, führt auf die doppelte Erkenntnis, dass man das nicht hätte tun dürfen und dass das besser nicht geschehen wäre. Im Unterschied zur bloßen Akzeptanz dessen, dass man ein Unrecht getan hat, ist der Reue jenes Mehr eigen, das aus der Einsicht in das Unrecht den Willen bezieht, es besser zu machen und gerade nicht in die Gleichgültigkeit oder den Trotz derer zu verfallen, die sich von der eigenen Schuld und ihrer zwischenmenschlichen Verantwortung abwenden. Insofern ist die tätige Reue eine selbst auferlegte Pflicht, keine Strafe oder Selbsterniedrigung des Täters. Die unmittelbare Folge der Reue ist der Antrieb, das Geschehene ungeschehen zu machen. Und die übliche und wie so oft alltagssprachlich-ungenaue Ankündigung des reuigen Täters, es wieder gut machen zu wollen, kann nicht bedeuten, es rückgängig machen zu können. Das dürfte demjenigen, der sich mit seiner Untat kritisch beschäftigt hat, auch klar sein. Was er einem anderen angetan hat, bleibt – wie Arendt und Scheler sagen – in der Welt. Und die »Zähigkeit des Getanen« (VA, 297) in ihrer doppelten Bedeutung für die Handlungsketten wie für die individuellen Lebensgeschichten macht die Rückkehr zum Status Quo vor der Untat unmöglich. Was jene Ankündigung besagt und was sich umsetzen lässt, ist ein Gegenhandeln gegen die schlechten Folgen der Tat. 151 150 Wegen dieser Klarstellungen kann ich Albrecht Essers Kritik nicht folgen, dass Schelers Reue auf »Selbstbespiegelung« und »Pharisäismus« hinauslaufe; siehe ders.: Das Phänomen der Reue. Versuch einer Erhellung ihres Selbstverständnisses, Köln/Olten 1963, hier S. 140; vgl. ähnlich Radzik: Making Amends, S. 63 f. 151 Siehe zu dem der Reue innewohnenden Impuls zum Tätig-Werden auch Christopher Bennett: Personal and Redemptive Forgiveness, in: European Journal of Philosophy
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In dieser letzten Hinsicht des Gegenhandelns unterscheidet sich die Reue nicht vom Bedauern, das die Entsprechung der Reue im Falle der wohlverstandenen Verfehlungen ist und genauso tätig werden kann. Das Beispiel der Mütter (und Väter) contergangeschädigter Kinder zeigt, dass Menschen auch dann, wenn sie nicht persönlich schuldig sind und keinen Anlass zur Reue haben, aber doch in die Ursachen von Leid verstrickt sind, jenes Bedürfnis nach dem Ungeschehen-Machen haben, das zur moralischen Empfindung sowohl der Reue als auch des Bedauerns gehört. Entschuldung hebt nicht zwangsweise Verantwortlichkeit auf, zu der wir auch durch andere zwischenmenschliche Bindungen als Schuld verpflichtet sein können. Die Beglaubigung der Reue folgt also einem doppelten Antrieb: erstens dem Eigeninteresse des Täters, sich selbst die Glaubwürdigkeit und Tragfähigkeit seiner Reue zu bestätigen. Sie tut das zweitens in der Orientierung auf den anderen hin, dem der Urteilsspruch des Gewissens nur mittelbar zugänglich ist. »Es sind die Handlungen, die gegenseitig interessieren. Das Gewissen des anderen bleibt uns immer verborgen.« (P, 189) Oder in den Worten von Arendts fiktivem Urteil über Eichmann: »Uns gehen hier nur Ihre wirklichen Handlungen etwas an, und weder die möglicherweise nichtverbrecherische Natur Ihres Innenlebens und Ihrer Motive, noch die möglicherweise verbrecherischen Neigungen Ihrer Umgebung.« (EJ, 328 f.) Unterlässt der reuige Täter dieses Gegenhandeln, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Aufrichtigkeit nicht nur seiner Reue, sondern auch nach seiner prinzipiellen Fähigkeit zur moralischen Selbstrevision. Der Hinweis, dass das Opfer trotz seiner Missetat Vertrauen in seine Absicht zu verlässlichem Verhalten in der Zukunft haben darf, wäre hinfällig, und der entscheidende Anlass für die Verzeihungsgewährung entfiele. Zunächst können wir daher festhalten, dass der aufrichtig bereuende Täter es nicht bei einem kurzen »Es tut mir leid« oder dem stärkeren »Ich hätte das nicht tun dürfen« und auch nicht bei dem ausdrücklichen Sprechakt »Bitte verzeihe mir, dass ich dich beleidigt habe« belassen wird. Bleibt er untätig, löst er den Verdacht aus, dass er seine wahre Haltung verschleiert und nur den üblichen Ansprüchen Genüge leistet, um die lästige Angelegenheit möglichst schnell zu erledigen. Kant hat diesen Umstand in klare 11 (2003), 127–144, hier S. 134: »[R]epentance also involves repudiating the wrong, and that means being moved to do what one can to remove the bad consequences of one’s wrongdoing. Fully repenting means being moved to do what one can to make amends.«
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Worte gefasst (auch wenn anzumerken ist, dass zwischen foro divino und foro humano wie gesehen ein Unterschied zu machen ist): Das Gewissen ist müßig, wenn es keine Bestrebung hervorbringt, das auszuüben, was zur Satisfaktion des moralischen Gesetzes erfordert wird, und wenn man auch noch so viel Reue bezeigt, so hilft sie nichts, wenn man nicht das leistet, was man nach dem moralischen Gesetz schuldig ist. Denn selbst in foro humano ist ja die Schuld nicht durch die Reue, sondern durch die Zahlung befriedigt. Es müssen daher Prediger […] darauf dringen, daß die Leute […], wenn sie einem anderen Unrecht getan haben, es wirklich zu ersetzen suchen, denn alles Winseln und Heulen hilft nichts, so wenig in foro divino als humano. 152
Im Unterschied zu Kant ist allerdings auf zwei Dinge Wert zu legen: Erstens richtet sich die Reue nicht allein auf die Verfehlung des moralischen Gesetzes, sondern sie betrifft in den Erfordernissen, von denen Kant spricht, den anderen Menschen, dem man ein Leid zugefügt hat. Zweitens ist die von ihm verlangte Ersetzung des Unrechts gerade in der Frage nach ihrer Art und Weise der entscheidende Aspekt, der in das Dilemma der Reue führt. Denn welche Form kann die tätige Reue annehmen? Und wie kann sie mit der Gefahr der Heuchelei auf der einen und der Gefahr der Ausbeutung auf der anderen Seite umgehen? Auch wenn »[m]oral fakes« existieren, stehen die folgenden Ausführungen über die Möglichkeiten, wie Täter ihre Reue beglaubigen können und wie Opfer sich von der Aufrichtigkeit der Reue überzeugen können, unter der Prämisse, dass »systematic distrust – the refusal to take any gesture as genuine, the view that no matter what, the tears of a wrongdoer are crocodil tears« – jede Möglichkeit des Verzeihens durch solchen generalisierten Verdacht ohne Ansehen der Person auslöscht. 153 Wenn es sich um Unrecht handelt, das sich in Freundschaften und anderen persönlich-privaten Beziehungen ereignet hat, dann können sich aus der Art der Beziehung Möglichkeiten ergeben, wie die Reue tätig werden kann, ohne dass dafür präzise Bedingungen angegeben werden müssen. Möglicherweise sind diese Beziehungen nicht auf tätige Reue im Sinne materieller oder finanzieller Entschädigung angewiesen. Es könnte die um der Entsprechung willen soge152 Immanuel Kant: Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. v Paul Menzer, Berlin 1924, S. 164, hier zitiert nach Scheiber: Vergebung, S. 127. 153 Govier: Forgiveness and Revenge, beide Zitate S. 131.
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nannte moralische Entschädigung ausreichen, dass der Täter dem Opfer seine Reue bekundet. Und dann träte an die Stelle der materiellen Entschädigung die Verbindung von dem Wissen um die Zuverlässigkeit des reuigen Täters, von der wir aus der gemeinsamen Geschichte wissen, mit der Bestätigung dieses vorlaufenden Vertrauens, die erst in und durch die künftige gemeinsame Geschichte erfolgen kann. In Unrechtsfällen dieser Art tritt nur besonders deutlich hervor, was für alle Reue jenseits der Frage nach materieller oder immaterieller Beglaubigung gilt: dass dem Vergehen der Zeit entscheidende Bedeutung dafür zukommt, ob Reue verlässlich und ob unser Vertrauen in sie gerechtfertigt ist. Wenn aber die Beziehungen nicht von der geschilderten Art sind, dann sind wir an die Praxis der Entschädigung verwiesen, an deren Erscheinungsform in der öffentlichen, politischen Sphäre sich die beiden genannten Fragen nach der Aufrichtigkeit der Reue und der prinzipiellen Befähigung zu ihr erörtern lassen. Anhand der politisch-öffentlichen Entschädigungspraxis kann gezeigt werden, welche Bedeutung die tätige Reue nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Täter hat und mit welchen Schwierigkeiten die Beglaubigung der Reue verbunden ist – in ihrer einfachen politischen Form und in ihrer weniger greifbaren zwischenmenschlichen Form. Zu diesem Zweck sind drei Aspekte tätiger Reue zu erläutern. (i) Die Entschädigung als Wiederaufbauarbeit Erstens ist die Entschädigung eine Beteiligung des Täters an der Wiederaufbauarbeit des Opfers, zu der es durch die Tat gezwungen ist. Spaemann bindet die Möglichkeit der Verzeihung an die mit Arendt geteilte Einsicht, dass die Person »immer mehr als die Summe ihrer Prädikate« ist, was auch in der Reue, der »Ablehnung der eigenen Tat« (P, 248), seinen Ausdruck findet. Die reuige Neubestimmung der eigenen Stellung zu dem, was man getan hat, ist daher wie das Verzeihen insgesamt an die »Bedingung der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens« geknüpft. Wenn die staatliche Gemeinschaft von der Tat berührt wird, könne die »Wiedergutmachung unter Umständen in der Übernahme« (P, 249) der mit Hegel als Ehrung der Moralität des Täters aufgefassten Strafe bestehen. Der Zusammenhang von staatlicher Strafe und Entschädigung, auf den es hier ankommt, ist jedoch der, dass von staatlicher Seite dem Täter Bedingungen auferlegt werden können, den angerichteten Schaden im Rahmen dessen, was angesichts der Unwiderruflichkeit 286
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des Getanen noch möglich ist, auszugleichen. Dieser Aspekt der Entschädigung betrifft die Gerechtigkeit im Blick auf den konkreten Schaden, den das Opfer zwar erlitten hat, den Spaemann aber der Wiederherstellung der gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung unterordnet: Strafe sei die Wiederherstellung »eines Gleichgewichtes der Gerechtigkeit. Und zwar nicht nur so, daß der Schädiger den Geschädigten ›entschädigen‹ muß. Vielmehr muß über die Schädigung eines Einzelnen hinaus die Schädigung aller, die an einer Ordnung teilhaben, aufgehoben werden.« (GW, 250) Die Reue, die ihre Selbstkritik ernstnimmt, ist bestrebt, den unrechtmäßig verschafften Vorteil auszugleichen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Im gegenteiligen Fall ihrer bloßen Bekundung blieben die durch die Tat etablierten und ungerechten Zustände bestehen. Und »der Erfolg der Straftat« verfestigte sich und es ginge »insbesondere der ungestörte Genuß der Früchte derselben« vonstatten. 154 Deshalb sind Entschädigungen trotz der unbestrittenen Anfälligkeit der Reue für Heuchelei aufseiten der Täter und für ihre materielle und emotionale Ausschlachtung durch die Opfer eine Frage der persönlichen und oft auch materiellen Gerechtigkeit und als solche eine Notwendigkeit. Denn sie sind in der Formulierung des maßgeblich an der deutschen Entschädigungspolitik nach dem Ende des Nationalsozialismus beteiligten Walter Schwarz »ein Beitrag zu der Leistung […], welche die Überlebenden dieser Vernichtung mit der Wiederaufrichtung ihrer zerbrochenen Existenz in aller Welt aus eigenen Kräften vollbringen müssen.« 155 Die Reue ist innerhalb des Verzeihungsgeschehens folglich der Ort der Wahrheit und der Gerechtigkeit, weil die Anerkennung des Unrechts vom Täter auch die – soweit möglich – Abschaffung der tatverursachten Ungerechtigkeiten verlangt. Kommt er dieser Forderung nach, mag man darin ein Zeichen für die Aufrichtigkeit seiner Reue sehen. Er lässt sich, wie Kant es fordert, seine Reue buchstäblich oder bildlich etwas kosten. Es ist seine einzige Möglichkeit, wie er die Ernsthaftigkeit seines Gesinnungswandels (jenseits der Bewährung durch die Zeitläufte hindurch) im Hier und Jetzt demonstrieren kann und sich nicht Kants Vorwurf aussetzen muss, es handele sich bei seiner Reue nur um Winseln und Heulen. Nur bewahrt ihn Wolf: Strafe, S. 211. Walter Schwarz: Rückerstattung und Entschädigung. Eine Abgrenzung der Wiedergutmachungsformen. München 1952, S. 1. 154 155
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sein persönlicher Einsatz nicht mit Sicherheit vor diesem Vorwurf, weil man von jenem Einsatz nicht auf die Authentizität seiner Reue schließen kann. Ein Blick auf die westdeutsche Entschädigungspraxis zeigt beides: die Notwendigkeit der Entschädigung und das Dilemma, in das sie die Verzeihung in der privaten wie in der politischen (mit den genannten Vorbehalten) Sphäre führt. Zunächst bestätigt sich die theoretische Parteinahme für die Verbindung von Reue und der tätigen Wiederherstellung der Gerechtigkeit. »Die Dankbarkeit, sogar Unterwürfigkeit« 156 der Entschädigten darf dabei nicht den Blick dafür verstellen, dass ihnen nichts als ihr Recht widerfuhr. Denn die materielle Entschädigung ist dem Opfer behilflich, in eine Situation zu gelangen, die seiner Lage vor der Tat nahekommt. Die Opfergeschichten von beruflichem Abstieg (oft wegen tatverursachter körperlicher Gebrechen), sich verstärkenden psychischen Leiden und zunehmender gesellschaftlicher Isolation zeigen, dass der Frage der Entschädigung nicht mit dem Hinweis auf die Ausbeutbarkeit von Schuldbekenntnissen beizukommen ist. Das Opfer steht vor der ihm aufgezwungenen Aufgabe, sich an den Wiederaufbau stabiler Lebensverhältnisse zu machen. Der Täter macht insofern nichts ungeschehen und auch nichts wieder gut, was als Schlechtes erkannt worden ist, sondern er stellt sich auf den Boden des von ihm begangenen Unrechts und der von ihm verschuldeten Notlage des Opfers und zieht die Konsequenz aus seiner kritischen Selbstbeurteilung, dass er aus Gründen der Gerechtigkeit etwas gegen den unrechtmäßigen Vorteil, den er sich zu Lasten seines Opfers verschafft hat, unternehmen muss. Auf zwei Dinge ist ergänzend hinzuweisen. Erstens wird der schale Nachgeschmack einer bloßes Lippenbekenntnis bleibenden Reue gerade dann unabweisbar, wenn wir es mit Tatfolgen zu tun 156 Tobias Winstel: Über die Bedeutung der Wiedergutmachung im Leben der jüdischen NS-Verfolgten. Erfahrungsgeschichtliche Annäherungen, in: Hans Günter Hockerts/ Christiane Kuller (Hg.): Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S. 199–227, S. 213. Ich beziehe mich im Folgenden auf Winstels ausgezeichnete Überlegungen, weil er die individuellen Erfahrungen der Anspruchsberechtigten untersucht und so auch der philosophischen Frage nach der lebensgeschichtlichen Bedeutung tätiger Reue den Weg weisen kann; vgl. dazu Christian Staffa: Die Aktion »Sühnezeichen«. Eine protestantische Initiative zu einer besonderen Art der Wiedergutmachung, in: Hockerts/Kuller (Hg.): Nach der Verfolgung, S. 139–156; Dietmar Süß: Wiedergutmachung von unten? Katholische Vergangenheitsbewältigung und die Entstehung des Maximilian-Kolbe-Werkes, in: Hockerts/Kuller (Hg.): Nach der Verfolgung, S. 157–175.
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haben, die die Opfer für den Rest ihres Leben verfolgen, weil sich das Leid in ihre Körper selbst eingeschrieben hat. Der Wille zur tätigen Reue kann es auch mit der Bewältigung körperlicher und seelischer Leiden zu tun haben, die endlos sind und genauso wenig vergehen wie die persönliche Schuld des Täters: »[W]e must acknowledge that evil actions can have very long-lasting consequences.« 157 Nicht zuletzt deswegen hat es keine Überzeugungskraft, die vielen Taten, die solches zur Folge haben, von der Möglichkeit der Verzeihung auszuschließen, indem man die Verzeihung als Tilgung des Leids begreift. Das Verzeihen kann, gerade wenn es eine Umgangsweise mit der Unausweichlichkeit zwischenmenschlicher Schuld sein soll, nicht die Augen davor verschließen, »daß auch das Nicht-ganz-Ausheilen« seinen Platz zugewiesen bekommen muss. 158 Wie wichtig trotz solcher Hindernisse die tätige Reue selbst in Geschichten ist, in denen es weder um Verzeihung noch Versöhnung geht, sondern nur um ein notdürftig befriedetes Nebeneinanderherleben, zeigen gerade die Fälle, in denen Reue nicht tätig wird oder ganz ausbleibt. Dafür ist die südafrikanische TRC ein Beispiel, weil sie in der Spannung zwischen den Forderungen der Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Befriedigung sich trotz ihrer unbestreitbaren Leistungen im Ergebnis auf die Seite der Letzteren schlug und die Kosten auf die Schultern der Opfer lud. Denn ihre Konzeption sah die Gewährung von Amnestie im Tausch gegen die Offenlegung der Tatumstände vor, ohne dass sie über ausreichende Mittel zur Überprüfung der Täter-Aussagen verfügte und ohne dass es einen Rechtsanspruch auf Entschädigungen gab, zu denen es kaum überraschend bis heute nicht gekommen ist. Abgesehen davon, dass die Mindestbedingungen der Verantwortung und Entschädigung für die titelgebenden Ziele der Wahrheit und Versöhnung schon durch die Konzeption der TRC unerreichbar wurden, verleitete ihre Struktur nicht wenige Täter zu einem selbstgerechten und hochmütigen Gebaren. 159 Und für die Opfer endete sie mit einer Enttäuschung, auch wenn ihnen zumindest die als Entlastung erfahrene Gelegenheit gegeben wurde, ihre Leidensgeschichten überhaupt erzählen zu dürfen. Die »Hilfe für das wirtschaftliche nach dem physischen ÜberleScarre: After Evil, S. 75; vgl. McCall Smith: Time, S. 52–54. Dietmar Mieth: Vom Ethos des Scheiterns und des Wiederbeginns. Eine vergessene theologisch-ethische Perspektive, in: Concilium 26 (1990), S. 385–393, S. 388. 159 Siehe Kiss: Moral Ambitions, S. 77; siehe ausführlicher zur TRC Kapitel 8. 157 158
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ben« 160 blieb aber im Unterschied zu den Begünstigten der westdeutschen Entschädigungspolitik aus. Zweitens besitzen materielle Entschädigungen nicht nur materielle Bedeutung, weil unsere Besitztümer wesentlicher Bestandteil unseres allgemeinen Selbstverständnisses sind. Auch wenn uns kein materielles Leid zugefügt wurde, gilt, dass unser materiellen und immateriellen Besitztümer »immer auch ein biographisches Arrangement« sind, »das das Selbstbild und die Identität in einem sehr konkreten Sinn fundiert und stützt.« 161 Die Entschädigung oder – um ein weiteres historisches Beispiel zu nennen – die Rückgabe des im Zuge der sogenannten Arisierung entwendeten Eigentums ist deshalb weit mehr als nur die Rückgabe geldwerter Dinge oder die materielle Ausschlachtung von Schuldbekenntnissen und Reuebedürfnissen. 162 Anderseits tritt neben diese positive Einschätzung tätiger Reue – und zwar jenseits der Frage der Gerechtigkeit, die durch das Folgende gerade nicht delegitimiert wird – der Schaden, den die tätige Reue für die Verzeihung anrichten kann. So fand die deutsche Entschädigungspolitik »kaum innerhalb der Gesamtgesellschaft statt, sondern in einer Art gesellschaftlichen Nische« und wurde von Ausnahmecharakteren vorangetrieben, während sich die Antragsteller auf der Verwaltungsebene vielfältigen Hinhaltestrategien ausgesetzt sahen und in der Tätergesellschaft auf Unverständnis und oft nur mühsam verhüllte Ablehnung stießen, weil man das Mitleid »für die ›Opfer der Deutschen‹« aufsparte. 163 Die Reue und die Notwendigkeit ihrer Beglaubigung führen zur moralischen Verstockung derjenigen, die sich zur Entschädigung nicht verpflichtet, sondern gezwungen sehen. In diesen Fällen rückt die Möglichkeit einer erneuerten Beziehung zwischen Täter und Opfer in weite Ferne, und das reale Leid der Opfer droht zu einem von allen Seiten als entwürdigend empfundenen Verwaltungsakt zu verkümmern.
Winstel: Bedeutung, S. 216. Harald Welzer: Vorhanden/Nicht-Vorhanden. Über die Latenz der Dinge, in: Irmtrud Wojak (Hg.):»Arisierung« im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis (= Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2000, hg. im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts), Frankfurt/Main 2000, S. 287–308, hier S. 294; vgl. Winstel: Bedeutung, S. 214 f. 162 Vgl. dazu Thomas McCarthy: Vergangenheitsbewältigung in den USA. Zur Moral und Politik der Reparationen für Sklaverei, in: DZPh 52 (2004), S. 847–868. 163 Winstel: Bedeutung, S. 212, 204; vgl. ebd., S. 204–213. 160 161
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(ii) Die symbolische Dimension der Entschädigung Zweites ist die Entschädigung symbolischer Natur, und zwar in Bezug auf das Opfer, den Täter und alle übrigen Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft. Das ergibt sich aus der Natur der Sache, dass nichts wieder rückgängig gemacht werden kann. Denn etwas wieder gut machen zu wollen, zielt immer darauf ab, die Dinge wieder so zu gestalten, als könnte man zur Ausgangslage vor der Tat zurückkehren und sie im Vergleich zur Situation nach dem Unrecht wieder gut machen. Wer bereut und sich für sich selbst schämt, während er seinem Opfer gegenüber von Mitgefühl und Schuldgefühlen geprägt ist, fühlt ja den Wunsch, »die moralische Verletzung nie begangen zu haben, bzw. das Geschehen ungeschehen zu machen«, auch wenn er weiß, dass »dieser Wunsch unerfüllbar ist«. 164 Gegenüber der Wiedergutmachung trifft der Begriff der Entschädigung den Zusammenhang von Schuldanerkennung, Reue und Unwiderruflichkeit genauer, den es entsprechend Arendts Begriff des Verzeihens abzubilden gilt. Denn er lässt mehr Spielraum dafür, dass das Leid, das Unrecht und all seine Folgen schlechterdings weder ungeschehen noch gut zu machen sind: Der Täter macht gerade nicht »etwas – sein Verfehlen – gut,« und auch nicht »sich selber«. 165 Was er tun kann, ist, die Folgen in ihrem Ausmaß zu lindern und so die Bedeutung des Unrechtes für die Gegenwart zu entmächtigen. Er kann den Schaden so weit entschädigen, dass er keine zerstörerische Macht über Gegenwart und Zukunft mehr hat. Auch wenn ›Wiedergutmachung‹ einschließt, dass etwas nach ›Wiedergutmachung‹ verlangt, und nicht auf Verharmlosung hinausläuft, erschwert sie es, die tätige Reue mit dem Fortbestehen der leidvollen Erinnerung zu vereinbaren. Ähnlich der Forderung nach der Überwindung aller negativen Gefühle in der verschärften Variante der Resentment-Theorie schwingt in der ›Wiedergutmachung‹ immer ein »Erwartungsdruck auf die Verfolgten […] als aufdringliche Versöhnungserwartung« mit, 166 dass es damit gut sein müsse. Das ist, wie alle Erfahrung zeigt, weder die angemessene Strategie für die Täter noch für die Opfer. Anders als kritische Stimmen gegen die Beglaubigung der Reue immer wieder behaupten, rückt die Geschichte der Entschädigungen gerade deren symbolische Dimension in den Mittelpunkt. Viele Opfer Scheiber: Vergebung, S. 259. So Oeing-Hanhoff: Verzeihen, S. 51. 166 Hans Günter Hockerts: Wiedergutmachung. Ein umstrittener Begriff und ein weites Feld, in: ders./Kuller (Hg.): Nach der Verfolgung, S. 7–33, hier, S. 10. 164 165
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nahmen nicht an den Verfahren teil, weil es ihnen auf den finanziellen Ausgleich ankam, sondern auf ein Schuldeingeständnis, auf die Reue und auf »die Sichtbarmachung der Wiederherstellung von Recht« und »die Aufhebung einer Unrechtslegitimation«. 167 Und dass mit dem Vergehen der Zeit diese symbolische Dimension in den Vordergrund rückt, geht nicht auf ein Argument in der Sache zurück, sondern ergibt sich immer dann, wenn das Vergehen der Zeit nicht der Beglaubigung der Reue dient, sondern einer Hinhaltetaktik. Der symbolische Charakter der Entschädigung ist dann zwangsläufig einer, der etwas ganz anders symbolisiert als ursprünglich beabsichtigt. Die »Blockadehaltung der Bundesrepublik Deutschland« bezüglich der in das nationalsozialistische Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter ist ein solches Beispiel dafür, wie im Effekt die am Ende des Opferlebens doch noch ausbezahlte Entschädigung eine »symbolische Form der ›Wiedergutmachung‹« 168 wird. Weil sie aber auf lange Verhandlungen und oft unwürdiges Feilschen folgte, ist sie weniger Symbol für die Wiederherstellung von Recht, wenn sie schon nichts zur individuellen Aufbauarbeit der Opfer beiträgt, sondern mehr für die Uneinsichtigkeit und die Verstockung der Täter oder Tätergesellschaft und sicher für die Ambivalenz, die aller Verrechtlichung und Bürokratisierung persönlicher Leidgeschichten unaufhebbar innewohnt. Hier zeigt sich erneut, wie sehr die Beziehungen im Vorteil sind, die das Tätigwerden der Reue wegen des in gemeinsamer Vergangenheit gründenden Vertrauens in die Zuverlässigkeit des Bereuenden der künftigen gemeinsamen Geschichte überlassen können. (iii) Das Interesse des Täters an der Entschädigung Drittens zeigt sich in der Entschädigung auch das Interesse des Täters, das er aus Gründen der Glaubwürdigkeit der Wiederherstellung seiner moralischen Personalität und wegen der Korrektur seines Fehlverhaltens an diesem tätigen Gegenhandeln haben muss. In der deutschen Entschädigungspolitik findet sich das in der – wegen ihres erwähnten Nischendaseins – abwegigen Erwartung des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss wieder, mit der Entschädigungspolitik eine innere Reinigung der deutschen Gesellschaft bezwecken zu können. Das heißt nichts anderes, als dass er die Entschädigungen 167 168
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Siehe Winstel: Bedeutung, Zitate S. 210 und 211, vgl. ebd., S. 203. Süß: Wiedergutmachung, beide Zitate S. 167.
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in ihrer Eigenschaft als Nachweis der aufrichtigen Reue und deshalb als Beleg für einen Gesinnungswandel ansah. Dass davon in der Realität wenig zu spüren war, ändert nichts an der Möglichkeit, dass die tätige Einhaltung der Zusage, die die Reue dem Opfer gibt, dem Täter selbst die Aufrichtigkeit seiner Reue versichern kann. Die Entschädigung ist der Beleg jener Selbstvergewisserung, die die Reue im Blick auf die Umkehr des Täters auch für ihn selbst ist: »In der moralisch motivierten Wiedergutmachung bestätige ich mir selbst und dem anderen, nicht mehr der unmoralische Mensch zu sein, der ich war, als ich die Verletzung zufügte, und ich trage zugleich dazu bei, die äußeren Folgen der Verletzung zu mildern.« 169 Das vorläufige Fazit zu den Bedingungen des Verzeihens und der Beglaubigung von Reue durch die Entschädigung muss ein doppeltes sein. Die Sache mag sich theoretisch so darstellen, dass es ohne Reue keine Verzeihung gibt. Aber es gibt keine überzeugende Möglichkeit zu prüfen, ob nun Reuebekundungen oder Entschädigungen, »uns hieb- und stichfest von der Echtheit der Reue des andern zu überzeugen, und aufwendige Nachforschungen wären dem Ziel der Vergebung […] ausgesprochen abträglich«, 170 besser: sie wären widersinnig, weil sie das Vertrauen, das ich in den reuigen Täter zu setzen bereit bin, zurücknähmen. Die historischen Beispiele bringen die Reue als theoretische Forderung zwar nicht zu Fall, aber sie zeigen, dass sie anders als Entschädigungen, die man von Menschen mit den Mitteln des Rechts erzwingen kann, in den unmittelbaren Beziehungen zwischen Menschen eine prekäre praktische Forderung ist. Wer seine Taten nicht bereuen will oder kann, den wird man dazu nicht zwingen können. Diese Erkenntnis war für die südafrikanische TRC einer der Gründe, die Gewährung der Amnestie nicht an die Bedingung der öffentlichen Reue zu knüpfen. Nur verflüchtigte sich so die Möglichkeit der angestrebten gesellschaftlichen Aussöhnung auf Basis der Wahrheit. 171 Wenn man das Verzeihen als eine zwischenmenschliche Handlung zwischen moralischen Personen begreift, denen wir grundsätzlich die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln zuschreiben, dann Scheiber: Vergebung, S. 259. Ebd., S. 265. 171 Und dieses Dilemma findet sich in den meisten Projekten gesellschaftlicher Verständigung über Unrechtsvergangenheiten; siehe dazu die Arbeiten von Goschler: Schuld, S. 477–494; Hayner: Unspeakable Truths; Minow: Between Vengeance; Staub/ Pearlman: Healing. 169 170
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wird man von der Reue als Bedingung des Verzeihens aufgrund der vorausgesetzten und zugemuteten Moralität der handelnden Personen nicht absehen können. In den Worten der retributiven Strafrechtfertigungstheorie gesagt: Wie der Straftäter die Strafe wollen muss, so muss der einsichtige Schuldige die Reue wollen und neben dem Prinzip der Verantwortung auch das Prinzip der Gerechtigkeit zur Geltung bringen, indem er sich des Schadens annimmt, den er angerichtet hat. Aus diesem Grunde drängt die Reue selbst zu ihrer tätigen Beglaubigung als dem Ausweis ihrer Authentizität, muss aber gerade in diesem Bestreben erkennen, dass sie als Gesinnungswandel jenseits einer immer zukünftigen und damit ausstehenden Beglaubigung schlechterdings unbeweisbar ist. Das Verzeihen, das ohne die Reue nicht auskommt, ist daher, wie alles Handeln, ein zerbrechliches Handeln, das auf das Vertrauen zwischen Menschen angewiesen bleibt. Und die Rechtfertigung dieses vorlaufenden Vertrauens steht wie die Beglaubigung der Reue immer aus. Nur in dem Fall von Beziehungstaten kann der Verzeihende rückblickend auf die gemeinsame Vergangenheit auf die Bewährung der moralischen Umkehr und die Bestätigung seines Vertrauens hoffen – nur hoffen, weil er der Ungewissheit aufgrund der Unabsehbarkeit der Menschen und ihrer Taten niemals entfliehen kann. Jenseits der Beziehungstaten verstärkt sich die Ausgesetztheit der Reue wie der Verzeihung überhaupt, macht sie aber nicht unmöglich. Von all diesen Dilemmata der Reue hören wir bei Arendt nichts mit Ausnahme der Bemerkung in ihrem Brief an Auden, dass sie es für schwieriger halte, um Verzeihung zu bitten als Verzeihung zu gewähren (siehe HA/WA, 004865). Sie hält jenen Mut, den es braucht, sich vor sich selbst und anderen als schuldig zu bekennen und die Folgen daraus zu tragen, für die größere Aufgabe als den Mut zu jenem vorlaufenden Vertrauen, das die Aufgabe des Verzeihenden ist. Die ausführliche Erläuterung dieser Dilemmata führt in aller Deutlichkeit die Unwägbarkeit vor Augen, die mit der Reue selbstredend auch in das arendtsche Verzeihungsgeschehen Einzug hält und bezogen auf den Verzeihungsakt und auf Arendts Bestimmung von Verzeihen und Versprechen als Heilmittel des Handelns bedeutsame Konsequenzen nach sich zieht. Denn weil sich die Reue einer Beweisbarkeit entzieht, weil also das Bereuen genauso wie alle anderen Handlungen den Unwägbarkeiten des Handelns unterworfen ist, steht Arendt nicht der Weg of294
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fen, ihre These von den Heilmitteln mittels der Verifizierung der Reue aufrechtzuerhalten. Solche Verifizierung aber scheint die einzige Möglichkeit zu sein, mit der man ihr unter die Arme greifen und ihre Heilmittel zur Ausnahme von der Unwägbarkeit allen Handelns machen könnte. Aus den Überlegungen zur Reue folgt also einerseits die Verstärkung der Zweifel an den heilenden Fähigkeiten von Verzeihen und Versprechen. Die Reue kann aber andererseits aus Gründen der Wahrheit, der Verantwortung und der Gerechtigkeit nicht aus dem Bedingungsgefüge des Verzeihungsgeschehens verabschiedet werden, weshalb über Arendts Setzung der Reue als Bedingung des Verzeihens noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Den Nachweis, das die Reue trotz ihres prekären Status nicht als Bedingung des Verzeihens im Sinne Arendts fallengelassen werden muss, gehe ich auf zwei Wegen an: Zunächst wird derjenige Teil der philosophischen Debatte über das Verzeihen untersucht werden, der aus der Zerbrechlichkeit der Reue und den ihr anhängenden Schwierigkeiten für ein angemessenes Verständnis des Verzeihensaktes selbst den Schluss gezogen hat, die Reue – und damit die in ihr aufgehobenen Elemente des moralischen Urteilens und der persönlichen Verantwortungsübernahme – aus dem Kreis der Bedingungen des Verzeihens auszuschließen (Kapitel 7.b.b-g). Folgend werden die genannten Bedingungen des Verzeihens in den Verzeihensakt selbst auf eine solche Weise eingezeichnet, dass sich Reichweite und Grenze des arendtschen Verzeihens bestimmen lassen und ein Urteil über den Sinn oder Unsinn ihrer (und anderer) Heilmittelthese begründbar wird (siehe Kapitel 7.c). b Die Asymmetrie des Verzeihens Die verschiedenen Theorien einer unbedingten Verzeihung führen das Wort unbedingt deswegen im Namen, weil sie sich gegen die konstitutive Bedingung der Reue und die in derselben aufgehobenen Elemente des Verzeihungsgeschehens wenden, während sie auf die konstitutiven Bedingungen der Wahrheit, des Unrechtsbewusstseins und der Verzeihungsbedürftigkeit nicht verzichten. Empirische Forschungen aus der Psychotherapie etwa betrachten die Reue des Täters als einen gegebenenfalls unterstützenden, aber nicht notwendigen Aspekt in dem Prozess, den sie Verzeihung nennen und in dem das Opfer seinen Frieden mit seinen Widerfahrnissen macht (vgl. Kapitel 4.e). Genauso hält die verwandte Auffassung von der Möglichkeit einseitiger Verzeihung durch das Opfer die Reue nicht für eine A
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Bedingung der Verzeihung. 172 Hier soll es zunächst am Beispiel von Kodalles Überlegungen um die philosophische Kritik an der Reue gehen, dass sie moralisch fragwürdig sei, den Täter unzulässig demütige, die Gefahr der wütend-gewalttätigen Reaktion heraufbeschwöre oder moralpsychologisch unklug sei, weil sie den Täter im Zustand des Schuldig-Seins knechte. 173 In der dem Täter abverlangten Reue sieht Kodalle ein Strukturmoment des Verzeihungsgeschehens in ein derart übersteigertes Maß intensiviert, dass für ihn die Aussicht auf gelingende Verzeihung schwindet. Was sich nämlich bis zu einer solchen Demütigung des Täters verschärfe, dass das Ende aller Verzeihung beschlossene Sache zu sein scheine, sei die sogenannte Asymmetrie des Verzeihens. Als Beispiel sei an die Verstockung der Deutschen angesichts der als Zumutung empfundenen Verpflichtung zur Entschädigung der verschiedenen Opfergruppen des nationalsozialistischen Regimes erinnert (siehe Kapitel 7.b.a). Kodalle reagiert damit auf zwei Schwierigkeiten der Reue. Er setzt an ihrer Ausgesetztheit ein, insofern sich der Täter selbst eines Vergehens bezichtigt und sich auch dann nicht einer positiven Reaktion des Opfers sicher sein darf, wenn er willens ist, Entschädigungen zu leisten oder schon geleistet hat. Und er bezieht sich auf das Manko, dass sich die Reue auch trotz geleisteter Beglaubigung nie des Umstandes wird erwehren können, dass Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit bleiben können. Offenkundig bewahren weder ein […] Handeln als persönlicher Einsatz […] noch das Bedauern und die innere Abwendung von einer als verwerflich erkannten Option einen Menschen davor, daß seine Integrität jederzeit […] in Frage gestellt werden kann. […] Es bleibt nur der Einsatz in der Tat. Dieses Engagement aber kann immer als ambivalent dargestellt werden, räumt Zweifel nie aus. 174
Der lebensweltliche Ausgangspunkt ist für Kodalle zunächst die Beziehung zweier Personen, die durch den »Einbruch des schuldhaften Ereignisses« belastet ist. Solche Ereignisse verorteten wir üblicher172 Von all den Vertretern der einseitigen Verzeihung (oder der Selbstverzeihung) nach dem Schema des Reframing benennt allein Holmgren diesen Sachverhalt, siehe dies.: Forgiveness, S. 345–349; vgl. Snows Selbstverzeihung als »second-best-forgiveness«, die mit dem »second-best« auf die Abwesenheit der Reue reflektiert; vgl. dies.: Self-Forgiveness, S. 77 f. 173 Siehe ferner für diese Kritik an der Reue Calhoun: Changing, S. 83–86; Novitz: Forgiveness, S. 30 f. 174 Kodalle: Verzeihung nach Wendezeiten, S. 35 f.
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weise in »Beziehungen zwischen in bestimmter Hinsicht gleichrangigen mündigen Personen«, die »nur okkasionell« durch jenes Ereignis belastet sind. Es müssten aber vielmehr Beziehungen in die Untersuchungen aufgenommen werden, »in denen eine Art (vorübergehende) natürliche Asymmetrie vorherrscht: wie […] zwischen dem heranwachsenden Kind und der elterlichen Autorität.« Ferner gelte für beide Asymmetrien, dass das Opfer zwischen einem »unnachsichtige[n] [meine Hervorhebung, T. D.] Bestehen auf der Schuld des anderen oder [der, T. D.] Bereitschaft, Verzeihung zu gewähren«, zu wählen hat. Diese ohne argumentative Rechtfertigung bleibende Schwierigkeit von dem per se unnachsichtigen Beharren auf der Schuld will Kodalle so umgehen, indem er terminologisch missverständlich von der Sichtweise der okkasionellen zu seiner der vorübergehenden Asymmetrie übergeht. Letztere zeichne sich dadurch aus, »daß weniger die Akte des Verzeihens als vielmehr eine Grundhaltung der Verzeihung für die Bewältigung der auftretenden Probleme maßgeblich ist.« (alle Zitate AT, 8) Diese Verschiebung des analytischen Blickwinkels auf das Verzeihungsgeschehen zeichnet jedoch die der Tat geschuldete »Schieflage« (AT, 8) zwischen den Menschen in das philosophische Nachdenken über das Verzeihen ein. Das nimmt seinen Anfang darin, dass mit den vorübergehenden Asymmetrien die Verzeihung auf Begebenheiten angewendet werden soll, »in denen moralische Schuld im engeren Sinne nicht zu konstatieren ist« (AT, 9), und wird in der Erhebung des Eltern-Kind-Modelles zum Schema der Verzeihung vollendet. Letztere wird so wieder zur Reaktion auf den Umstand, dass wir »handeln müssen, obwohl wir uns dessen bewußt sind, daß unser beschränktes Wissen nicht ausreicht, die Folgen abzusehen und entsprechend zu bewältigen.« (AT, 9; vgl. ebd., 49 f.) Damit liegt die schon bei Arendts mangelhafter Unterscheidung der absichtlichen von den unabsichtlichen Taten ausgemachte Schwierigkeit wieder vor, inwiefern sich sinnvoll mit Verzeihung auf Handlungsfolgen (nicht auf die verursachenden Handlungen selbst) reagieren lässt, für die wir schlechterdings nicht persönlich verantwortlich zu machen sind. Die Parallele zwischen Arendt und Kodalle ist also die der unzureichenden Verhältnisbestimmung von Unabsehbarkeit und Verzeihung. In Kodalles Eltern-Kind-Modell des Verzeihens ist Letzteres die Basis der Beziehung von Eltern zu ihren Kindern, weil es sich um kein reziprokes Verhältnis handele. Eltern stünden in der Pflicht, ihre A
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Enttäuschungen ob des Fehlverhaltens des Kindes nicht auszuleben. Das ist einsichtig, müssen sich Kinder doch erst in das Gefüge des Erlaubten und Nicht-Erlaubten einfügen. Nehme dann die Ungleichheit zwischen den Eltern und den Kindern wegen der unnachsichtig auf der Schuld des Kindes bestehenden Eltern überhand, so müsse »mit einer Langzeitschädigung der sittlichen Kompetenz auch des späteren Erwachsenen gerechnet werden«, weil »gegenüber dem Unmündigen die unvermeidliche strenge Mißbilligung einer ›Grenzüberschreitung‹ als das letzte Wort im Raum bleibt« und »die Versöhnung im Zeichen von Nachsicht und Entschuldigung [meine Hervorhebung, T. D.] ausbleibt«. (AT, 27) Weshalb das – pädagogische – Eltern-Kind-Modell zum analytischen Modell der Verzeihung taugen soll, wird auf diese Weise jedoch nicht verständlich. Vielmehr zeigt sich, dass ein Irrweg beschritten wird, wenn man die Erziehungssituation »zum lebensweltlichen Schema eines Kommunikationsverhältnisses« macht, »in dem kategorisch ›Gnade [meine Hervorhebung, T. D.] vor Recht‹ gilt« (AT, 26). Die Situation zwischen zwei Erwachsenen, von denen der eine dem anderen eine Ohrfeige verpasst hat, ist gerade nicht mit dem Kind erfasst, das seinem Vater in einem Wutanfall ins Gesicht schlägt und noch lernen muss, dass das nicht zu den üblichen Umgangsformen gehört, sondern lässt sich präzise mit den Beziehungen zwischen »gleichrangigen mündigen Personen« (AT, 8) erfassen. Und hatte Kodalle anfangs noch davon gesprochen, diesen okkasionellen Asymmetrien seine vorübergehenden in der Konturierung des analytischen Zugriffs auf das Verzeihen zur Seite zu stellen, werden seine vorübergehenden Asymmetrien nun zum alleinigen Schema des Verzeihungsgeschehens erhoben. Denn dieses Modell sei »die einzige lebensweltliche Region, in der sich prototypisch […] jene Macht der Verzeihung bekundet, die in allen übrigen Kommunikationsverhältnissen […] sich nur als indirekt-gegenwärtiges Hintergrund›Klima‹ behauptet.« (AT, 26) Die Eltern-Kind-Situation sei geeignet, die »entlastende Wirkung des verzeihenden Blicks« herauszustellen, weil »Regelverletzungen« sich hier als »Unwillkürlichkeit« erklären ließen, während in der okkasionellen Asymmetrie zwischen Erwachsenen die Verzeihung nur »die Demütigung des Schuldigen und die aufgespreizte Rechtschaffenheit des Verzeihenden« spiegele und nicht die »Verkrampfung« (AT, 28) löse. Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, ist der Grund für die analytische Bevorzugung der Eltern-Kind-Situation 298
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doch der, dass Letztere eine Aufhebungswirkung der Verzeihung zeigen könne, während das die Situation zwischen Erwachsenen nicht könne. Das ist eine erläuterungsbedürftige Verschiebung des Blickwinkels, weil man es beim Verzeihen mit der Schuld moralisch selbstverantwortlicher Menschen zu tun hat, von der wir etwa für die noch nicht erwachsenen Mitglieder unserer Gemeinschaft nicht sprechen. Dass diese Verkehrung des Verhältnisses zwischen mündigen Personen einen tragfähigen Zugriff auf das Verzeihen verhindert, kann die Einzeichnung verschiedener Elemente des Verzeihungsgeschehens in das Verhältnis zwischen dem Erwachsenen-Opfer und dem Kinder-Täter zeigen. Erstens führt das pädagogische Modell der Verzeihung dazu, dass aufgrund der erzieherischen Aufgabe des Verzeihens die Funktion des (bei Arendt in der Vorhaltung und der Reue aufgehobenen) moralischen Urteilens eine andere ist als die, die es zwischen Erwachsenen einnimmt. So wird man dem Kind ein Urteil nur so zumuten, dass sich die Möglichkeit des Erlernens der Regeln eröffnet. Man sagt daher: Das konntest du noch nicht wissen, aber für die Zukunft weißt du es. Das ist der Unterschied zwischen einer »situationsspezifisch[en],« aber »nicht delikt-spezifisch[en]« (AT, 25) Einwirkung auf das Kind. Man erwartet, dass das Kind diese Vorgaben umsetzt und ist ihm dabei behilflich. Diese Aufgabe der Eltern, die überdies eine selbstauferlegte Verantwortung ist, zeigt zum einen, dass auch die andere Seite von Kodalles Modell wenig plausibel ist. Denn Eltern sind keine Opfer, sondern kommen in der Fürsorge für ihre Kinder einer Selbstverpflichtung nach und sind daher in Bezug auf die »Vergehen« ihrer Kinder zu dem Wohlwollen selbstverpflichtet, das das Fehlerhafte benennt und auf künftiger, aber nicht auf vergangenheitsbezogener Verantwortungsübernahme beharrt. Zum anderen berechtigt dieses pädagogisch begrenzte Rüstzeug nicht zur Kritik an denen, die wie Arendt in das Verzeihungsgeschehen das moralische Urteil über die fragliche Tat einbinden. Es ist die Furcht vor den in der Tat zerstörerischen Fluchten in Wutausbrüche oder tränenreiche Bekundungen der eigenen Schuld, die Kodalle als Zeichen der moralischen Unreife betrachtet und die er zu vermeiden trachtet durch die unangemessene Unterstellung, dass wir es bei jedem Täter mit einem moralisch unreifen und nur bedingt zurechnungsfähigen Menschen zu tun haben. Diesen Status billigen wir auch Kindern um des antizipierten Lerneffektes willen nur in einem
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geringen Ausmaß zu, das sich mit fortschreitendem Alter weiter verkleinert. Die Unterscheidung zwischen dem Erlaubten und dem Nicht-Erlaubten ist daher nicht auf »die Freude am Aburteilen« (AT, 32) zu verkürzen. Das ist genau die Engführung der »Frage des Urteilens« auf die »des Aburteilens« (EJ, 23), gegen die Arendt sich als Lehre aus den unfruchtbaren Debatten über ihr Eichmann-Buch (vgl. NA, 63– 79) ausgesprochen hat und gegen die sie ihre doppelte Funktion des Urteils stellte: zu sagen, was ist, und »Recht und Unrecht zu unterscheiden« (LG, 23). Wenn ein Ehepartner dem anderen den Ehebruch als Vertrauensbruch vorwirft, weil die Übereinkunft bestand, dass auch in ihrer Beziehung Ehebruch nicht erlaubt ist, dann handelt es sich zunächst um das Beharren auf dieser Vereinbarung und das darauf fußende Urteil, dass dieser Ehebruch nicht rechtens war. Die Missbrauchsanfälligkeit des moralischen Urteilens, das leicht in das Aburteilen umschlagen kann, ist jedoch kein Argument gegen die Praxis moralischen Urteilens überhaupt und kann ein solches gerade für Kodalles Unterfangen nicht sein, die Verzeihung zum Zentralbegriff der Ethik zu machen (siehe AT, 24, und das Ende dieses Kapitels 7.b.b). Geht es um ein uns zugefügtes Unrecht, das wir so ernstnehmen, dass wir es für verzeihungsbedürftig halten, ist ein klares moralisches Urteil um unserer selbst willen notwendig: »Wo durch das primäre moralische Verhalten von Alter die legitimen Rechte (und die Selbstachtung) von Ego tangiert werden, hat Ego […] das Recht, für die Anerkennung seiner Rechte zu kämpfen, d. h. deutlich Position zu beziehen und klare Grenzen zu setzen.« 175 Diese Art des moralischen Urteilens, die nicht mit Selbstgerechtigkeit gleichzusetzen ist, ist ein unabdingbarer Teil des Verzeihungsgeschehens. Kodalles späte und mit seiner Kritik an der Freude des Aburteilens allerdings unvermittelte Klarstellung, dass mit seinem Gebot der »Urteilsenthaltung« (AT, 81) für das Opfer im Verzeihungsgeschehen nicht eine »Suspension des Urteils über den Gegenstand: die bestimmten Taten/Unterlassungen« (AT, 81 f.) gemeint ist, sondern das »Urteil[] über den Handelnden selbst« (AT, 82), ist ein Schritt in die angezeigte Richtung. Die Philosophie des Verzeihens wird also, weil sie wie alle Ethik und Handlungstheorie ihren Ausgang von moralisch mün175 Anton Hügli: Gibt es eine Moral des moralischen Verurteilens?, in: Studia Philosophica 52 (1993), S. 153–171, hier S. 169.
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digen Personen nimmt und erst von hier aus Ausnahmen bestimmt, gerade nicht, wie es bei Kodalle zuvor noch heißt, »die klaren Unterscheidungen […] bei der Urteilsbildung in den Hintergrund« drängen »und gegebenenfalls außer Kraft« setzen. Sondern sie unterscheidet zwischen dem moralischen Urteil, der gerichtlichen Verurteilung und dem hämischen Aburteilen, weil andernfalls »die für die Möglichkeit des Verzeihens so konstitutive Differenz zwischen Tat/Objekt und Person« (AT, 32) nicht berücksichtigt würde. Zum Aburteilen besteht in der Tat kein Anlass, offenbarte es doch, dass das Opfer die Möglichkeit der Verzeihung nicht ernsthaft erwogen hat. Arendt dürfte das nicht anders gesehen haben. Eine direkte Aussage über den Zusammenhang zwischen dem Verzeihen und dem moralischen Beurteilen finden wir bei Arendt, wie gesehen, nicht. Aber aus ihrer Antwort aus von Wieses Verteidigung, dass sie das Recht zur Beurteilung seiner Vergangenheit, aber nicht auf »ein totales moralisches Verdammungsurteil« habe (HA/BW, ohne Zählung), können wir das ersehen. Sie hatte von Wiese Opportunismus, Karrierismus und fehlende moralische Personalität vorgeworfen – und zwar zu Zeiten des Nationalsozialismus wie danach – und ihm zu verstehen gegeben, dass sie seine Selbstgleichschaltung im Jahr 1933 als Verrat an ihrer Freundschaft betrachte (vgl. HA/ BW, 010327). Der Einsatz ist also auf beiden Seiten ein hoher. Doch auf von Wieses eher ausweichende Verteidigung antwortet sie zustimmend: »Ich habe Dich weiss Gott nicht verdammen wollen«, aber hält an ihrem Urteil über seine Wortmeldung zur Frage der unbewältigten Vergangenheit fest: »Ich habe mich geärgert. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass Du Dir diese Dinge nicht richtig klar gemacht hast. […] Ihr habt […] zweimal versagt« (HA/BW, 010330). 176 Dennoch ist Kodalles Zusatz zur Urteilsenthaltung ein unzureichender Nachsatz. Das lässt sich an seinen Überlegungen zur Struktur unserer alltäglichen Kommunikation zeigen, in der wir immer Wörter und Redewendungen nutzten, von denen wir nicht wissen könnten, welche Wirkung sie auf unseren Gesprächspartner hätten. Deshalb ist aber das moralische Urteil nicht einfach Zeichen für »das Verlogene moralischer Selbstgerechtigkeit« (AT, 82). Und der An176 Um diese Versöhnungsbereitschaft ohne Verdammungsurteil ermessen zu können, sei an die Passage aus dem Fernsehgespräch mit Günter Gaus erinnert, in dem Arendt sich über den Verrat der Freunde so geäußert hatte: »Das […] persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. […] das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.« Siehe Arendt: Was bleibt, S. 20.
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spruch, das Schillern des moralischen Urteils zwischen seiner – von Kodalle bestrittenen – Notwendigkeit und seiner Steigerung zur moralischen Selbstüberhebung dadurch abzuschaffen, indem die moralische Beurteilung von Personen an sich für verwerflich erklärt wird, ist erstaunlich für ein Unterfangen, das die Verzeihung als Weg versteht, mit den vielfältigen Formen der Schlechtigkeit zwischen Menschen umzugehen. Die Anfälligkeit des moralischen Urteils für den Missbrauch rechtfertigt es nicht, nur diejenigen »vornehm« zu nennen, die sich »im Geist der Verzeihung des Urteils über die Gesamtperson enthalten und die sich im Grunde eines solchen Urteilsgestus’ geradezu schämen« (AT, 33). Wenn wir nicht sagen, wer wem was angetan hat und zwischen Täter und Opfer unterscheiden, erübrigt sich das Verzeihen. Daher muss das moralische Urteil des Verzeihens nicht nur sagen, dass es schlecht ist, Ohrfeigen zu schlagen, sondern dass es schlecht war, dass Person A Person B eine Ohrfeige verabreicht hat. Jene Enthaltung, die Kodalle vom Opfer und den Umstehenden verlangt, könnte allerdings dann zu einer sinnvollen Forderung werden, wenn der Täter seine Tat bereut und die Kennzeichnung des Unrechtes als Unrecht durch die anderen sich erübrigt, weil der Täter selbst die Lage der Dinge klargestellt hat. Das allerdings ist ein Weg, der Kodalle nicht offensteht. Denn das zweite Element des Verzeihungsgeschehens, das zur Überprüfung des Eltern-Kind-Modelles herangezogen werden soll, bleibt bei ihm in seiner Bedeutung für das Verzeihungsgeschehen unklar. Die Setzung der Ausgangsfrage, ob man die Verzeihungsgewährung »unter allen Umständen von einem Bekenntnis der Reue abhängig machen dürfe[]«, wird nämlich gerade nicht beantwortet mit den Anmerkungen zu denen, die »in geradezu pathetischer Ausdrücklichkeit […] Freiheit und Verantwortung für sich bestreiten« und sich dadurch selbst die Möglichkeit nehmen, »Verzeihung in Anspruch nehmen zu dürfen.« Für solche Zeitgenossen lautet Kodalles kurze Antwort: »Ihnen ist nicht zu helfen« – jedenfalls nicht mit dem Mittel der Verzeihung. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Freiheit des Handelns und die Übernahme der Verantwortung, die Kodalle mit dem »Bekenntnis der Reue« umschreibt, in einer Beziehung dazu stehen, dass den Handelnden im Falle von Vergehen verziehen werden kann (alle Zitate in diesem Absatz AT, 64). Allerdings wird dieser Zusammenhang von Kodalle grundlegend in Zweifel gezogen. Für diejenigen Menschen, die grundsätz302
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lich zur Beurteilung ihres Handelns unter den Prinzipien von Freiheit und Verantwortung bereit sind, fehlt bei ihm eine Antwort auf die Frage, ob die Reue auch für sie eine Bedingung der Verzeihungsgewährung ist. Es weist vieles darauf hin, denn wenn es sich um einen gerechtfertigten Akt der Verzeihung handeln soll, dann muss in irgendeiner Form bekannt sein, dass es sich hier um die Art der »Selbstkonfrontation, also: [das] Eingeständnis seiner Verfehlung« (AT, 34) handelt, die eben Teil der Reue ist. Das moralische Urteil über die eigene Tat, das wir den von ihr Betroffenen zur Kenntnis bringen, oder die tätige Reue sind dafür – trotz ihrer Schwierigkeiten – der geeignete Weg im Unterschied zum Verzicht auf sie oder zur die Reue im Undurchsichtigen belassende Urteilsenthaltung. Aber dass die »Einzelakte der Reue« gegenüber einem immer schon wirksamen »Geist der Verzeihung« sekundär sein sollen, weil alle Reue in Verzweiflung umschlagen müsse, in der nicht schon der Geist der Verzeihung am Werke sei, lässt es offen, was es bedeuten soll, dass »eine Revision ohne Reue« nicht möglich sei. Denn die Reue des Täters, die nur dann der Verzweiflung entgeht, wenn sie auf den Geist der Verzeihung hoffen darf, kann diese Zuversicht nur gerechtfertigt mit sich führen, wenn sie dem Verzeihenden die Aufrichtigkeit der eigenen Umkehr zu plausibilisieren sucht und der vom Opfer erbetenen »Wiederherstellung meiner Integrität« einen Grund gibt und ihre Aufrichtigkeit gerade nicht durch die »Teilhabe am Geist der Verzeihung« als Anspruch auf Gewährung von Verzeihung in Zweifel zieht (alle Zitate AT, 39). Die These von der primären Bedeutung des Geistes der Verzeihung wird daher mit dem Risiko des verzeihenden Opfers näher bestimmt. Der Täter könne sich jener Selbstkonfrontation als dem Eingeständnis seiner Schuld auch dann entziehen, wenn ihm bereits Verzeihung gewährt wurde, »bevor er sie erbat« (AT, 34). Das Risiko sei dies, dass beim Opfer »eine Spur der Bitterkeit und Enttäuschung« (AT, 34) zurückbleiben könne. Damit ist Kodalle letztlich wieder bei früheren, weitaus stärkeren Thesen angelangt, dass das Verzeihen »dort am reinsten« sei, »wo es sich als vorlaufend (und gerade darin nicht als vorläufig) erweist: wo es nämlich auch dem gewährt wird, der nicht bereut und nicht um Verzeihung bittet.« 177 Das dritte Element des Verzeihungsgeschehens, das in der Folge des Eltern-Kind-Modells in ein unklares Licht gerückt wird, ist die in 177
Kodalle: Verzeihung des Unverzeihlichen, S. 429; vgl. ders.: Lévinas, S. 342. A
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den vorangehenden beiden Elementen angeklungene Frage nach der Bedeutung der Verantwortung für das Verzeihen. Denn mit diesem Modell ist Kodalles Zustimmung dazu nicht in Einklang zu bringen, dass wir von der moralischen Autonomie eines jeden handlungsfähigen Menschen auszugehen haben und »daß wir keine Ausnahme von der Regel erlauben« dürfen, »den anderen als handelnd aus Freiheit anzusehen.« (AT, 61) Sein Beispiel ist der französische Revolutionär Saint-Just, der sich als Rädchen im Getriebe darstellen wollte und genau auf den Widerspruch Kodalles trifft, auf den Eichmann bei Arendt mittels ihrer Interpretation des Gehorsams als Zustimmung getroffen war (siehe EJ, 328 f.; PVD, 82–85), auf die auch Kodalle sinngemäß zurückgreift. 178 Wenn also Saint-Just sich retten will mit der Ausflucht, dass er doch nur das Beil der Revolution gewesen sei, dann hält ihm Kodalle die retributive These von der Selbstentschuldung als Selbstentwürdigung entgegen: »Diese unerträgliche Form, sich zu entwürdigen, indem man Freiheit und Verantwortung bestreitet, lassen wir, die soziale Umwelt, nicht durchgehen!« 179 Wir treffen damit ein Urteil nicht nur über die Vernünftigkeit und die Handlungsfreiheit des Täters, sondern auch über die moralische Qualität der Taten des Täters. Und wir behaupten nicht nur, dass er es zum Zeitpunkt t1 schon hätte besser wissen müssen, sondern wir verlangen zum Zeitpunkt t2 , dass er zumindest einsehe, dass er zum Zeitpunkt t1 hätte anders handeln müssen. 180 Wo der Täter jedoch an die Stelle des unmündigen Kindes gesetzt wird, verflüchtigt sich die Möglichkeit, ihm die Verantwortung vor anderen und für andere zuzumuten. Und die Kritik an dem Rückzug auf Fremdbestimmung als einer »Flucht aus der Verantwortung« (AT, 61) läuft ins Leere. Die Einzwängung des Verzeihens in das Eltern-Kind-Modell ist vor allem dem Bemühen geschuldet, das Verzeihen vor seiner Anfälligkeit für die moralische Selbstüberhebung des Opfers zu bewahren. Den zweifachen Grundgedanken seines Nachdenkens über die Verzeihung entnimmt Kodalle aus Kierkegaards christlicher und gerade nicht jesuanischer Theorie der Vergebung: den Generalverdacht der Selbstüberhebung gegen das Opfer und das diesem zugemutete Gegenmittel einer Selbstdemütigung eingedenk seiner eigenen FehlbarSiehe dazu Kodalle: Überforderung, S. 89. Kodalle: Vergeben (ohne Seitenzählung); vgl. AT, 64. 180 Siehe Kodalle: Verzeihung des Unverzeihlichen, S. 421; vgl. AT, 29; ders.: Verzeihung nach Wendezeiten, S. 51–53; ders.: Verzeihung – Eine Kategorie, S. 208. 178 179
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keit sowie die Vernachlässigung des Umstandes, dass man dem Täter jene Selbstdemütigung, also die Reue, nicht zumuten will, die ihn zur Bitte um Verzeihung führen könnte. 181 Die Selbstüberhebung des Opfers hat im Verzeihungsgeschehen die Einsatzpunkte des moralischen Urteils, der Reue und der Beglaubigung der Reue sowie der Bitte um und der Gewährung von Verzeihung. Kodalles Asymmetrie beschreibt die Situation, in der dem Täter vom Opfer seine Schuld vorgehalten wird. Sie dient dem Anschein nach nicht dazu, die Zumutung der Verantwortung an sich abzuschaffen, setzt aber ohne Rücksicht auf Verluste die Überzeugung um, dass dieses Missverhältnis zwischen Täter und Opfer »eine unerträgliche Asymmetrie« ist. 182 Die Unangemessenheit dieses Vorgehens zeigt sich daran, dass mit dieser Hypostasierung der Vorhaltung nur ein einzelner Ausschnitt aus dem Verzeihungsgeschehen getrofffen ist, das sich jedoch als eine ganze Reihe von Asymmetrien darstellen lässt. Aus dieser Abfolge lässt ihn das Unbehagen an der Reue, das er mit Lübbe und Derrida teilt, eine Asymmetrie unter anderen zum Paradigma des Verzeihens schlechthin machen. Weder aber ist er aus den genannten Gründen damit in der Lage, dessen Ort im Verzeihungsgeschehen zu bestimmen, noch kann er alle Stationen desselben erfassen. Denn die erste Asymmetrie ist die der Tat, dass sich der Täter einen ungerechten Vorteil verschafft. Ausgangspunkt der Überlegungen muss also die von Kodalle beiseitegelegte okkasionelle Asymmetrie sein, die sich eben wegen der Missetat des Täters eingestellt hat. Wenn man allein auf die philosophische Debatte schaute und sich nicht etwa durch juristische Diskussionen über die Strafe belehren ließe, könnte man annehmen, dass nur die Bitte um Verzeihung ein asymmetrisches Verhältnis begründet. Dass bereits die schuldhafte Tat das Verhältnis der betreffenden Personen zu einem 181 Siehe Kodalle: Diesseits der Logik, S. 391 (vgl. die analoge Interpretation in Bezug auf Albert Schweitzer in: ders.: Überforderung, S. 96 f.), und ders.: Gabe, S. 72–77, wo sein Begriff des Verzeihens auch als eine säkulare Variante von Kierkegaards GabeTheorie der Verzeihung lesbar wird, die durch ihre Unterordnung der Verzeihung unter die Vergebung auf der Linie der Sündenvergebung liegt (vgl. Kapitel 5) und die bei Kodalle die Ursache jener enggeführten Annäherung an die Asymmetrie des Verzeihungsgeschehens zu sein scheint. 182 Kodalle: Diesseits der Logik, S. 390; vgl. ders.: Dimension, S. 122; ders.: Der Geist der Verzeihung, S. 624; ders.: Gabe, S. 74; ders.: Lévinas, S. 338; ders.: Vom Geist der Verzeihung, S. 296; ders.: Vergeben.
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asymmetrischen macht, hebt unter den Philosophen allein Lévinas in der gebotenen Klarheit hervor. 183 Und die Entschädigung als Erfordernis der Gerechtigkeit verhindert nicht nur den fortgesetzten Genuss der Früchte unrechter Taten, sondern ist in der Folge der Asymmetrie aus der Tat auch als »ein erster Schritt zur Wiederherstellung einer sozialen und moralischen Symmetrie« zu verstehen. 184 In dieser Einordnung zeigt sich eine weitere Blindstelle jener Hypostasierung der Asymmetrie in der Vorhaltung (oder Bitte), insofern sie das Verzeihungsgeschehen aus der Perspektive des Täters und seiner Bedürfnisse in den Blick nimmt und dessen Autonomie und Würde in den Mittelpunkt rückt. Gegenüber der Tat kehrt die Bitte um Verzeihung, in der das moralische Urteil über die Tat und die Reue enthalten sind, das asymmetrische Verhältnis um. Schließlich folgt die Asymmetrie in der Gewährung der Verzeihung durch das Opfer, das sich dem Täter durch sein Angebot der Verzeihung ausliefert, indem es sich von der Annahme seiner Gewährung durch den Täter abhängig macht. Die Reaktion, auf die das Opfer in dieser Selbstauslieferung zu warten hat, ist die der Dankbarkeit des Täters, die »ebenso freiwillig empfunden und gewollt werden« muss wie die Gewährung. 185 Diese Abfolge von Asymmetrien steht der Einseitigkeit eines Verzeihens aus der Sicht der Bitte um Verzeihung entgegen. Das Ergebnis der kodalleschen Asymmetrie ist, dass der Täter immer auf die Position der moralisch vielleicht nicht unmündigen, aber doch minderbemittelten Person festgeschrieben ist und dem Opfer an moralischen Maßstäben gemessen als unterlegen gilt. Aber die Entmündigung oder Entwürdigung des Täters wird nicht etwa durch die Forderungen der Reue und der Entschädigung vervollständigt. Dies geschieht vielmehr dadurch, dass man sie ihm nicht abverlangt, sondern als Selbsterniedrigung bestimmt und damit der Möglichkeit zur selbständigen Einsicht des Täters in die Verwerflichkeit seiner Tat randständige Bedeutung zuspricht. Mit welchem Recht aber sieht man in dem Täter das unmündige Kind? Und ist der Täter wirklich immer einer, der wie das Kind noch Lernbedarf hat? Mit solchen Annahmen sind die absichtlichen Vergehen aus der Betrachtung des 183 Siehe Emmanuel Lévinas: Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe, in: ders.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den anderen, München/Wien 1995, S. 132–153, hier S. 134. 184 Winstel: Bedeutung, S. 203. 185 Lohmann: Verzeihen, S. 201.
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Verzeihens ausgeschieden (was auch bei Arendt für argumentative Schieflagen sorgte, siehe Kapitel 3) und ist das Problem heraufbeschworen, wie sich die persönliche Verantwortung, die Reue und die Abgrenzung gegen die Verwechslungen der Verharmlosung und der Entschuldung in die Theorie des Verzeihens einfügen lassen (wie es schon die Verwechslungen des Verzeihens betraf; siehe Kapitel 4 und 7.b.g). 186 Auf der Ebene einer Grundlegung der praktischen Philosophie ist wegen der vorangehenden Überlegungen an Kodalle die Frage zu stellen, ob er nicht mit seinen Bedenken gegen die von ihm verkürzte Asymmetrie der Verzeihung in diejenige Falle der Gegenseitigkeit und der Gerechtigkeit läuft, deren Funktion als grundlegendes Prinzip der praktischen und politischen Philosophie er mit deren Unterordnung unter das Prä von Schuld und Verzeihung gerade unterlaufen wollte. Der Geist der Verzeihung soll die Wahrheit zur Grundlage einer Versöhnung im Unterschied zum »Gerechtigkeitsdiskurs« (AT, 50), der weder zur Wahrheitsfindung noch zur Versöhnung in der Lage sei, machen. Vor den »Theorien herrschaftsfreier Kommunikation und einer ethischen Innovation unserer kruden Verhältnisse« (AT, 24) müsse das fundamentalere Problem der Verzeihung bedacht werden. Der Geist der Verzeihung soll das Diesseits der Logik des Moralismus oder des Geistes der Unnachgiebigkeit 187 und als solcher das Instrument sein, mit dem wir auf die Fehlbarkeit der Menschen reagieren können. Er soll den Rigorismus einer allein am Prinzip der Gerechtigkeit (und der Verantwortung) orientierten praktischen Philosophie brechen und die Verzeihung als »geheime Mitte der Ethik« (AT, 31) etablieren. Die strukturelle These von der Asymmetrie des Verzeihens in ihrer kodalleschen Form kann diese enorme Begründungslast nicht tragen: nämlich zu zeigen, »wie Verzeihung, Nachsicht und Entschuldigung [meine Hervorhebung, T. D.] – interpersonell, gesell186 Wollte man das Argument auf die Spitze treiben, so wäre es gerade Kodalles pädagogisches Modell des Verzeihens, das die moralische Selbstüberhebung des Opfers (an der Stelle der erziehenden Eltern) gegenüber dem Täter (in der Rolle des moralisch unreifen Kindes) festschreibt. 187 Siehe Klaus-Michael Kodalle: Die Unnachsichtigkeit des moralischen Blicks. Habermas’ Diskursethik und die ›Impulse‹ der Religion, in: Markus Knapp/Theo Kobusch (Hg.): Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, Berlin/New York 2001, S. 253–277; ders.: Vom Geist der Verzeihung; ders.: Der Geist der Verzeihung; ders.: Diesseits der Logik.
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schaftlich, politisch, rechtlich – begünstigt, ja: durch philosophisches Nachdenken befördert werden können«, oder wie Verzeihung fähig ist, »jene unmittelbare Erschließung eines Geistes der Verzeihung, auf den unterschiedlichen Ebenen des Zusammenlebens – Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, Recht, Staat – aufzusuchen und nachzuvollziehen.« (AT, 24) Der Hinweis, dass vor allen Theorien über Gerechtigkeit und Verantwortung gerade die Erfahrungen des Scheiterns praktischer Selbstbestimmung bedacht werden müssen, droht genau dann seine in jeder Hinsicht (Grundlegung der praktischen Philosophie, Lebenswelt, Anzeige von Forschungslücken) unabweisbare Überzeugungskraft zu verlieren, wenn die systematische Integration jener Erfahrungen in einem als fundamental angesehenen Verzeihungsgeschehen fraglich wird. Denn es geht nicht um eine Ablösung, sondern um eine andere Einfärbung der ethischen Prinzipien der Verantwortung und Gerechtigkeit. Es empfiehlt sich daher, die Theorie des Verzeihens mit systematischer Bescheidenheit auszustatten und zu fragen, auf welche Weise aus der vielgestaltigen Asymmetrie und dem Geist der Verzeihung analytischer Nutzen für die Theorie des Verzeihens zu ziehen ist. g Die Reinheit des Verzeihens Wird die Reinheit oder die Unbedingtheit des Verzeihens thematisiert, ist zunächst an den Unterschied zwischen konstitutiven und normativen Bedingungen zu erinnern. Konstitutive Bedingungen sind Definitionsbestandteile, die in ihrer Gesamtheit eine Handlung als diese und keine andere bestimmen. Hingegen sind normative Bedingungen solche, die eine bestimmte Bewertung einer Handlung rechtfertigen. Konstitutive Bedingungen sind unpersönlich, normative werden von Personen vertreten und an andere Menschen herangetragen. Kritiker der Reue als Bedingung des Verzeihens bestreiten also nicht die Notwendigkeit konstitutiver Bedingungen des Verzeihens: die schuldhafte Tat, das Unrechtsbewusstsein und die Verzeihungsbedürftigkeit. Ihre Kritik lebt vielmehr von einer Verkürzung der Reue auf eine normative Bedingung, die dem Täter unstatthaft auferlegt wird. Moralisch wertvoll wäre die Verzeihung nur dann, wenn sie ohne diese Belastung des Täters auskäme. Tugendhaft wäre sie, wenn sie die normative Bedingung der Bedingungslosigkeit erfüllte, also die Bedingung der Reue nicht an den Täter richtete. Umgekehrt wird derjenige, der Reue als konstitutive Bedingung der Verzeihung versteht, dies gerade in Bezug auf dasjenige Ver308
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ständnis der moralischen Person tun, das den handlungsfähigen zugleich als einen verantwortlichen und zur Rechenschaft sich selbst und anderen gegenüber fähigen Menschen begreift. Die Reue ist daher die Forderung an den Täter, seiner menschlichen Moralität zu entsprechen und zu bereuen; in dem Sinne, dass ihm nur dann die Zusage des Verzeihens gewährt werden kann. Dieser Forderung eignet eine andere normative Dimension als der moralischen Bewertung des Verzeihens derer, die Verzeihung nur dann als tugendhaft bewerten, wenn sie nicht auf der Reue des Täters beharrt. Die Erfüllung jener Forderung entscheidet darüber, ob wir überhaupt von Verzeihung sprechen können. Im Blick auf den Täter zeigt die Reue an, ob er seiner eigenen Moralität gerecht wird. Im Blick auf das Opfer aber ermöglicht die Reue als konstitutive Bedingung erst die Perspektive der moralischen Bewertung von Taten. Sie ist Teil des Entscheidungsprozesses darüber, auf welche Weise wir auf die fragliche Tat reagieren: mit Nachsicht oder stillschweigender Duldung und dergleichen mehr. Erst dann stellt sich die Frage, welches konkrete Urteil wir über den konkreten Akt der Verzeihung fällen. (i) Das ontologische Verzeihen Diese Überlegungen vermögen Licht auf unterbelichtete oder missverstandene Aspekte der Theorien eines unbedingten Verzeihens zu werfen. Von diesen muss zuvor Spaemanns ontologische Verzeihung abgegrenzt werden, die sich unter anderem Namen auch in Arendts Gedanken fand. Ontologisch nennt er die Verzeihung, die auf den Umstand abhebt, dass jeder Mensch notgedrungen auf Kosten anderer Menschen lebt. »Wir leben, indem wir anderes Leben behindern und verdrängen«. Gleichwohl ist die »Schuld, von der hier die Rede ist, […] nicht primär eine moralische, das heißt die Verletzung eines Sollens, das in einem Anspruch des Anderen gründet.« (GW, 240) Menschen haben für diese nicht-moralische Schuld und zur Linderung des mit ihr verbundenen, unabwendbaren Schuldgefühls immer Wege oder Rituale gefunden, sich von dieser Last zu befreien oder sie zum mildern. 188 »Verzeihung in diesem fundamentalen, vormoralischen [meine Hervorhebung, T. D.] Sinn« (GW, 242) zielt darauf ab, dass wir, um leben und überleben zu können, uns selbst immer näher als unseren Mitmenschen stehen und in dieser 188 Spaemanns Beispiel sind die Aborigines, die den Baum um Verzeihung bitten, bevor sie ihn fällen (GW, 241).
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Selbstbezogenheit um die Verkennung des anderen Menschen wissen, die mit unserem Handeln einhergeht. Dieser Verzeihungstyp gestattet es uns mit »unsere[r] Endlichkeit« (GW, 241) zu leben, und ermöglicht es uns, auch unseren Mitmenschen diese Endlichkeit einzuräumen, weil »wir unseresgleichen nur dann gerecht werden und ihn in seiner Würde achten, wenn wir ihn nicht vollkommen ernst nehmen. Einen Menschen vollkommen ernst nehmen heißt ihn vernichten.« (GW, 242) Ich verstehe diese unausweichliche Verschuldung des Lebens als eine parallele Formulierung dessen, was bei Arendt die Unabsehbarkeit des Handelns heißt. Wir handeln, und wir müssen handeln, und wissen doch, dass wir selbst dann, wenn wir genauestens abwägen und guten Willens sind, immer auch auf Kosten anderer leben. Arendts Ratschlag ist der, dass wir uns durch die Versprechen, durch die Inseln in dem Meer der Ungewissheit, über unsere Absichten Rechenschaft und einander unser Wort geben. Dennoch gilt auch für das Versprechen die Unabsehbarkeit des Handelns. Und genau darauf ist Spaemanns ontologisches Verzeihen eine Antwort, dass wir als Menschen unter Menschen nur dann leben können, wenn wir uns gegenseitig unsere Fehlbarkeit immer schon eingeräumt haben: »Die ›ontologische Verzeihung‹ ist die Anerkennung der Endlichkeit des anderen, aufgrund deren er uns wesentlich nicht gerecht werden kann.« (P, 251) Das Bedürfnis, auch von solcher nicht-moralischen Schuld befreit zu werden, reagiert darauf, dass Menschen einander »sehr wohl verantwortlich [machen, T. D.] dafür, dass wir sind, wie wir sind« (GW, 242), auch wenn wir nicht unsere eigenen Schöpfer und gerade nicht dafür verantwortlich sind, dass wir nicht anders können, als unser Leben auf Kosten anderer zu leben. So hatte Arendt hinsichtlich der in jeder Handlung sich mit äußernden Verfehlung gerade von der Verzeihungsbedürftigkeit dieser ontologischen (oben auch existentiell genannten) Schuld gesprochen. Das geschah allerdings um den Preis schwerwiegender Unstimmigkeiten, weil sich dieser vormoralische Begriff des Verzeihens nicht mit ihrer Profilierung des Verzeihens bezogen auf die moralische Schuld zwischen Menschen und mit den von ihr gesetzten Bedingungen des Verzeihens vertrug. Und so wie die Auflösung des gedanklichen Widerspruches dadurch möglich wurde, das Verzeihen der moralischen Schuld und den absichtlichen Taten zuzuordnen, ist auch Spaemanns ontologische Verschuldung des Individuums keine Sache der Verzeihung. Vielmehr 310
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ist im Blick auf die Verwechslungen des Verzeihens von einer ontologisch gewendeten Nachsicht zu sprechen, die als Fundament eines grundsätzlich wohlwollenden Umganges mit unseren Mitmenschen zu gelten hat. Die Verfehlungen bei Arendt sind ihre Entsprechung zu Spaemanns ontologischer Schuld. Ihr Verzeihen hingegen ist kein ontologisch vorgängiger Grund der Konfliktlösung, sondern eine Handlungsweise, mit der sich auf die vielfältigen Formen zwischenmenschlicher Schuld reagieren lässt. Der moralische (und nicht ontologische) Charakter des Verzeihens bei Arendt ist durch seine Bindung an Schuld, Verantwortung, Reue und auch die Freiheit und Ungerechtigkeit des Verzeihens grundgelegt (siehe Kapitel 2–3). Schließlich ist es diese ontologische Nachsicht oder das grundlegende Wohlwollen, mit dem verständlich wird, wovon in Kodalles Asymmetrie des Verzeihens und in seinem Geist der Verzeihung die Rede ist (siehe Kapitel 7.b.b). Das Wohlwollen und die zugehörige Haltung der Nachsicht sind es, die von Spaemanns Gedanken über Kodalles Vorschläge, den »›Geist der Verzeihung‹« (AT, 9) näher zu erfassen, 189 ihren Weg bis in sein Eltern-Kind-Modell des Verzeihens gemacht haben. Der Verzeihensbegriff überschreite moralische Schuld im engeren Sinne, weil es Bereiche gäbe, in denen wir zum Handeln verdammt seien und dabei wüssten, dass wir schlechterdings unabsehbare Folgen auslösen (vgl. AT, 9). Und genau an dieser Stelle, die von nichts anderem als von der ontologischen Schuld handelt, hat der Geist der Verzeihung, »der im Grunde ontologisch vorrangig unsere Praxis immer schon umfängt« (AT, 17), seinen Einsatzpunkt, weil wir nämlich »in der Daseinsweise des ›Mitseins‹, noch diesseits [meine Hervorhebung, T. D.] aller mit Schuld im moralischen Sinne verbundenen Konnotationen, auf das Gewähren und Empfangen von Verzeihung (allgemeiner: auf ein Klima der Nachsichtigkeit [meine Hervorhebung, T. D.]) angewiesen sind.« (AT, 16) Dieser Begriff eines Geistes (sic!) der Verzeihung mit Bezug auf die nicht-moralische Schuld ist die Ursache für zwei entscheidende Probleme: Erstens wird es in dieser ontologisch dominierten Sicht der Dinge unmöglich, oder es ist überflüssig, zwischen Verzeihung, Nachsicht und Entschuldigung zu unterscheiden. Gerade der Unterschied zwischen den absichtlichen und den unabsichtlichen Taten 189 Vgl. AT, 9, 17–20, 54 f., 76 f.; Kodalle: Lévinas, S. 327; ders. Verzeihung des Unverzeihlichen; ders.: Der Geist der Verzeihung; ders.: Vom Geist der Verzeihung.
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aber macht die Differenzierung ebendieser Handlungsvermögen notwendig. Denn er ist eines der Kriterien dafür, welche Reaktion wir für die gerechtfertigte halten. Auf die Vergehen eines Kindes reagieren wir in der Tat nachsichtig, auf die Vergehen eines Erwachsenen nicht unbedingt. Aber zu dieser Unterscheidung ist Kodalles verkürzte (wegen seines Begriffes der Asymmetrie) und kategorial einseitige (wegen ihrer ontologischen Schlagseite) Begriffsbestimmung nicht in der Lage. »Verzeihung, Nachsicht und Entschuldigung« (AT, 24) bleiben letztlich Synonyme für den einen Geist der Verzeihung. Mal gesellt sich die Gnade hinzu (AT, 26), mal ist die Nachsicht eine Abschattung (AT, 13) oder eine schwächere Ausdrucksform der Verzeihung (AT, 45). 190 Zweitens kann der Geist der Verzeihung dem moralischen Urteil über die Tat, also über den konkreten Verzeihensanlass, und der Reue als Bedingung des Verzeihens keinen begründbaren Platz im Verzeihungsgeschehen einräumen, wenn man (vgl. AT, 61) an der Auffassung von der Freiheit und der Verantwortlichkeit des Handelns festhält. Die Schieflage entsteht zwischen jenem Geist, der sich auf die ontologische und nicht-moralische Dimension der Schuld bezieht, und der praktisch werdenden Verzeihung, die von der moralischen Dimension der Schuld handelt. Überdies wird so auch die gleichwohl ins Leere laufende Kritik an der sogenannten Freude am Aburteilen (vgl. AT, 32) erklärlich. Denn wenn wir vor den unabsehbaren Folgen des unausweichlichen Handeln-Müssens stehen und uns in dieser wahrhaft tragischen Situation mit Häme und Spott übergießen lassen müssen, ist es in der Tat ein Zeichen von »Wichtigtuerei und moralinsaurem Dünkel«, 191 einen Menschen abzuurteilen. Sollte aber der Geist der Verzeihung ein Urteil über die Unrechtmäßigkeit der Tat und damit den Übergang zum Verzeihen verhindern, zeigte er sich als eine Spielart der Verharmlosung, die gerade in der Abstandnahme von der Zwischenmenschlichkeit derjenigen Sündentheologie ähnelt, die Verzeihung zugunsten der Vergebung marginalisiert. Die begrifflichen Konsequenzen, die aus der Tatsache ontologischer Schuld zu ziehen sind, betreffen einerseits die Korrektur, dass wir nicht von einer ontologischen Verzeihung sprechen und auch 190 Vgl. zu den unklaren Definitionen der Nachsicht AT, 13 f., 23–27, 33 f., 45 f., 55 f., 82, und der Entschuldigung AT, 13, 23, 81. 191 Kodalle: Diesseits der Logik, S. 391.
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nicht von der zuvor anders verwendeten Nachsicht, sondern in Anlehnung an Spaemann von dem Wohlwollen als der angemessenen Haltung in Reaktion auf die ontologische Schuld: Wohlwollen verstanden als eine jedem Menschen zumutbare Pflicht und als Anerkennung und Achtung der Würde eines jeden Menschen, die wir uns angesichts der Endlichkeit des handlungsfähigen Menschen gegenseitig schulden. Im Ergebnis ist die ontologische Verzeihung keine Verzeihung, der Geist der Verzeihung keiner der Verzeihung, sondern in beiden geht es um eine wohlwollende Haltung, die wir unseren Mitmenschen gegenüber noch vor ihrer moralischen Verschuldung einnehmen. (ii) Das reine Verzeihen bei Derrida Der zweite Schritt einer Erprobung der Reue als Bedingung des Verzeihens durch ihre Kritiker nimmt seinen Ausgang von Derridas Unbehagen an öffentlichen Reuebekundungen. In dem Bestreben, das Verzeihen von Entschuldigungen, Bedauern, Amnestie oder Verjährung abzugrenzen, brandmarkt Derrida die »Szenen der Reue, des Geständnisses, des Verzeihens oder der Entschuldigungen« und das »Wuchern solcher Szenen der Reue und der Bitte um ›Vergebung‹« als »Theater des Pardons« (JV, 10,1). Wir hören von seiner Abneigung gegen »das große Vergeben, das große Szenarium der Reue« auf den öffentlichen Schauplätzen, das aus dem grundsätzlich Gutem dieser historischen Entwicklung ein äußerst Bedenkliches mache, denn »das Trughafte, das mechanische Ritual, die Scheinheiligkeit, das Berechnende oder das Nachäffen […] halten sich parasitär an dieser Zeremonie der Schuld schadlos.« (JV, 10,2) Der Ausgangspunkt dieser wortgewaltigen Klage ist der auch wörtlich zu verstehende Ausverkauf dessen, was bei ihm reines Verzeihen heißt: »Die Sprache der Vergebung, im Dienste determinierter Zwecke, ist alles andere als rein und uneigennützig. Wie immer im politischen Feld.« (JV, 10,3) Das reine oder das unbedingte Verzeihen Derridas ist daher als dezidiert anti-politisches Verzeihen zu begreifen. Es gewinnt seine eigentliche Statur nicht im Umgang mit den kleinen Vergehen oder den lässlichen Sünden, sondern angesichts der schweren Verbrechen oder der Todsünden: »Das Vergeben verzeiht nur das Unverzeihbare. […] Was soviel bedeutet wie, daß das Vergeben sich als gerade Unmögliches ankündigen muß.« (JV, 11,1; vgl. CF, 32–33) Dieses Ansinnen, das Verzeihen als Reaktion auf das A
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Unverzeihliche zu bestimmen, kann für sich beanspruchen, dass im Falle seiner leichtfertigen Anwendung auf alles Mögliche sein spezifischer Sinn im Unterschied zu anderen Umgangsweisen mit Schuld schwindet. Seine Schwierigkeiten treten jedoch in der Rede von der Verzeihung des Unverzeihlichen und in der folgenden Kritik Derridas an Jankélévitchs Beharren auf den Bedingungen der Reue und der Bitte um Verzeihung (vgl. V, 271) hervor, 192 die er wie die öffentlichen Reuebekundungen als Verunreinigung des Verzeihens betrachtet (vgl. JV, 11,1–12,3). Derrida stößt sich an dem Tauschvorgang, zu dem das Verzeihen so werde: Du bereust, und ich verzeihe. Und gerade in der Absetzbewegung davon sieht er das Verzeihen erst möglich werden, und zwar im Angesicht des Unverzeihlichen, das für Jankélévitch wie für Arendt mit dem Geschehen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern beschrieben ist (vgl. V, 271; EU, 701). Es ist hier aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen, dass Derrida »[n]icht im Namen eines ethischen oder geistigen Purismus […] auf diesem Widerspruch […] und auf der Notwendigkeit« insistiert, »den Bezug auf ein bedingungsloses und anökonomisches Vergeben aufrechtzuerhalten« (JV, 12,2). Warum besteht dann diese Notwendigkeit? In wessen Namen braucht es diesen Bezug, wenn er sich nicht auf das ethische Nachdenken über das Verzeihen bezieht? Die Antwort findet sich dort, wo Derrida den Gedanken durchspielt, »daß ich unter der Bedingung vergebe, daß der Schuldige bereut, sich bessert, um Vergebung bittet und folglich […] nicht mehr ganz derselbe wäre, wie der, der sich schuldig gemacht hat.« Die dazu gegensätzliche, »reine« Verzeihung »ohne Veränderung, ohne Besserung, ohne Reue oder Versprechen« (JV, 12,3) bringt Derrida aus mehreren Gründen in Stellung. Erstens sieht er in der bedingten Verzeihung die irrige Hoffnung am Werk, etwas gegen das GeschehenSein des Unrechts wie der persönlichen Schuld des Täters und gegen 192 Ich stimme Derridas zugrundeliegender Interpretation von Jankèlévitch zu. Deshalb ist es die Aufgabe, den sachlichen Bruch zwischen dem Jankélévitch von 1967 (F) und 1971 (Vz), zwischen einer unbedingten und einer auf der Reue als Bedingung bestehenden Verzeihung, zu erklären. In diesem Sinne sind auch Ricœurs werkgeschichtliche Hinweise zu Jankélévitch zu lesen (GGV, 723, FN 22). Deswegen vermag Verena Lemckes Idee nicht zu überzeugen, dass Jankélévitchs »Klage über die fehlende Reue« (in Vz) »gerade nicht auf die Möglichkeit eines Verzeihens zielt […], sondern nur auf die Pflicht zur Erinnerung hinauslaufen kann«; dies.: Der Begriff Verzeihen bei Vladimir Jankèlévitch, Würzburg 2008, S. 183.
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die Wiederholbarkeit der Tat ausrichten zu können. Mit Derrida und Arendt lässt sich sagen, dass das Verzeihen kein Rückgängigmachen ist, und gegen ihn, dass das bedingte Verzeihen sicher keine irrsinnigen Hoffnungen auf die Abschaffung des Bösen (siehe JV, 12,3) wecken will. Zweitens pocht Derrida auf dem unbedingten Verzeihen »gewiß nicht, um es [das Verzeihen überhaupt, T. D.] auszuschließen oder zu disqualifizieren.« (JV, 12,3) Die radikale Reinheit eines Verzeihens ohne alle Bedingungen hat also nicht den Zweck, das Verzeihen als »menschliche Möglichkeit« (JV, 12,2; vgl. CF, 39) zu verneinen. 193 Denn drittens will Derrida mit den Ausdrücken der Exzessivität, der Hyperbolik und des Wahnsinns des Verzeihens allen ein für allemal zu verstehen geben, »daß es [das Verzeihen, T. D.] gegenüber der politischen und juristischen Ordnung […] heterogen bleibt. Man wird niemals […] eine Politik oder ein Recht auf Vergebung gründen können. Auf allen geopolitischen Schauplätzen […] mißbraucht man also am meisten das Wort der Vergebung/Verzeihung/Pardon.« (JV, 12,3). Aus diesen drei Begründungen, weshalb Derrida ein unbedingtes Verzeihen in Stellung bringen zu müssen glaubt, lassen sich wiederum für den Fortgang der hiesigen Überlegungen mehrere Schlüsse ziehen. Erstens schließt Derridas Gedanke der Unbedingtheit Bedingungen des Verzeihens gerade nicht aus. Zudem zeigt sich der Unterschied zwischen dem bedingten und dem unbedingten Verzeihen als Argument gegen seinen politischen Missbrauch. Der eigentliche Gegensatz bei Derrida ist der zwischen der politischen Verkehrung und dem nicht-politischen Verzeihen, der sich schon in dem – noch nicht endgültig bestimmten – Verhältnis des politischen zum privaten Verzeihen bei Arendt gezeigt hatte. Weil Derrida daher nicht zu den unbedingten Vertretern eines wahrhaft unbedingten 193 Daher gehen auch die theologischen Interpretationen Derridas in die Irre, die ihn als Gewährsmann für die Abkünftigkeit einer unbedingten zwischenmenschlichen Verzeihung von der göttlichen Sündenvergebung anführen; siehe Gerl-Falkovitz: Verzeihung, S. 192–196, 215–246, die die Forschung zu Derridas Theorie des Verzeihens ignoriert; vgl. Jan-Heiner Tück: Das Unverzeihbare verzeihen? Jankélévitch, Derrida und die Hoffnung wider alle Hoffnung, in: Internationale Katholische Zeitschrift »Communio« 33 (2004), S. 178–181, der die Polarität des Verzeihens bei Derrida übersieht und nur so zu einem bedingungslosem Verzeihen gelangt, das Derrida angeblich verfechte und das ihm Stütze dafür ist, das kirchliche Vergebungsrecht für Täter zu rechtfertigen, deren Opfer nicht mehr selbst verzeihen können, weil der Täter sie umgebracht hat; ebd., S. 182–186.
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III Vergeben und Verzeihen
Verzeihens zählt, 194 stellt sich die Frage nur dringlicher, inwiefern die Verschränkung der Abgrenzung eines privaten von einem politischen Verzeihen mit dem Gegensatz zwischen dem unbedingten und dem bedingten Verzeihen seiner eigentlichen Absicht dienlich ist. Derridas Festhalten an der Orientierung an einem anökonomischen Verzeihen rechtfertigt sich im Rahmen seines Kampfes gegen die Verballhornung des Verzeihens in der politischen Arena und ergreift im Unterschied dazu Partei für ein ethisches Verzeihen (in Derridas Sprache) oder ein privates Verzeihen (in Anlehnung an Arendt). Aber dieses nicht-politische oder anökonomische Verzeihen, von dem Derrida mit Arendt und Jankélévitch der Überzeugung ist, dass es als eine Handlungsmöglichkeit von Menschen unter Menschen verstanden werden muss, ist ein bedingtes Verzeihen. Denn Derrida fügt das Verzeihen in den Rahmen der abrahamitischen Tradition ein, womit er Judentum, Christentum und Islam zusammen anspricht. In dieser Tradition wird Vergebung mal von Gott ohne jede Bedingung gewährt, mal die Reue und oft dazu die Buße gefordert (siehe die Jesus-Geschichten bei Arendt). Das Verzeihen lässt Derrida trotzdem zwischen die beiden Pole der Bedingtheit und Unbedingtheit ein, weil sich so die Möglichkeit eröffnet, das Verzeihen zwischen Menschen mit dem Gedanken der Unverfügbarkeit zu verbinden. Darin äußert sich erneut der Versuch, das Verzeihen vor seinen Verkehrungen zu bewahren; diesmal so, dass das Verzeihen nur dann als ein solches gelten könne, wenn es diese traditionelle Unbedingtheit aufnehme. Täte es das nicht, so nehme »die strategische oder politische Berechnung« (JV, 13,1) überhand oder das Verzeihen verkomme zu »einer Therapie der Versöhnung« (JV, 13,2) und sei nicht vielmehr als »eine politische Strategie oder eine psychotherapeutische Ökonomie« (JV, 16,3; vgl. OF, 56 f.). Diese Befürchtungen sind nicht ohne Grund, wie die Verwechslung der Selbstverzeihung (siehe Kapitel 4. f) und die Problematik der Entschädigung (siehe Kapitel 7.b.a) gezeigt haben. Denn wenn das Ver-
194 Wenn man JV nicht zur Kenntnis nimmt und die anderen Schriften CF, OF und TF nicht auf dieser Folie liest, kann er gleichwohl als ein solcher erscheinen; siehe Verdeja: Derrida, S. 28. Denn in CF, OF und TF scheint Derrida die wirkliche Verzeihung zugunsten der unbedingten Verzeihung und zuungunsten seines Grundimpulses (der Verwahrung des Verzeihens gegen seine politische Verkehrung) in den Hintergrund zu rücken. Allerdings hält er an seinem leitenden Gedanken eines Verzeihens zwischen den Polen der Bedingtheit und Unbedingtheit fest; siehe CF, 34 f.; TF, 45; OF, 58 f.
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zeihen zu einer Technik oder einem Herstellungsverfahren für Versöhnung welcher Art auch immer wird, verflüchtigt sich seine Möglichkeit, Menschen im arendtschen und auch derridaschen Sinne freizugeben und gehenzulassen. Zugleich gilt für Derrida, dass die Verzeihung mit ihrem »absoluten Bezugspol[]« der Unbedingtheit nur dann zwischen Menschen wirklich werden kann, wenn sie sich auf die »Ordnung der Bedingungen, der Reue, der Wandlung, all der Dinge, die es ihr erlauben, sich in die Geschichte, das Recht, die Politik, selbst die Existenz einzuschreiben«, einlässt. Noch deutlicher heißt es: »Wenn man will – und das ist notwendig –, daß die Vergebung wirkungsvoll, konkret, historisch wird, wenn man will, daß sie ankommt, daß sie stattfindet, indem sie die Dinge verändert, ist es notwendig, daß ihre Reinheit sich auf eine Reihe von Bedingungen aller Art [meine Hervorhebung, T. D.] (psychologischer, politischer etc.) einläßt.« (JV, 14,1; vgl. CF, 44 f.) Begrifflich ergibt sich folgender Befund: An dieser Stelle steht das reine und unbedingte Verzeihen der Tradition dem wirklichen Verzeihen gegenüber. Zuvor hatte Derrida aber dieses wirkliche Verzeihen unterschieden in ein politisches und ein nicht-politisches Verzeihen, von denen das Letztere ebenfalls reines Verzeihen hieß und nun in den zuletzt erwähnten Überlegungen zur Polarität des Verzeihens keine begriffliche Eigenständigkeit mehr hat. Trotzdem bleibt der Sache nach die Abgrenzung des politischen vom nicht-politischen Verzeihen erhalten, von denen das Letztere also nicht das reine, sondern das wirkliche und ankommende Verzeihen heißen sollte. Über dieses wirkliche und ankommende Verzeihen erfahren wir in den Schriften Derridas zum Verzeihen nicht mehr als die oben erwähnten und in ihrer Summe dürftigen Auskünfte. In gewisser Weise wiederholt sich, was schon bei Arendt zu beobachten war, dass nämlich die Reue als Bedingung des Verzeihens benannt wird, aber man sich zu ihrer phänomenologischen und begrifflichen Erläuterung ausschweigt. Wegen dieses Vakuums haben wir es bei Derrida nicht mit einer Theorie des Verzeihens zu tun, und auch nicht mit einer Analyse seiner konstitutiven Bedingungen, sondern mit Überlegungen zu den theoretischen Rahmenbedingungen des philosophischen Nachdenkens über die Verzeihung: das heißt bei Derrida zu den beiden Polen, die wie eine Klammer die Theorie des Verzeihens umschließen sollen. Weder zu den Bedingungen noch zu den Verwechslungen des Verzeihens finden sich substantielle Überlegungen. A
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III Vergeben und Verzeihen
Und diese Desiderata sind die Ursache dafür, dass Derrida mit seinen Kennzeichnungen des Verzeihens als hyperbolisches, verrücktes oder wahnsinniges Verzeihen 195 zu den erwähnten Missverständnissen selbst Anlass gegeben hat. Als Kern von Derridas Überlegungen zeigt sich so das Beharren darauf, dass man die Möglichkeiten des Verzeihens nicht leichtfertig herschenken darf und man sich dessen Gefährdungen bewusst sein muss, wenn man zwischen den beiden Polen »die Entscheidungen und die Verantwortlichkeiten« (JV, 14,1) für und durch das Verzeihen trifft und ergreift. Genau dies ist die Bedeutung von Derridas Polarität, dass sich mit ihrer Hilfe der Entscheidungscharakter des Verzeihensaktes selbst (eine weitere Gemeinsamkeit mit Arendt) herausstellen lässt 196 und das Verzeihen im Sinne jener theoretischen Polarität auch als »ethical ideal« 197 praktische Bedeutung gewinnt. Wie nachteilig sich die Rhetorik des unbedingten Verzeihens und der Verzicht auf eine Theorie des Verzeihens im Blick auf das wirkliche und ankommende Verzeihen auswirkte, zeigt die Diskussion im Anschluss an Derridas Vortrag über die Verzeihung an der International University of the Western Cape in Kapstadt im August 1998. Eine Studentin fragte ihn: So you’re a white Western male, speaking to a white audience. We are part of the previous oppressive community in South Africa. And you are speaking to us about unconditional forgiveness … Now you might have meant that pure forgiveness thing with a lot of irony, and maybe that is something that is really impossible – pure forgiveness being really impossible, but we sit here as potential objects of forgiveness, and we are, all of us, you included, in a sense guilty. Now … don’t you think it fills an ideological function speaking to us, telling us in a sense we should not repent, not ask for forgiveness, because then we ›ruin‹ pure, unconditional forgiveness, while at the same time
195 In diesem Sinne bin ich bei Richard J. Bernstein: »Where many of us see problems, difficulties, perplexities to be resolved, Derrida sees aporias – impossible possibles or possible impossibles. What is he really getting at?«; ders.: Derrida: The Aporia of Forgiveness?, in: Constellation 13 (2006), S. 394–406, hier S. 397. 196 Siehe aber Chris Kaposy: ›Analytic Reading‹, ›Continental‹ Text: The Case of Derrida’s ›On Forgiveness‹, in: International Journal of Philosophical Studies 13 (2005), S. 203–226, der mit guten Gründen diesen begrifflichen Nutzen anzweifelt: Die reine Verzeihung könne die Bedeutung der empirischen oder wirklichen Verzeihung nicht so angeben, dass die Rede von der Verzeihlichkeit des Unverzeihlichen plausibel werde, ebd. S. 214–218. 197 Kaposy: Analytic Reading, S. 220.
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you are telling oppressed people they should forgive without expecting repentance. 198
Derrida nimmt den Hinweis auf die Ironie dankbar auf und verlegt sich in seiner Antwort darauf, dass er Ironie als ernsthaftes Stilmittel betrachte, um verkrustete Denkmuster aufzubrechen. Wie dem auch sei, in der Sache des ankommenden Verzeihens bleibt es bei seinem Schweigen. Er teile die Bedenken der Studentin, wolle aber eine klare Grenze zwischen der reinen Verzeihung und der Versöhnung, der Entschuldigung und den gesellschaftlichen Aussöhnungsbemühungen in Südafrika ziehen und warne sie vor der obskuren Christianisierung der Verzeihung, die sie mit ihrer Beharrung auf der Reue heraufbeschwöre. 199 Eine Erwiderung auf den nicht gerade zimperlichen Vorwurf der ideologischen Parteinahme, der ihm den zynischen Ruin des Verzeihens zuschreibt, zu dessen Verhinderung er nach eigener Auskunft angetreten war, ist darin kaum zu erkennen. Im Grunde verfällt er in diejenige Sprachlosigkeit gegenüber dem wirklichen Leid, das nach wirklicher und ankommender Verzeihung verlangt, die sich unter anderen Vorzeichen schon bei der Sündenvergebung gezeigt hatte (siehe Kapitel 5). Was bei Derrida fehlt, ist die philosophische Durchführung jenes handlungsleitenden Ideals des polaren Verzeihens aus der abrahamitischen Tradition in Bezug auf das Handeln in der Pluralität. Zur eigentlichen Theorie des Verzeihens, zu den Mühen der Ebene einer phänomenologischen und begrifflichen Analyse trägt er neben den unmissverständlichen, aber thetischen Aussagen über die ankommende Verzeihung kaum etwas bei. Er setzt deren moralisch-dezisionistischen Rahmenbedingungen fest. 200 Der Grund für diesen schwebenden Charakter seiner Meta-Bedingung der Verzeihung findet sich dort, wo sich sein Bezug auf das abrahamitische Erbe fundamental 198 Gil Kofman: Derrida. Film to Text Adaptation, in: Dick Kirby/Amy Zierig Kofman: Screenplay and Essays on the Film Derrida Manchester 2005, S. 51–110, hier S. 89 f. Die von mir herangezogenen Texte sind erst nach diesem Vortrag erschienen. Weil aber die Grundlinien dieses Vortrages mit denen der späteren Schriften übereinstimmen (vgl. CF, JV, OF, TF), sehe ich kein unüberwindbares werkgeschichtliches Hindernis dafür, diese Bezüge herzustellen. 199 Ebd., S. 91. 200 Vgl. die These vom meta-ethischen Charakter von Derridas ethischen Überlegungen im Blick auf den Begriff der Verantwortung wie die Ethik als ganze Eddo Evink: (In)finfite responsibility. How to avoid the contrary effects of Derrida’s ethics, in: PSC 35 (2009), S. 467–481.
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von dem Arendts unterscheidet und eine Schieflage in sein Nachdenken einzeichnet. Derridas – im Unterschied zu den politischen Verzerrungen gesehene und gleichwohl zwischen den Menschen ankommen sollende – »reine Vergebung« orientiert sich an der unbedingten Sündenvergebung durch Gott, während sich seine »bedingte Vergebung« (als der entgegengesetzte Pol) an der bedingten und zwischenmenschlichen Verzeihung orientiert, von der die Mischna und Jesus sagen, dass sie der Sündenvergebung bedingend vorangeht. Sei es nun auf die eine oder andere Weise, von einer empirischen Vermittlung dessen, was bei ihm zu den Polen seiner Meta-Bedingung erstarrt, ist bei ihm mit keiner Silbe die Rede – im Gegensatz zu Arendt, die sich die jesuanische Vermittlung aneignet. Dass er diese Vermittlung nicht berücksichtigt, scheint mir an der mitschreibenden Tendenz zu liegen, das bedingte als ein missbräuchliches Verzeihen engzuführen. Der Schrecken vor den politischen Verballhornungen verstellt ihm den Blick dafür, dass das Verzeihen nicht mit jenen deckungsgleich ist, und mündet in seiner Verzerrung des eigentlich angezielten zwischenmenschlichen Verzeihens, das ihm jenseits seiner These vom Ankommen-Müssen nicht thematisch ist. Die Schieflage seines Nachdenkens über das Verzeihen rührt ferner daher, dass er dessen Pole mit den erwähnten Ungenauigkeiten in seinem Begriff reiner Vergebung vermengt. Er wirft nämlich der zwischenmenschlichen Verzeihung (bei ihm bedingte Vergebung) vor, dass sie nicht das leiste, was im abrahamitischen Erbe Aufgabe/ Wirkung der Sündenvergebung (bei ihm unbedingte Vergebung) ist. Der Unterschied zwischen Vergeben und Verzeihen, den die abrahamitische Tradition – unbegrifflich wie Arendt – bewahrt, wird so eingezogen. Was also bleibt, ist die Meta-Bedingung, dass das Verzeihen nur dann jenes Freigeben und Gehenlassen sein kann, wenn es der Heuchelei und Unaufrichtigkeit die Ernsthaftigkeit der Entscheidung für die Verzeihung entgegensetzt. Das gilt, auch wenn er es auf das Opfer verkürzt, gleichermaßen für den Täter. »Above all [gemeint ist der rethorische Stil Derridas, T. D.], Derrida wants to avoid any possibility of our thinking that the responsible decision to forgive is normal or easy. On the contrary ›authentic‹ forgiveness requires experiencing the aporia of forgiveness«. 201 Das heißt, um es in Arendts 201
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Bernstein: Derrida, S. 399. Ich verweise ergänzend auf Bernsteins Widerlegung von
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Worten zu sagen: Wahrhafte Verzeihung erfordert die Anerkennung ihrer Zerbrechlichkeit. Dieser Hinweis Derridas hat auch dann Bestand, wenn man seine Unterscheidung der lässlichen von den schweren Sünden nicht mitträgt, weil die Entscheidung für oder gegen das Verzeihen eben auch offenlassen muss, wer in welcher Situation wem verzeihen will oder nicht. Auch wenn die Warnung vor dem leichtfertigen Verzeihen gute Gründe anführen kann, kann sie sich nicht dazu aufschwingen, dem Einzelnen anzugeben, worauf er verzeihend und worauf er nachsichtig oder andersartig zu reagieren hat. An der Freiheit und der Ungerechtigkeit des Verzeihens, auf die Arendt aufmerksam macht, findet Derridas Fingerzeig auf den moralischen Ernst der Verzeihungsentscheidung seine Grenze. Derrida entpuppt sich also aus den genannten Gründen als ein vehementer Verfechter eines dezidiert moralischen und bedingten Verzeihens, der uns unerbittlich auf die Notwendigkeit zwischenmenschlicher Verzeihung angesichts des allgegenwärtigen Leids in der Welt stößt und von uns einen achtsamen und bedachten Gebrauch dieses fragilen Vermögens verlangt: »But insofar as he tells us that we have to enter the abyss of confronting impossible possibles, he mystifies what happens when we deliberate and make a judgment about whether to forgive the unforgivable.« 202 Denn auch für Derrida ist letztlich nicht das Unverzeihliche verzeihlich, sondern das Verzeihliche. (iii) Das vorlaufende Verzeihen Der unter anderem bei Kodalle vorfindliche Gedanke eines vorlaufenden Verzeihens schließt die Erprobung der Reue durch ihre Kritiker ab. Vorlaufend heißt diese Verzeihung deswegen, weil sie dem Täter jene kritische Selbstbeurteilung der Reue und ihre tätigen Konsequenzen erst ermöglichen soll. Das Opfer muss sich in dieser Sichtweise »die höchste und schwierigste Manifestation des Geistes der Verzeihung« selbst abverlangen, damit sich dem Täter in der Folge Derridas These, dass das Verzeihen nichts mit dem moralischen Urteilen zu tun habe. Dass die verantwortliche Entscheidung für oder gegen Verzeihung, die Derrida von uns verlangt, ohne ein hinreichendes Wissen als Basis eines notwendigen Urteils darüber, ob Verzeihung die angemessen Reaktion auf die fragliche Tat ist, schlechterdings undenkbar ist, fügt sich ohne Weiteres in meine Überlegungen zur Notwendigkeit des moralischen Urteilens im Verzeihungsgeschehen ein; siehe Bernstein: Derrida, S. 399–405. 202 Ebd., S. 403. A
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überhaupt erst jener Horizont öffnet, »sich den Abgründen des eigenen Selbst zu stellen und die eigene Schuld anzuerkennen – und gegebenenfalls zu bereuen.« (AT, 61) Festgelegt wird also die Chronologie des Verzeihungsgeschehens, in dem die Verzeihungsgewährung der Reue vorangeht. 203 Dennoch billigt Kodalle der Reue nicht den Status einer konstitutiven Bedingung zu. Seine Fassung der vorlaufenden Verzeihung verdankt sich Kierkegaards Gedanken der Verzeihung als reiner Gabe, wonach die Gabe der Vergebung als Antwort auf ein Bedürfnis, hier also der Reue und der Bitte um Verzeihung, schon wegen ihrer Bedingtheit unvollkommen sei. Worauf es hingegen allein ankomme, sei die Gesinnung des Gebenden (des Verzeihenden), der durch seine Gabe den Empfänger nicht in Abhängigkeit bringen dürfe, sondern hinter seiner Gabe verschwinden müsse. 204 Entscheidend für Kodalles Einbindung der Reue in die vorlaufende Verzeihung ist, dass sie keine konstitutive Bedingung ist, sondern ein Nebenprodukt, auf das gegebenenfalls zu Lasten des in Vorleistung gehenden Opfers verzichtet werden muss. Zu dem Risiko des Verzeihenden, das die Asymmetrie der Gewährung in der Verzeihung ist, hieß es ja, dass sich der Täter nach erfolgter Verzeihung durch das Opfer auch der »Selbstkonfrontation, also: dem Eingeständnis seiner Verfehlung« entziehen könne und so diese Verzeihung für den »Nachsichtigen« mit einer sogenannten »Spur der Bitterkeit und Enttäuschung« (AT, 34) enden könne. Die verbreitete Engführung der Theorie des Verzeihens auf das Opfer zeigt sich hier als Zumutung jener Bitterkeit und offenbart erstens, dass das vorlaufende Verzeihen die Last des Verzeihens allein dem Opfer auferlegt. Damit redet es gerade derjenigen heroischen Selbstdemütigung des Opfers das Wort, die nur die andere Seite der 203 Siehe zu dieser chronologischen Festlegung auch Kodalle: Diesseits der Logik, S. 390–392, 404; ders.: Dimension, S. 111–113, 129; ders.: Vergeben; ders.: Verzeihung des Unverzeihlichen, S. 428–437; ders. Verzeihung nach Wendezeiten, S. 18, 55–57; vgl. Griswold: Forgiveness, S. 212 f.; Glen Pettigrove: Unapologetic Forgiveness, in: APQ 41 (2004), S. 187–204, hier S. 200. 204 Siehe Kodalle: Gabe, S. 72–77. Anders als immer wieder zu lesen ist, zählt Ricœur nicht zu den Gabe-Theoretikern der Verzeihung. Er erwägt zwar den Gedanken der Gabe (RV, 149–153), verwirft ihn aber, weil er gerade die Absage an die Gegenseitigkeit des Gebens für einen kategorialen Fehler hält: Denn der seine Feinde Liebende oder der Verzeihende erwarte von seiner Liebe, dass sie den Feind in einen Freund verwandle (RV, 151; vgl. GGV, 773). Damit sagt er das aus, was Arendt gegen Audens Identifikation der Verzeihung mit der Nächstenliebe eingewandt hat (siehe HA/WA, 004865).
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Medaille jener moralischen Selbstüberhebung des Opfers ist, die Kodalle als »Freude am Aburteilen« (AT, 32) geißelt. Diese Verbindung aus Vorlauf und Degout gegen das moralische Urteilen ist sinnbildlich für alle Verfechter eines reinen Verzeihens. Denn sie gehen, etwa von Derridas Unbehagen an der öffentlichen Reue, umgehend zur normativen Beurteilungsdimension des Verzeihens über, um von dort ihre Theorie zu entwickeln. Resultat dieses vor dem ersten erfolgten zweiten Schrittes ist die Hypostasierung der ambivalenten Dimension der Reue: beim Täter durch die angebliche Selbsterniedrigung und beim Opfer durch die Selbstüberhebung. Zweitens zeigt sich das vorlaufende Verzeihen in der Zumutung der Bitterkeit als ein Verzeihen, das seinen auch von Kodalle angezielten Sinn, nämlich eine neue Wege eröffnende Umgangsform mit zwischenmenschlicher Schuld zu sein, nur schwerlich einlösen kann und eher der erzwungenen Nachsicht gleicht. 205 Allerdings erkennt Kodalle wie Derrida, der die Reue als Bedingung setzt, an, dass das Verzeihen, wenn es ohne Reue bleibt und den Täter nicht in die Pflicht nimmt, als Möglichkeit des zwischenmenschlichen Umganges mit leidvollen Geschichten seine möglicherweise heilende Kraft schon verloren hat. Denn das vorlaufende Verzeihen führe nicht mit Notwendigkeit die Selbstkonfrontation des Täters herbei, die nur ein anderes Wort für Reue ist. Denn »[w]er sich selbst entpersonalisiert, indem er sich« wie Eichmann als Rädchen im Getriebe darstellt, »untergräbt die Möglichkeit der Verzeihung, denn er verzichtet, um sich der Schuld erst gar nicht zu stellen, auf die eigene Würde, die in der Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse zum Ausdruck kommt.« (AT, 60) Er verzichtet auf jene moralische Selbstbefreiung, die mit Scheler die Reue ist. Dass dieser Verzicht auf die Reue, der genau besehen eine Weigerung ist, die Verzeihung unmöglich macht, wirft ein anderes Licht auf die vorlaufende Verzeihung, die dem Täter Vertrauen anbieten und erst die Grundlage erneuerter Vertrauenswürdigkeit schaffen soll (vgl. AT, 60). Denn es steht dahin, ob Kodalle im Falle eines ne205 Die Abladung der moralischen Verantwortung für das Verzeihungsgeschehen beim Opfer, deren seelisch-belastende Dimension in jener Spur (sic!) der Bitterkeit marginalisiert wird und die einmal mehr die Sprachlosigkeit der unbedingten Theorien der Verzeihung angesichts des in den Gesichtern und Körpern der Opfer und auch in den Gesichtern der – aber nur: der bereuenden – Täter sich spiegelnden Leides zeigt, ist ein gemeinsames Moment der reinen und unbedingten sowie der theologischen Theorien im Sinne eines a-intersubjektiven Begriffes der Verzeihung.
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gativen Ausganges für das vorlaufende Verzeihen noch berechtigt ist, von Verzeihung zu sprechen, wenn doch die Verweigerung des Täters die Möglichkeit der Verzeihung untergräbt. Das begriffliche Problem ist dies, dass Verzeihung sowohl das Opfer-Angebot des Vertrauens als auch den Zustand nach erfolgter Ablehnung benennen soll. Analog zur Sündenvergebung und der Selbstverzeihung hieße das: Verzeihung sei auch dann Verzeihung, wenn der Täter sie verweigere. Der Gedanke der vorlaufenden Verzeihung stellt sich anders dar, wenn man eine Bemerkung Spaemanns aufnimmt, der wie Kodalle darauf hinweist, »[d]aß die Verzeihung dem Gesinnungswandel antizipierend vorausgehen und ihn damit erst ermöglichen kann« (P, 250), aber diesen »Übergang […] von der ontologischen zur moralischen Verzeihung« (P, 251) unter den entscheidenden Vorbehalt stellt, dass der Täter jenes Angebot des Opfers annehmen muss (was eine weitere Asymmetrie des Verzeihens bezeichnet). »Bis diese Chance ergriffen wird, bleibt Verzeihung ein widerruflicher Versuch.« (P, 250) Deshalb handelt es sich bei der sogenannten vorlaufenden Verzeihung vielmehr um die Eröffnung des Raumes, in dem sich Verzeihung zwischen Täter und Opfer ereignen kann, aber nicht muss. Gerade weil der Täter es noch nicht getan hat, nimmt das Opfer eine vorläufige Umwertung vor und bietet dem untätigen Täter Verzeihung in der Hoffnung an, der Täter möge diesem Anstoß folgen. Die auf solche Weise gewahrte Eigenschaft der Reue als konstitutiver Bedingung der Verzeihung geht in einem auf die Asymmetrie der Bitte verkürzten Verzeihungsgeschehens auch deswegen unter, weil das Eltern-Kind-Modell des Verzeihens keine Unterscheidung von Nachsicht, Entschuldigung und Verzeihung zulässt. Die Nachsicht etwa, die um die Schuld weiß und die persönliche Verantwortung nicht einfordert, kann mit jener Bitterkeit und Enttäuschung zusammengehen, das Verzeihen jedoch nicht. Mehr noch wäre die vorlaufende Verzeihung nicht davor gefeit, als exakt diejenige Demütigung und Entmündigung des Täters zu gelten, die Kodalle in der als Erniedrigung verzeichneten Reue sah. Denn im Grunde erklärte sie die Wiederherstellung der moralischen Integrität des Täters für das Zustandekommen der Verzeihung für unerheblich, was sie an die Seite der Sündenvergebung stellte, die das zwischenmenschliche Leid seinen zwischenmenschlichen Umgangsformen entzieht. Das vorlaufende Verzeihen als Form der Nachsicht ist ferner als subtile oder gerade unverhohlene Einforderung der Reue lesbar. Die 324
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Nachsicht will dem Täter genauso seine Verfehlung zu Bewusstsein bringen wie es das ausgesprochene moralische Urteil tut. Der Absicht nach besteht also zwischen dem Beurteilen und der Nachsicht kein Unterschied. Wenn Letztere aber Erfolg hat, ist sie ebenfalls der Gefahr der Demütigung und Verstockung des Täters ausgesetzt wie das moralische Urteil. Und genau dieser Erfolg liegt ja in der Absicht der vorlaufenden Verzeihung, bliebe es doch sonst allein bei der Enttäuschung und Bitterkeit des Opfers. Weil aber Kodalle dem Anschein nach das Ausbleiben der Reue als Infragestellung der Möglichkeit der Verzeihung sieht, muss einerseits offen bleiben, inwiefern ihn solche Kritiken zu Recht träfen, bleiben jedoch andererseits seine Aussagen an entscheidender Stelle widersprüchlich. Um die für das Verzeihungsgeschehen konstitutive Reue nicht diesen Misverständlichkeiten auszusetzen, ist die Unterscheidung von Verzeihung und Verzeihungsbereitschaft der geeignete Ausweg. Sie verdankt sich der expliziten Umkehrung des analytischen Blickes im Gegensatz zu den Theorien einer unbedingten Verzeihung, die von der ontologischen Verzeihung ausgehen. Der Ausgang von »einer phänomenologisch orientierten, sachlichen Analyse« entwickelt hingegen die tragenden Strukturen einer Theorie des Verzeihens »aus der alltäglichen moralischen Praxis« 206 und macht so den Blick frei für die Reue als konstitutive Bedingung des Verzeihens. Und zugleich muss der, der die Reue als konstitutive Bedingung setzt, keine Aussagen über die Chronologie von Verzeihung und Reue machen. Geht die Reue voran, können wir von Verzeihung erst nach Bitte, Gewährung und Annahme sprechen. Geht das Angebot voran, gilt dasselbe. »Versöhnlichkeit und Vergebungsbereitschaft […] werden […] vielerorts gelobt, der Haken ist nur, daß sie meist unter dem Namen der ›Vergebung‹ gelobt werden. [Sie, T. D.] sind aber nicht Vergebung! Sie gehören seitens der vergebenden Person zu den konstitutiven Bedingungen von Vergebung, ohne die Vergebung nicht möglich ist« 207 – so wie die BereitLohmann: Verzeihen, S. 195. Scheiber: Vergebung, S. 261. Viele Vertreter der Selbstverzeihung (siehe Kapitel 4.f) oder der Resentment-Theorie des Verzeihens (siehe Kapitel 7.a) missverstehen die Reue als chronologisch vorangehende Bedingung des Verzeihens. Der anschließende Vorwurf der Verharmlosung, Unverzeihlichkeit und moralischen Selbstüberhebung gegen ein bedingtes Verzeihen ist allerdings ein Alleinstellungsmerkmal von Jessica Wolfendale: The Hardened Heart. The Moral Danger of Not Forgiving, in: The Journal of Social Philosophy 36 (2005), S. 344–363, hier S. 351–361. 206 207
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schaft des Täters, sich verzeihen zu lassen, eine konstitutive Bedingung des Verzeihens ist. Und allein in diese Verzeihungsbereitschaft lässt sich der Gedanke einer Pflicht in das Verzeihungsgeschehen einzeichnen. Weil wir wie unsere Mitmenschen fehlbare und schuldige Menschen sind, sind wir ihnen gegenüber zu einem grundsätzlichen Wohlwollen in Anerkennung dieser Endlichkeit verpflichtet. Und immer dann, wenn wir Teil eines Verzeihungsgeschehens sind, ist uns auch eine schwache Verpflichtung auferlegt, unseren Schuldnern in der ihnen gewogenen Haltung der Verzeihungsbereitschaft gegenüberzutreten. Wer sich dieser Haltung verweigert, dem ist zu Recht der Vorwurf der Unversöhnlichkeit zu machen, denn er verweigert seinem Gegenüber dessen persönliche Transzendenz, die ihm wie jedem anderen Menschen zukommt: Niemand kann, durch welches Verhalten auch immer, sich, so lange er lebt, als Person gänzlich und definitiv zum Verschwinden bringen, zur ›Unperson‹ werden und die Differenz zwischen seiner personalen Identität und seinem So-Sein vernichten. Darum bleibt er, solange er lebt, jemand, dem zu verzeihen möglich ist. (P, 251)
Arendt – so ist wieder der Bogen zu schlagen – hätte sich von diesen Bemerkungen Spaemanns am Ende der Überlegungen zur Reue als konstitutiver Bedingung des Verzeihens belehren lassen müssen, insofern ihre Grenze des Verzeihens nun endgültig zu Fall gebracht ist. Prinzipiell ist das Verzeihen grenzenlos. Für sie müssten die Täter des Unverzeihlichen zur Reue unfähig sein, weil sie sich durch ihre Taten als Menschen im Unterschied zu moralischen Personen erwiesen hätten, denen jenes moralische Selbstbewusstsein ermangelte, aufgrund dessen sie sich Personen nennen dürften. Diese Position ist auf dem Hintergrund von Arendts grundlegenden Begriffen der Natalität und der Offenheit der Person sowie jener Verzeihensbereitschaft nicht haltbar. Sie vernichtete genau die Differenz zwischen der personalen Identität und dem So-Sein, die Arendt selbst mit ihrem Begriff des Verzeihens als Freigeben und Gehenlassen bewahren möchte.
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Der Akt des Verzeihens
Nach der Einordnung der Theorien des unbedingten Verzeihens in das dreifache analytische Schema von Verzeihen, Vergeben und den 326
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Verwechslungen des Verzeihens können nun die bisher unbeantworteten Fragen aus den vorangehenden Kapiteln erneut aufgegriffen werden. Die Idee der Selbstverzeihung und der Gedanke des Resentments (siehe Kapitel 4.f und 7.a) hatten sich als eine im Unterschied zum Verzeihen gerade nicht-intersubjektive Umgangsform mit zwischenmenschlicher Schuld erwiesen. Dabei stellte sich über die Abgrenzung von der Verzeihung hinaus die Frage, inwiefern die Überwindung der tatgebundenen negativen Gefühle, ob allein die Überwindung des moralischen Ärgers oder aller mit der Tat zusammenhängenden schlechten Gefühle, zu den konstitutiven Bedingungen des Verzeihens gehört. Die Untersuchung der Theorien unbedingten Verzeihens, die Letzteres wie ihre Gegenspieler als intersubjektives Geschehen begreifen, ergab zweierlei. Zum einen offenbarte die Unterscheidung des moralischen vom ontologischen Verzeihen, dass unbedingt nur ein Wohlwollen als zwischenmenschliche Haltung in Bezug auf die ontologische Dimension der Schuld gefordert werden kann, während die Reue auch zu den konstitutiven Bedingungen des Verzeihens auch in diesen – missverständlich unbedingt genannten – Theorien des Verzeihens gehören muss. Das führte im Blick auf Kodalles analytische Schieflage eines auf die Bitte um Verzeihung verkürzten Verzeihens die kategoriale Abgrenzung der Verzeihung von der Verzeihungsbereitschaft herbei, die eine weitere konstitutive Bedingung des Verzeihens ist. Zum anderen entpuppte sich Derridas Beharren auf einem reinen Verzeihen nicht als ein unbedingtes Verzeihen in Bezug auf die Reue, sondern als Strategie, das Verzeihen vor seinen Verballhornungen auf den öffentlichen Schauplätzen zu bewahren. Dabei ist das reine Verzeihen nicht als das zwischenmenschliche Verzeihen im Gegensatz zu seinen Verzerrungen in der politischen Arena zu verstehen. Es ist vielmehr ein handlungsleitendes Ideal, das sich auf geschichtliche und moralische Verwirklichungsbedingungen einlassen muss, zu denen auch die Reue zählt, wenn es denn – und das ist die gemeinsame Überzeugung Derridas und Arendts – zwischen Menschen ankommen können soll. Am Ende dieses Durchganges durch die einzelnen Stationen des Verzeihungsgeschehens steht die Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Kern der Verzeihung aus. Diese Antwort muss den Abgrenzungen gegen die Verwechslungen des Verzeihens genügen und diese mit den Unterscheidungen im Begriff der Schuld und den oben A
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zusammengefassten Ergebnissen in Bezug auf die Theorien eines unbedingten Verzeihens zusammenführen. Worum also bittet der Täter in seiner Bitte um Verzeihung? Und wem entspricht das Opfer in seiner Gewährung von Verzeihung? Und was wiederum nimmt der Täter auf welche Weise in der ihm gewährten Verzeihung an? a Die Bitte um Verzeihung Wenn sich die Verzeihung weder auf die Tat noch auf die sich mit dieser verbindenden persönlichen Schuld beziehen kann, weil beide nicht rückgängig oder ungeschehen zu machen sind und fortan zu den unverwechselbaren Lebensgeschichten von Täter und Opfer gehören, kann man das mit den Ergebnissen zu der von Arendt (wie Derrida) weitgehend im Dunkeln gelassenen Reue auf die folgende Weise in Übereinstimmung bringen. Die Reue ist ein selbstkritischer Urteilsspruch des Gewissens über das eigene Vergehen. Sie gesteht das Scheitern an den eigenen moralischen Ansprüchen ein. Dennoch ist sie kein defätistisches Selbstmitleid, sondern in der kritischen Selbstbeurteilung ist sie zugleich die Wiederherstellung der moralischen Integrität. Ihr Ergebnis ist die Zuversicht, dass man zu mehr fähig ist, als zu jener schlechten Tat. Die Reue löscht die Schuld nicht aus, sondern gibt ihr eine neue Bedeutung, die sich nicht mehr lähmend auf die Zukunft auswirkt. Wenn uns die Reue von der Macht der gelebten Geschichte durch die gewusste Geschichte frei machen kann, dann kann sie dies nur auf die Weise tun, dass sie sich der Geschichte erinnert und dadurch ein anderes Selbstverhältnis des Täters zu seinen vergangenen und künftigen Taten ermöglicht. Die konkrete Situation der Bitte um Verzeihung steht im Falle aufrichtiger Reue durchaus unter dem Eindruck der Bedrückung des Täters und bisweilen auch eines Unbehagens des Opfers an der Position, in die es die Bitte gebracht hat. In der Tat entsteht eine »kommunikative Asymmetrie« (AT, 31), die in Arendts Bemerkung gegenüber Auden widerhallt, dass es weitaus schwerer sei, um Verzeihung zu bitten als sie zu gewähren (vgl. HA/WA, 004864). Allerdings ist diese Asymmetrie der Bitte um Verzeihung Teil der Wiederherstellung einer sozialen und moralischen Symmetrie, die erst durch die Tat des Täters notwendig wurde. »[P]lötzlich« ist diese Asymmetrie nicht. Das wird übersehen, wenn man die Situation der Bitte als »totale Selbstentblößung« und »Selbst-Auslieferung« beschreibt, die das Opfer in eine Stellung brächte, »die nur einem potentiell stets schuldlosen Wesen zukäme, also: einem Gott.« (AT, 31) 328
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In dem ungezügelten Zorn Jankélévitchs über das Ausbleiben einer Bitte um Verzeihung durch die Deutschen nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft könnte man einen Anhaltspunkt dafür finden, dass eine solche Bitte zur totalen (sic!) Selbstentblößung führen könnte. Allerdings liefe man so Gefahr, es sich und den Tätern zu leicht zu machen und die Bitte um Verzeihung und damit auch die Anerkennung der in der Tat liegenden Asymmetrie zu umgehen. Dass Jankélévitch uns in markigen Worten daran erinnert, dass die Verzeihung »nicht für Schweine und ihre Säue« – gemeint sind die vom »›Wirtschaftswunder‹« »fett[en] und gut genährt[en]« (V, 271) Deutschen – gemacht sei, ist noch kein philosophisches Argument, sondern Ausdruck eines tiefen Schmerzes. Und die Aufgabe besteht darin, diesem Schmerz einen angemessenen Ort in der Theorie des Verzeihens zuzuweisen, weil – wie zuvor angemerkt – die Möglichkeit des Nicht-Ausheilens bedacht werden muss. Der zweite Grund dafür, dass – neben ihrer Hypostasierung – die Dramatisierung der Bitte um Verzeihung nicht verfängt, ist der folgende: Wer um Verzeihung bittet, bittet darum, dass sein Opfer seinen Gesinnungswandel, seine Einsicht und seinen Willen zur Umkehr anerkennt. Die Bitte signalisiert also, dass die selbst herbeigeführte Entwürdigung des Täters überwunden ist: die Selbstentwürdigung, die in der Tat ihren Ausdruck fand. Die Bitte um Verzeihung bittet das Opfer nicht um etwas, das es nicht leisten kann. Das heißt, dass die Einsicht und die Umkehr äußere Anlässe haben können, die überdies nichts mit dem Wirken des Opfers zu tun haben müssen, sondern Aufgabe des Täters sind. Bäte er darum, wäre es eine unerfüllbare Bitte und jede Entsprechung einer solchen Bitte durch das Opfer eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Die Reue ist als Selbstbefreiung die Wiedererlangung der persönlichen Handlungsfreiheit. Und die Bitte um Verzeihung fragt um die Anerkennung der Reue – und zwar bezogen auf das Verhältnis zwischen dem Täter und seinem Opfer und nicht im Blick auf die Handlungsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit des Täters in seinen Beziehungen zu anderen Menschen. Denn trotz ihrer Verbundenheit miteinander stehen die Beziehungen des Täters zu anderen Menschen nicht zugleich mit auf dem Spiel. Die Bitte um Verzeihung teilt also dem anderen mit, dass ich mich von meiner Tat abwende. Sie sagt ihm zugleich, dass ich mich für die Bitte entschieden habe und ihm zu verstehen gebe, wer ich sein will über die Tat hinaus, die etwas anderes über mich ausgesagt A
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hat als die Reue und die Bitte es tun. Die um Verzeihung ersuchte Person kann im Falle von Beziehungstaten aus Erfahrung von der Vertrauenswürdigkeit des Täters wissen. Sie kann, wenn sie kein solches erfahrungsgegründetes Wissen hat, die Äußerungen des Täters daran messen, dass Reue keine Ausflüchte sucht oder sich in Rechtfertigungen ergeht, sondern Schuld gesteht, Verantwortung trägt und zu Entschädigung willens ist, wo das möglich ist. Nicht zuletzt kann es ihr ein wegweisendes Zeichen sein, wenn jemand nicht die imperativische und alltägliche Form der Verzeihungsbitte wählt (»Verzeih’ mir« oder »Bitte verzeih’«), sondern mit Bedacht die Frageform der Verzeihungsbitte an sein Opfer richtet. Denn damit gibt er zumindest zweierlei zu verstehen: zum einen seine wahrhaftig empfundene Reue und zweitens das Wissen darum, dass er die Verzeihungsgewährung nicht einfordern kann. Wenn also die Reue immer ein ambivalentes Phänomen zwischen Menschen bleibt, so ist im Verzeihungsgeschehen »die Bitte um Vergebung ein weitaus überzeugenderer Hinweis auf seine Schuldeinsicht und Reue als die Forderung nach Vergebung.« 208 Damit ist der entscheidende Unterschied zu den Theorien der Selbstverzeihung benannt, insbesondere zur Resentment-Theorie. Denn diese hatte die Reue des Täters in ihrer Bedeutung für das Verzeihungsgeschehen zu einem innerlich bleibenden Phänomen des Opfers gemacht, das sich für sich selbst auf eine im Dunkeln bleibende Art von der Reue des Täters überzeuge und dann für sich dem Täter verzeihe, ohne dass es in dieser Angelegenheit mit dem Täter in Kontakt treten müsste. Auch auf diesem Wege kann man durchaus zu der Definition des täter- und nicht tatorientierten Verzeihens gelangen: »The forgiver who previously saw the wrongdoer as someone bad or rotten or morally indecent […] comes to see her as still decent, not rotten as a person«. 209 Nur kann das Verzeihen als zwischenmenschliches Geschehen die Unstimmigkeit in der Einbindung der Reue vermeiden: Die Reue ist ein innerliches Phänomen aufseiten des Täters, das in der Bitte um Verzeihung zu einem Teil der Verzeihung wird. Diese wird so als eine moralische Kommunikation verständlich: Der Täter fragt, und das Opfer antwortet. Der Täter bittet nicht um die Aufhebung der moralischen Beurteilung seiner Tat, sondern er bittet um eine veränderte 208 209
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Scheiber: Vergebung, S. 308. Hampton: Forgiveness, resentment and hatred, S. 83.
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Sicht auf sich selbst. Die Reue ist für das Opfer ein Hinweis, dass sich die Sicht des Täters auf die Tat geändert hat und also Gründe vorliegen, das eigene Urteil über den Täter zu ändern. Wenn ich jemandem verzeihe, dann gebe ich nicht mein Urteil über die Tat auf, sondern ich ändere meine Beurteilung des Täters, gerade weil er mit mir mein unverändertes Urteil über die Tat teilt. Erst auf der Grundlage dieses Vertrauens in seine moralische Umkehr gelangt die Wiederaufnahme unserer Beziehung in den Bereich des Möglichen. Als Folge eines Verzeihungsangebotes des Opfers an den Täter ist die Bitte um Verzeihung eine andere als die Bitte, die sich der selbständigen Einsicht des Täters verdankt. 210 Das in Arendts Gedanken auszumachende Schema über den Ablauf des Verzeihungsgeschehens scheint, ohne das sich das im Blick auf die Quellen mit Sicherheit sagen lässt, ein zeitliches Nacheinander von Reue, Bitte und Gewährung festzulegen. Dass es auch eine Kraft des Handelns ist, Auslöser von Reue und ihren Folgen zu sein, hat in ihren Überlegungen keinen angemessenen Platz. Diejenigen, die zur Reue unfähig sind, gelten ihr als unverzeihliche Menschen, wie man in ihrer Diktion präzise sagen müsste, weil das Ehrenprädikat »Person« bei ihr nur denen zukommt, die jenes sokratische Selbstgespräch mit sich führen. Das ist nicht weniger als die Ausgemeindung solcher Täter aus der Gemeinschaft handlungsfähiger und moralischer Menschen, die dem Wesen der Verzeihung zutiefst widerspricht und erneut die innere Widersprüchlichkeit von Arendts Begriff des Unverzeihlichen zutage fördert. Arendt kann sich von solchen Tätern nur abwenden oder, wie bei Eichmann, eine Strafe aus Verlegenheit anwenden; aus Verlegenheit, weil in ihrer Sicht der Dinge die retributive Strafe genauso wie das Verzeihen bei einem moralisch unmündigen Menschen schlechterdings nicht ankommen kann. Von der Idee eines Verzeihungsangebotes durch das Opfer aus kann man Arendts Einseitigkeiten in der Hinsicht korrigieren, dass nun auch das Opfer als Initiator des Verzeihungsgeschehens denkbar ist. Wenn man die Andeutungen über das zeitliche Verhältnis der Elemente des Verzeihungsgeschehens bei Arendt kassiert, kann man das ohne Abstriche an der Systematik ihrer Skizze zu einer Theorie des Verzeihens tun, weil ihre konstitutiven Bedingungen der Wahr210 Die folgenden Erläuterungen treffen mit wenigen Veränderungen auch für den Fall zu, wenn nicht das Opfer ein vorangehendes Verzeihungsangebot macht, sondern ein Dritter den Täter von seiner Schuld, der Notwendigkeit der Reue und der Bitte um Verzeihung überzeugt und er sich daraufhin an sein Opfer wendet.
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heit, des Unrechtsbewusstseins und der Verantwortungsübernahme auch in der auf das Angebot folgenden Reue und Bitte um Verzeihung aufgehoben sein können. Gleichwohl ändert das nichts am Unterschied zwischen der Befehls- und der Frageform der Verzeihungsbitte, an der Vorzugswürdigkeit der selbständigen gegenüber der vom Opfer herbeigeführten Reue. Die »difference in moral fineness between forgiveness that precedes and forgiveness that follows repentance« liegt auf der Hand. 211 Zeitlich folgende Reue verstärkt die Ausgesetztheit der Reue wegen ihrer prinzipiellen Unbeweisbarkeit, dass sie trotz tätiger Beglaubigung niemals dem Verdacht entgehen kann, nicht aufrichtig zu sein. Insofern ist die vorangehende Bitte um Verzeihung selbst schon ein Zeichen des guten Willens des reuigen Täters, weil sie das bessere Mittel dafür ist, die Ambivalenz der Reue in der konkreten, durch die Tat belasteten Beziehung in den Griff zu bekommen. Hingegen sind das Nicht-mehr-Bezichtigen des Verzeihens und das sich darin ausdrückende Vertrauen des Opfers in die moralische Umkehr des Täters eine weitaus schwierigere Aufgabe, wenn sich das Opfer fragen muss, ob der Täter nach einem Verzeihungsangebot nur bereut hat, um sozialen Erwartungen zu entsprechen oder seine Ruhe zu haben. Das Risiko des Verzeihung Anbietenden, dass er nicht wissen kann, ob sein Mut belohnt werden wird, verstärkt sich in diesem Fall um ein erhebliches Maß. 212 b Die Gewährung von Verzeihung Die Gewährung von Verzeihung ist in Entsprechung zur Bitte als die Anerkennung dessen zu verstehen, worum in der Bitte um Verzeihung gebeten wird, nämlich um Anerkennung der Selbstkritik und der moralischen Umkehr. Und wenn die Bitte um Verzeihung mit tätiger Reue einhergeht, dann wird im Idealfall der Verzeihung Gewährende unter Berücksichtigung der Ambivalenzen der Reue und der Entschädigung diese Bemühungen des Täters als Teil der Wiederherstellung einer moralischen und sozialen Symmetrie begreifen. Scarre: After Evil, S. 62. Dieses Risiko des Verzeihenden umfasst ferner die Möglichkeit, dass der Täter die Annahme des Verzeihungsangebotes ablehnt, also nicht bereut und nicht nachholend um Verzeihung bittet. In diesem Fall ist die Verzeihung, wie Derrida sagt, nicht angekommen; siehe JV, 14,1; siehe die Gegenthese bei Crespo: Verzeihen, S. 92–97; Kodalle (AT, 34); Wimmer: Schuldvergebung, S. 121. 211 212
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Diese Gewährung ist der Punkt im Verzeihungsgeschehen, der es dem Opfer ermöglicht, seine Empörung, Gegenstand dieser moralischen Verletzung geworden zu sein, nicht mehr aus Gründen der Selbstachtung pflegen zu müssen. Der Zusammenhang von Reue und Bitte um Verzeihung ist der Grund, weshalb der moralische Ärger abflauen kann. Zumindest ist ein Anfang gemacht. Zu mehr ist die Bitte um Verzeihung nicht in der Lage. Sie stammt aus der Reue und ihrer Wiederanerkennung des Opfers als einer gleichrangigen Person durch den Täter, aber sie betrifft allein die Anerkennung der Umkehr des Täters durch das Opfer. Und dementsprechend kann sie der Anlass sein, dem Täter seine Tat nicht mehr moralisch übelzunehmen und sie ihm, in der Sprache Arendts, nicht mehr vorhalten zu müssen. Diese Gegenstandsbeschränkung der Bitte um Verzeihung zeigt, warum die Verzeihung durch das Opfer auch mit den weiterhin bestehenden negativen Gefühlen zusammen bestehen kann. Konstitutiv für das Gelingen des Verzeihungsgeschehens ist allein das Ende des moralischen Ärgers. Hielte das Opfer dem Täter kontinuierlich Tat und Schuld vor, wäre der Akt der Verzeihung in sein Gegenteil verkehrt, wäre er doch so ein Immer-weiter-Bezichtigen. Aber der Akt der Verzeihung selbst äußert sich weder zur Trauer des Täters, dass er solches getan hat, noch zum möglicherweise andauernden Leiden des Opfers. Es geht ihm um die Wiederherstellung einer moralischen Symmetrie, aus der Richtung des Opfers und seines erlittenen Unrechts und aus der Richtung des Täters, der seine moralische Integrität durch die Tat in Zweifel gezogen hat. Die gemeinsame Geschichte, die vorher Bestand hatte oder die vielleicht aus der Tat entstehen könnte, ist nicht Gegenstand des Aktes der Verzeihung. Erst wenn diese in den Blick gerät, stellt sich die Frage der Resentment-Theorie nach der Notwendigkeit überwundener schlechter Gefühle schlechthin. Wenn die Reue die moralischpersonale Dimension der Beteiligten betrifft, dann befähigt sie die Menschen im besten Fall dazu, mit der Schwierigkeit umzugehen, dass die Zeit zum Arrangement mit den körperlichen und seelischen Folgen der Tat nicht dieselbe Zeitspanne umfassen muss, die es zur gegenseitigen Versicherung der persönlichen Vertrauenswürdigkeit braucht. Selbst wenn die Integration der körperlichen, seelischen und moralischen Tatfolgen zur beiderseitigen Zufriedenstellung gelingt, ist die Maximalbedingung der Resentment-Theorie dem wirklichen Leben zwischen Menschen fremd. Denn die Erinnerung an A
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vergangene Untaten und die mit ihr verbundenen Gefühle sind nichts, was sich beherrschen ließe. Mit dem Vollzug der Verzeihung kann nicht das Ende der Wiederaufbauarbeit von Opfer und Täter erklärt werden. Anders gesagt: Die Lebensdimensionen der Psyche und der Moral sind mittels der Verzeihung nicht zur Deckung zu bringen. Wer verziehen hat, kann und darf trotzdem weiter an der Tat leiden. Und wem verziehen worden ist, der kann und darf trotzdem noch bereuen, dass er solches getan hat. In dieser Hinsicht gilt, was Laurence Thomas auf das Opfer beschränkt, für Opfer und Täter: »It is not possible to predict how a wrong […] will impact upon a victim’s life. […] But it generally takes time before it is clear as to what the impact will be.« 213 Das zeigt uns zum wiederholten Male die Zerbrechlichkeit des Verzeihens beziehungsweise des uns in der Verzeihung Zugesprochenen. Denn der Ärger des Opfers oder der Groll des Täters gegen sich selbst sind durch eine Wiederholung der Tat oder durch andersartig ausgelöste Erinnerungen an die Tat immer erneuerbar. Deshalb ist auch für den moralischen Ärger nicht von seiner Überwindung, sondern von seiner Zähmung als konstitutiver Bedingung des Verzeihens zu sprechen. Das passt zum einen besser dazu, dass das Vertrauen des Verzeihens ein vorlaufendes Vertrauen ist. Und es berücksichtigt auch den Umstand, dass man über seine Gefühle nicht einfach Herr ist. In der Gewährung von Verzeihung drückt sich in direkter Entsprechung zum Inhalt der Bitte um Verzeihung kein moralischer Größenwahn des Opfers aus. Und weil das Verzeihen nicht am Ende eines ganzheitlichen Bewältigungsprozesses des fraglichen Geschehens steht, dessen Ende weder für das Opfer noch für den Täter absehbar ist, wird das Opfer auch nicht in einem Hochgefühl des Hinter-sich-Gebracht-Habens Verzeihung gewähren, sondern das Opfer verzeiht im Blick auf die moralische Umkehr des Täters. Was das für den begrifflichen Gehalt der Gewährung von Verzeihung bedeutet, hat Spaemann in eine aufschließende Formulie213 Laurence Thomas: Forgiving the Unforgivable?, in: Eve Garrard/Geoffrey Scarre (Hg.): Moral Philosophy and the Holocaust, Aldershot u. a. 2003, S. 201–230, hier S. 212; vgl. zur Ungleichzeitigkeit von Verzeihung und Überwindung der tatverbundenen Gefühle, die alle Verfechter der radikalisierten Resentment-Theorie übersehen (siehe Kapitel 7.a), auch Nir Eisikovits: Forget Forgiveness. On the Benefit of Sympathy for Political Reconciliation, in: Theorie 52 (2004), S. 31–63, hier S. 34 f.; Scheiber: Vergebung, S. 304 f.
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rung gefasst, die zugleich den Blick auf einige Konsequenzen aus dieser Definition der Gewährung von Verzeihung wirft: Die Zusage der Verzeihung ist nämlich »die Erlaubnis der inneren Distanzierung« (P, 249) des Täters von seiner Tat. Erlaubnis scheint ein zu starkes Wort für den angesprochenen Vorgang zu sein, wenn man bedenkt, dass die Reue schon jene Distanzierung ist und in der Bitte um Verzeihung nur um die Anerkennung dieser Abstandnahme gebeten wird. Weshalb es dennoch sinnvoll ist, von einer Erlaubnis zu sprechen, kann im Zuge zweier noch ausstehender Zusätze zur Gewährung von Verzeihung erklärt werden. 214 (i) Das Vorrecht und die Pflicht zu verzeihen Der erste Zusatz zur Gewährung von Verzeihung besagt, dass es kein Recht des Täters auf Verzeihung gibt. Das Opfer kann nicht zur Verzeihung verpflichtet werden. Der Täter muss um Verzeihung in dem Bewusstsein ersuchen, dass seine Bitte vergebens sein könnte. Er muss sich »dem Risiko einer Zurückweisung aussetzen.« (RV, 145) Denn wer um Verzeihung bittet, weiß, dass er kein Recht darauf hat. Sonst müsste er nicht darum bitten, sondern könnte sich die Verzeihung einfach nehmen, sie sich selbst gewähren, wie es die sogenannte Selbstverzeihung des Täters tut. Diese Ausgesetztheit des Täters ist es, die Kodalles Klage über die Selbstentblößung motiviert und ihn an »Zeiten intakter Beichtpraxis« denken lässt, in denen der Schuldige seine Schuld vor Gott bringen und befreit davongehen konnte, vielleicht mit der Auflage der Wiedergutmachung. Heute hingegen, in der säkularisierten Welt – und das ist für Kodalle ein Verlust – »bleibt der Schuldiggewordene, wenn er denn nicht an seiner Schuld ersticken will, an das Opfer verwiesen, dem er seine Schuld einzugestehen hat.« (AT, 31, FN 22) An solchen Überlegungen zeigt sich zum einen der Nachteil, nicht zwischen Verzeihen und Vergeben, hier Sündenvergebung, zu unterscheiden (siehe AT, 4), denn so ließe sich die Vereinbarkeit von zwischenmenschlicher Verzeihung und Sündenvergebung begründen. Zum anderen ist in dieser Klage zumindest aufgehoben, dass die Gewährung der Verzeihung genauso wie die Bitte um Verzeihung 214 Ich erläutere diese beiden Zusätze über das Vorrecht und die Pflicht zu verzeihen und die stellvertretende Verzeihung für die Gewährung der Verzeihung und setze dabei voraus, dass sie sich auch für die Bitte um Verzeihung durchführen lassen.
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(die in Kodalles Überlegungen keinen Platz hat) in die Freiheit des jeweils handelnden Menschen gestellt ist. Von einer persönlichen Pflicht zur Gewährung von Verzeihung lässt sich unter diesen Umständen nicht sprechen. Und die Verzeihungsbereitschaft ist ein Gebot der praktischen Vernunft, das um die existentielle Verschuldung und das unausweichliche Scheitern praktischer Selbstbestimmung des handelnden Individuums weiß. In diesem Bewusstsein können wir sie zu einer persönlichen Haltung ausbauen, auf die wir gegebenenfalls zurückgreifen können. Aber im Übrigen bleibt der Verzeihende – und auch der um Verzeihung Ersuchende – »moralisch frei.« 215 Aus der existentiellen Verschuldung und der persönlichen Verzeihungsbereitschaft folgt keine individuelle Verpflichtung, auf deren Erfüllung der Täter pochen könnte. Das machte aus der Verzeihung eine Entschuldung oder eine Duldung. Demgegenüber ist sie, wie sich mit Derridas Kritik an der ökonomischen Verzeihung und im Einklang mit seinem moralischen Ernst der Verzeihung sagen lässt (vgl. JV, 16,3), kein Geschäft, in dem der eine bereut und gegebenenfalls entschädigt und so die Gegenleistung der gewährten Verzeihung einkauft. Man kann die Freiheit des Opfers, die Verzeihung zu verweigern, und den zugleich bestehenden Anspruch des Täters auf Achtung seiner moralischen Person auch für das Verzeihungsgeschehen zusammenführen, wenn man sich weiter an die Entdramatisierung der abgelehnten Verzeihung macht. Denn diese Ablehnung und ihre befürchteten Folgen (immer in der alleinigen Orientierung am Täter) stehen im Hintergrund einer postulierten Pflicht zur Verzeihungsgewährung und der übertriebenen und zugleich zum Verzeihen hypostasierten Asymmetrie in der Bitte um Verzeihung. Was also geschieht genau in der Verzeihungsverweigerung des Opfers? 215 Wimmer: Schuldvergebung, S. 116; vgl. Lohmann: Verzeihen, S. 195–197. Der »forgiving spirit«, von dem Horsbrugh: Forgiveness, S. 281, spricht und zu dem die »forgivingness« von Roberts: Forgivingness, S. 290–293, ein Nachklang ist, hat mit dieser Haltung nichts gemein. Er benennt viele Gründe für den »forgiving spirit«, den es zu optimieren gelte, so dass »a perfectly forgiving person has no occasion to forgive since he is animated by such a forgiving spirit that no conceivable injury can destroy his goodwill or give rise to feelings of resentment or hostility towards his injurer«; Horsbrugh: Forgiveness, S. 281. Diese Steigerung der bereits radikalisierten Resentment-Theorie von Richards: Forgiveness, S. 77–79, kennt nicht einmal mehr das Übelnehmen. Sie ähnelt der säkularen Form der Nächstenliebe, die sich aller Moralität und Pluralität entledigt hat und die Arendt gegenüber Auden zu Recht mit den Worten kritisierte, dass sie »impertinent, or at least conceited« (HA/WA, 004864) sei; siehe dazu Kapitel 3.b.g.
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Arendts Freiheit und Ungerechtigkeit des Verzeihens, die in Erweiterung ihrer Gedanken auch für die Entscheidung des Täters für oder gegen die Bitte um Verzeihung gilt, macht die Verweigerung von Verzeihung möglich und stellt sie in das Ermessen des Einzelnen. Die Beteiligten können sich dafür entscheiden, die Geschichten enden zu lassen. Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil allzu oft das Scheitern der Verzeihung allein dem Opfer angelastet wird. Wie sich mit Arendts Verzeihensbegriff aber zeigen lässt, liegt die Möglichkeit, die Verzeihung scheitern zu lassen, ebenso bei dem Täter. Unverzeihlichkeit ist auch als Untugend auf der Täterseite zu verorten. Dementsprechend müsste sich bei denen, die von einer Pflicht zur Gewährung von Verzeihung sprechen oder diese unterstellen, auch eine Pflicht zur Bitte um Verzeihung ergeben. Danach sucht man aber vergebens, hier regiert die widersprüchliche Nachsicht mit dem Täter, die überdies von der Verzeihung nicht hinreichend unterschieden wird. Die fehlende Verzeihungsbereitschaft des Täters, die für das Opfer der aufgezwungene Verzicht auf die Wiederherstellung der moralischen Symmetrie ist, bezeichnet daher eine weitere Blindstelle der Theorien unbedingten Verzeihens. Die Abstandnahme von der Verzeihungsgewährung muss nicht per se Ausfluss moralischer Verstockung sein. Sie kann ihren Grund in einem so schweren Leid haben, dass es dem Opfer körperlich und/ oder seelisch unmöglich ist, je die Distanz zu der fraglichen Tat zu gewinnen, um Verzeihung überhaupt erwägen zu können. Mit der »Freude am Aburteilen« (AT, 32) kommt man den Fällen nicht bei, »in denen die Opfer mit der Haltung des Nichtverzeihens besser leben können«, 216 sondern verkennt das mögliche Ausmaß des Leids. Umgekehrt kann auch der Täter in solch hemmende Scham verfallen, dass ihm die Bitte um Verzeihung nicht mehr als gangbarer Weg erscheint. In der Bitte um Verzeihung jedenfalls muss der Täter »in Geduld, Demut und Vertrauen« 217 ausharren. Die Entscheidung für das Ende der Geschichte ist nicht gleichbedeutend mit der verweigerten Verzeihung. Das Leid oder die Scham können sich so auswirken, dass die Beteiligten noch in der Lage sind, sich über die Tat auf dem Wege der Verzeihung zu verständigen, aber ihre Beziehung doch so sehr unter dem Eindruck des Geschehens 216 Peter Kutter: Lösbare, ungelöste und unlösbare Schuldgeschichten. Bemerkungen eines Psychoanalytikers zu Schuld, Schuldgefühlen und Verzeihen, in: Finsterbusch/ Müller (Hg.): Das kann ich dir nie verzeihen, S. 18–33, hier S. 31 f. 217 Wimmer: Schuldvergebung, S. 117.
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wahrnehmen, dass sie sich nicht in der Lage dazu sehen, gemeinsam aus diesem Schatten herauszutreten. Auch das wäre ein denkbares Ende ohne das, woraufhin Verzeihung üblicherweise erbeten und gewährt wird: die künftige und gelingende Beziehung, anders gesagt: ohne Versöhnung (siehe dazu Kapitel 9). Aber wenn jene Verweigerung auch jenes Ende bedeutet, dann ist – das ist der entscheidende und schon angeklungene Punkt – nur die Geschichte zwischen dem Täter und seinem Opfer beendet. Das gilt auch für den Fall, dass es sich nicht um Beziehungstaten handelt. Dann verstehen wir allein die Tat als gemeinsame Geschichte, die kein Vorher und kein Nachher hat. Mehr kann in der verweigerten Verzeihung nicht ausgesagt werden. Denn das Opfer kann schlicht und ergreifend kein endgültiges Urteil über die moralische Personalität des Täters überhaupt fällen. Die Erlaubnis, von der Spaemann spricht, reicht nicht über beider Beziehung hinaus. Erlaubt das Opfer, darf sich der Täter in dieser einen Beziehung wieder als moralisch gleichrangige Person engagieren; die Fähigkeit dazu ist ihm jedoch auch ohne diese Erlaubnis gewiss. Das Opfer kann mit seiner Verweigerung nicht aussagen, dass der Täter schlechterdings und für alle Zeiten etwa ein Betrüger und sonst weiter nichts bleiben wird, sondern es kann nur mitteilen, dass es für sich beschlossen hat, dass der Täter aus seiner Perspektive immer ein Betrüger bleiben wird. Das Opfer nimmt also dem Täter nicht seine moralische Vertrauenswürdigkeit und seine Handlungsfähigkeit, sondern es spricht ihm diese nur in Bezug auf beider Verhältnis ab. Umgekehrt ist eben die Gewährung auch nur die avisierte Heilung der moralischen und nur der moralischen Beziehung zwischen beiden. Und in der erneuten Umkehrung des Blickes wird dem Täter durch die Weigerung nur die Möglichkeit genommen, sich in dieser und nur in dieser Beziehung als jemand zu bewähren, der mehr ist als ein Betrüger. Sollte das Opfer sich anmaßen, dem Täter generell die moralische Achtungswürdigkeit abzusprechen, dann darf sich der Täter nicht nur abwenden, sondern dann sollte er dies aus Gründen der Selbstachtung tun. Denn solche Selbstüberhebung »constitutes an abuse of the permission-giving role he [das Opfer, T. D.] is in, and B [die Täterin, T. D.] not only can but should declare her own fresh start.« 218 Wie schon beim inneren Zusammenhang von Reue und Verzei218
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Harvey: Forgiving, S. 218.
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hung (nicht Vergebung) ist es die jüdische Tradition, die ein weitaus genaueres Gespür für die Pluralität des menschlichen Lebens bewahrt als die unbedingte Sündenvergebung im Christentum. Gerade weil dieses den Fall der Verzeihungsverweigerung nicht bedenkt, muss es sich Arendts Diktum gefallen lassen, dass es der Tatsache der Pluralität nicht hinreichend Beachtung schenkt, sondern sich in das nicht den Mitmenschen zugewandte Füreinander der Güte (vgl. VA, 220) verabschiedet – im Unterschied zu dem Miteinander, das die eigentliche Weise ist, sich in der Pluralität zu halten. So unerbittlich die Mischna nämlich auf der Bedingung der Reue beharrt, so schreibt sie dem Täter gerade deswegen Regeln seiner Verzeihungsbitte vor, weil sie um die Möglichkeit der Verzeihungsverweigerung weiß. Diese Regeln bürden dem Täter die Verantwortung für den Ausgleich mit seinem Opfer auf. Und es ist diese Regelhaftigkeit, die die Festschreibung des Täters in der Position des anhaltend Gedemütigten verhindert, in der ihn die Verfechter der unbedingten Verzeihung sehen. Sollte der Täter auf sein verzeihungsunwilliges Opfer treffen, das sich nicht von seiner Reue und seinen Entschädigungsbemühungen besänftigen lässt, dann ist er aufgefordert, eine erste und wenn notwendig auch eine zweite und dritte Gruppe von je drei Freunden mit zu seinem Opfer zu bringen und jeden einzelnen seine Verzeihungsbitte für ihn wiederholen zu lassen. Wenn das Opfer auch dann in seiner Hartherzigkeit befangen bleibt, hat er seine Schuldigkeit getan und das Opfer sieht sich dem Vorwurf der Unverzeihlichkeit ausgesetzt. Die Mischna bildet in diesen Regeln die Reichweite der Verzeihungsverweigerung genau ab: Denn auf die Reue und Entschädigung folgt die Verzeihung unter Berücksichtigung der Möglichkeit des Nicht-Ausheilens von Leid, weil die Mischna nämlich im Falle der Verzeihungsverweigerung des Opfers den reuigen und bittenden Täter gerechtfertigt und befreit von dannen ziehen lässt und ihm einen Weg eröffnet, mit dieser in ihrer Reichweite beschränkten Unverzeihlichkeit umzugehen. Die Bringschuld ist nun aufseiten des Opfers, das sich insofern zum Täter gemacht hat, als es dem ehemaligen Täter die Anerkennung seiner moralischen Umkehr in Reue und ihrer Beglaubigung verweigert. Der Täter hingegen darf sich, nach Ableistung seiner Täterpflichten, wieder als anerkannter Teil jener Gemeinschaft betrachten, aus der er sich durch seine Tat selbst herausgestellt hatte. 219 219
Siehe dazu Gibbs: Returning, S. 86–89; Newman: Quality, S. 160. Dass die jüdische A
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Die unbesehene Pflicht zu verzeihen kann hingegen die Tatsache, dass Menschen sich der Verzeihung verweigern, nur als Untugend der Unversöhnlichkeit ansehen. Das wird der Bandbreite dessen, was Menschen einander antun, und seiner Folgen nicht gerecht. Und weil die Wiederherstellung der moralischen Integrität allein am Urteil des Opfers festgemacht wird und dementsprechend für den Täter alles an der gewährten Verzeihung hängt, kann es keinen Begriff des Unverzeihlichen für die Vertreter einer Pflicht zu verzeihen geben. Damit wäre aber das Recht des Einzelnen abgeschafft, zu entscheiden, was für ihn verzeihlich ist und wann für ihn das Unverzeihliche beginnt. Und es ginge auch die Fähigkeit des Verzeihens verloren, dass es in der verweigerten Verzeihung eine Möglichkeit an die Hand gibt, bestimmte Handlungen oder Verhaltensweisen unmissverständlich als inakzeptabel zu kennzeichnen. Wegen der Notwendigkeit der Bitte um Verzeihung und der Freiheit des Opfers kann die Theorie des Verzeihens keine Vorschriften darüber machen, was verzeihlich und was unverzeihlich ist. Um Arendts Bezug auf das Märchen von Ritter Blaubart erneut aufzunehmen, scheitert die Begründung einer Pflicht zu verzeihen im Unterschied zu einer Pflicht zur Verzeihungsbereitschaft daran, dass wir dem Einzelnen nicht vorschreiben können, wann für ihn der Tatbestand der Blaubärtigkeit erfüllt ist. Wann sich jemand an einem Mitmenschen auf eine solche Weise verschuldet, dass es diesem nicht mehr möglich ist, künftigen Umgang mit jenem zu pflegen, können weder Philosophen im Sinne moralischer Gebote festsetzen noch Opfer vorher wissen. Vielleicht ist sich jemand sicher, dass für ihn Ohrfeigen einen anderen schon zum Blaubart machen, während ein anderer auch bereit ist, Tätern weitaus schwerwiegenderer Taten zu verzeihen. Aber wie er sich verhalten wird, kann keiner der beiden vorhersagen. Tradition für die Einhaltung der Regeln zur Vergebungsbitte die zehn Tage der Umkehr zur zwischenmenschlichen Versöhnung und Entfeindung vor Jom Kippur vorsieht und an diesem Tag der Versöhnungen erst die Versöhnung zwischen den Menschen und dann die davon abhängende Versöhnung zwischen Gott und dem Menschen vollzieht, ist weniger eine »traurige Lektion«, sondern ein weiterer Beleg für ihre Lebensklugheit, dass die Verzeihung/Versöhnung zwischen Menschen eine ungleich längere und schwierigere Angelegenheit ist als die zwischen Gott und Mensch; siehe Pinchas Lapide: Umgang mit Schuld im Alten Testament, in: Gerd Haffner (Hg.): Schuld und Schuldbewältigung: Keine Zukunft ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Düsseldorf 1993, S. 116–126, hier S. 121.
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Jene Restitution des Täters aber kann auch auf anderen Wegen gelingen als auf dem der Verzeihung, auf dem er in der Tat auf die Verzeihungsbereitschaft seines Opfers angewiesen ist. Worauf der unverziehene Täter verzichten muss, ist die Bestätigung seiner moralischen Umkehr durch das Opfer. Anderen Menschen gegenüber kann er sich als ein anderer zeigen und bewähren und so auch jene für ihn unerläßliche Bestätigung erlangen. Diese anderen Menschen sehen in ihm mehr als den Betrüger oder den Mörder, der er auch ist. Das mag in vielen Fällen für die betroffenen Täter zu wenig sein, aber es ändert nichts daran, dass sein verzeihungsunwilliges Opfer ihm nur dies gesagt hat: Für mich bist du ein Blaubart, und hier endet unsere Geschichte, nicht deine Geschichte schlechthin, sondern unsere gemeinsame Geschichte. Der Schmerz, den solches im Übrigen für Täter und Opfer bedeuten kann, soll hier nicht verschwiegen werden, aber er rechtfertigt es nicht, die Verzeihungsgewährung als eine Pflicht zu bestimmen. Damit ist nach der Hypostasierung der Bitte um Verzeihung und der vom Täter selbst geleisteten Überwindung seiner Entwürdigung mit der Einschränkung der sozialen Reichweite der Verzeihungsverweigerung der dritte Grund benannt, weshalb die Dramatisierung der Bitte aus der Perspektive des Täters (vgl. AT, 31) nicht überzeugen kann. Sie führt innerhalb des Verzeihungsgeschehens zu folgenreichen Einseitigkeiten und sie ist überdies nicht in der Lage, seinen sozialen Rahmen in seinen Auswirkungen auf den Gesinnungswandel des Täters zu berücksichtigen, dem auch andere Felder der Bewährung als nur die Beziehung zu seinem Opfer zur Verfügung stehen. 220 Um diese Gedanken sind Spaemanns Überlegungen zur abgelehnten Bitte zu ergänzen. Weil dem unverziehenen Täter eben die Erlaubnis zu jener Umkehr in der Reue nicht erteilt worden sei, bliebe ihm nichts anderes übrig, als diese Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung zu machen und »wie man zu sagen pflegt, ›zu seiner Tat zu stehen‹.« (P, 249) Ob das mit dieser Redewendung gemeint ist, sei dahingestellt. Aber die Umwertung seiner Person kann dem Täter vom Opfer nur in seinem Verhältnis zum Opfer verboten werden. Es besteht kein Anlass, die Erlaubnisverweigerung zum Fundament 220 Siehe für die Gegenthese, dass verweigerte Verzeihung ein globales und endgültiges Urteil über den Täter sei, Govier: Forgiveness and Revenge, S. 117 f.; Kodalle: AT, 31, 71; Murphy: Forgiveness and Resentment, S. 17; Scheiber: Vergebung, S. 298–310.
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eines trotzigen oder selbstmitleidigen Selbstverständnisses zu machen. (ii) Stellvertretende Verzeihung Der zweite der angekündigten Zusätze zur Gewährung von Verzeihung besagt, dass es keine stellvertretende Verzeihung für den Täter geben kann. Wenn das Opfer sich weigert, für den Täter nicht erreichbar ist oder nicht verzeihen kann, weil es tot ist, muss der Täter auf Verzeihung verzichten. Wenn wir das Recht des Opfers, dem Täter die Erlaubnis zur moralischen Umwertung zuzugestehen oder zu versagen, auf die Beziehung zwischen beiden beschränken, ist nur dem Missbrauch dieses Rechtes durch das Opfer selbst Einhalt geboten, sofern es die Reichweite seines Rechtes auszudehnen versucht. Eine zweite Form des Missbrauches ist die unstatthafte Aneignung dieses Rechtes durch Personen, denen die Befugnis zu verzeihen nicht zukommt. Damit ist die Frage gestellt, wer innerhalb des Verzeihungsgeschehens Opfer ist und wer nicht. In Fjodor M. Dostojewskis Die Brüder Karamasow erzählt Iwan Karamasow seinem Bruder Aljoscha eine Geschichte, in der sich alle in dieser Sache zu bedenkenden Probleme zeigen. Ein Gutsherr lässt, zu Zeiten der Leibeigenschaft, den etwa achtjährigen Sohn einer Gesindefrau bestrafen, weil dieser beim Spielen den Lieblingshund des Gutsherrn versehentlich mit einem Stein verletzt hat. Der Hund hinkt und ist nicht mehr für die Jagd zu gebrauchen. Der Junge wird über Nacht eingesperrt und am nächsten Morgen vor den Augen seiner Mutter und des Hofgesindes von der Meute der übrigen Jagdhunde auf Befehl des Gutsherrn und zur Belehrung der Umstehenden zu Tode gehetzt und in Stücke gerissen. 221 Wer ist befugt, dem Gutsherrn im Fall der Fälle Verzeihung zu gewähren? Wenn jemand mir eine Ohrfeige schlägt, bin ich persönlich betroffen. Meine Freunde, die Zeugen dieser Tat sind, sind nicht persönlich, wohl aber moralisch betroffen, weil sie sich in eine moralisch-wertende Beziehung zur dieser Tat setzen können. Persönliche Betroffenheit aber kann man ihnen deswegen nicht attestieren, weil »die Gefühle, Haltungen und Reaktionen […] aus der moralischen Betroffenheit […] von jenen […] der persönlichen Betroffenheit« un221 Fjodor M. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen v. Swetlana Geier, Zürich 1994 (russ. Original 1879/1880), S. 390–392.
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terschieden sind. 222 Unmittelbar einsichtig ist, dass persönliche Betroffenheit fast immer moralische Betroffenheit einschließt, während moralische ohne persönliche Betroffenheit Bestand haben kann. Von der Politik des südafrikanischen Apartheid-Regimes waren die Bürger der Bundesrepublik Deutschland vielleicht moralisch betroffen, aber nicht persönlich; unter der Unterdrückung haben andere gelitten. Wenn es in der Gewährung von Verzeihung um die Erlaubnis zur Wiederherstellung der moralischen Integrität in der Beziehung zwischen Täter und Opfer geht, ist daher persönliche Betroffenheit auf beiden Seiten des Geschehens eine konstitutive Bedingung. Persönliche Betroffenheit allein ist aber kein hinreichender Grund dafür, Verzeihungsgeschehen in Gang zu setzen. Man muss zugleich von einer moralischen Verletzung betroffen sein. Nachrangig ist ferner, ob der Grund moralischer Betroffenheit in einer direkten oder indirekten Handlungsfolge zu suchen ist. Entscheidend ist für das Zustandekommen von Verzeihung, dass es sich um die absichtsvolle Tat eines freien und verantwortlichen Akteurs handelt. Ließe sich das Geschehen nicht in Begriffen persönlicher Schuld und Verantwortung beschreiben, gäbe es nichts, was zu verzeihen wäre, sondern nur etwas, das man etwa entschuldigen könnte. Für die Interpretation von Iwan Karamasows Geschichte ergibt sich, dass der Tod des Jungen »direkte Handlungsfolge« und das Leid der Mutter »indirekte Handlungsfolge[]« aus dem Befehl des Gutsherrn ist. 223 Die persönliche Betroffenheit von einer moralischen Verletzung, gleich welcher Art, kann also in Bezug auf die Handlung und ihre Folgen direkter und indirekter Natur sein. Was überhaupt der Verzeihung zugänglich ist, ist der Bereich, in dem ich direkt oder indirekt von einer moralischen Verletzung persönlich betroffen bin. 224 Was also kann die Mutter verzeihen? Sie ist nicht von den Hunden in Stücke gerissen worden. Sie ist gezwungen worden, dem fürchterlichen Tod ihres Kindes zuzusehen. Die indirekte Folge, im UnterScheiber: Vergebung, S. 235; vgl. zum Folgenden ebd., S. 230–241. Ebd., S. 239. 224 Vgl. neben Scheiber für diese den Resentment- und Reframing-Theoretikern der Selbstverzeihung nicht thematische (vgl. Kapitel 4.f) und restriktive Definition des Rechtes auf Verzeihungsgewährung Arendt (siehe Kapitel 3.b), Derrida (CF, 42), Jankélévitch (V, 275), Ricœur (RV, 145; GGV, 753–759), Spaemann (P, 248) und ferner Crespo: Verzeihen, S. 57; Downie: Forgiveness, S. 128; Golding: Forgiveness, S. 133 f.; Harvey: Forgiving, S. 220 f.; Berel Lang: Forgiveness, in: APQ 31 (1994). S. 105–117, hier S. 107; Murphy: Forgiveness and resentment, S. 21; Novitz: Forgiveness, S. 302. 222 223
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schied zur direkten Folge aus dem Befehl des Gutsherrn, ist ihr Leid: das Mit-Erleiden des Leides ihres Sohnes und die Geringschätzung ihr selbst gegenüber, dem Geschehen beiwohnen zu müssen. Diese indirekte Folge, das Leid der Mutter, nahm der Gutsherr billigend in Kauf oder beabsichtigte es gar. Für die Frage der Verzeihungszuständigkeit folgt, dass die Mutter dem Gutsherrn nur ihr eigenes Leid verzeihen kann, während der Tod des Jungen unverzeihlich bleibt. Iwan Karamasow hat das nicht anders gesehen: »Sie soll ihm nicht vergeben! Wenn sie will, mag sie ihm ihr Leid vergeben, mag sie doch dem Peiniger das eigene, unermeßliche Leid vergeben; aber sie hat nicht das Recht, das Leid ihres zerfleischten Knaben zu vergeben«. 225 Das hat nichts mit moralischer Vermessenheit zu tun, sondern alles damit, dass der Gutsherr den einzigen Menschen, der ihm verzeihen könnte, von den Hunden töten lassen hat. Es ist niemand mehr da, der ihm Verzeihung für den Mord an dem Jungen gewähren könnte. Und in der Tat muss sich »die Philosophie […] mit diesem« nicht weiter »bedenklichen Ergebnis« abfinden (AT, 69). Denn die Beziehung, die der am Leben Gebliebene vielleicht heilen möchte, ist unheilbar, weil sie durch den Tod des anderen beendet ist. Aus dem Kriterium der persönlichen Betroffenheit von einer moralischen Verletzung folgt also ein Vierfaches. Erstens: Nur der Täter kann um Verzeihung bitten. Denn die persönliche Schuld ist auf dem Hintergrund eines freien und verantwortlichen Handlungssubjektes unvertretbar, wie Arendt (siehe Kapitel 2.c.g) und Kant meinen: Schuld […] kann […] nicht von einem anderen getilgt werden; denn sie ist keine t r a n s m i s s i b l e Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld […], auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die a l l e r p e r s ö n l i c h s t e , nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmütig sein, […] tragen kann. 226
Dostojewskij: Die Brüder Karamasow, S. 395. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003, A88/B94 f. Siehe dazu auch Ruth Klügers Kritik an ihren deutschen Lesern, die sie an der Stelle der Schuldigen um Verzeihung bitten: »For to take on the guilt of others smacks somewhat of sainthood, and to do so in public can be a kind of sentimental self-castigation, the flip side of moral self-congratulation.« Dies.: Forgiving and Remembering, in: PMLA 117 (2002), S. 311–313, hier S. 311. 225 226
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Zweitens: Nur das Opfer kann Verzeihung gewähren, denn »[e]s steht uns nicht zu, mit dem Leiden anderer großzügig umzugehen« (SB, 133), 227 wie es die von Arendt aufs Korn genommenen und taktischen Schulderklärungen der Unschuldigen zugunsten der Schuldigen tun, die von den belegbaren Einzelheiten ablenken und in ein Dunkel ausweichen, »in dem alle Katzen grau und gleich schuldig« (EJ, 24), also unschuldig sind (vgl. Kapitel 3.b.g). Verzeihung von (und für) Tote kann es nicht geben; der Gutsherr wird ein Leben lang mit der unverziehenen Schuld am Tod des Jungen leben müssen. Ferner gibt dieser Gedanke die Perspektive vor, unter der ein mögliches politisches Verzeihen zu betrachten ist. Denn dieses ist als stellvertretende Verzeihungsgewährung lesbar und begreift sich in der Regel unter dem irreführenden Namen der Versöhnung gerade als eine solche, wie etwa die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (siehe dazu Kapitel 9). Drittens: Die Bitte muss sich an das Opfer richten. Für die Bitte an den falschen Adressaten ist die aus ihrem Briefwechsel mit Arendt bekannte Maschmann ein Beispiel, weil sie Verzeihung von Menschen zu erfahren glaubt, die an dem fraglichen Geschehen, das sie belastet, gänzlich unbeteiligt sind. Daher verwechseln diejenigen, die hier Verzeihung am Werk sehen, die persönlich empfundene Entlastung einer Täterin mit der Opferzusage, die die gewährte Verzeihung ist. Damit soll nicht bestritten werden, dass Maschmann sich aufrichtig ihrer Schuld gestellt habe (vgl. AT, 51), auch wenn der Briefwechsel mit Arendt ein differenzierteres Bild zeichnet (vgl. HA/MM). Nur lässt sich das Ganze nicht als Verzeihung kennzeichnen, weil die Opfer an dem Geschehen nicht beteiligt waren. 228 Viertens kann die Gewährung allein dem Täter gelten. An diesem vierfachen Kriterium müssen sich die Versuche messen lassen, den Opferbegriff zu entgrenzen und den Kreis der zur Verzeihung Berechtigten auszuweiten. Das Problem dieser Entgren227 Vgl. die in dem Kapitel Niemand kann vergeben, was andere erlitten in Wiesenthals Sonnenblume gesammelten Beiträge (SB, 128–152), aus denen ich Jacob Kaplans Antwort ausgewählt habe. 228 Siehe Kapitel 3.b.a; vgl. dazu Koch: Strafe, S. 78, der am Anfang dieser für die Theorie der unbedingten Verzeihung charakteristischen Fehlinterpretation steht, die Kodalle (AT, 51) und Wolfgang Lienemann: Gerechtigkeit und Versöhnung. Erinnerung erlittenen Unrechts im Kampfs um ein neues Südafrika, in: Gerhard Beestermöller/Hans-Richard Reuter (Hg.): Politik der Versöhnung, Stuttgart 2002, S. 197–230, hier S. 229, übernehmen.
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zung entsteht in Iwan Karamasows Geschichte aufseiten der Mutter. Denn die Erlaubnis, die die Gewährung von Verzeihung ist, wird nur für die Beziehung zwischen Täter und Opfer ausgesprochen und kann nur zwischen denen verhandelt werden, die Teil dieser Beziehung sind, nämlich Täter und Opfer. Immer dann, wenn ein Dritter dem Täter Verzeihung zu gewähren meint, handelt es sich darum, dass sich dieser Dritte zur möglichen Wiederherstellung der moralischen Integrität des Täters in Bezug auf seine Beziehung zum Täter äußert, aber nicht zu der des Täters zum (abwesenden oder toten) Opfer. Von der Verzeihung ist diese Handlung zum einen zu unterscheiden, weil dieser Dritte nicht zu den persönlichen, wohl aber zu den moralisch Betroffenen zählt, und zum anderen trägt sie zur Entdramatisierung der Verzeihungsverweigerung bei, weil sie dem Täter einen anderen Weg zur Versicherung seiner Umkehr aufzeigt, auch wenn für ihn die Anerkennung des Opfers ungleich höheren Stellenwert besitzt als die durch Dritte. Das lässt sich gerade aus der Geschichte von Maschmann als einem Negativbeispiel für diesen Sachverhalt herauslesen. Wo sich dieses Geschehen aber Verzeihen nennt, liegt eher die Anmaßung stellvertretend gewährter Verzeihung vor. Denn die These von den sekundären und tertiären Opfern fußt auf unterschiedlichen Intensitätsgraden in der Beziehung dieses Dritten zum eigentlichen Opfer, tauscht jedoch das Opfer in der Täter-Opfer-Beziehung durch diesen Dritten aus und überschreitet die Täter-Dritte-Beziehung so, dass die kategoriale Differenz zwischen den jeweiligen Beziehungen zum Täter infolge des Kriteriums der persönlichen Betroffenheit unterschlagen wird. Im Ergebnis maßt sie sich das Opferrecht auf Verzeihung an und entmündigt das Opfer, als dessen Anwalt sie jenen Dritten entgegen den faktischen Folgen ihrer Entgrenzung des Opferbegriffes gleichwohl versteht. 229 Der Mord an dem Jungen wäre also nur zwischen dem Jungen selbst und dem Gutsherrn zu verhandeln. Das Kriterium persönlicher Betroffenheit ist geeignet, Klarheit in die Antwort auf die Frage zu bringen, wer wem weswegen verzeiht. Aber gegen die vielfältigen Strategien, sich als Opfer zu inszenieren, bietet es keinen wirksamen 229 Siehe Govier: Forgiveness and Revenge, S. 92–95, 108 f.; vgl. ebenso Ansorge: Vergebung, bes. S. 46–49, 54–58; Piers Benn: Forgiveness and Loyalty, in: Philosophy 71 (1996), S. 369–383, hier S. 377–380; Eve Garrard/David MacNaughton: In Defence of Unconditional Forgiveness, in: Proceedings of the Aristotelian Society 103 (2003), S. 39–60, hier S. 45; Griswold: Forgiveness, S. 117–119; Haber: Forgiveness, S. 44–49.
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Schutz, sondern einen Ausgangspunkt, von dem aus man sich gegen diesen Ausverkauf des Verzeihens zur Wehr setzen kann. Wegen dieser Strategien ist es nicht hilfreich, das Verzeihen in Zusammenhang mit dem Umstand zu bringen, dass uns auch Sachverhalte aufregen, »in die wir direkt überhaupt nicht involviert sind« (AT, 70). 230 Die Schwierigkeit solchen Vorgehens wird deutlich, wenn wir uns beispielhaft vorstellen, dass sich der Verfasser im Recht sehen könnte, Mark David Chapman Verzeihung dafür anzubieten, dass er John Lennon erschossen hat und der Verfasser nun mit den wenig erfreulichen Solo-Versuchen der übrigen Beatles vorliebnehmen müsse. Das Problem entsteht dann, wenn die persönliche Betroffenheit nicht mehr so klar auf der Hand liegt wie bei der zur tatenlosen Zeugenschaft verurteilten Mutter in Iwan Karamasows Geschichte oder wenn die persönliche Betroffenheit nicht mehr von einer solchen Art ist, dass sich Verzeihung von selbst nahelegt. Eine genaue Begrenzung des Opferbegriffes ist unmöglich. An welchem Punkt das Opfersein im Sinne der indirekten Betroffenheit und die Möglichkeit zur Rechtfertigung des Verzeihungsgeschehens endet, was nicht einerlei ist, zeigt sich als eine Frage, zu deren Beantwortung mehr hinzuzuziehen ist als das Kriterium der persönlichen Betroffenheit von einer moralischen Betroffenheit. Sie verweist auf den Umstand, dass die Bestimmung dessen, was verzeihlich oder unverzeihlich ist, zuletzt immer eine persönliche Bestimmung ist, die auch angibt, wann man sich als Opfer im beschriebenen Sinne sieht und wann nicht. Dass in diese persönliche Bestimmung immer überpersönliche Maßstäbe eingehen, führt dazu, dass die Angelegenheit keine beliebige ist und Chapman selten Verzeihungsangebote von Beatles-Fans bekommen dürfte. Trotzdem ist mit der Freiheit und der Ungerechtigkeit des Verzeihens bei Arendt angezeigt, dass das Kriterium der persönlichen Betroffenheit nicht die Gefahr des Missbrauches bannen kann, die dem Verzeihen aus der unabänderlichen Unklarheit des Opferbegriffes erwächst.
230 Nebenbei sei angemerkt, dass Kodalle mit dieser Ungenauigkeit im Opferbegriff nicht für die Zusammengehörigkeit von Verzeihen und moralischem Urteilen, sondern von moralisierendem Aburteilen und der Anmaßung der Verzeihungsberechtigung argumentiert und ihn seine mangelnde begriffliche Differenzierung von Verzeihung, Nachsicht und Entschuldigung so in Bezug auf seine scharfe Kritik am moralischen Urteilen in Widersprüche verwickelt.
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g Das Verzeihen als Versprechen In seiner Bitte um Verzeihung bittet der Täter allein um die Anerkennung seiner moralischen Umkehr. Er kann diese gegebenenfalls in Wort und Tat mit all den der tätigen Reue anhängenden Ambivalenzen unterstreichen. Und es macht einen Unterschied aus, ob er dies aus eigenem Antrieb tut und welcher Form der Verzeihungsbitte er sich bedient. In seiner Gewährung wiederum gibt das Opfer zu verstehen, dass es diese Bitte für eine aufrichtige Anfrage hält und erlaubt dem Täter, im Rahmen ihrer Beziehung wieder als gleichrangiger Partner tätig zu werden. Diese beiden Handlungen konstituieren einen Dialog zwischen Täter und Opfer, der persönlich unvertretbar ist und nicht an den Tatsachen der Unrechtstat sowie des Schuldigseins des Täters und des Opfer-Seins des Opfers rührt. Jedoch ist mit dieser weiteren, dialogischen Bestimmung des Verzeihungsaktes und seines Gegenstandes noch keine Antwort darauf gegeben, inwiefern sich das Verzeihen als Heilmittel für die prinzipielle Unwiderruflichkeit des Handelns verstehen lässt. Die Reue, so hat sich gezeigt, taugt nicht dazu, die Charakterisierung als Heilmittel zu bestätigen, sondern verstärkt die Zweifel daran. Und die Untersuchung des Verzeihungsaktes selbst (Kapitel 7.c.a-b) ist diesbezüglich noch nicht der entscheidende Schritt. Aber das Wissen um den konkreten Ablauf des dialogischen Verzeihungsaktes gibt den Rahmen für die gesuchte Antwort darauf vor, von welcher Art die Handlungen der Bitte um und der Gewährung von Verzeihung sind. Anders formuliert: Was verbirgt sich hinter Arendts Freigeben und Gehenlassen der Person? Abgesehen von den sogenannten Theorien der Selbstverzeihung ist es bei allen Unterschieden oder Gegensätzen in Einzelfragen die gemeinsame Überzeugung (und bei machen die unbewusst mitgeführte Annahme), dass die Verzeihung dem Umstand Rechnung trägt, dass »[n]iemand einfach und schlechthin das« ist, »was er ist.« (P, 21) Wer Schuld auf sich lädt, hat als Person immer die Möglichkeit, »sich im Verhältnis zu dem, was er tat, neu zu definieren.« Er kann seine Tat »durch ›Umwertung‹« auf eine neue Art in seine Geschichte einfügen und so für sich im Akt der Reue in Bezug auf den konkreten Fall beanspruchen, was prinzipiell für jeden Menschen gilt: »Die Person ist immer mehr als die Summe ihrer Prädikate« (P, 248) 231 – was einmal mehr wie ein Echo auf Arendts Überzeugung 231
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Vgl. GW, 246. Spaemann hat das Verzeihen als Erlaubnis für den Täter davon abge-
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klingt, dass das Verzeihen »auf jener Ungleichheit« der Menschen besteht, »die macht, daß ein jeder Mensch mehr ist als alles, was er tut oder leistet.« (MZ, 282, vgl. ebd., 311) Und wer in der Gewährung von Verzeihung dieser grundsätzlichen Offenheit der Person im Angesicht eines Bittenden entspricht, der sagt diesem bestimmten Menschen in den einfachen und schönen Worten Ricœurs: »Du bist besser als deine Taten.« (GGV, 759; vgl. ebd., 754) Ich habe hier an der Stelle vieler anderer Spaemann und Ricœur zu Wort kommen lassen, weil sie in meinen Augen den entscheidenden Zug des Verzeihens zur Sprache bringen, der nicht zufällig auch Arendts Begriff des Verzeihens bestimmt: Ohne Zweideutigkeiten in Bezug auf das Rückgängigmachen, die Schuld, das Leid, das Vergessen und die Reue kommen sie auf den Punkt: dass nämlich die Verzeihung die Offenheit der Person in das Zentrum des zwischenmenschlichen Umganges mit Schuld stellt. Und sie tut dies auf dem Hintergrund des unausweichlichen Scheiterns praktischer Selbstbestimmung und der Angewiesenheit eines jeden Menschen auf »fremde[] Hilfe« (GW, 247). Der verzeihende Bezug auf die Endlichkeit des handelnden Menschen zeigt sich so als der geeignete Weg, auf dem Menschen »mit Schuld leben [und] mit Schuld leben« können. 232 Aber welche Struktur hat, trotz dieser Übereinstimmung Arendts mit Spaemann, Ricœur und vielen anderen, diese Zusage der Offenheit der Person, die das Verzeihen ist? Die beiden zentralen Akte des Verzeihens, die Bitte und die Gewährung, gründen sich auf die Reue. Aber von welcher Art ist ihr Bezug auf die Reue (und die anderen Bedingungen des Verzeihens)? Erst ein genaues Verständnis dieser Bezugnahme ermöglicht eine abschließende Einschätzung von Arendts Begriff des Verzeihens. Die Antwort auf die letztgenannten Fragen beginnt mit Ricœurs Interpretation von Arendts Überlegungen zum Verzeihen aus drei Gründen. Erstens nimmt er wegweisende Anstöße von Arendt auf, entwickelt aber einen kritisch gegen sie gerichteten Begriff des Vergrenzt, dass man dem Täter sagen könnte: »›Du bist nun einmal ein solcher, fertig.‹« Solche Unversöhnlichkeit wäre komplementär zu derjenigen Selbstentschuldungsstrategie eines Täters oder zu dessen »Unverschämtheit«, sein Opfer wie folgt zu bescheiden: »›Ja, so bin ich eben. Du musst mich nehmen, wie ich bin.‹« Siehe ders.: Ein Tier, S. 344. 232 Jürgen Ebach: Mit Schuld leben – mit Schuld leben. Beobachtungen zum Anfang und zum Schluß der biblischen Josefsgeschichte, in: ders. u. a. (Hg.): Wie, S. 19–39; vgl. Kodalle (AT, 37 f., 51, 75–77); Jankélévitch (F, 19 f., 98 f., 150 f.); Scheler (RW, 42, 50). A
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zeihens, der dennoch auf das Verzeihen als Freigeben und Gehenlassen im Sinne Arendts hinausläuft. Zweitens lässt sich so die angekündigte Präzisierung der (in Kapitel 3.b.g geäußerten) Kritik an Ricœurs Ansicht, zwischen seinem und Arendts Verzeihen bestehe eine Differenz, vornehmen. Denn drittens findet sich bei ihm an der alles entscheidenden Stelle eine Übernahme ihrer Gedanken, die genau in dem Problem mündet, das bei Arendt mit der These von den Heilmitteln des Handelns bezeichnet ist – und dies, obwohl er neben Pettigrove der Einzige unter denen ist, die sich eingehender mit Arendts Verzeihen befasst haben, der den Schlüssel in Sachen der fraglichen Heilmittelthese in der Hand hält. Ricœur fragt nach der Herkunft des Mutes zur Bitte um Verzeihung und findet in Arendts Verbindung von Verzeihen und Versprechen den gesuchten Grund. Weil nämlich Arendt dieses Doppelvermögen mittels der Symbolik von »binden und entbinden« im Blick auf die Unabsehbarkeit und die Unwiderruflichkeit erläutere, werde verständlich, dass jener Mut »aus unserem Vermögen, den Lauf der Zeit zu beherrschen, geschöpft werden kann.« (GGV, 745) Mit der Beschreibung des Verzeihens als Entbinden schließt sich Ricœur bis in die Wortwahl hinein Arendt an (vgl. VA, 302, 306). Allerdings meint er, ihr in der symmetrischen Anlage von Versprechen und Verzeihen als politische Vermögen nicht folgen zu können. Denn das Versprechen lasse sich politisch umsetzen, während sich das Verzeihen gegen eine politische Form sperre, was auch Arendt nicht entgangen sei (vgl. GGV, 748–751). Wenn er daher von der »Diskordanz zwischen den Operationsebenen der Vergebung und des Versprechens« (GGV, 751) spricht (auch Ricœur unterscheidet nicht zwischen Verzeihen und Vergeben), ist dieses angebliche Missverhältnis gemeint. Diese These von der Diskordanz von Verzeihen und Versprechen bei Arendt kann deswegen nicht überzeugen, weil zum einen das Versprechen bei Arendt nicht allein politische Bedeutung hat und weil zum anderen das Verzeihen in der von ihr entwickelten Form ein allgemeines Handlungsvermögen ist, das von ihr lediglich mit dem – uneingelöst bleibenden – Anspruch versehen wird, politisch umsetzbar zu sein (siehe Kapitel 2–3 und 8). Der zweite Kritikpunkt Ricœurs lautet, dass Arendts Verzeihensanalyse »eine Reflexion über den Akt des Entbindens selbst« fehle (GGV, 753). Dass es Arendt an einem phänomenologisch und begrifflich ausgewiesenen Verständnis der Reue mangelt, ist nach 350
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dem Gesagten nichts, was auf Widerspruch stoßen könnte. Allerdings finden sich in der Vita activa und von ihr fortschreitend zu anderen Quellen ausbaufähige Hinweise auf die zentrale Bedeutung der Reue für ihren Begriff des Verzeihens. Ricœur legt gleichwohl zielsicher den Finger in die Wunde, weil nur mit einem tragfähigen Begriff der Reue ein kohärenter Begriff des Verzeihens bei Arendt denkbar ist. Dennoch verfehlt er mit dem von ihm identifizierten Grundfehler in Arendts Verzeihensbegriff den entscheidenden Punkt. Ihr Akt des Verzeihens entbinde die Handlung von deren Folgen. So entbinde Arendt die Tatsache der Schuld von dem belastenden Gefühl des Schuldigseins. »Doch sie [die Verzeihung, T. D.] tut mehr. Sie sollte zumindest mehr tun: und zwar den Handelnden von seiner Handlung entbinden.« (GGV, 753) Dahinter verbirgt sich Ricœurs Absicht, über die Befreiung oder Entbindung von lähmenden Schuldgefühlen hinaus das Verzeihen zu einem Vermögen zu machen, das dem Schuldigen auch die Freiheit zu handeln zurückgibt. »Der Schuldige, der in die Lage versetzt wird, noch einmal neu zu beginnen, das wäre die Figur dieser Entbindung« (GGV, 754). Derrida hatte diese Entbindung so beschrieben, dass man in der Verurteilung einer Tat den Schuldigen von dieser so trenne, dass man einem anderen als dem Schuldigen verzeihe (siehe JV, 11,3). Ricœur hat hingegen nicht die Spaltung des handelnden Menschen in ein doppeltes Subjekt im Sinn, in eines vor und eines nach der Tat. Er will diese Entkoppelung in das Handlungsvermögen der handelnden Person selbst legen: also »eine Abkoppelung der Ausführung vom Vermögen, das durch erstere realisiert wird.« (GGV, 754). Gelänge das, dann könnte man ohne Derridas zweifelhafte Doppelungen in der handelnden Person den Schuldigen nicht nur von der Last des Schuldigseins, sondern auch von der Lähmung seines Handlungsvermögens befreien. Und auf diese Befreiung oder Entbindung kommt in Ricœurs Begriff des Verzeihens alles an, weil er sich vorgenommen hat, zwei Rätsel zu lösen: »das Rätsel einer Schuld, die das Handlungsvermögen des ›fähigen Menschen‹ lähmt, der wir sind«, und »die mögliche Aufhebung dieser existentiellen Unfähigkeit, die der Ausdruck ›Vergebung‹ bezeichnet.« (GGV, 699) Des Rätsels Lösung nimmt in der Reue als Bedingung für die Gewährung von Verzeihung Gestalt an (vgl. GGV, 755). Denn in ihr eröffnet sich trotz aller konkreten Missetaten die Möglichkeit für die handelnde Person, die von Ricœur im Anschluss an Kant beanspruchA
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te unverlierbare Anlage zum Guten im Sinne eines Neuanfanges je für sich wieder zu realisieren. Der Täter muss sich in der Reue auf jene Anlage besinnen, aber die Rückkehr zu dieser Anlage wird ihm (nach Maßgabe der hinreichend erörterten Grenzen des Verzeihens) erst durch den Zuspruch der Verzeihung möglich. Erst dann kann er die Geschichten, die sein Leben sind, fortsetzen, indem er sich handelnd und versprechend auf die Zukunft hin entwirft. Diese Trennung des Handelnden von seinen Handlungen aufgrund der unverlierbaren Anlage zum Guten und aufgrund der Reue mündet bei ihm in das Vertrauen in den Täter, dass er »zu etwas anderem als seinen Delikten und Verfehlungen fähig« ist (GGV, 759). Das Verzeihen Ricœurs, das das Rätsel der Schuld löst und möglich wird durch die Koppelung der Verzeihung an die Reue, spricht sich wie Arendts Verzeihen dagegen aus, den Täter auf sein So-Sein in der Tat festzuschreiben. Vielmehr beherzigt es, dass niemand nur der ist, der er ist, sondern auch der, der er kraft der Offenheit der Person künftig sein kann, und gibt ihn von der Lähmung der Schuld und damit von der seines Handlungsvermögens frei. Es ist wie bei Arendt ein Freigeben und Gehenlassen der Person. Verziehen wird nämlich dem Täter auch deswegen, weil er in seiner Reue »die Übernahme der irreversiblen Verfehlung als Schuld« auch als »die offen gewesene Möglichkeit des Selbstvollzuges« und zugleich als »die noch offenstehende Zukunft« vollzieht; denn auch dies besagt die der Offenheit der Person gedenkende Verzeihung, dass es erst die künftige Zeit der Bewährung jener moralischen Umkehr ist, »die über die Endgültigkeit des Bösen der eingetretenen Schuld« entscheidet. 233 Die wesentlichen Eckpunkte ihrer Begriffe des Verzeihens einen also Ricœur und Arendt, so wie bei beiden die Koppelung von Reue und reagierender Verzeihungsgewährung die innere Struktur des Verzeihungsgeschehens ist. Weil die Reue den Handelnden von seinen Handlungen entbindet, kann der fähige Mensch Ricœurs mit der Unwiderruflichkeit des Getanen umgehen, kann er »den Lauf der Zeit […] beherrschen« (GGV, 745). Für beide ist die Reue das alles entscheidende Mittel der Befreiung oder der Entbindung. In der Koppelung von Reue und Verzeihung soll die Lösung des Problems liegen, das Ricœur mit der eschatologisch genannten Metapher eines Höhenunterschiedes zwischen der Tiefe der Schuld und der Höhe 233
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Alle Zitate bei Honnefelder: Zur Philosophie, S. 47.
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der Verzeihung zusätzlich auflädt (vgl. GGV, 699–716). Die Erlösungsbedürftigkeit des fähigen Menschen angesichts seiner unausweichlichen Verschuldung und die Rettung zum Neuanfang im Verzeihen werden umso deutlicher herausgestellt. Allerdings entgeht auch Ricœurs Einbindung der Reue in das Verzeihungsgeschehen nicht den prinzipiellen Unwägbarkeiten der Reue. Auch bei ihm finden sich Hinweise dafür, dass mit jener Koppelung noch nicht des Rätsels Lösung gefunden ist, sondern auch in seinen Begriff des Verzeihens die Ambivalenzen der Reue Einzug halten. Wie Derrida bezieht er sein Unbehagen an der Reue auf das »Schauspiel öffentlicher Reue« (GGV, 742). Und die undeutliche Rede vom Paradox der Verzeihung, das sich aus der »Problematik von Vergebung und Reue« ergibt, zielt auf den kaum paradoxen Sachverhalt ab, dass der Akt des Verzeihens »in irreduzibler Weise praktischer Natur ist« und sich deswegen von ihm »nur in der Grammatik des Optativs« (GGV, 759) reden lässt. Das kann einmal bedeuten, dass der Schuldige kein Recht auf Verzeihung hat, sondern sie erbitten muss (vgl. RV, 144–148). Damit hätte man aus dem Optativ die Form des Wunsches herausgelesen. Man kann im Optativ aber auch die Form der Möglichkeit hervorheben und ihn auf die Problematik von Reue und Verzeihung anwenden. Dann lassen sich die Undeutlichkeiten im Begriff des Verzeihens bei Arendt und Ricœur, die ihm aus dem Status der Reue erwachsen, präziser fassen, wenn man die symmetrische Anlage des Bindens und Entbindens auf den Akt der Verzeihung selbst anwendet. Die starre Zuordnung von Binden, Versprechen und Unabsehbarkeit auf der einen Seite und Entbinden, Verzeihen und Unwiderruflichkeit auf der anderen Seite bricht nämlich am entscheidenden Punkt des Verzeihungsgeschehens auf, in der Reue oder moralischen Umkehr des Täters und dem verzeihenden Zuspruch des Opfers. 234 Dafür, dass der strenge Zeitbezug (sic!) des angesprochenen Doppelvermögens aufzubrechen ist, finden sich bei Arendt einige Hinweise, die sie allerdings nicht explizit auf die zeitliche Struktur von Verzeihen und Versprechen bezogen hat. In einer der Vorarbeiten zu Vita activa, der Abhandlung Natur und Geschichte heißt es, 234 Dies gilt auch für Spaemanns Ansetzung eines parallelen Verhältnisses zwischen Versprechen und Verzeihen, von dem angenommen werden darf, dass es sich arendtschen Einflüssen verdankt; vgl. P, 235–251; ders.: Ein Tier, S. 336–345.
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dass Jesus der Entdecker der »Unvorhersehbarkeit [meine Hervorhebung, T. D.] menschlichen Handelns« gewesen sei und daraus die Konsequenz gezogen habe, dass die Menschen unaufhörlich einander verzeihen müssten (ZVZ, 74), während sonst das Verzeihen der Unwiderruflichkeit des Vergangenen zugeordnet wird. In der Vita activa wird das Verzeihen zwar der Vergangenheit (vgl. § 33 Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen, VA, 300–311) und das Versprechen der Zukunft zugeordnet (vgl. § 34 Die Unabsehbarkeit der Taten und die Macht des Versprechens, VA, 311–317), aber zuvor taucht im Zuge der Erläuterung der Aporien des Handelns die Einsicht aus jener Vorarbeit wieder auf. Denn die erste der beiden Stellen, die sich gemäß der Bedingungen der Pluralität und Natalität mit der »Schrankenlosigkeit« (VA, 238) des Handelns beschäftigen, die als dominierende Struktur des Handelns Verzeihen und Versprechen zugrundeliegt, entfaltet die aporetische Verfasstheit des Handelns unter dem Gesichtspunkt, dass die »Unabsehbarkeit der Folgen« (VA, 239) zum Gang einer jeden vom Handeln erzeugten Geschichte gehöre. Noch vor der Unterscheidung von Versprechen und Verzeihen charakterisiert § 26 über Die Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten (VA, 234–241) das Handeln überhaupt und seine unauslöschbaren »Aporien« (VA, 241) an systematisch übergeordneter Stelle mit den zukunftsbezogenen Begriffen der Schrankenlosigkeit und Unabsehbarkeit. Die Überlegungen in § 32 über den Prozeßcharakter des Handelns (VA, 293–300) ziehen zum einen die Konsequenzen aus der Schrankenlosigkeit und bereiten zum anderen die Differenzierung der Schrankenlosigkeit in Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit in Bezug auf Verzeihen und Versprechen (vgl. VA, 300–317) vor. Sie tun das, indem sie die Blickrichtung umwenden. Das Unabsehbare lässt sich nämlich erst dann konkret als bestimmtes Unabsehbares benennen, wenn wir bezüglich der fraglichen Handlung in der künftigen Zeit des Schon-Geschehen-Seins auf diese Handlung zurückblicken und das Unabsehbare vom Absehbaren trennen. Aus dieser Perspektive, die in der Zukunft liegt, zeigt sich das Unabsehbare aber als das Unwiderrufliche, weil es schon geschehen ist und – das ist der entscheidende Gedanke – man es »nicht rückgängig machen kann.« (VA, 295) Wie das in der Gegenwart Unabsehbare erst in der Rückschau aus der Zukunft in der Vergangenheit als konkrete Begebenheit (und nicht als theoretisch begründete Notwendigkeit) identifiziert werden 354
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kann, so schließt auch das Unwiderrufliche beide Zeiten ein. Unwiderruflich sind die schon geschehenen Ereignisse der Vergangenheit. Aber genauso können wir die allem Handeln innewohnende Unabsehbarkeit als Unwiderruflichkeit interpretieren, indem wir die Ergebnisse einer Handlung und der Gesamtheit der von ihr in Gang gesetzten Geschichten und damit diejenige Unausweichlichkeit vorwegnehmen, da zu dieser Gesamtheit immer auch Geschichten zählen werden, von denen in der Rückschau jemand sagen können wird, dass niemand wissen konnte, dass sie sich aus diesem Anfang entwickeln würden. Die Antizipation der »Zähigkeit des Getanen« (VA, 297) verleiht dem Unwiderruflichen seine innere Zukunftsbezogenheit. Und Arendt erläutert sie und ihre Vergangenheitsbezogenheit gerade mit ihrem Gedanken der nun in einem ganz anderen Licht erscheinenden Unabsehbarkeit als noch in den Erläuterungen zum Begriff der Verantwortlichkeit, dass nämlich »kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut« (VA, 297), weil »ein Getanes kein Ende hat« und »buchstäblich in seinen Folgen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende dauern« (VA, 297) kann (vgl. VA, bes. 296–298; siehe auch Kapitel 2.c.g und 3.b). So bricht die strikte Unterscheidung von Unabsehbarkeit und Unwiderruflichkeit auf, wobei zu beachten ist, dass es hier allein um die zeitliche Struktur des Handelns geht und die Integration der Begriffe von Schuld und Verantwortung in Arendts Handlungstheorie (siehe Kapitel 2.c) damit nicht rückgängig gemacht ist. Für den theoretischen Zeitbezug von Versprechen und Verzeihen besagt dies das Folgende: Das Versprechen hat nur dann einen zwischenmenschlichen Sinn, wenn es sich auf die Zukunft richtet. In der und für die Vergangenheit kann man nichts versprechen. Aber das Verzeihen kann sich seinem theoretischen Zeitbezug nach sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft beziehen. 235 Im Vollzug des Verzeihungsgeschehens ist es die Reue, die uns dies einsichtig machen kann. Ihretwegen ist der Akt des Verzeihens nicht nur vergangenheitsbezogen, sondern seinem Wesen nach zukunftsorientiert. Das Verzeihen reagiert nicht bloß auf die Unwiderruflichkeit, sondern es unterliegt der Unabsehbarkeit. Was wir bereuen, liegt in unserer Vergangenheit. Daher hat die Bitte um 235 Um diese Gedanken ist Pettigroves Hinweis zu ergänzen, dass das Verzeihen weitaus mehr einem Versprechen gleiche, als Arendt selbst das verstanden habe; siehe ders.: Arendt, S. 485; vgl. Orlie: Forgiving.
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Verzeihung ihren Anlass in dem, was wir zuvor einem anderen Menschen angetan haben. Aber weil wir in ihr um die Anerkennung unseres Gesinnungswandels bitten, richtet sich diese Bitte auch auf die nur in der Zukunft mögliche Gelegenheit, diesen Wandel zu beglaubigen und sich wieder als gleichrangiger und handlungsfähiger Mensch betätigen zu dürfen. Das Opfer sagt seinerseits in der Gewährung der moralischen Umkehr des Täters nicht einfach nur zu. Die Gewährung ist vielmehr und gerade vor dem Hintergrund der unentrinnbaren Ambivalenz der Reue ihrerseits das Versprechen des Opfers, an dem Vertrauen, das jene Zusage ist, festhalten zu wollen. Dieses Vertrauen besitzt selbst einen unaufhebbaren Bezug auf die Zukunft. Es mag seinen Grund in der Vergangenheit finden, aber Bedeutung hat es für die Zukunft mit dem, dem man sein Vertrauen schenkt. 236 Und die Zweifel an der Aufrichtigkeit und Tragfähigkeit der Täterreue (wie umgekehrt auch des Vertrauens) können nur in der Zukunft ausgeräumt werden. Dabei bezieht sich das Opfer in seinem Versprechen nicht auf das Verhalten des Täters, das Anlass zu Zweifeln geben kann. Darauf hat das Opfer keinen Einfluss und kann diesbezüglich auch nichts versprechen, da es sich nicht an den Willen eines anderen Menschen binden kann. Verantwortlich binden und verpflichten kann sich das Opfer nur an die eigenen Worte und Taten. Und das betrifft im Rahmen jener Gewährung dann die ganz anderen Zweifel an der Reue, dass weder Worte noch persönlicher Einsatz verhindern können, dass die persönliche Integrität eines Menschen zu jeder Zeit in Zweifel gezogen werden kann. Die tätige Reue ist die einzige Möglichkeit des Schuldigen. Aber sie bleibt auch trotz möglicher Anfechtung ihrer Wahrhaftigkeit bestehen, selbst wenn man gegen die Anfechtung als solche machtlos ist und sie ertragen muss. An dieser Ohnmacht des reuigen Täters setzt die versprechende Verzeihenszusage des Opfers an, die dem Täter sagt: Ich glaube dir. Ich nehme deine tätige Reue ernst und habe keinen Anlass, dich zum wehrlosen Objekt einer Anschuldigung zu machen, gegen die es kein 236 Einige Hinweise auf den Zukunftsbezug des Verzeihens lassen sich aus den Überlegungen über die Bedeutung des vorlaufenden Vertrauens im Verzeihungsgeschehen herausfiltern; vgl. dazu F, 15–18; Atkins: Friendship; bes. S. 122 f.; Govier: Forgiveness and Revenge, S. 141, 144; Haber: Forgiveness, S. 110; Macho: Fragment, S. 142 f.; Pettigrove: Unapologetic Forgiveness, S. 189–191; Scheiber: Vergebung, S. 158, 190 f.; Scarre: After Evil, S. 21–25.
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Ankommen gibt. Ich werde das Unrecht, das du mir angetan hast nicht vergessen, aber ich verspreche dir, dass ich dir keine weiteren Vorhaltungen mehr machen und dich nicht für den weiteren Gang meines Lebens verantwortlich machen werde oder auf unstatthafte Weise Ansprüche gegen dich erheben werde. Ich versichere dir, dass ich willens bin, mich nicht als Person auf das Opfer-Sein zu verlegen, und dass ich in der Lage bin, meine Verzeihungsgewährung als Aufgabe und Möglichkeit selbstverantwortlichen Handelns zu verstehen. Das Versprechen bindet die Person an ihr Wort, das es einer anderen Person gegeben hat. Es verleiht dem Empfänger das Recht, auf seiner Einhaltung zu bestehen, wohl wissend, dass gerade in der Situation eines vom Täter an die einmal gewährte Verzeihung erinnerten Opfers die Zerbrechlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen am deutlichsten erfahrbar ist. Dennoch verpflichten sich Täter und Opfer im Akt der Verzeihung mit ihren Versprechen auf die Treue zu ihrem Wort; das heißt zu einer Treue, »die niemals absolut und niemals absolut zuverlässig« sein kann, die immer an »konkrete Menschen und Inhalte gebunden ist« (EU, 525) und zu der wir deswegen nur fähig sind, wenn wir uns an sie erinnern lassen. Aus der jeweils anderen Perspektive formuliert geht es um das Zutrauen in das eigene Versprechen oder das Vertrauen in das Versprechen des anderen. Man kann von dieser Verpflichtung des versprechenden Verzeihens keine Ausnahme machen, auch nicht aufgrund eines sentimentalen und bisweilen auch selbstgerechten Verständnisses für das Opfer, das Kodalles Befürchtungen moralischer Selbstüberhebung wahrmachte. Wir mögen dem kurzsichtigen Bedürfnis nachgeben, uns auf die Seite des Opfers zu schlagen, weil wir uns den vom Opfer völlig unberührten Vorteil versprechen, auf der moralisch unanfechtbaren Seite zu stehen. Doch dem Opfer und dieser Instrumentalisierung des Opferstatus kommt gerade nicht die folgende Begründung zugute: »[T]he one who fails to follow through on her forgiving commitment always has an excusing condition, whereas the one who fails to fulfil her promise typically does not.« 237 Hätte solch eine Unterscheidung zwischen dem Versprechen des Täters (promise) und dem Versprechen der Verzeihung (forgiving commitment) Gültigkeit, dann wäre das Verzeihen weder ein Versprechen noch ein Ver237
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zeihen im arendtschen Sinne des Freigebens und Gehenlassens, was gleichwohl mit solchen Thesen beansprucht wird. Es läge vielmehr eine Handlung vor, die dem Täter die Aufhebung der Verzeihenszusage androhte und einmal mehr den bedrohlichen Grundzug zwischenmenschlicher Gnade aufzeigte. Es handelte sich um ein Pseudo-Versprechen, das sich eine Hintertür offenhielte und mit Arendt und Ricœur gesprochen das ganze Gegenteil zu dem Sich-Binden des Versprechens ist. Es wäre das Unding eines Versprechens unter Vorbehalt, das dem Täter nicht das vorlaufende Vertrauen der Verzeihungsgewährung schenkte, sondern den Mut zu diesem zwischenmenschlichen Vertrauen nicht fände und den Täter fortan unter die Knute eines jederzeit aktualisierbaren Misstrauens stellte. Führt man den Begriff des Verzeihens bei Arendt auf diese Weise ad absurdum, ist die Einsicht verspielt, »that forgiving is even more like what Arendt identifies as the other faculty […], promising, than she recognized.« 238 Der moralische Ernst der Verzeihung, von dem Derrida auf der einen und Arendt und Ricœur auf der anderen Seite aus verschiedenen Gründen und doch mit derselben kompromisslosen Ausdrücklichkeit sprechen, hat zwei Felder der Bewährung im Verzeihungsgeschehen: die Reue und die Bitte um die Verzeihung aufseiten des Täters und die Gewährung aufseiten des Opfers, an das dieselben moralischen Maßstäbe zu richten sind wie an den Täter. Wenn man auf diese Weise das Entbinden des Verzeihens zugleich als Binden des Versprechens beschreibt, kann man sich dabei auf Anhaltspunkte bei Arendt und bei Ricœur stützen. Ricœur beschreibt als Resultat der Verzeihung, dass der, dem verziehen worden ist, nur wegen der Gewährung wieder in der Lage ist, Versprechen zu geben und zu halten und auf diese Weise sich selbst in Tat und Wort in die Zukunft zu entwerfen (vgl. GVV, 759). Auf ähnliche Weise hat Arendt, worauf sich Ricœur mehrfach bezogen hat, das Wer-einer-ist an die Verzeihung und die darin wiedergewonnene Fähigkeit, Versprechen zu geben und zu halten, gebunden. Erst durch die zwischenmenschlichen Handlungsvermögen des Verzeihens und Versprechens wird persönliche Kontinuität, die Einheit der jeweiligen Lebensgeschichte, möglich. Wenn wir einander nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden […] [und wenn wir uns nicht, T. D.] durch Versprechen für 238
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eine ungewisse Zukunft […] binden […], wären wir niemals imstande die eigene Identität durchzuhalten; wir wären hilflos der Dunkelheit des menschlichen Herzens, seinen Zweideutigkeiten und Widersprüchen, ausgeliefert, verirrt in einem Labyrinth einsamer Stimmungen, aus dem wir nur erlöst werden können durch den Ruf der Mitwelt, die dadurch, daß sie uns auf die Versprechen festlegt, die wir gegeben haben und nun halten sollen, in unserer Identität bestätigt, bzw. diese Identität überhaupt erst konstituiert. (VA, 302)
Dem ist nur hinzuzufügen, dass das Verzeihen nicht nur Versprechen ermöglicht, sondern seinem Zeitbezug nach selbst ein Versprechen ist. Diese Bestimmung ist die Gelegenheit, vor der Erläuterung dreier Konsequenzen aus ihr, zu einem wiederkehrenden Thema Stellung zu beziehen, dass seit Kolnai unter dem Namen »logical paradoxy of forgiveness« firmiert. Demnach sei Verzeihung entweder ungerechtfertigt oder ohne wirklichen Gegenstand, also sinn- oder zwecklos. Wenn der Täter nicht bereue und das Opfer dennoch verzeihe, liege keine Verzeihung, sondern Verharmlosung vor. Wenn aber der Täter bereue und sich ändere, sei Verzeihung ebenfalls keine Verzeihung, sondern ein bloßer Nachklang der moralischen Umkehr des Täters. Kolnai selbst lehnt sein vermeintliches Paradox als »too mechanical to do justice to the complexities of ›moral life‹« ab und bringt dessen erste Seite zu Fall und gelangt zu einer Auffassung der Verzeihung, die die moralische Umkehr des Täters nicht einschließt. 239 Wer allerdings auf der Reue als Bedingung für die Verzeihungsgewährung besteht, dem bleibt die Möglichkeit, die zweite Seite des angeblichen Paradoxes zu bestreiten. Denn das Versprechen desjenigen, der Verzeihung gewährt, ist gerade die Anerkennung der moralischen Umkehr dessen, der um Verzeihung bittet und der besonders im Falle des Unrecht-Getan-Habens noch mehr auf das moralische Urteil seiner Mitmenschen angewiesen ist, als er es ohnehin als ein in Gemeinschaft lebender Mensch ist – und zwar im Sinne der unabweisbaren Bedeutung, die Strawson den von ihm sogenannten »reactive attitudes« unserer Mitmenschen, zu denen er »such things as gratitude, resentment, forgiveness [meine Hervorhebung, T. D.], love and hurt feelings« zählt, für unser Selbstverständnis, für unsere eigenen Gefühle und (moralischen) Reaktionen auf unsere Mitmen-
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Kolnai: Forgiveness, S. 96–100, Zitate S. 95, 99. A
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schen beigelegt hat. 240 Das versprechende Verzeihen, das auf die Bitte um Verzeihung folgt, ist also weder redundant oder überflüssig noch ziel- und sinnlos, sondern ganz im Gegenteil der Kern des Verzeihungsgeschehens. Die erste Folgerung aus der Bestimmung des Verzeihens als Versprechen ist nun die, dass dem versprechenden Verzeihen nicht diejenige Gewissheit zukommt, die es als eine Möglichkeit zur Beherrschung der Zeit (Ricœur) oder als Heilmittel gegen die Unwägbarkeiten des Handelns (Arendt) zu haben scheint. Denn mit der Zukunft können wir wegen der »›Schwäche‹ der Pluralität« (GGV, 747), wie Ricœur Arendt (vgl. VA, 299) zustimmt, nur auf dem Wege des Versprechens umgehen. Das aber unterliegt als Vermögen des Handelns genau der Unabsehbarkeit, gegen die es sich wendet. Auch das versprechende Verzeihen ist im Bilde Arendts gesprochen nicht mehr als eine Insel, die uns Orientierung im Meer der Ungewissheit bietet. Es macht das prinzipiell unberechenbare Handeln von prinzipiell unberechenbaren Menschen nicht beherrschbar. Es ist gerade nicht das Festland, das uns sicheren Boden unter den Füßen verschafft und von dem Arendt selbst sagt, dass es das Sinnbild des Herstellens und des Beherrschens ist und der unaufhebbaren Offenheit des Handelns entgegensteht (vgl. VA, 313), ohne allerdings solche Thesen mit der Heilmittelthese zu vermitteln. Weder kann der Täter mit Gewissheit seinen Gesinnungswandel noch kann das Opfer sein Vertrauen in die Umkehr des Täters bis zum Ende seiner Tage festschreiben. Die Antwort auf »die zeitlichen Zwänge« (GGV, 745) oder die »Aporien des Handelns« (VA, 241) ist selbst immer nur eine vorläufige. Die Rede von der Beherrschung der Zeit oder vom Verzeihen als Heilmittel kann daher nicht die Kontrolle über die Handlungsfolgen und die Handlungsziele im Sinn haben. In ihr ist allein die Möglichkeit angesprochen, mit den Mitteln des Handelns eine bestimmte Macht über die Unwägbarkeiten des Handelns zu gewinnen: nämlich die Macht, die bei Arendt immer aus dem gemeinsamen Handeln entsteht und die – im Falle des Versprechens und Verzeihens nur deutlicher als ohnehin – auf die »Anwesenheit von Anderen« angewiesen ist, »die mit-sind und mit-handeln.« (VA, 302) Die Kennzeichnung des Verzeihens als Versprechens aber schränkt die Beherrschbarkeit der Zeit oder die Heilkraft des Ver-
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Strawson: Freedom, S. 4–6, Zitate S. 6, 4.
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zeihens ein, stuft sie zurück auf die Stufe allen Handelns, das den Aporien des Handelns nicht entkommt. Die zweite Folgerung betrifft die Versprachlichung des Verzeihens, für die das versprechende Verzeihen ein weiteres Argument ist. Bisher ist in dieser Angelegenheit das moralische Urteilen als konstitutive Bedingung des Verzeihens bestimmt worden, denn »the restoration of morally mature relations requires an accurate determination of where moral responsibility, guilt and blame really lie, and who the victims are.« 241 Die Bitte um und die Gewährung von Verzeihung fußen auf dieser Feststellung. Die Tatsache, dass es Beziehungen gibt, die nicht auf die ausgesprochene Bitte und Gewährung im Sinne des verzeihenden Versprechens angewiesen sind, ist kein Argument gegen seine Versprachlichung. »Very close friends […] may even develop personalized, non-verbal conventions conveying repentance and forgiveness, and certainly communication between parents and fairly young children often involves non-verbal forms.« 242 Aber jenseits unserer engsten Freunde und Eltern verfügen wir nicht über diese non-verbalen Mechanismen intimer Bekanntschaften. Trotzdem plädiert Kodalle für ein ausdrucksstarkes Schweigen, weil die Sprache der Ausnahmesituation des Verzeihens nicht gerecht werde und weil sie anfällig für Missverständnisse sei. Auch wenn das kultivierte Schweigen selbst nicht eindeutig sei, könne man sich in einer Welt der Vieldeutigkeit sicher sein, dass sprachlose Vollzüge des Verzeihens dessen Sinn sichtbar machen könnten. 243 Das unausgesprochene Unbehagen daran, dass diese Beschwörungen der Verständlichkeit des Schweigens, die die andere Seite der Kritik an der Versprachlichung und dem moralischen Urteilen des Verzeihens ist (vgl. vor allem AT, 44–50, 81–85), das Verzeihen zu einer intrasubjektiven Angelegenheit des Täters machen, scheint mir der Grund für diese Mehrdeutigkeiten zu sein. Denn so entscheiScarre: After Evil, S. 74. Harvey: Forgiving, S. 219. 243 Siehe Kodalle: Gabe, S. 81–83. Sein Versuch, Jesus zum Kronzeugen einer sprachlosen Verzeihung zu machen, scheitert. Jesus äußert zwar in der Geschichte von seiner Salbung durch die Sünderin die Vergebungszusage für diese gegenüber dem Pharisäer (Lk. 7, 47). Aber er hat sicher keine »Scheu verspürt, die Vergebungszusage in direkter Anrede zur Sprache zu bringen«; so Kodalle: Gabe, S. 82. Denn einen Vers weiter heißt es: »Und er sprach zu ihr [der Sünderin, T. D.]: Dir sind deine Sünden vergeben« (Lk. 7, 48); vgl. ebenso die Geschichte von der Heilung des Gichtbrüchigen (Mt. 9, 1–8; Mk. 2, 1–12). 241 242
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det der Täter allein, was das Schweigen zwischenmenschlich bedeutet. Er allein macht sich einen Reim darauf, von welchem Unrecht in dem Schweigen des Opfers, das Kodalle bevorzugt, die Rede ist. Er bestimmt, was das Opfer ihm verübelt und was davon verzeihungsbedürftig ist. Und zuletzt gibt er dem Opfer an, was es ihm verziehen hat. Wenn man das Verzeihen nicht von Nachsicht und Entschuldigung unterscheidet und als Verhältnis von moralisch Ungleichen bestimmt, dann muss sich der moralisch Überlegene mit moralischen Urteilen und deren Versprachlichung zurückhalten. Für die Nachsicht und die Entschuldigung, die wir uns wegen unserer existentiellen Verschuldung schulden, ist das unbestritten. Für die Verzeihung unserer moralischen Verschuldung gilt aber, dass sie sich als Versprechen nicht »›stillschweigend‹« (AT, 31) vollziehen kann. In dieser fehlenden Unterscheidung, die das Verzeihen nicht als Versprechen in den Blick nehmen kann, liegt der Grund für die Kritik an der »Versprachlichungseuphorie« (AT, 7), die ihrerseits nicht frei ist von Unklarheiten, soll doch »die Versprachlichung überhaupt« (AT, 35) eine moralische Demütigung für den Täter sein, während »Gesten und Andeutungen« (AT, 54) dies nicht seien. Der Anspruch, den ich im Versprechen einem anderen Menschen einräume, wird hingegen erst durch seine ausdrückliche Verleihung zu einem Recht des anderen an mir. Wenn ich mich auf die fragwürdige Evidenz eines unausdrücklichen Versprechens verlasse, sind den Missverständnissen und Missbräuchen Tür und Tor geöffnet. Das gesprochene und selbstredend missverständliche Wort gibt hingegen deutlicher an, in welcher Hinsicht ich mich versprechend binde, als die Umarmung, die der beliebteste Kandidat als Ersatz für das ausgesprochene Verzeihungsversprechen ist (siehe AT, 28), die alles und gar nichts bedeuten kann und genauso den Gefahren der Heuchelei und Heimtücke ausgesetzt ist wie alle Beglaubigung der Reue. In intimen Beziehungen können Versprechen auch nichtsprachlich ausdrückliche Form haben. Im Normalfall aber gilt, dass Versprechen »etwas mit Sprechen zu tun« hat. 244 Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass es Situationen gibt, in denen auch zwischen Fremden nicht-sprachliche und trotzdem ausdrückliche Verzeihungsversprechen gegeben werden können. Aber in der Mehrheit der Fälle müssen wir uns einander verständlich ma244
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Spaemann: Ein Tier, S. 337; vgl. P, 235–247.
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chen. Und in den Situationen des Verzeihens sind wir wegen der Belastung durch die Schuld stärker auf gelingende Verständigung angewiesen als im Falle einer Begrüßung. Bei dieser verfügen wir über bestimmte und bekannte Konventionen, die es uns erlauben, auch ganz ohne Worte den anderen, der eben auch ein Fremder sein kann, umarmend so zu begrüßen, das er versteht, was gerade geschieht und was damit ausgedrückt wird. Solche allgemeinen Regeln kennt das Verzeihen nicht. 245 Drittens ermöglicht das versprechende und ausgesprochene Verzeihen, das schwierige Verhältnis von Verzeihen und Vergessen (siehe Kapitel 4.e) zu präzisieren. Denn der für das Verzeihen konstitutive Zusammenhang aus Schuld, Verantwortung, bereuender Bitte und dem gegenseitigen Versprechen zeigt, dass nichts wirklich vergessen wird, wie es das einfache oder leichte Vergessen tut, das das Geschehene einfach ausradiert. Das Verzeihen legt im Unterschied zur Amnestie (siehe Kapitel 6.a) die Bedingungen fest, unter denen sich die Beteiligten fortan an die Unrechtstat erinnern sollen. Ricœur hatte das aktive Vergessen als ein Vergessen der Schuld, die Gedächtnis und Handlungsvermögen lähme, und ihrer Bedeutung für die Lebensgeschichten, aber nicht des schuldhaften Ereignisses beschrieben (RV, 145). Später präzisiert er dies so, dass er einerseits am Vergessen der Schuld im erwähnten Sinne und aus den genannten Gründen festhält (vgl. GGV, 772), andererseits aber nun betont, dass die Schuld nicht vergessen werde, sofern die erinnerte Schuld »die Anerkennung eines Erbes bedeutet.« Denn in der Symbolik von Entbinden und Binden entbindet das Verzeihen den Schuldigen im Blick auf das Verhältnis von Vergessen und Verzeihen von seiner »Verfehlung« (GGV, 772), das heißt: der Tat, erinnert/bindet ihn aber zugleich an »die nie auflösbare Bindung eines Schuldners« (GGV, 773) an seine Schuld. Es ist genau diese »[o]ffengelegte Schuld« (GGV, 773), die in der Reue und dem wechselseitigen Verzeihungsakt so ausgesprochen wird, dass sie nicht mehr nur die vielfältigen Bedeutungen des Unrechts auf die Lebensgeschichten von Täter und Opfer legt, sondern wegen der moralischen Umkehr des Täters und der gegenseitigen Bindung durch das versprechende Verzeihen gerade diese Schuld 245 Siehe für diejenigen, die im beschriebenen Sinne die Dinge durcheinanderbringen, Bennett: Personal and Redemptive Forgiveness, S. 135; Kodalle: Verzeihung des Unverzeihlichen, S 434 f.; Macho: Fragment, S. 141.
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zum Ausgangspunkt einer Überwindung der Lähmung des Handlungsvermögens macht – und zwar von Täter und Opfer, wie es Ricœurs Täterfixierung korrigierend heißen muss. Erst in GGV vollzieht sich bei Ricœur, was Kodalle für RV veranschlagt, dass die Bedeutung des schuldhaften Ereignisses entmächtigt und nicht vergessen wird (vgl. AT, 45). Und erst diese Selbstkorrektur Ricœurs, dass das Vergessen nicht die »Bedeutung« (RV, 145) der Schuld vergisst, sondern dass die Erinnerung an die Schuld und deren ursprünglicher Bedeutung gerade deren neue Bedeutung, die ihr aus dem Verzeihensakt zukommt, befestigt, macht es möglich, diese Überlegungen zum Vergessen des Verzeihens mit Arendts Verzeihensbegriff zu verbinden. Denn die »Zähigkeit des Getanen« (VA, 297) hat die Eigenschaft, dass das Gute und das Schlechte, das wir tun, unwiderruflich das jeweilige Wer-einer-ist prägen. Das Verzeihen vergisst daher nichts, aber es überschreibt das Unrechtsgeschehen mit einer anderen Bedeutung, die unsere moralische Schuld nicht verdrängt, sondern zu einem Teil unseres geschichtlichen und praktischen Selbstverständnisses macht, weil die Reue auch »darin besteht, nicht zu vergessen, was man getan hat, indem man dahin ›zurückkehrt‹, wie das hebräische Verb ›shav‹ andeutet.« (ÜB, 75) Diese neue Bedeutung für die Lebensgeschichten wächst den Beteiligten aus dem wesentlich erinnernden Verzeihungsgeschehen zu und lässt sie selbst, das heißt: den, der wir je sind, wegen ihres Nicht-Vergessens der Tat und ihrer persönlichen wie zwischenmenschlichen Folgen in Arendts Sinne gehen und gibt sie wieder frei für die Gemeinschaft mit »Anderen, die mit-sind und mit-handeln.« (VA, 302) Wer ein Versprechen nicht ausdrücklich gibt, der lässt sich immer jene Hintertür offen, dass man ihn nicht an seine Selbstbindung erinnern und von ihm einfordern kann, entsprechend zu handeln. Unausdrückliche Versprechen sind keine Versprechen, weil sie den Bruch des Versprechens schon im Moment des vermeintlichen Versprechens als reale Option einkalkulieren. Das Wesen des Versprechens, dass es mich auch gegen die Unwägbarkeiten nicht nur der Welt zwischen Menschen, sondern auch gegen die Unwägbarkeiten meines persönlichen Empfindens verpflichtet, wäre damit hinfällig. Das ist nicht zuletzt deswegen für das versprechende Verzeihen von besonderer Bedeutung, weil es damit umzugehen hat, dass zwar der moralische Ärger über die Tat mit dem Verzeihungsakt erledigt sein kann, dass aber die körperlichen und/oder seelischen Auswirkungen 364
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Verzeihen als zwischenmenschliches Handeln
der Tat weitaus länger andauern und eine beständige Anfechtung für das einmal gegebene Versprechen sein können. Solange ein Versprechen nicht einer konkreten Person gegeben worden ist, ist es kein bindendes Versprechen, sondern eine lose Absichtserklärung. Es ist etwas fundamental anderes, wenn Opfer O Täter T verspricht, X zu tun, als wenn O nur verspräche, X zu tun. Die beiden Akte des Verzeihens, die Bitte um und die Gewährung von Verzeihung, sind ein Dialog, in dem das eine Versprechen auf das andere Versprechen antwortet und in dem das eine auf das andere angewiesen ist. Denn ein Versprechen, das nicht als die persönliche Bindung des Versprechenden an den Empfänger des Versprechens vom Empfänger angenommen wird, ist kein Versprechen. Es käme kein Versprechen zustande, weil die Instanz fehlte, die seine Einhaltung einfordern könnte. Im Bewusstsein davon, welches der Gegenstand der Bitte um und der Gewährung von Verzeihung ist, gilt auch für das als dialogisches Versprechen aufgefasste Verzeihen Ricœurs Definition der Verzeihung: Sie ist eine Relation, die zwei Sprechakte miteinander konfrontiert, den des Schuldbekenntnisses und den der Absolution: ›Ich bitte dich um Vergebung. – Ich vergebe Dir.‹ (GGV, 744)
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IV Versöhnen
Der Durchgang durch die Abgrenzungen und die Bedingungen des Verzeihens hat zwar in Arendts Begriff des Verzeihens einige der Lücken füllen und zur Profilierung dieses Begriffes im Kontext der philosophischen Debatte über das Verzeihen beitragen können, weil dieser Forschungskontext den Horizont für die dem Verzeihen anhängenden Fragestellungen öffnet, die Arendt nur am Rande ihrer Überlegungen streift. Allerdings verstärkte dieser Durchgang gerade in der Frage der maßgeblichen konstitutiven Bedingung der Verzeihung die Schwierigkeiten in Arendts Skizze einer Theorie des Verzeihens. Denn die Reue erwies sich wegen ihrer unaufhebbaren Ambivalenz nicht als das geeignete Versatzstück, das die Zweifel an Arendts Berechtigung beseitigen könnte, Verzeihen und Versprechen als die dem Handeln selbst innewohnenden Heilmittel gegen dessen Unwägbarkeiten zu bestimmen (Kapitel 7.b). Vielmehr zeigte die Analyse des Verzeihungsaktes, dass die Bitte um und die Gewährung von Verzeihung in ihrer Bezogenheit auf den Gegenstand und die Folge der Reue (also das Unrechtsbewusstsein wie die moralische Umkehr des Täters und die Wiederherstellung einer moralischen Symmetrie) den strengen Zeitbezug des Verzeihens auf die Vergangenheit aufbrechen und es als ein Versprechen verständlich machen (Kapitel 7.c). Das Versprechen aber enträt wie das Verzeihen nicht der Schwäche der Pluralität (siehe VA, 299): der Zerbrechlichkeit des Handelns. Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden deswegen von der Versöhnung die Rede, weil mit der Heilmittelthese auch die Gerichtetheit auf eine Aussöhnung der beteiligten Personen Einzug in das Verzeihungsgeschehen hält. Wenn Bitte und Gewährung sich auf die Reue und ihre Folgen richten, dann ist damit noch nichts über die Folgen des Verzeihungsaktes selbst ausgesagt. Dementsprechend kann Verzeihung als Freigeben und Gehenlassen im Sinne Arendts auch ohne eine künftige und gelingende Beziehung zwischen Täter 366
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und Opfer Bestand haben. Die These von den Heilmitteln aber will grundsätzlich mehr als die Wiederherstellung einer moralischen Symmetrie. Über das Verhältnis von Verzeihung und Versöhnung ist daher abschließend nachzudenken.
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Politisches Verzeihen?
Den Anfang macht dabei die am Beginn von Arendts Überlegungen zum Verzeihen stehende Frage nach der Möglichkeit eines politischen Verzeihens, die sich im Laufe der vorangehenden Untersuchung auch als Teil der abschlägig beschiedenen Frage nach der Möglichkeit eines stellvertretenden Verzeihens gestellt hat. Und das Derrida, Kodalle und Ricœur gemeinsame Unbehagen am Schauspiel öffentlicher Reuebekundungen ist für sich genommen noch kein Argument gegen einen Begriff eines politischen Verzeihens; aber wie die Erfahrungen mit großangelegten Projekten kollektiver Unrechtsbewältigung bestärkt es den skeptischen Ton aus einer weiteren Perspektive. Die Kapitel 2 und 3 haben unter anderem gezeigt, dass Arendt ihren Anspruch, das Verzeihen als ein politisches Vermögen wie das Versprechen zu begründen, nicht durchgeführt hat. Wir wissen lediglich, dass der Respekt, den wir jedem Menschen schulden, das Verzeihen aus dem nicht-politischen in den politischen Raum überführen (siehe VA, 310) und das Verzeihen als allgemeines Handlungsvermögen politisch ausbuchstabieren sollte. Weshalb ist das ausgeblieben? Ricœur erklärt sich (siehe Kapitel 7.c.g) dieses Desiderat so: Arendts Bestimmung der Liebe als dem entscheidenden Motiv für die zwischenmenschliche Gewährung von Verzeihung offenbare den antipolitischen Charakter ihrer Verzeihung (vgl. VA, 308 f.). In die von ihm irrtümlich angenommene und zeitlich aufgefasste Symmetrie von Verzeihen und Versprechen müsse daher die Diskordanz in Bezug auf ihre Operationsebenen eingezeichnet werden: Das Versprechen sei politisch und das Verzeihen antipolitisch. Wegen der operationellen Asymmetrie aber müsse Arendts Ersetzung der Liebe durch den Respekt scheitern (vgl. GGV, 751 f.). Ricœurs Zweifel an der Tauglichkeit des Respekts beruhen darauf, dass er durch den Respekt die operationelle Asymmetrie in Arendts Doppelvermögen von dessen zeitlicher Symmetrie unstatthaft verdeckt sieht. Nur deswegen käme sie auf den Gedanken, die A
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Liebe durch den Respekt zu ersetzen, umso ein politisches Verzeihen in Reichweite zu rücken. Ricœur jedoch scheint seine beiden Analyseebenen, die Diskordanz und die Symmetrie, zu vermischen. Denn der von ihm kritisierte Ersetzungsversuch, den Arendt de facto nicht vorgenommen hat, fände allein auf der Ebene der operationellen Diskordanz statt und hätte auf die zeitliche Symmetrie keinen Einfluss. Daher scheint er die Meinung zu vertreten, die zeitliche Symmetrie habe Arendt veranlasst, ohne größere Umstände von einer operationell-politischen Symmetrie beider Vermögen auszugehen. Damit befände er sich ganz auf der Linie eines Großteils der Arendt-Forschung, der ihren Handlungsbegriff als politischen Handlungsbegriff beschreibt, mit der einen Ausnahme eben, dass er das Verzeihen (wegen der Liebe) nicht mehr unter das Dach des politischen Handelns einordnen mag. Ich habe hingegen die berechtigte These, dass »Arendt von vornherein einen politisierten Begriff menschlicher Praxis hat«, 1 um den Begriff eines nicht-politischen, privaten Handelns erweitert (siehe Kapitel 3.b). Damit ist aber Ricœurs Doppelthese von der zeitlichen Symmetrie und der operationellen Diskordanz der Boden entzogen. Für Ricœur und auch Derrida und viele andere gibt es keine Politik der Vergebung. Und Ricœurs Meinung ist vorbehaltlos zuzustimmen, dass auch Arendt dies geahnt hat (vgl. GGV, 751). Aber der Grund dafür ist nicht jene Diskordanz. Diese liegt bei Arendt nicht vor, weil das Versprechen bei ihr nicht allein ein politisches Vermögen und das Verzeihen gerade nur ein nicht-politisches Vermögen ist (vgl. Kapitel 2–3). Der Grund ist auch nicht die Untauglichkeit des Respekts als Beweggrund dafür, wieso man Menschen verzeihen könnte, zu denen man in keiner nahen Beziehung steht. Zumindest wäre ein Ersetzungsversuch Arendts abzuwarten. Der Zusammenhang von Liebe und Verzeihung zeigt gerade, dass das Verzeihen Arendts ein nicht-politisches Vermögen ist und dass Ricœurs These der Diskordanz sich nur auf den – uneingelösten – Anspruch beziehen kann, der sich mit Arendts Gedankenspielen zum Respekt verbindet. Aber selbst wenn sie diese umgesetzt hätte, wäre es bei dem Verzeihen als nicht-politischem Vermögen geblieben. Nur weil es in die politische Sphäre übertragen worden wäre, hätte es seine nichtpolitische Dimension nicht verloren. Die Gründe dafür, warum es richtig ist, Arendt in den Kreis de1
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Politisches Verzeihen?
rer aufzunehmen, für die es »keine Politik der Vergebung« (GGV, 751) gibt, sind vielmehr ihr Begriff des Verzeihens selbst und die konstitutiven Bedingungen des Verzeihens: in der Angelegenheit eines politischen Verzeihens vor allem das Vorrecht des Opfers auf die Gewährung von und die Unvertretbarkeit des Täters in der Bitte um Verzeihung. In der Forschung, um damit einzusetzen, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit politischen oder kollektiven Verzeihens vornehmlich so, dass ein Kollektiv um Verzeihung bitte und Wege einer versöhnten Koexistenz mit einem anderen Kollektiv suche. Auf diese Weise wird erneut mit dem Verzeihen vermischt, was sich schon auf der unmittelbar intersubjektiven Ebene oftmals nur schwer auseinanderhalten ließ: nämlich die Wiederherstellung moralischer Symmetrie von prinzipiell gleichrangigen Personen auf der einen und die Ermöglichung neuer Beziehungen zwischen diesen Personen auf der anderen Seite. Bei der Verhandlung von Schuldgeschichten zwischen Kollektiven scheint diese Gefahr, dass der Unterschied zwischen Verzeihung und Versöhnung eingezogen wird, nur größer als ohnehin zu sein. Als Beispiel einer solchen stellvertretenden und im Namen eines Täterkollektivs vorgebrachten Bitte um Verzeihung in der Absicht der Versöhnung können neben den politischen Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 auch die seit den achtziger Jahren eingerichteten Wahrheitskommissionen gelten. Denn sie erheben nicht nur den Anspruch auf ein stellvertretendes Verzeihungsgeschehen zwischen gesellschaftlich verfeindeten Gruppen, sondern tun dies auch in dem Sendungsbewusstsein, Wahrheit ans Licht bringen und Versöhnung befördern zu können; so wie die südafrikanische Kommission nicht von ungefähr »Truth and Reconciliation Commission« hieß. Das Beispiel der westdeutschen Entschädigungspolitik wirft einiges Licht auf die Tücken einer politischen Auffassung des Verzeihens. Denn in ihr ging es nie allein um den ohnehin nur annähernd möglichen Schadensausgleich, sondern auch darum, neue Beziehungen zwischen Staaten/Kollektiven und ihren Mitgliedern zu ermöglichen. Mit dem politischen Verzeihen ist eben auch im hier zugrunde gelegten analytischen Sinne ein Verzeihen und kein Vergeben beabsichtigt. Eine stellvertretend gewährte Vergebung kann es im strengen Sinne des Begriffes der Vergebung nicht geben, weil die zur Vergebung bestellten staatlichen Instanzen selbst repräsentativ sind, im Auftrag der Gemeinschaft handeln und allein an der NormA
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wiederherstellung interessiert sind. Was hingegen politisches Verzeihen genannt wird, will weitaus mehr: die Versöhnung zwischen Kollektiven, das heißt zwischen ihren Mitgliedern. Die Frage nach der politischen Verzeihung wirft nicht nur erneut die schon verhandelte Frage nach der Möglichkeit eines stellvertretenden Verzeihens auf (siehe Kapitel 7.c.b), sondern sie fragt vielmehr nach der Möglichkeit, ob die Strukturen einer unmittelbar zwischenmenschlichen Beziehung auf die Beziehungen zwischen Kollektiven übertragbar sind. Und der maßgebliche Grund dafür, dass es kein politisches Verzeihen geben kann, ist in Arendts Begrifflichkeit (wieder am Beispiel des Täters veranschaulicht) der Unterschied zwischen persönlicher Schuld und kollektiver Verantwortung. Der nähere Ausweis von Bitte und Gewährung von Verzeihung mit dem zentralen Gedanken der jeweiligen Unvertretbarkeit (das Vorrecht um Verzeihung zu bitten oder sie zu gewähren) vermag die folgende Beschreibung des politischen als Unterfall der unmöglichen stellvertretenden Verzeihung anzuleiten. 2 Als Teil eines Kollektivs stehe ich in der historischen Verantwortung für das, was Mitglieder meiner Gemeinschaft in meinem Namen tun oder getan haben. Was ich nicht persönlich getan oder unterlassen habe, das kann man mir jedoch nicht als meine Tat zurechnen. 3 Brandt fiel in Warschau nicht nur als politischer Repräsentant, sondern auch in Anerkennung seiner kollektiven Verantwortung als persönlich wiederum unvertretbarer Teil seines Kollektives auf die Knie, nicht jedoch als persönlich Schuldiger an den Taten, deretwegen er »unter der Last der Millionen Ermordeten tat […], was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.« 4 Und dass er dies am Denkmal für die Widerstandskämpfer des Ghettos tat und nicht am Denkmal für den unbekannten Soldaten, bemerkte man in Polen sehr genau, während das Täterkollektiv – teils bis heute – eher darüber hinwegging/-geht und Brandts Kniefall als Versöhnungsgeste zwischen Polen und Deutschen feiert/e und weniger als Vgl. zur Unmöglichkeit des stellvertretenden Verzeihens Kapitel 7.c.b; siehe FN 64, S. 102, diejenigen, die von einem politischen Verzeihen bei Arendt ausgehen. 3 Neben den Überlegungen von Arendt (in Kapitel 2.c) verweise ich zur philosophischen Begründung der Möglichkeit einer persönlichen Übernahme derjenigen Verantwortung, die einem aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe erwächst, auf Ludger Heidbrink: Gibt es Verantwortung für die Vergangenheit?, in: PhR 45 (1998), S. 149–162; Lohmar: Moralische Verantwortlichkeit, S. 259–292. 4 Willy Brandt: Erinnerungen, Frankfurt/Main 1989, S. 214. 2
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jene Demutsgeste versteht/verstand, als die Brandt sie sah, und damit einen weiteren Beleg für die Berechtigung von Derridas, Ricœurs und anderer Skepsis gegenüber dem Theater des verzerrten Verzeihens im Felde der Politik li