Partei ergreifen im Interesse der Welt: Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts [1. Aufl.] 9783839414453

Hannah Arendt hat in ihrem Versuch, das Beispiellose der Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu begreifen, eine Form des Den

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German Pages 270 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Über den Zusammenhang von Traditionsbruch und Urteilskraft
1.1 Arendts Verständnis des Traditionsbruchs in der Diskussion
1.2 Walter Benjamin und Arendts Zugang zur Geschichte
1.3 Die Hinwendung zur Wirklichkeit der Welt
1.4 Traditionsbruch und sensus communis – Arendt und Kant
1.5 Urteilskraft und sensus communis bei Kant
1.6 Arendts Transformation der Kritik der Urteilskraft
2 Die Politik der Vernichtung und die Vernichtung des Politischen
2.1 Totale Herrschaft als Spiegelschrift
2.2 Die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft (I): Totale Herrschaft
2.3 Die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft (II): Antisemitismus und Imperialismus
2.4 Die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft (III): Ein exemplarisches Beispiel der Banalität des Bösen: Adolf Eichmann
3 Reflektierende Urteilskraft als Ethik der Macht. Die Zusammengehörigkeit von politischer Freiheit, Macht und Urteilskraft
3.1 Kritik des traditionellen Freiheitsbegriffs
3.2 Kritik der Souveränität als Grundlage des Politischen
3.3 Macht, öffentlicher Raum und Urteilskraft
3.4 Der öffentliche Raum
3.5 Vita activa und der Begriff der Welt
3.6 Die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Urteilen
Schluss: Partei ergreifen im Interesse der Welt
Literatur
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Partei ergreifen im Interesse der Welt: Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts [1. Aufl.]
 9783839414453

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Waltraud Meints Partei ergreifen im Interesse der Welt

Edition Moderne Postmoderne

Waltraud Meints (Dr.phil.) ist Mitherausgeberin des Nachlasses von Hannah Arendt.

Waltraud Meints

Partei ergreifen im Interesse der Welt Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Moritz Rinn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1445-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

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1 Über den Zusammenhang von Traditionsbruch und Urteilskraft 1.1 Arendts Verständnis des Traditionsbruchs in der Diskussion 1.2 Walter Benjamin und Arendts Zugang zur Geschichte 1.3 Die Hinwendung zur Wirklichkeit der Welt 1.4 Traditionsbruch und sensus communis – Arendt und Kant 1.5 Urteilskraft und sensus communis bei Kant 1.6 Arendts Transformation der Kritik der Urteilskraft

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2 Die Politik der Vernichtung und die Vernichtung des Politischen 2.1 Totale Herrschaft als Spiegelschrift 2.2 Die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft (I): Totale Herrschaft 2.3 Die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft (II): Antisemitismus und Imperialismus 2.4 Die Arbeit der reflektierenden Urteilskraft (III): Ein exemplarisches Beispiel der Banalität des Bösen: Adolf Eichmann

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3 Reflektierende Urteilskraft als Ethik der Macht Die Zusammengehörigkeit von politischer Freiheit, Macht und Urteilskraft 3.1 Kritik des traditionellen Freiheitsbegriffs 3.2 Kritik der Souveränität als Grundlage des Politischen 3.3 Macht, öffentlicher Raum und Urteilskraft 3.4 Der öffentliche Raum 3.5 Vita activa und der Begriff der Welt 3.6 Die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Urteilen

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Schluss: Partei ergreifen im Interesse der Welt

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Literatur

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Für Wolfram und Adrian

Einleitung

„Wie kann man denken, und wie kann man, was in unserem Zusammenhang noch viel wichtiger ist, urteilen, ohne sich an vorgegebene

Normen

und

allgemeine

Maßregeln zu halten, welchen man die konkreten Fälle und Beispiele der Erfahrung unterordnen kann? Oder anders gesagt: was geschieht mit der menschlichen Urteilskraft, wenn sie auf Ereignisse trifft, die den Zusammenbruch aller gewohnten Werte vorexerzieren, auf Ereignisse, die gewissermaßen in den allgemeinen Regeln nicht vorgesehen sind – nicht einmal als Ausnahme von diesen Regeln?“ HANNAH ARENDT

Was ist Urteilskraft? Woran zeigt sie sich? Kann man sie „lernen“? Oder bedarf es dazu eines besonderen Talents, das einige haben und andere nicht? Unklar ist nicht nur, was Urteilskraft ist, sondern auch, in welchen Kontexten wir Urteilskraft benötigen. Die Unklarheit findet sich in der Auseinandersetzung über den Begriff wieder.1 Man findet nicht nur ver-

1

Vgl. Vollrath, Ernst: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart 1977; Ders.: Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seine Wahrnehmung, Würzburg 2003; Juchler, Ingo: Demokratie und politische Urteilskraft, Schwalbach/Ts. 2005; siehe auch Buchstein, Hubertus/Göhler, Ger-

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schiedene Verständnisweisen von Urteilskraft, sondern auch unterschiedliche Geltungsbereiche, die ihr zugeschrieben werden.2 Dabei hat der Begriff des Urteilens eine lange Geschichte, gleiches gilt für den Begriff der Urteilskraft. Die spezifischste Bestimmung der Leistung der Urteilskraft geht ohne Zweifel auf die Philosophie Immanuel Kants zurück.3 Dass in ihr der Schlüssel für eine Grundlegung des Politischen im 20. Jahrhundert zu finden sei, ist die weithin bekannte These Hannah Arendts. Weniger bekannt ist allerdings, dass der Begriff der Urteilskraft tatsächlich grundlegend für das gesamte Werk von Arendt ist. Dass dies so ist und – vor allem – warum dies so ist, wird in der vorliegenden Arbeit gezeigt. Das Werk von Arendt teilt das Schicksal vieler moderner Klassiker: Es wird häufig zitiert, aber selten rezipiert. Wenn es auch richtig ist, dass die Sozialphilosophie der Nachkriegszeit wesentliche Impulse durch die Schriften von Arendt erhalten hat und Aspekte ihres Denkens sich in Jürgen Habermas’ Begriff des kommunikativen Handels ebenso wiederfinden wie in Cornelius Castoriadis’ Idee der revolutionären Praxis oder in Charles Taylors Vorstellung einer freiheitsverbürgenden Öffentlichkeit,4 so ist es doch umso erstaunlicher, dass der begrifflich-systematische Zusammenhang ihrer Schriften weitgehend ohne Relevanz für die politisch-philosophische Gegenwartsorientierung geblieben ist. Dies hat sich auch mit den Büchern von Margaret Canovan und Richard Bernstein nicht wesentlich geändert, die Mitte der neunziger Jahre in der Arendt-Forschung eine Art „Paradigmenwechsel“ vollzogen, indem sie eindrucksvoll zeigten, dass die zwei großen menschheitsgeschichtlichen Einschnitte in der Mitte des letzten

hard (Hg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007; Bredow, Wilfried von/Noetzel, Thomas: Politische Urteilskraft, Wiesbaden 2009. 2

Die Geltung der Urteilskraft wird in ästhetischen, ethischen, erkenntnistheoretischen und politischen Gegenstandsbereichen diskutiert. Vgl. Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt a.M. 1996; Rodi, Frithjof (Hg.), Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, Weilerswist 2003.

3

Vgl. Artikel zu Urteil, Urteilskraft, Urteilsvermögen, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried K. (Hg.), Historisch-philosophisches Wörterbuch, Bd. 11, Basel 2001, S. 430-478, S. 479-486.

4

Vgl. Honneth, Axel: Pathologien des Sozialen, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2000, S. 11-70, hier S. 53f.

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Jahrhunderts – Auschwitz und Kolyma – den nervus rerum für das Denken Arendts bilden.5 Der innere Zusammenhang von Arendts Schriften wird insbesondere in Bezug auf die Bücher Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Vita activa und Über die Revolution in der Gegenwartsphilosophie kaum wahrgenommen.6 Vor allem zwei wirkungsmächtige Lesarten haben ein angemes-

5

Vgl. Canovan, Margaret: Hannah Arendt: A Reinterpretation of Her Political Thought, Cambridge 1992; Bernstein, Richard, J.: Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge 1996.

6

Dass Arendt ihre Reflexionen auf das, was wir tun, wenn wir tätig sind – also ihr Buch: Vita activa – im Kontext des Traditionsbruchs gesehen hat, belegt folgende Stelle im Denktagebuch im April 1955: „Amor mundi. Introduction: The Broken Thread of Tradition as a sort of Justification for the whole enterprise. Then a series of treatises all dealing with one question: What is it in the Human Condition that makes politics possible and necessary? Or: Why is there somebody and not rather nobody? (The double threat of nothingness and nobodyness) Or: Why agree we in the plural and not in the singular?“ Arendt, Hannah: Denktagebuch, 1950-1973, München 2002, Bd. 1, S. 523. Canovan hebt den inneren Zusammenhang im Werk von Arendt hervor: „Virtually the entire agenda of Arendts political thought was set by her reflections on the political catastrophes of the mid-century.“ Canovan, Margaret: Hannah Arendt, a.a.O., S. 7. Vgl. auch Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt and the Jewish Question, a.a.O., S. 10; siehe auch Schindler, Roland: Geglückte Zeit – gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, Frankfurt a.M. 1996; Taminiaux, Jacques: The Philosophical Stakes in Arendts Genealogy of Totalitarianism, in: Social Research. An International Quarterly of Social Sciences 69 (2002), S. 423-447; Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg 1998, S. 111-130; Grunenberg, Antonia: Macht kommt von möglich..., in: Dies./Probst, Lothar (Hg.), Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute, Bremen 1995, S. 83-95; Nordmann, Ingeborg: How to write about Totalitarianism, in: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, Dresden 1999, S. 53-68; Heuer, Wolfgang: Hannah Arendt über das Böse im 20. Jahrhundert, in: Horster, Detlef (Hg.), Das Böse neu denken, Weilerswist 2006, S. 15-28; Rese, Friederike: Macht, Gewalt und öffentlicher Raum, in: Grunen-

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senes Verständnis der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bislang verhindert. Die eine besteht in der These, dass Arendts Analyse der totalen Herrschaft in den Kontext des Kalten Krieges gehöre und sie den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus gleichgesetzt habe. Die andere betrifft den Aufbau und die Argumentationsstruktur des Buches. Der Text erscheint als eine Art Steinbruch origineller Einzelansichten, als eine Ansammlung nur lose aneinander gereihter Essays ohne inneren Zusammenhang und systematischen Aufbau. Auch die Vorbehalte gegenüber Vita activa wie auch Über die Revolution sind geblieben. Der erste betrifft Arendts Demokratieverständnis, das elitär sei und zudem die soziale Frage dem Politischen unterordne.7 Der zweite zentrale Vorbehalt betrifft Arendts normative Fundierung ihrer Kritik des Zerfalls des Politischen als des Zerfalls einer gemeinsamen Welt. Diese idealisiere die griechische Polis, worin eine romantische Abkehr von der modernen Gesellschaft sichtbar werde.8 Als Konsequenz daraus folgt,

berg Antonia/Meints, Waltraud/Bruns, Oliver/Harckensee, Christine (Hg.), Perspektiven politischen Denkens, Frankfurt a.M. 2008, S. 109-133. 7

Für eine neue Lesart zur sozialen Frage bei Arendt siehe: Jaeggi, Rahel: Die im Dunkeln sieht man nicht: Hannah Arendts Theorie der Politisierung, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, Berlin 2007, S. 251-250; Vgl. Meints, Waltraud: Hannah Arendt und das Problem der Exklusion – eine Aktualisierung, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, a.a.O., S. 251-260.

8

Vgl. Habermas, Jürgen: Hannah Arendts Begriff der Macht, in: Ders.: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1984, S. 223-249, hier S. 240; Sternberger, Dolf: Die versunkene Stadt. Über Hannah Arendts Idee der Politik, in: Reif, Adelbert (Hg.), Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien 1979, S. 123-135, S. 171f. Vgl. auch O’Sullivan, Noel: Hannah Arendt. Hellenic Nostalgia and Industrial Society, in: Crespigny, Anthony de /Minogue, Kenneth (Hg.), Contemporary Political Philosophers, London 1976, S. 228-252; Figal, Günther: Öffentliche Freiheit. Der Streit von Macht und Gewalt. Zum Begriff des Politischen bei Hannah Arendt, in: Gerhardt, Volker/Ottmann, Henning/Thompson, Martyn P. (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 1994, Stuttgart 1994, S. 123-136, hier S. 123; Brumlik, Micha: Zwischen Polis und Weltgesellschaft. Hannah Arendt in unserer Gegenwart, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität?, München 2007, S. 311-331.

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dass ihre Schriften hauptsächlich als Entwürfe über das gute Leben gelesen werden, als Plädoyer dafür, dass allein im Athenischen Stil das richtige Leben zu finden sei. Für moderne Politik aber sei Arendts Theorie des Politischen nicht zu gebrauchen. Die Perspektiven ihrer Begriffsarbeit werden als utopisch oder realitätsuntauglich zurückgewiesen. Die zwiespältige Form der Aufnahme, die bereits Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gefunden hatte, ist charakteristisch für alle weiteren Studien von Arendt geblieben. Die zeitgeschichtlichen Rezeptionen von Arendts Büchern wären nicht weiter verwunderlich, wenn man in der Entwicklung des arendtschen Denkens eine „Kehre“ oder gar einen „Bruch“ im Sinne von verschiedenen Perioden ausmachen könnte. Dies ist aber nicht der Fall: Die Schriften von Arendt haben sich vielmehr kontinuierlich entfaltet und sind aufgrund der katastrophalen Ereignisse im 20. Jahrhundert ins Politische gewendet worden. Die Frage nach dem Miteinander der Menschen ist schon in ihrer ersten Schrift Der Liebesbegriff bei Augustin als Grundmotiv wirksam, die sie dann – wie wir noch sehen werden – mit der Kraft des reflektierenden Urteilens beantwortet.9 Arendt teilte von 1933 bis 1951 das Schicksal derer, die weder eine Staatsangehörigkeit noch Rechte haben.10 Sie gehörte zu jenen philosophierenden Intellektuellen, die sich vor den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten hatten retten können; und wie bei Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Günther Anders – um nur einige wenige zu nennen – ist auch bei Arendt Auschwitz eben jene alles überschattende Katastrophe, der man inne werden muss, wenn man zu einem angemessenen Verständnis ihrer Philosophie des Politischen kommen will. Das Ereignis der totalen Herrschaft bildet den geschichtlichen Referenzpunkt, der bei Arendt zugleich zum philosophischen Ausgangspunkt für einen Begriff des Politischen wird. Ohne Reflexion auf dieses Ereignis bleiben ihre Texte dem Leser verschlossen. Das Ereignis als Bezugspunkt des Denkens erfordert zwei Reflexionsbewegungen. Einmal in Relation zu den Ereignissen ihrer Zeit, zum anderen in Bezug auf das bereits Gedachte. Genau in dieser zweifachen Bewegung verläuft die Reflexion bei Arendt und nimmt dabei die Form

9

Vgl. Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929.

10 Vgl. Traverso, Enzo: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg 2000, S. 103ff.

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einer doppelten Paradoxie an: zum einen die ebenso unermüdliche wie vergebliche Anstrengung, das Unbegreifliche der Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu begreifen; zum anderen die schonungslose Demontage der philosophischen Tradition, in der sich Arendt zugleich einer Vergangenheit vergewissert, für die alle Tradition gleich fragwürdig war und die dadurch allererst den Raum für ein freies Urteilen eröffnete. Diese „verborgene Tradition“, wie Arendt sie nennt und unter anderem an Rahel Varnhagen, Heinrich Heine und Franz Kafka offen legt, eröffnet dem Denken nach dem Traditionsbruch eine Perspektive, die zu einem neuen Anfang ermutigt.11 Es ist der „doppelt konnotierte Traditionsbruch“12, der Arendt in eine Bewegung des reflektierenden Urteilens führt, die über den fundamentalen Zweifel an den Begriffen der neuzeitlichen Philosophie und politischen Theorie schließlich in eine Neubestimmung des Politischen mündet. Ist diese Neubestimmung, die als Versuch einer Philosophie des Politischen nach Auschwitz gelesen werden kann, das Ergebnis reflektierender Urteilskraft, so ist eben diese reflektierende Urteilskraft das Kraftzentrum von Arendts emphatischen Begriff des Politischen. In ihrem Versuch, das Beispiellose der Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu begreifen, praktiziert Arendt eine Form des Denkens, in der sie zugleich – quasi gleichursprünglich – die Möglichkeit eines gelingenden Welt- und Selbstverhältnisses im Politischen entdeckt: die Kraft des reflektierenden Urteilens. Und genau hierin liegt – so meine These – Arendts zentraler Beitrag zur Politischen Theorie. Ist der Begriff der politischen Urteilskraft grundlegend für Arendts Theoriebildung und Theorieverständnis, so ist der innere Zusammenhang zwischen dem Begriff der totalen Herrschaft und dem der politischen Urteilskraft zentral für ihr gesamtes Werk. Im sensus communis13 als der Operationsweise der politischen Urteilskraft entdeckt Arendt ein Welt- und Selbstverhältnis, durch das sich die Menschen sowohl im Denken als auch im Handeln in der ihnen gemeinsamen Welt orientieren können; der Begriff

11 Arendt, Hannah: Sechs Essays, Frankfurt a.M. 1948; vgl. auch Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt, Frankfurt a.M. 1994. 12 Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt, Martin Heidegger und Karl Jaspers. Denken im Schatten des Traditionsbruchs, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität?, a.a.O., S. 101-123, hier S. 101. 13 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt a.M. 1988, S. 224: B 155, 156.

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der totalen Herrschaft hingegen markiert die Zerstörung eben dieser gemeinsamen Welt.14 Der sensus communis und damit die reflektierende Urteilskraft ermöglichen, dass Menschen der Welt sowohl teilnehmend als auch beobachtend begegnen. Diese zwei Zugangsweisen zur Welt stehen in einem Zusammenhang und einem Spannungsverhältnis: als Handelnder benötige ich Zustimmung von anderen, als Zuschauer geht es um die Bestimmung dessen, was ist.15 Arendt hat diesen Gedanken in einem Brief an Karl Jaspers (29.11.1964) explizit formuliert: „Habe viel gelernt. Bin vor allem über einiges Methodisches klar geworden, was Du doch an mir immer so vermisst. Darüber müssen wir sprechen. An Hand der ‚Kritik der Urteilskraft‘. Eine mögliche Begriffsbildung für die historisch-politischen Wissenschaften. Und repräsentatives Denken in der Politik auf Grund der Urteilskraft.“16

Man kann hier tatsächlich von einer werkgeschichtlichen Kontinuität sprechen. Schon in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft besetzt die Urteilskraft, wenn auch eher subkutan, eine Schlüsselstelle; in den späteren

14 Vgl. hierzu Kurbacher, Frauke Annegret: Selbstverhältnis und Weltbezug. Urteilskraft in existenzhermeneutischer Perspektive, Hildesheim 2005. Kurbacher erörtert die Urteilskraft als kritische Reflexion und Revision bisheriger Subjektphilosophie nach den Kriegsgeschehnissen im 20. Jahrhundert, die sich als Venunftkritiken artikuliert. Sie zeigt dies anhand von Gadamer, Arendt, Lyotard und Derrida und begreift die Urteilskraft als Auslotung eines dem Menschen möglichen Selbst- und Weltverhältnisses und damit als Orientierungsvermögen. Ebd., S. XIII. Vgl. auch Boll, Monika: Zur Kritik des naturalistischen Humanismus. Der Verfall des Politischen bei Hannah Arendt, Wien 1997, S. 8f. Boll spricht von einem „negativen Politikbegriff“ bei Arendt, der bereits in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft enthalten sei. Der positiv ausformulierte Politikbegriff sei hingegen in Vita activa zu finden. 15 Siehe hierzu auch Makkreel, Rudolf: Reflektierende Urteilskraft und orientierendes Denken, in: Rodi, Frithjof (Hg.), Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften, a.a.O., S. 35-49, hier S. 49. Vgl. hierzu auch: Makkreel, Rudolf: Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1997. 16 Arendt, Hannah/Jaspers, Karl, Briefwechsel 1926-1969, München 1987, S. 612.

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Schriften bildet sie das Zentrum des Denkens von Arendt. Diese Grundannahme geht davon aus, dass ein bestimmtes politisches und philosophisches Denken zu einer bestimmten historischen Zeit ein Zentrum besitzen muss. Dies meint nicht etwa, dass jedes Denken auf ein philosophisches System abziele. Es unterstellt aber, dass es einen systematischen, um ein organisierendes Zentrum kreisenden Begriffszusammenhang zu entdecken gilt. So auch bei Arendt. Relation und Relevanz der einzelnen Aspekte ihres Denkens ergeben sich erst in der Beziehung zu diesem organisierenden Zentrum. Denn wenn es richtig ist, dass es in der Philosophie immer um das Ganze unseres Welt- und Selbstverhältnisses geht, indem sie Begriffe in Bewegung und in neue Konstellationen bringt, und die Arbeit an „Begriffsnetzen“ nur in diesem Zusammenhang verstanden werden kann,17 dann könnte man Arendt als eine Philosophin wider Willen charakterisieren. Zweifellos hat sie an neuen Begriffskonstellationen gearbeitet wie kaum eine andere. Auch zeigt sich bei ihr, dass „Explikation, These und Begründung“18 ineinander greifen und nur vom Ganzen des Textzusammenhangs her klare Konturen gewinnen. Das Moment von stilisierender Gewalt einer solchen Werkinterpretation, die notwendig vereinheitlicht, soll dabei nicht unterschlagen werden. Denn Arendts Philosophie des Politischen bereitet jedem Vorhaben, ihr weitgefächertes philosophisches Denken von einem leitenden Gesichtspunkt aus zu erschließen, in einem nicht geringem Maße Schwierigkeiten. Sie selber hat dies frei nach Gotthold E. Lessing antizipiert: „Ich bin [...] nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen [die Leser] Stoff finden, selbst zu denken.“19 Bislang gibt es nur wenige Studien, die den inneren Zusammenhang zwischen Arendts Analyse der totalen Herrschaft und ihrer Bestimmung der

17 Wellmer, Albrecht: Gibt es eine Wahrheit jenseits der Aussagenwahrheit, in: Wingert, Lutz/Günther, Klaus (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2001, S. 13-53, hier S. 21. 18 Ebd., S. 24. 19 Zit. nach Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 1749, hier S. 22.

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politischen Urteilskraft thematisiert haben. Zu nennen ist hier Lisa Jane Disch.20 Sie stellt Arendts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus in den Mittelpunkt und spricht von einer politischen Rationalität als Rationalität des Politischen, die Arendt in Kants Kritik der Urteilskraft entdeckt habe. Auch Albrecht Wellmer und Richard Bernstein heben den inneren Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Nationalsozialismus und Arendts Hinwendung zur politischen Urteilskraft hervor, führen ihn aber nicht weiter aus.21 Die geringe Aufmerksamkeit in der bisherigen Arendt-Forschung für den in der vorliegenden Arbeit entfalteten Zusammenhang hat sicher auch damit zu tun, dass der Tod verhindert hat, dass die Philosophin der Natalität die Implikationen ihres Begriffs politischer Urteilskraft entfalten konnte.22 Gleichwohl haben einige Autoren den Versuch einer Rekonstruktion des Begriffs unternommen.23 Forschungsbestimmend wurden drei

20 Vgl. Disch, Lisa Jane: Hannah Arendt and the Limits of Philosophy, New York 1994. 21 Vgl. Wellmer, Albrecht: Hannah Arendt on Judgement: The Unwritten Doctrine of Reason, in: Ders.: Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a.M. 1993, S. 309-331; Vgl. Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt: Judging – the Actor and the Spectator, in: Garner, Reuben (Hg.), The Realm of Humanitas. Responses to the Writings of Hannah Arendt, New York 1982, S. 235-253; Ders.: Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge 1996. 22 Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1985. 23 Vgl. Ingram, David: The postmodern Kantianism of Arendt and Lyotard, in: Benjamin, Andrew (Hg.), Judging Lyotard, London 1992, S. 119-145; Benhabib, Seyla: Urteilskraft und die moralischen Grundlagen der Politik im Werk Hannah Arendts, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), S. 521547; Vollrath, Ernst: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, a.a.O.; Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 115-216; Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft, Lüneburg 1999; Opstaele, Dag Javier: Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999; Schindler, Roland: Geglückte Zeit – gestundete Zeit, a.a.O.; Saavedra, Marco Estrada: Die deliberative Rationalität des Politischen: Eine Interpretation der Urteilslehre Hannah Arendts, Würzburg 2002.

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werkgeschichtlich orientierte Interpretationshypothesen, die Ronald Beiner, der Arendts Vorlesungsmanuskripte über Kants politische Philosophie herausgegeben hat, erörtert:24 (1) Arendt habe nicht eine Theorie des Urteilens verfolgt, sondern zwei: einmal aus der Perspektive des Handelns, der Akteure und einmal aus der Perspektive des unbeteiligten Zuschauers.25 (2) Die beiden Konzeptionen implizierten einen radikalen Perspektivwechsel, der sich werkgeschichtlich als „Bruch“ oder gar „Kehre“ beschreiben lasse.26 (3) Der Eichmannprozess sei der Auslöser für Arendts Auseinandersetzung mit der Urteilskraft gewesen.27 Es gebe, so schlussfolgert Ronald Beiner, „eine tiefe Spannung zwischen Arendts früheren Reflexionen über das Urteil […] und dem, was als ihre endgültige Formulierung hervorzutreten scheint“28. Ausgehend von der These eines Bruchs in Arendts Überle-

24 Vgl. Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 115-216. 25 Vgl. ebd., S. 118; vgl. auch Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O. 26 Vgl. Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, a.a.O., S. 172. 27 Vgl. auch Benhabib: „Um das philosophische Problem des moralischen Urteils, das ihr der Prozeß in aller Dringlichkeit vor Augen geführt hatte, zu lösen oder besser: gründlich zu durchdenken, setzte sich Arendt in den folgenden Jahren mit dem ethischen und politischen Denken Kants auseinander.“ Benhabib, Seyla: Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited. Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem und die Folgen, Frankfurt a.M. 2000, S. 95-120, hier S. 96f. Vgl. auch Mosés, Stéphane: Das Recht zu urteilen: Hannah Arendt, Gershom Scholem und der Eichmann-Prozeß, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited, a.a.O., S. 78-94, hier S. 85f. Demgegenüber ist festzuhalten, dass Arendt in ihren frühen Aufzeichnungen von 1950 zu einer geplanten Einführung in die Politik formuliert, dass „politisches Denken wesentlich in der Urteilskraft gründet.“ Schon dort bezieht sie sich für ihr Verständnis der Urteilskraft auf die dritte Kritik Kants. Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München 1993, S. 19f, S. 98f.; vgl. Saavedra, Marco Estrada: Die deliberative Rationalität des Politischen, a.a.O., S. 110f. Auch Saavedra und Hermenau wenden sich in ihren Arbeiten gegen die vorgenommene Einteilung in ein frühes und spätes Werk, ohne jedoch die Urteilskraft doppelt zu bestimmen. 28 Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, a.a.O., S. 172, S. 176, S. 192. Gegen die These des „Bruchs“ im Werk von Arendt hat auch Ursula Ludz ar-

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gungen zum Urteilen wird hervorgehoben, dass sie die Spannungen im Konzept des Urteilens nicht habe lösen können. Richard Bernstein führt dies auf einen offenkundigen Widerspruch zwischen Denken und Handeln in Arendts Werk zurück: „A flagrant contradiction […] stands at the heart of her work. It is the conflict between her two central concerns – acting and thinking – and it comes into clear focus in her reflections on judging.“29 Ich halte alle drei Thesen – wie ich in dieser Arbeit zeigen werde – für fragwürdig. Das von Bernstein angesprochene Spannungsverhältnis zwischen dem Urteilenden als Akteur und dem Urteilenden als Zuschauer muss vielmehr als konstitutives begriffen werden. Dann wird auch klar, dass es sich keineswegs um zwei Konzepte der Urteilskraft bei Arendt handelt, sondern dass sie die reflektierende Urteilskraft doppelt bestimmt.30 Ein weiterer Streitpunkt in der Diskussion über Arendts „Judging“ bildet ihre Interpretation der Kritik der Urteilskraft von Kant. Bezweifelt wird, ob Arendt sich für ihr Vorhaben überhaupt auf Kants Philosophie berufen kann. Ihre Lesart widerspreche dem „Geist“ der kantischen Philosophie. So negiert Richard Bernstein die Möglichkeit einer Bezugnahme auf Kant überhaupt: „Arendt well knew that, even though she evokes the name of Kant, she was radically departing from Kant. There is no question in Kant that the ‚ability to tell right from wrong‘ is a matter of practical reason and not the faculty of reflective judgement which ascents from particulars to generals or universals.“31

Auch wird kritisiert, dass Arendt antike und moderne Konzepte des Urteilens miteinander vermische und grundsätzliche Differenzen einebne. So konstatiert Christopher Lasch:

gumentiert. Vgl. Ludz, Ursula: Kommentar der Herausgeberin, in: Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 137-180, hier S. 150f. 29 Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt: Judging – the Actor and the Spectator, a.a.O., S. 233. 30 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 95f. 31 Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt: Judging – the Actor and the Spectator, a.a.O., S. 247.

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„Auf der einen Seite verficht Arendt die These, das Urteilen sei die wesentlich politische Tugend, was offensichtlich zu einer Aristotelischen Auffassung von Politik führt, der zufolge sie einen Teilbereich der praktischen Vernunft bilde. Auf der anderen Seite beruft sie sich auf Kant als Quelle für ihre Ideen über das Urteilen und führt damit eine ganz andere Auffassung von Politik an. Danach muss sich politisches Handeln nicht auf die praktischen Künste, sondern auf allgemeine moralische Grundsätze gründen [...] Arendts Erörterungen des Urteilens verhilft nicht zur Klärung des Unterschieds zwischen der antiken und der modernen Moral- und Politikauffassung, sondern vermischt vielmehr die beiden Auffassungen.“32

Demgegenüber hat Ingeborg Nordmann zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich „die merkwürdige Tatsache beobachten [lässt], dass die phronesis nur noch in den nachgelassenen Fragmenten ihrer geplanten Einführung in die Politik erwähnt wird“33. Diese Beobachtung kann mit der von Arendt konstatierten These des Traditionsbruchs untermauert werden, insofern der Begriff der phronesis vorgegebene, gesetzte Rahmen und verbindliche Traditionen voraussetzt.34 Aber genau das ist für Arendt nicht mehr gegeben, weil die Erfahrung totaler Herrschaft den „Ruin unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe ans Licht gebracht“35 hat. Bemerkenswert ist schließlich auch die divergierende Verortung der Kant-Interpretation Arendts im Streit zwischen Moderne und Postmoderne, der in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts die philosophische Diskussion beherrschte. Sie ist zum Gegenstand zahlreicher theoretischer Auseinandersetzungen geworden. Zu nennen sind hier die Interpretationen von Jürgen Habermas, Seyla Benhabib, Richard Bernstein

32 Zit. nach Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O., S. 276f. 33 Nordmann, Ingeborg: Die Vita activa ist mehr als nur praktische Philosophie, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität, a.a.O., S. 199-215, hier S. 205. 34 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, München 1972, Buch VI; vgl. auch Vollrath, Ernst: Hannah Arendts „Kritik der Urteilskraft“, in: Kemper, Peter (Hg.), Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt, Frankfurt a.M. 1993, S. 34-55, hier S. 50. 35 Arendt, Hannah: Verstehen und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken 1, München 1994, S. 110-128 , hier S. 122.

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und Albrecht Wellmer oder auch Jean-Francois Lyotard, Dana Villa, Maurizio Passerin D’Entrèves, Jacques Taminiaux oder auch Anthony Cascardi. Es war nicht zuletzt Jürgen Habermas, der in seinen Vorlesungen zum philosophischen Diskurs der Moderne (1985) die ordnungsstiftende Polarisierung von Postmoderne und Moderne in einer Weise forciert hat, wie sie dann auch für die Auseinandersetzungen mit der Kant-Interpretation Arendts organisierenden Einfluss gewann. Während die Vertreter einer „unvollendeten Moderne“ – wie z.B. Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer und Seyla Benhabib – Arendts Fragment der politischen Urteilskraft im Sinne einer kommunikativen Variante der praktischen Vernunft interpretieren,36 verstehen David Ingram und Dana Villa sie im Sinne „postmoderner“ Denker, wie z.B. Jean-Francois Lyotard, die die reflektierende Urteilskraft zur Grundlage jeder Erkenntnis erheben.37 Im Unterschied zu diesen Interpretationen, die Arendt entweder in dem Diskurs der Moderne oder dem der Postmoderne lokalisieren, kann ihr Fragment über das Urteilen allerdings auch als ein Bezug auf die Moderne vorgestellt werden, der sich dieser ordnungsstiftenden Polarisierung von Moderne und Postmoderne gerade nicht fügt. Arendt interpretiert Kants Kritik der Urteilskraft weder als kommunikative Wendung der praktischen Vernunft noch behauptet sie, dass die reflektierende Urteilskraft die Grundlage oder Voraussetzung aller Urteile ist. Auch ist die Moderne für Arendt kein Projekt, das entweder in der Zukunft zu vollenden oder gänzlich zu verwerfen ist, sondern eines, was der radikalen Kritik bedarf.38 Das heißt

36 Vgl. Habermas, Jürgen: Alfred Schütz, in: Ders.: Philosophisch-politische Profile, a.a.O., S. 402-410, hier S. 409; Wellmer, Albrecht: Hannah Arendt on Judgement, a.a.O., S. 33-53; Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O.; vgl. auch Passerin D’Entrèves, Maurizio: The Political Philosophy of Hannah Arendt, London 1994. 37 Vgl. Ingram, David: The Post-Modern Kantianism of Arendt and Lyotard, a.a.O., S. 51-77; Villa, Dana: Arendt and Heidegger. The Fate of the political, New York 1996; Lyotard, Jean-Francois/Thebaud, Jean-Loup: Just Gaming, Manchester 1985; Lyotard, Jean-Francois: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989; siehe auch Lyotard, Jean-Francois: Sensus communis, in: Benjamin, Andrew (Hg.), Judging Lyotard, a.a.O., S 1-26. 38 So hat Anthony Cascardi Arendts Interpretation der Kritik der Urteilskraft als Versuch gewertet, das Projekt der Aufklärung zu vollenden: „In ascribing a poli-

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nun nicht, dass sich keine Argumente für die oben grob umrissenen, in Konkurrenz zueinander stehenden Positionierungen von Arendt finden ließen. Aber Stilisierungen dieser Art versperren eher den Blick auf ihren originären Beitrag zu einem neuen Verständnis des Welt- und Selbstverhältnisses, das sie gerade in Kants Kritik der Urteilskraft entdeckt. Um es zugespitzt und paradox klingend zu formulieren: In einer Neuaneignung der Philosophie Kants gelingt es Arendt, eine Form des Denkens freizulegen, die einen Weg aus den Aporien traditioneller Philosophie – also auch der kantischen – ermöglicht. Ihre Kritik an der Philosophie Kants ist insofern verwerfend und rettend zugleich. Sie verwirft das kantische „Faktum der Vernunft“, dem sie das „Faktum der Natalität und der Pluralität“ entgegensetzt. Sie lehnt nicht nur jegliche Form von Geschichtsphilosophie, sondern auch die Moralphilosophie Kants ab.39 Und doch knüpft sie an Kants dritte Kritik an – aber nicht, um sie so zu lassen wie sie ist, sondern um sie politisch zu wenden. An dieser Bezugnahme auf Kant lässt sich erkennen, welcher Art Arendts „Demontage“ der abendländischen Tradition politischen Denkens im Horizont des Traditionsbruchs ist. Was Arendt an Franz Kafka und Walter Benjamin hervorhebt, dass der „Griff in den Meeresgrund des Vergangenen […] diese eigentümliche Doppeltheit von Bewahren- und Destruieren-wollen an sich“40 hat, trifft auch für ihren eigenen Umgang mit der Vergangenheit nach dem Traditionsbruch zu. Was aber heißt es, wenn Arendt von „Demontage“ oder „Destruieren“ spricht oder wenn sie immer wieder den Satz von Renè Char: „Notre hèritage n’est précédé d’aucun testament“41 zitiert? Sie wollte an den Schatz unbearbeiteter Erfahrungen he-

tical content to what in Kant is radically indeterminate with respect to any particular sphere of social life, Arendt provides a closure for the Enlightment project that Kant himself could not secure [...].“ Cascardi, Anthony, J.: Aesthetics and Politics in Arendt and Kant, in: Calhoun, Craig/McGowan, John (Hg.), Hannah Arendt & The Meaning of Politics, Minneapolis 1997, S. 99-132, hier S. 109. 39 Vgl. Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 17-48, hier S. 44f. 40 Arendt, Hannah: Walter Benjamin, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, a.a.O., S. 185-242, hier S. 232. 41 Zit. nach Arendt, Hannah: Vorwort: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 7-21, hier S. 7.

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rankommen, aber ungeleitet und unbelastet von der Tradition. Genau in diesem Sinn hat Mary McCarthy Arendt als „conservationist“ bezeichnet: „She did not believe in throwing anything away that had ones been thought. A use may be found for it.“42 So kann auch ihr Zugang zu Kants Kritik der Urteilskraft mit der von ihr beschriebenen Denkungsart Benjamins beschrieben werden: „Dies Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit den ‚Denkbruchstücken‘, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresgrund auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen [Herv. v. W.M.]. Was dies Denken leitet, ist die Überzeugung, dass zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist […].“43

Studien, die den oben genannten, zuerst von Ronald Beiner formulierten und in der Forschung dominanten Interpretationsthesen zu Arendts Theorie des Urteilens widersprechen, sind rar. Für Deutschland sind die Arbeiten von Hilke Falkenhagen, Frank Hermenau, Dag Javier Opastaele und Marco Estrada Saavedra zu nennen.44 Sie weisen die These von Ronald Beiner zurück, dass Arendt sich erst nach dem Eichmann-Prozess intensiv mit der Urteilskraft beschäftigt habe. Insbesondere Disch zeigt auf, dass Arendts Beschäftigung mit der Urteilskraft auf ihre methodischen Fragestellungen beim Schreiben ihres Hauptwerkes Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zurückzuführen ist.45 Auch Falkenhagen, Hermenau und Saavedra

42 Brightmann, Carol: Introduction, in: Dies.: Between Friends. The Correspondence of Hannah Arendt and Mary McCarthy, New York 1995, S. XVI. 43 Arendt, Hannah: Walter Benjamin, a.a.O., S. 242. 44 Vgl. Falkenhagen, Hilke: Die Macht der Unterscheidung, Berlin 2004; Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen, a.a.O.; Opstaele, Dag Javier: Politik, Geist und Kritik, a.a.O.; Saavedra, Marco Estrada: Die deliberative Rationalität des Politischen, a.a.O. 45 Vgl. Disch, Lisa Jane: Hannah Arendt, a.a.O.

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heben die Bedeutung des Konzepts der Urteilskraft in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hervor und zeigen auf, dass Arendt bereits in diesem Werk den Verlust der Urteilskraft mit den Begriffen der „Weltlosigkeit“ und der „Entfremdung“ charakterisiert. Dag Javier Opstaele wählt eine andere Perspektive. Auch er kritisiert Beiners These von der „Kehre“ bei Arendt, der zufolge sie sich in ihrem späten Werk von ihrem politischen Interessengebiet abgewendet und sich der Philosophie zugewendet habe, und versucht darzulegen, dass Arendt zwar den Boden „ihrer Theorie des ‚politischen Handelns‘ zugunsten einer Beschäftigung mit Fragen der reinen Philosophie verlässt, gleichzeitig aber ihren politischen Entwurf dadurch zu seiner theoretischen Vollendung bringt“46. Inzwischen liegen zwei einschlägige Studien zum Verständnis des Rechts und zur Bedeutung politischer Institutionen bei Arendt vor, auf die ich mich hier leider nicht mehr in angemessener Weise beziehen kann.47 Meine Untersuchung hat von all diesen Arbeiten profitiert, grenzt sich jedoch in der Grundthese dadurch ab, dass ich nachweise, dass es nur eine Konzeption der Urteilskraft bei Arendt gibt: Es gibt weder eine frühe noch eine späte Konzeption, die das eine Mal dem Akteur zugeschrieben werden kann und das zweite Mal der Perspektive des Zuschauers entspricht, sondern die reflektierende Urteilskraft hat eine doppelte Funktion. Um diese These zu begründen, beabsichtige ich mit der vorliegenden Arbeit nicht, Arendts posthum veröffentlichte Schriften zur Urteilskraft zu rekonstruieren oder zu ergänzen. Vielmehr werde ich zeigen, dass Arendts nicht explizit ausgearbeitetes Verständnis der politischen Urteilskraft in ihrer doppelten Bestimmung in ihren eignen Schriften implizit enthalten ist. Dies wird anhand ihrer Studien Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Eichmann in Jerusalem exemplarisch aufgezeigt. Arendts Perspektive auf die Kritik der Urteilskraft von Kant ist sowohl Ausgangspunkt ihres Denkens im Schatten des Traditionsbruchs als auch Quelle für ihre Philosophie des Politischen.

46 Opstaele, Dag Javier: Politik, Geist und Kritik, a.a.O., S. 20f. 47 Vgl. Volk, Christian: Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, Baden-Baden 2010; Förster, Jürgen: Die Sorge um die Welt und die Freiheit des Handelns. Zur institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts, Würzburg 2009.

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Diese doppelte Orientierungsleistung der reflektierenden Urteilskraft ist Arendts Antwort auf den von ihr konstatierten Traditionsbruch und zeigt sich in ihrer Kritik am traditionellen Verständnis von Philosophie und Politik, Wahrheit und Meinung, Wissenschaft und gemeinen Verstand, Theorie und Praxis und Zuschauer und Akteur. Diese traditionellen und dichotomen Gegenüberstellungen werden von Arendt durch die Fähigkeit des reflektierenden Urteilens in mehrfacher Hinsicht durchkreuzt: (1) Denken und Handeln sind wechselseitig aufeinander bezogen, aber nicht in dem Sinne, dass die Theorie auf die Praxis angewendet wird – deren jeweiliger Eigensinn wird bewahrt –, sondern dadurch, dass sowohl die Theorie als auch die Praxis sich auf die Wirklichkeit der Welt beziehen muss. (2) Die privilegierte Position des Zuschauers wird demokratisiert, d.h. den Akteuren werden die gleichen Fähigkeiten des reflektierenden Urteilens zugeschrieben wie dem Zuschauer. (3) Gleichwohl können Akteure nur als Zuschauende erkennen und bestimmen, warum gleichberechtigte Andere diese Fähigkeiten nicht ausbilden. Nur auf dem Wege der Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen kann erkannt werden, warum und auf welche Weise die Bedingung der Möglichkeit von reflektierenden Fähigkeiten verhindert wird. (4) Die Akteure werden nicht als „Narren“ behandelt. Sie benötigen reflektierende Urteilskraft für das Handeln, als Zustimmung oder „Beistimmung“ von Anderen. Zudem liegt es an der Eigentümlichkeit des Handelns bzw. an der Aporie des Handelns, dass sie „nicht wissen, was sie tun“. Nicht die Unfähigkeit zur Reflexion auf Seiten der Akteure ist das Problem, sondern dass das gemeinsame Handeln, das „acting in concert“, wie Arendt es in Anlehnung an Edmund Burke formuliert, in seinem Resultat unvorhersehbar ist, aber von den Akteuren zu verantworten ist. Folgt die vorliegende Untersuchung also einerseits der Denkbewegung Arendts von den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft bis zu den nachträglich veröffentlichten Vorlesungen zu Kant, so geht sie in der Darstellung den umgekehrten Weg und nimmt die posthumen Veröffentlichungen zu Kant als Ausgangspunkt. Von ihm aus werden die verschiedenen Facetten ihres Verständnisses von politischer Urteilskraft sichtbar gemacht, um so schließlich zu zeigen, in welchem umfassenden Sinn Arendts Verständnis von politischer Urteilskraft als ihre Antwort auf den Traditionsbruch verstanden werden muss. Dieser Zusammenhang bestimmt auch den argumentativen Aufbau der Untersuchung, die in drei Kapitel gegliedert ist. Wurde in der Forschung

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bislang die Bedeutung von Martin Heidegger, Walter Benjamin und Franz Kafka für Arendts Blick auf die Tradition und Vergangenheit und ihr Verständnis des Traditionsbruchs hervorgehoben, so wird im ersten Kapitel gezeigt, dass Arendts Neuaneignung der Kritik der Urteilskraft von Kant sich bereits in ihrem Versuch zeigt, das Unbegreifliche zu begreifen und in der sie zugleich die conditio sine qua non einer Philosophie des Politischen entdeckt. Ich folge hier Seyla Benhabibs These, dass Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eine „beispiellose Synthese von Philosophie und Politik“ gelungen ist. Diese „beispiellose Synthese“ ist jedoch nicht auf die Bedeutung und den Einfluss der Philosophie Martin Heideggers auf das Werk von Arendt zurückzuführen. Vielmehr wird hier gerade umgekehrt argumentiert, dass Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auf der kategorialen Grundlage der heideggerschen Philosophie gar nicht hätte geschrieben werden können. Nach der Darstellung und Diskussion der wichtigsten Argumentationslinien zum Traditionsbruch stelle ich Arendts Perspektive auf die Philosophie Kants dar, dessen zentrale Bedeutung für ihre Philosophie des Politischen bislang nicht beachtet worden ist. Das zweite Kapitel hat exemplarischen Charakter für eine kritische Theorie des Politischen. Hier wird gezeigt, wie Arendt in ihrer Analyse der Zerstörung der politischen Urteilskraft die reflektierende Urteilskraft anwendet. Politisch-analytisch wird dargestellt, wie Arendt mit der reflektierenden Urteilskraft – also aus der Position des unbeteiligten Zuschauers heraus – die Erkenntnis gewinnt, dass die totale Herrschaft eine neue Form der Herrschaft darstellt, in der sie zugleich eine neue Grunderfahrung menschlichen Daseins entdeckt: die Verlassenheit. Geschichtlich-politisch wird gezeigt, wie Arendt in den Ursprüngen totaler Herrschaft (Imperialismus und Antisemitismus) – aber nicht im Sinne einer notwendigen Kausalität – diejenigen gesellschaftspolitischen Kräfte analysiert, die die objektiven und subjektiven Bedingungen einer Orientierung im Handeln und Denken durch die Urteilskraft zerstören. Ist es in der Phase des Imperialismus wesentlich der Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft und Staat und Nation, der nicht nur die Bedingung der Möglichkeit von politischer Freiheit durch den Nationalstaat bedroht, sondern auch deren konzeptionelle Schwäche ans Tageslicht bringt und so letztlich zerstört, so ersetzen Ideologien den sensus communis, durch den sich die Menschen in der Welt orientieren. Die totale Herrschaft bedeutet das Ende des Politischen, insofern

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sie die Bedingungen des Politischen sowohl objektiv als auch subjektiv zerstört. Welche Konsequenzen es hat, wenn nicht nur der öffentliche Raum, sondern der Raum überhaupt zwischen den Menschen zerstört wird, was also der Verlust des sensus communis zur Folge haben kann, analysiert Arendt exemplarisch an Adolf Eichmann. Deshalb wird die Urteilskraft in ihrer doppelten Bestimmung in Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen untersucht.48 Dabei wird ihre Analyse des Täters Adolf Eichmann dargestellt, dessen Unfähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, Arendt im Begriff der „Banalität des Bösen“ zusammenfasst. Zudem wird gezeigt, wie Arendt in ihrer Kritik des Gerichtsverfahrens, die sich speziell gegen den Staatsanwalt Gideon Hausner und die Anklageschrift richtet, die Urteilskraft selbst zur Anwendung bringt. Darin, so meine These, besteht die übergreifende Argumentationsstruktur des Buches. Die Bewegung der Urteilskraft im Eichmann-Buch wird sodann in Relation zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft gestellt, um zu zeigen, in welcher Weise Arendt hier Einsichten aus ihren Analysen über die totale Herrschaft anwendet beziehungsweise revidiert. In dieser Lesart kann Arendts Prozessbericht sowohl als Überprüfung und Weiterentwicklung als auch – und auch darin zeigt sich die Arbeit reflektierender Urteilskraft – als spezifizierende Übertragung ihrer Analysen aus den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft auf den juristischen Bereich interpretiert werden: Nach dem Traditionsbruch laufen auch die Begriffe der herkömmlichen Rechtsprechung ins Leere. Am Gerichtsverfahren gegen Eichmann lässt sich dies exemplarisch zeigen. Auch hier ist es eine Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, das historisch Neue in der Bestimmung der Unangemessenheit der tradierten Begriffe der Rechtsprechung zu erfassen. Liegt also einerseits der Schlüssel zum Verständnis einer Philosophie des Politischen in Arendts Kritik der totalen Herrschaft, da sie dort ex negativo vorliegt, so kann sie andererseits aus dieser nicht direkt abgeleitet werden. Welche Konsequenzen Arendt aus den Analysen ihrer Kritik der totalen Herrschaft für die Grundbegriffe der traditionellen politischen Philosophie und politischen Theorie zieht, ist Gegenstand des dritten Kapitels.

48 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990.

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Dass ihre Kritik der totalen Herrschaft als Spiegelschrift für ihr Verständnis des Politischen gelesen werden kann, zeigt sich daran, dass sie sich genau auf die Momente konzentriert, die von der totalen Herrschaft verhindert wurden: politische Freiheit, Pluralität, Macht, Öffentlichkeit, deren Kraftzentrum die Urteilskraft bildet. In einer radikalen Kritik des abendländischen politischen Denkens, das gerade das Proprium des Politischen verkannt hat, wendet Arendt sich sowohl gegen den traditionellen Freiheitsbegriff als auch gegen den Begriff der Souveränität, weil beide auf einem Willensbegriff basieren, der die Beziehung des Selbst auf sich selbst zum Gegenstand hat, nicht aber die Beziehung zu Anderen. In Reflexion auf die traditionellen Vorstellungen von Freiheit, Macht und Öffentlichkeit hebt sie aus dieser Tradition Bedeutungsschichten dieser Begriffe hervor, die durch die Tradition verschüttet wurden. Diese Neuaneignung der Begriffe der traditionellen politischen Philosophie führen zu einem Verständnis des Politischen, dass von dem Faktum der Natalität als Spontaneität und der Pluralität als dem Zusammen und Miteinander der Verschiedenen ausgeht, in dessen Mittelpunkt nicht die Sorge um den Menschen, sondern um die politische Welt steht.49 Das Politische konstituiert sich – so kann man Arendts Überlegungen zuspitzen – durch die reflektierende Urteilskraft, weil diese den Menschen die Möglichkeit verschafft, sich im Handeln und Denken zu orientieren. Dies Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Frühjahr 2009 an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg mit dem Titel Politische Urteilskraft oder Wie Menschen sich im Handeln und Denken orientieren eingereicht habe und die von Prof. Dr. Antonia Grunenberg und Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr betreut wurde. Danken möchte ich dem Oldenburger Kolloquium für Politische Theorie für anregende Diskussionen und den Teilnehmern der jährlich stattfindenden Konferenzreihe Freiheit und Diktatur in Europa an der Interuniversity Dubrovnik für das Interesse an meiner Studie und die Diskussionen vor Ort. Moritz Rinn danke ich für das Lektorat. Der persönlichste und ganz besondere Dank geht an Wolfram Stender für seine konstruktive Kritik, Ermutigung und Unterstützung. Ihm und unserem Sohn Adrian ist das Buch gewidmet.

49 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 9, S. 24.

1 Über den Zusammenhang von Traditionsbruch und Urteilskraft

Um nachvollziehen zu können, aus welcher Perspektive Arendt auf die Theorie der Urteilskraft von Kant zurückgreift, ist es zunächst notwendig, sich die Existenzialität der historischen Erfahrung bewusst zu machen, die im Begriff des Traditionsbruchs zum Ausdruck kommt. Dass Auschwitz für Arendt die Qualität eines Traditionsbruchs hatte, der das gesamte Denken über die menschliche Zivilisation affiziert, daran kann kein Zweifel bestehen. Die Beispiellosigkeit der Verbrechen verdeutliche nicht nur, dass die Formen des gesellschaftlichen Lebens sowie Werte und Traditionen in Frage gestellt werden müssen, sondern auch, dass mit diesem Ereignis „fast dreitausend Jahre westliche Kultur und Zivilisation, wie wir sie in einem vergleichsweise ununterbrochenen Traditionsverlauf als Ganzes kannten, zusammengebrochen sind; dass die ganze Struktur der westlichen Kultur mit all den dazugehörigen Überzeugungen, Traditionen, Urteilsmaßstäben über unseren Köpfen niedergestürzt ist.“1

Die Vernichtung der europäischen Juden, die Art und Weise der Tötung von Millionen von Menschen rührt an den Grundvoraussetzungen bisheri-

1

Arendt, Hannah: Abschließende Bemerkungen, in: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, Dresden 1999, S. 14-31, hier S. 22.

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ger Zivilisation.2 Mit Auschwitz ist ein Stück historischer Gattungssubstanz zerstört worden, das in den traditionellen Begriffen des politischen und philosophischen Denkens noch wie selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte.3 Nach Auschwitz ist nichts mehr selbstverständlich, weil „die Einrichtung der Konzentrations- und Vernichtungslager, die inneren Verhältnisse dieser Lager wie ihre Funktion im Terrorapparat totalitärer Regime, höchstwahrscheinlich jenes unvorhergesehene Phänomen darstellen, welches eine der gegenwärtigen Gesellschaft und Politik angemessene Sicht der Dinge blockiert.“4

2

Vgl. Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus (Oktober 1964), in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, München 1994, S. 44-70. Vgl. auch Diner, Dan: Vorwort des Herausgebers, in: Ders. (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988, S. 714, hier S. 7f. sowie Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, in: Diner, Dan (Hg.), Zivilisationsbruch, a.a.O, S. 150-174.

3

Vgl. Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral, Hamburg 2005. Diese Annahme ist keineswegs selbstverständlich, so hat jüngst Anke Thyen diesen gattungsgeschichtlichen Bruch, den Auschwitz bedeutet, zurückgewiesen. Mit der Philosophie Kants, insbesondere mit dem kategorischen Imperativ, dürfe auch nach Auschwitz nicht gebrochen werden: „Verlangt Auschwitz eine ‚Revision traditioneller Moralbegriffe‘? Nein.“ Thyen, Anke: Die Historisierung des Universalismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 991-995. Zu Recht hat Christoph Menke dem widersprochen, denn mit dem „Gattungsversagen“ ist nicht gemeint, dass die Gattung versagt habe, sondern, dass die philosophische Lehre durch Auschwitz lautet, dass es „möglich [ist], Menschen zu schaffen, für die die Tatsache des Menschseins des anderen genau dies ist: eine bloße, moralisch irrelevante Tatsache. Und die philosophische Frage ist, was diese Erfahrung für den Begriff der Moral und des Menschen bedeutet.“ Menke, Christoph: Kontingenz und Solidarität. Eine Replik auf Anke Thyen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), S. 155-158, hier S. 156.

4

Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Dies.: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, S. 7-30, hier S. 7.

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VON

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Nach Auschwitz erscheint die abendländische Tradition politischen Denkens in einem anderem, düsteren Licht. Dies betrifft auch die Tradition der Kritik und der Emanzipation: „Wir können es uns nicht leisten, das, was in der Vergangenheit gut war zu übernehmen und einfach als unser Erbe zu bezeichnen, das Böse dagegen zu verwerfen und bloß als eine tote Last zu begreifen, die die Zeit selbst im Vergessen begraben wird. Der unterirdische Strom der westlichen Geschichte ist schließlich an die Oberfläche gedrungen und hat die Würde unserer Tradition verdrängt. Dies ist die Wirklichkeit, in der wir leben. Und deshalb sind alle Bemühungen, aus der Düsternis der Gegenwart in die Sehnsucht nach einer noch intakten Vergangenheit zu fliehen ebenso vergeblich wie das voreilige Vergessen einer besseren Zukunft.“5

Philosophen, Sozialwissenschaftler und Historiker sind aufgefordert, ihre bislang nicht in Frage gestellten traditionellen Grundannahmen über Freiheit, Politik, Macht, Moral und eine wie auch immer geartete Natur des Menschen zu überdenken. Wer vom Traditionsbruch spricht, setzt einen Begriff der Tradition voraus, der unterschiedlich bestimmt werden kann. Arendts Perspektive auf die Tradition abendländischen politischen Denkens ist umfassend. Sie konstruiert einen Bogen von Platon bis Marx. Am „Anfang“, so schreibt sie in Zwischen Vergangenheit und Zukunft, stehen Platon und Aristoteles,6 mit Kierkegaard, Marx und Nietzsche setze die „Rebellion“ gegen die Tradition ein bis schließlich der „Bruch“ durch den Sieg der totalitären Herrschafts-

5

Arendt, Hannah: Vorwort, in: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus, a.a.O., S. 11-14, hier S. 14.

6

Arendt, Hannah: Tradition und Neuzeit, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 23-54, hier S. 23. Im Denktagebuch gibt es einen ähnlichen Eintrag: „Platon und Aristoteles bezeichnen das Ende der griechischen Philosophie unter den Bedingungen der untergehenden Polis. Nicht nur ihre Politische Philosophie, ihre gesamte Philosophie – inklusive der Ideenlehre und des ‚bios theoretikos‘ – ist nur so zu verstehen. Ihre Grundfrage ist: Wie kann der Mensch ohne Polis leben, oder wie kann man die Polis so reorganisieren, dass man in ihr außerhalb ihrer leben kann? Diese wurde dann die Grundhaltung aller politischen Philosophie.“ Arendt, Hannah: Denktagebuch, 1950-1973, München 2002, Bd. 1, S. 423.

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formen im 20. Jahrhundert erfolgt: „Dieser Traditionsbruch ist heute eine vollendete Tatsache; weder ist er Resultat von Wahl und Vorsatz, noch ist er abhängig von weiteren Entscheidungen.“7 Ereignet sich im Totalitarismus der geschichtliche Bruch mit der Tradition und ist ein Anknüpfen8 an sie heute definitiv nicht mehr möglich, so beginnt das Ende der Tradition politischen Denkens bereits mit Hegel. Hegels Abwendung von der traditionellen Philosophie vollziehe sich darin, dass er erstens die Weltgeschichte als Entwicklungsprozess betrachtet, zweitens die traditionelle Metaphysik in eine Geschichtsphilosophie umwandelt, drittens den Philosophen in einen Historiker transformiert und dass schließlich viertens sich dem „rückwärtsgewandten Blick“ des Historikers am Ende der Zeit „der Sinn von Werden und Bewegung“ enthüllt, „aber nicht von Sein und Wahrheit“9. Arendt würdigt und schätzt Hegels Interesse an Geschichte und Politik. Er sei der erste gewesen, der dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten eine Würde gab, die er zuvor in der Philosophie nie hatte.10 Hegels Zuwendung zur Geschichte sei der „denkbar schärfste Gegensatz“11 zur Tradition philosophischen Denkens. Indem Hegel den Bereich menschlicher Angelegenheit als Ort bestimmte, in dem „das Absolute und absolut Transzendente“ sich offenbart, stelle er sich gegen alle bisherige Philosophie, die den politischen Raum als „Quelle oder Standort absoluter Maßstäbe“12 verworfen hatte. Mit diesem Bezug auf politische Ereignisse stelle Hegel sich „außerhalb aller Überlieferungs-

7

Arendt, Hannah: Tradition und Neuzeit, a.a.O., S. 35. „Erst die totalitäre Herrschaft als ein Ereignis, das in seiner Beispiellosigkeit mit den überkommenen Kategorien politischen Denkens nicht begriffen, dessen ‚Verbrechen‘ mit den traditionellen Maßstäben nicht beurteilt und mit Hilfe bestehender Gesetze nicht adäquat gerichtet und bestraft werden können, hat die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchbrochen.“ Ebd.

8

Ebd., S. 38.

9

Ebd.

10 Ebd., S. 37. 11 Arendt, Hannah: Geschichte und Politik in der Neuzeit, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 80-110, hier S. 87. 12 Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 1986, S. 63.

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ZUSAMMENHANG

VON

T RADITIONSBRUCH UND URTEILSKRAFT | 31

und Autoritätsansprüche“13. Indem er aber das Absolute – die „List der Vernunft“, die sich hinter dem Rücken der Vielen vollzieht – nicht aufgibt, bleibt er der Tradition verhaftet. Mit den Theorien von Marx habe die Tradition politischen Denkens sein „definitives Ende gefunden“. Er habe nicht Hegels Philosophie auf die Füße, sondern die traditionelle Hierarchie von „Denken und Handeln, Kontemplation und Arbeit, Philosophie und Politik auf den Kopf gestellt“14. Die philosophischen Grundthesen seiner Theorien – die 11. Feuerbachthese: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“, die Annahmen, dass der Mensch sich durch Arbeit erzeuge und dass die Gewalt die Geburtshelferin jeder Gesellschaft ist, „die mit einer neuen schwanger geht“ – stellen einen Bruch mit der Tradition der abendländischen Philosophie dar.15 Anfang und Ende dieser Tradition politischen Denkens haben Arendt zufolge eines gemeinsam: Die „elementaren Probleme des Politischen treten in ihrer unmittelbaren und einfachen Dringlichkeit niemals so klar zutage, als wenn sie zum ersten Male formuliert, und wieder, wenn diese Formulierungen schließlich in aller Radikalität gestellt werden“16. Ihrer Auffassung nach sei in dieser Tradition das Proprium des Politischen eklatant verkannt worden.17 Die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit – die „Welt der Vielen“, der „Bereich bloß menschlicher Angelegenheiten“, wie Arendt sie oft benennt – sei von den traditionellen Philosophen mit Metaphern wie „Dunkelheit“, „Verwirrung“, „Täuschung“ abgetan worden. Im Gegenzug wendeten sie sich von der Welt ab, damit die „Wahrheit“ ihnen erscheine. Am Anfang setzten Platon und in seiner Nachfolge Aristoteles in einer Hierarchie der Tätigkeiten die Vita contemplativa über die Vita activa.18 Arendt notiert hier also nicht nur die Feindseligkeit der Philosophen gegenüber den Niederungen des Politischen. Sie kritisiert auch den Herrschaftsanspruch der Philosophen gegenüber der Politik, wie er in Platons Vorstellung von der Philosophenherrschaft überliefert ist.19 Ihre Kritik gilt

13 Arendt, Hannah: Tradition und Neuzeit, a.a.O., S. 37. 14 Ebd., S. 24. 15 Ebd., S. 28. 16 Ebd., S. 24. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Platon: Phaidon/Politeia. Sämtliche Werke 3, Hamburg 1981, V 473d.

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vor allem dem tradierten Wahrheitsanspruch der Philosophie, der nicht den Erfahrungen des Politischen entspricht, sondern aus der Philosophie auf den Bereich der Politik bloß übertragen wird. Am Ende der Tradition steht Marx, der, so Arendts Lesart, als „Philosoph der Philosophie den Rücken kehrte“ mit der Behauptung, dass „Philosophie und die Wahrheit der Philosophen“ nicht außerhalb „der Höhle menschlicher Angelegenheiten“20, sondern in der gemeinsamen Welt liege. Man mag den Bogen, den Arendt über die abendländische Tradition politischen Denkens spannt, kritisieren oder ihn gar für falsch halten, deutlich ist ihr zentrales Anliegen: die Vermittlung von Philosophie und Politik, von Denken und Handeln. Sie wendet sich sowohl gegen das traditionelle Verständnis von Platon und Aristoteles als auch gegen die Marxsche Forderung nach der Verwirklichung der Philosophie. Wie können Philosophie und Politik, Denken und Handeln jenseits dieser Traditionslinie gedacht werden, ist die zentrale Frage, die Arendt umtreibt und die sie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Im Unterschied zu Karl Popper21 macht Arendt die „Rebellen des 19. Jahrhunderts“ jedoch nicht „für die Struktur des 20. Jahrhunderts“22 verantwortlich. Ganz im Gegenteil: Es sei lächerlich, Marx mit Stalin oder Nietzsche mit Hitler in einem Atemzug zu nennen. Das Großartige an Marx und Nietzsche liege gerade in ihrem feinen Sensorium für die tektonischen Verschiebungen in den Tiefenstrukturen der modernen Gesellschaft, die die überkommenen Kategorien politischen Denkens ins Leere laufen ließen: „Die Größe dieser Denker des 19. Jahrhunderts liegt darin, dass sie das Eindringen neuer Probleme in die Welt bemerkten und sahen, wie diese Probleme sich mehr und mehr zu Aporien zu entwickeln drohten, eben weil unsere Überlieferung keine Anhaltspunkte mehr bot, mit ihnen fertig zu werden. In diesem Sinne war ihre Absage an die Tradition [...] auch kein eigentlicher Akt ihrer Wahl.“23

Erst die „Rebellen“ gegen die Tradition – Kierkegaard, Marx und Nietzsche – haben „ohne Leitung jedweder Autorität, gleichsam ganz und gar ohne

20 Arendt, Hannah: Tradition und Neuzeit, a.a.O., S. 24. 21 Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1980. 22 Arendt, Hannah: Tradition und die Neuzeit, a.a.O., 36f. 23 Ebd., S. 36.

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Geländer [Herv. v. W.M.], zu denken gewagt“24, sind aber im traditionellen Begriffssystem stecken geblieben. Diese Denker sind für Arendt „Wegweiser“25 zu einer Vergangenheit, die ihre Autorität verloren hat. Mit dem Verlust der Tradition haben wir, so formuliert es Arendt, den „Adriadnefaden“ verloren, „der sich aber auch als Kette erweisen könnte, an die jede Generation neu gelegt wurde“26. Den Traditionsverlust betrachtet Arendt einerseits als Chance, sich der Vergangenheit zuwenden zu können, ohne dem Blick der Überlieferung folgen zu müssen, andererseits bestehe mit ihm aber auch die Gefahr, die Vergangenheit zu vergessen. Damit würden sich die Menschen einer „Tiefendimension“ ihres Daseins berauben.27 „Denn Gedächtnis und Tiefe sind dasselbe, jedenfalls kann es für Menschen Tiefe nicht geben ohne Gedenken und Erinnern.“28 Ähnlich argumentiert später auch Adorno. In seinem Aufsatz Über die Tradition (1966) spricht er von einer „Antinomie“ der Tradition. Sie bestünde darin, dass „keine gegenwärtig und zu beschwören“ sei, wäre aber „jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit“29. „Sie nicht vergessen und ihr doch nicht sich anpassen heißt, sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was sie trägt und was nicht.“30 Ein kritisches Verhältnis zur Tradition heißt weder für Arendt noch für Adorno „Das interessiert uns nicht mehr“ oder „Alles schon dagewesen“, sondern das „am Weg liegen Gebliebene, Vernachlässigte, Besiegte“ zu bedenken.31 In diesem Verständnis sind Kierkegaard, Nietzsche und Marx für Arendt „Wegweiser“ in die Vergangenheit, und Platon, Aristoteles, Martin Heidegger, Walter Benjamin, Augustinus, Franz Kafka, Alexis de Tocqueville,

24 Ebd., S. 37. 25 Ebd. 26 Arendt, Hannah: Was ist Autorität? in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 159-201, hier S. 161. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Adorno, Theodor W.: Über Tradition, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen, Ohne Leitbild, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10/1, Frankfurt a.M. 1997, S. 310-320, hier S. 315. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 316f.

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Montesquieu, Karl Jaspers und Immanuel Kant die Quellen ihres Denkens.32 Gerade in Bezug auf Arendts Verständnis des Traditionsbruchs sind Aristoteles, Martin Heidegger, Walter Benjamin und Franz Kafka in der Forschung besonders hervorgehoben worden. Die besondere Stellung und Bedeutung von Arendts neuer Lesart der kantischen Philosophie wurde bislang nicht gesehen. Im Folgenden werde ich innerhalb dieser Diskussion um den Traditionsbruch eine Akzentverschiebung vornehmen, um die These zu begründen, dass Arendts Perspektive auf die Kritik der Urteilskraft von Kant sowohl Ausgangspunkt ihres Denkens im Schatten des Traditionsbruchs als auch Quelle für ihre Philosophie des Politischen ist. Es wird gezeigt, wie Arendt das Verhältnis von Denken und Handeln – vermittelt über Walter Benjamin und Franz Kafka (Interpretationen, die hier nur skizzenhaft angedeutet werden) – in der Philosophie Kants neu bestimmt, indem sie durch dessen Philosophie hindurch sich von der Tradition abendländischen politischen Denkens verabschiedet.

1.1 ARENDTS V ERSTÄNDNIS DES T RADITIONSBRUCHS IN DER D ISKUSSION Ohne ein Verständnis des Begriffs vom Traditionsbruch bleibt der Zugang zu Arendts Denken verschlossen. Was dieser Begriff jedoch umfasst ist, ist so vielfältig wie die Autoren, die sich damit beschäftigen. Konsens besteht lediglich darin, dass Arendt einen inneren Zusammenhang zwischen dem „Traditionsbruch“ und der „Moderne“ sah. Tatsächlich hat Arendt diesen

32 Karl Marx ist für Arendt einer der wichtigsten „Wegweiser“ für ihre Reflexion auf die Tradition abendländischen Denkens, insofern sie sich mit seinen drei Grundthesen: der 11. Feuerbachthese, dem Arbeitsbegriff und der Gewalt als Geburtshelfer jeder Gesellschaft – die einen Bruch mit der Tradition der abendländischen Philosophie darstellten – kritisch auseinandersetzt und diese drei Thesen einer nochmaligen Kritik unterzieht. So kann man etwas stilisiert sagen, dass Vita activa aus der Beschäftigung mit Marx Arbeitsbegriff hervorging, ihre Schrift Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart sich mit der 11. Feuerbachthese und ihre Bücher Über die Revolution und Macht und Gewalt sich mit der These von Marx, die Gewalt sei der Geburtshelfer jeder Gesellschaft, beschäftigt.

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Zusammenhang an zahlreichen Stellen ihres Werkes hervorgehoben. So schreibt sie etwa in der ersten Auflage zu den Origins of Totalitarianism: „That the true problem of our time cannot be understood, let alone solved, without the acknowledgement that totalitarianism became this century’s curse only because it so terrifyingly took care of its problems.“33 Und in dem Aufsatz Understanding and Politics stellt sie die These auf, dass der Versuch, den Totalitarismus zu begreifen, der Schlüssel sei, um „the very heart of our own century“34 zu verstehen. Wie aber der Zusammenhang von Traditionsbruch und Moderne bei Arendt genauer zu verstehen ist, darüber wird in der Forschung gestritten.35

33 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, 1st Edition, New York 1951, S. 430. 34 Siehe hierzu Arendt, Hannah: Understanding and Politics, in: Kohn, Jerome (Hg.), Essays in Understanding 1930-1954, New York 1994, S. 307-328, hier S. 324. Dieser Aufsatz erschien zuerst im Partisan Review 20 (1953), S. 377-392. Jerome Kohn hat unveröffentlichte Notizen zu diesem Manuskript mit eingefügt, die in der veröffentlichten Version nicht enthalten sind. Die von mir zitierte Aussage wurde von Arendt nicht veröffentlicht. Ähnlich argumentiert sie auch in ihrem Aufsatz zur Krise der Erziehung: „Es hat wenig Sinn, so zu tun, als ob wir noch in ihr [die Tradition W.M.] stünden, nur gleichsam zufällig vom rechten Pfad abgeirrt wären und es uns frei stände, jederzeit auf ihn wieder zurückzufinden. Dies heißt, dass, wo immer die Krise in der Moderne aufgebrochen ist, man weder einfach weitermachen kann noch einfach umkehren. Eine solche Umkehr wird uns nie in irgendetwas anderes bringen als in jene Situation, aus der die Krise gerade erwachsen ist. [...] Das einfache, unbesonnene Weitermachen andererseits – sei es das Weitermachen in der Krise oder die Routine, die sich blind darauf verlässt, dass die Krise der Moderne diese Lebenssphäre nicht ergreifen wird – kann, weil es sich dem Zug der Zeit überläßt, nur in den Ruin führen [...].“ Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 255-277, hier S. 275. 35 Zum Verständnis des Traditionsbruchs siehe Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt, Frankfurt a.M. 1994, Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München 2006; Villa, Dana: Politics, Philosophy, Terror. Essays on the Thought of Hannah Arendt, Princeton 1999; Schindler, Roland: Geglückte Zeit – gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, Frankfurt a.M 1996; Schnabl, Christa: Das Moralische im Politischen.

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So betont etwa Dan Diner in seiner These vom „Zivilisationsbruch“36, den Auschwitz bedeute, den inneren Zusammenhang von moderner, formalrational organisierter Gesellschaftsform und Totalitarismus und stützt sich dabei auf Arendts Begriff des „Verwaltungsmassenmords“37, in dem – fast weberianisch – die moderne Organisationstechnologie als Voraussetzung der bürokratisch und industriell durchgeführten Massenvernichtung erscheine. Ingeborg Nordmann sieht darin eine irreführende Vereinnahmung. Arendts Verständnis des Traditionsbruchs sei weder mit Vorstellungen zu identifizieren, die die nationalsozialistische Herrschaft aus dem „Kontinuum der deutschen Geschichte ausklammern wollen“ noch sei es mit dem „Theorem vom Zivilisationsbruch“ identisch, weil die Shoah keine „black box“ darstelle, vor der „jeder Versuch historischer Erklärung versagen musste“38. Arendt hat aber eine weitere Differenzierung vorgenommen. Sie unterscheidet zwischen der Wahl der Opfer und der Natur des Verbrechens. Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zeigen die gesellschaftlichen Prozesse auf, die die Wahl der Opfer erklären können, nicht aber die Natur des Verbrechens, und genau auf die Natur des Verbrechens bezieht sich Dan Diners „black box“. Gleichwohl betont Nordmann, dass Arendt den Totalitarismus unzweideutig aus dem „Horizont der Moderne“ begreift und eben nicht als „Rückfall in vorzivilisatorische, barbarische Zustände“ bagatellisiert. Im Gegenteil: Arendt formuliert explizit, dass die moderne Zivilisation aus sich heraus Barbaren produziert, die „essentiell die gleichen

Hannah Arendts Theorie des Handelns im Horizont der theologischen Ethik, Frankfurt a.M. 1997, S. 16-58. Heuer, Wolfgang: Citizen. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus, Berlin 1992. 36 Diner, Dan: Vorwort des Herausgebers, in: Ders.: (Hg.), Zivilisationsbruch, a.a.O., S. 7. Siehe auch Diner, Dan: Zwischen Aporie und Apologie. Über die Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: Ders. (Hg.), Ist der

Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a.M. 1988, S. 62-73. 37 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1998, S. 306. 38 Nordmann, Ingeborg: How to write about Totalitarianism?, in: Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus, a.a.O., S. 53-68, hier S. 55f. Vgl. hierzu Diner, Dan: Zwischen Aporie und Apologie, a.a.O., S. 62.

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sind wie die wilder Volksstämme oder außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren“39. Genau diese Einsicht führt Arendt dann zur der Annahme des Traditionsbruchs. Margaret Canovan hingegen sieht in Arendts These vom Zusammenhang zwischen Totalitarismus und Modernität „something of an embarassment“. Arendts Nachdenken über „Nazism and Stalinism may be something of an embarassment: a brillant, ambitious and highly questionable interpretation of totalitarianism and modernity“40. Seyla Benhabib führt Canovans Unbehagen an Arendts Modernitätskritik darauf zurück, dass sie Arendts Analyse des Totalitarismus als „inevitable growth of western modernity“41 missverstehe. Charakteristisch für Arendt sei hingegen ja gerade, dass sie sich gegen jede Form von Kausalerklärungen gesellschaftspolitischer Entwicklungen gewendet hat und nicht müde wurde, die Kontingenz geschichtlicher Ereignisse zu betonen. Demgegenüber interpretiert Benhabib Arendts Verständnis und Zugang zur Moderne als „melancholisch“, als „eine Haltung der philosophischen Reflexion und Meditation über die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen und Institutionen“. Es zeige einen „ausgeprägten Sinn für die Katastrophen und Tragödien der Geschichte und das Wissen um die grundlegende Kontingenz der von Menschen erschaffenen Institutionen und Praktiken, die Freiheit allererst ermöglichen“42. Divergieren die Interpretationen hinsichtlich der Auslegung von Arendts Kritik an der Moderne, so besteht Einigkeit darüber, dass Arendts hermeneutischer Zugang zur Vergangenheit und zur Tradition des abendländischen philosophischen Denkens nach dem Traditionsbruch wesentlich durch Walter Benjamin und Martin Heidegger bestimmt ist. Wie dies allerdings

39 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 625. 40 Canovan, Margaret: Hannah Arendt. A Reinterpretation Of Her Political Thought, Cambridge 1992, S. 279. 41 Benhabib, Seyla: Review of Hannah Arendt. A Reinterpretation of Her Political Thought, by Margaret Canovan, and Arendt, Camus and Modern Rebellion by Jeffrey C. Isaac, in: Journal of Modern History 67 (1995), S. 687-691, hier S. 689. 42 Benhabib, Seyla: Wir, das Volk. Hannah Arendt und „das Recht, Rechte zu haben“, in: Frankfurter Rundschau, 29.10.1999, S. 22f., vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt a.M. 1998.

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zu bewerten ist, ist höchst umstritten. Dies lässt sich besonders an den Einschätzungen zu Heidegger zeigen. Antonia Grunenberg hebt den gemeinsamen Denk- und Erfahrungshorizont von Arendt, Heidegger und Jaspers hervor, um zu zeigen, dass eine „existenzphilosophische Denkfigur des Traditionsbruchs“ bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts für das Denken Heideggers bestimmend war und sich auf die subjektphilosophische Wende zu Beginn der Moderne bezog. Der Totalitarismus und die Ermordung der europäischen Juden gaben der Frage nach dem Traditionsbruch dann eine neue Wendung, die von Arendt und Heidegger sehr unterschiedlich beantwortet worden sei. Bestand für Heidegger der Bruch auch weiterhin in der cartesianischen Wendung zum Subjekt, durch die der Zugang zu einer „entborgenen Welt“ verstellt worden sei, so lotete Arendt die „historischen Tiefendimensionen der totalitären Herrschaft“43 aus, deren Elemente im Antisemitismus, Rassismus und Imperialismus zu finden waren. Während Antonia Grunenberg die gemeinsame Denk- und Erfahrungswelt hervorhebt, die Heidegger und Arendt teilen, so sprechen Seyla Benhabib und Passerin D’Entrèves in Bezug auf Arendts Heidegger-Rezeption von den antimodernen Elementen in Arendts Werk, während sie die modernen Elemente auf den Einfluss von Benjamin zurückführen. Benhabib plädiert konsequent für eine Entschlackung der arendtschen Theorieperspektive von den heideggerschen Einflüssen. Paradoxerweise zeige sich die Bedeutung von Heidegger gerade in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft: „Arendts Phänomenologie des Totalitarismus, die von den Begriffen ‚Einsamkeit‘ und ‚Weltlosigkeit‘ beeinflusst wurde, ist Heideggers Sein und Zeit sowohl in ihrer kategorialen Struktur als auch in den speziellen phänomenologischen Beschreibungen verpflichtet.“44 Gleichzeitig betont sie, dass Arendt im Unterschied zu Heidegger die Fähigkeit besessen habe, diese Begriffe für die Analyse geschichtlicher, soziologischer und kultureller Phänomene fruchtbar zu machen.45 Um Arendts Buch über die totale Herrschaft für eine Analyse zeitgenössischer Verhältnisse produktiv zu wenden, sollte man sich aber eher an ihre durch Alexis de Tocqueville inspirierte politische Soziologie der Öffentlichkeit und freier gesellschaftli-

43 Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger, a.a.O., S. 324. 44 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O., S. 121. 45 Ebd.

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cher Assoziationen und Verbänden halten und nicht an die von Heidegger beeinflussten Begriffe der „Einsamkeit“ und „Weltlosigkeit“.46 Benhabibs Beurteilungen zu der Bedeutung Heideggers schwanken. So schreibt sie auch, dass sich Heideggers Bedeutung für Arendt in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft am deutlichsten zeige, in der ihr eine „beispiellose Synthese von Philosophie und Politik“ gelinge. Zugespitzt formuliert sie: „Während Hannah Arendt, die staatenlose und verfolgte Jüdin, philosophisch und politisch Vertreterin der Moderne ist, ist Arendt, die Schülerin Martin Heideggers, die antimodernistisch eingestellte, gräkophile Theoretikerin der Polis und einer originellen Erfahrung von Praxis.“47 Mir scheint allerdings, dass man diese Trennung so nicht vornehmen kann, weil Arendts Begriff des öffentlichen Raums nicht ohne ihre Einsichten in die neue „Grunderfahrung“ der „Verlassenheit“ zu verstehen ist. Benhabib verkennt, so kann man mit Rahel Jaeggi argumentieren, „die Produktivität der ungewöhnlichen Konstellation von existenzphilosophischer Begrifflichkeit und politischer Analyse, die bei Arendt gerade dazu geführt hat, die Denkmuster gängiger Faschismustheorien wie der konkurrierenden Versionen liberaler Totalitarismustheorien zu transzendieren.“48

Trotz dieser zutreffenden Kritik möchte ich Seyla Benhabibs These, dass Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eine „beispiellose Synthese von Philosophie und Politik“ gelungen sei, bekräftigen, nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese gelungene Synthese sich nicht dem Einfluss von Arendts philosophischem Lehrer Heidegger verdankt (dass Arendt sich Zeit ihres Lebens mit seiner Philosophie kritisch beschäftigt hat, ist nicht strittig), sondern dass sie erst durch eine produktive Neuaneignung der kantischen Philosophie zu ihrer eigenen Theorieproduktion gelangt. Denn es stellt sich die Frage, ob Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auf der kategorialen Grundlage von Heideggers Philosophie überhaupt möglich gewesen wäre. Beginnt Arendt nicht schon

46 Ebd. 47 Ebd., S. 191. 48 Jaeggi, Rahel: Hannah Arendt-Rezeption zwischen Kritischer Theorie und Postmoderne, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 147-167, hier S. 153.

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Ende der zwanziger Jahre unter dem Einfluss der politischen Entwicklungen ihrer Zeit, der Philosophie Karl Jaspers und der Erfahrungen mit dem Zionismus sich kritisch mit der Philosophie ihres Lehrers, Mentors und Liebhabers Martin Heidegger zu beschäftigen? Die Hinwendung zum Miteinander, die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Miteinander, die Frage, was die Menschen miteinander verbindet und wie dieses Miteinander sich gestaltet, ist schon die Frage ihrer Dissertation. Selbst wenn betont wird, dass der Sprachstil dieser Studie deutliche Spuren ihres Lehrers Martin Heidegger offenbaren, so zeigt sich auch, dass gemeinsame Termini häufig Differenzen verdecken. Denn bereits die Fragen, die Arendt in ihrer Dissertation Über den Liebesbegriff bei Augustin oder auch in ihrem später begonnenen und noch später abgeschlossenen Buch über Rahel Varnhagen, das sie mit dem Arbeitstitel Über das Problem der deutschjüdischen Assimilation, exemplifiziert an dem Leben der Rahel Varnhagen bei der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ 1930/31 beantragte, zeigen, dass diese gar nicht möglich gewesen wären, wenn sie konsequent auf dem Standpunkt der Philosophie Martin Heideggers verharrt hätte.49 In ihrer Studie zu Rahel Varnhagen kritisiert sie das aufklärungsphilosophische „Selberdenken“ ohne Weltbezug: „Das Selberdenken befreit von den Gegenständen und ihrer Realität, schafft einen Raum des nur Denkbaren und eine Welt, die ohne Wissen und ohne Erfahrung jedem Vernünftigen zugänglich ist. Sie befreit vom Gegenstand wie die romantische Liebe den Liebenden von der Wirklichkeit der Geliebten erlöst.“50

Diese Form des Denkens wirke wie eine „Art von Zauberei“, die „Erfahrungen, Welt, Menschen und Gesellschaft ersetzen, hervorbringen und voraussehen lässt. Die Notwendigkeit der Vernunft gibt der erdachten Möglichkeit einen Schimmer von Wirklichkeit, haucht den vernünftigen Wünschen eine Art illusi-

49 Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929. Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1983. 50 Ebd., S. 20.

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onären Lebens ein, lässt das uneinsehbare Wirkliche nicht herankommen, erkennt es nicht an.“51

Arendt kritisiert eine Reflexion, die das Selbst nicht in seinen Weltbezügen, sondern das Ich in seiner Isolierung von der Welt erfasst. Diese Gegenstandslosigkeit des Denkens erzeugt, so Arendt „einen Schein unbegrenzter Macht, indem es sich eben der Welt isoliert, an ihr sich desinteressiert, sich schützend vor den einzigen ‚interessanten‘ Gegenstand stellt: das eigene Innere. In der durch Reflexion geleisteten Isoliertheit wird es unbegrenzt, weil kein Außen es mehr behelligt; weil kein Handeln mehr verlangt wird, dessen Konsequenzen auch den Freiesten einschränken. Die Autonomie des Menschen wird zur Übermacht der Möglichkeiten, an der jede Wirklichkeit abprallt. Die Wirklichkeit kann nichts Neues bringen, die Reflexion hat immer schon alles vorweggenommen. Selbst vor Schicksalsschlägen gibt es die Flucht in das eigene Innere, wenn jedes einzelne Unglück schon vorher zum schlechten außen überhaupt generalisiert ist, so dass der Schreck, diesmal und gerade diesmal getroffen zu sein, gar nicht erst aufkommen kann.“52

Wenn man also Benhabibs These, dass Arendt in ihrem Totalitarismusbuch eine „beispiellose Synthese von Philosophie und Politik“53 gelungen sei, dass „die Wiedergewinnung der öffentlichen Welt der Politik für ihr Denken nicht nur ein politisches, sondern auch ein philosophisches Projekt darstellte“54, aufgreift, dann kann man auch zeigen, dass Arendts Antwort auf ihren kritischen Dialog mit Heidegger spätestens in dem später eingefügten Abschnitt Ideologie und Terror der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu finden ist. Schon dort ist die Transformation des In der Welt Sein von Heidegger vollzogen. Angesichts der geschichtlichen Ereignisse und in der Entdeckung der Grunderfahrung der Verlassenheit entfaltet Arendt ein neues politisches Welt- und Selbstverhältnis.55 Die Entdeckung der Verlassenheit als einer neuen Grunderfahrung erfordert eine Revidierung des

51 Ebd. 52 Ebd. S. 21. 53 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O., S. 111. 54 Ebd., S. 96. 55 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 944-979.

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Welt- und Selbstverhältnisses, in dessen Zentrum der Begriff der Pluralität steht, der dann später in der Vita activa spezifiziert und kontextualisiert wird.56 Betrachtet man Arendts Schriften zwischen 1946 bis 1955, dann kann man sagen, dass sie spätestens in dieser Zeit ein neues Welt- und Selbstverhältnis entwickelt. Arendt hat das englische „Preface“ und die „Concluding Remarks“ in der späteren deutschen Ausgabe von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) durch ein neues Vorwort und durch den Abschnitt Ideologie und Terror ersetzt. Sie erklärt dazu: „There were certain insights of a more general and theoretical nature which now appear to me to grow directly out of the analysis of the elements of total domination in the third part of the book, but which I did not possess when I finished the original manuscript in 1949.“57

Die englischsprachige Erstausgabe enthielt weder die These, dass die totale Herrschaft eine neue Staatsform bildet, noch dass mit dieser Herrschaftsform eine neue Grunderfahrung: die Verlassenheit einhergeht. So stellt sich tatsächlich die Frage, die der Rabbiner Jeffrey Newmann auf der ArendtKonferenz Politik und Verantwortung in London 2001 gestellt hat: „What happend between 1951 and 1955, between the first and second revised version of the ‚Origins of Totalitarianism‘, where she incooperated the final section of ‚Ideology und Terror‘? What was she after?“ Dass sie dabei einem neuen Welt- und Selbstverhältnis auf der Spur war, deutet sich schon in ihrem Aufsatz Was ist Existenzphilosophie? (1946)58 und in ihrem Vor-

56 Ebd., insbesondere S. 974f. Zum Begriff der Pluralität siehe auch ThürmerRohr, Christina: Anfreundung mit der Welt – Jenseits des Brüderlichkeitsprinzips, in: Kahlert, Heike/Lenz, Claudia (Hg.), Neubestimmungen des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein 2001, S. 136-167. 57 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, 2nd Edition, New York 1958, S.XI. 58 Arendt hat sich später geweigert diesen Aufsatz in anderen Bänden wieder mit aufzunehmen. Dies mag in erster Linie damit zusammenhängen, dass sie in der englischen Version dieses Aufsatzes nicht nur Heideggers Unterstützung der Nazis erwähnt, sondern ihn auch für den Lehrstuhlverlust von seinem Lehrer Edmund Husserl verantwortlich macht. Der Unterschied dieser beiden Aufsätze

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tragsmanuskript Concern with Politics within recent European Philosophical Thought (1954) an. In beiden Schriften diskutiert sie die Philosophie nach Hegel unter dem Gesichtspunkt von Philosophie und Politik, Denken und Handeln und hebt die Bedeutung der Philosophie Heideggers für ihr Projekt hervor. Heideggers Philosophie liest sie als die erste wirklich „weltliche“ Philosophie: „[H]e insists on giving philosophic significance to structures of everyday life, that are completely incomprehensible, if men is not primarily understood as being together with others.“59 Andererseits bleibe Heidegger der Tradition verhaftet, weil bei ihm der öffentliche Raum als ein Ort gedacht werde, der die Realität und das Erscheinen der Wahrheit verhindert. Und genau an diesem Punkt setzt Arendts Kritik an: „Thus we find the old hostility of the philosopher towards the polis in Heideggers analyses of average everyday life in terms of das man (the ‚they‘ or the rule of pub-

zeigt sich bezogen auf Heidegger darin, dass sie in dem ersten seine politischen Aktivitäten zu seinem Denken in Beziehung setzt, während sie in ihrem Vortragsmanuskript „Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought“ (1954) eine andere Argumentationslinie verfolgt: „Whatever contributions Jaspers and Heidegger may have made to a political Philosophy must be looked for in their philosophies themselves, rather than in books or articles [...] in which they explicitly take positions with respect to contemporary events.“ Arendt, Hannah: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, in: Grunenberg, Antonia/Meints, Waltraud/ Bruns, Oliver/Harckensee, Christine (Hg.), Perspektiven politischen Denkens, Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt, Frankfurt a.M. 2008, S. 11–33, hier S. 23. Arendt hat ihre Kritik an Heideggers Verständnis des Selbst in ihrem Band über das Wollen verschärft. Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, Bd. 2, München 1979, S. 164-185, insbesondere S. 173f. 59 Arendt, Hannah: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, a.a.O., S. 25. Ähnlich argumentiert Arendt in ihrer Schrift Was ist Existenzphilosophie? Auch dort formuliert sie trotz aller Kritik: „So ist Heideggers Philosophie die erste absolute und ohne alle Kompromisse weltliche Philosophie“. Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt a.M. 1990, S. 34. Dieser Essay wurde zuerst auf Englisch veröffentlicht in: Partisan Review 12 (1946), S. 34-56.

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lic opinion, as opposed to the ‚self‘) in which the public realm has the function of hiding reality and preventing even the appearance of truth.“60

Nicht deshalb ist Martin Heidegger zu kritisieren, weil er die Bestimmung des „Man“, das „Gerede“ als Öffentlichkeit bestimmt, sondern weil er das, was ist, als Wesen der Öffentlichkeit ausgibt. Arendt stimmt diesen Analysen lediglich als „unterschwelligen Zeiterfahrungen“, als „begriffliche[n] Beschreibungen“ und als „prägnanteste Zusammenfassung bestehender Bedingungen“ zu.61 Hier wiederholt Arendt erneut und in einem anderen Kontext, was sie in ihrem Aufsatz Was ist Existenzphilosophie? aus dem Jahr 1946 formuliert. Dort hebt sie hervor, dass die Mitmenschen bei Heidegger ein „zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz“ sind. Gegen Heidegger und mit Kant und Jaspers stimmt sie darin überein, dass die Existenz „wesensmäßig nie isoliert“ ist, „sie ist nur in Kommunikation und im Wissen um andere Existenzen“. Nur „in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich die Existenz überhaupt entwickeln“62. Für Arendt ist die Kommunikation (Jaspers) beziehungsweise die Mitteilung (Kant) die Bedingung der Möglichkeit für die Existenz des Menschen. Der Begriff der Kommunikation enthält im Ansatz einen neuen Begriff der Menschheit.63 Die Existenz ist für Jaspers wie für Arendt keine „Form des Seins“, sondern eine „Form menschlicher Freiheit“64. Die Differenz zwischen Arendt und Heidegger besteht also nicht darin, dass sie aus Heideggers Begriff der Welt ein pluralistisches Konzept gemacht hat. Heideggers Auffassung der Welt war „immer schon“ perspektivisch als „geworfener Entwurf“ des Horizonts ausgelegt.65 Arendt teilt mit Heidegger die Auffassung, dass der Mensch schon immer In der Welt ist. Doch wie dieses In der Welt sein zu verstehen ist,

60 Arendt, Hannah: Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought, a.a.O., S. 15. 61 Arendt, Hannah: Vorwort, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 13-17, hier S. 15. 62 Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, a.a.O., S. 47. 63 Vgl. ebd. 64 Ebd. S. 41 65 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Stuttgart 1986; vgl. auch Brunkhorst, Hauke: Hannah Arendt, München 1999, S. 19f.

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fällt bei Heidegger und Arendt gänzlich unterschiedlich aus. Der Unterschied liegt darin, dass Arendt die Konstituierung des Selbst und der Welt an eine mit anderen geteilte und verantwortete öffentliche Praxis rückbindet, weil innere Erfahrung an äußere Erfahrung gebunden ist.66 Während bei Heidegger die Welt gegeben ist, ist sie für Arendt eine von Menschen zu erschaffende Welt.67 Ohne Übertreibung kann man formulieren, dass Arendts Kritik an Heideggers Philosophie den Ausgangpunkt ihrer Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und damit ihrer Philosophie des Politischen bildet. D.h. aber auch, dass man nicht sagen kann, dass Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Heideggers Sein und Zeit sowohl in „ihrer kategorialen Struktur als auch in den speziellen phänomenologischen Beschreibungen verpflichtet“68 ist. Eine Analyse der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist auf der Grundlage der heideggersche Philosophie nicht möglich, weil Heidegger „Wahrheit“ oder „Sinn“ nur jenseits des öffentlichen Raums und damit jenseits der historisch-politischen Welt verortet. Anders formuliert: Heideggers Philosophie ist kategorial – bei aller Hin- bzw. Zuwendung zur „Alltäglichkeit“ – für eine Analyse der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit unbrauchbar. Was Arendt mit anderen Schülern der Philosophie Heideggers, wie z.B. Herbert Marcuse oder auch Günther Anders, verbindet ist zweierlei: Zunächst die Faszination der Philosophie Martin Heideggers, die die Philosophie und die Alltäglichkeit des Daseins miteinander verknüpft und zugleich ihre radikale Kritik an der Philosophie Heideggers, die sich von gesellschaftspolitischen Wirklichkeiten abwendet und die Konstituierung des Selbst jenseits der Mitmenschen begreift. Spricht Günthers Anders von der „Pseudo-Concreteness of Heideg-

66 Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, a.a.O., S. 38. Vgl. auch Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, Bd. 1, München 1979, S. 187. 67 In einer Eintragung im Denktagebuch im August 1955 notiert sie: „Heidegger hat unrecht: ‚In die Welt‘ ist der Mensch nicht ‚geworfen‘, wenn wir geworfen sind, so – nicht anders als die Tiere – auf die Erde. In die Welt gerade wird der Mensch geleitet, nicht geworfen, da gerade stellt sich seine Kontinuität her und offenbart sich seine Zugehörigkeit. Wehe uns, wenn wir in die Welt geworfen werden!“ Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 549f. 68 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O., S. 121.

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ger’s Philosophy“69, so sieht Arendt im Verständnis des Selbst als absoluter Vereinzelung bei Heidegger den Gegenbegriff zum Menschen: „Wenn nämlich seit Kant das Wesen des Menschen darin bestand, dass jeder einzelne Mensch die Menschheit repräsentiert und es seit der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte zum Begriff des Menschen gehörte, dass in jedem Einzelnen die Menschheit geschändet oder gewürdigt werden konnte, so ist der Begriff des Selbst der Begriff vom Menschen, in welchem er unabhängig von der Menschheit existieren und niemanden zu repräsentieren braucht als sich selbst – seine eigene Nichtigkeit.“70

Dass zur Menschenwürde die Anerkennung seiner Mitmenschen oder unserer „Mit-Nationen als Subjekte, als Erbauer von Welten oder Miterbauer einer gemeinsamen Welt“71 gehört, formuliert sie auch in den Abschließenden Bemerkungen der ersten Ausgabe von Origins of Totalitarianism. Im Unterschied zu Heidegger gilt für Arendt, dass der Mensch sich Selbst mit und durch gleichberechtigte Andere die Welt aktiv aneignen muss, um frei zu sein. Deshalb hat der öffentliche Raum für sie eine erkenntnis- und weltkonstituierende Funktion und wird zum epistemologischen Ausgangpunkt ihrer Analyse. Dort formuliert sie: „Angesichts dessen, dass der sogenannte Geist eines Zeitalters sich nirgends greifund sichtbarer zeigt als in der eigentlichen politischen Sphäre, die durch ihre Öffentlichkeit alles in die allgemeine Sichtbarkeit zwingt, ist anzunehmen, dass wir in der Bestimmung der der totalen Herrschaft zugrunde liegenden Erfahrung auch einige Grundzüge der Krise entdecken können, in der wir heute alle und überall leben.“72

Welche Konstitutionsbedingungen für das Miteinander der Menschen bestimmend sind, wird von Arendt untersucht. Sie erkennt durch ihre Analyse

69 Anders, Günther: On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy, in: Philosophy and Phenomenological Research 3 (1947/48), S. 337-371. 70 Arendt Hannah: Was ist Existenzphilosophie? a.a.O., S. 37; Siehe auch Bachmann, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existenzphilosophie Martin Heideggers, München 1985. 71 Arendt, Hannah: Abschließende Bemerkungen, a.a.O., S. 21. 72 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 944f.

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der totalen Herrschaft, dass der Terror – nach Arendt das Wesen totaler Herrschaft – nicht nur den öffentlich-politischen und den privat-gesellschaftlichen Raum zerstört, sondern überhaupt den Raum zwischen den Menschen, d.h. jede Beziehung zwischen ihnen und damit sie selbst. Die Konzentrations- und Vernichtungslager begreift sie als die „zentrale Institution“ der totalen Herrschaft, in denen der ungeheuerliche Versuch unternommen wird, die menschliche Natur selbst zu transformieren,73 d.h. ihnen die Fähigkeit zur Spontaneität im Denken und Handeln zu rauben. Dieser fundamentale Anspruch auf totale Beherrschung der Menschen nimmt ihnen das spezifisch Menschliche – die Pluralität. Der Terror „fabriziert dieses Einssein von Menschen, indem er den Lebensraum zwischen den Menschen, der der Raum der Freiheit ist, radikal vernichtet“74. Was übrig bleibt, ist der menschliche Zustand absoluter Verlassenheit: „In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Einsamkeit zu realisieren, und unfähig, die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde.“75

Diese These erschließt sich, wenn man sich den Begriff der Pluralität als einen der zentralen Begriffe in Arendts Philosophie des Politischen vergegenwärtigt. Arendt verwendet den Begriff schon in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft.76 Sie bezieht den Begriff der Pluralität sowohl auf das Selbst als auch auf die Welt. Im Selbst ist die Pluralität, so Arendt, in Anlehnung an Platon und Sokrates, durch das „Zwei in Einem“ gegeben, dem stummen Dialog mit sich selbst. Oder im Sinne von Sokrates: Das Ichbin-Ich realisiert sich als Pluralität in der Identität, wenn es sich nicht zu den erscheinenden Dingen, sondern zu sich selbst in Beziehung setzt. Das Selbst als Pluralität hat jedoch – und das ist für Arendt zentral – die Plurali-

73 Ebd., S. 912. 74 Ebd., S. 958. 75 Ebd., S. 977. 76 Ebd., S. 958.

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tät der Welt zur Voraussetzung, weil die Identität der Subjekte nur durch die Präsenz Anderer im öffentlichen Raum erfahren werden kann. Anders formuliert: Das Denken ist zwar dialogisch, es bedarf aber der Anderen – der Konfrontation mit der Welt – um wieder zu Einem zu werden, weil dies durch die Denkfähigkeit selbst nicht geleistet werden kann.77 Auf die Zerstörung der Pluralität durch den Verlust einer gemeinsamen öffentlichen Welt folgt die Unfähigkeit zu handeln, auf die Zerstörung der Pluralität im Selbst folgt die Unfähigkeit zu denken. Arendt umfasst diesen Prozess negativ in ihrem Begriff der Verlassenheit. Verlassenheit ist ein Zustand, in dem die Pluralität der Menschen sich weder als Selbst im Denken noch als Handeln in der Welt entfalten kann. Dem Faktum der Pluralität – als einer Vielzahl von Menschen, die Verschiedene sind – korrespondiert eine Pluralität von Perspektiven, die der einfachen Tatsache entspringt, dass jede und jeder einen nur ihr und ihm eigenen Ort in der Welt hat. Mit der Zerstörung der Pluralität wird folgerichtig auch die Vielzahl der Perspektiven vernichtet, die die gemeinsame Realität erst konstituiert. Dies bedeutet schließlich, dass mit der Zerstörung der Pluralität die objektiven (der Bezug auf eine gemeinsame Realität: die Welt) und subjektiven (das Selbst) Voraussetzungen politischer Urteilskraft nicht mehr gegeben sind.

1.2 W ALTER B ENJAMIN ZUR G ESCHICHTE

UND

ARENDTS Z UGANG

In der Forschung wird zu Recht auf die Bedeutung von Walter Benjamin in Arendts Werk hingewiesen. Dies gilt in besonderer Weise für Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und zeigt sich in der historischen Herangehensweise. So ähnelt Arendts Perspektive auf die historischen Elemente totaler Herrschaft der Konzeption des Engels in Benjamins Thesen zur Geschichte, der – der destruktiven Dialektik moderner Zivilisation innewerdend – rückwärtsgewandt und voll des Schreckens auf einen Trümmerhaufen missglückter und zerschlagener menschlicher Möglichkeiten schaut.78

77 Ebd., S. 976f. 78 Vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. a.a.O.,S. 121f. Passerin D’Entrèves, Maurizio: The Political Philosophy of Hannah Arendt, London 1994. „Es gibt

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Im Anblick der zerschlagenen Hoffnungen konzentriert sich der Benjaminsche Geschichtsschreiber auf das Bruchstückhafte, auf die Fehlschläge und historischen Sackgassen. Seine Bewegung des Denkens – und die Arendts – ist die des Fragments. Zugleich aber die radikale Kontingenz der Ereignisse betonend, in der Darstellung fragmentarisch leugnet Arendt keineswegs die Voraussetzungen des Massenmords an den Juden in der modernen Gesellschaft, denn „das totalitäre Phänomen“ ereignete sich nicht auf dem Mond, „sondern in der Mitte der menschlichen Gesellschaft“79. Ähnlich des ebenfalls von Benjamin inspirierten Anspruchs der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer will auch Arendt das nazistische Vernichtungssystem nicht als einen Betriebsunfall im zivilisatorischen Siegeszug verharmlosen.80 Arendt folgt Benjamin in seinem Zugang zur Vergangen-

ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, S. 251-261, hier S. 255. Vgl. auch Claussen, Detlev: Was heißt Rassismus?, Darmstadt 1994, S. 136f. 79 Arendt, Hannah: Eine Antwort, in: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus. a.a.O., S. 42-51, hier S. 45. 80 Zum Vergleich mit der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno formuliert Axel Honneth: „Was aber die gesellschaftliche Ermöglichung totalitärer Herrschaft anbelangt, was ihre Entstehung aus den Zusammenhängen einer sozialen Pathologie betrifft, so kommt dem Vorschlag von Hannah Arendt doch eine gleich größere Deutungskraft zu: Die These, derzufolge mit der Ausdehnung technischer Tätigkeitsvollzüge die Sphäre freiheitsverbürgenden Handelns eingeschränkt wird, womit zugleich ein Zerfall der politischen Öffentlichkeit

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heit nach dem Traditionsbruch. Dies betrifft im Wesentlichen zwei Aspekte: (1) die Figur des Sammlers und Perlentauchers und (2) die Ersetzung der Tradierbarkeit der Vergangenheit durch ihre Zitierbarkeit. Das Vergangene wird in Form von Fragmenten und Denkbruchstücken betrachtet, die die doppelte Funktion haben, den „Fluß der Darstellung [...] sowohl zu unterbrechen wie das Dargestellte in sich zu versammeln“81. Benjamin wusste, wie Arendt betont, „dass man die Tradition nicht wirksamer zerschlagen

einhergehen muß, so dass schließlich der totalitären Herrschaft keine Grenzen mehr gesetzt sind, ist nicht nur wesentlich anschaulicher auf realgeschichtliche Vorgänge bezogen als all die Überlegungen, die sich in der Dialektik der Aufklärung finden; mit dieser These wird vor allem auch der Blick auf eine soziale Fehlentwicklung gelenkt, die für moderne Gesellschaften selbst dann noch Brisanz und Aktualität behalten sollte, als der Nationalsozialismus schon zerschlagen war, und nicht etwa die Dialektik der Aufklärung, von der in den fünfziger und sechziger Jahren die wichtigsten Anstöße für die Sozialphilosophie ausgegangen sind.“ Honneth, Axel: Pathologien des Sozialen, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2000, S. 11-70, hier S. 53. Interessant scheint mir danach zu fragen, was Arendt im Unterschied zu Adorno und Horkheimer macht. Während Adorno/Horkheimer versuchen, die Dialektik der okzidentalen Zivilisation zu begreifen, reflektiert Arendt die Tradition des europäischen Denkens bezogen auf ein Problem: das Politische. Dies wird von Seyla Benhabib richtig gesehen: „Doch aus der Distanz gesehen ist deutlich, dass die andere Dialektik der Aufklärung in Hannah Arendts Werk erhalten ist, nämlich die Dialektik der Aufklärung auf der Ebene der politischen Kultur und auf der Ebene der Widersprüche des modernen Staates. [...] Franz Neumann und Otto Kirchheimer haben zwar die Staatstheorie und die Rechtstheorie entwickelt und sich auch mit politischer Soziologie befasst, doch in den Studien von Adorno, Horkheimer und Marcuse wird insgesamt die Autonomie des Politischen vernachlässigt. Es ist das Verdienst von Hannah Arendt, auf das politische Moment innerhalb einer gesamten Gesellschaftstheorie der Moderne hingewiesen zu haben.“ Benhabib, Seyla: Diskursethik, Urteilskraft und Minoritätenrechte, in: Pauer-Studer, Herlinde (Hg.), Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, Frankfurt a.M. 2000, S. 1128, hier S. 20. 81 Arendt, Hannah: Walter Benjamin, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 185-243, hier S. 230.

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kann, indem man sich das ‚Reiche‘ und ‚Seltsame‘, die Korallen und Perlen, aus dem Überkommenen herausbricht“82. In welcher Weise Arendt Benjamin in seinem Blick auf die Geschichte folgt, zeigt sich auch in ihrem Briefwechsel mit Eric Voegelin, der die erste Ausgabe der Origins of Totalitarianism (1951) kritisch besprochen hatte. Eric Voegelin formulierte in seiner Rezension zwei grundsätzliche Einwände gegen ihr Buch. Methodologisch sei es nicht ausgewiesen, und philosophisch sei ihre Annahme einer „Transformation der menschlichen Natur“ nicht zu halten.83 In ihrer Antwort auf die Rezension beginnt Arendt mit einer „Erklärung“ ihrer Methode: „[D]ass ich es versäumte, die besondere Methode, die ich zu benutzen mich entschloss, zu erklären und einen ziemlich ungewöhnlichen Ansatz zu begründen – nicht bezüglich der verschiedenen historischen und politischen Fragen, wo Begründungen oder Rechtfertigung nur ablenken würden, sondern im Rahmen der politischen und historischen Wissenschaften überhaupt. Eine der Schwierigkeiten des Buches ist es, dass es keiner offiziellen Schule angehört und kaum eines der offiziell anerkannten oder offiziell kontroversen Instrumente benutzt.“84

Arendts Antwort bleibt zunächst unbestimmt im Sinne einer Definition über ihre „Methode“, die sie dann anwendet. Sie trennt den Inhalt nicht von der Form und beginnt mit einer Schwierigkeit, der sie sich gegenübergestellt sah: „Mein wichtigstes Problem also war, wie ich historisch über etwas – den Totalitarismus – schreiben sollte, das ich nicht bewahren wollte, sondern bei dem ich mich im Gegenteil dazu berufen fühlte, es zu zerstören.“85 In ihrem Essay zu Walter Benjamin greift sie diesen Gedanken wieder auf. Erst „der an der Gegenwart Verzweifelnde“86 hätte diese Kraft des Destruktiven entdeckt, denn diese Entdecker des Destruktiven waren ur-

82 Ebd., S. 233. 83 Vgl. Voegelin, Eric: Hannah Arendt „The Origins of Totalitarianism“, in: The Review of Politics 15 (1953), S. 76-84. In deutscher Übersetzung siehe in: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus, a.a.O., S. 33-42. 84 Arendt, Hannah: Eine Antwort, a.a.O., S. 43. 85 Ebd. S. 43f. 86 Arendt, Hannah: Walter Benjamin, a.a.O., S. 224.

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sprünglich von der Absicht beseelt, zu bewahren. In ihren weiteren Ausführungen zu Voegelin führt Arendt das Missverständnis, mit dem ihr Buch in der Fachwelt aufgenommen wurde, genau darauf zurück: „Meine Art, dieses Problem zu lösen, hat den Vorwurf, dem Buch fehle die Einheitlichkeit, entstehen lassen. Was ich getan habe – und was ich aufgrund meiner Ausbildung und der Art meines Denkens möglicherweise ohnehin unternommen hätte – war, die hauptsächlichen Elemente des Totalitarismus zu entdecken und sie in historischen Begriffen zu analysieren, wobei ich diese Elemente soweit in die Geschichte zurückverfolgte, wie ich es für richtig und notwendig hielt. Das heißt, ich habe keine Geschichte des Totalitarismus verfasst, sondern eine Analyse in ‚Begriffen der Geschichte‘ [Herv. v. W.M.] vorgenommen; ich schrieb keine Geschichte des Antisemitismus oder des Imperialismus, sondern analysierte das Element des Judenhasses und das Element der Expansion insofern, als diese Elemente im totalitären Phänomen selbst noch klar sichtbar waren und eine entscheidende Rolle spielten. Das Buch beschäftigt sich deshalb nicht wirklich mit den ‚Ursprüngen‘ des Totalitarismus – wie sein Titel (The Origins of Totalitarianism) bedauerlicherweise behauptet –, sondern gibt eine historische Darstellung der Elemente, die sich im Totalitarismus kristallisierten, und auf diese Darstellung folgt eine Analyse der elementaren Struktur des Buches, während seine mehr sichtbare Einheitlichkeit durch bestimmte grundsätzliche Vorstellungen, die das Ganze wie rote Fäden durchziehen, gegeben ist.“87

Das Ereignis gibt den Weg in die Vergangenheit vor, insofern sich im Ereignis die Elemente kristallisieren, die dann zurückverfolgt werden in „Begriffen der Geschichte“, wie Arendt es nennt. Auch die terminologischen Anleihen bei Benjamin sind nicht zufällig. Die Begriffe der Kristallisation, Konfiguration und Konstellation verdeutlichen, wie sie dem Benjaminschen Impuls folgt: eine systematische Darstellung vom Ereignis ausgehend darzulegen, die sich aber der Vorstellung einer notwendigen Entwicklungsgeschichte verweigert und die Kontingenz der geschichtlichen Ereignisse betont.

87 Arendt, Hannah: Eine Antwort, a.a.O., S. 43f.

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1.3 D IE H INWENDUNG

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ZUR

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W IRKLICHKEIT

DER

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Doch Arendts Anspruch ging darüber hinaus. Denken im „Schatten des Traditionsbruchs“ vergewissert sich einem Zugang zur Vergangenheit, für die alle Tradition gleich fragwürdig geworden war und die dadurch allererst den Raum für ein freies Urteilen und ein unabhängiges Urteilsvermögen eröffnete. In dieser Erinnerung schafft sich das kritische Denken eine Alternative, die zu einem neuen Anfang ermutigt. Dafür benötigt der Denkende einen neuen Raum, einen neuen „Ort“ des Denkens, der uns die Möglichkeit bietet, die Wirklichkeit der Welt wahrzunehmen. Einen Anhaltspunkt dafür findet Arendt in Kafkas Parabel „Er“. Die „Lücke“ zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Kafka benennt, stellt die „perfekte Metapher für die Tätigkeit des Denkens“88 dar. Selbstverständlich habe diese „Lücke“ immer existiert, sei aber stets durch die Tradition überbrückt worden. Dies sei in der Moderne immer schwieriger geworden, heute sei es unmöglich: „Als der Faden schließlich ganz gerissen war, hörte die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft auf, nur eine der Denktätigkeit eigene Bedingung und als Erfahrung auf die Wenigen, die das Denken zu ihrem Hauptgeschäft machten, beschränkt zu sein. Sie wurde zur greifbaren Wirklichkeit für alle und stiftete allgemein Verwirrung, das heißt sie wurde zu einer Tatsache von politischer Bedeutung.“89

Die Parabel „Er“ von Kafka ist für ein Verständnis von Arendts Denken von außerordentlicher Bedeutung.90 Sie gibt einen entscheidenden Hinweis, wie Arendt sich der Welt zuwendet: „Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorne drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem Ersten; denn er treibt ihn

88 Arendt, Hannah: Vorwort: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 15. 89 Ebd., S. 17. 90 Vgl. Hierzu auch Birmingham, Peg: Hannah Arendt and Human Rights. The Predicament of Common Responsibility, Chicago 2006, S. 17.

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doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn sie sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, dass er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.“91

Arendt interpretiert diese Parabel als einen geistigen Kampf, als ein Gedanken-Ereignis, ein Schlachtfeld, auf dem die Kräfte zwischen Vergangenheit und Zukunft aufeinanderprallen. Zwischen diesen Kräften steht „Er“. Der Kampf verdanke sich ausschließlich der Gegenwart des Menschen. Arendt hebt dieses Eingefügtsein des Menschen – der Anfang von einem Anfang (Augustinus) – hervor, weil er dazwischen tritt: „Auf diesem kleinen Nicht-Zeit-Raum im eigentlichen Herzen der Zeit kann nur hingewiesen werden, er kann nicht, wie die Welt und die Kultur, in die wir hineingeboren werden, von der Vergangenheit ererbt und kann auch nicht überliefert werden. Jede neue Generation, ja jedes neue menschliche Wesen muss ihn entdecken und unverdrossen den Weg neu bahnen, wenn es sich in der Lücke zwischen einer unendlichen Vergangenheit und einer unendlichen Zukunft einfügt.“92

Arendt hebt nun an, die Position des „Er“ zu korrigieren. Es fehle eine räumliche Dimension für das Denken, ohne aus der Zeit herauszuspringen. Während das Herausspringen aus der Kampflinie in der Parabel ein „über dem Handgemenge“ fordert und den alten Traum eines übersinnlichen Bereiches symbolisiert, „den die westliche Metaphysik von Parmenides bis Hegel geträumt hat“93, sollte „Er“ in der Lage sein, einen gleichbleibenden Abstand zur Vergangenheit und Zukunft „zu üben“ und nicht aus der Kampfeslinie herausspringen. Das Bild, das Arendt hier entwirft, ist der Versuch, Bedingungen für ein Denken zu formulieren, das „nur durch Praxis, durch Übungen erworben werden“94 kann: „Er hätte den Platz in der

91 Zit. nach Arendt, Hannah: Vorwort: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 11. 92 Ebd., S. 17. 93 Ebd., S. 15. 94 Ebd., S. 17.

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Zeit gefunden, der weit genug von der Vergangenheit und der Zukunft entfernt ist, um dem ‚Schiedsrichter‘ einen Ort zu bieten, von dem aus die miteinander kämpfenden Kräfte mit einem unparteiischen Auge beurteilt werden können.“95 Diese Position des „Er“ ist der „angemessene Ort aller Reflexion“96 nach dem Traditionsbruch, wo das Denken „in langsamen geordneten Bewegungen sozusagen vorwärts und rückwärts gehen kann“97 [Herv. v. W.M.]. Wenn Arendt formuliert, dass „thought and reality have parted company“, so fordert sie als Antwort auf den Traditionsbruch ein „kritisches Denken“ ein, das sich der Welt verpflichtet fühlt. Schon in ihrer Buchbesprechung zu Hermann Brochs „The Death of Virgil“ taucht dieser Gedanke als „no longer and not yet“98 auf. Später in ihrer Aufsatzsammlung Between Past and Future99 ist er Programm; und in dem ersten Band Vom Leben des Geistes: Das Denken wird Kafkas „Lücke“ zwischen Vergangenheit und Zukunft als „Nunc stans“, als „Jetztzeit“ interpretiert.100 Kann die „Lücke“ zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht mehr durch die Tradition überbrückt werden, ist nur noch ein „Denken ohne Geländer“ möglich. Die heute inflationär zitierte Formulierung „Denken ohne Geländer“ ist alles andere als nur eine façon de parler. Ein Geländer im Sinne Arendts sind Kategorien und Formeln, „die zwar tief in unserem Denken verankert sind, deren Erfahrungsgrundlage aber längst vergessen ist und deren Plausibilität eher auf logische Stimmigkeit beruht als darauf, dass sie tatsächlichen Ereignissen angemessen sind“101. Was angesichts des

95 Ebd., S. 16. 96 Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.o., S. 327-371, Anm. S. 429. 97 Arendt, Hannah: Vorwort: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 16. 98 Arendt, Hannah: No longer and Not Yet, in: Dies.: Essays in Understanding, a.a.O., S. 159-162. 99 Arendt, Hannah: The Gap Between Past and Future, in: Dies.: Between Past and Future, New York 1961, S. 3-15. 100 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 198f. Vgl. hierzu auch Birmingham, Peg: Hannah Arendt and Human Rights, Chicago 2006. 101 Arendt, Hannah: Die Persönliche Verantwortung unter der Diktatur, in: konkret 1991, H. 6, S. 34-46, hier S. 41.

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Traditionsbruchs von Arendt gefordert wird, ist „ein Denken, das sich ohne Stützen und Krücken, gewissermaßen ohne das Geländer der Tradition frei bewegt“102. Wie aber geht Arendt mit dem von ihr konstatierten Traditionsbruch um? Wie bearbeitet sie diesen, wenn die traditionellen Kategorien und Begriffe nicht mehr hinreichen, um das Neue zu erfassen? Der Schlüssel zu Arendts Umgang mit dem Traditionsbruch liegt, so meine These, in der reflektierenden Urteilskraft und damit dem sensus communis bei Kant, in dem Arendt zugleich einen Begriff des Politischen entdeckt.

1.4 T RADITIONSBRUCH UND ARENDT UND K ANT

SENSUS COMMUNIS



Die Hinwendung Arendts zur Philosophie Kants mag auf den ersten Blick überraschen, denn, wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist ihre Kritik an der Tradition und damit auch an Kant grundsätzlicher Natur: ihre Verwerfung des kantischen Faktums der Vernunft, dem sie das Faktum der Natalität und der Pluralität entgegensetzt, ihre dezidierte Ablehnung jeglicher Form von Geschichtsphilosophie und ihre scharfe Kritik der Moralphilosophie Kants.103 Und doch knüpft sie an Kants dritte Kritik an, aber nicht um sie so zu lassen, wie sie ist, sondern um sie politisch zu wenden. Arendts Bezug auf die Urteilskraft ist in den Kontext ihrer Kritik an der traditionellen Beziehung zwischen Philosophie und Politik eingebettet. Diese Frage berührt sie schon, als sie Deutschland verlässt: „Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den andern nicht. Und das hab’ ich nie vergessen.“104 Später formuliert Arendt, dass die Neigung großer Denker, die ihre „Zuflucht zu Tyrannen und Führern nahmen“, nicht nur den jeweiligen Zeitumständen „und noch weniger einem vorgeformten Charakter, sondern eher dem geschuldet sein, was die Franzosen eine ‚dèformation professionelle‘

102 Arendt, Hannah: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, a.a.O., S. 17-49, hier S. 25. 103 Vgl. ebd., S. 44f. 104 Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günther Gaus, a.a.O., S. 57f.

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nennen. Denn die Neigung zum Tyrannischen lässt sich theoretisch bei fast allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme).“105 An Arendts Bezugsnahme auf Kant lässt sich zeigen, wie sie sich der abendländischen Tradition politischen Denkens im Horizont des Traditionsbruchs zuwendet, dass nämlich der „Griff in den Meeresgrund des Vergangenen […] diese eigentümliche Doppeltheit von Bewahren- und Destruierenwollen an sich“106 hat. Dies trifft nicht nur für ihren Umgang mit der Geschichte zu, sondern auch für das bereits Gedachte nach dem Traditionsbruch. So kann ihr Zugang zu Kants Kritik der Urteilskraft auch mit der Metapher des Perlentauchers beschrieben werden. Um zu verdeutlichen, wie Arendt dies versteht, verweist sie auf einige Zeilen aus Shakespeares „Sturm“, weil sie „es besser und knapper sagen, als ich es könnte“107: „Fünf Faden tief liegt Vater dein: Sein Gebein wird zu Korallen; Perlen sind die Augen sein: Nicht an ihm, das soll verfallen, Das nicht wandelt Meeres Hut In ein reich’ und seltnes Gut“108

Dieser Zugriff auf das bereits Gedachte, der für sie in dieser Metapher des Perlentauchers enthalten ist, weiß um die verloren gegangene Kontinuität der Vergangenheit: „Man hat dann immer noch die Vergangenheit, aber eine zerstückelte Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewißheit verloren hat.“109 Die Kritik der Urteilskraft von Kant ist für Arendt solch eine Perle,

105 Arendt, Hannah: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, a.a.O., S. 172- 184, hier S. 184. 106 Arendt, Hannah: Walter Benjamin, a.a.O., S. 232. 107 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 208. 108 Zit. nach Arendt, Hannah: Walter Benjamin, a.a.O., S. 229. 109 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 208. Elisabeth Young Bruehl zitiert einen Brief von Arendt an Mary Underwood, in dem Arendt sich bezogen auf ihr Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gegen die historische Schriftstellerei wendet, weil die Kontinuität nicht mehr existiert: „Ich hielt mich von der historischen Schriftstellerei im strengen Sinn fern, weil ich den Eindruck habe, dass diese Kontinuität nur dann gerechtfertigt

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deren traditionelle „Bewertungsgewißheit“ sie hinterfragt und die sie deshalb nicht so, wie sie war, belebt. In ihr entdeckt sie vielmehr etwas, was von der Tradition nicht überliefert wurde: eine Philosophie des Politischen. Wie Arendt erläutert, ist ihre Perspektive auf Kant, nicht diejenige von Kant. Gleichwohl beansprucht sie über Kants Selbstinterpretation hinaus zu gehen, dabei jedoch in seinem Geist geblieben zu sein.110 Sie beruft sich hierfür paradoxerweise auf Kant, der in seiner Lesart der Platonischen Ideen formuliert hat, dass man den Autor besser verstehen kann als er sich selbst. Kant notiert in der Kritik der reinen Vernunft: „Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte.“111

Die Annahme, dass man den Autor besser verstehen könne als er sich selbst, setzt somit voraus, dass ich mich nicht an traditionelle Vorgaben, Denkmuster, Wahrnehmungsweisen und damit auch Lesarten halten muss. Anders gesagt: Schon die Interpretation eines anderen Autors kann nach den kritischen Maximen des sensus communis erfolgen, und genau dies ist die Lesart Arendts von Kant. Wenn Arendt formuliert, dass kritisches Denken „sich nicht nur auf Lehren und Vorstellungen, die man von anderen erhält, nicht nur auf Vorurteile und Traditionen, die man ererbt“112 bezieht, und dass man erst in der Anwendung kritischer Maßstäbe auf sein eigenes

ist, wenn der Historiker seinen Gegenstand bewahren, der Sorge und Erinnerungen zukünftiger Generationen anempfehlen möchte. Historische Schriftstellerei in diesem Sinne ist letzten Endes immer Rechtfertigung dessen, was geschah.“ Zit. nach Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 286f. 110 Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen, Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1985, S. 49f. 111 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. III, Frankfurt a.M. 1988, S. 322: A 314; Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 50. 112 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 59.

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Denken die Kunst des kritischen Denkens erlernt, die durch die Begegnung mit Anderen, also durch Öffentlichkeit erfolgt, dann beschreibt sie hier nichts anderes als die Operationsweise des sensus communis und deren kritische Maximen. Was versteht Kant unter dem viel zitierten sensus communis und was sind dessen kritische Maximen? Kant bestimmt in der Kritik der Urteilskraft im § 40 den sensus communis als „die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens [...], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (apriori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde.“113

Kant erläutert dieses Beurteilungsvermögen durch drei kritische Maximen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“114 Die erste Maxime des sensus communis wird durch den Aufklärungsgedanken bestimmt, den Kant in seiner Schrift Was ist Aufklärung? mit dem Satz benannt hat: „Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“115 Es ist die Maxime der Vorurteilsfreiheit. Die zweite zeichnet sich durch einen allgemeinen Standpunkt aus, von dem aus geurteilt wird, indem man sich, wie Kant es formuliert, an die Stelle jedes andern denkt.116 Die letzte Maxime ist die der erfolgreichen Anwendung der vorher genannten, die der konsequenten Denkungsart. Diese Maximen des reflektierenden Urteils verdeutlichen die Denkungsart des sensus communis. Wenn Arendt in ihrem Aufsatz Was ist Autorität? formuliert, dass wir mit dem Verlust

113 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt a.M. 1988, S. 225: B 157. 114 Ebd., S. 226: B 158. 115 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Ders: Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a.M. 1988, S. 53-61, hier S. 53: A 481. 116 In den Schriften zur Anthropologie bestimmt Kant die zweite Maxime explizit als „sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken.“ Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. XII, Frankfurt a.M.,1988, S. 399-685, hier S. 511: B 123.

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der Tradition den Adriadnefaden verloren haben, der uns durch die Vergangenheit führt, so hebt sie auch hervor, dass sich dieser Adriadnefaden aber auch als „die Kette erweisen könnte an die jede Generation neu gelegt wurde und durch die ihr die Vergangenheit in einem im vorhinein vorgezeichneten Aspekt [Herv. v. W.M.] erschien“117. Diese Kette kann mit dem sensus communis durchbrochen werden, weil dieser es ermöglicht, „Vorurteile und Traditionen, die man ererbt“118 hat, kritisch zu hinterfragen. Mit dem sensus communis ist es folglich möglich, sich sowohl auf als auch gegen die Tradition zu beziehen.119 Dies wird gerade dadurch möglich, dass man „sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteil hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise Weise anhängen, abstrahiert“120. Der Vergleich der eigenen Betrachtungen und Urteile mit den wirklichen oder möglichen Urteilen von anderen ist eine Überprüfung des eigenen Urteils. Man erweitert die Denkungsart, indem man sie von ihren subjektiven Privatbedingungen befreit: „Allein hier ist nicht die Rede vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der Denkungsart, einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen; welche so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt, wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils [...] wegsetzen kann und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.“121

Über sein eigenes Urteil reflektiert man, so Kant, wenn man aus einem allgemeinen Standpunkte denkt. Den allgemeinen Standpunkt kann man wiederum nur dadurch bestimmen, dass man sich in den Standpunkt anderer versetzt. Was heißt das? Arendt beginnt zunächst negativ: Sich in den

117 Arendt, Hannah: Was ist Autorität?, a.a.O., hier S. 161. 118 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 59. 119 Siehe hierzu auch Makkreel, Rudolf: Orientierung und Tradition in der Hermeneutik: Kant versus Gadamer, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 41 (1987), S. 408- 420, hier S. 414. 120 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 225: B 157. 121 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 227: B 160.

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Standpunkt anderer zu versetzen, sei weder mit Empathie gleichzusetzen noch mit der Vorstellung zu verwechseln, man wisse, was in den Köpfen anderer vor sich gehe. Arendt übersetzt diese Passage ganz konkret: Einen allgemeinen Standpunkt erlange ich nur dadurch, dass ich mit Hilfe der Einbildungskraft mir den Standort der Anderen vergegenwärtige: den „Platz auf dem sie stehen“, „die Bedingungen, denen sie unterworfen sind“, die nie die gleichen, sondern „von Individuum zu Individuum, von einer Klasse und Gruppe zur anderen“122 verschieden sind. Um Missverständnissen vorzubeugen schreibt sie nochmals explizit: „Verstehen in der Politik heißt nie, den Anderen verstehen (nur die welt-lose Liebe ‚versteht‘ den Anderen) sondern die gemeinsame Welt so, wie sie dem Anderen erscheint.“123 Diese Denkungsart des sensus communis überwindet den „Egoism“, dem nur „der Pluralism“ entgegengesetzt werden muss, wie Kant es in seinen Schriften zur Anthropologie im Kapitel „Vom Egoism“ formuliert.124 Dieser Urteilsprozess bezieht sich auf Andere, reflektiert deren wirkliche und mögliche Urteile. Mit dieser zweiten Maxime fügt Kant, so Arendt „dem Satz des Widerspruchs, der Einstimmigkeit mit sich selbst, den Satz von der Einstimmigkeit mit Anderen hinzu“ und dies ist für sie „in der politischen Philosophie der größte Schritt seit Sokrates“125. Bezieht man jetzt das so eben Ausgeführte auf Arendts Blick der kantischen Philosophie, so liest sie seine Philosophie weder „in einem im vorhinein vorgezeichneten Aspekt [Herv. v. W.M.]“126 noch verfährt sie nach dem Aschenputtelprinzip, indem sie das, was gut war, übernimmt und das, was fragwürdig geworden ist, beiseite legt. Sie entfaltet eine andere Perspektive auf Kant. Er hat, so Arendt, „die eindeutig destruktive Seite seines Unterfangens“ überhaupt nicht erkannt: „Er erkannte nicht, dass er eigentlich die ganze Ma-

122 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 61. 123 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 451. 124 Vgl. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. XII, Frankfurt a.M. 1988, S. 399-685, S. 411: BA 9. 125 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 570. Arendt fügt hinzu, dass in beiden Fällen, also der Übereinstimmung mit mir selbst und der mit Anderen Einstimmigkeit die Voraussetzung ist. Die logische Stimmigkeit tritt auf, „wenn es weder die Übereinstimmung mit sich selbst noch die Einstimmigkeit mit den Anderen gibt.“ Ebd. 126 Arendt, Hannah: Was ist Autorität?, a.a.O:, S. 161.

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schinerie, die, obgleich oft unter Beschuss, viele Jahrhunderte bis tief in die Moderne hinein bestanden hatte, auseinandergenommen und zerstört hatte.“127 Es war ihm, so Arendt, nicht klar, dass er nicht Platz für den Glauben geschaffen hatte, sondern für das Denken, er hatte nicht das Wissen aufgehoben, sondern Erkenntnis und Denken unterschieden.128 Arendt liest Kants Philosophie als eine „kritische Philosophie“, die kein anderes System hervorgebracht hat, sondern die „spekulative Vernunft“ begrenzt.129 Sie macht sich Kants Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand zueigen. Der Vernunft entspräche der Tätigkeit des Denkens, dem Verstand die Tätigkeit des Erkennens. Im Unterschied zum Erkennen mündet das Denken nicht in Wissen, sondern geht über die Grenzen der Erkenntnis hinaus. Wenn Arendt zwischen Wahrheit und Sinn, zwischen Erkennen und Denken unterscheidet, so bezweifelt sie nicht, dass die Sinnsuche des Denkens und die Wahrheitssuche des Erkennens miteinander zusammenhängen. Sie will das Denken als Selbstzweck hervorheben.130 Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft formuliert, dass die reine Vernunft mit nichts als sich selbst beschäftigt ist und kein anderes Geschäft haben kann,131 so entdeckt Arendt in dieser Aussage von Kant den Selbstzweck des Denkens, das ergebnislos ist und das sie mit der Schleier der Penelope vergleicht: „Jeden Morgen macht es das wieder zunichte, was es in der Nacht zuvor fertig gestellt hatte.“132 Arendt hebt in diesem Kontext hervor, dass das Ende der Metaphysik, der Philosophie und der Theologie nicht bedeutet, dass deren Fragen obsolet geworden sind, sondern vielmehr die Art, wie sie verstanden und beantwortet wurden.133 Sie bezieht dieses Ende der Metaphysik, der Philosophie und Theologie im Wesentlichen auf zwei traditionelle Grundannahmen, die ihre Überzeugungskraft eingebüßt haben: (1) Die Un-

127 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 50. 128 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 24. 129 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 50f. 130 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 70ff. 131 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 2, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1988, S. 590: B 708. 132 Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. a.a.O., S. 128-157, hier S. 135. 133 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 20, S. 23.

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terscheidung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichen, die mit der Annahme verknüpft ist, dass alles nicht sinnlich Wahrnehmbare wirklicher, wahrheitshaltiger und sinnvoller sei, als das Erscheinende und (2) die traditionelle Unterscheidung zwischen den „Vielen“ und den „Denkern von Gewerbe“, die mit der zuerst genannten Grundannahme korrespondiert. Was hier an ein Ende gekommen ist, ist nicht nur die Bestimmung von „ewigen Wahrheiten“, sondern die Unterscheidung überhaupt. Für Arendt steht also nicht die Denkfähigkeit, sondern die Denkweise zur Disposition.134 Kant ist innerhalb der Tradition die große Ausnahme, weil er beiden Grundannahmen der traditionellen Philosophie widerspricht. Seine theoretische Philosophie, so Arendt, ist dadurch bestimmt, dass „alle Erkenntnis von dem Zusammenspiel und der Zusammenarbeit von Sinnlichkeit und Verstand abhängt“.135 Außerdem habe Kant nicht behauptet, dass der Körper und die Sinne die Hauptquellen des Irrtums und des Bösen seien.136 Für Arendt ergeben sich damit zwei Schlussfolgerungen: Erstens behauptet Kant weder, „dass der Philosoph die Platonische Höhle verlassen oder Parmenides Auffahrt zu den Himmeln mitmachen kann, noch meint er, der Philosoph solle ein Mitglied einer Sekte werden. Für ihn bleibt der Philosoph ein Mensch wie du und ich, der unter seinen Mitmenschen und nicht unter seinen Mitphilosophen lebt. Zweitens behauptet Kant, dass eine Beurteilung des Lebens nach den Maßstäben von Lust und Unlust – die Plato und die anderen als Aufgabe allein des Philosophen reklamierten, indem sie darauf hinwiesen, dass die Vielen mit dem Leben, wie es ist, durchaus zufrieden

134 „Diese uralte Unterscheidung zwischen den Vielen und den ‚Denkern von Gewerbe‘, die sich auf das angeblich Höchste spezialisieren, dessen der Mensch fähig ist – dem Philosophen bei Platon [...] leuchtet nicht mehr ein, und das ist der zweite Vorteil unserer heutigen Situation. Wenn etwas Richtiges an dem oben von geäußerten Gedanken sein sollte, dass die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterschieden, etwas mit dem Denkvermögen zu tun habe, dann müssten wir ihre Anwendung von jedem normalen Menschen ‚verlangen‘ können, gleichgültig, wie gebildet oder unwissend, intelligent oder dumm er zufällig ist.“ Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 23. 135 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 42. 136 Vgl. ebd.

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sind – von jedem gewöhnlichen Menschen mit gesundem Menschenverstand, wenn er je über das Leben nachgedacht hat, erwartet werden kann.“137

Die Hinwendung zur Kritik der Urteilskraft ist für Arendts Projekt auch deshalb möglich, weil Kant die Objekte der Beurteilung unbestimmt lässt und der Beurteilungsprozess selbst im Vordergrund steht.138 Es geht Arendt im direkten Anschluss an Kant um die „Operation der Reflexion“ beim Urteilen, also um die Frage, was der Urteilende tut, wenn er urteilt. Bei Kant ist die innere an die äußere Erfahrung geknüpft, d.h. die Entfaltung der geistigen Fähigkeit des Menschen werden an historisch-politische Rahmenbedingungen.139 Die eigentliche Pointe der arendtschen Argumentation liegt nun keineswegs nur darin, dass sie sich auf die reflektierende Urteilskraft und nicht auf die praktische Vernunft bei Kant bezieht (auf ihre Kritik der Moralphilosophie Kants wird im letzten Kapitel näher eingegangen), sondern darin, dass sich die Menschen durch die reflektierende Urteilskraft, also in der Operationsweise des sensus communis in der Welt orientieren und dass sich in diesem das Welt- und Selbstverhältnis konstituiert.140 Arendt kritisiert – so paradox es klingen mag – Kant mit Kant, indem sie in einem ersten Schritt Kants Betrachtungen zur Französischen Revolution analysiert und feststellt, dass die Grundlage seiner Beurteilung nicht der Moralphilosophie im Sinne der praktischen Vernunft entspricht, son-

137 Ebd. 138 Arendt, Hannah: Kants Politische Philosophie, Chicago Fall 1964, Container 63.15, (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg), o.S., Blatt 032261: „The central fact of the Critique is not Art or the Work of Art, but taste. It has been said before: Kant was not gifted for the arts, neither in producing nor in appreciating. What made him concern himself with it, is not art but that art is being judged by people [Herv. v. W.M.].“ Ebd. 139 Vgl. Nordmann, Ingeborg: Die Vita activa ist mehr als nur praktische Philosophie, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität?, München 2007, S. 199-214. „Dabei läßt sich die merkwürdige Tatsache beobachten, dass die Phronesis nur noch in den nachgelassenen Fragmenten ihrer geplanten Einführung in die Politik erwähnt wird. Im Denktagebuch taucht sie überhaupt nicht mehr auf.“ Ebd. S. 205. 140 Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O. S. 88f.

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dern der reflektierenden Urteilskraft.141 In einem zweiten Schritt analogisiert sie das Politische mit der dritten Kritik.142 Methodisch rechtfertigt sie diese Vorgehensweise folgendermaßen: „Wenn ich damit recht habe, dass es bei Kant eine Politische Philosophie gibt, dass er sie jedoch, im Gegensatz zu anderen Philosophen niemals geschrieben hat, dann scheint es naheliegend, dass wir in der Lage sein sollten, sie, wenn überhaupt, in seinem Gesamtwerk zu finden und nicht nur in den wenigen Aussagen, die üblicherweise unter diesem Titel zusammengestellt werden. Wenn einerseits seine Hauptwerke überhaupt keine politischen Implikationen aufwiesen und wenn andererseits die peripheren, politische Fragen behandelten Schriften nicht verbundene Gedanken enthielten, dann wäre unsere Fragestellung nicht von Belang, dann wäre sie bestenfalls Ausdruck eines archivarischen Interesses. Es verstieße gegen den eigentlichen Kantischen Geist, wenn wir uns damit beschäftigen; denn Leidenschaft für Gelehrsamkeit war Kants Sache nicht.“143

Die Kritik der Urteilskraft kann für Arendts Verständnis des Politischen herangezogen werden, weil Kant in ihr vom Standpunkt der Freiheit, also jenseits des Reichs der Notwendigkeit argumentiert. Im Unterschied zur Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft beschäf-

141 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 100f.: „Der springende Punkt ist nämlich, dass in den verschiedenen größeren und kleineren einschlägigen Abhandlungen, die alle in den späteren Abschnitten von Kants Leben entstanden, der Zuschauerstandpunkt nicht durch die kategorischen Imperative praktischer Vernunft bestimmt wird [...].“ Ebd. 142 „Man würde vermuten, dass Kants Problem in der späten Zeit seines Lebens – als die Amerikanische und, mehr noch die Französische Revolution ihn sozusagen aus seinem politischen Schlummer erweckt hatten (wie ihn in seiner Jugend Hume aus dem dogmatischen Schlaf gerissen hatte und in seinen Mannesjahren Rousseau aus dem moralischen) – darin bestanden hätte, wie er die Frage der Organisation des Staates mit seiner Moralphilosophie, d.h. mit dem Diktat der praktischen Vernunft, in Einklang bringt. Das trifft nicht zu. Und die erstaunlich Tatsache ist, dass Kant wusste, dass seine Moralphilosophie hier nicht helfen konnte.“ Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 28f., vgl. auch Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 99f. 143 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 46.

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tigt sich Kant in der dritten Kritik mit der empirischen Welt: den Menschen im Plural, deren Zweck die Geselligkeit ist. Sie enthalte, so Arendt, Kants eigentliche politische Philosophie. Unter dieser Perspektive entwickelt sie ihre Interpretation der Kritik der Urteilskraft, die erst unter der Hinzunahme der kantischen Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Politik verständlich wird. Arendt nimmt an, dass die Urteilskraft in Kants politischen Schriften maßgeblicher ist als die praktische Vernunft. Sie beschränkt sich für ihre Interpretation auf den ersten Teil seiner dritten Kritik, d.h. sie entdeckt das Politische gerade dort, wo Kant nicht davon spricht.144 Aber nicht nur das. Sie wendet Kant methodisch auf Kant an, indem sie untersucht, wie Kant das politische Ereignis der Französischen Revolution beurteilt und welche Kriterien für seine Beurteilung ausschlaggebend wurden, um dann in seinem Werk nach dieser Bewegung des Denkens zu suchen. Fündig wird sie in der dritten Kritik Kants. Obwohl Arendt der Auffassung ist, dass Kants politischen Schriften – Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und Was ist Aufklärung (1784), Theorie und Praxis (1793), Zum ewigen Frieden (1795), Das Ende aller Dinge (1794), Der Streit der Fakultäten (1798), die sich alle mit dem Konzept der Geschichte beschäftigen – nicht seine wichtigsten sind, dass sie auch nicht als eine „fourth Critique“145 zu betrachten sind, entdeckt sie in diesen Schriften eine Hinwendung des Philosophen zur Welt, die für ihr Projekt einer Philosophie des Politischen zu einem zentralen Referenzpunkt wird. Sie verbindet Kants Schriften zur Politik und Geschichte mit der Kritik der Urteilskraft und genau in dieser Verknüpfung entfaltet sie die Potentiale einer „Politischen Philosophie“ bei Kant. Die Hinwendung zur Kritik der Urteilskraft statt zur Kritik der praktischen Vernunft begründet Arendt ferner damit, dass in der Kritik der praktischen Vernunft im kategorischen Imperativ festgelegt wird, dass dieser auf einer Übereinstimmung mit mir selbst beruht. Im Unterschied dazu stellt Kant in der Kritik der Urteilskraft dem Prinzip des Übereinstimmens mit sich selbst das Prinzip der „erweiterten Denkungsart“ hinzu: „Was die Präsenz des Selbst für die formale Wi-

144 Vgl. Negt, Oskar: Zum Verständnis des Politischen bei Hannah Arendt, in: Kemper, Peter (Hg.), Die Zukunft des Politischen Ausblicke auf Hannah Arendt, Frankfurt a.M. S. 55-68, hier S. 66. 145 Arendt, Hannah: Kants Politische Philosophie, Chicago Fall 1964, Container 63.15, (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg), o.S., Blatt 032244.

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derspruchsstruktur der Logik und die nicht weniger formale Widerspruchslosigkeit der Gewissensethik ist, ist die Präsenz der anderen für das Urteilen.“146 In Kants politischen Schriften entdeckt Arendt diese Operationsweise des Denkens. Hatte Kant in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) die Frage beschäftigt, ob sich im Tun und Lassen der Menschen auf der großen Weltbühne eine Naturabsicht entdecken ließe,147 so wird diese Frage im Streit der Fakultäten (1794) anders akzentuiert. Hier fragt Kant nicht mehr direkt nach der „Naturabsicht“, die sich in dem trostlosen Ungefähr zeigen könnte, sondern er erörtert kritisch, mit welcher Berechtigung von einem Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren gesprochen werden kann.148 Wäre die Annahme des Fortschritts zum Besseren richtig, so müssten sich in der empirischen Realität Anzeichen dafür finden lassen: „Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die die Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren und (da dieses die That eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein.“149 Kant sucht für diese Annahme ein „Geschichtszeichen“, dabei betrachtet er die Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen. Das Bemerkenswerte an seinen Ausführungen ist, dass das Ereignis selbst für sein Urteil nicht entscheidend ist. Entscheidend ist vielmehr wie diejenigen, die nicht direkt daran beteiligt sind, das Ereignis wahrnehmen. Der Reaktion der „Zuschauer“ im öffentlichen Raum wegen wertet Kant die Französische Revolution als ein Geschichtszeichen für den Fortschritt des Menschengeschlechts. Es zeige sich

146 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 277-304, hier S. 298. 147 Vgl. Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a.M., S. 33-50, hier S. 34: A 387, 388. 148 Vgl. Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a.M. 1988, S. 267-393. 149 Ebd. S. 356: A 141. Es ist hier eine Akzentverschiebung bei Kant festzustellen. Hatte er in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht noch von einer „Naturabsicht“ gesprochen, so spricht er in der Schrift Der Streit der Fakultäten nur noch vom Geschichtszeichen.

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„nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie, gleich als durch Zauberei, alte glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: Nichts von alledem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer [Herv. v. W.M.], welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, dieser Parteilichkeit [Herv. v. W.M.] könne ihnen sehr nachteilig werden, dennoch laut werden lässt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im ganzen, und zugleich (der Ungereimtheit wegen) einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.“150

Die Revolution, so Kant weiter, „die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt [...].“151

Arendt liest Kants Betrachtungen auf folgende Fragestellung bezogen: Wie wird das Ereignis der Französischen Revolution von Kant beurteilt? Welche Stellung nimmt er als Philosoph zum Bereich der Politik ein? Und in welcher Beziehung stehen seine Positionen zu den geschichtlichen Ereignissen zu seiner Philosophie? In dieser Lektüreperspektive konzentriert sie sich auf seine Reaktion als unbeteiligter Zuschauer. Die Position des Zuschauers wird von Arendt besonders hervorgehoben: „The decisive word, a new word, is the word spectator: Only in the opinion which is desinterested not in the action which may be crime or anyhow inspired by self-interest,

150 Ebd., S. 357: A 142. 151 Ebd., S. 358: A 144.

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shows this tendency.“152 Bei allen Einwänden, die sonst für oder gegen Kants Position zur Französischen Revolution erhoben werden könnten, Arendt interessiert sich ausschließlich für die Perspektive des unbeteiligten Zuschauers, da sich hier zeigt, dass der öffentliche Raum durch die „Kritiker und Zuschauer konstituiert wird und nicht durch die Akteure oder schöpferisch Tätigen“.153 Die Position des Zuschauers ist per definitionem unparteilich, während die Position des Handelnden per definitionem parteilich ist.154 Entdeckt Arendt in Kants Beurteilung der Französischen Revolution den Zuschauer, der zwar nicht am Geschehen beteiligt, sich aber dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten zuwendet, so greift sie in ihrem Aufsatz zu Kultur und Politik diesen Gedanken wieder auf, indem sie Kants Zuschauer und sein Verhältnis zu den Handelnden in seinen politischen Schriften mit der Beziehung zwischen Genie und Geschmack aus der Kritik der Urteilskraft verbindet. Sie will die spezifischen Voraussetzungen des ästhetischen Urteils für die Bestimmung einer politischen Urteilskraft untersuchen, indem sie nach der Gemeinsamkeit von Kultur und Politik, von Herstellen und Handeln fragt. Dabei betreibt sie keine Ästhetisierung der Politik im Sinne simpler Übertragungen, sondern fragt, welche strukturellen Analogien zwischen dem ästhetischen und dem politischen Urteil bestehen. Der systematische Hintergrund für diese Strukturanalogie des ästhetischen und politischen Urteils liegt darin, dass Arendt politisches Handeln nicht als Zwecke, sondern als Erscheinungen im öffentlichen Raum versteht. Der öffentliche Raum ist für Politik (Handeln) und Kultur (Herstellen) von außerordentlicher Wichtigkeit.155 Betont Arendt also einerseits die aristotelische Trennung zwischen dem Handeln und Herstellen, so stellt sie anderer-

152 Arendt, Hannah: Kants Politische Philosophie, Chicago Fall 1964, Container 63.15, (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg), Blatt 5. 153 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 85. 154 Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 75. 155 Vgl. Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 296f. Martin Jay spricht in diesem Kontext von einer „Ästhetisierung des Politischen“ bei Arendt. Vgl. Jay, Martin: Hannah Arendt und die „Ideologie des Ästhetischen“ Oder: Die Ästhetisierung des Politischen, in: Kemper, Peter (Hg.), Die Zukunft des Politischen, a.a.O., S. 119-141.

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seits einen gemeinsamen Bezugsrahmen zwischen Herstellen und Handeln her: Kultur und Politik sind Phänomene der öffentlichen Welt. „Im Kulturellen und im Politischen, also in dem gesamten Bereich des öffentlichen Lebens, geht es weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden, um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Art und Weise in ihr gehandelt werden soll.“156

Das, was die Politik mit dem Bereich der Kultur teilt, ist die Öffentlichkeit. Beides – sowohl das Handeln als auch das Herstellen – bedarf des öffentlichen Raums. Ohne den öffentlichen Raum gibt es keine Kunst und keine Kunstgeschichte. Während Kunstwerke isoliert hergestellt werden, ist das Politische an die Präsenz Anderer gebunden. Die Bedingungen für das Politische sind also diametral entgegengesetzt zu den Bedingungen der Kunst. Bezieht man das politische Handeln und das künstlerische Herstellen jedoch auf den öffentlichen Raum, so kann gesagt werden, dass beides nur durch das Urteil des Zuschauers wie auch des Kritikers existiert. Kritiker und Zuschauer konstituieren den öffentlichen Raum. Sowohl ästhetische als auch politische Urteile sind an den öffentlichen Raum gebunden. Dies zeigt sich auch bei Kant in der Unterscheidung zwischen Genie und Geschmack: „Zur Beurteilung schöner Gegenstände [...] wird Geschmack, zur [...] Hervorbringung solcher Gegenstände wird Genie erfordert.“157 Die Aufgabe des Genies bestehe darin, das „allgemein mitteilbar zu machen“158, was das Unbenennbare seines Gemütszustandes ist. Arendt spitzt diesen Gedanken zu, indem sie formuliert, dass die conditio sine qua non der Existenz schöner Gegenstände die Mitteilbarkeit ist, und dass das Urteil durch die Zuschauer geschaffen wird, ohne den diese Gegenstände überhaupt nicht erscheinen würden: „Der öffentliche Bereich wird durch die Kritiker und Zuschauer konstituiert, nicht durch die Akteure oder die schöpferisch Tätigen. Und dieser Kritiker und Zuschauer befindet sich in jedem Akteur und Hersteller; ohne dieses kritische, urteilende Ver-

156 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 300. 157 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 246: B 188. 158 Ebd., S. 254: B 199.

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mögen wäre der Handelnde oder Schaffende so losgelöst vom Zuschauer, dass er nicht einmal wahrgenommen würde. Oder anders, aber noch immer Kantisch formuliert: Die Originalität des Künstlers (oder die Fähigkeit des Akteurs, Neues zu schaffen) hängt gerade von seinem Sich-Verständlich-Machen durch diejenigen ab, die nicht Künstler (oder Akteure) sind.“159

Diese Äußerungen scheinen auf den ersten Blick irritierend, weil es zunächst so scheint, als würde Arendt hier die traditionelle Unterscheidung zwischen Denken und Handeln reproduzieren. Dies stellt sich jedoch gleich anders dar, wenn man berücksichtigt, dass Arendt (1) die Vita activa und die Vita contemplativa nicht hierarchisiert und (2) nicht von dem Zuschauer, sondern von den Zuschauern spricht, die mit „Mitzuschauern“ verbunden sind, und schließlich (3) in jedem Handelnden auch zugleich einen Zuschauenden sieht. Die Zuschauer teilen nicht das Vermögen des Genies, auch nicht die Originalität mit dem „Schaffenden oder das Vermögen der Neuerung mit dem Akteur; aber das Vermögen, das ihnen allen gemeinsam ist, ist die Urteilskraft“160. Was aber heißt nun Urteilskraft bei Kant? Die Urteilskraft ist allen drei Kritiken von Kant gegenwärtig. Im Folgenden wird jedoch hauptsächlich die dritte Kritik von Kant herangezogen und auch in diesem Kontext nur die Momente des Geschmacksurteil.

1.5 U RTEILSKRAFT

UND SENSUS COMMUNIS BEI

K ANT

In der Kritik der reinen Vernunft hat Kant die Urteilskraft als das allgemeine Vermögen bestimmt, „unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datei legis) stehe, oder nicht“161. bestimmt. In der Kritik der Urteilskraft heißt es später: Urteilskraft überhaupt ist als „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“162 bestimmt worden. Diese Bestimmung gilt sowohl für die reflektierende als auch für die bestimmende Urteilskraft, die Kant voneinander unterscheidet. Während die bestimmende Urteilskraft

159 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 85. 160 Ebd. 161 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1, a.a.O., S. 184: B 172. 162 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 87: BXXV.

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etwas Besonderes unter einem bereits gegebenen Allgemeinen subsumiert, muss die reflektierende Urteilskraft das Allgemeine erst bestimmen, unter dem es das Besondere subsumiert.163 Die reflektierende Urteilskraft gibt sich selbst das Gesetz.164 Dieses Gesetz ist der apriorische Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur. Kant bestimmt den transzendentalen Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur jenseits des Natur- und Freiheitsbegriffs, weil jener Begriff nur die Art bestimmt, wie wir in der Reflexion über Gegenstände der Natur verfahren: „Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt, welches man das Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen, das sie a priori an ihr nicht erkennt, sondern zum Behuf einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung derselben in der Einteilung, die sie von ihren allgemeinen Gesetzen macht, annimmt, wenn sie diesen eine Mannigfaltigkeit der besonderen unterordnen will.“165

Diese Zweckmäßigkeit der Natur ist, so Kant, ein besonderer Begriff a priori, weil der Ursprung derselben nur in der reflektierenden Urteilskraft zu finden sei. Anders formuliert: Kant schließt vom bereits gefällten Urteil, also der Wirklichkeit des Urteils, auf die Bedingung der Möglichkeit dieses Urteils. Der Erkenntnisweg geht vom Aposteriori zum Apriori. Der Geschmack ist, so Kant, das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes „oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“166 Der Geschmack als die Lust am Schönen wird als ein subjektives Gefühl der Lust bestimmt. Es ist zugleich ein Beurteilungsverfahren und Vermögen, das durch interesseloses Wohlgefallen geleitet wird. Dieses interesselose Wohlgefallen wird nicht mit einem Interesse an der Existenz der Gegenstände verbunden. Es beurteilt einen Gegenstand, ohne sich einen Begriff davon zu machen. Es wird als schön beurteilt, was als Gefühl der

163 Vgl. ebd., S. 87: BXXV. 164 Vgl. ebd., S. 88: BXXVII. 165 Ebd., S. 95: BXXXVII. 166 Ebd., S. 124: B 17, 18.

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Lust wahrgenommen wird. Dies bestimmt Kant als die Form einer Zweckmäßigkeit, die sich auf ein freies Spiel unserer Vorstellungskräfte bezieht. Der Geschmack als Beurteilungsvermögen fordert Zustimmung von anderen, ohne darauf Anspruch erheben zu können. Das Geschmacksurteil hat wie jedes Urteil vier Bestimmungen: Qualität, Quantität, Relation und Modalität. Kant orientiert sich bei seiner Analyse des Geschmacksurteil an der ersten Kritik; er verändert jedoch die Reihenfolge der Momente: die Qualität rückt an die Stelle der Quantität, weil das ästhetische Urteil über das Schöne zuerst auf diese Rücksicht nimmt. Die Bestimmung der Qualität besagt, dass das Geschmacksurteil die Vorstellung durch die Einbildungskraft und das Gefühl der Lust und Unlust derselben auf das Subjekt bezieht. Das Geschmacksurteil ist folglich kein Erkenntnisurteil, es ist nicht logisch sondern ästhetisch, d.h. der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ist subjektiv. Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse. Insofern ist das Geschmacksurteil bloß kontemplativ, also ein Urteil, welches gegenüber dem Dasein des Gegenstandes indifferent ist und nur in seiner Beschaffenheit mit dem Gefühl der Lust und Unlust zusammenfällt: „Denn das, wovon jemand sich bewusst ist, dass das Wohlgefallen an demselben bei ihm selbst ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, dass es einen Grund des Wohlfallens für jedermann enthalten müsse.“167 Die Bestimmung der Quantität beinhaltet einen Anspruch auf Gültigkeit für jedermann, d.h. es gibt einen Anspruch auf subjektive Allgemeinheit. Ein Geschmacksurteil urteilt nicht bloß für sich, sondern (dies ergibt sich notwendig aus der Bestimmung der Qualität) fordert Zustimmung von anderen. Das Geschmacksurteil ist von komparativer Allgemeinheit. Es ist ein Urteil in Beziehung auf die Geselligkeit des Menschen. Es fordert Zustimmung von jedermann, ohne sich auf einen Begriff zu beziehen. Wenn sich das Urteil auf einen Begriff beziehen würde, wäre es ein logisches und somit kein ästhetisches, weil nur logische Urteile Begründungen als Beweis des Urteils angeben. Kant weist im letzten Abschnitt des § 8 nochmals darauf hin, dass in dem Urteil des Geschmacks nur an eine „allgemeine Stimme“ appelliert wird, ohne die Einstimmung von jedem zu postulieren. Die „allgemeine Stimme“, auf die Kant sich hier beruft, wird bei jedem vorausgesetzt:

167 Ebd.

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„Die allgemeine Stimme ist also nur eine Idee [...]. Daß der, welcher ein Geschmacksurteil zu fällen glaubt, in der Tat dieser gemäß urteile, kann ungewiß sein; aber daß er es doch darauf beziehe, mithin daß es ein Geschmacksurteil sein solle, kündigt er durch den Ausdruck der Schönheit an.“168

Grundlage für diese „allgemeine Stimme“ ist die subjektiv allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, die gleichzeitig auch die subjektive Bedingung des Geschmacksurteils ist. Die Bestimmung der Quantität des Geschmacksurteils ist wesentlich bestimmt durch die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes und die (komparative) Allgemeingültigkeit der gefällten Urteile. Die Bestimmung der Relation als drittes Moment bezieht sich auf die Zweckmäßigkeit des Gemütszustandes ohne Zweck, der sich nicht auf einen Willen beziehen kann, weil der Zweck eines Gegenstandes immer durch den Willen bestimmt ist. Es geht hier also um die Zweckmäßigkeit der Form nach, d.h. ohne einen Zweck zugrunde zu legen.169 Das vierte Moment des Geschmacksurteils, die Modalität, nimmt bei Kant eine besondere Stellung ein. Im § 18 umreißt Kant das Problem: „Von dem, was ich angenehm nenne, sage ich, daß es in mir wirklich Lust bewirke. Diese Notwendigkeit nun ist von besonderer Art: nicht eine theoretische objektive Notwendigkeit, [...] auch nicht eine praktische. Sondern sie kann als Notwendigkeit, die in einem ästhetischen Urteile gedacht wird, nur exemplarisch genannt werden, d.i. eine Notwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urteil, was wie ein Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird.“170

Für diese besondere Qualität von Notwendigkeit führt Kant im § 20 ein Prinzip ein, welches nicht durch Begriffe und doch allgemein bestimmt sei: „Ein solches Prinzip aber könnte nur als ein Gemeinsinn angesehen werden, welcher vom gemeinen Verstande, den man bisweilen auch Gemeinsinn (sensus communis) nennt, wesentlich unterschieden ist.“171 Kant bestimmt, wie oben schon erläutert, den sensus communis als die

168 Ebd., S. 130: B 26. 169 Vgl. ebd., S. 155: B 62. 170 Ebd. 171 Ebd., S. 157: B 65.

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„Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens [...], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, dass man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes anderen versetzt.“172

Der sensus communis setzt sich gegenüber anderen Sinnen dadurch ab, dass er weder gehört, geschmeckt noch gesehen werden kann. Er soll, Kant zufolge, die Idee eines gemeinschaftlichen Sinns sein, der gleichzeitig ein Beurteilungsvermögen ist. Das eigene subjektive Urteil wird an vorgestellten oder wirklichen Urteilen anderer überprüft. Der Gemeinsinn ist erschließbar durch das Resultat des Urteils. Dieser Sinn schafft so Voraussetzungen für Urteile, die nicht nur subjektiver Art sind. Als kritische Maximen werden dem Gemeinsinn drei Denkungsarten zugeschrieben, die hier nur noch einmal benannt werden: Selbstdenken; an der Stelle jedes anderen denken; jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.173 Die Maximen des Urteils verdeutlichen die Denkungsart des Gemeinsinns. Der Gemeinsinn wird durch die Urteile, die die Menschen fällen, erschlossen. Der Gemeinsinn ist bei Kant ein Begriff, der nicht auf Erfahrung gegründet werden kann, weil er der empirischen Realität transzendental ist. Erschlossen wird der Gemeinsinn nicht durch ein gemeinsames Urteil, sondern dadurch, dass er die Forderung enthält, dass alle mit diesem Urteil übereinstimmen sollen. Insofern die Idee der Menschheit eine Idee der Vernunft ist, muss auch der Gemeinsinn, als Forderung an alle, mit dem Urteil aller übereinstimmen zu sollen, eine Idee der Vernunft sein – nur mit dem Unterschied, dass ästheti-

172 Ebd., S. 225: B 157. In der Fußnote zu dieser Bestimmung grenzt Kant den Geschmack nochmals von dem gesunden Menschenverstand ab. Den Geschmack könnte man als sensus communis aestheticus bezeichnen, den gemeinen Menschenverstand als sensus communis logicus. 173 Vgl. ebd., S. 226: B 158, 159. In den Schriften zur Anthropologie bestimmt Kant die zweite Maxime explizit als „sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken.“ Ders.: Werkausgabe, Bd. XII, Frankfurt a.M. 1988, S. 511: BA 123.

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sche Urteile keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Es handelt sich um allgemeingültige Urteile, die über die subjektive Wahrnehmung hinausgehen, jedoch keinen Anspruch auf notwendige, sondern lediglich auf komparative Allgemeinheit haben. Deshalb werden die Urteile – als Resultat des Gemeinsinns – von Erkenntnisurteilen unterschieden: „Allein hier ist nicht die Rede vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der Denkungsart, einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt, wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.“174

Kant hat das Geschmacksurteil vom Erkenntnisurteil unterschieden, weil wir die Vorstellung des Objekts nicht durch den Verstand, sondern durch die Einbildungskraft beziehen, und insofern kann dieses nur subjektiv sein. Die Einbildungskraft ermöglicht uns, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen. Einbildungskraft allgemein ist, so Kant, das „Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“175. Kant unterscheidet die produktive von der reproduktiven Einbildungskraft. Ist die Einbildungskraft reproduktiv, wird ein Gegenstand vergegenwärtigt, der abwesend ist. Ist die Einbildungskraft produktiv, produziert sie einen Gegenstand, den es vorher in dieser Form noch nicht gegeben hat.176 Die produktive Einbildungskraft produziert jedoch nicht etwas gänzlich Neues. Und genau diese Einbildungskraft ermöglicht die „erweitere Denkungsart“ des Gemeinsinns, sie ist die conditio sine qua non richtigen Urteilens, die uns von den subjektiven und privaten Bedingungen befreit. Um Missverständnisse zu vermeiden: Kant spricht hier nicht von einem allgemeinen gesunden Menschenverstand im Sinne einer Ansammlung von verschiedenen Ansichten, sondern von einem Beurteilungsvermögen, welches im Prozess selber andere sowohl wirkliche als auch nur mögliche

174 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 227: B 160. 175 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1, a.a.O., S. 148: B 151. 176 Vgl. ebd., S. 149: B 152.

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Urteile mit berücksichtigt. Deshalb bricht, so hat auch Jens Kulenkampf argumentiert, Kant hier mit der traditionellen Vorstellung des sensus communis als gemeiner Verstand oder gesunder Menschenverstand: „Er ist nicht etwas, was alle Menschen qua Menschen schon haben, sondern was alle, die auf den Namen eines Menschen Anspruch machen, haben sollen“.177 Im Mittelpunkt des sensus communis stehen also zwei Momente: der Beurteilungsprozess selber, also was das einzelne Subjekt tut, wenn es urteilt und die Frage nach dem Geltungsanspruch dieses Urteils. Kant führt jedoch auch Bedingungen an, die die Operationsweise der erweiterten Denkungsart erst ermöglichen. Es ist „doch das größte und brauchbarste Mittel, unsere eigenen Gedanken zu berücksichtigen, welches dadurch geschieht, dass wir sie öffentlich [Herv. v. W.M.] aufstellen, um zu sehen, ob sie auch mit anderen ihrem Verstande zusammenpassen; weil sonst etwas bloß Subjektives [...] leichthin für objektiv würde gehalten werden. [...] Der, welcher sich an diesen Probierstein gar nicht kehrt, sondern es sich in den Kopf setzt, den Privatsinn, ohne, oder selbst wider den Gemeinsinn, schon für gültig anzuerkennen, ist einem Gedankenspiel hingegeben, wobei er nicht in einer mit anderen gemeinsamen Welt [Herv. v. W.M.], sondern (wie im Traum) in seiner eigenen sich sieht, verfährt und urtheilt.“178

Nach der Bestimmung des sensus commmunis fasst Kant sein Verständnis des Geschmacks zusammen: „Man könnte sogar den Geschmack durch das Beurteilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht, definieren.“179 Ob der sensus communis ein konstitutives Prinzip oder ein

177 Kulenkampf, Jens: „Vom Geschmacke als einer Art von sensus commnis“ – Versuch einer Neubestimmung des Geschmacksurteils, in: Esser, Andrea (Hg.), Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik, Berlin 1995, S. 25-49, S. 25. 178 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Absicht, a.a.O., S. 536: BA 152. Vgl. auch Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 59: „Die Fähigkeit des Urteilens, die erweiterte Denkungsart zeigt sich in der ‚Kunst des kritischen Denkens‘, die man nicht ohne Öffentlichkeit lernen (kann), ohne die Überprüfung, die aus der Begegnung mit dem Denken anderer entsteht“. 179 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 228: B 161.

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höheres Prinzip der Vernunft sei, um als regulatives Prinzip zu fungieren, lässt Kant offen. Im § 22 formuliert er: „Ob es in der Tat einen solchen Gemeinsinn als konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung gebe, oder ein noch höheres Prinzip der Vernunft es uns nur zum regulativen Prinzip mache, allererst einen Gemeinsinn zu höheren Zwecken in uns hervorzubringen; ob also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches, oder nur die Idee von einem noch zu erwerbenden und künstlichen Vermögen sei, so daß ein Geschmacksurteil mit seiner Zumutung einer allgemeinen Beistimmung in der Tat nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen, und das Sollen, d.i. die objektive Notwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besonderen, nur die Möglichkeit hierin einträchtig zu werden bedeute, und das Geschmacksurteil nur von Anwendung dieses Prinzips ein Beispiel aufstelle: das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen, sondern haben für jetzt nur das Geschmacksvermögen in seine Elemente aufzulösen, um sie zuletzt in der Idee eines Gemeinsinns zu vereinigen.“180

Welchen Unterschied macht es nun, ob der Gemeinsinn ein konstitutives Prinzip ist oder ein regulatives? Geht man vom konstitutiven Prinzip aus, so stellt der Gemeinsinn die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und damit den Bezug auf eine gemeinsame Wirklichkeit her. Der sensus communis wäre dann ein methodisches Verfahren, in welchem die „erweiterte Denkungsart“ praktiziert wird. Geht man von der zweiten Interpretation aus – der Gemeinsinn als regulatives Prinzip –, so wäre die „Operation der Reflexion“ des sensus communis ein zu erreichendes Ziel. Nach dieser Darstellung der wesentlichen Aspekte des Geschmacksurteils kann nun diskutiert werden, wie Arendt die einzelnen Momente des Geschmacksurteils aufgreift und für einen Begriff des Politischen transformiert.

1.6 ARENDTS T RANSFORMATION DER U RTEILSKRAFT

DER

K RITIK

Jetzt ist zu fragen, wie Arendt Kants Begriff des Geschmacksurteils für ihr Vorhaben interpretiert. Sie behält die Form des Urteils im Verständnis bei,

180 Ebd., S. 159: B 68.

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analogisiert es aber mit dem politischen Urteil und verändert dementsprechend die Bezugspunkte. Dies zeigt sich in besonderer Weise am ersten Moment des Geschmacksurteils, dem interesselosen Wohlgefallen. Bei Kant heißt dies, wie oben schon dargestellt, dass man kein Interesse an der Existenz des Gegenstandes hat. Arendt formuliert dieses Moment um in ein „Weltinteresse“: „Der Geschmack beurteilt die Welt in ihrer Weltlichkeit; ihn interessieren weder das sinnliche Leben noch das moralische Selbst, denen er ein reines, ‚uninteressiertes‘ Weltinteresse entgegensetzt. Für das Geschmacksurteil ist das Primäre die Welt und nicht der Mensch, weder sein Leben noch sein Selbst.“181

Hatte sie erst „inter homines esse“ allgemein bestimmt, als „Unter-meinenMitmenschen-Sein“182 oder als „unter Menschen weilen“183, und inter-est als das, was zwischen den Menschen liegt und „die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander scheiden“184, so bestimmt sie das „uninteressierte Weltinteresse“ qualitativ, als das, was nicht als subjektives Eigeninteresse verstanden werden kann, sondern allen gemeinsam ist, genauer noch: sie erst zusammen hervorbringen, die politische Welt, an deren Existenz sie ein Interesse haben.185 Denn Menschen sind, um zu erscheinen, auf diese Welt angewiesen: „Die Welt, in die die Menschen hineingeboren werden, enthält viele Gegenstände, natürliche und künstliche, lebende und unbelebte, vergängliche und dauernde, und alle haben sie dies gemeinsam, dass sie erscheinen, dass sie also gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt, gerochen werden sollen von empfindenden Wesen mit den ent-

181 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 300. 182 Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral, a.a.O., S. 133. 183 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1985, S. 15. 184 Ebd., S. 173. 185 Vgl. Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 300. Der Weltbegriff bei Arendt enthält verschiedene Konnotationen. Die Welt ist sowohl Dingwelt als Resultat eines Herstellungsprozesses und gleichzeitig der „Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten“, der sich in Institutionen manifestiert.

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sprechenden Sinnesorganen. [...] In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten und aus der wir wieder ins Nichts verschwinden, ist Sein und Erscheinen dasselbe.“186

Ist die Welt Erscheinungsraum, so ist mit dieser Bestimmung zugleich benannt, dass sie eine öffentliche Welt ist. Dass etwas nicht nur von mir, sondern auch von anderen gesehen wird, bezeichnet die weltliche Wirklichkeit, die die Welt als Realität bestätigt und an der wir ein Interesse haben. Das besondere an diesem „Interesse“ ist, dass es nur in Gesellschaft interessiert. Zustimmend zitiert Arendt Kant: „Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft; und, wenn man den Trieb zur Gesellschaft als dem Menschen natürlich, die Tauglichkeit aber und den Hang dazu, d.i. die Geselligkeit, zur Erfordernis des Menschen, als für die Gesellschaft bestimmten Geschöpfs, also als zur Humanität gehörige Eigenschaft einräumt: so kann es nicht fehlen, dass man nicht auch den Geschmack als ein Beurteilungsvermögen alles dessen, wodurch man sogar sein Gefühl jedem anderen mitteilen kann, mithin als Beförderungsmittel dessen, was eines jeden natürliche Neigung anlangt, ansehen sollte.“187

Das „ästhetische Interesse“ ist für Arendt ein Welt-Interesse.188 Das zweite Moment des Geschmacksurteil, die Quantität, erfährt durch Arendt keine Veränderung, sondern benennt genau das, was sie vom Urteilen im Politischen gefordert hat: komparative Allgemeingültigkeit, die von jedermann gefordert wird, aber nicht erzwungen werden kann. Denn im Unterschied zu Erkenntnisurteilen und moralischen Urteilen, die eine zwingende Gültigkeit haben, kann die Zustimmung bei komparativen Urteilen nur gefordert werden: Alle sollen meinem Urteil zustimmen: „Das Geschmacksurteil hat ferner mit dem politischen Urteil gemein, dass es niemanden zwingen und, anders als das Erkenntnisurteil, nichts zwingend beweisen kann.“189 Die subjektiv allgemeine Mitteilbarkeit ist für Arendt von besonderer Wichtigkeit, weil in dem „Drang zum Sprechen“ „das Streben nach Sinn“

186 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 29. 187 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 229: B 163. 188 Vgl. Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 573. 189 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 300.

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beschlossen liegt, „aber nicht notwendig nach Wahrheit“190. Das Benennen von Dingen, die Schaffung von Wörtern ist die menschliche Art der Aneignung und der Aufhebung der Entfremdung von der Welt, „in die ja jeder als Neuling und Fremder hineingeboren wird“191. Das Urteilen wie auch die anderen geistigen Tätigkeiten des Denkens und Wollens können sich, weil sie unsichtbar sind, nur in der Sprache offenbaren.192 Arendt hat sich in diesem Kontext immer wieder auf Karl Jaspers berufen, für den die Wahrheit das ist, was man mitteilen kann. In ihrer Vorlesung zu Kant spricht sie ihre Studenten direkt auf diesen Zusammenhang an: „Wenn Sie nicht auf irgendeine Weise kommunizieren und das, was Sie herausgefunden haben, als Sie allein waren, entweder mündlich oder schriftlich der Prüfung durch andere aussetzen können, wird die in Einsamkeit ausgeübte Fähigkeit verschwinden. In den Worten von Jaspers: Wahrheit ist das, was ich mitteilen kann. Wahrheit in den Naturwissenschaften hängt von dem Experiment ab, das von anderen wiederholt werden kann; sie verlangt Allgemeingültigkeit. Die philosophische Wahrheit hat keine solche Allgemeingültigkeit. Was sie braucht, was Kant in der Kritik der Urteilskraft von den Geschmacksurteilen forderte, ist ‚allgemeine Mitteilbarkeit‘.“193

190 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 104. 191 Ebd., S. 104f. 192 Vgl. ebd., S. 103. Sie führt dazu aus: „Ganz wie erscheinende Wesen in einer Welt der Erscheinungen den Drang haben sich zu zeigen, so haben denkende Wesen, die immer noch zur Erscheinung gehören, auch nachdem sie sich geistig von ihr zurückgezogen haben, einen Drang zu sprechen und so zu offenbaren, was anderenfalls überhaupt nicht in der erscheinenden Welt enthalten wäre.“ 193 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 57. In einem Brief an Karl Jaspers schreibt Arendt: „Augenblicklich lese ich mit steigender Begeisterung die ‚Kritik der Urteilskraft‘. Da ist Kants wirkliche politische Philosophie vergraben, nicht in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Der Lobgesang auf den so geschmähten ‚Gemeinsinn‘, das Phänomen des Geschmacks als Grundphänomen der Urteilskraft [...] philosophisch ernst genommen, die ‚erweiterte Denkungsart‘, die zum Urteilen gehört, dass man an Stelle aller anderen denken kann. Die Forderung der Mitteilbarkeit. [...] Ich liebte immer dies Buch am meisten von seinen Kritiken, aber es hat nie so zu mir gesprochen wie jetzt, wo ich es

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Die Welt entsteht erst im Sprechen über sie, weil in der Freiheit des Miteinandersprechens die Welt in ihrer von allen Seiten her sichtbaren Objektivität erst entsteht: „In-einer-wirklichen-Welt-Leben und Mit-Anderen-übersie-Reden ist im Grunde ein und dasselbe.“194 In diesem Mit-Anderen-übersie-Reden (gemeint ist die Welt) manifestiert sich durch die Sicht auf die Welt zugleich die Person: „[W]as der einzelne durch sein Urteil manifestiert, ist ein So-und-nicht-anders-Sein gerade des Persönlichen.“195 Bezogen auf das vierte Moment des Geschmacksurteils betont Arendt einerseits, dass der Geschmack zu den „privaten Sinnen“ gehört, andererseits teilt sie mit Kant, dass es „etwas Nicht-Subjektives in dem gab, was scheinbar der privateste und subjektivste Sinn“ 196 ist. Im Einklang mit Kant unterscheidet sie den sensus communis logicus vom sensus communis aestheticus.197 Nur der sensus communis logicus, unser logisches Vermögen befähigt die Menschen Schlussfolgerungen aus Voraussetzungen zu ziehen, die „in der Tat ohne Kommunikation funktionieren könnten – nur dass dann, nämlich wenn Verrücktheit den Verlust des Gemeinsinns verursacht hat, dieses logische

nach Ihrem Kant-Kapitel lese.“ Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926-1969, München 1985, S. 355f. Wie Jaspers verbindet auch Arendt die Bestimmung der allgemeinen Mitteilbarkeit mit der Öffentlichkeit. Beide beziehen sich hierfür auf den Begriff der Publizität in Kants Schrift Zum ewigen Frieden. So schreibt Jaspers: „Die Publizität ist für die Verfassung des gemeinschaftlichen Lebens entscheidend, weil Mitteilbarkeit und unbeschränktes sich Mitteilen das Wesen der Vernunft ist. Philosophie versteht und erzeugt den Mitteilungswillen. Vernunft erstickt ohne die Luft der Kommunikation [...]. Die Freiheit der Mitteilung ist Bedingung der Freiheit des Denkens selbst. Ohne Mitteilung bleibt das Denken in der Enge des Einzelnen und in der Irre des Subjektiven.“ Jaspers, Karl: Die großen Philosophen, München 1991, S. 568f. 194 Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München 1993, S. 52. 195 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 301. 196 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 90. 197 „Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den gesunden Menschenverstand durch sensus communis logicus bezeichnen.“ Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 227: B 160.

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Vermögen zu verrückten Ergebnissen führen würde, und zwar genau deshalb, weil es sich von der Erfahrung abgetrennt hat, die nur in Anwesenheit anderer gültig sein und für gültig erklärt werden kann.“198

Im Unterschied zum sensus communis logicus entfaltet sich der sensus communis aestheticus erst durch Mitteilung/Kommunikation mit Anderen. Erst durch Mitteilung oder Kommunikation entfaltet sich im Beurteilungsprozess die Fähigkeit, die Welt nicht nur aus der subjektiven Perspektive, sondern auch aus der Perspektive aller anderen zu sehen.199 „Die Subjektivität des Es-scheint-mir wird dadurch behoben, dass der gleiche Gegenstand auch anderen erscheint, wenn auch vielleicht auf andere Weise. Die Intersubjektivität der Welt und nicht die Ähnlichkeit der physischen Erscheinung ist es, die die Menschen davon überzeugt, dass sie zur gleichen Art gehören. Zwar erscheint jeder einzelne Gegenstand jedem Individuum in einer anderen Perspektive, doch der Kontext, in dem er erscheint, ist für die ganze Art der gleiche [...].“200

Der gemeinsame Gegenstand ist die Welt, an der alle ein Interesse haben und im Beurteilungsprozess geht es nicht darum den Anderen zu verstehen, sondern darum zu verstehen, wie sie (die gemeinsame Welt) dem Anderen erscheint.201 Während Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode (1960) an Kant kritisiert, dass er zwar den Begriff des Gemeinsinns wie auch den der Urteilskraft von Shaftesbury übernehme, aber beiden ihre moralische und politisch-gesellschaftliche Bedeutung entziehe, knüpft Arendt an Kants Verständnis des sensus communis wieder an.202 Für das politische

198 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 86. 199 Vgl. Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 299. 200 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 59. 201 Siehe hierzu: Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 451. 202 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965, S. 38f. „Dagegen ist Kants Aufnahme dieses Begriffs in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ ganz anders akzentuiert. Der grundlegende moralische Sinn dieses Begriffs hat bei ihm keinen systematischen Ort mehr. Bekanntlich hat er seine Moralphilosophie geradezu im Gegenzuge gegen die in der englischen Philosophie entwickelte Lehre vom ‚mo-

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Urteil sei der Begriff des sensus communis ebenso konstitutiv wie für das ästhetische Urteil, weil sich beide Urteile auf eine empirische Welt von Menschen beziehen. Für Arendt bedeutet der sensus communis den allen Menschen gemeinsamen Realitäts- oder „Weltsinn“, ohne den die Menschen sich nicht auf eine gemeinsame Wirklichkeit beziehen können. Für die Bestimmung des Gemeinsinns als Weltsinn bezieht Arendt sich auch auf Thomas von Aquin,203 der den Gemeinsinn als sechsten Sinn definiert, der alle anderen Sinne vereint und durch den wir die Wirklichkeit wahrnehmen: „Das Einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, dass sie uns allen gemeinsam ist, und der Gemeinsinn steht so hoch an Rang und Ansehen in der Hierarchie politischer Qualitäten, weil es derjenige Sinn ist, der unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darumeben wirkliches fügt.“204

Arendt bezeichnet den sensus communis auch „als die Welteigenschaft des Wirklichsein“205, der jedoch im Unterschied zu den anderen Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Die „Wirklichkeitsempfindung“ wird durch drei Aspekte bestimmt: „Die fünf Sinne – voneinander höchst verschieden – haben denselben Gegenstand; die Vertreter einer Art haben einen gemeinsamen Kontext, der jedem einzelnen Gegenstand seine besondere Bedeutung verleiht; und alle anderen mit Sinnen begabten

ralischen‘ Gefühl entworfen. So ist der Begriff des sensus communis aus der Moralphilosophie von ihm ganz ausgeschieden worden.“ Ebd. Gadamer beruft sich in seinem Verständnis des sensus communis auf Aristoteles, Vico und Shaftesbury. Für ihn ist der Begriff des sensus communis für das wissenschaftliche Verstehen konstitutiv. Wie Arendt diskutiert auch Gadamer den Begriff des sensus communis im Konflikt zwischen Philosophie und Politik, Wahrheit und Meinung, zwischen theoretischem und praktischem Wissen. Arendt sieht jedoch gerade dort Anknüpfungspunkte an Kants Philosophie, wo Gadamer Kant kritisiert. 203 Vgl. Aquin, Thomas von: Summa theologiae, München 1954, Vgl. auch Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 59f. 204 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 203. 205 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 60.

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Wesen nehmen diesen Gegenstand aus völlig verschiedenen Perspektiven wahr, sind sich aber über seine Identität einig.“206

Beim Urteil über den Gegenstand, der aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen wird, unterscheidet Arendt zwei Schritte: die Operation der Einbildung und die der Reflexion. Bei der Operation der Einbildung wird etwas vergegenwärtigt, was selber nicht mehr anwesend ist. Der Gegenstand der äußeren Erfahrung wird zu einem Gegenstand der inneren Erfahrung und bereitet den Gegenstand für die Operation der Reflexion vor, und genau diese Operation der Reflexion ist der eigentliche Prozess des „EtwasBeurteilens“.207 Diese „zweiteilige Operation“ eröffnet für Arendt die Verbindung zwischen dem ersten Moment des Geschmacksurteils, dem „interesselosen Wohlgefallen“, und der Unparteilichkeit des Urteils. „Indem man das von den äußeren Sinnen Wahrgenommene zu einem Gegenstand für seinen inneren Sinn macht, presst man die Vielfalt des sinnlich Gegebenen zusammen und verdichtet sie; man ist in der Lage, mit den Augen des Geistes zu ‚sehen‘, d.h. das Ganze zu sehen, das dem Besonderen Sinn verleiht. Der Vorteil, den der Zuschauer hat, ist, dass er das Spiel im Ganzen sieht, während jeder Akteur nur seine Rolle kennt oder, wenn er aus der Perspektive des Handelns urteilen soll, nur den Teil des Ganzen, der ihn betrifft. Der Akteur ist per definitionem parteilich.“208

Der Maßstab für die Operation der Reflexion liegt beim Geschmack, also dem inneren Sinn, der Unterscheidungen macht im Sinne von Es-gefällt oder Es-missfällt. Die Entscheidung nun darüber, was gefällt oder missfällt, wird durch das Kriterium der Mitteilbarkeit bestimmt. So formuliert Kant: „Der Geschmack ist also das Vermögen, die Mitteilbarkeit der Gefühle, welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurteilen. Wenn man annehmen dürfte, dass die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefühls an sich schon ein Interesse für uns bei sich führen müsse [...], so

206 Ebd., S. 59f. 207 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 92. So hat auch Kant formuliert, dass innere Erfahrung nur durch äußere Erfahrung möglich ist. Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1, a.a.O., S. 257: B 279. 208 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 92.

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würde man sich erklären können, woher das Gefühl im Geschmacksurteil gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde.“209

Das Gefühl des Es-gefällt-oder-mißfällt-mir ist in dem gemeinschaftlichen Sinn des sensus communis verwurzelt, ist als subjektives Moment enthalten und ist frei für die Kommunikation, „wenn es erst einmal durch die Reflexion, die alle anderen und ihre Gefühle berücksichtigt, umgeformt worden ist“210. Positiv wird dies möglich durch die „erweiterte Denkungsart“ als die conditio sine qua non des richtigen Urteilens. Negativ heißt es, dass wir in der Lage sind, uns aus den privaten Bedingungen unserer Wahrnehmungen zu befreien, die die Urteilskraft schwächen. Was heißt aber nun „erweiterte Denkungsart“? Allgemein bestimmt Arendt diese Denkungsart damit, dass „man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen (vgl. das Besuchsrecht in Zum ewigen Frieden)“211. Bei der weiteren Bestimmung der „erweiterten Denkungsart“ setzt sie diese mit dem kritischen Denken gleich und grenzt es gegen die Empathie ab. Es geht nicht um eine „außergewöhnlich erweiterte Empathie“, mit deren Hilfe man wissen kann, was in den Köpfen anderer vor sich geht. Die „erweiterte Denkungsart“ oder kritisches Denken wird dadurch erreicht, dass man die Gedanken anderer berücksichtigt, dass man „sein Urteil an anderen, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt“212. Durch diese verschiedenen Standpunkte von anderen, die berücksichtigt werden, erreicht man eine Unparteilichkeit, die nicht das Ergebnis eines höheren Standpunktes ist. Diese Unparteilichkeit wird durch eine „aktive Nichtteilnahme“ erreicht.213 Um diesen Gedanken zu erläutern, verweist Arendt auf Diogenes Laertius, der von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „theatai“ in einer dem Pythagoras zugeschriebenen Parabel berichtet: „Das Leben [...] ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen als Zuschau-

209 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 228: B 162. 210 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 96. 211 Ebd., S. 61. 212 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft a.a.O., S. 225: B 157. 213 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 98.

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er (theatai), und genau so ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm (doxa) oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.“214

Arendt hebt an dieser Parabel drei Aspekte hervor: (1) dass die Position des Zuschauers durch „aktive Nichtteilnahme“ bestimmt ist, die aber keiner „höheren Welt“ entspricht, (2) dass die Wahrheit, die gegenüber dem Streben nach Ruhm oder Gewinn beschrieben wird, für die „gewöhnlichen Menschen“ sichtbar und zugänglich ist und schließlich (3) dass der heutige Begriff der „Theorie“ ursprünglich von dem griechischen Wort Zuschauer, „theatai“ herkommt, das keiner „höheren Welt“ entsprach, und dass das Wort „theoretisch“ auf „betrachtend“ zurückgeht. Und genau diese Position des Zuschauers auf das „Schauspiel“ der menschlichen Angelegenheiten bringt Arendt als Argument gegen die traditionelle Philosophie: „Die Distanz für das Urteil ist offenbar etwas ganz anderes als die Distanz des Philosophen. Sie tritt nicht aus der Erscheinungswelt heraus, sondern tritt vom aktiven Engagement in eine Sonderposition zurück, um das Ganze zu betrachten. Außerdem – und das ist vielleicht noch bedeutsamer – gehören die Zuschauer des Pythagoras zu einem Publikum und sind damit etwas ganz anderes als der Philosoph [...]. Daher ist das Urteil des Zuschauers zwar unparteiisch und frei vom Interesse an Gewinn oder Ruhm, aber es ist nicht unabhängig von den Ansichten anderer – im Gegenteil, diese muß nach Kant eine ‚umfassendere Denkungsart‘ berücksichtigen. Die Zuschauer sind zwar von der Partikularität des Akteurs distanziert, aber sie sind nicht allein.“215

Kant konnte, so Arendt, zu einer politischen Philosophie gelangen, eben weil der kantische Zuschauer in der Mehrzahl existiert. Arendt betont, dass jeder Handelnder auch ein Zuschauer ist. Vorläufig zusammengefasst kann gesagt werden: Während für Kant der sensus communis die Bedingung der Möglichkeit von ästhetischen Urteilen garantiert, so garantiert dieser für Arendt die Bedingung der Möglichkeit von politischen Urteilen, die ebenso an die doppelte Bestimmung des Gemeinsinns geknüpft sind. Einerseits garantiert der Gemeinsinn eine uns allen gemeinsame Welt, andererseits ist der Gemeinsinn die Bedingung der Möglichkeit, Urteile über die uns allen

214 Zit. nach ebd. 215 Ebd., S. 99.

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gemeinsame Welt und die Vorkommnisse in ihr zu fällen. Der Gemeinsinn realisiert sich im politischen Urteil.216 Hatte Kant in seinen Erörterungen zum sensus communis offen gelassen, ob dieser ein konstitutives oder ein regulatives Prinzip enthält, so begreift Arendt den sensus communis sowohl als ein konstitutives als auch als ein regulatives Prinzip. Das konstitutive Moment bezieht sich auf die Realitäts- und damit Erfahrungsfähigkeit der Menschen: alle beziehen sich auf eine gemeinsame Realität. Das regulative Moment bezieht sich auf das Ziel, dass sich alle Menschen dieser Operation der Reflexion unterwerfen, wenn es um die „menschlichen Angelegenheiten“ geht. Der sensus communis ist, so Arendt, deshalb für den politischen Bereich von so außerordentlicher Bedeutung. Der Gemeinsinn enthält etwas Nicht-Subjektives, indem der Urteilende andere und deren möglichen Urteile berücksichtigt. Er erweitert damit seine eigene Denkungsart und bezieht sich auf die allen gemeinsame Welt. Das nicht-subjektive Element des Gemeinsinns, die erweiterte Denkungsart, ist die Intersubjektivität, die Arendt auch die Weltlichkeit der Welt nennt.

216 Dabei ist Arendts Bezugnahme auf Edmund Husserl und Merleau-Ponty zu berücksichtigen. „Das Wirkliche in einer Welt der Erscheinungen zeichnet sich vor allem durch ‚etwas Stehendes oder Bleibendes‘ aus, das so lange währt, dass es Objekt der Erkennung und Anerkennung durch ein Subjekt werden kann. [...] Objektivität ist von Anfang an in die Subjektivität des Bewusstseins durch die Intentionalität eingebaut. Umgekehrt kann man mit der gleichen Berechtigung von der Intentionalität der Erscheinungen und der grundsätzlich eigenen Subjektivität sprechen. Alle Objekte verweisen auf ein Subjekt, weil sie erscheinen, und genau wie jeder subjektive Akt sein intentionales Objekt hat, so hat jedes erscheinende Objekt sein intentionales Subjekt.“ Ebd., S. 55. Deshalb spricht Arendt, bezogen auf den Gemeinsinn, auch von dem Wirklichkeitssinn. Die politische Urteilskraft als einer „Art“ von sensus communis stiftet durch drei Momente Wirklichkeit: „Die fünf Sinne – voneinander höchst verschieden – haben denselben gemeinsamen Gegenstand; die Vertreter einer Art haben einen gemeinsamen Kontext, der jedem einzelnen Gegenstand seine besondere Bedeutung verleiht; und alle anderen mit Sinnen begabten Wesen nehmen zwar diesen Gegenstand aus völlig verschiedenen Perspektiven wahr, sind sich aber über seine Identität einig. Aus dieser dreifachen Gemeinsamkeit erwächst die Wirklichkeitsempfindung.“ Ebd., S. 59f.

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Am Anfang des Kapitels habe ich hervorgehoben, dass Arendt mit Kant die Auffassung teilt, dass der Mensch sich sowohl teilnehmend als auch beobachtend zur Welt verhält. Diese beiden Beziehungsarten stehen jedoch nicht in einem dichotomen Verhältnis zueinander, sondern sie vollziehen sich gleichursprünglich, wenngleich manche eher am Verstehen als am Handeln interessiert sind. Dieser doppelte Zugang zur Welt in der Bestimmung Kants findet sich bei Arendt in der Unterscheidung zwischen den Zuschauern, die beobachten, und den Akteuren, die teilnehmen, wieder. Was beide Positionen verbindet, ist die öffentliche Welt, die die Handelnden und die Zuschauer zusammen hervorbringen. Die Zuschauer können das Ganze übersehen, weil ihre Position durch eine „aktive Nichtbeteiligung“ gekennzeichnet ist; sie halten den Schlüssel für das Ganze in der Hand, d.h. bei ihnen geht es um die Bestimmung dessen, was ist, indem sie andere Urteile von Zuschauern für ihre eigenen mit berücksichtigen, während der Akteur, um zu handeln, die Anderen überzeugen und überreden muss. Er bedarf für seine Handlungen und Entscheidungen Zustimmung von anderen Teilnehmern. Die Positionen der Zuschauer und der Handelnden unterscheiden sich auch bezogen auf die Zeitlichkeit: Bei den Zuschauern ist die Einbeziehung des Denkens von Anderen ein nachträgliches Urteil, bei den Akteuren geht es um die Zukunft. Fasst man Arendts Interpretation des Begriffs des Geschmacksurteils bei Kant zusammen, so kann gesagt werden, dass sich die Menschen durch diesen in der Welt orientieren, weil sie ihr eigenes Urteil durch die Urteile anderer überprüfen. Zugleich zeigt sich im Urteil nicht nur eine Sicht der Welt in der Vielfalt ihrer Perspektiven sondern auch der Urteilende. Das Politische besteht also darin, dass es das Welt- und Selbstverhältnis der Menschen konstituiert: Erstens, weil die Menschen mit der „erweiterten Denkungsart“ die Weltlichkeit der Welt durch die jeweilig unterschiedliche Perspektive auf die Welt hervorbringen, an der sie alle ein Interesse haben. Dieses Urteil geht einerseits aus der Subjektivität des Standortes in der Welt hervor, andererseits bestätigt es, dass die Welt, in der jeder einen eigenen Standort hat, auch „eine objektive Gegebenheit ist, etwas, das uns allen gemeinsam ist“217. Zweitens enthüllen die Menschen mit ihrem Urteil nicht nur ihre Sicht auf die Welt, sondern zeigen zugleich auch, „wer“ sie sind. Das Wer einer ist enthüllt sich nur im Handeln und Sprechen, also im

217 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 300.

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Politischen.218 Drittens entscheidet sich durch das Urteilen, wer zu dieser Welt dazugehört, denn indem man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft.219 Und schließlich viertens gibt der sensus communis nur zu erkennen, „wie geurteilt wird“, aber nicht, „wie geurteilt werden soll“220. Denn das politische Urteil muss wie das Geschmacksurteil notwendig als pluralistisch gelten. Arendt hat deshalb immer Kafka zitiert, der formuliert: „Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine; aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.“221 Alle angeführten Momente des sensus communis – das interesselose Wohlgefallen, die erweiterte Denkungsart, die Mitteilbarkeit, die Öffentlichkeit impliziert, das komparative Urteil, die Zugehörigkeit als das Recht, Rechte zu haben – sind Elemente politischer Praxis.222

218 Vgl. ebd., S. 301. Ich gehe auf Arendts Verständnis des Wer einer ist im dritten Kapitel näher ein. Ein Zitat, in dem Arendt die Bedeutung des Handelns hervorhebt, erhellt auch ihr Verständnis der Sprache: „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsche des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“ Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 167. 219 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 97. In ihrem Aufsatz Kultur und Politik sagt sie: „Es ist, als entscheide sich im Geschmack nicht nur, wie die Welt aussehen soll, sondern auch wer in der Welt zusammengehört. Will man diese Zusammengehörigkeitsgefühl politisch bestimmen, so greift man wohl nicht fehl, es für ein im Wesentlichen aristokratisches Prinzip der Organisation zu halten. Aber seine politische Leistungsfähigkeit trägt vielleicht doch noch weiter.“ Arendt, Hannah: Kultur und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 301. Arendt hat dieser aristokratischen Organisationsform durch ihre Forderung nach einem Recht, Rechte zu haben, eine demokratische Wendung gegeben. 220 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 206: B 131. 221 Zit. nach Arendt, Hannah: Verstehen und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 110-127, S. 110. 222 Arendt bestimmt den Gemeinsinn als den „Sinn [...], durch den alle anderen Sinne, die von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt

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Hatte Kant in Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte Geselligkeit als Zweck der menschlichen Bestimmung benannt, so bezeichnet Arendt Geselligkeit nicht als Ziel des Menschen, sondern als den „eigentlichen Urgrund“, ja Geselligkeit ist „das eigentliche Wesen der Menschen [...], soweit diese eben von dieser Welt sind“223. Wenn Arendt sagt, dass man, geleitet von seinem sensus communis als Mitglied in einer Gemeinschaft urteilt,224 dann setzt unsere Fähigkeit zu urteilen die Anwesenheit anderer Menschen voraus, denn jeder „fordert die Rücksicht auf allgemeine Mitteilung von jedermann, gleichsam aus einem ursprünglichen Vertrag, der durch die Menschheit selbst diktiert ist“225. Damit bestimmt Arendt die Urteilskraft als die Grundfähigkeit, die es den Menschen ermöglicht, sich im öffentlich-politischen Raum, in der gemeinsamen Welt durch die Anderen zu orientieren. Und wenn Arendt vom Verlust des Gemeinsinns unter totaler Herrschaft spricht, bedeutet dies nichts anderes als die Zerstörung all dieser Momente, die notwendig sind, um sich in der Welt zu orientieren und ein politisches Urteil zu bilden. Auf der Grundlage dieses hier dargestellten Verständnisses von politischer Urteilskraft wird gezeigt, wie Arendt sich aus der Perspektive des unbeteiligten Zuschauers den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft und der Banalität des Bösen, zuwendet und vermittels der reflektierenden Urteilskraft nachweist, dass sich die Form der totalen Herrschaft gerade in der Zerstörung der politischen Urteilskraft zeigt.

gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden, der also das Vermögen ist, durch das die gemeinsame Welt sich dem Menschen so erschließt, wie ihre Sichtbarkeit sich ihm durch das Sehvermögen erschließt.“ Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 275. 223 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 98. 224 Ebd., S. 97. 225 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 230: B 164.

2 Die Politik der Vernichtung und die Vernichtung des Politischen

„Was ist der Gegenstand unseres Denkens? Die Erfahrung! Nichts anderes!“1

2.1 T OTALE H ERRSCHAFT

ALS

S PIEGELSCHRIFT

Es war Albrecht Wellmer, der als erster auf den Stellenwert der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft für Arendts Theorie der Urteilskraft hingewiesen hat.2 Tatsächlich ist dieses Buch für den Begriff der Urteilskraft in doppelter Weise relevant. Zum einen entwickelt Arendt bereits hier eine systematische Argumentation für eine Theorie der politischen Urteilskraft, und zwar in Form einer Kritik an der totalen Herrschaft. Zum anderen kann ihre Analyse des Nationalsozialismus und der daraus resultierende Begriff

1

Arendt, Hannah: Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, (November 1972) in: Dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 71-114, hier S. 79.

2

„It was in particular Arendt’s experience of Nazi-Germany which provided the negative background for her theory of judgement. Not The Human Condition, but her book on totalitarianism and Eichmann in Jerusalem constitute the preparatory stages of her theory of judgement.“ Wellmer, Albrecht: Hannah Arendt on Judgement. The unwritten Doctrine of Reason, in: Ders.: Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a.M. 1993, S. 309-331, hier S. 311.

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der totalen Herrschaft selbst bereits als ein Resultat der reflektierenden Urteilskraft interpretiert werden.3 Aus dieser Perspektive erscheinen die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als eine historisch reflektierte, philosophisch geleitete Kritik der Form totaler Herrschaft, die gleichsam spiegelschriftlich die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen für einen Zustand menschlichen Zusammenlebens formuliert, der den Namen einer „republikanischen Demokratie“ wahrhaft verdiente. Darin besteht der innere Zusammenhang zwischen der Analyse totaler Herrschaft und der Absicht einer normativen Theorie des Politischen nach Auschwitz. Quasi in statu nascendi findet sich Arendts erst Jahre später ausgeführte doppelte Bestimmung der politischen Urteilskraft – als Voraussetzung des Handelns und als Tätigkeit des philosophierenden Intellektuellen – bereits in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft. Die Autorin analysiert aus der Position des „unparteilichen Zuschauers“ heraus die Zerstörung der politischen Urteilskraft. Sie zeigt in zeithistorischer Perspektive, dass das „Neue“ an der Erfahrung totaler Herrschaft gerade darin besteht, dass sie die subjektiven Voraussetzungen der Erfahrungs- und damit der Denk- und Urteilsfähigkeit der Menschen zerstört, indem sie die objektiven Bedingungen des politischen Gemeinwesens vernichtet. Totale Herrschaft vernichtet nicht nur den öffentlich-politischen und den privat-gesellschaftlichen, sondern den Raum überhaupt zwischen den Menschen. Damit aber zerstört sie zugleich die intersubjektiven Bedingungen menschlichen Zusammenlebens und menschlicher Existenz. Dies zeigt sich in besonderer Weise in dem von Arendt später eingefügten Kapitel Ideologie und Terror.

3

Zu der Geschichte dieses Buches siehe auch Tsao, Roy T.: The Three Phases of Arendt’s Theory of Totalitarianism, in: Grunenberg, Antonia (Hg.), Totalitäre Herrschaft und republikanische Demokratie, Fünfzig Jahre The Origins of Totalitarianism von Hannah Arendt, Frankfurt a.M. 2003, S. 57-81. Siehe hierzu auch Ursula Ludz Beitrag: Hannah Arendt und ihr Totalitarismusbuch, in: Grunenberg, Antonia (Hg.), Totalitäre Herrschaft und republikanische Demokratie; a.a.O., S. 81-92. Der These von Ludz, dass der Abschnitt Ideologie und Terror eine „Art Fremdkörper“ sei, kann ich nicht zustimmen. (Ebd. hier S. 87). Siehe auch Söllner, Alfons: Hannah Arendts Totalitarismus-Buch in der zeitgenössischen Debatte, in: Grunenberg, Antonia (Hg.), Totalitäre Herrschaft und republikanische Demokratie, a.a.O., S. 33-55.

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UND DIE

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Mustergültig wird hier reflektierende Urteilskraft in actu demonstriert. Die Begriffe der klassischen Herrschaftstheorien werden mit den politischen Erfahrungen der Gegenwart konfrontiert und als nicht angemessen zurückgewiesen. Aus dieser denkenden Bewegung zwischen Begriff und Erfahrung entspringt ein neuer Begriff von Herrschaft: „[Die] Institutionen der totalen Herrschaft [sind] nicht nur radikaler, sondern prinzipiell verschieden von den Formen politischer Unterdrückung, die als Despotie, Tyrannis und Diktatur aus Vergangenheit und Gegenwart bekannt sind.“4 Die Methode, die Arendt zu dieser Erkenntnis führt, ist die der reflektierenden Urteilskraft. Die Zeit des Nationalsozialismus wird nicht als radikalisierte Variante historisch bereits da gewesener Herrschaftsformen begriffen und also unter bereits existierende Begriffe subsumiert. Dies wäre das Verfahren der bestimmenden Urteilskraft. Hingegen erkennt Arendt, dass sich die historische Erfahrung des Nationalsozialismus den gegebenen allgemeinen Begriffsbestimmungen versperrt. Sie subsumiert nicht das historische Ereignis unter die herkömmlichen Begriffe politischen Denkens, sondern erkennt die qualitative Differenz, die die Formulierung eines neuen Begriffs erzwingt. Darin zeigt sich eine Reflexionsbewegung, wie sie von Kant bereits in der Kritik der Urteilskraft beschrieben wurde. Reflektieren heißt bei Kant: „Gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt.“5

Das Reflektieren hat hier zwei Momente. Einerseits bezieht es sich auf das „vergleichende Zusammenhalten von Vorstellungen untereinander“, andererseits bezieht sich dies Vergleichen und Zusammenhalten von Vorstellungen auf das Erkenntnisvermögen. Beides dient jedoch der möglichen

4

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1998, S. 944.

5

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt a.M. 1988, S. 24.

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Bestimmung eines neuen empirischen Begriffs.6 Die Tätigkeit des Reflektierens wird hier also mit der Begriffsbildung verbunden, während Kant noch in der Kritik der reinen Vernunft das „Vermögen der Begriffe“ an die Tätigkeit des Verstandes geknüpft hatte.7 In der Kritik der Urteilskraft hingegen übernimmt die reflektierende Urteilskraft die Funktion des Verstandes, wenn es um die empirische Begriffsbildung geht. Während das „Vermögen der Begriffe“ in der Kritik der reinen Vernunft eine Tätigkeit des Verstandes ist, die die Einheit von Erfahrung vermittels der transzendentalen Einbildungskraft überhaupt erst ermöglicht, so liegt der Bezug auf die empirischen Begriffe darin, dass sie der Erfahrung nicht gegeben sind, sondern durch die reflektierende Urteilskraft erst erschlossen werden müssen. Ist aber der empirische Begriff gewonnen, ist also ein Allgemeines für das Besondere gefunden worden, dann hat sich die reflektierende Urteilskraft selbst in die bestimmende Urteilskraft transformiert. Mit Hegel gesprochen lässt sich sagen, dass sich die reflektierende Urteilskraft in ihrer Tätigkeit

6

Für die Verwendung des empirischen Begriffs beziehe ich mich auf Kants Unterscheidung zwischen empirischem und reinem Begriff: Jeder Begriff ist Kant zufolge sowohl durch Materie und Form bestimmt. Die Materie der Begriffe ist der Gegenstand, während die Form derselben auf die Allgemeinheit zielt. Der reine Begriff wird vom empirischen Begriff dadurch unterschieden, dass sowohl die Materie als auch die Form dem Verstand entspricht, während sich der empirische Begriff auf Gegenstände der Erfahrung bezieht. Durch den Verstand erhält der empirische Begriff lediglich die Form. Vgl. Kant, Immanuel: Allgemeine Elementarlehre, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. VI, Frankfurt a.M. 1988, S. 521-567, hier S. 523: A 143, 144. Siehe auch Kant, Immanuel: Über eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. V, Frankfurt a.M. 1988, S. 297-377. Kant formuliert dort: „Um den Ausdruck der Konstruktion der Begriffe [...] wider Missbrauch zu sichern, mag Folgendes dienen: In allgemeiner Bedeutung kann alle Darstellung eines Begriffs durch die (selbsttätige) Hervorbringung einer ihm korrespondierenden Anschauung Konstruktion heißen. Geschieht sie durch die bloße Einbildungskraft, einem Begriff a priori gemäß, so heißt sie die reine. [...] Wird sie aber an irgend einer Materie ausgeübt, so würde sie die empirische Konstruktion heißen können.“ Ebd., S. 302: BA 12.

7

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft 1, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. III, Frankfurt a.M. 1988, S. 180: A 126, 127.

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selbst aufhebt. Insofern kann man bezogen auf die neue Begriffsbildung nicht zwischen Begriffsbildung und Anwendung unterscheiden, weil die Bildung und die Anwendung des Begriffs zusammenfallen. Die Anwendung des neu erschlossenen empirischen Begriffs wäre dann die Anwendung der bestimmenden Urteilskraft. Lässt sich an Arendts Begriffsarbeit die Methode der reflektierenden Urteilskraft in geradezu vorbildlicher Weise aufzeigen, so ist hier noch auf ein weiteres Ergebnis dieser Form einer empirischen Begriffsbildung hinzuweisen. In der Analyse totaler Herrschaft erschließt sich Arendt eine Grunderfahrung menschlichen Daseins: die „Verlassenheit“, die sich so noch nie zuvor gezeigt habe. Für diesen Begriff aber muss Arendt bereits implizit das Verständnis eines Welt- und Selbstverhältnisses voraussetzen, das sie später in ihrer Fragment gebliebenen Theorie der Urteilskraft explizit macht. Nur auf der Folie dieses neuen Welt- und Selbstverhältnisses kann der Begriff der „Verlassenheit“ als Schlüsselbegriff ihrer Theorie der totalen Herrschaft entfaltet werden. Oder anders formuliert: in der reflektierenden Denkbewegung erschließen sich Arendt der kritische Sachverhalt und der Maßstab für diesen gleichursprünglich. Die Zerstörung der politischen Urteilskraft, die im Zentrum des dritten Teils der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft steht, kann nur analysieren, wer einen Begriff von politischer Urteilskraft hat. In ihrem Denktagebuch notiert Arendt im Juni 1951, also kurz nach Erscheinen der ersten englischen Ausgabe von The Origins of Totalitarianism: „Methode in den Geschichtswissenschaften: Alle Kausalität vergessen. An ihre Stelle: Analyse der Elemente des Ereignisses. Zentral ist das Ereignis, in dem sich die Elemente jäh kristallisiert haben. Titel meines Buches grundfalsch; hätte heißen müssen: The Elements of Totalitarianism.“8

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Arendt, Hannah: Denktagebuch, 1950-1973, München 2002, Bd. 1, S. 96f. Letztlich habe Nietzsche erkannt, warum in den Geschichtswissenschaften an der Kausalität festgehalten werde: „Die Frage, warum Kausalitätsbetrachtungen in der Geschichte beibehalten wurde, trotz stillschweigender Eliminierung der „Causa sui“ und des Endzwecks, hat Nietzsche beantwortet: als Mittel, das Neue, Unbekannte, das recht eigentlich die spezifische Qualität des Ereignisses ist, zu umgehen und sich in das Alt-Bekannte zu flüchten durch Auflösung aller

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Tatsächlich kann das Buch heute als das klassische Beispiel einer empirischen Begriffsbildung gelesen werden, das im geschichtlichen Augenblick der Katastrophe, für die wir den Eigennamen Auschwitz verwenden, das qualitativ Neue der in den Konzentrations- und Vernichtungslagern gipfelnden Herrschaftsform zu erfassen versucht. Was diesen Versuch einzigartig macht, ist die Art und Weise der Begriffsbewegung. Arendt subsumiert das „Ereignis“ nicht unter Altbekanntes, sondern bestimmt die „Elemente“ des Neuen, um so zu einem Begriff zu kommen, der die qualitative Differenz zu überlieferten Formen von Herrschaft markiert: totale Herrschaft. Besteht das Neuartige dieser Herrschaftsform u.a. in der vollständigen Zerstörung reflektierender Urteilskraft, so ist das Buch zugleich ein mustergültiges Beispiel dafür, wie dieser zu widerstehen ist: durch die Kraft reflektierenden Urteilens. Genau dies – die Arbeitsweise der reflektierenden Urteilskraft – kennzeichnet, was man die „Methode“ Arendts nennen könnte und was zugleich die nur scheinbar disparaten Teile des Buches zusammenhält. Auch die Analysen zum Antisemitismus und Imperialismus sind als „historische Darstellung der Elemente, die sich zum Totalitarismus kristallisierten“ Momente ebendieser reflektierenden Urteilskraft. 9

2.2 D IE ARBEIT DER REFLEKTIERENDEN U RTEILSKRAFT (I): T OTALE H ERRSCHAFT Arendts Anspruch war es nicht nur, das historisch Neue zu begreifen. Von Anbeginn war ihr klar, dass sie sich der aporetischen Aufgabe zu stellen hatte, dass und wie das Unbegreifliche zu begreifen sei. Die Absicht ihrer Untersuchung war es nicht nur, die geschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Prozesse, die der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis vorangingen, zu rekonstruieren; sie wollte zugleich das „Wesen“ einer Herrschaftsform begreifen, die aus sich heraus eine nie zuvor da gewesene Destruktivität freigesetzt hatte.

unbekannten, neuen Faktoren in bloße, nämlich errechenbare Wirkungen bekannter Ursachen.“ Ebd., S. 114. 9

Vgl. Arendt, Hannah: Eine Antwort, in: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. (Hg.), Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, Dresden 1999, S. 42-52, hier S. 44.

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Im dritten Teil der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft untersucht Arendt den, wie sie die Vernichtung an den europäischen Juden nennt, „Verwaltungsmassenmord“10. Sie kritisiert die herkömmlichen Erklärungsansätze, die das Phänomen im Sinne der bestimmenden Urteilskraft analysieren, d.h. das Neue an der nationalsozialistischen Herrschaft unter bereits bekannte Formen der Herrschaft subsumieren: „Begreifen bedeutet freilich nicht, das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen.“11

In einer Art von „intellektuell-moralischer Sisyphosarbeit“12 (Detlev Claussen) versucht sie sich dem Beispiellosen anzunähern. Auschwitz übersteigt das menschliche Begriffsvermögen: „Die Menschheitsgeschichte kennt

10 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 408. Arendt weist darauf hin, dass der Begriff des „Verwaltungsmassenmordes“ angelsächsischer Herkunft ist. Er wurde in den zwanziger Jahren von einem britischen Verwaltungsbeamten geprägt, der ihn zur „Lösung der indischen Frage“ halb ironisch, halb zynisch in Vorschlag brachte: „Aber Lord Cromer hat so wenig daran gedacht, dass man durch Verwaltung schließlich würde Massenmorde organisieren können, wie Cecil Rhodes oder die frühen Rassefanatiker daran dachten, dass sie ihre Massaker würden bürokratisch organisieren können.“ Ebd. 11 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 25 Siehe auch ihren Aufsatz: Verstehen und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, München 1994, S. 110-128. „Sie setzen die totalitäre Herrschaft mit der Tyrannei oder der Ein-Partei-Diktatur gleich, wenn sie nicht gar das Ganze wegerklären, indem sie es auf historische, soziale oder psychologische Gründe reduzieren, die nur für ein Land, Deutschland oder Russland, relevant sind. Es leuchtet ein, dass solche Methoden die Verstehensanstrengung nicht fördern, weil sie all das, was unbekannt ist und verstanden werden muß, in einem Durcheinander von Bekanntem und Plausiblem versenken.“ Ebd., S. 116. 12 Claussen, Detlev: Was heißt Rassismus?, Darmstadt 1994, S. 138.

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keine Geschichte, die zu berichten schwieriger wäre.“13 Schroff weist sie jeden Erklärungsansatz zurück, der das Besondere des Nazi-Terrors auf seine „Ursprünge“ in der modernen Gesellschaft in kausal-deterministischer Weise reduziert. Sie betont die Kontingenz der geschichtlichen Entwicklung: es hätte sich auch alles anders entwickeln können. Deshalb betont sie die Unterscheidung zwischen den geschichtlich-darstellenden und politisch-analytischen Teilen ihres Buches, eben weil die Verknüpfung des Geschichtlichen mit dem Politischen nicht im Sinne einer Kausalbeziehung gedacht war.14 Aber was sich dann ereignet habe, sei mit den herkömmlichen Begriffen politischen Denkens nicht mehr zu fassen: „Alles, was wir über den Totalitarismus wissen, zeigt eine schreckliche Originalität, und keine weithergeholten geschichtlichen Parallelen können dies ändern. [...] Die Originalität des Totalitarismus ist nicht schrecklich, weil mit ihm eine neue ‚Idee‘ in die Welt gekommen ist, sondern weil seine schieren Handlungen einen Bruch mit allen unseren Traditionen darstellen; zweifellos haben sie unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für das moralische Urteil gesprengt.“15

Vor dem Hintergrund dieses Traditionsbruchs wählt Arendt eine argumentative Darstellungsform, die die Elemente umkreist, die sich schließlich zur totalen Herrschaft kristallisieren. Man muss sich diese Vorgehensweise vergegenwärtigen, um nicht zu falschen Generalisierungen zu kommen. Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft sind keineswegs identisch mit der spezifischen Totalität „totaler Herrschaft“. Diese, so betont Arendt, „ist keineswegs einfach antisemitisch oder rassistisch oder imperialistisch oder kommunistisch“16, sie gebrauche und missbrauche vielmehr ihre eigenen ideologischen und politischen Elemente so lange, bis die reale Tatsachenbasis, aus der die Ideologien anfänglich ihre Stärke und ihren Propagandawert bezogen, so gut wie verschwunden seien. Totale Herrschaft steht am

13 Arendt, Hannah: Das Bild der Hölle, in: Dies.: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, S. 49-62, hier S. 51. 14 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente totaler Herrschaft, Vorwort zu der gekürzten Ausgabe, Container 25.6 (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg), o.S., Blatt 002600. 15 Arendt, Hannah: Verstehen und Politik, a.a.O., S. 112. 16 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 26.

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Ende eines langen Prozesses. Um sie zu begreifen, muss man diesen Prozess begreifen. Aber sie ist nicht mit ihm identisch. Konsequent unterscheidet Arendt deshalb schon im formalen Aufbau des Buches zwischen den nicht-totalitären „Ursprüngen“ und den „Elementen“ totalitärer Herrschaft.17 Bekanntlich gehört Arendt zu den Kritikern der Sozialwissenschaften, insbesondere den historischen und politischen Wissenschaften und ihren Methoden, was aber nicht heißt, dass sie von diesen nicht auch beeinflusst wurde.18 Schließlich hat sie selbst an klassischen Themenkonstellationen der Sozialwissenschaften gearbeitet, auch wenn sie sich selbst als politische Theoretikerin verstanden hat. Ihr Hauptkritikpunkt richtet sich gegen deren Unfähigkeit Unterscheidungen vorzunehmen: „Begriffe wie Nationalismus, Imperialismus, Totalitarismus etc. werden unterschiedslos für alle möglichen Arten von politischen Erscheinungen [...] gebraucht, und für keine von ihnen wird mehr der besondere historische Hintergrund berücksichtigt.“19 Konsequenterweise greift sie, um die These zu begründen, dass die totale Herrschaft eine neue Herrschaftsform sei, nicht auf die Sozialwissenschaften zurück, sondern analysiert die nachbürgerliche Gesellschaft mit den Regierungslehren von vorbürgerlichen Denkern wie Montesquieu und Kant. Bei allem Zweifel und bei allen Vorbehalten gegenüber diesen Formen von Regierungslehren entdeckt sie in ihnen etwas über den Zusam-

17 In ihrer Antwort auf Eric Voegelins Buchbesprechung begründet sie ihre Unterscheidung, die exemplarisch für Arendts „Methode“ insgesamt ist: „Herr Voegelin scheint zu glauben, dass der Totalitarismus nur die andere Seite des Liberalismus, Positivismus und Pragmatismus ist. Doch ob man die Auffassungen des Liberalismus teilt oder nicht (und ich darf hier sagen, dass ich ziemlich sicher bin, weder eine Anhängerin des Liberalismus, noch des Positivismus, noch des Pragmatismus zu sein) – der Hauptpunkt ist doch, dass Liberale eindeutig nicht totalitär sind. Das schließt natürlich nicht aus, dass auch liberale oder positivistische Elemente sich zu totalitärem Denken eignen; doch aus solchen verwandten Zügen ergäbe sich angesichts der Tatsache, dass Liberale nicht totalitär sind, die Forderung, noch schärfe Unterscheidungslinien ziehen zu müssen.“ Arendt, Hannah: Eine Antwort, a.a.O., S. 46f. 18 Vgl. Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Hannah Arendt, Hannah: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, S. 7-30. 19 Arendt, Hannah: Eine Antwort, a.a.O., S. 49.

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menhang von Herrschaftsformen und Subjektkonstitution.20 Auch wenn Arendt betont, dass die klassische Form der Regierungslehren „in gewisser Weise vorwissenschaftlich sind“21, dass sich lediglich im „Namengeben“ ausdrückt, so interessiert sie vor allem, dass Montesquieu nicht nur die „besondere Struktur“ von Regierungsformen unterscheidet, sondern auch entdeckt, dass diesen jeweils ein Prinzip des Handelns korrespondiert. Arendt rekurriert für ihre Analyse aber nicht nur auf Montesquieu sondern auch auf Kant. Eigenartig und verblüffend ist, so Arendt, dass Montesquieu, der für die „Entdeckung und Ausformulierung der Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative berühmt wurde“, Regierungen definiere „als wäre Macht notwendigerweise souverän und unteilbar“22. Erst Kant habe in seiner Schrift Zum ewigen Frieden nach Montesquieus Prinzipien die Struktur von Regierungen neu bestimmt. Kant führt den Unterschied zwischen Formen der Beherrschung und Regierungsformen ein. Die Formen der Beherrschung werden durch den Ort der Macht bestimmt (Autokratie, Aristokratie, und Demokratie), während die Form der Regierung auf einer „Konstitution (den Akt des allgemeinen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird)“ gründet, in der die Art, „wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht entscheidet, ob sie republikanisch oder despotisch ist“.23 Despotische Regierungen kennen keine Gewalten, die in Exekutive, Legislative und Judikative getrennt sind, während republikanische Regierung die ausübende, sowohl von der gesetzgebenden und als auch von der richtenden Gewalt trennt. Arendt hält auch die kantische Unterscheidungen zwischen Formen der Beherrschung und Formen der Regierung für nicht „ganz zureichend“24. Ihre Unzulänglichkeit und Schwäche

20 Vgl. Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus. Ein Versuch zu verstehen, in: Meints, Waltraud/Klinger, Katherine (Hg.), Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Hannover 2004, S. 15-63, hier S. 17f. 21 Ebd., S. 17. 22 Ebd. 23 Vgl. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a.M. 1988, S. 195-251, hier S. 206: BA 25. 24 Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus, a.a.O., S. 16f. Diese Kritik wird am Verhältnis von Recht und Macht in der Erörterung des Eichmann Pro-

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beruhe darauf, dass die Quelle von Recht die menschliche Vernunft (lumen naturale) und die Quelle von Macht der menschliche Wille sei.25 Bei der Beantwortung für ihre Arbeitshypothese, ob es sich bei der totalen Herrschaft um eine neue Form der Herrschaft handelt, orientiert sie sich sowohl an Kant als auch Montesquieu.26 In einem Brief an die Guggenheim Foundation bezieht sie sich jedoch nur auf Montesquieu: „Um konkret darzustellen, was die totalitären Herrschaftsformen tatsächlich von allen anderen unterscheidet, die wir historisch kennen gelernt haben, gehe ich dann im dritten Kapitel von Recht und Macht zu einer Untersuchung dieser beiden Säulen aller traditionellen Regierungsformen über. Dieses Kapitel endet mit einer Analyse Montesquieus, der mir die Hilfsmittel liefert, um die totale Herrschaft von allen Regierungsformen der Vergangenheit – selbst den tyrannischen – zu unterscheiden.“27

Lautet Arendts zentrale These im dritten Teil des Buches, dass die traditionellen Begriffe von Tyrannei, Despotie und Diktatur der Erfahrung der historischen Gegenwart nicht angemessen sind, so gewinnt sie diese vermittels der reflektierenden Urteilskraft. Denn der Vergleich mit den klassischen Bestimmungen der Regierungslehren zeigt, dass es sich hier nicht nur um eine noch nie da gewesene Staatsform handelt, sondern dass sich mit dieser neuen Herrschaftsform eine neue Grunderfahrung des Menschen gezeigt hat: die Verlassenheit. Orientierend für Arendt ist Montesquieus Annahme, dass den unterschiedlichen Staatsformen Prinzipien des Handelns korrespondieren.28 Die Geschichte bisheriger Herrschaftsformen, so Montesquieu in seinem Werk Vom Geist der Gesetze (1748), zeigt, dass ihnen jeweils unterschiedliche Handlungsprinzipien korrespondieren, deren Quelle fundamentalen Grunderfahrungen entsprechen, die Menschen im sozialen Zusammenleben und

zesses und im letzten Kapitel zu Arendts Verständnis von Macht wieder aufgegriffen. 25 Vgl. ebd., S. 16f. 26 Vgl. ebd., S. 18. 27 Zit. nach Young Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben und Werk, München 1986, S. 387. 28 Vgl. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Stuttgart, 1994, S. 120f.

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Handeln machen. Diese Grunderfahrungen sind das, was die Struktur der Staatsform mit dem Prinzip des Handelns verbindet. Arendt greift diesen Gedanken unter völlig anderen historischen Bedingungen auf. Sie nimmt an, dass die Form totaler Herrschaft „auf einer menschlichen Erfahrung gegründet ist, die nie zuvor zur Grundlage menschlichen Miteinanderlebens gemacht worden ist, die politisch sozusagen noch niemals produktiv geworden ist“29. Analog zu Montesquieu unterscheidet sie zwischen dem Wesen einer Staatsform, ihrem Handlungsprinzip und nach der Grunderfahrung auf der diese beruht.30 Das Wesen oder die Struktur der Staatsform sei das, was sie von anderen Formen des Staats unterscheide, während ihr Prinzip die Art und Weise bestimme, wie in ihr gehandelt wird, die wiederum auf einer gemeinsamen Grundlage menschlicher Erfahrungen beruht: „So hat die Monarchie ihr Wesen in gesetzlicher Regierung, in der die Macht in den Händen eines einzigen liegt; gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Ehre, das auf dem Wunsch nach Auszeichnung beruht. Die Republik hat ihr Wesen in verfassungsmäßiger Regierung, in der die Macht in den Händen des Volkes liegt; gehandelt wird in ihr nach dem Prinzip der Tugend, das auf der Liebe zur Gleichheit beruht. Die Tyrannis hat ihr Wesen in gesetzloser Herrschaft, in der Macht von der Willkür eines einzelnen ausgeübt wird; ihr Prinzip des Handelns ist die Furcht, worauf diese Furcht beruht, sagt uns Montesquieu nicht“31,

29 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 944. 30 Vgl. Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus, a.a.O. “Deshalb werden wir bei unserem Versuch, das Wesen des Totalitarismus zu verstehen, in gutem Glauben die herkömmlichen Fragen stellen in Bezug auf diese Regierungsform und das Prinzip, das sie in Bewegung setzt. Seit dem Aufstieg szientifischer Verfahren in den Humanwissenschaften, das heißt, seit der Herausbildung einer modernen Geschichtsschreibung, Soziologie und Ökonomie, wurden solche Fragen nicht mehr für geeignet gehalten, um das Verstehen zu fördern. Kant war tatsächlich der letzte, der nach diesen Grundsätzen der traditionellen politischen Philosophie gedacht hat. Während unsere Standards für wissenschaftliche Genauigkeit beständig gewachsen sind und heute höher sind als je zuvor, scheinen dagegen unsere Standards und Kriterien für ein wirkliches Verstehen ebenso beständig abgenommen zu haben“. Ebd., S. 27. 31 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 954.

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wobei Arendt an anderer Stelle diese Lücke bei Montesquieu füllt: Es sei Ohnmacht und Isolation.32 Totale Herrschaft sei nicht unter diese Kategorien zu subsumieren. Montesquieus noch vor den bürgerlichen Revolutionen formulierte Regierungslehre verhilft Arendt zu Unterscheidungskriterien, mit denen sie die spezifische Differenz einer Herrschaftsform zu bestimmen versucht, die gerade aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaftsform hervorgegangen war. Unterscheidet sich das Urteil über Staatsformen klassisch nach der gesetzmäßigen Regierung oder der tyrannisch-gesetzlosen Willkür, so ist das Paradoxe an der totalen Herrschaft, dass sie zwar gesetzlos (weil sie das positive Gesetz außer Kraft setzt), aber nicht willkürlich ist. Im Unterschied zur Tyrannis wird das positive Recht keineswegs durch einen willkürlichen Machthaber ersetzt, sondern durch das „Gesetz der Geschichte“ oder „das Recht der Natur“. Während sich das positive Recht auf das lumen naturale des Naturrechts beruft, erweist sich der Rückbezug der totalitären Machthaber auf die „ursprünglichen Quellen einer Autorität“ als eine, die unabhängig vom menschlichen Handeln ist: „In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze der Natur und Geschichte vollzogen und das heißt im fruchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert werden. Diese Exekution der objektiven Gesetze von Natur oder Geschichte solle schließlich eine Menschheit produzieren – sei es eine Rassegesellschaft oder eine klassen- und nationslose Gesellschaft –, die in sich selbst nur der Exponent der Gesetze ist, die in ihr verwirklicht werden.“33

In der Folge ersetzt der Terror den „Zaun des Gesetzes“. Der Terror aber wirkt nicht nach den „Regeln eines Einzelnen“, wie in der Tyrannis, sondern wird in „Übereinstimmung mit außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen vollzogen“34. Positives Recht

32 Vgl. Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus, a.a.O., S. 24f. 33 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 948. 34 Ebd., S. 955. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Arendts Reflexionen über den einheitlichen Erfahrungsgehalts von Natur und Geschichte in unterschiedlichen Epochen zu berücksichtigen. Vgl. Arendt, Hannah: Natur und Geschichte, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 54-79.

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wird außer Kraft gesetzt, indem es ständiger Veränderung unterworfen wird. Der Begriff des Gesetzes verliert so unter totalitärer Herrschaft überhaupt seinen Sinn. Das Gesetz begrenzt nicht mehr den Raum der Freiheit. Es wird vielmehr in eine Bewegung hineingerissen, in der das, was heute noch Recht ist, morgen schon Unrecht ist. Der totalitären Herrschaft wohnt eine Gewalt der Entdifferenzierung inne, die die Tendenz hat, alle historisch gewonnenen Strukturen zu zerstören. Arendt zeigt dies an der von Montesquieu noch als wesentlich bestimmten Unterscheidung zwischen der Struktur und dem Prinzip einer Staatsform. Auch diese Differenz wird unter der totalen Herrschaft hinfällig: Struktur und Prinzip des Handelns fallen in Eins. Der Terror zerstört den strukturierten Raum der Freiheit und also des Handelns und setzt an dessen Stelle ein strukturloses „eisernes Band“ der totalen Unfreiheit. Im Terror fallen Struktur und Prinzip zusammen, und dadurch wird beides zerstört. Unter der totalen Herrschaft gibt es kein bewegendes Prinzip des Handelns mehr: „An die Stelle des Prinzips des Handelns tritt die Präparierung der Opfer, die Natur- und Geschichtsprozess fordern werden, eine Präparierung, die den einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie für die des Opfers vorbereiten kann.“35 Diese Präparierung wird durch die totalitäre Ideologie geleistet. Sie ersetzt das Prinzip des Handelns und wird sowohl für die Herrscher als auch für die Beherrschten maßgeblich.36 2.2.1 Verlassenheit, Terror, totalitäre Ideologie: Die Zerstörung der politischen Urteilskraft Arendt adaptiert Montesquieus Begriff der Tyrannei. In der herkömmlichen Form ist diese ihrer Struktur nach durch gesetzlose Herrschaft, ihrem Prinzip nach durch Furcht charakterisiert. Ihre Elemente sind Isolation, Weltanschauung und Gewalt. Anhand dieser Begriffe bestimmt Arendt den Formwandel der Herrschaft, die qualitative Differenz der Form der totalen Herrschaft zu der der tyrannischen. In der Bewegung der reflektierenden Urteilskraft erschließen sich Arendt die Elemente totaler Herrschaft keineswegs nur als Steigerungsformen tyrannischer Herrschaft, sondern als historisch nie zuvor dagewesene: aus Isolation wird Verlassenheit, aus Weltan-

35 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 961. 36 Vgl. ebd., S. 968.

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schauung totalitäre Ideologie, aus Gewalt Terror. Dies heißt nicht, dass diese Elemente nicht schon partikular unter anderen Formen der Herrschaft zu finden gewesen wären. Aber erst in der Form der totalen Herrschaft treten sie in ihrer ganzen Destruktivität hervor. Die Trias von (a) Verlassenheit, (b) Terror und (c) totalitärer Ideologie als Kernelemente totaler Herrschaft zerstören, so Arendts These, die Pluralität menschlicher Existenz und damit auch die intersubjektiven Bedingungen politischer Urteilskraft. Im Folgenden wird gezeigt, wie Arendt politisch-analytisch die Bestimmung dieser Elemente vermittels der reflektierenden Urteilskraft gewinnt. (a) Während die Grunderfahrung unter der Tyrannis – nach Arendt in Ergänzung zu Montesquieu – die Isolation der Menschen voneinander ist,37 indem sie das Handeln im öffentlich-politischen Raum, das „acting in concert“ (Edmund Burke), unmöglich macht, fragt sich Arendt, ob die neue Form der Herrschaft des Totalitarismus auch den Anspruch erheben kann, auf einer neuen Grundlage der conditio humana zu beruhen. Arendt entdeckt diese neue Grunderfahrung im Zustand der Verlassenheit.38 Der Beg-

37 „Montesquieu unterließ es, auf die gemeinsame Grundlage von Struktur und Handeln in Tyranneien hinzuweisen; es mag daher erlaubt sein, diese Lücke im Lichte seiner eigenen Entdeckungen auszufüllen. Furcht, das Prinzip, das in einer Tyrannei Handeln auslöst, ist in fundamentaler Weise mit jener Angst verbunden, die wir in Situationen vollkommener Einsamkeit erleben.“ Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus, a.a.O., S. 25. Später in der Vita activa scheint sie vergessen zu haben, dass sie das Prinzip der Isolation für die Tyrannis bestimmt hat: „Für Montesquieu war das hervorragende Merkmal der Tyrannis das Prinzip der Isolation, auf dem sie beruht, die Isolierung des Herrschers von seinen Untertanen und die Isolierung der Untertanen gegeneinander, die durch eine Art systematischer und organisierter Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Misstrauens zustande kommt.“ Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1985, S. 196. Montesquieu: Vom Geiste des Gesetzes, a.a.O., S. 119f., S. 294, S. 304. 38 „Die Frage, der wir uns jetzt nähern wollen, ob nämlich der Totalitarismus eine beispiellose Form der Regierung ist oder nicht, kann eine ebenso unverfälschte, wenngleich bisher verborgene Grundalge der conditio humana für sich in Anspruch nehmen, eine Grundlage, die sich möglicherweise nur unter Umständen einer weltweiten Einheit der Menschheit zeigt – unter Umständen, die freilich

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riff der Verlassenheit umfasst, dass totalitäre Herrschaft den Menschen als ganzen betrifft, insofern sie nicht nur den öffentlich-politischen, sondern auch den privat-gesellschaftlichen Raum und die zwischenmenschlichen Beziehungen erfasst. Die Tyrannei kümmert sich nicht um den privaten Menschen. Sie lässt alle familiären und kulturellen Interessen außer Acht. Insofern können sich die Menschen unter tyrannischen Herrschaftsformen noch ins private Leben zurückziehen. Diesen Rückzugsort gibt es unter totaler Herrschaft nicht mehr. Sie zerstört selbst noch die als basal angenommenen Formen der Familie und der Freundschaft: „Nur wo diese gemeinsame Welt völlig zerstört und eine in sich völlig unzusammenhängende Gesellschaftsmasse entstanden ist, deren heteronome Gleichförmigkeit aus nicht nur isolierten, sondern auf sich selbst und nichts sonst zurückgeworfenen Individuen besteht, kann die totale Herrschaft ihre volle Macht ausüben, sich ungehindert durchsetzen.“39

Der Sieg des Totalitarismus bedeutet daher einen Freiheitsverlust, wie er sich nie zuvor in der Geschichte ereignet hat. Unter den Bedingungen der völligen Zerstörung der gemeinsamen menschlichen Welt könne man sich, so Arendt, nicht mehr mit der Annahme einer unveränderbaren menschlichen Natur beruhigen, um daraus zu schließen, dass der Mensch als solcher schon nicht zerstört werden könne.40 Totale Herrschaft zerstört die menschliche Welt und folgerichtig die Menschen; sie stößt die Menschen durch die Zerstörung des Raums zwischen ihnen in einen Zustand absoluter Verlassenheit: „In der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt, sondern auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, den Zwiespalt der Ein-

ebenso ohne Präzedenz sind wie der Totalitarismus selbst.“ Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus, a.a.O., S. 26. 39 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 695. 40 Arendt, Hannah: Eine Antwort, a.a.O., S. 50. Dort formuliert sie: „Mit anderen Worten, der Erfolg des Totalitarismus ist identisch mit einer Vernichtung von Freiheit als politischer und menschlicher Wirklichkeit, die sehr viel radikaler ist, als alles, was wir je zuvor erlebt haben.“ Ebd.

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samkeit zu realisieren, und unfähig, die eigene von den anderen bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit zugrunde.“41

Die Radikalität dieser These eines inneren Zusammenhangs von Welt- und Selbstzerstörung erschließt sich, wie bereits im ersten Kapitel gezeigt, wenn man sich den Begriff der Pluralität in Arendts Philosophie des Politischen vergegenwärtigt. Arendt verwendet den Begriff schon in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft – sowohl in der ersten Ausgabe in den Concluding Remarks – als auch später in dem hinzugefügten Abschnitt über Ideologie und Terror. Systematisch wird der Begriff der Pluralität aber erst in Vita activa entwickelt. Pluralität ist für Arendt nicht nur eine conditio sine qua non, sondern auch eine conditio per quam menschlichen Zusammenlebens. Zunächst trägt der Begriff der schlichten Tatsache Rechnung, dass „nicht ein Mensch, sondern viele Menschen [...] die Welt bevölkern“ 42. Dabei ist die menschliche Pluralität kein Resultat einer unendlich variierbaren Reproduktion eines Urmodells, sondern beinhaltet, dass „zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird“43. Arendt bezieht den Begriff der Pluralität sowohl auf das Selbst als auch auf die Welt. In einer Projektbeschreibung für die geplante Introduction into Politics für die Rockefeller Foundation schreibt sie: „In terms of human plurality, there exist two basic modes of being together: to be together with other men and with one’s equals from which springs action, and to be together with one’s self to which the activity of thinking corresponds.“44 Im Selbst ist die Pluralität, so Arendt in Anlehnung an Platon und Sokrates, durch das „Zwei in Einem“

41 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 977. 42 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 14f. Arendt kritisiert die Mythen der Schöpfungsgeschichte, sofern diese alle Menschen aus einem Menschen hervorgehen lassen. Gegen den Adam-Mythos insistiert sie darauf, dass „Gott nicht den Menschen erschuf, sondern die Menschen: und schuf sie einen Mann und ein Weib.“ Ebd. 43 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 15. 44 Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München 1993, S. 200.

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gegeben, den stummen Dialog mit sich selbst (Platon). Oder im Sinne von Sokrates: Das Ich-bin-Ich realisiert sich als Verschiedenheit in der Identität, wenn es sich nicht zu den erscheinenden Dingen, sondern zu sich selbst in Beziehung setzt.45 Das Selbst als Pluralität hat jedoch – und dies ist für Arendt zentral – die Pluralität der Welt zur Voraussetzung, weil die Identität der Subjekte nur durch die Präsenz Anderer im öffentlichen Raum erfahren werden kann. Das Denken ist zwar dialogisch, es bedarf aber der Anderen – der Konfrontation mit der Welt –, um wieder zu Einem zu werden, weil dies durch die Denkfähigkeit selbst nicht geleistet werden kann. Nur dem Anderen erscheint das „Ich“ als „Einer“: „Ohne den Erscheinungsraum [...] wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.“46 Auf die Zerstörung der Pluralität durch den Verlust einer gemeinsamen öffentlichen Welt folgt die Unfähigkeit zu handeln, auf die Zerstörung der Pluralität im Selbst folgt die Unfähigkeit zu denken. Verlassenheit ist ein Zustand, in dem die Pluralität der Menschen sich weder als Selbst im Denken noch als Handeln in der Welt entfalten kann. Verlassenheit kennt keine Pluralität. Dem Faktum der Pluralität – als einer Vielzahl von Menschen, die Verschiedene sind – korrespondiert eine Pluralität von Perspektiven, die der einfachen Tatsache entspringt, dass jede und jeder einen nur ihr und ihm eigenen Ort in der Welt hat.47 Mit der Zerstörung der Pluralität wird folgerichtig auch die Vielzahl der Perspektiven vernichtet, die die gemeinsame Realität erst konstituiert. Dies bedeutet schließlich, dass mit der Zerstörung der Pluralität die objektiven (der Bezug auf eine gemeinsame Realität: die Welt) und subjektiven (das Selbst) Voraussetzungen politischer Urteilskraft nicht mehr

45 Vgl. Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken 1, München 1994, S. 128-155, hier S. 151. 46 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 203. 47 Vgl. Arendt, Hannah: Kultur und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 277-305. Siehe auch Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O.: „Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so dass die um sie Versammelten wissen, dass ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.“ Ebd., S. 57.

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gegeben sind. Und – fast im Vorgriff auf ihre spätere Eichmann-Analyse – formuliert Arendt schon 1953: „Wer den Verkehr zwischen mir und mir selbst [...] nicht kennt, dem wird es nichts ausmachen, sich zu widersprechen, und das heißt, er wird niemals fähig oder willens sein, über das, was er sagt oder tut, Rechenschaft abzulegen; es wird ihm auch nichts ausmachen, irgendein Verbrechen zu begehen, da er sicher sein kann, dass es im nächsten Augenblick vergessen sein wird.“48

(b) Der totalitäre Terror ist es, der dies vollbringt.49 Der Terror ist nach Arendt das Wesen der totalen Herrschaft. Er präsentiert sowohl die Struktur des Staates als auch das Prinzip des Handelns. Im Unterschied zur Tyrannis, in der die Gewalt gegenüber der Opposition mit deren Schwächung abnimmt, ist die Logik des Terrors paradox: er steigert sich umso mehr, je weniger Opposition und Widerstand vorhanden ist. Erst dann, so Arendt, beginnt überhaupt totale Herrschaft. Terror und Ideologie bedingen sich gegenseitig. Während der äußere Zwang des Terrors mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen vernichtet, sichert der innere Zwang des konsequent ideologischen Denkens dem Terror seine Wirksamkeit, „indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten, jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozess hineinreißt, in welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allein der Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können“50. Terror als vermeintlicher Vollstrecker „natürlicher“ oder „geschichtlicher Gesetze“ zerstört die menschliche Pluralität. Er vernichtet den Raum zwischen den Menschen, den „Raum der Freiheit“. Dem Begriff menschlicher Pluralität bei Arendt liegt keineswegs eine Vorstellung von der Natur des Menschen

48 Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral, a.a.O., S. 153. 49 Das Wiederaufleben totalitärer Bewegungen zeige an, „dass politisch neutrale und indifferente Massen die Mehrheit der Bevölkerung auch in einer Demokratie bilden können und dass es also demokratisch regierte Staaten gibt, die zwar im Sinne des Mehrheitsprinzips funktionieren, in denen aber dennoch nur eine Minderheit herrscht oder überhaupt politisch repräsentiert ist.“ Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 670. 50 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 970.

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zugrunde. Arendt hat sich stets geweigert zu bestimmen, was der Mensch seinem Wesen nach ist. Das Einzige, was man über das Wesen der Menschen sagen könne, sei, dass sie bedingte Wesen sind. Und doch zeigt sich in dem Versuch der totalen Beherrschung der Menschen, was „Entmenschung“ bedeutet. Sie ist dann erreicht, „wenn die menschliche Person, die immer eine ganz eigene Mischung aus spontanem und bedingtem Verhalten darstellt, in ein völlig konditioniertes Wesen transformiert worden ist, dessen Verhaltensweisen selbst dann genau vorausberechnet werden können, wenn es in den sicheren Tod geführt wird.“51

Der Terror organisiert die Menschen so, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singular. Im Extrem zeigt sich dies für Arendt in den Konzentrationslagern. Sie demonstrieren, „dass es in der Tat möglich ist, Menschen in Exemplare der menschlichen Tierart zu verwandeln, und dass die ‚Natur‘ nur insofern ‚menschlich‘ ist, als sie es dem Menschen freistellt, etwas höchst Unnatürliches, nämlich ein Mensch, zu werden“52. Totale Herrschaft realisiert sich in der Reduzierung des Menschen auf ein bloßes „Reaktionsbündel“: „Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Hier handelt es sich darum, festzustellen, was überhaupt möglich ist.“53

Die Konzentrations- und Vernichtungslager bilden die Kerninstitution totaler Herrschaft. Bei ihnen handelt es sich um den Versuch, die „menschliche Natur“54 selbst zu transformieren, nämlich die Menschen ihrer Fähigkeit zur Spontaneität im Denken und Handeln zu berauben. Diese Transformation der menschlichen Natur – die „Entmenschung“ – hat eine eigene Pro-

51 Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, a.a.O., S. 24. 52 Ebd., S. 934. 53 Ebd., S. 907. 54 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 940. Vgl. auch Margaret Canovan: Hannah Arendt. A Reinterpretation of Her Political Thought, Cambridge 1992, S. 22f.

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zesslogik. Sie vollzieht sich in drei Schritten: dem Tod der juristischen Person, dem der moralischen Person und dem des Individuums. Der Tod der juristischen Person ist der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zur totalen Herrschaft.55 Das prospektive Opfer wird aller seiner staatlich garantierten Rechte beraubt. Auch die Einlieferung in die Konzentrationslager vollzieht sich jenseits aller Rechtsgrundlagen. Das spezifisch Kennzeichnende der Menschen in den Lagern ist ihre, im strafrechtlichen Sinne, Unschuld. Sie würden niemals zur Ahndung von strafbaren oder sonst verwerflichen Taten eingeliefert. Der zweite Schritt, die Zerstörung der moralischen Person, korrespondiert mit dem Zerfall der gemeinsamen Welt. Welt- und Selbstverlust zerstören das Urteilsvermögen. Der letzte Schritt besteht in der Zerstörung der Individualität, was vor allem durch permanente und systematisch organisierte Folter in den Konzentrationslagern erreicht wird. Das Endergebnis ist die Reduktion menschlicher Wesen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von „identischen Reaktionen“56. Die Zerstörung der Individualität ist der Endpunkt der Transformation der menschlichen Natur. Befähigt „Individualität“ die Menschen, etwas Neues aus eigenen Ressourcen zu beginnen, so ist ihre Zerstörung identisch mit der Zerstörung der prä-politischen Freiheit, der Spontaneität, als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit überhaupt, die sich in jeder Individualität als Grundlage der Pluralität äußert.57 (c) Im ersten Kapitel der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hatte Arendt konstatiert, dass die moderne Gesellschaft durch einen Verlust an „gesundem Menschenverstand“ charakterisiert sei. Die Ideologieanfäl-

55 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 922. 56 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 935. Vgl. auch Horkheimer/Adorno: „Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwanghaft gelenkten Kollektivität.“ in: Dies.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1971, S. 36. Der zentrale Unterschied liegt allerdings darin, dass Horkheimer und Adorno an der zitierten Stelle nicht über die Realität der Konzentrations- und Vernichtungslager, sondern über die der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft sprechen. 57 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 51.

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ligkeit der modernen Massen wachse proportional zu dem Verlust des Gemeinsinns. Ideologien ersetzten zunehmend den Gemeinsinn. An die Stelle des Weltinteresses tritt die Ideologie. Wesentlich für die totale Herrschaft ist die Radikalisierung dieser Tendenz: der qualitative Umschlag von modernen Ideologien im Sinne von Weltanschauungen in totalitäre Ideologien. Ein Merkmal der totalitären Ideologie besteht darin, „aus einer Idee eine Prämisse zu machen, aus einer Einsicht in das, was ist, eine Voraussetzung für das, was sich zwangsläufig einsichtig ereignen soll“58. Genau in diesem Punkt unterscheiden sich die totalitären Ideologien von Ideologien im Sinne von Weltanschauungen. Ihr Ziel ist keineswegs nur die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz oder die revolutionäre Neuordnung der gesellschaftlichen Ordnung. Wie der Terror zielt auch die totalitäre Ideologie auf die Transformation der menschlichen Natur selbst, „die, so wie sie ist, sich dauernd dem totalitären Prozess entgegenstellt“59. Was aber heißt es, wenn Arendt schreibt, dass die totalitäre Ideologie die „Transformation der menschlichen Natur selbst“ zum Ziel hat und diese sich „dauernd dem totalitären Prozess entgegenstellt“? Am besten lässt sich dies erklären, wenn man expliziert, was Arendt unter „ideologischem Denken“ im totalitären Sinne versteht. Ideologisches Denken ist durch vier Momente gekennzeichnet: (1) durch den Anspruch auf totale Welterklärung; (2) durch ein Anknüpfen an reale Erfahrungen, von denen es sich dann emanzipiert; denn die totalitäre Ideologie zeichnet sich durch die Unabhängigkeit von aller Erfahrung und der Emanzipation von der Wirklichkeit aus; (3) durch das Verfahren ihrer Beweisführung selbst und schließlich (4) durch eine Identität von Theorie und Praxis, die die Fähigkeit des Urteilens überflüssig macht. Totalitäre Ideologie beansprucht, den Schlüssel zum Verständnis vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Ereignisse zu besitzen, indem sie die Wirklichkeit auf eine logisch deduzierte Idee, die sich im Namen der Gesetze der Natur oder der Geschichte vollzieht, reduziert. Arendt notiert dazu im Denktagebuch. „Theorie und Praxis in aller totalitären und d.h. eigentlich nur wesentlich ideologischen Politik: Der Schritt von der Theorie in die Praxis ist genau der Schritt vom Azum B-Sagen. Die Logik durchherrscht nicht nur die Praxis selbst und treibt sie in

58 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 967. 59 Ebd., S. 940f.

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die ‚logischen‘ Extreme, sondern ist überhaupt die einzige Möglichkeit, aus dem Theoretischen in das Praktische überzutreten.“60

Die Fiktion, die die totalitäre Ideologie präsentiert, entspricht dem äußeren Zwang des Terrors, insofern dieser realisiert, was die Fiktion fordert. Man könnte auch sagen: Das „formale“ Moment der totalitären Ideologie materialisiert sich im äußeren Zwang des Terrors. Die Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit wird eingeebnet, indem sich die totalitäre Ideologie an die Stelle der Realität setzt, die sich niemals in die Eintönigkeit und Stimmigkeit einer logisch deduzierten Idee pressen lässt. Die Logik des totalitären ideologischen Denkens kann allerdings nur dann greifen, wenn die „gemeinsame Welt“, das „Zwischen“ zerstört ist. Genau diese Voraussetzung war nach Arendt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa gegeben. Im Gegensatz zu sozialistischen Annahmen der zwanziger Jahre, die von einer Verschärfung des Klassengegensatzes durch die imperialistische Politik ausgingen, nahm Arendt an, dass die expandierende kapitalistische Dynamik eine Zersetzung der Klassengesellschaft in dem Sinne bewirke, dass sowohl Klassenmilieus als auch Klassenorganisationen erodierten. Für diesen Erosionsprozess verwendet sie den Begriff der Vermassung: „Totalitäre Bewegungen [...] sind überall da möglich, wo Massen existieren [...]. Massen werden nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten, und ihnen fehlt jedes spezifische Klassenbewusstsein, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt. Der Ausdruck ‚Masse‘ ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen.“61

Der Massenmensch ist ein isoliertes und atomisiertes Individuum, das nicht mehr in einer auf Interessen basierenden Organisation integriert werden kann. Die „spezifische Mentalität europäischer Massen“ verstand Arendt

60 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 204. 61 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 667f.

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als ein Produkt der sozialen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit. Im Mittelpunkt ihrer zeitdiagnostischen Analyse steht die These, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der modernen „Massengesellschaft“, einer spezifischen Form der Weltlosigkeit und der Anfälligkeit der Menschen für totalitäre Ideologien gibt. Arendt begreift die Individuen der Massengesellschaft als „entwurzelte“ und „weltlos“ gewordene Menschen, die über keinen bestimmten Ort mehr verfügen, von dem aus sie ihre je besondere Perspektive verteidigen können. So entsteht eine kommunikative Ohnmacht, die subjektiv mit dem Gefühl des Überflüssigseins korrespondiert. Gerade aufgrund dieser Weltlosigkeit, des Entwurzeltseins bietet die totalitäre Ideologie Sicherheit. Nur deshalb kann Arendt formulieren: „The ideal subject of totalitarian rule is not the convinced Nazi or the convinced Communist, but People for whom the distinction between fact and fiction (i.e. the reality of experience) and the distinction between true and false (i.e., the standards of thought) no longer exist.“62

Die Atomisierung in der „Massengesellschaft“ nimmt den Menschen aber nicht nur den Standort in der Welt. Sie zerstört alle gemeinschaftlichen Bezüge, in dessen Rahmen der gesunde Menschenverstand überhaupt sinnvoll funktionieren kann: „Wo immer aber Menschen vor die an sich unerhörte Alternative gestellt werden, entweder inmitten eines anarchisch wuchernden und jeder Willkür preisgegebenen Verfalls dahinzuvegetieren oder sich der starren und verrückten Stimmigkeit einer Ideologie zu unterwerfen, werden sie den Tod der Konsequenz wählen [...].“63

Erfahrung im Sinne der Wahrnehmung der realen Welt bedarf der Sprache, um bestätigt zu werden. Aber genau das verhindert totale Herrschaft, in dem sie versucht, alle Kommunikationswege zu beherrschen, die privaten wie die öffentlichen, die in konstitutionellen Regierungen durch Rede- und Meinungsfreiheit garantiert werden. Nicht etwa die „Dummheit“ der Massen bewirkt den Erfolg totalitärer Ideologie, sondern vielmehr ihre „Weltlo-

62 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, 2nd Edition, New York 1958, S. 474. 63 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 747.

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sigkeit“. Allein die Flucht in die ideologische Fiktion scheint ihnen noch „ein Minimum von Selbstachtung und Menschenwürde zu garantieren“64. Arendt spricht hier von einer „fiktiven Welt“, die die totalitäre Ideologie präsentiert und vom Terror realisiert wird. In ihr werden die völlig Isolierten und Verlassenen von den totalitären Machthabern zu politischen Aktionen eingesetzt, die nichts mit politischem Handeln gemein haben. Das Spezifikum totaler Herrschaft besteht schließlich in der totalen Mobilisierung der Massen, die darin zugleich deren totale Entpolitisierung quittiert. Ereignisse bilden aus der Perspektive totalitärer Ideologie nur Momente eines sich vollziehenden Natur- bzw. Geschichtsprozesses und erübrigen die Fähigkeit der Urteilskraft: „Der Mangel an Urteilskraft geht hier Hand in Hand mit der eigentümlichen, modernen Selbstlosigkeit, und beides findet nur zu sehr seine Entsprechung in dem Drang der Massen in eine fiktive Welt.“65 Die drei Momente totaler Herrschaft – Ideologie, Terror, Verlassenheit – haben zur Folge, dass der intersubjektive Raum menschlicher Pluralität vernichtet wird und damit auch die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit im Sinne Arendts. Die Deformation der politischen Urteilskraft hat – so lassen sich Arendts Ausführungen zusammenfassen – hierin ihren besonderen Grund: Totale Herrschaft ist tatsächlich das Ende des Politischen, und sie hat im Politischen ihren absoluten Kontrapunkt. Arendt gelangte zu dieser Erkenntnis in Reflexion auf die politischen und gesellschaftlichen Katastrophen ihrer Gegenwart, die allerdings – wie ihre Studien über den Antisemitismus und den Imperialismus und zeigen – eine lange Vorgeschichte hatten.

2.3 D IE ARBEIT DER REFLEKTIERENDEN U RTEILSKRAFT (II): ANTISEMITISMUS UND I MPERIALISMUS Im Folgenden werden die Abschnitte über den Antisemitismus und über den Imperialismus im Hinblick auf die Zerstörung der objektiven und subjektiven Bedingungen der Urteilskraft diskutiert, wobei sich die Darstellung

64 Ebd., S. 747. 65 Ebd., S. 717.

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nicht nur auf die politisch-analytische Ebene, sondern auch auf die geschichtlich-darstellenden Elemente von Arendts Analysen bezieht. Die Bedeutung dieser beiden Kapitel für die Fragestellung dieser Studie liegt darin, dass Arendt den inneren Zusammenhang von Imperialismus und Totalitarismus aufzeigt, der darin besteht, dass er den politischen öffentlichen Raum (historisch den Nationalstaat) zerstört und sich innerhalb dieses äußeren und inneren Zersetzungsprozesses des Nationalstaates die Ideologie und Praxis des Antisemitismus an die Stelle des sensus communis – durch den die Menschen sich im Handeln und Denken orientieren – ersetzt. Zunächst werden die zentralen Thesen des Antisemitismus-Studie (2.3.1), danach die der Imperialismus Studie (2.3.2) dargestellt, um hervor zu heben, dass der Antisemitismus sich erst im Zersetzungsprozess des Nationalstaates, als der Imperialismus bereits im Vordergrund der politischen Ereignisse stand, entwickelt. 2.3.1 Antisemitismus als Weltorientierung „Das eigentliche Neue an der Nazipropaganda war, dass sie den Antisemitismus zu einem Prinzip der Selbstbestimmung machte und ihn damit dem ewigen Strom der Meinungen entzog.“66

Wenn Arendt schreibt, dass Ideologien unter anderem dem Zweck dienen, die gültigen Regeln des gesunden Menschenverstandes außer Kraft zu setzen, so können sie, und in diesem Zusammenhang der Antisemitismus, den Raum des Politischen, in dem der sensus communis die Menschen in der Welt im Denken und Handeln orientiert, ersetzen: „Die Ideologieanfälligkeit der modernen Massen wächst genau in dem Maß, wie gesunder Menschenverstand [...] offenbar nicht mehr zureicht, die öffentliche politische Welt und ihrer Ereignisse zu verstehen.“67 Diese öffentliche politische Welt wurde, wie im nächsten Abschnitt noch gezeigt wird, durch den Imperialismus, also im Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft einerseits und

66 Ebd., S. 753. 67 Ebd., S. 41f.

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Staat und Nation andererseits zerstört. Was übrig blieb, war der sensus logicus: „Die Gemeinsamkeit, die sich in ihm kundgab, war nun nicht mehr die dem Gemeinsinn zugängliche Gemeinsamkeit einer Außenwelt, sondern lediglich die Tatsache, dass er als Räsonnement in allen Menschen gleich funktionierte; was die Menschen des gesunden Menschenverstands miteinander gemein haben ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur [...].“68

Was sich hier ereignet, ist der Verlust der Orientierungsmöglichkeit im Denken und Handeln der Menschen. Der Gemeinsinn im Sinne Kants ist der Sinn, durch den alle unsere Sinne, die „von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden“69. Gerade in der Verbindung zwischen Terror und Ideologie liegt das wirklich Neuartige der totalitären Ideologie. Es ist die unmittelbare Umsetzung von ideologischem Inhalt in lebendige Wirklichkeit durch Organisation: „Die Nazibewegung, weit entfernt davon, Leute zu organisieren, die zufällig an den Rassismus glaubten, organisierte sie vielmehr nach objektiven Rassenkriterien, so dass die Rassenideologie nicht mehr Gegenstand einer bloßen Meinung, einer Auseinandersetzung oder auch des Fanatismus war, sondern für die tatsächliche Lebenswirklichkeit konstitutiv wurde, zunächst in der Nazibewegung und dann in ganz Deutschland, wo die Menge der Nahrungsmittel, die man erhielt, die Berufswahl und die Frau, die man heiratete, von der Rassenphysiognomie und rassischen Abstammung der Vorfahren abhingen. Die Nazis glaubten im Unterschied zu anderen Rassisten nicht so sehr an die Wahrheit des Rassismus, sie wünschten vielmehr die Welt in eine Rassenwirklichkeit zu verwandeln.“70

Der Antisemitismus als totalitäre Ideologie und Praxis bestimmt die Wahrnehmung der Wirklichkeit, sie beherrscht die Menschen von innen und gerade hieran erweist sich auch die Neuartigkeit des Phänomens totaler Herrschaft, denn diese begnügt sich nicht damit den Menschen von außen zu

68 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 275. 69 Ebd., S. 275. 70 Arendt, Hannah: Über das Wesen des Totalitarismus, a.a.O., S. 41.

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beherrschen, indem die Möglichkeit zum politischen Handeln zerstört wird, sie erfasst den Menschen durch die totalitäre Ideologie von innen. Damit werden jedoch die Bedingungen der Möglichkeit eines Funktionierens der Urteilskraft auch subjektiv zerstört. Denn die Urteilskraft, als dem Vermögen des Geistes, sich mit dem Besonderen zu befassen, ist auf die Bedingung der Geselligkeit des Menschen angewiesen. Das heißt aber, dass das Vermögen der Urteilskraft nur funktionieren kann, wenn es einen öffentlichen Raum gibt. Ohne diesen öffentlichen Raum bleibt nur der sensus communis logicus übrig: „Der subjektivierte ‚common sense‘ ist die Logik. Anders ausgedrückt: Die Logik ist das einzige, was den common sense ersetzen kann. Statt eines Sinnes, der die partikularen Sinne ins Gemeinsame führt und so erst die sinnlich erfahrene Welt zu einer gemeinsamen Welt, haben wir jetzt eine subjektive, von aller Erfahrung ganz unabhängige ‚Fähigkeit‘, die in der Tat identisch in allen sitzt.“71

In einer historisch-darstellenden Form untersucht Arendt die Frage, warum es gerade die „Judenfrage“ war, die sich zur totalitären Ideologie entwickeln konnte; warum also ausgerechnet die „Judenfrage“ die fragwürdige Ehre gewann, die Vernichtungsmaschinerie der Nazis in Bewegung zu setzen konnte. Um dies historisch nicht zu verkürzen, analysiert sie zunächst die Vorgeschichte des totalitären Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Dabei beansprucht sie keineswegs, eine umfassende Geschichte oder gar Theorie des Antisemitismus vorzulegen, sondern hebt nur das an der Entwicklung des Antisemitismus hervor, was sich an deren Ende als entscheidend herausstellte, um dann diese Elemente historisch zurück zu verfolgen. Das Antisemitismus-Kapitel analysiere, so heißt es im Vorwort, „die jüdische Geschichte in Mittel- und Westeuropa von der Zeit der Hofjuden bis zur Dreyfus-Affäre, soweit sie die Geburt des Antisemitismus beeinflusste oder von ihr beeinflusst wurde“72. In expliziter Abgrenzung von der zeitgleich entstandenen Abhandlung Réflexions sur la Question Juive73 in der JeanPaul Sartre die These exponiert, dass der Antisemitismus nichts mit den

71 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 342. 72 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 28. 73 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage, in: Ders.: Drei Essays, Frankfurt a.M. 1972, S. 108-190.

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Juden zu tun habe, vielmehr „der Jude“ eine Erfindung der Antisemiten sei, thematisiert Arendt die antisemitischen Bewegungen „in den faktischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, d.h. in der Rolle, die Juden in der Entwicklung des Nationalstaates einerseits und in der nichtjüdischen Gesellschaft andererseits spielten“74. Sartres These ist für Arendts Begriffe nicht nur historisch unhaltbar. Sie sei nachgerade politisch gefährlich, weil sie konstatiere, dass die jüdische Identität ohne Antisemitismus nicht zu denken sei, was zugleich bedeute, dass das Festhalten an einer jüdischen Identität auch das Fortleben des Antisemitismus garantiere. Sartre negiere die historische Individuation des jüdischen Volkes. Er verkenne zudem das grundsätzliche politische Problem, dass darin bestehe, wie das Existenzrecht von Minderheiten im modernen Staat zu garantieren sei. Dagegen unterscheidet Arendt zwischen traditionellem Judenhass einerseits und Antisemitismus andererseits, der ein historisch junges, nämlich modernes Phänomen darstellt, das als politisches erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftaucht, um dann in Gestalt einer säkularen politischen Ideologe eine zentrale Rolle im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts zu übernehmen. Arendt unterscheidet also nicht nur zwischen traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus, sondern auch zwischen einem vortotalitären, sozialen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und einem totalitären, politischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Im Antisemitismus-Kapitel beschäftigt sie sich ausschließlich mit der vortotalitären Variante des Antisemitismus. Es ist diese Variante, die Arendt als Produkt der sich historisch wandelnden Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden versteht, näherhin als eine geschichtliche Konsequenz aus der spezifischen Rolle und Funktion, welche die Juden im modernen Nationalstaat einnahmen. Die Konklusionen aus dieser Deutung fallen freilich nicht weniger provokant aus als diejenigen Sartres. Ist der vortotalitäre Antisemitismus ein Produkt der historischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, dann sind die Juden ihrerseits – so schlussfolgert Arendt – für den Antisemitismus genauso verantwortlich wie die Antisemiten. Aber genau diese spezifische politische Verantwortung der Juden, die sich jedem, der historisch über das Problem nachdenke, aufzwinge, die aber durch die Juden – von einigen Ausnahmen abgesehen – bis ins 20. Jahrhundert hinein nie wirklich angenommen, nie in eine jüdische Politik umgesetzt worden sei – ein Sachver-

74 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 28.

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halt, den Arendt auf die spezifische „Weltlosigkeit“ eines Volkes ohne Regierung, ohne Land und ohne Sprache zurückführt –, würde von den gängigen Antisemitismustheorien geleugnet. Arendts These lautet, dass das Aufkommen des modernen Antisemitismus als politischer Bewegung mit dem Zerfall des Nationalstaats und dem Triumph des Imperialismus einhergehe. Um diese Parallelentwicklung nachzuvollziehen, müsse man untersuchen, welche Rolle die Juden im Nationalstaat spielten, wie sich das Verhältnis der Juden zum Staat einerseits, zur Gesellschaft andererseits entwickelt habe. Dabei richtet sich Arendts Interesse vor allem auf die inneren Widersprüche des Nationalstaats, der in seinem Niedergang die Elemente freisetze, aus denen sich im 20. Jahrhundert die Form totaler Herrschaft ergebe. Bemerkenswert sei die zeitliche Koinzidenz des Niedergangs des Nationalstaates und des Aufkommens politisch organisierter antisemitischer Bewegungen: „Die Gleichzeitigkeit des Zusammenbruchs eines in Nationalstaaten organisierten Europas und der Ausrottung der Juden, die sich in dem Sieg der antisemitischen Ideologie über alle anderen Ideologien in der öffentlichen Meinung vorbereitete.“75 Die Koinzidenz vom Aufkommen der antisemitischen Bewegung und dem Niedergang des Nationalstaats haben manche Interpreten dazu verleitet, anzunehmen, dass eine der Hauptursachen des modernen Antisemitismus im Nationalismus zu finden sei. Arendt hat jedoch aus dem von ihr zuerst in dieser Schärfe diagnostizierten Sachverhalt diesen Schluss nicht gezogen. Es sei zwar verständlich den Aussagen und Quellen der Nazis keinen Glauben schenken zu wollen, aber die Gleichsetzung von Antisemitismus mit Chauvinismus und Xenophobie würde dadurch widerlegt werden, dass der Antisemitismus in genau dem Maße zunahm, wie das traditionelle Nationalgefühl „und das rein nationalistische Denken an Intensität abnahmen“76. Arendt weiß, dass der Niedergang des Nationalstaats und das Anwachsen der antisemitischen Bewegungen nicht auf eine einfache Ursache zurückgeführt werden kann. Entschieden wendet sie sich gegen das Argument, dass der Antisemitismus eher zufällig zum Kern und Kristallisationspunkt der nazistischen Ideologie und Praxis geworden sei. Weder die – ihrerseits antisemitische – Annahme, dass der Ausbruch eines so genannten „Volkshasses“ Ausdruck einer „außerordentlichen jüdischen Machtpositi-

75 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 42. 76 Ebd., S. 30.

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on“77 sei, noch die Vorstellung, die von der Machtlosigkeit der Juden ausgeht und sich vor diesem Hintergrund auf eine Theorie des Sündenbocks beschränkt, finden Arendts Zustimmung. Der Antisemitismus ist, so Arendt, „genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für die Juden und sonst nichts“78. Gegen die Sündenbocktheorie – wie übrigens auch gegen die Vorstellung eines „ewigen Antisemitismus“ – wendet sie sich deshalb, weil dieser Erklärungsansatz nicht nur das Spezifische des Phänomens verfehle, sondern komplett a-historisch verfahre und die gemeinsame Geschichte von Juden und Nichtjuden in Europa negiere. In dieser Theorie seien die Juden nichts anderes als Opfer. Gerade weil der Antisemitismus sich als „erfolgreichstes Mittel“ zur Aufreizung und Organisierung der Massen gegen die existierende Staatsform erwiesen habe, sei es naheliegend, dass in der Geschichte des Verhältnisses zwischen Juden und bürgerlichem Staat der Schlüssel zur Erklärung der wachsenden Feindseligkeit gegen die Juden zu finden sei.79 Das gleiche Argument treffe auch auf die These vom „ewigen Antisemitismus" zu, auch hier handele es sich um eine a-historische Mystifizierung des Problems, die nichts erkläre, sondern alles vernebele. Allein die genaue Erinnerung der Verwicklungen zwischen der modernen jüdischen und der modernen europäischen Geschichte biete die Chance, den „Ursprüngen“ des Antisemitismus auf die Spur zu kommen. Ausgangspunkt ihrer Überlegung ist das auf den ersten Blick paradoxe Faktum, dass das Entstehen und Anwachsen des modernen Antisemitismus mit dem Prozess der jüdischen Assimilation, der Säkularisierung und dem Absterben der alten religiösen und geistigen Gehalte des Judentums einhergeht, dass vor allem aber der politische Antisemitismus zu einem Zeitpunkt erstarkt, wo die Juden in Europa ihre öffentliche Macht und ihre einflussreichen Stellungen im Staat annähernd vollständig verloren hatten.80 Diese Einbußen führt Arendt unmittelbar auf den Triumph des Imperialismus zurück. Hatte sich mit der Entstehung und Entwicklung des europäischen Nationalstaats auch ein als Financiers, Berater und Vermittler staatlicher Transaktionen mächtiges Judentum in Europa entwickeln können, ohne dass die Juden je in die Klassengesellschaft integriert wurden, noch sich

77 Ebd., S. 34. 78 Ebd., S. 38. 79 Vgl. ebd., S. 42f. 80 Vgl. ebd., S. 30.

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integrieren wollten, so begleitet die faktische Depotenzierung dieser spezifischen, im Alltagsbewusstsein mit dem Staat und dem Kapital identifizierten Gruppe den Zerfall des Nationalstaats im imperialistischen Zeitalter. Der Hass gegen sie wird epidemisch genau ab dem Zeitpunkt, wo sie das Monopol der Staatstransaktionen und damit ihre Machtstellung verlieren, ihr fortdauernder Reichtum als „überflüssig“ erscheint: „Nur Reichtum ohne Macht und Hochmut ohne politischen Willen werden als parasitär, überflüssig und herausfordernd empfunden; sie fordern das Ressentiment heraus.“81 Arendt zeichnet den Prozess des Aufstiegs und Niedergangs des west- und zentraleuropäischen Judentums ausgehend von den in persönlicher Loyalität zum Adel stehenden „Hofjuden“ im 17. und 18. Jahrhundert über die „jüdischen Staatsbankiers“ im 19. Jahrhundert bis zur DreyfusAffäre in seinen verschiedenen Stadien nach. War die Judenfeindlichkeit vom Beginn bis zum Ende der Epoche des Nationalstaats an die bestimmte, „staatstragende“ Rolle der Juden im Nationalstaat und somit an reale Interessengegensätze zwischen Nicht-Juden und Juden gebunden, so zeichnet sich der antisemitische Hass im imperialistischen Zeitalter gerade dadurch aus, dass er jeden Bezug zu den Realitäten der modernen jüdischen Geschichte verloren hatte. Diese spezifische Irrationalität, eine vom ressentimenthaften Gedanken der Überflüssigkeit der Juden getragene Erfahrungslosigkeit, charakterisiert, so Arendt, den Antisemitismus als politische Ideologie, die schließlich zum Kernelement des Nationalsozialismus werden sollte. In einem Brief an Jaspers vom 17. August 1946 benennt Arendt den Formwandel des Antisemitismus im Imperialismus, also die Differenz zwischen dem noch realitätshaltigen nationalstaatlichen und dem völlig realitätslos gewordenen imperialistischen Antisemitismus: „Ich unterscheide in der Moderne den Antisemitismus im Nationalstaat (beginnend in Deutschland mit den Freiheitskriegen, endend mit der Dreyfusaffäre in Frankreich), der daraus entstanden ist, dass die Juden als eine dem Staatsapparat besonders nützliche und von ihm besonders protegierte Gruppe auftreten, was zur Folge hatte, dass jede Gruppe in der Bevölkerung, die mit dem Staatsapparat in Konflikt kam, antisemitisch wurde, von dem Antisemitismus des imperialistischen Zeitalters

81 Ebd., S. 28.

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(der in den achtziger Jahren begann). Der letztere organisiert sich von vornherein international.“82

Während der nationalstaatlich gebundene Antisemitismus des 19. Jahrhunderts „lediglich“ die Exklusion der Juden forderte, um die Nation von „fremden Elementen“ zu säubern, zielt der transnationale Antisemitismus im Zeitalter des Imperialismus und Rassismus auf die Extermination der Juden aus der menschlichen „Rasse“. Mit dieser These von der Transformation des nationalstaatlich gebundenen in einen supranationalen Vernichtungsantisemitismus endet der Abschnitt über den Antisemitismus. Die Imperialismus-Studie diskutiert das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (von Citoyen und Bourgeois) und das Verhältnis von Staat und Nation, die beide durch den Imperialismus tiefgreifend verändert wurden. In Anlehnung und Kritik an Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie formuliert Arendt die These, dass der Imperialismus die politischen Institutionen aushöhle und damit den modernen Nationalstaat sowohl bedroht als auch dessen konzeptionelle Schwächen ans Tageslicht bringt. Die konstitutionelle Schwäche des Nationalstaates zeigt sich darin, dass dieser als politisches Gemeinwesen universalistisch Menschenrechte propagiert, aber nur partikularistisch Bürgerrechte garantiert. Die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen wird zwar durch den Staat bestimmt, die aber durch die Vorstellung einer Homogenität der Nation unterminiert wird, deshalb spricht Arendt in diesem Zusammenhang von der „Eroberung des Staates durch die Nation“83. 2.3.2 Imperialismus: Die Aushöhlung politischer Institutionen und die Aporien der Menschenrechte Ohne Berücksichtigung der Imperialismusstudie muss Arendts Analyse der totalen Herrschaft missverstanden werden.84 Rezipienten sowohl der politi-

82 Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926-1969, München 1987, Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 17. August 1946, S. 88. 83 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 489. 84 Vgl. Zaretsky, Eli: Arendt and the Meaning of the Public/Private Distinction, in: Calhoun, Craig/McGowan, John (Hg.), Hannah Arendt and the Meaning of Politics, Minneapolis 1997, S. 207-232. Zaretsky hat diese Perspektive unter dem

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schen Linken als auch der Rechten konnten sich auf Arendt berufen, indem sie sich jeweils blind machten gegenüber der doppelten Frontstellung in ihrer Analyse. Arendt kritisiert die marxistische wie die liberalistische Theorietradition. Doch ist die kapitalismuskritische Stoßrichtung ihrer Totalitarismusanalyse kaum zur Kenntnis genommen worden. Wie zentral das Imperialismus-Kapitel hingegen für Arendts Interpretation der Entstehung totalitärer Herrschaftsformen ist, belegt ein prägnanter Satz aus ihrer Rezension von J.-T. Delos Buch „The Nation“: „And neither the racism of modern nationalism nor the power-craziness of the modern state can be explained without a proper understanding of the structure of imperialism.“85 Betont Arendt also den inneren Zusammenhang von Imperialismus und Totalitarismus, der darin besteht, dass er den institutionellen Rahmen des Politischen bedroht, so kritisiert sie zugleich die blinden Flecken „sozialistischer“ Imperialismustheorien. Diese hätten die politische Struktur des Imperialismus verkannt. Zwar verdanke man „sozialistischen Theoretikern“ wie Hobson in England, Hilferding in Deutschland und Lenin in Russland eine frühzeitige Entdeckung der ökonomischen Triebkräfte des Imperialismus. Da sie den Staat aber als bloße Funktion des Kapitals missverstünden, gerate auch ihre Kritik am Imperialismus reduktionistisch.86 Den „sozialistischen“ Theoretikern fehle eine trennscharfe Unterscheidung zwischen der kapitalistischen Form der Gesellschaft und der nationalen Form des Staates; und ihnen fehle zudem ein Begriff von den inneren Widersprüchen des mo-

Aspekt der Dichotomie von Öffentlichkeit/Privatheit im arendtschen Werk gewählt. Zu Recht hat er darauf hingewiesen, dass „Arendts likening of Nazism and Stalinism in part 3 of her book led the left of her day to ignore the fact that parts 1 and 2 explain totalitarianism as the product of quintessentially capitalist trends.“ Ebd., hier S. 211. Siehe auch Schindler, Roland: Geglückte Zeit – gestundete Zeit. Hannah Arendts Kritik der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, Brunkhorst, Hauke: Hannah Arendt. München 1999. 85 Arendt, Hannah: The Nation, in: Dies.: Essays in Understanding 1930-1954, New York 1994, S. 206-211, hier S. 211. 86 Exakt auf diese Blindstelle der marxistischen Imperialismuskritik bezieht sich Arendts Polemik gegen Lenin: „Man hat den Imperialismus vielfach als das letzte Stadium des Kapitalismus bezeichnet; er ist jedenfalls das erste (und vielleicht zugleich auch das letzte Stadium) der politischen Herrschaft der Bourgeoisie gewesen.“ Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 316.

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dernen Nationalstaats, seines universellen Rechtsprinzips einerseits, seines partikularen Demokratie- und Souveränitätsprinzips andererseits. Auf dieser Begriffslosigkeit aber beruhe ihre Imperialismuskritik. So sei etwa die Annahme einer Koinzidenz von Nationalismus und Imperialismus eine glatte Fehlanalyse. Sie beruhe auf einer Verkehrung von Ursache und Wirkung, die dadurch zustande komme, dass „der Nationalstaat, der mehr als irgendeine andere Staatsform auf Begrenztheit des Territoriums und einer mit dem Territorium gegebenen homogenen Bevölkerung beruht, den Boden abgeben sollte, auf dem die imperialistische Expansionsbewegung erwuchs.“87

Es ist der Widerspruch zwischen kapitalistischem Expansionstrieb und nationalstaatlicher Grenzziehung, den Arendt gegen die „sozialistischen Theoretiker“ in den Vordergrund rückt: „Der Imperialismus entstand, als die Industrialisierung der kapitalistisch bewirtschafteten Länder sich bis an die Landesgrenzen ausgebreitet hatte und es sich herausstellte, dass diese Landesgrenzen nicht nur einer weiteren Expansion im Wege stehen würden, sondern damit den ganzen Industrialisierungsprozess aufs schwerste bedrohen könnten.“88

Die kapitalistische Produktionsweise, die zur Erhaltung ihrer selbst des Imperialismus bedürfe, zerstöre dadurch die institutionellen Grenzen politischer Gemeinwesen. Zudem nivelliere der Imperialismus die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft: „Im Zeitalter des Imperialismus, als die Bourgeoisie die kapitalistischen Konkurrenz- und Produktionsgesetze in die Politik trug, wurden die Grundlagen des Nationalstaates, der ja gerade auf der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft beruht hatte, untergraben.“89 Die Unvereinbarkeit von kapitalistischer Produktionsweise und nationaler Staatsform wohne schließlich eine Dynamik der Zerstörung des nationalstaatlich eingehegten Raums des Politischen inne:

87 Ebd., S. 301. 88 Ebd., S. 290f. 89 Ebd., S. 56.

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„Ist der imperialistische Prozeß der Ausdehnung erst einmal losgelassen, so können politische Gemeinschaften sich ihm nur als hinderlich erweisen und von ihm zerstört werden, und dies gilt für die Institutionen des Mutterlandes genauso wie für die der Kolonialvölker.“90

Der Nationalstaat kollidiert mit dem Imperialismus auch insofern, als jener jenseits des „eigenen Volkes“ und jenseits des nationalen Territoriums keinen Geltungsanspruch erheben kann. Aus diesem Grunde weckte der Nationalstaat, „wo immer er als Eroberer auftrat, das Nationalbewusstsein in den eroberten Völkern und mit ihm einen Anspruch auf Selbstherrschaft, gegen den die Nation prinzipiell wehrlos war; alle nationalen Versuche, Reiche von Bestand zu bilden, sind an diesem Widerspruch gescheitert und haben die Nationalstaaten in tödliche Widersprüche verwickelt.“91

Wie im Hobbesschen „Naturzustand“ des bellum omnium contra omnes das Individuum in der Gesellschaft durch den Konkurrenzkampf bestimmt werde, „so muss ein auf diese Gesellschaft gegründeter Staat, der seine Macht erhalten will, dauernd danach streben, mehr Macht zu erwerben. Nur in der dauernden Machterweiterung, im Prozess der Machtakkumulation, kann er sich stabil halten“92. Die Eroberung des Staates durch die Gesellschaft folge dem Prinzip des Kapitals, aber als Machtakkumulation. Der unbegrenzte Prozess der Kapitalakkumulation bedürfe zu seiner Sicherstellung einer „unbegrenzten Macht“, nämlich eines Prozesses von Machtakkumulation, „der durch nichts begrenzt werden darf außer durch die jeweiligen Bedürf-

90 Ebd., S. 314. 91 Ebd., S. 239. Viele Jahre später, auf einer Konferenz im November 1972, die von der Toronto Society über ihr Werk veranstaltet wurde und an der Arendt selbst teilnahm, antwortete sie auf die Frage nach ihrer Einschätzung zu Marx, dass er eine Sache nicht verstanden habe, nämlich was Macht sei: „Er verstand diese eindeutig politische Sache nicht. Aber er sah eine Sache, nämlich, dass der Kapitalismus, sich selbst überlassen, eine Tendenz hat, alle Gesetze, die seinem grausamen Fortschritt im Wege stehen, außer Kraft zu setzen.“ Arendt, Hannah: Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, a.a.O., S. 109. 92 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 324.

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nisse der Kapitalakkumulation“. In diesem Sinne ist Arendts Kritik an Rosa Luxemburg eher als Radikalisierung denn als Verwerfung zu verstehen. Arendt folgt Luxemburgs These, dass der Kapitalismus nichtkapitalistischer Länder und gesellschaftlicher Bereiche zur eigenen Erhaltung bedarf.93 Anders als Luxemburg aber überträgt Arendt diese Argumentation auf die staatlichen Institutionen, die durch den Prozess der Kapitalakkumulation in dessen Dienst gestellt werden. Dabei überträgt sie die Logik des Kapitals auf den Staat als Machtakkumulation. Diese Machtakkumulation wird von ihr als immaterieller Mechanismus verstanden: „Dem angesammelten Reichtum wird aber nicht die Produktivität der Arbeit entgegengehalten, sondern einzig die Entwicklung und automatische Akkumulation jener totalen organisatorischen Macht, die materielle Schätze nur zu verzehren, aber weder aufzubauen noch zu nutzen imstande ist.“94

Die Epoche des Imperialismus zeige die gegenseitige Abhängigkeit von Kapitalakkumulation und Machtakkumulation. Die so verstandene gesellschaftliche Macht präsentiere sich nach außen hin als Fortschrittsideologie im Namen der Nation, die die realen Konfliktherde innerhalb der Gesellschaft zudecke. Arendts Kritik am Nationalstaat ist ebenso bewahrend wie verwerfend. Einerseits verteidigt sie den Nationalstaat als Form eines politischen Gemeinwesens gegen den Imperialismus. Andererseits zeigt sie, dass in der Phase des Imperialismus die Konflikte aufbrechen, die dem modernen Nationalstaat von Anbeginn innewohnten. Sei der Nationalstaat historisch einerseits das „stärkste Bollwerk“95 im Konflikt zwischen politischer Form und kapitalistischer Gesellschaft, der sich in der Epoche des Imperialismus in dramatischer Weise zuspitze, so lasse diese Entwicklung

93 „Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als einer Umgebung. [...] Er braucht nichtkapitalistische Schichten als Absatzmarkt für seinen Mehrwert, als Bezugsquellen seiner Produktionsmittel und als Reservoirs der Arbeitskräfte für sein Lohnsystem.“ Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (1923), Archiv sozialistischer Literatur I, Frankfurt a.M. 1970, hier S. 270. 94 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 866. 95 Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition, Frankfurt a.M. 1976, S. 29.

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andererseits die inhärenten Widersprüche des nationalstaatlichen Prinzips hervortreten.96 Die Grenze des Staates gegenüber anderen Staaten und die innerstaatliche Grenzziehung zur Gesellschaft würden durch die expandierende kapitalistische Produktionsweise unterminiert. Die Eroberung des Citoyen durch den Bourgeois vollziehe sich in der Vermischung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre, in der die politische Gleichheit durch den gesellschaftlichen Status der Ungleichheit unterhöhlt werde. Die Maßstäbe des Politischen wichen den Maßstäben des Gesellschaftlichen. Im Unterschied zu sozialistischen Annahmen einer Verschärfung des Klassengegensatzes durch die imperialistische Politik forciere diese eher die Entstehung von Massengesellschaften, in der die Klassenauseinandersetzung stillgestellt werde. Innerhalb dieses Prozesses drohe das Politische irreversibel zerstört zu werden. Für Politik in der emphatischen Bestimmung einer Philosophie des Politischen Arendts gibt es in der modernen Massengesellschaft schlechterdings keinen Ort mehr. Das wesentliche Moment der Massengesellschaft zeigt sich für Arendt gerade in ihrer Weltlosigkeit, insofern jene ihre Kraft einbüßt „zu versammeln, das heißt zu trennen und zu verbinden“97. Arendt bezeichnet die Individuen der Massengesellschaft folgerichtig als „entwurzelte“ und „weltlos“ gewordene Menschen, die über keinen bestimmten Ort mehr verfügen, von dem aus sie ihre je besondere Perspektive zu vertreten vermöchten. Die entgrenzende Gewalt des Imperialismus, so lautet die These, unterminierte die Bedingungen des Politischen. Indem er die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft in die moderne Massengesellschaft forcierte, bereitete er den Boden für die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Zentral aber für die Analyse der Elemente totaler Herrschaft ist eine Differenzierung im Begriff des Imperialismus selbst. Arendt, die das Zeitalter des Imperialismus von 1884 bis 1914 datiert, unterscheidet zwischen der „überseeischen“ und der „kontinentalen“ Variante des Imperialismus. Zwar haben beide Varianten eine staatsfeindliche Stoßrichtung, aber ihr Verhältnis zum Nationalismus ist unterschiedlich. Korrespondiere der überseeische Imperialismus mit dem konstitutionellen Nationalismus westlicher Prägung, wie er sich historisch seit der Französischen Revolution in Form von politischen Nationalstaaten durchgesetzt hat, so der kontinentale Imperialismus mit einem völkischen Natio-

96 Vgl. auch Brunkhorst, Hauke: Hannah Arendt, a.a.O., S. 84f. 97 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 52.

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nalismus der „verspäteten Nationen“ (Plessner) Mittel- und Osteuropas. In dieser Variante des Imperialismus und Nationalismus sieht Arendt die entscheidende Keimzelle des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts: „So wie der kontinentale Imperialismus in den Ländern entsteht, die glauben, bei der Neuverteilung der Erde im imperialistischen Zeitalter zu kurz gekommen zu sein, so verbreitet sich der völkische Nationalismus überall da, wo europäischen Völkern eine nationale Emanzipation gar nicht oder nur halb gelungen war.“98

Der völkische Nationalismus ist ein Produkt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihn kennzeichnet die Verwerfung des demokratischen Volksbegriffs des 18. Jahrhunderts, wie er dem konstitutionellen Nationalismus westlicher Prägung zugrunde liegt. Der völkische Nationalismus existenzialisiert nicht nur den Begriff des Volks als natürliche, vorpolitische Einheit. Er transformiert, wie Arendt schreibt, „sämtliche soziologischen Tatbestände in biologische“ und erhebe so „die Regeln des Tierreiches zu Gesetzen menschlicher Politik“. Spezifisch für die Form des völkischen Nationalismus ist seine rassistische Komponente: „Man kann den völkischen Nationalismus immer daran erkennen, dass er im Grunde alles, was zu sichtbaren Existenz der eigenen Nation gehört, ihre Traditionen, ihre politischen Einrichtungen, ihre Kultur, an diesen fingierten Maßstäben des ‚Blutes‘ mißt und verurteilt.“99

Im völkischen Nationalismus wird der Antisemitismus rassistisch und der Rassismus antisemitisch. In ihm vollzieht sich der Formwandel des nationalstaatlich „gemäßigten“ Antisemitismus in einen supranationalen Vernichtungsantisemitismus.100 Um schließlich auf die Ausgangsfrage Arendts zurückzukommen, warum „die Judenfrage“ zum Katalysator in einem Prozess wurde, der zunächst den Aufstieg der Nazibewegung, dann einen Weltkrieg und schließlich inmitten der modernen Zivilisation einen bei-

98 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 483. 99 Ebd., S. 482. 100 Vgl. hierzu Stender, Wolfram: Vom völkischen Nationalismus zum Ethnonationalismus. Ideologieproduktion in Deutschland, in: Zuckermann, Moshe (Hg.), Ethnizität, Moderne und Enttraditionalisierung, Göttingen 2002, S. 50-64.

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spiellosen Völkermord hervorbrachte, kann man nach dem Durchgang durch die ersten beiden Kapitel des Buches resümieren, dass der Antisemitismus in den geschichtlichen Kontext des Aufstiegs und Untergangs moderner Nationalstaaten gehört, dass Imperialismus und Rassismus die neue Form eines supranationalen Antisemitismus erzeugen und dass dieser in der „verspäteten Nation“ Deutschland am Ende in einem Vernichtungsantisemitismus kulminierte. Gegen Schluss des zweiten Teils der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft findet sich ein Kapitel, das einer besonderen Würdigung bedarf, nicht nur weil es ein Entsetzen formuliert, dessen Grund in der Gegenwart fortdauert, sondern auch weil es für ein zureichendes Verständnis der Neubestimmung des Politischen bei Arendt unverzichtbar ist: Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte.. Der dem Nationalstaat von Anbeginn innewohnende Konflikt zwischen Staat und Nation hatte, wie Arendts Antisemitismusanalyse zeigte, tiefgreifende Konsequenzen für das Schicksal der Minderheit par excellence, also der Juden. Jetzt greift sie diese Beobachtung wieder auf und verallgemeinert sie. Der innere Widerspruch der Nationalstaatskonstruktion, die universalistisch und abstrakt allgemeine Menschenrechte postuliert, den Bürgerrechten aber partikularistisch nationale Grenzen zieht, manifestierte sich in der Geschichte der europäischen Juden darin, dass ihrer politischen Emanzipation nie die gesellschaftliche Anerkennung als einer „nation within a nation“ korrespondierte. Die Alternative hieß Assimilation oder Segregation, Parvenü oder Paria, tertium non datur. Im Zeitalter des Imperialismus universalisiert sich diese jüdische Erfahrung. Diesen Zustand der Welt- und Rechtlosigkeit, den Arendt auch auf den Begriff der Überflüssigkeit bringt, exemplifiziert sie an einem Phänomen, das ihr aus eigener lebensgeschichtlicher Erfahrung nur allzu vertraut war, dem Phänomen der Staatenlosigkeit. Eine Folge des ersten Weltkriegs war nicht nur die Kodifizierung des Status von „Minderheiten“ in den Friedensverträgen von 1919/20, sondern auch – als Nebenprodukt der politischen Ereignisse – eine Erscheinung, die in dieser Form und dieser Größenordnung bis dahin unbekannt gewesen war: Eine Vielzahl von Staatenlosen bevölkerte Europa, die außerhalb aller Gesetze standen und dort, wo sie Aufnahme fanden, auf Duldung angewiesen waren. Diese Staatenlosen hatten nicht nur ihre alte Heimat verloren. Sie konnten auch keine neue Heimat finden:

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„Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden. Jählings gab es auf der Erde keinen Platz mehr, wohin Wanderer gehen konnten, ohne den schärfsten Einschränkungen unterworfen zu sein, kein Land, das sie assimilierte, kein Territorium, auf dem sie eine neue Gemeinschaft errichten konnten.“101

Diese „Displaced persons“ hatten buchstäblich keinen Platz mehr in der Welt, keinen Ort, wo sie hingehörten. Arendt nennt diesen Zustand – wie den der Vermassung und den der Segregation im Ghetto – „weltlos“, ja er ist für sie geradezu der Inbegriff von „Weltlosigkeit“. Der Staatenlose ist Arendts Schreckbild einer Menschheit nach dem Rückfall in die Barbarei.102 Er gehört keinem politischen Gemeinwesen, keiner menschlichen Gemeinschaft mehr an, er wird seines Bezugs zur Welt gewaltsam beraubt, reduziert auf die nackte Existenz, und dadurch in den „Naturzustand“ zurückgeworfen. Staatenlose verkörpern die Paradoxien des Nationalstaats, wie sie sich im 20. Jahrhundert noch weiter zugespitzt haben. Sie stehen außerhalb der nationalen Rechtsgemeinde, sind jedoch innerhalb der nationalen Staatsgrenzen gegenwärtig.103 Aufgrund ihrer Nichtanerkennung als Staatsangehörige sind sie, so Arendt, nur noch Menschen. Und hier wird sichtbar, dass sie als solche nicht nur durch nichts geschützt sind, sondern buchstäblich nichts sind: mangels Staatsbürgerschaft von der Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen, sind sie auch ihrer Freiheit, rechtlichen Gleichstellung mit anderen und ihrer menschlichen Würde beraubt.

101 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 608. 102 Vgl. ebd., S. 612. Dort heißt es: „Die Nazis haben mit der ihnen eigenen Gründlichkeit im Falle der Juden einen solchen langwierigen Prozess der Präparierung für die Ausrottung von Menschen aller Welt vordemonstriert; er begann mit der Erklärung, dass Juden Staatsbürger zweiter Klasse sind, ging über den Entzug der Staatsbürgerschaft auf den Weg der Deportation in die Ghettos und Konzentrationslager, von wo sie nochmals, nun bereits als absolut Rechtlose, aller Welt öffentlich angeboten wurden, um zu sehen, ob sich einer fände, der sie reklamierte; erst als ihr ‚Überflüssigkeit‘ oder Standortlosigkeit in der gesamten Menschenwelt als erwiesen gelten konnte, ging man dazu über sie auszurotten.“ 103 Vgl. Bielefeldt, Heiner: Wiedergewinnung des Politischen, Würzburg 1993.

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Was sich daran für Arendt zeigt, ist nichts Geringeres als die Widerlegung von Lessings Nathan. Es nützt eben nichts, ein Mensch zu sein. Dies Faktum selbst vermag Rechtsansprüche weder zu begründen noch gar zu gewährleisten: „Dies abstrakte Menschenwesen, das keinen Beruf, keine Staatszugehörigkeit, keine Meinung und keine Leistung hat, durch die es sich identifizieren könnte, ist gleichsam das genaue Gegenbild des Staatsbürgers, dessen Ungleichheit und Differenziertheit dauernd innerhalb der politischen Sphäre von dem großen Gleichmacher aller Unterschiede, der Staatsbürgerschaft selbst, eingeebnet werden; denn wiewohl der Rechtlose nichts ist als ein Mensch, ist er doch dies gerade nicht durch die gegenseitig sich garantierende Gleichheit der Rechte, sondern in seiner absolut einzigartigen, unveränderlichen und stummen Individualität, der der Weg in die gemeinsame und darum verständliche Welt dadurch abgeschnitten ist, dass man ihn aller Mittel beraubt hat, seine Individualität in das Gemeinsame zu übersetzen und in ihm auszudrücken. Er ist gleichzeitig der Mensch und das Individuum überhaupt, das allerallgemeinste und das allerspeziellste, das beides gleichermaßen abstrakt ist, weil es gleichermaßen weltlos bleibt.“104

Arendt spricht in diesem Zusammenhang von der „Aporie der Menschenrechte“, die sich daraus ergibt, dass man Mitglied eines politischen Gemeinwesens, also Staatsbürger sein muss, um überhaupt als Träger von Menschenrechten anerkannt zu werden. Es zeigt sich, dass Menschenrechte bislang nur in partikularen, d.h. nationalen Staatsbürgerrechten existieren, obwohl sie universelle Geltung beanspruchen. Und es zeigt sich vor allem, dass das Postulat des Menschenrechts nur dann nicht eine leere Abstraktion bleibt, wenn mit ihm der für jeden – wie auch immer ungleichen – Menschen gleiche Rechtsanspruch garantiert ist, Rechte zu haben. Die Realität totaler Herrschaft bringt diese Aporie katastrophal zur Erscheinung. Sie zeigt, dass der moralische Hinweis auf die Fortexistenz des Menschenrechts beim Verlust der Staatsbürgerschaft nicht nur unzureichend, sondern tatsächlich zynisch ist: „Denn das Unglück des Rechtlosen liegt nicht darin, dass er des Rechtes auf Leben, auf Freiheit, auf Streben nach Glück, der Gleichheit vor dem Gesetz oder gar der

104 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 623f.

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Meinungsfreiheit beraubt ist, alle diese Formeln stehen deshalb in gar keiner Beziehung zu seiner Situation, weil sie entworfen wurden, um Rechte innerhalb gegebener Gemeinschaften sicherzustellen. Die Rechtlosigkeit hingegen entspringt einzig der Tatsache, dass der von ihr Befallene zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört. Es ist sinnlos, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt.“105

Deshalb ist „Weltlosigkeit“ als der Zustand der Nichtzugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen immer eine Form von Barbarei. Und geradezu prognostisch – wenn auch wegen der prekären Analogie zu den „wilden Volksstämmen“, von deren Zivilisiertheit Arendt offensichtlich nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, vielfach missverstanden – schlussfolgert sie: „Es ist, als ob eine globale, durchgängig verwebte zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produzierte, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozeß ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die wilder Volksstämme oder außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren.“106

Auf diesen gesellschaftlichen Skandal einer globalen Zivilisation reflektiert schließlich Arendts Forderung nach „einem einzigen Menschenrecht“, nämlich dem „Recht, Rechte zu haben“. Diese Forderung artikuliert eine radikale Kritik an den existierenden Formen des Staatsbürgerrechts – sowohl des ius sanguinis als auch des ius soli.107 Sie impliziert nicht nur eine Entkoppelung des Staatsbegriffs von dem der Nation, sondern darüber hinaus die Konstitution einer transnationalen Staatsbürgerschaft, die jedem Menschen das Anrecht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen garantiert.108 Dies ist eine politisch-praktische Aufgabe von höchster Dringlich-

105 Ebd., S. 611f. 106 Ebd., S. 625. 107 Vgl. ebd., S. 614. Dass auch das auf dem ius soli beruhende Staatsbürgerschaftsmodell nicht der Kritik von Arendt standhält, zeigt Benhabib in ihrem Buch Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt a.M. 1999. 108 Vgl. auch Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 754-770.

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keit, die sich zwingend aus Arendts Analyse der Paradoxien des Nationalstaats und der Vorbedingungen totaler Herrschaft ergibt. Zu diesen Vorbedingungen gehört, wie gezeigt, die Verkoppelung von Nation, Ethnos und Staat, das heißt: die Gleichstellung der Volkszugehörigkeit mit der Mitgliedschaft in einer organisierten politischen Einheit. Im Zeitalter globaler Migrationsströme von Flüchtenden und Arbeitssuchenden aber wird die gefährliche Fiktion einer homogenen Volksgemeinschaft endgültig obsolet. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft kann sich heute weder auf das Territorial- noch auf das Abstammungsprinzip, sondern allein noch auf die Partizipation an einem politischen Gemeinwesen und am täglichen Leben der Zivilgesellschaft gründen.109 Arendt hat dies bereits vor 60 Jahren erkannt. Gegen essentialistische und substantialistische Identitätskonzepte im Bereich des Politischen postuliert sie ein Konzept von Bürgerrecht, das universelle Menschenrechte politisch garantiert.110 Das gemeinsame Moment von Staatenlosen und Flüchtlingen, von Verfolgten, die ihrer Staatsbürgerschaft beraubt wurden, und Gefangenen, die in Konzentrationslagern interniert sind, besteht eben in ihrer faktischen Rechtlosigkeit. Sie überantwortet diese Menschen dem Naturzustand, anders gesagt: der Barbarei. Es ist dieser Zusammenhang, auf den Arendt in der Überschrift des Kapitels Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte Bezug nimmt. An der modernen Gestalt der Staatenlosen findet sich in eins mit dem Begriff universaler Menschenrechte auch die naturrechtlich fundierte Idee der Menschheit blamiert. Er präsentiert die Krise der Menschenrechtsdeklaration nicht weniger als die der traditionell im Singular gedachten und auf die menschliche Natur reduzierten Idee der Menschheit. Für ihn gibt es keine Instanz, bei der er das Menschenrecht für sich einklagen könnte. Zur Menschheit gehört er nicht mehr, weil er keiner politischen Gemeinschaft angehört. Darin zeigt sich, dass die Menschheit als regulative Idee des Politischen allein darin besteht, dass die Menschen an den Dingen der Welt Anteil nehmen können, dass sie also die Möglichkeit haben, durch Sprechen, und nicht durch Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem öffentlichen Lebens zu regeln.111

109 Vgl. Benhabib, Seyla: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M. 1999. 110 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 584. 111 Vgl. ebd., S. 463.

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Arendts Analyse der Aporie der Menschenrechte führt nicht etwa zu einer Verwerfung, sondern zu einer Neubestimmung des Begriffs der Menschheit als einem politischem Faktum. So schreibt sie, dass die Menschheit im 18. Jahrhundert noch als „regulative Idee“ verstanden wurde, die aber im 20. Jahrhundert zu einer „unausweichlichen Tatsache“ geworden ist.112 Sie fordert, dass das „Recht, Rechte zu haben“, die Garantie als Individuum zu einer politischen Gemeinschaft zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden sollte.113 In ihrem Aufsatz Organisierte Schuld formuliert sie ihr politisches Verständnis der Menschheit: „Politisch gesprochen ist die Idee der Menschheit, von der man kein Volk ausschließen und innerhalb derer man keinem ein Monopol des Lasters zubilligen kann, die einzige Garantie dafür, dass nicht eine ‚höhere Rasse‘ nach der anderen sich verpflichtet glauben wird, dem Naturgesetz vom ‚Recht der Stärkeren‘ zu folgen und die ‚niederen lebensunfähigen Rassen‘ auszurotten – bis schließlich am Ende des ‚imperialistischen Zeitalters‘ wir uns auf einer Bahn bewegen werden, auf der die Nazis wie dilettantische Vorläufer einer zukünftigen Politik sich ausnehmen werden.“114

2.4 D IE ARBEIT DER REFLEKTIERENDEN U RTEILSKRAFT (III): E IN EXEMPLARISCHES B EISPIEL DER B ANALITÄT DES B ÖSEN : ADOLF E ICHMANN „Das Böse ist ein Phänomen mangelnder Urteilskraft.“115

In diesem Abschnitt wird die Urteilskraft in ihrer doppelten Bestimmung in Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des

112 Vgl. ebd., S. 617. 113 Vgl. ebd. 114 Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, in: Dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken 2, München 2000, S. 26-37, hier S. 37. 115 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O, Bd. 2, S. 767.

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Bösen untersucht.116 Zum einen wird ihre Analyse des Täters Adolf Eichmann dargestellt, dessen Unfähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, Arendt im Begriff der „Banalität des Bösen“ zusammenfasst. An der spezifischen Weltlosigkeit Eichmanns demonstriert sie die Kraft reflektierenden Urteilens, der sich das „Böse“ gerade als Mangel politischer Urteilskraft erweist. Zum anderen wird gezeigt, wie Arendt in ihrer Kritik des Gerichtsverfahrens, die sich speziell gegen den Staatsanwalt Gideon Hauser und die Anklageschrift richtet, die Urteilskraft selbst zur Anwendung bringt. Darin, so meine These, besteht die übergreifende Argumentationsstruktur des Buches. Die doppelte Bewegung der Urteilskraft im Eichmann-Buch wird sodann in Relation zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft gestellt, um zu zeigen, in welcher Weise Arendt hier Einsichten aus ihren Analysen über die totale Herrschaft anwendet beziehungsweise revidiert. Meine Interpretation greift Arendts Buch weder als einen Bericht über den Eichmann-Prozess noch als eine historische Analyse des „Holocaust“ oder als „eine Fallstudie des Totalitarismus auf der Ebene des Individuums“ 117 auf, sondern als Beispiel mit exemplarischer Gültigkeit. In dieser Lesart kann Arendts Prozessbericht sowohl als Überprüfung und Weiterentwicklung als auch – und auch darin zeigt sich die Arbeit reflektierender Urteilskraft – als spezifizierende Anwendung ihrer Analysen aus den Elementen

116 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig, 1990. Im Folgenden wird es nicht um eine historische Überprüfung von Arendts Analysen und Aussagen zu der Person Adolf Eichmann, dem Prozess oder Aspekten, die von Arendt ausgeblendet oder unzureichend dargestellt wurden, gehen. Darauf hat Hans Mommsen in einer sehr guten und ausführlichen Einführung zur erneuten Auflage des Buches hingewiesen. Siehe Hans Mommsen: Hannah Arendt und der Prozess gegen Adolf Eichmann, in: Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 5-48. Für eine nähere Analyse zu Adolf Eichmann siehe: Wojak, Irmtrud: Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt a.M. 2001. 117 Postone, Moishe: Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem: Die unaufgelöste Antinomie von Universalität und Besonderen, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited: Eichmann in Jerusalem und die Folgen, Frankfurt a.M. 2000, S. 264-291, hier S. 266.

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und Ursprüngen totaler Herrschaft118 auf den juristischen und politischen Bereich interpretiert werden: Nach dem Traditionsbruch laufen auch die Begriffe der herkömmlichen Rechtsprechung ins Leere. Am Gerichtsverfahren gegen Eichmann lässt sich dies exemplarisch zeigen. Auch hier ist es eine Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, das historisch Neue in der Bestimmung der Unangemessenheit der tradierten Begriffe der Rechtsprechung zu erkennen. In der Arendtforschung wird das Eichmann-Buch in Bezug auf die Urteilskraft bisher in zwei Richtungen interpretiert: einerseits als Schnittpunkt zwischen den frühen und späten Schriften, andererseits als Ausgangspunkt für Arendts Auseinandersetzung mit der Urteilskraft. Für beide Lesarten finden sich Anhaltspunkte bei Arendt selbst. Im ersten Band des Leben des Geistes nennt sie zwei Motive, die diesem Werk zugrunde liegen: ein Gegenstück zu Vita activa zu formulieren und ihre Teilnahme am EichmannProzess.119 Entsprechend begreift Christian Volk das Buch als „Schnittstelle“ zwischen Arendts frühen und späten Schriften.120 Er arbeitet überzeugend heraus, in welcher Weise die These von der Banalität des Bösen mit Arendts Analyse einer Krise der Moderne verzahnt ist. Leora Bilsky nimmt in gewisser Weise eine umgekehrte Blickrichtung ein, indem sie Arendts späte Schriften über die Urteilskraft auf den Eichmann-Prozess bezieht.121 Im Unterschied zu beiden zeige ich, dass – wie bereits im Buch über die totale Herrschaft – auch im Eichmann-Buch die Urteilskraft in ihrer doppelten Bestimmtheit vorliegt.

118 Man kann auch hier eine Parallele zur Kritischen Theorie ziehen. Auch Adorno/Horkheimer verstanden ihre sozialpsychologischen Studien zum „Autoritären Charakter“ als eine Fortführung der „Dialektik der Aufklärung“ aus subjekttheoretischer Perspektive. 119 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, Bd. 1, München 1979, S. 13. 120 Vgl. Volk, Christian: Urteilen in finsteren Zeiten, Berlin 2005. 121 Vgl. Bilsky, Leora Y.: When Actor and Spectator Meet in the Courtroom, in: Beiner, Ronald/Nedelsky, Jennifer (Hg.), Judgement, Imagination, and Politics. Themes from Kant and Arendt, Oxford 2001, S. 257-287.

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2.4.1 Etappen einer Kontroverse In der Festrede zu Ehren Karl Jaspers formuliert Arendt: „Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, dass einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis der Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen.“122 In dem berühmt gewordenen Fernsehinterview zitiert Günther Gaus diesen Satz und fragt: „Dieses Wagnis der Öffentlichkeit, worin besteht es für Hannah Arendt?“ Darauf Arendt: „Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der Meinung bin, dass man nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen und handeln darf, so weiß ich doch, dass in jedem Handeln die Person in einer Weise zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. Wobei das Sprechen auch eine Form des Handelns ist. Also das ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie.“123

Arendt hat sich auf dieses Wagnis der Öffentlichkeit eingelassen. Und sie hat nicht geahnt, geschweige denn gewusst, welche internationale Kontroverse ihr Buch über den Eichmann-Prozess auslösen würde. Gleichwohl hat sie – bewusst polarisierend – eine öffentliche Auseinandersetzung über „das Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk“124 herausfordern wollen. Arendt war schon mit ihrem ersten Buch über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu einer öffentlichen Person geworden, aber in einer eingegrenzten, fachwissenschaftlichen, akademischen Öffentlichkeit. Mit ihrem Eichmann-Buch änderte sich dies schlagartig. Die Öffentlichkeit urteilte, aber nicht nur über ihr Buch, sondern auch über ihre Person.

122 Arendt, Hannah: Laudatio auf Karl Jaspers, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 89-98, hier S. 91. 123 Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günther Gaus, (Oktober 1964), in: Dies.: Ich will Verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 44-70, hier S. 70. 124 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 416.

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Nach der Veröffentlichung wurde Arendt als „Rosa Luxemburg des Nichts“ und als eine von „Selbsthass erfüllte Jüdin“ tituliert. Beleidigende „Fragen“ – wie von der französischen Wochenzeitschrift Nouvel Observateur: „Est-elle nazie?“ – wurden gestellt. Rezensionen erschienen mit Titeln wie „Juden mit Todeswünschen“125. Es würde ihr an der Liebe zu ihrem Volk fehlen, so Gershom Scholem.126 Sie habe das jüdische Volk diffamiert, den jüdischen Widerstand gegen Deportation und Vernichtung nicht gewürdigt.127 Amos Elon beschrieb die Eichmann-Kontroverse als einen „Bürgerkrieg“ unter New Yorker Intellektuellen.128 Was die Kritiker vereinte, war die Auffassung, dass Arendt „sanft mit Eichmann, hart mit den Juden“129 umging. Als Marie Luise Knott Arendts Beiträge für den „Aufbau“ – eine deutschjüdische Emigrantenzeitung, die in New York erschien – aus den Jahren 1941-1945 herausgab,130 wunderte sie sich darüber, dass die Arendt-Kritiker in der Eichmann-Kontroverse ihr Engagement in der Kriegszeit geflissentlich übersahen, obwohl es ihnen doch hätte bekannt sein müssen. Mir scheint jedoch, dass dieses Engagement keineswegs übersehen worden ist, sondern sich vielmehr gerade daraus die Heftigkeit der Kontroverse erklärt. Zugespitzt formuliert: Es war eine späte Abrechnung mit einer kritischen Stimme. „Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an“, so Arendt 1933, als sie Deutschland verlassen musste.131 In diesem Jahr trat

125 Zit. nach Elon, Amos: Hannah Arendts Exkommunizierung, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited: Eichmann in Jerusalem und die Folgen, Frankfurt 2000, S. 17-33, hier S. 28. 126 Vgl. Arendt, Hannah: Ein Briefwechsel, in: Dies.: Nach Auschwitz, Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, S. 63-79, hier S. 65 127 Vgl. hierzu Lustiger, Arno: Zum Kampf auf Leben und Tod, Köln 1994. 128 Vgl. Elon, Amos: Hannah Arendts Exkommunizierung, a.a.O., S. 17. 129 MacDonald, Dwight: Eichmann und die Juden, in: Partisan Review 31 (1964), S. 265f. 130 Vgl. Arendt, Hannah: Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, München 2000. 131 Vgl. Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günther Gaus (Oktober 1964), a.a.O., S. 56. Arendt begründet diese Einstellung: „Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich

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sie in die „World Zionist Organisation“ ein. In Paris leitete sie das Büro der „Jugend Alijah“, die zur Rettung deutschjüdischer Kinder arbeitete und sie nach Palästina brachte. Ab November 1941 begann Arendt in New York für den „Aufbau“ zu arbeiten. In den Artikeln, die sie dort veröffentlichte, setzt sie sich für die Schaffung einer jüdischen Armee in Europa ein. Sie forderte, dass sich die Juden politisch artikulieren, dass sie dazu eine eigene Armee aufstellen und sich nicht in die Armeen anderer europäischer Nationen eingliedern sollten. Arendt hatte aber noch weitergehende Pläne. Das jüdische Volk sollte sichtbar an der Seite von anderen europäischen Völkern kämpfen. Die britische Mandatsmacht wies dies jedoch zurück, und auch die zionistische Weltorganisation hielt an dieser Forderung im Mai 1942 nicht mehr fest, sondern erhob die Forderung nach einem politischen Gemeinwesen in einem ungeteilten Palästina, wo für die arabische Mehrheit nur ein Minderheitenstatus bleiben sollte. Arendt kritisierte diese Position, forderte die Konzentration auf die Rettung der Juden und den Kampf gegen den Antisemitismus. Sie plädierte für die Verständigung mit den Arabern in Form einer arabischen Förderation. Grundsätzlich lehnte sie einen auf Protektion von außen angewiesenen jüdischen Nationalstaat, der nicht von seinen Nachbarvölkern akzeptiert wird, ab: „Ein Jüdisches Nationalheim, das von dem Nachbarvolk nicht anerkannt und nicht respektiert wird, ist kein

freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen die Gleichstellung sozusagen die Regel war. Aber unter anderen nicht. Und das hab` ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend – : Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, dass deutsche Juden und deutsch-jüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen. Ich spreche in der Vergangenheit. Ich weiß heute mehr darüber [...].“ Ebd., S. 56.

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Heim, sondern eine Illusion – bis es zu einem Schlachtfeld wird.“132 Ich habe Arendts Engagement und ihr Verhältnis zum Zionismus hier kurz skizziert, um deutlich zu machen, dass sie für ihre Kritiker keine Unbekannte gewesen sein kann. In der Diskussion um das Eichmann-Buch wurden vielmehr Fragen ganz grundsätzlicher Art verhandelt, die bereits lange vor dem Prozess gegen Eichmann zu unversöhnbar scheinenden Polarisierungen in der intellektuellen Debatte geführt hatten.133 Der Zorn, den das Eichmann-Buch hervorrief, war deshalb so heftig, weil, so vermutet der Historiker Steve Ascheim, die Jüdin Arendt von drinnen kam.134 Der Bericht über den Eichmann-Prozess erschien zuerst 1963 in Form einer Artikelreihe im New Yorker, dann als Buch.135 In der Kontroverse über das Buch ging es um Fragen nach Schuld und Verantwortung, dem Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte und dem politischen Selbstverständnis der Juden. In Amerika konzentrierte sich der Streit im Wesentlichen auf zwei Aspekte: (1) den provokanten Untertitel Die Banalität des Bösen und (2) Arendts Erörterungen zu den Judenräten. Eichmann

132 Arendt, Hannah: Völkerverständigung im Nahen Osten – eine Basis jüdischer Politik, in: Dies.: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, a.a.O., S. 177. 133 Vgl. hierzu Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München 2006, S. 250f. und S. 378f. 134 Vgl. Ascheim, Steve: Hannah Arendt in Jerusalem, London 2001. 135 Im Jahre 1961, also kurz nach der Verhaftung von Adolf Eichmann, schreibt Arendt an ihre Freundin Mary McCarthy: „Ich spiele so halb mit dem Gedanken, eine Zeitschrift dazu zu bringen, mich als Berichterstatter zum EichmannProzeß zu schicken. Bin sehr in Versuchung. Er war einer der Intelligentesten der ganzen Bande. Es könnte interessant sein – abgesehen davon, dass es schrecklich wird.“ Hannah Arendt an Mary McCarthy, Brief vom 20. Juni 1960, in: Dies.:/McCarthy, Mary: Im Vertrauen. Briefwechsel 1949-1975, München 1995, S. 150. Nach einer Anfrage bei William Shawn vom „New Yorker“ erhält sie die Zusage. Vgl. Arendt, Hannah/McCarthy, Mary: Im Vertrauen, a.a.O., S. 150; Anm. 6. An Samuel Grafton schreibt sie später: „When I decided to go to Jerusalem, I myself had been under the impression that he had been much more important than he actually was.“ Arendt, Hannah: Eichmann Case, Correspondence, September/Oktober 1963, Periodicals, Container 47.6, (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg), S. 11.

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in Jerusalem ist ohne Zweifel Arendts umstrittenstes Buch. Die Debatte, die es auslöste, beschäftigt noch heute Historiker, Soziologen und Philosophen. Noch heute besteht Uneinigkeit darüber, was eigentlich der Gegenstand des Buches ist. Schon kurz nach Erscheinen in Amerika wurde in Deutschland (noch vor der deutschen Übersetzung) ein Sammelband mit dem Titel Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden136 veröffentlicht, der sich allerdings weitgehend nur oberflächlich mit ihrem Buch beschäftigt. Nach dieser sehr eingeschränkten, von Ressentiments und Abwehrverhalten geprägten Rezeption in Deutschland erfolgte in den 90er Jahren eine zweite Phase der Auseinandersetzung, die jedoch viele der alten Vorwürfe nur wiederholte.137 Anlass für die erneute Beschäftigung mit Arendts Bericht über Eichmann waren allgemeine Fragen zur Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus, vor allem aber auch die Debatte, die durch das Buch Hitlers willige Vollstrecker von Daniel Goldhagen ausgelöst wurde. Goldhagen wies darin die These zurück, dass es sich bei den

136 Vgl. Krummacher, Friedrich A. (Hg.), Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. München 1964. Im gesamten Buch erfährt Arendt nur Zustimmung von Bruno Bettelheim. Andere Beiträge wie z.B. die von Golo Mann, Probst Günther und Rolf Schroers äußern eine ablehnende Haltung, die sich jedoch kaum auf eine ernsthafte Auseinandersetzung gründet. So wirft Golo Mann Arendt „Arroganz und Originalitätssucht“ vor. Probst Günther fordert das Ende der Diskussion über das Buch und sieht keinen Grund für dessen Veröffentlichung. Anerkennung erfährt Arendt bemerkenswerterweise gerade dort, wo sie sie sicherlich am wenigsten erwartet hätte: bei der von ihr geringgeschätzten Psychologie. So veröffentlichte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich eine zustimmende Rezension im Spiegel. Trotz allem Verständnisses für die jüdischen Kritiker verteidigt er das Buch: „Eichmann in Jerusalem ist ein durchaus unbequemes Buch [...]. Hannah Arendt ist in einem von Emotionen besetzten Bereich um die Rekonstruktion der Zusammenhänge bemüht, um der Einsicht willen, die vielleicht vernünftigeres Handeln erlauben wird. Sie berichtet nicht nur, was von jener Wirklichkeit zutage kam, in der Eichmann operierte, sondern ebenso von der anderen Wirklichkeit, in welcher der Prozess stattfand.“ In: Der Spiegel 5/1965, S. 78-79, hier S. 79. 137 Siehe hierzu auch die Einleitung von Gary Smith: Einsicht aus falscher Distanz, in: Ders.: Hannah Arendt Revisited: Eichmann in Jerusalem und die Folgen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7-17.

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Tätern um isolierte, „verängstigte und gedankenlose Männer [handelte], die ihre Aufgaben nur zögernd erledigen“.138 Für diese, seiner Meinung nach weit verbreitete Vorstellung macht er Arendt verantwortlich.139 Dana Villa hat Goldhagens Abgrenzung gegenüber Arendt zu der These zugespitzt, dass sein Buch als Widerlegung von Arendts Eichmann in Jerusalem konzipiert ist und, wie er betont, „ohne ihm allzuviel Gewalt anzutun, als neueste Fortsetzung der Kontroverse um das Eichmann-Buch angesehen“140 werden kann. Dabei sind die Fragen der Kontroverse grundsätzlicher Art. Während Richard Bernstein die Aktualität von Eichmann in Jerusalem in den grundsätzlichen Fragestellungen des Buches sieht: „Fragen nach der Verantwortlichkeit, dem Urteilen und dem Bösen, die uns immer noch verfolgen; Fragen, die bis jetzt nicht gelöst sind und vielleicht nie endgültig gelöst werden können“141, kritisiert Moishe Postone Arendts Beurteilung des Judenmordes als eines Verbrechens gegen die Menschheit als Nichtanerkennung des Besonderen von Auschwitz und hält auch Arendts vermeintliche Depotenzierung der Relevanz des Antisemitismus für den Massenmord an den Juden für falsch.142 Auch über die Analyse der Person Eichmann herrscht nach

138 Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 476. 139 „Für dieses Bild und seine Verbreitung ist vor allem Hannah Arendt verantwortlich [...].“ Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker, a.a.O., S. 670. Diese Passage bezieht sich explizit nicht auf Eichmann in Jerusalem, sondern auf Arendts These, dass die totale Herrschaft nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch den privaten Raum zerstört: „It bases itself on loneliness, on the experience of not belonging to the world at all, which is among the most radical and desperate experience of man.“ Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, a.a.O., S. 475. 140 Villa, Dana R.: Das Gewissen, die Banalität des Bösen und der Gedanke eines repräsentativen Täters, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited, a.a.O., S. 231-264, hier S. 231. 141 Bernstein, Richard J.: Verantwortlichkeit, Urteilen und das Böse, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited: Eichmann in Jerusalem und seine Folgen. Frankfurt a.M. 2000, S. 291-311, hier S. 291. 142 Vgl. Postone, Moishe: Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, a.a.O., S. 267f. Diese These wird in den weiteren Ausführungen noch diskutiert.

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wie vor Uneinigkeit: Wollte Arendt das Besondere des Täters Adolf Eichmann analysieren (Dana Villa)?143 Wollte sie einen repräsentativen Täter untersuchen (Daniel Goldhagen)? Oder eher den „Vertreter einer historischen Entwicklung“144 (Moishe Postone)? Wollte sie etwa das „Verhalten der sogenannten ‚gewöhnlichen Deutschen‘“145 (Seyla Benhabib) im Dritten Reich untersuchen? Oder wollte sie, wie Antonia Grunenberg argumentiert, „einen besonderen Typus des modernen Menschen“ beschreiben: „einen weltlosen Menschen, der den Bezug zu der von anderen bewohnten Welt, als Teil derer er geboren ist, verloren hat“146? Im Folgenden wird Eichmann als exemplarisches Beispiel der Banalität des Bösen diskutiert. Doch zunächst wird ihre Kritik des Gerichtsverfahrens und der Anklageschrift erörtert. 2.4.2 Kritik des Gerichtsverfahrens In welcher Weise das Gericht in Jerusalem auf der Grundlage bestehenden Rechts überhaupt fähig war, über etwas zu urteilen, was noch nie zuvor geschehen war, in welcher Weise ein Massenmörder beurteilt werden sollte, der persönlich keinen Mord begangen hatte, und in welchem Verhältnis der moralische Zusammenbruch des Täters zu der Verantwortung gegenüber seinen Taten stand, dies sind Fragen, die Arendt im Prozessbericht behan-

143 Vgl. Villa, Dana: Das Gewissen, die Banalität des Bösen und der Gedanke eines repräsentativen Täters, a.a.O., S. 237. 144 Postone; Moishe : Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, a.a.O., S. 268. 145 Benhabib: Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited, a.a.O., S. 95120, hier S. 97. 146 Grunenberg, Antonia: Ein Anfang ist immer und überall da und bereit. Politisches Denken und Zivilisationsbruch bei Hannah Arendt, in: Neumann, Bernd/Mahrhardt, Helgard/Frank, Martin (Hg.), The Angel of History is looking back. Hannah Arendts Werk unter politischen, ästhetischen und historischem Aspekt. Texte des Trondheimer Arendt-Symposiums vom Herbst 2000, Würzburg 2001, S. 15-31, hier S. 26.

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delte.147 Obwohl Arendt mit Karl Jaspers die Auffassung teilt, dass das Beispiellose, das in Auschwitz geschah, mit den herkömmlichen juristischen Kategorien nicht fassbar ist, fordert sie dessen juristische Verfolgung und Verurteilung. Schon in einem Brief an Jaspers vom 17. August 1946 führt sie diesen Gedanken näher aus: „Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat.“148 Arendts These, dass Auschwitz nicht aus den „Elementen“ totaler Herrschaft ableitbar ist und kein notwendiges Resultat von dessen Vorgeschichte darstellt, bildet auch die Grundlage für den Eichmann-Bericht. So wenig sich die „Endlösung der Judenfrage“ aus den Elementen totalen Herrschaft kausal erklären lässt, so wenig reicht eine Analyse der Person Eichmanns an das Unbegreifliche heran. Die Natur des Verbrechens im Unterschied zur Wahl der Opfer liegt jenseits des menschlichen Verstehens. Die Chiffre „Auschwitz“ bringt dies zum Ausdruck. Diese These Arendts widersprach allerdings der Auffassung des Gerichts. Schon am Anfang des Berichts wird dies deutlich. Arendt kommentiert den offiziellen Interpretationsrahmen des Gerichts, der vom Oberstaatsanwalt Gideon Hauser präsentiert wurde, mit einer deutlich polemischen Akzentuierung. Der Prozess diene nicht der Gerechtigkeit, sondern der Politik. Israels damaliger Premierminister David Ben Gurion dirigiere als „unsichtbarer Regisseur“ das Gerichtsverfahren; seine Sicht werde durch den Gideon Hausner präsentiert. Auf Seiten der Ankläger stand nicht der Täter Adolf Eichmann im Zentrum

147 Vgl. Arendt, Hannah: Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?, in: Dies.: Nach Auschwitz, Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, S. 8197. 148 Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel, a.a.O., Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 17. August 1946, S. 90. Siehe auch den später verfassten Brief unmittelbar vor dem Prozessbeginn: „[...] es scheint mir in der Natur dieser Sache, dass wir nichts als Rechtliches in der Hand haben, um etwas zu beurteilen und abzuurteilen, was sich weder mit Rechtsbegriffen noch mit politischen Kategorien wirklich adäquat auch nur darstellen lässt. Das gerade macht den Vorgang selbst, nämlich den Prozess so aufregend.“ Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 23. Dezember 1960, ebd. S. 454.

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des Verfahrens, sondern die Geschichte und die Leiden der Juden.149 Arendt teilt zwar die Auffassung Hausners und Ben Gurions, dass der Prozess gegen Eichmann eine wichtige Rolle für das historische und politische Selbstverständnis Israels habe. Aber in welcher Weise dies zu verstehen ist, fällt gänzlich unterschiedlich aus.150 Arendt fordert die Konzentration auf den Täter und dessen Verbrechen. Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Zerstreuung, der Antisemitismus oder das Verhalten des deutschen Volkes sollten im Prozess nur dann erörtert werden, wenn sie über die Hintergrunde und Umstände, unter denen der Angeklagte seine Handlungen begangen hat, Aufschluss gaben. In einem Gerichtssaal „wird keinem System, nicht der Geschichte, keiner historischen Tendenz, keinem ‚Ismus‘, wie zum Beispiel dem Antisemitismus, sondern einer Person der Prozess gemacht“151. Die Gerechtigkeit fordere die Konzentration auf den Täter und das Verbrechen, und das Gesetz fordere die Verurteilung des Täters, weil mit dem Verbrechen an den Opfern auch das Gemeinwesen beschädigt werde. Während Arendt die Auffassung vertrat, dass man über die Person Eichmann die Natur des Verbrechens nicht erkennen könne, stand für BenGurion und Hausner fest, dass man „sich darüber klar zu werden (habe),

149 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 72. 150 Gideon Hausners Prozessbericht Gerechtigkeit in Jerusalem dokumentiert dessen Einstellung: „Unsere jüngere Generation, die so völlig im Aufbau und Schutz des neuen Staates aufging, besaß viel zu wenig Einblick in die Ereignisse, die von Rechts wegen ein entscheidender Punkt ihrer Bildung und Erziehung sein sollten. Die jungen Menschen Israels unter zwanzig, die zumeist schon in diesem Staat oder während des Kampfes um ihn geboren waren, besaßen keine wirkliche Kenntnis und deshalb auch keine Erkenntnis der Art und Weise, auf die ihr eigenes Fleisch und Blut zugrunde gegangen war. Hier lag ein Bruch zwischen den Generationen vor, der möglicherweise zum Quell eines Abscheus vor dem Gesetz der Nation werden konnte. [...] Es war dringend erforderlich, dass die Welt zu ihrem eigenen Besten und mit so vielen Einzelheiten wie irgendwie möglich an die gigantische menschliche Tragödie erinnert wurde, die unauslöschlicher Teil dieses Jahrhunderts der unbegrenzten Möglichkeiten für Gut und Böse ist.“ Hausner, Gideon: Gerechtigkeit in Jerusalem, München 1967, S. 447. 151 Arendt, Hannah: Persönliche Verantwortung unter einer Diktatur, in: konkret 1991, H. 6, S. 34- 46, hier S. 39.

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dass heutzutage die Gaskammern und die Seifenfabriken die Endstation des Antisemitismus sind“152. Zynisch beschreibt sie deren „Nebenabsichten“153: „Die Juden in der Diaspora wiederum sollten sich daran erinnern, dass das Judentum ‚seit viertausend Jahren mit seinen geistigen Schöpfungen und seinen sittlichen Forderungen, seinen messianischen Zielen‘ einer ‚feindlichen Welt‘ gegenüberstanden und der Verfall des jüdischen Volkes in der Diaspora damit geendet habe, dass sie schließlich wie Schafe in den Tod gingen, und dass erst die Errichtung eines jüdischen Staates es Juden ermöglicht habe, sich zur Wehr zu setzen und zu kämpfen – im Unabhängigkeitskrieg, im Suez-Abenteuer, in den fast täglichen Zwischenfällen an Israels friedlosen Grenzen. Sollte auf diese Weise den Juden außerhalb Israels der Unterschied zwischen israelischen Heldentum und jüdischer Ohnmacht demonstriert werden, so sollten andererseits die Israelis selbst auch etwas lernen: ‚Die Generation von Israelis, die nach der großen Katastrophe herangewachsen ist‘, stünde in Gefahr, ihre Verbindung mit dem jüdischen Volk und damit mit ihrer eigenen Geschichte zu verlieren. ‚Es ist notwendig, dass sich unsere Jugend daran erinnert, was dem jüdischen Volk geschehen ist. Wir wollen, dass sie die tragischsten Fakten unserer Geschichte kennt.‘“154

Arendts kritische Intervention richtete sich im Wesentlichen gegen zwei Aspekte: gegen die Polarisierung zwischen „israelischem Heldentum“ und „jüdischer Ohnmacht“ und gegen die vorgetragene monumentale Ge-

152 Zit. nach Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 80. Arendt hat entgegen ihrer eigenen späteren Einschätzung schon in ihrem Aufsatz „Die vollendete Sinnlosigkeit“ aus dem Jahre 1950 betont, dass die Fabrikation von Leichen nicht vollständig mit dem Antisemitismus erklärt werden kann: „Weder das Schicksal der europäischen Judenheit, noch die Errichtung von Tötungsfabriken kann vollständig mit dem Hinweis auf den Antisemitismus erklärt werden. Beides liegt jenseits antisemitischer Gedankengänge und jenseits der politischen, sozialen und ökonomischen Motive, die hinter der Propaganda antisemitischer Bewegungen stehen. Der Antisemitismus hat nur den Boden dafür bereitet, die Ausrottung ganzer Völker mit dem jüdischen Volk zu beginnen.“ Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, a.a.O., S. 14. 153 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 395. 154 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 79. Arendt gibt für ihre verwendeten Zitate keine weiteren Quellen an.

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schichtsauffassung über das jüdische Volk und das daraus folgende politische Selbstverständnis des Staates Israel. Während die Ankläger den Prozess im Namen der Opfer führten und somit das Verfahren auf deren Leiden konzentrierten, fordert Arendt die Konzentration auf Eichmanns Taten. Diese seitens des Gerichts klar gezogene Trennung zwischen Opfern und Tätern wurde von Arendt nicht nur kritisiert, sondern auch durchkreuzt, indem sie die Kollaboration der Judenräte mit den Nazis einbezog, die im Prozess nicht erwähnt wurde.155 Die Trennung zwischen Opfern und Tätern und die damit verbundenen politischen Vorstellungen hatte Arendt schon 1946 in einem Brief an Jaspers kritisiert: „So unschuldig wie alle miteinander vor dem Gasofen waren, [...] so unschuldig sind Menschen überhaupt nicht. Mit einer Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, und einer Unschuld, die jenseits der Güte oder der Tugend liegt, kann man menschlichpolitisch überhaupt nichts anfangen.“156

Die Kooperation der Judenräte mit den Nazis war auch zum Zeitpunkt des Eichmann-Prozesses in Israel nicht unbekannt. Außerdem berief Arendt sich für ihre These auf die Arbeit von Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews.157 Entrüstet waren die meisten Kritiker über den Kontext, in dem Arendt dieses Thema aufbrachte.158 Warum aber war Arendt dieses, wie sie sagte, „dunkle Kapitel“ überhaupt so wichtig? Sie bezog sich darauf, weil ihre Analyse der totalen Herrschaft ergeben hatte, dass man den moralischen Zusammenbruch, den die Nazis bewirkt hatten, erst dann wirklich erfasse, wenn man begreife, dass diese gerade die Trennung zwischen Opfern und Tätern aufgehoben hatten.159 Doch es gibt noch einen weiteren

155 Vgl. ebd., S. 220f. 156 Hannah Arendt/Karl Jaspers: Briefwechsel, a.a.O., Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 17. August 1946, S. 90. 157 Vgl. Hilberg, Raul: The Destruction of the European Jews, Chicago 1961. 158 Vgl. Benhabib, Seyla: Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, a.a.O. hier S. 99f. 159 So formuliert sie in einem Interview mit Thilo Koch: „Eichmanns Taten haben sich in einer Umgebung abgespielt und nicht im luftleeren Raum. Die jüdischen Funktionäre waren Teil dieser Umgebung. Er selbst hat von seiner ‚Zusammenarbeit‘ mit den jüdischen Funktionären sehr ausführlich gesprochen in

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Grund für ihre Erörterung der Rolle der Judenräte. Dieser betrifft die Wahrheitsvorstellung der Anklage. In dem die Ankläger nur die jüdische Seite erzählten, erzählten sie, so Arendt, nicht einmal die ganze jüdische Wahrheit. Diese bittere These war keineswegs – wie ihr vielfach unterstellt wurde – eine Anklage gegen das jüdische Volk. Ihre Kritik richtete sich ausschließlich an jene Vertreter der jüdischen Führung, die nach 1941 mit den Nazis kooperierten: „Die Frage, die ich aufgeworfen habe, ist die der Kooperation jüdischer Funktionäre, von denen man nicht sagen kann, dass sie einfach Verräter waren (die hat es auch gegeben, das ist aber uninteressant), und zwar zu Zeiten der Endlösung. Mit anderen Worten, bis 1939 oder 1941, wie man es nun ansetzen will, ist alles noch verständlich und entschuldbar. Das Problem begann danach.“160

Nur durch das Aufdecken all dieser Verstrickungen würde man zu einem besseren Verständnis der Sachlage gelangen: „Mein Bericht hat sich bei diesem Kapitel aufgehalten, das der Jerusalemer Prozess der Welt nicht in seinem wahren Ausmaß vor Augen führte, weil es den tiefsten Einblick in die Totalität des moralischen Zusammenbruchs gewährt, den die Nazis in allen, vor allem auch den höheren Schichten der Gesellschaft ganz Europas verursacht haben [...].“161

Schon in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft äußerte sie die Befürchtung, dass die Existenz der Geschichte selbst auf dem Spiel stehe, „wenn Tatsachen nicht in ihrer Unabweisbarkeit respektiert werden als das, was den Bestand der Vergangenheit wie der gegenwärtigen Welt garantiert, sondern als Argumente ge- und verbraucht werden, um bald diese, bald jene Meinung zu beweisen.“162 Auch in dem Briefwechsel zwischen Arendt

dem Polizeiverhör in Jerusalem und davor bereits in dem Interview, das er dem holländischen Nazijournalisten Sassen in Argentinien gegeben hatte.“ Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Thilo Koch (Januar 1964), in: Arendt, Hannah: Ich will verstehen, a.a.O., S. 37-44, hier S. 38. 160 Arendt, Hannah: Ein Briefwechsel, a.a.O., S. 75. 161 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 231. 162 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 41.

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und Scholem spielt ihre Erörterung der Judenräte eine Rolle. Scholem betrachtet die Einbeziehung der Judenräte in ihrem Bericht zwar als legitim, spricht ihr aber gleichzeitig ab, darüber ein Urteil zu fällen: „Uns fehlt die echte Distanz, die zugleich Besonnenheit verbürgen würde, und sie muss uns fehlen.“163 Es geht Scholem nicht um einen Streit über geschichtliche Fakten, sondern um den Aspekt des gemeinsamen Wirklichkeitsbezugs, bei dem er Arendt das Recht abspricht, darüber zu urteilen, weil sie nicht dabei gewesen sei: „Wer von uns kann heute sagen, welche Entschlüsse jene ‚Ältesten‘ der Juden, oder wie man sie gerne nennen will, unter den damaligen Umständen hatten fassen müssen? [...]. Ich weiß nicht, ob sie richtig oder falsch waren. Ich maße mir kein Urteil an. Ich war nicht da.“164 Scholem unterstellt, dass man zu einem anderen Urteil gelangen würde, wenn man mehr Hintergrundinformationen zu dem Verhalten der Judenräte gehabt hätte. Aber würde es das Urteil darüber verändern? Gleichzeitig kann auch vermutet werden, dass Scholem andeuten will, dass man nicht wissen könne, wie man sich selbst verhalten hätte. Hier werden jedoch unterschiedliche Ebenen miteinander vermischt. Arendt stimmt Scholems Argument insoweit zu, dass es ein „abgewogenes Urteil“ noch nicht geben kann. Zugleich aber vertritt sie die Auffassung, „dass wir mit dieser Vergangenheit nur fertig werden können, wenn wir anfangen zu urteilen, und zwar kräftig“165. Auch in der Vorrede zur zweiten Auflage ihres Prozessberichtes nimmt Arendt implizit noch einmal Stellung zu Scholems Kritik, um einige generelle Überlegungen zum Urteilen anzufügen: „Das Argument, dass man nicht urteilen kann, wenn man nicht dabei gewesen ist, überzeugt jedermann überall, obwohl es doch offenbar sowohl der Rechtsprechung wie der Geschichtsschreibung die Existenzberechtigung abspricht. Im Gegensatz zu diesen Konfusionen ist der Vorwurf der Selbstgerechtigkeit, den man gegen die Urteilenden erhebt, uralt, aber er ist darum nicht begründeter“.166

Arendt weist den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit zurück und vertritt die Auffassung, dass das Nicht-Urteilen eine Flucht vor der Verantwortung ist.

163 Arendt, Hannah: Ein Briefwechsel, a.a.O., S. 64. 164 Ebd., S. 66f. 165 Ebd., S. 75. 166 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 66.

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Scholem bewertet Arendts Urteil über die Judenräte als eine mangelnde Liebe zum jüdischen Volk (Ahabath Israel) und thematisiert damit die Frage nach ihrer „ethnischen“ Zugehörigkeit. Arendt verwirft Scholems Kritik, insofern sie jeden Bezug auf die Herkunft für ein Urteil über Eichmann ablehnt. Sie stellt sich gegen eine Art unterstellte kollektive jüdische Perspektive und antwortet: „Was Sie dabei verwirrt, ist, dass meine Argumente und meine Denkweise nicht vorgesehen sind. Oder mit anderen Worten, dass ich unabhängig bin. Und damit meine ich einerseits, dass ich keiner Organisation angehöre und immer nur in eigenem Namen spreche; und andererseits, dass es darauf ankommt, selbst zu denken, und dass, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbige nicht verstehen, wenn Ihnen nicht klar ist, dass sie die meinigen sind und niemandes sonst.“167

Scholem als auch anderen Kritikern schien unklar, aus welcher Position heraus Arendt argumentierte. Ihr Urteil war weder das einer Jüdin, die aus der Perspektive Israels argumentierte, noch präsentierte sie die Juden in der Diaspora.168 Als sie während des Prozesses über die Anwesenden spricht, gibt sie einen Hinweis auf das Selbstverständnis, von dem aus sie argumentiert: „In dem oft halbleeren Saal saßen die ‚Überlebenden‘, alte bestenfalls ältere Menschen, Emigranten aus Europa, wie ich selbst.“169 Arendt spricht aus der Position der Emigrantin, die ihre Unabhängigkeit betont, ohne, wie sie in zahlreichen Interviews und Artikel immer wieder betont, ihre jüdische Herkunft zu verleugnen. Wie bereits erwähnt, war Arendt in den 30er Jahren aktives Mitglied der zionistischen Jugendorganisation „JugendAlijah“, die Kinder und Jugendliche nach Palästina brachten. Später distanzierte sie sich vom Zionismus.170 Der Prozess gegen Eichmann bestätigte

167 Arendt, Hannah: Ein Briefwechsel, a.a.O., S. 77. 168 Vgl. Motzkin, Gabriel: Hannah Arendt: Von ethnischer Minderheit zu universeller Humanität, in: Smith, Gary (Hg.), Hannah Arendt Revisited, a.a.O., S. 177-202, hier S. 189. 169 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 77. 170 Arendts Kritik am Zionismus bedarf einer eigenen Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Richard Bernstein hat Arendts Position gegenüber dem Zionismus so zum Ausdruck gebracht: „She was led to Zionism after being ‚hit

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sie in ihrer Kritik. Dies zeigte sich am deutlichsten in den unterschiedlichen Interpretationen des Antisemitismus. Während die Ankläger die Auffassung vertraten, dass der Antisemitismus des Nationalsozialismus die Fortsetzung der Jahrhunderte langen Tradition des Judenhasses und des Antisemitismus bildete, der dann letztlich im „Holocaust“ kulminierte, unterscheidet Arendt zwischen unterschiedlichen Formen des Antisemitismus, die die gesellschaftlich-politische Produktion der Opfer erklären können, nicht aber die Natur des Verbrechens. Das monumentale Geschichtsbild der Ankläger leugne implizit die Neuartigkeit des Verbrechens und damit den besonderen Stellenwert von Auschwitz: „Keiner der Beteiligten ist je zu einem klaren Verständnis des wahren Schrecken von Auschwitz gelangt, der anderer Art ist als all die Greuel der Vergangenheit. Dem Ankläger und den Richtern gleichermaßen erschien dieser Völkermord nur als der schrecklichste Pogrom in der jüdischen Geschichte. Daher glaubten sie, dass ein direkter Weg von dem anfänglichen Antisemitismus der Nazipartei zu den Nürnberger Gesetzen und von dort zur Austreibung der Juden aus dem Reich und, schließlich, zu den Gaskammern führte. Politisch und rechtlich aber waren diese ‚Verbrechen‘ nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschieden.“171

In ihrem später verfassten Aufsatz Wahrheit und Politik, den Arendt als ihre öffentliche Antwort auf die Kampagne gegen sie verstanden wissen wollte, bestimmt sie die politische Funktion des Berichterstatters.172 Sie bestehe

on the head‘ by political realities – the rise of the Nazis and the political virulence of Antisemitism. Her own thinking compelled her to confront Zionism, because she believed that the great failure of modern European Jewry was the failure to engage in a viable Jewish politics. The Zionist were the only people who fully understood and acted on this conviction. It was politics – the need for a Jewish politics – that led her to Zionism. And it was politics – her critique of Zionist politics – that was the reason for her later break with it.“ Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge 1996, S. 102. 171 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 414. 172 Vgl. Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, in: Dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik, München 1987, S. 44-92. An ihre Freundin Mary McCarthy schreibt sie vor der Veröffentlichung dieses Aufsatzes: „Ich bin der Überzeugung, dass ich einzelnen Kritikern nicht antworten sollte. Wahrscheinlich wer-

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darin, zu sagen, was ist. In diesem Sagen, was ist, erzählt man eine Geschichte, in der nicht nur Fakten benannt werden, sondern diese Fakten eine Bedeutung, einen Sinn erhalten, der die Versöhnung mit der Wirklichkeit im Hegelschen Sinn leistet. Dies ist „der geheime Motor aller Geschichtsschreibung, die über bloße Gelehrsamkeit hinausgeht. Für die Geschichtsschreibung ist das rein Faktische das Rohmaterial, aus dessen Verwandlung die Geschichten der Geschichte entstehen [...]. Man kann mit Aristoteles die politische Funktion des Dichters als Katharsis verstehen, als die läuternde Säuberung von den Emotionen, Mitleid und Furcht, die das Handeln des Menschen lähmen. Die politische Funktion des Geschichtenerzählers [...] liegt darin, dass sie lehren, sich mit den Dingen, so wie sie nun einmal sind, abzufinden und sie zu akzeptieren. Dieses Sichabfinden kann man auch Wahrhaftigkeit nennen; jedenfalls entspringt in der Gegend dieser Realitätsnähe die menschliche Urteilskraft.“173

Wenn Arendt davon spricht, dass die Akzeptanz der Fakten ein „Sichabfinden“ mit der Realität als Wahrhaftigkeit bestimmt, in dessen Realitätsnähe die menschliche Urteilskraft entspringt, so hebt sie hervor, dass der Bezug auf die Tatsachen die unabdingbare Voraussetzung für das Urteilen ist. Darin lag ein weiterer Grund für die Erwähnung der Judenräte im Prozessbericht. Es ging Arendt um die Unparteilichkeit im Sinne Homers174, dessen

de ich schließlich etwas schreiben, keine Antwort, aber eine Art Einschätzung dieser ganzen merkwürdigen Angelegenheit. Das, meine ich, sollte erst passieren, wenn die Aufregung sich gelegt hat, und ich glaube, der kommende Frühling wird die beste Zeit dafür sein. Ich beabsichtigte einen Essay über Truth and Politics zu schreiben, der eine implizite Antwort sein würde.“ Hannah Arendt an Mary McCarthy, Brief vom 3. Oktober 1963, in: Dies./McCarthy, Mary: Im Vertrauen, a.a.O., S. 238f. 173 Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, a.a.O., S. 89f. 174 So schreibt Arendt in Was ist Politik?: „Dabei ist erst einmal von entscheidender Bedeutung, dass Homers Lied nicht schweigt von dem überwundenen Mann, dass es für Hektor nicht weniger zeugt als für Achill [...]. Diese große Unparteiischkeit Homers, die keine Objektivität im Sinne der modernen Wertfreiheit, wohl aber im Sinne der vollkommensten Freiheit von Interessen und der vollkommensten Unabhängigkeit vom Urteil der Geschichte ist, der gegenüber sie auf dem Urteilen des handelnden Menschen und seinem Begriff der

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Erzähler sowohl die Taten der Sieger als auch die der Besiegten erzählt. Der kritische, unparteiische Erzähler sieht seine Aufgabe darin, Tatsachen und politische Konflikte um der Gerechtigkeit willen erst aufzudecken. Die Fähigkeit des Urteilens erfordert es, die eigene Sichtweise in Relation zu anderen zu setzen, die dasselbe Ereignis beurteilen. Unparteilichkeit wird erreicht, so Arendt, „indem die Standpunkte anderer berücksichtigt werden; Unparteilichkeit ist nicht das Ergebnis irgendeines höheren Standpunktes, der dann in Wirklichkeit den Streit dadurch beilegen würde, dass er sich ganz über dem ‚melèe‘ befände“175. In der zwei Jahre später verfassten Vorrede zu der deutschen Übersetzung von Eichmann in Jerusalem ergriff Arendt die Chance, sich zu der Debatte, die ihr Bericht ausgelöst hatte, zu äußern. Gegen ihr Buch sei noch vor seinem Erscheinen eine organisierte Kampagne in die Wege geleitet worden, „die mit identischer Phraseologie von Amerika nach England getragen wurde, um schließlich auf den europäischen Kontinent überzugreifen, lange bevor das Buch dort auch nur zugänglich war. Diese Angriffe beschäftigen sich im Wesentlichen damit, ein Propaganda-Phantom, ein sogenanntes ‚Image‘ zu kreieren, und das Resultat war, dass sich ein Streit um ein Buch erhob, das niemals geschrieben worden ist [...].“176

Sie habe einen Bericht verfasst, in dem „nur das zur Sprache komm[t], was im Prozess verhandelt wurde oder im Interesse der Gerechtigkeit hätte verhandelt werden müssen. Sind die allgemeinen Umstände des Landes, in dem der Prozess stattfindet, von Bedeutung für die Prozessführung, so müssen auch sie in Rechnung gestellt werden. Es handelt sich hier also nicht etwa um die Geschichte der größten Katastrophe, die das jüdische Volk je betroffen hat,

Größe besteht, steht am Anfang [...] aller Geschichtsschreibung [...]. Es ist derselbe Gedanke, den wir in der Einleitung Herodots wiederfinden, wenn er sagt, dass er verhindern wolle, dass ‚große und wunderbare Taten, die teils von Hellenen, teils von Barbaren getan worden sind, der Vergangenheit anheim fallen.‘“ Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 92. 175 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 60. 176 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 52.

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noch um die Darstellung des totalen Herrschaftssystems oder um eine Geschichte des deutschen Volkes im Dritten Reiches, noch schließlich gar um eine theoretische Abhandlung vom Wesen des Bösen.“177

Die wirklich grundsätzliche Frage aber, die im Eichmann-Buch verhandelt wird, so meine These, ist die nach der Urteilskraft – und zwar sowohl der der Ankläger als auch des Angeklagten, aber auch der Autorin selbst. Die Kritik an dem Urteilsvermögen der Ankläger zeigte sich in Arendts Stellungnahme zum Gerichtsverfahren und zur Anklageschrift. Die Kritik an der Urteilskraft des Angeklagten zeigte sich in ihrer Analyse des moralischen Zusammenbruchs bei Eichmann. Die Beurteilung der Urteilskraft des Angeklagten war auch insofern von Bedeutung, als juristisch mit der Unterstellung gearbeitet werden musste, „dass Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen.“178

Dass diese Unterstellung bezogen auf die Realität totaler Herrschaft kontrafaktisch war, wird sich am Beispiel Eichmann noch zeigen. Zunächst wird Arendts Kritik der Anklageschrift erörtert. 2.4.3 Kritik der Anklageschrift Arendts Position gegenüber dem Prozess in Jerusalem erscheint auf den ersten Blick paradox. Einerseits verteidigt sie den Anspruch des Gerichts, über Eichmann zu richten, insofern es keinen Zweifel daran gab, dass die Juden unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit als Juden umgebracht worden waren. Andererseits kritisiert sie die Anklageschrift. Ihre Begründung für die Zuständigkeit Israels beruht auf einem Begriff des Territoriums, der – so kritisiert Benhabib – „zu ihren ansonsten sorgfältigen Unterscheidungen zwischen Staatsbürgerschaft und Nationalität im Widerspruch

177 Ebd., S. 54f. 178 Ebd., S. 65.

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steht“179. Arendt ging davon aus, dass der Begriff des Territoriums ein politischer und nicht bloß ein geographischer sei. Er stelle primär einen Raum dar, der zwischen den Gliedern einer Gruppe entsteht, die sich in geschichtlichen Bezügen bewegt und deren Geschichte sich in Sprache, Religion, Sitten und Gesetzen niedergeschlagen hat.180 Mit dieser Argumentation scheint es, als begäbe sich Arendt in Widerspruch zu jener, im Totalitarismus-Buch herausgearbeiteten Unterscheidung zweier Formen des Nationalismus: dem westlicher Prägung seit der Französischen Revolution und dem völkischen Nationalismus, in dem sie letztlich die Keimzelle totalitärer Bewegungen sah. Schließlich hat es vor der Gründung Israels keinen politischen Raum für Juden als Demos gegeben. Verständlicher wird ihre Haltung und ihr politischer Begriff des Territoriums erst dann, wenn man diesen Argumentationszusammenhang auf die Positionen des Zionismus in der jüdischen Diaspora der Zwischenkriegszeit bezieht, in der die Fragen nach dem Recht und der Gerechtigkeit im Kontext des internationalen Rechts und des nationalen Minderheitenschutzes diskutiert wurden.181 Neben dem Ziel der zionistischen Bewegungen nach einem nationalen Staat hatte es viele Diskussionen gegeben, die sich mit der Anerkennung jüdischer Rechte in der Diaspora befassten. Juden, die nicht ins jüdische Heimatland gingen, bedürften eines internationalen Schutzes vor Übergriffen, die durch eine internationale Rechtsordnung gewährleistet werden sollte. Nach dieser Rechtsvorstellung hätten Juden zwar keinen eigenen Staat, aber eine rechtliche Identität, die durch das internationale Recht abgesichert werden sollte.182 Dieser historisch-politische Hintergrund ist die Basis für Arendts politischen Begriff des Territoriums, und stellt somit keinen Widerspruch zu ihren Analysen über die unterschiedlichen Formen des Nationalismus dar. Anerkennt Arendt also einerseits die Berechtigung Israels, Eichmann in Jerusalem vor Gericht zu stellen, so kritisiert sie andererseits die Anklageschrift, die Eichmann wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen zu verurteilen beabsichtigte. Zwar zielte die Formulierung „Verbrechen gegen die Menschheit“ darauf, das historisch Neue totaler Herrschaft zu treffen, war aber letztlich

179 Benhabib, Seyla: Identität, Perspektive und Erzählung, a.a.O., S. 111. 180 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 408. 181 Vgl. Motzkin, Gabriel: Hannah Arendt, a.a.O. 182 Vgl. ebd., S. 186.

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viel zu unspezifisch. Indem dadurch auch alle anderen Gruppen, die Opfer der totalen Herrschaft waren, mit einbezogen wurden, würde – so Arendt – die Besonderheit des Verbrechens gegenüber dem jüdischen Volk nivelliert. Präziser hätte es heißen müssen: ein Verbrechen gegen die Menschheit, das am jüdischen Volk verübt wurde: „Hätte das Gericht in Jerusalem verstanden, dass Diskriminierung, Austreibung und Völkermord nicht einfach dasselbe sind, dann wäre sofort klargeworden, dass das größte Verbrechen, mit dem es konfrontiert war, die physische Ausrottung des jüdischen Volkes, ein Verbrechen gegen die Menschheit war, verübt am jüdischen Volk, und dass nur die Wahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens aus der langen Geschichte von Judenhass und Antisemitismus abgeleitet werden konnte. Insofern die Opfer Juden waren, war es nur recht und billig, dass das Verfahren vor einem jüdischen Gerichtshof stattfand; aber insoweit das Verbrechen ein Verbrechen an der Menschheit war, hätte es eines internationalen Tribunals bedurft, um in dieser Sache Recht zu sprechen.“183

Arendt unternimmt hier den Versuch, die historische Besonderheit, also die Einzigartigkeit des Verbrechens juristisch zu bestimmen, indem sie die jüdische Partikularität mit dem Universalismus verbindet. Doch welche Art von Universalismus ist hier gemeint? Der Begriff des Universalismus setzt bekanntermaßen eine bestimmte Annahme über die Natur des Menschen, sein Wesen etc. voraus. Nun hat Arendt sich stets geweigert zu sagen, was der Mensch ist. Sie ging davon aus, dass die Menschen bedingte Wesen sind. Sie spricht vom Faktum der Pluralität. Dieses Faktum der Pluralität bildet auch die Grundlage für ihren Begriff der Menschheit. So hat auch Moishe Postone zu Recht darauf hingewiesen, dass Arendts Kategorie der Menschheit „keine gewissermaßen natürliche, vorgegebene Kategorie, sondern eine konstruierte politische ist. [...] Arendt betrachtet gewissermaßen den Eichmann-Prozeß als Anlass, mit der politisch-juristischen Konstruktion einer neuen universellen Kategorie der Menschheit zu beginnen und so herrschende Rechtssysteme und juristische Konzepte zu transformieren.“184

183 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 416. 184 Postone, Moishe: Hannah Arendts Eichmann, a.a.O., S. 274f.

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Obwohl Postone die Notwendigkeit neuer Kategorien angesichts der beispiellosen Verbrechen der Nazis befürwortet, kritisiert er Arendts Versuch, da sie „weder offen noch zusammenhängend das rechtliche Dilemma und die Schwierigkeiten (darstelle), wenn angesichts einer radikal neuen Art von Verbrechen neue juristische Formen geschaffen werden sollen. Stattdessen verschmilzt sie an wichtigen Nahtstellen des Textes ihre Hoffnung auf die Zukunft und die Schaffung rechtlicher und politischer Institutionen, die auf einer neuen Kategorie der Menschheit beruhen, mit bestehenden rechtlichen Normen. Sie überwindet das rechtliche Dilemma sozusagen rhetorisch, indem sie das, was sein könnte oder so sein sollte, so darstellt, als bestünde es bereits.“185

Postones Kritik erscheint jedoch nur dann schlüssig, wenn man die unterschiedlichen Argumentationsstränge bei Arendt konsequent ignoriert. Die Kritik des Gerichtsverfahrens fällt nicht mit der Kritik der Anklageschrift zusammen, auch wenn beide aufeinander verweisen. Was Postone übersieht, ist, dass Arendt nicht nur die Kategorie Menschheit politisch interpretiert, sondern auch ihr Verständnis des Universalismus politisch zu verstehen ist. Dies geht aber nicht unmittelbar aus dem Prozessbericht hervor, sondern wird erst dann wirklich deutlich, wenn Arendts Ausführungen zum Begriff der Menschheit und der Menschenrechte aus den Elemente und Ursprüngen totaler Herrschaft hinzugezogen werden. Seyla Benhabib hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Kategorie der Menschheit bei Arendt im direkten Zusammenhang mit der Forderung nach einem einzigen Menschenrecht – dem „Recht, Rechte zu haben“ – verstanden werden muss.186 Allerdings kritisiert Benhabib, dass Arendts Formel vom „Recht, Rechte zu haben“ „quälend zweideutig“187 erscheine. Es werde nicht klar, ob damit ein juristisch anerkannter, vom Gesetzgeber verbürgter oder ein moralischer Anspruch gemeint sei.188 Benhabib kommt zu dem Schluss, dass der Eichmannprozess für Arendt eine Art Wasserscheide bilde, weil er „die Widersprüche hervortreten ließ, mit denen sie ihr Leben lang existenziell

185 Ebd. 186 Vgl. Benhabib, Seyla: Identität, Perspektive und Erzählung, a.a.O., S. 112. 187 Ebd. 188 Vgl. ebd.

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und begrifflich zu kämpfen hatte“189. Richard Bernstein hat allerdings darauf hingewiesen, dass Arendts Werk eine Systematik hat, die ihresgleichen suche. Dies gilt auch für den hier diskutierten Zusammenhang. Schon in der ersten amerikanischen Ausgabe zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft (1951) fordert Arendt ein neues politisches Prinzip für die Menschheit: „Antisemitism (not merely the hatred of Jews), imperialism (not merely conquest), totalitarianism (not merely dictatorship) – one after the other, one more brutally than the other, have demonstrated that human dignity needs a new law on earth [Herv. v. W.M.], whose validity this time must comprehend the whole of humanity while its power must remain strictly limited, rooted in and controlled by newly defined territorial entities.“190

In Reflexion auf die totalitäre Praxis der Menschenvernichtung entwickelt Arendt eine Neubestimmung des Begriffs der Menschheit und fordert die politische Universalisierung der Menschenrechte in Form eines Rechts, Rechte zu haben. Die Welt- und Rechtlosigkeit der Staatenlosen, der Insassen von Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslager habe gezeigt, dass Gleichheit nicht qua Natur gegeben ist: „Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidungen gleiche Rechte gegenseitig garantieren.“191 Damit wird aber gleichzeitig ein politisches Konzept der Menschheit erforderlich: „Denn die Idee der Menschheit, gereinigt von aller Sentimentalität, hat politisch die Konsequenz, dass wir in dieser oder jener Weise die Verantwortung für alle von Menschen begangenen Verbrechen, dass die Völker für alle von Völkern begangenen Untaten die Verantwortung werden auf sich nehmen müssen. [...] Völkische und rassische Wahnvorstellungen sind sehr reale, wenn auch sehr zerstörerische Auswege, den schier unübersehbaren Komplikationen und der fast untragbaren Bürde einer allseitigen Verantwortlichkeit zu entgehen.“192

189 Ebd. 190 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, a.a.O., S. IX. 191 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 622. 192 Ebd., S. 501f.

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In dem Abschnitt Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte193 im Totalitarismus-Buch wird dieser Gedanke aufgenommen: „Der Begriff der Menschenrechte brach, wie Edmund Burke es vorausgesagt hatte, in der Tat in dem Augenblick zusammen, wo Menschen sich wirklich nur noch auf sie und auf keine national garantierten Rechte mehr berufen konnten. Sobald alle anderen gesellschaftlichen und politischen Qualitäten verloren waren, entsprang dem Menschsein keinerlei Recht mehr.“194

Arendt unterscheidet zwischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen die Menschheit. Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthielten zwar Momente zweckloser Brutalität ähnlich wie bei Kriegsverbrechen, aber das Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk könne damit nicht erfasst werden: „Als hätten es die Nazis lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammer schickten – wahrhaft das Understatement des Jahrhunderts!“195 Arendt begreift Verbrechen an der Menschheit als einen „Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche“. Menschliche Mannigfaltigkeit sei gerade durch deren Pluralität bestimmt, ohne die Begriffe wie „Menschengeschlecht“ und „Menschheit“ nicht einmal denkbar seien. Arendt weist die naturrechtliche Begründung der Menschenrechte zurück. Dessen Schwäche habe sich offenbart, als Menschen massenhaft auf den Plan traten, die alle politischen Beziehungen verloren hatten. Im Eichmann-Buch kommt diese Kritik an der Begründung der Menschenrechte und die Neubestimmung des Begriffs der Menschheit aus dem Totalitarismus-Buch zur Anwendung. Das Verbrechen an der Menschheit zeigt sich durch die Zerstörung der menschlichen Pluralität: „Erst als das Nazi-Regime erklärte, das deutsche Volk dulde nicht nur keine Juden in Deutschland, sondern gedächte das jüdische Volk überhaupt vom Erdboden verschwinden zu lassen, trat das neue Verbrechen hervor, das Verbrechen an der

193 Ebd., S. 601-627. 194 Ebd., S. 619. 195 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 423.

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Menschheit im eigentlichen Sinn, nämlich an dem Status des Menschseins oder dem Wesen des Menschengeschlechts.“196

Indem Eichmann sich daran beteiligte, das jüdische Volk aus dem Menschengeschlecht zu stoßen, hatte er selbst das Recht verwirkt, zur Menschheit zu gehören. Weil kein Mensch die Verantwortung für Auschwitz übernehmen kann, weil dieses Verbrechen nie hätten passieren dürfen, sie jenseits von menschlichem Verstehen und Vergeben sind, deshalb befürwortete Arendt die Todesstrafe für Eichmann. Arendts Verwendung des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschheit“ in diesem spezifischen Verständnis korrespondiert mit dem der „Banalität des Bösen“, weil beide auf dem Begriff der Pluralität beruhen. Ihre Interpretation der „Verbrechen gegen die Menschheit“ und der „Banalität des Bösen“ sind zwei Seiten derselben Sache, weil die Zerstörung der Menschheit die Zerstörung des Menschen impliziert. Im ihrem ersten Vorwort zu den Origins of Totalitarianism führt Arendt diese doppelte Stoßrichtung der totalen Herrschaft an: „The totalitarian attempt at global conquest and total domination has been the destructive way out of all impasses. Its victory may coincide with the destruction of humanity; wherever it has ruled, it has began to destroy the essence of man.“197 Die Tragweite des Begriffs der Banalität des Bösen, auf den ich weiter unten noch zu sprechen komme, wird nur dann verstanden, wenn man ihn in Beziehung setzt zu Arendts Formulierung vom „Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk“198. Dies wird von Benhabib verkannt. Ihrer Meinung nach bestehe das Wesentliche und Aktuelle des Eichmann-Buchs nicht im Begriff der Banalität des Bösen, sondern in Arendts Interpretation des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschheit“ sowie in der Erkenntnis, dass das Böse in dem Überflüssigmachen von Menschen bestehe.199 Benhabib entgeht dabei gerade die Pointe in Arendts Argumentation, die darin besteht, dass der Begriff „Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk“ als Taten auf den Begriff von der „Banalität des Bösen“ als Unfähigkeit sich im Denken an die Stelle eines Anderen zu setzen bezogen ist.

196 Ebd., S. 415. 197 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, a.a.O., S. VIII. 198 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 416. 199 Vgl. Benhabib, Seyla: Identität, Perspektive und Erzählung, a.a.O., S. 108f.

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2.4.4 Ein exemplarisches Beispiel der Banalität des Bösen: Adolf Eichmann Kritisiert Arendt die Anklage, weil diese die historisch neue Form des Verbrechens nicht berücksichtigte, so kritisiert sie im Besonderen die Perspektive, aus der das Gericht und die Staatsanwaltschaft Eichmann wahrnahm. Die Schuld Eichmanns war bei allen Beteiligten unbestritten, doch die Einschätzung und die Bedeutung Eichmanns unterschieden sich erheblich. Während Eichmann für Gideon Hausner die „Verkörperung des satanischen Prinzips“ darstellte, war für Arendt diese Vorstellung zwar verständlich, weil es leichter zu ertragen sei, „dass Opfer eines Teufels in Menschengestalt zu sein, [...] als das eines beliebigen Hanswursts“. Allerdings verdunkele sie die Tragweite und Bedeutung seiner Taten und dessen Hintergründe.200 Die Anklage versuchte nachzuweisen, dass Eichmann nicht nur aus niederen Beweggründen handelte, sondern auch ein Wissen über die verbrecherische Natur seiner Taten hatte. Unablässig war sie bemüht, ihm zumindest einen Mord nachzuweisen, den er selbst begangen hatte.201 Dass dies nicht gelang, zeigt die ganze Hilflosigkeit des Verfahrens. Die Anklage konnte sich einfach nicht vorstellen, dass „ein durchschnittlicher, ‚normaler‘ Mensch, der weder schwachsinnig noch eigentlich verhetzt, noch zynisch ist, ganz außerstande sein soll, Recht von Unrecht zu scheiden. Sie zogen lieber aus gelegentlichen Lügen den Schluss, Eichmann sei ein Lügner – so entging ihnen das schwerste moralische Problem des Falles, über den sie zu Gericht saßen.“202

Eichmanns Taten waren Arendts Auffassung nach weder durch einen sadistischen Willen noch durch einen fanatischen Antisemitismus motiviert.203

200 Vgl. Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Thilo Koch (Januar 1964), a.a.O., S. 41. 201 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 98f. 202 Ebd., S. 103. 203 In der Aufsatz Organisierte Schuld beschreibt Arendt, dass es ganz unterschiedliche Täter gegeben hat, auch Sadisten, aber sie hielt Eichmann für keinen. Dies ist Arendt immer wieder vorgehalten worden. Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, a.a.O., 34f. So schreibt auch Gary Smith in seiner Einleitung

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Eichmann ist für sie ein neuer „Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, [der] unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden“204. Das fundamentale Problem in allen NS-Prozessen bestand gerade darin, dass diese Prozesse voraussetzten, dass die Täter, die „legale“ Verbrechen verübten, immer noch fähig sein sollten, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Bezogen auf dieses Problem erörtert Arendt den moralischen Zusammenbruch bei Eichmann. Schon 1950 forderte Arendt in Die vollendete Sinnlosigkeit, dass die Sozialwissenschaften sich mit einer Gesellschaft befassen müssen, in der Menschen schrittweise dazu gebracht werden, „bloß noch verlässliche Reaktionsbündel zu sein“205. Während des Prozesses in Jerusalem entdeckte sie in Eichmann solch ein „verlässliches Reaktionsbündel“. Es ging ihr dabei aber keineswegs darum, einen subjektiven Mangel, eine autoritäre Struktur o.Ä. an Eichmanns Charakter festzustellen. Es war vielmehr die ungeheuere Diskrepanz zwischen dem Grauen, das unter der Herrschaft der Nazis geschehen war, und dem „Hanswurst“ Eichmann, die Arendt irritierte. Eichmann war nicht das Monster, wie es sich viele vorgestellt hatten. Im Gegenteil: „[Er] war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen ‚ein Bösewicht zu wer-

Einsicht aus falscher Distanz, in dem von ihm herausgegebenen Buch Hannah Arendt Revisited: Eichmann in Jerusalem und die Folgen: „Arendt verweigerte sich der Einsicht in die kranke, sadistische Natur dieses Täters und schritt mit dem ganzen Stolz ihrer Intelligenz über die historische Erfahrung und die aktuellen Empfindungen ihrer Zeitgenossen hinweg. Auch beim Wiederlesen nach so vielen Jahren wächst von Seite zu Seite der Eindruck, dass es nicht darum geht, über einen Prozess zu berichten oder die widersinnige Konsequenz eines historisch einmaligen Verbrechens zu begreifen, um sie der gebildeten Schicht Amerikas zu vermitteln – nein, sie nutzt ihre unbestreitbare literarische Kraft dazu, die Historie des Holocausts so mit der Figur des banalisierten Eichmanns zu verbinden, dass ihr ‚Report‘ auf den Seiten des New Yorker und im späteren Buch sie selbst als die erste Intellektuelle erstehen lässt, die den Bann des Unbegreiflichen durch eine souveräne Erzählung zu brechen weiß.“ Smith, Gary: Einsicht aus falscher Distanz, a.a.O., S. 8. 204 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 425. 205 Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, a.a.O., S. 25.

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den‘. [...] Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte.“206 Die Fähigkeit, sich vorzustellen, was man „anstellt“, ist die Fähigkeit, sich im Denken an die Stelle eines anderen zu setzen, indem die eigene Sichtweise anhand anderer Perspektiven/Meinungen überprüft werden kann. Arendt hat diesen Gedanken an vielen Stellen formuliert. In ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik beschreibt sie es ausdrücklich. Es gilt „mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eignen Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solcher Standorte ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen [...].“207

Dieses Vermögen ist, wie Arendt immer wieder betont, nicht voraussetzungslos. Es setzt einen öffentlichen politischen Raum voraus, durch den das „repräsentative Denken“ erst möglich wird. Das mangelnde Vorstellungsvermögen Eichmanns ermöglichte es ihm, „viele Monate hindurch einem deutschen Juden im Polizeiverhör gegenüber zu sitzen [...]. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädestinierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. [...] Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.“208

Arendt lenkt die Aufmerksamkeit auf die Motivlosigkeit des Täters, die anscheinend fehlenden ideologischen Überzeugungen und die Beobachtung, dass Gedankenlosigkeit mehr Unheil anrichten könne als eventuelle „böse Triebe“. Viel später, im ersten Band zum Leben des Geistes beschreibt Arendt noch einmal ihre Verblüffung über Eichmann:

206 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 57. 207 Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, a.a.O., S. 342. 208 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 56f.

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„Ich war frappiert von der offenbaren Seichtheit des Täters, die keine Zurückführung des unbestreitbar Bösen seiner Handlungen auf irgendwelche tieferen Wurzeln oder Beweggründe ermöglichte. Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter – zumindest jene einst höchst aktive Person, die jetzt vor Gericht stand – war ganz gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich. Nichts an ihm deutete auf feste ideologische Überzeugungen oder besondere böse Beweggründe hin; das einzig Bemerkenswerte an seinem früheren Verhalten wie auch an seinem jetzigen vor Gericht und in den vorangegangenen Polizeiverhören war etwas rein Negatives: nicht Dummheit, sondern Gedankenlosigkeit.“209

Ging die Anklage von der Voraussetzung aus, dass der Angeklagte ein Bewusstsein von der Unrechtmäßigkeit seiner Handlungen hatte, so traf dies auf Eichmann überhaupt nicht zu. Was Arendt frappierte, war die Schäbigkeit des Massenmörders ohne Schuldbewusstsein und die „gedankenlose Minderwertigkeit“210. Eichmann hatte überhaupt nicht die Qualitäten, die man erwartet hatte. Er zeigte alles andere als eine teuflisch-dämonische Tiefe. Da Arendt Eichmann nicht als das Ungeheuer beschreiben konnte, das man erwartet und vielleicht auch erhofft hatte, wurde ihr unterstellt, sie wolle die Ungeheuerlichkeit der Naziverbrechen bagatellisieren. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Die Frage, die sich Arendt stellte, war gerade die nach dem inneren Zusammenhang zwischen der historisch neuen Form totaler Herrschaft und der Denk- und Handlungsweise, die sich an Eichmann exemplarisch zeigte. Wenn er kein „Bösewicht“ war, was war er dann? Was waren seine Motive? Zwar spricht Arendt von der Motivlosigkeit Eichmanns, aber diese bezieht sich auf die Ermordung der Juden. Er hatte kein spezielles persönliches Motiv, die „Endlösung“ zu betreiben. Eichmann selbst bestritt, sowohl aus niedrigen Motiven gehandelt als auch ein Wissen um die verbrecherische Natur seiner Taten gehabt zu haben. Ein schlechtes Gewissen hätte er nur dann gehabt, wenn er den Befehlen nicht gehorcht hätte. Die Psychiater, die Eichmann untersuchten, konnten den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nicht feststellen. Was sie aber feststellten, war, dass „Eichmanns gesamter Habitus, seine Einstellung zu Frau und Kindern, Mutter und Vater, zu Geschwistern und Freunden, nicht nur

209 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 14. 210 Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Thilo Koch (Januar 1964), a.a.O., S. 41.

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normal, sondern höchst vorbildlich“211 war. Es war gerade diese Normalität, die Eichmann exemplarisch verkörperte und die auch andere Nazi-Größen kennzeichnete, z.B. Himmler.212 In beiden erkennt Arendt den Sozialtypus des „Spießers“: „[M]it allem Anschein der Respektabilität, mit allen Gewohnheiten des guten Familienvaters, der seine Frau nicht betrügt und für seine Kinder eine anständige Zukunft sichern will“.213 Himmler habe die Terrororganisationen bewusst auf der Annahme aufgebaut, dass „die meisten Menschen nicht Bohemiens, nicht Fanatiker, nicht Abenteurer, nicht Sexualverbrecher und nicht Sadisten sind, sondern in erster Linie ‚jobholders‘ und ‚gute Familienväter‘“214. Hier kommt Arendts kritische Gesellschaftsanalyse aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ins Spiel. Der „Zusammenbruch der Klassengesellschaft“ und die „fortschreitende

211 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 102. 212 Vgl. Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, a.a.O. 213 „Wir sind so gewohnt gewesen, in dem Familienvater die gutmütige Besorgtheit, die ernste Konzentriertheit auf das Wohl der Familie, die feierliche Entschlossenheit, Frau und Kindern das Leben zu weihen, zu bewundern oder zu belächeln, dass wir kaum gewahr wurden, wie der treusorgende Hausvater, der um nichts so besorgt war wie Sekurität, sich unter dem Druck der chaotischen ökonomischen Bedingungen unserer Zeit in einen Abenteurer wider Willen verwandelte, der bei aller Sorge des nächsten Tages nie sicher sein konnte. Seine Gefügigkeit war in den Gleichschaltungen zu Beginn des Regimes bereits bewiesen worden. Es hatte sich herausgestellt, dass er durchaus bereit war, um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben.“ Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, a.a.O., S. 34. Vgl. auch Habermas, Jürgen: Hannah Arendts Begriff der Macht, in: Ders.: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1984, S. 228-249, hier S. 235f. Vgl. Schindler, Roland: Geglückte Zeit – gestundete Zeit, a.a.O., S. 108-112. Vgl. Schulze Wessel, Julia: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 168f. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Arendt in dem früheren Aufsatz Organized Guilt and Universal Responsibility (1945), der unter dem Titel German Guilt im Jewish Frontier 12 (1945) erschienen war, Himmler nicht als Spießer sondern als „Bourgeois“ bestimmt, der zum Mob transformiert. 214 Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, a.a.O., S. 34f.

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Vermassung aller gesellschaftlichen Strukturen“215 produzieren, so lautete ihre These, die Gestalt des „Spießers“, die zu einer „modernen internationalen Erscheinung“216 avanciert. Zugespitzt formuliert Arendt: „Jedesmal, wenn die Gesellschaft in der Erwerbslosigkeit den kleinen Mann um sein normales Funktionieren und seine Selbstachtung bringt, bereitet sie ihn auf jene letzte Etappe vor, in der er jede Funktion, auch den ‚Job‘ des Henkers zu übernehmen bereit ist.“217

Der Spießer als Bourgeois in seiner Isolierung, in seiner Verlassenheit von seiner eigenen Klasse wird von den Nazis politisch eingespannt.218 Er wird zum Funktionär und willigen Komplizen. Dabei sind es nicht Leidenschaften, die ihn treiben. Als Produkt der Massengesellschaft sind „Spießer“ eine amorphe Ansammlung von Individuen, „zwischen denen eine gemeinsame Welt in Stücke gefallen“ ist. Ihre „absolute Verantwortungslosigkeit für das Öffentliche“ zeigt sich in der „rücksichtslosen Ergebenheit in [das] eigene Wohl“219. Wie bei Himmler schien auch bei Eichmann die „absolute Verantwortungslosigkeit“ mit der Vorstellung zu korrespondieren, dass man ihn von jeder Verantwortung freisprechen würde.220 Diese Verantwortungslosigkeit, die sie an Eichmann so deutlich erkannte, stellt für Arendt ein untrügliches Symptom eines Welt- und Selbstverlustes dar. Welt- und Selbstverlust sind zwei Seiten derselben Medaille. 2.4.5 Das Gewissen und die Unfähigkeit zu urteilen Wie im ersten Abschnitt des zweiten Kapitel gezeigt, hatte Arendt im letzten Abschnitt über die totale Herrschaft in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die These aufgestellt, dass der Form der totalen Herrschaft eine

215 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 671. 216 Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, a.a.O., S. 35. 217 Ebd. 218 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 722. 219 Arendt, Hannah: Sprengstoff-Spießer (16. Juni 1944), in: Dies.: Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher, München 2000, S. 143147, hier S. 146. 220 Vgl. Arendt, Hannah: Organisierte Schuld, a.a.O., S. 34.

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neue Grunderfahrung korrespondiert: der Zustand der Verlassenheit. In ihm kulminieren Welt- und Selbstverlust. Diese Verlassenheit führt zum Verlust der Urteilskraft. Paradoxerweise besteht die neue Grunderfahrung gerade darin, dass die Erfahrungs- und damit „echte“ Denk- und Handlungsfähigkeit zerstört werden. Totale Herrschaft zerstört die intersubjektiven Möglichkeiten der Kommunikation und damit den Bezug auf gemeinsame Erfahrungen, also die Wirklichkeit. Terror und Ideologie machen die Montesquieusche Unterscheidung zwischen der Struktur einer Staatsform und dem Prinzip des Handelns hinfällig. Der Gewalt dieser Entdifferenzierung entspringt der Zustand der Verlassenheit, der sich dadurch auszeichnet, dass die Menschen weder in der Lage sind, den inneren Dialog mit sich selbst zu führen – und das heißt, sich im Denken an die Stelle eines Anderen zu setzen –, noch, im öffentlichen Raum zu handeln. Während die Zerstörung der gemeinsamen Welt ein objektiver Prozess ist, ist der Zustand der Verlassenheit eine subjektive Folge davon: Verlassenheit entsteht, „wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinaus gestoßen wird oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinander bricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft.“221

Die Zerstörung der politisch-öffentlichen und die privat-gesellschaftlichen Sphäre ermöglicht es der totalen Herrschaft, die völlig Isolierten, die „Verlassenen“ in Massenorganisationen mit einem eisernen Band zu verbinden, so als seien sie nicht Verschiedene mit unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven, die sie in Wort und Tat zum Ausdruck bringen, sondern als seien sie „ein Mensch“. Der Terror, der diese Zerstörung der Pluralität bewirkt, zeigt sich in einer Form der Welt- und Selbstlosigkeit, die dem Gefühl entspricht, dass der einzelne Mensch jederzeit durch andere ersetzt werden kann. Im Unterschied zur Verlassenheit ist der Mensch in der Einsamkeit mit sich selbst zusammen: „Einsames Denken gerade ist dialogisch und in Gesellschaft mit jedermann. Dies ist die Zwiespältigkeit der Einsamkeit, in der ich, immer auf mich selbst zurückbezogen, mich niemals als einen, in seiner Identität Unverwechselbaren, wirklich Eindeu-

221 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 977.

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tigen erfahren kann. Aus der Zwiespältigkeit und Vieldeutigkeit der Einsamkeit werde ich erlöst durch die Begegnung mit anderen Menschen, die mich dadurch, dass sie mich als diesen Einen, Unverwechselbaren, Eindeutigen erkennen, ansprechen und mit ihm rechnen, in meiner Identität erst bestätigen. In ihren Zusammenhang gebunden und mit ihnen verbunden, bin ich erst wirklich als Einer in der Welt und erhalte mein Teil Welt von allen anderen.“222

Die Verlassenheit kennt keine Einsamkeit und folglich kein Selbst. Dies zeigt sich in der Zerstörung der Fähigkeit zum Dialog mit sich selbst, weil die Kommunikation mit anderen, dessen Voraussetzung ist. Genau an dieser Stelle setzt Arendt im Eichmann-Buch wieder an. Arendt behauptet nicht, dass Eichmann kein Gewissen habe, sondern dass es nicht funktioniere. Das Gewissen ist Resultat der inneren und äußeren Pluralität, die an das „Zwischen“ der gemeinsamen Welt gebunden ist: „Unabhängig von diesem Zwischen gibt es nicht Recht und Unrecht. Sobald es schwindet, verschwinden mit ihm die Maßstäbe im buchstäblichsten Sinne. Es gibt kein Gewissen, das diesen Schwund, gleichsam im leeren Raum, überleben könnte.“223 Ein Indiz für das Nicht-Funktionieren des Gewissens bei Eichmann entdeckte Arendt nicht etwa darin, dass er sich im Sinne der Anklage für nicht schuldig hielt, sondern darin, dass er sich moralisch auf Kant berief. Er habe, so Eichmann, sein ganzes Leben nach der Moralvorstellung Kants gelebt.224 Auf Nachfragen des Richters, was er darunter verstehe, erklärt er: „Da verstand ich darunter, dass das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muss, dass es jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte.“225 Der kategorische Imperativ für „den Hausgebrauch des kleinen Mannes“226, so folgert Arendt, reduziert den kantischen Gedanken auf die Identifizierung des eigenen Willens mit dem Gesetz. Das Gesetz war der Wille des Führers und immer in Bewegung: „In Kants Philosophie war diese Quelle die praktische Vernunft; im Hausgebrauch, den Eichmann davon machte, war diese Quel-

222 Ebd., S. 977. 223 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 15. 224 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 244f. 225 Ebd., S. 245. 226 Ebd., S. 216.

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le identisch geworden mit dem Willen des Führers.“227 In dieser Hinsicht habe Eichmann sich durchaus im Rahmen der hier geforderten Urteilsfähigkeit gehalten, nämlich in dem Sinne, dass er sich nur an gültige Gesetze und Verordnungen hielt. Eichmanns Gewissen war identisch mit dem Gesetz Hitlers, auch wenn dies den Massenmord implizierte. Eichmann beeindruckte an Hitler gerade, dass er sich „vom Gefreiten der deutschen Armee zum Führer eines Volkes von fast 80 Millionen“ emporgearbeitet hatte: „Sein Erfolg allein beweist mir, dass ich mich ihm unterzuordnen hatte.“228 Die Instanz, die einem sagt, was Recht oder Unrecht ist, war damit ausgeschaltet. Arendt hebt hervor, dass Eichmann nicht nur Befehlen gehorchte, sondern sich gesetzestreu verhielt. In Anlehnung an Montesquieu unterscheidet Arendt zwischen Gesetzen, die die Handlungen von Bürgern im öffentlichen politischen Bereich bestimmen, und Sitten, die die Handlungen von Menschen im Bereich der Gesellschaft leiten.229 Durch den Missbrauch der Macht einer Regierung würden die Gesetze unterminiert, und mit dem Verlust der Autorität von Gesetzen verlieren die Menschen die Fähigkeit zum verantwortlichen Handeln. Sie werden zurückgeworfen auf die Sitten und Traditionen der Gesellschaft: „Solange sie intakt sind, verhalten sich die Menschen als private Individuen weiterhin entsprechend bestimmten Mustern der Moral. Aber diese Moral hat ihre Grundlage verloren. Der Tradition ist nur zuzutrauen, dass sie das Schlimmste für eine begrenzte Zeit verhindert. Ein jeder Vorfall kann Sitten und Moral, wenn sie ihre Grundlage nicht mehr in der Gesetzmäßigkeit haben, zerstören; jedes zufällige Ereignis muss eine Gesellschaft, wenn sie nicht mehr durch Bürger gewährleistet ist, bedrohen.“230

Montesquieu habe schon im 18. Jahrhundert auf die Gefahren für ein politisches Gemeinwesen hingewiesen, wenn sie nur durch „die bindende Kraft der Moral“231 zusammengehalten wird. Der Niedergang der Sitten und Traditionen im frühen 19. Jahrhundert wurde durch die industrielle Revolution

227 Ebd., S. 246. 228 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 232. 229 Vgl. Arendt, Hannah: Verstehen und Politik, a.a.O., S. 118. 230 Ebd., S. 118f. 231 Ebd., S. 119.

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bewirkt, die „in ein paar Dekaden [...] unseren Planeten radikaler als all die dreitausend Jahre überlieferter Geschichte zuvor“232 veränderte. Arendt hebt hervor, dass diese Veränderung sich in einem politischen Kontext vollzog, dessen Grundlagen nicht mehr gesichert waren: „Er erfasste deshalb eine Gesellschaft, die, obwohl noch immer des Verstehens und Urteilens fähig, ihre Kategorien des Verstehens und Maßstäbe des Urteilens dann nicht mehr verteidigen konnte, als sie sich einer ernsthafteren Herausforderung zu stellen hatte.“233

Dies stelle zwar keine Erklärung für den Totalitarismus dar, aber gebe vielleicht einen Hinweis darauf, warum „unsere große Tradition so merkwürdig schweigsam blieb, so offensichtlich bar jeder schöpferischen Antwort, als ‚moralische‘ und politische Fragen sie herausgefordert haben. Genau die Quellen, aus denen solche Antworten hätten sprudeln sollen, waren ausgetrocknet. Genau der Rahmen, in dem Verstehen und Urteilen aufkommen könnten, ist nicht mehr vorhanden.“234

Diesen Gedanken greift Arendt später in Vom Leben des Geistes mit Bezug auf Eichmann wieder auf. Dort schreibt sie in der Einleitung über die Geschwindigkeit mit der „habits and customs“ vergessen werden, wenn neue Situationen auftreten, und nimmt dies als Indiz für das mangelnde Wissen über Moral und Ethik: „Das gewöhnlich Fragen von Gut und Böse in Vorlesungen über ‚Moral‘ oder ‚Ethik‘ behandelt werden, das zeigt wohl, wie wenig wir über sie wissen, denn das Wort ‚Moral‘ kommt von ‚mores‘, und ‚Ethik‘ kommt von ‚ethos‘, dem lateinischen bzw. griechischen Wort für Sitte und Gewohnheit.“235

Sitten und Traditionen funktionieren jedoch nur, solange die Tradition noch gegenwärtig ist. Eichmanns Verhalten funktionierte nur, solange er festge-

232 Ebd. 233 Ebd. 234 Ebd., S. 120. 235 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 15.

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setzte Regeln hatte, wusste, was zu tun war. Aber sobald er mit unerwarteten Situationen konfrontiert war, verhielt er sich hilflos und antwortete mit Klischees. Er war unfähig, ein – um mit Kant zu sprechen – reflektiertes Urteil zu fällen, d.h. sich vorzustellen, „was er anstellte“. Damit stellt sich gleichzeitig die Frage, wie man jemand verurteilen kann, der kein Bewusstsein über die Unrechtmäßigkeit seiner Handlungen hat: „So wie Eichmann die Dinge darstellte, hat kein Faktor so wirksam zur Beruhigung seines Gewissens beigetragen, wie die schlichte Tatsache, dass er weit und breit niemanden, absolut niemanden entdecken konnte, der wirklich gegen die ‚Endlösung‘ gewesen wäre.“236 Eichmanns Gewissen sprach wie die Stimme der Gesellschaft, die ihn umgab.237 Was Eichmann von gewöhnlichen Verbrechern unterschied war, „dass er sich nicht mit Komplizen vor einer nicht kriminellen Wirklichkeit verstecken musste, sondern sich in Übereinstimmung mit 80 Millionen Deutschen befand, die mit den gleichen Mitteln wie Eichmann von der Wirklichkeit und Faktizität abgeschirmt wurden“238. Im ersten Band Vom Leben des Geistes bestimmt Arendt das Gewissen als Produkt des Denkens. Das Gewissen ist die „Vorwegnahme des Gesellen, der einen nur dann, aber immer dann erwartet, wenn man nach Hause kommt“239. Wenn Arendt bei Eichmann „Gedankenlosigkeit“ beobachtet, heißt dies folglich, dass dieser innere Prozess des Dialogs bei ihm nicht stattfindet: „Das Denken – das Zwei-in-Einem des stummen Zwiegesprächs – aktualisiert den Unterschied in unserer Identität, wie er im Bewusstsein gegeben ist, und so entsteht als Nebenprodukt das Gewissen.“240 Der fehlende Dialog mit sich selbst, also die Unfähigkeit zu denken, führt zu Eichmanns Unfähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Im Februar 1970 notiert Arendt in ihrem Denktagebuch die Unterscheidung zwischen Schlechtigkeit und Bösem: „Die Schlechtigkeit ist ein Willensphänomen. Das Böse ist ein Phänomen mangelnder Urteilskraft. Da die Urteilskraft auf Andere reflektiert, ist nur der ‚böse‘ Mensch, der nicht urteilt, den Unterschied nicht kennt, zu allem fähig. Urteilen hängt selbst

236 Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 219. 237 Vgl. ebd., S. 232. 238 Ebd., S. 134. 239 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 190. 240 Ebd., S. 192.

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mit Denken insofern zusammen, als sich im Denken die Differenz, also die innere Pluralität aktualisiert. Schlechtigkeit reflektiert auf Andere, hat ein Gewissen etc. Richard III. Das Entscheidende ist nicht, dass man nicht mit einem Mörder zusammen leben will, also sich widerspricht, sondern dass man nicht Zwei-in-Eins ist, d.h. als Einer nur von einem ungeteilten Selbst getrieben dahinlebt.“241

Der Mangel an Urteilskraft bei Eichmann war gleichbedeutend mit seiner Unfähigkeit, sich im Denken an die Stelle eines Anderen zu setzen. An die Stelle dieser Form des Denkens trat logisches Schlussfolgern.242 So kommt Arendt zu dem Ergebnis, dass man, je länger man Eichmann zuhörte, lernen konnte, dass seine Unfähigkeit zu sprechen mit der Unfähigkeit zu denken einherging, und dies hieß: die Unfähigkeit, vom Standpunkt eines Anderen zu denken. In einer längeren Notiz im Denktagebuch aus dem Jahre 1952 thematisiert sie die Beziehung zwischen Denken, Sprechen und Reden im Zusammenhang zwischen Logik und Dialektik: „Alles Reden mit Anderen ist immer schon Reden über etwas beiden Gemeinsames, also nicht reden aus und in der Sache selbst. Der Unterschied zwischen Denken und Reden ist genau dies: Denken ist dies Durchsprechen einer Sache mit sich selbst; Reden ist reden über. Beides ist Sprechen! Will man das ‚über‘ vermeiden, so zwingt man den anderen in das eigene Denken; hier entsteht der Zwang des fremden Denkens.“243

Arendt unterscheidet die Dialektik als Form des einsamen Denkens von der Logik als Form des verlassenen Denkens. In der Logik, dem verlassenen Denken, gibt es kein erwiderndes Selbst als Partner des einsamen Zwiegesprächs, sondern nur den Zwang des logischen Denkens. Der Verlassene hat weder „die Welt der Anderen, noch sich Selbst, noch Gott – Prozess der Selbst-Zerstörung und Welt-Zerstörung“244.

241 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 767f. 242 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 131. 243 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 213f. 244 Ebd., S. 213f. Zu weiteren Ausführungen zum Gewissen: Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1., S. 180, S. 571; Bd. 2, S. 813. Vgl. auch Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006.

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Die innere Pluralität, der Dialog mit sich selbst oder, wie Arendt häufig sagt, das lautlose Gespräch mit mir selbst, hat die äußere Pluralität zur Voraussetzung. Damit ist aber auch die Entfaltung des Gewissens an die Welt gebunden. Die Konfrontation mit Eichmann stellte für Arendt eine Bestätigung ihrer These dar, dass die Fähigkeit des Denkens einer ständigen Aktualisierung bedarf: „Reason itself, the thinking ability which we have, has a need to actualize itself. The Philosophers and the metaphysicians have monopolized this capability. [...] We have forgotten that every human being has a need to think, not to think abstractly, not to answer the ultimate questions of God, immortality, and freedom, nothing but to think while he is living. And he does it constantly.“245

Arendt hat das Denken an der Stelle eines Anderen als politisches Denken bestimmt, die Eichmann fehlte. Diese Fähigkeit beschrieb Arendt in zweifacher Form, einmal ist es gebunden an die tatsächliche Präsenz anderer, andererseits befähigt uns die Einbildungskraft dazu, uns in die Position derer zu versetzen, die nicht anwesend sind. Die Unfähigkeit zu denken zeigt sich bei Eichmann auch als eine Unfähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern. Walter Benjamin hat in seiner Schrift Der Erzähler als Reflexion über den ersten Weltkrieg die Unfähigkeit des Erzählens hervorgehoben, die Resultat geschichtlicher Erfahrung war: „Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.“246

245 Arendt, Hannah: On Hannah Arendt, in: Dies.: The Recovery of the Public World, Hill, Melvyn, A. (Hg.), New York, 1979, S. 301-339, hier S. 303. 246 Benjamin, Walter: Der Erzähler, in: Gesammelte Werke, Bd. II.2, Frankfurt a.M. 1991, S. 439. „Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man bei Kriegsende bemerkt, dass die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. [...] Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die Sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit dem Pferdewagen zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war

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Arendts Bestimmung des Welt- und Selbstverlustes, die sie in der Kategorie der Verlassenheit als neue Grunderfahrung der Menschen unter der totalen Herrschaft umfasst, korrespondiert mit dem, was Benjamin als „Verlust der Erfahrung“247 beschreibt, weil Erfahrungen an den Austausch und an die Mitteilung geknüpft sind. 2.4.6 Die Banalität des Bösen Arendt war nach Jerusalem gefahren, weil sie wissen wollte, „wie einer aussieht, der ‚radikal Böses‘ getan hat. […] Und gelernt habe ich, dass das Böse prinzipiell nicht ‚radikal‘, sondern [...] ein Oberflächenphänomen ist.“248 Der Eichmann-Prozess in Jerusalem führte sie auf ihr Verständnis des „radikal Bösen“ im Totalitarismus-Buch zurück. Dort hatte sie stets vom „absoluten Bösen“ oder „radikalen Bösen“ gesprochen. Und in einer Notiz im Denktagebuch aus dem Jahr 1950 findet sich eine Bestimmung des „radikalen Bösen“ als das, „was nicht hätte passieren dürfen, d.h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf“249. Ob Arendt ihre Ansicht über das Böse geändert hat, ob es eine Transformation vom „radikalen Bösen“ im Totalitarismus-Buch zum Begriff der „Banalität des Bösen“ im Eichmann-Buch gegeben hat, ist in der Forschung umstritten. Roland Schindler und Richard Bernstein heben in ihren Analysen zu dieser Fragestellung die Gemeinsamkeiten der beiden Verständnisse des Bösen hervor.250 Dabei betrachtet Schindler das radikal Böse und die Banalität des Bösen als eine Verschränkung von einerseits funktionellen, andererseits intentionalen Aspekten des Bösen; inhaltlich

als die Wolke und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“ Ebd. 247 Ebd. 248 Arendt, Hannah: Brief an Sigmund Neumann, 15. August 1961, Container 40.7, (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg). 249 Arendt, Hannah: Denktagebuch, a.a.O., Bd. 1, S. 7, S. 128. 250 Vgl. Schindler, Roland: Rationalität zur Stunde Null. Mit Hannah Arendt in das 21. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 114-117; vgl. Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt and the Jewish Question, Cambridge 1996.

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ergänzten sich beide Begriffe.251 Bernsteins Argument bezieht sich auf die changierenden Verwendungsweisen des Begriffs des radikalen und absoluten Bösen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Er setzt diese in Beziehung zu dem, was Arendt als die „Banalität des Bösen“ im EichmannBuch begreift. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich die beiden Begriffe nicht widersprechen, dass aber der Begriff des „radikalen Bösen“ mit dem der „Überflüssigkeit“, der von der „Banalität des Bösen“ mit dem der „Gedankenlosigkeit“ korrespondiere.252 Dieser These stimmt auch Leora Bilsky zu. Sie schreibt: „Superflousness is linked to the experience of the victims of totalitarian regimes, which was Arendts focus in The origins of Totalitarianism, while Eichmann in Jerusalem she turned her attention to the thoughtlessness of the perpetrators, ie., the lack of judgment of Eichmann the actor.“253 Es mag auf den ersten Blick ohnehin erstaunlich erscheinen, welche Debatten es nach Erscheinen des Eichmann-Buchs über den Begriff von der „Banalität des Bösen“ gegeben hat. Neben dem Untertitel Ein Bericht über die Banalität des Bösen gibt es nur eine Stelle im Buch, die sich mit dem Begriff des Bösen überhaupt befassen.254 Über die Banalität des Bösen spricht Arendt in Reflexion auf Eichmanns letzte Worte vor seiner Hinrichtung: „Angesicht des Todes fiel ihm genau das ein, was er in unzähligen Grabreden gehört hatte: das ‚Wir werden ihn, den Toten nicht vergessen‘. Sein Gedächtnis, auf Klischees und erhebende Momente eingespielt, hatte ihm den letzten Streich gespielt: er fühlte sich ‚erhoben‘ wie bei einer Beerdigung und hatte vergessen, dass es die eigene war. In diesen letzten Minuten war es, als zöge Eichmann selbst das Fazit der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit, der wir beigewohnt hatten – das Fazit von der furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert.“255

251 Vgl. Schindler, Roland: Rationalität zur Stunde Null, a.a.O., S. 114-117. 252 Vgl. Bernstein, Richard J.: Hannah Arendt, a.a.O. 253 Bilsky, Leora Y.: When Actor and Spectator Meet in the Courtroom, in: Beiner, Ronald/Nedelsky, Jennifer (Hg.), Judgement, Imagination and Politics, Themes from Kant and Arendt, Oxford 2001, S. 257-285, hier S. 285, Anm. 101. 254 Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann, a.a.O., S. 393. 255 Arendt, Hannah: Eichmann ,a.a.O., S. 394.

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Der Grund für die Debatten mag jedoch auch darin liegen, dass Arendt selbst von einem Wechsel der Begriffe über das Böse spricht. In ihrer Antwort auf Scholem erläutert sie dies wie folgt: „Sie haben vollkommen recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikalen Bösen.“256 Im gleichen Zeitraum schreibt sie ihrer Freundin Mary McCarthy am 20. September 1963, dass ihr Buch Eichmann in Jerusalem in drei Punkten von ihrem Totalitarismus-Buch abweiche: Erstens habe sie im TotalitarismusBuch über die „Höhlen des Vergessens“ gesprochen, im Eichmann-Buch nicht mehr. Zweitens habe sie im Eichmann-Buch geschrieben, dass Eichmann viel weniger ideologisch beeinflusst war, als sie im Totalitarismusbuch angenommen hatte, obwohl sie einräumt, dass der Verlust ideologischer Inhalte in ihrem Abschnitt Ideologie und Terror schon thematisiert wird, weil während der Ausrottungspolitik der Inhalt der Ideologie zurücktritt. „Die Bewegung selbst wird wichtiger als alles andere; der Inhalt des Antisemitismus beispielsweise geht in der Ausrottungspolitik verloren. [...] In anderen Worten, Ausrottung per se ist wichtiger als Antisemitismus oder Rassismus.“257 Und schließlich drittens: „Die ‚Wendung‘ Banalität des Bösen als solche steht im Gegensatz zu der vom radikal Bösen, die ich im Totalitarismusbuch benutze.“258 Im Totalitarismus-Buch bezieht sich Arendts Begriff vom „radikalen Bösen“ auf Kant.259 Der Begriff wird zunächst bestimmt als etwas, „was Menschen weder bestrafen noch vergeben können, [...] das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag“260. Gleichzeitig habe Kant den „pervertiert-bösen Willen“ rationalisiert und ihn mit Motiven ausgestattet. Arendt weiß um die Unzulänglichkeit des Begriffs. Da man aber einen anderen Begriff nicht habe, „um das zu begreifen, womit wir doch in einer ungeheuerlichen, alle Maßstäbe zerbrechenden Wirklichkeit konfrontiert sind“261, benutze sie diesen Begriff.

256 Arendt, Hannah: Ein Briefwechsel, a.a.O., S. 78. 257 Arendt, Hannah/McCarthy, Mary: Im Vertrauen, a.a.O., S. 234. 258 Ebd. 259 Vgl. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, Hamburg, 1990, S. 46. 260 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 941f. 261 Ebd., S. 942.

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Eins erschien ihr sicher: Das radikale Böse entstand in einem System, das alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden lässt. Den Begriff des Überflüssigen verwendet Arendt sowohl in Bezug auf gesellschaftlichpolitische Zusammenhänge als auch im Zusammenhang mit der Errichtung der Vernichtungslager der Nazis. Einerseits bezieht sich der Begriff auf das gesellschaftspolitische Problem von Exklusion und Inklusion sowohl im Kontext von Staat und Gesellschaft als auch im Verhältnis von Staat und Nation. Andererseits ist der Begriff auf das Universum der Vernichtungslager als das Wesen der totalen Herrschaft bezogen. Hier umkreist er das, was Arendt immer wieder mit der „Transformation der menschlichen Natur“262 angesprochen hat, womit die Zerstörung der menschlichen Pluralität und Individualität gemeint ist. Ich möchte nun eine längere Passage aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zitieren, weil darin antizipiert wird, was meiner Lesart zufolge, dann später zum Umfang des Begriffs der Banalität des Bösen gehört: „Die Todesstrafe wird absurd, wenn man es nicht mit Mördern zu tun hat, die wissen was Mord ist, sondern mit Bevölkerungspolitikern, die den Millionenmord so organisieren, dass alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind: die Ermordeten, weil sie sich nicht gegen das Regime vergangen haben, und die Mörder, weil sie keineswegs aus ‚mörderischen‘ Motiven handelten. [...] Menschlich müssen wir weitgehend Verantwortung auch für das übernehmen, was Menschen ohne unser Wissen und Zutun irgendwo in der Welt verbrochen haben; sonst gäbe es keine Einheit des Menschengeschlechts. Wir können es, weil uns gerade die spezifischen bösen Motive oder die spezifisch berechnete Zweckmäßigkeit der Handlung menschlich einsichtig ist. Auch die Bestrafung ist noch ein Akt der Verantwortung und menschlicher Solidarität. Die Gaskammern des Dritten Reiches und die Konzentrationslager der Sowjetunion haben die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verantwortung für sie übernehmen kann. Zugleich bedrohen sie jene Solidarität von Menschen untereinander, welche die Voraussetzung dafür ist, dass wir es überhaupt wagen können, die Handlungen anderer zu beurteilen und abzuurteilen.“263

262 Ebd., S. 940f. 263 Ebd., S. 945f.

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Bezieht man den Begriff von der Banalität des Bösen aus dem EichmannBuch auf den hier ausgeführten Zusammenhang, so ergeben sich bezüglich der Argumentation keine Widersprüche. Aber der Begriff des radikalen Bösen entspricht nicht dem hier beschriebenen Phänomen. Genau deshalb spricht Arendt von einem Kategorienwechsel. Die Banalität des Bösen war in ihren ersten Reflexionen über das Böse in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schon vorgedacht. Auch wenn Arendt wusste, und das zeigen die zitierten Textstellen deutlich, dass sie es hier mit einer neuen Form des Bösen zu tun hatte, identifizierte sie diese mit der traditionellen Bestimmung. Gleichzeitig ergibt sich in der Konfrontation mit der Banalität des Bösen in der Person Eichmanns jedoch auch ein Perspektivenwechsel: die subjektiven Voraussetzungen der Täter rücken ins Zentrum der Reflexion. Der Briefwechsel zwischen Scholem und Arendt ist auch für diesen Zusammenhang aufschlussreich. Scholem kritisiert Arendts Wechsel vom Begriff des radikal Bösen zum Begriff der Banalität des Bösen als „Schlagwort“: „Nach der Lektüre Ihres Buches bin ich von der Banalität des Bösen, auf dessen Herausarbeitung es Ihnen, wenn man dem Untertitel glauben sollte, angekommen ist, in keine Weise überzeugt. Es scheint diese Banalität auch eher als ein Schlagwort denn als das Resultat einer so eingreifenden Analyse, wie Sie sie, unter ganz entgegengesetzten Vorzeichen in Ihrem Buch über den Totalitarismus auf weit überzeugendere Weise gegeben haben.“264

Arendt antwortet Scholem mit einer näheren Bestimmung dessen, was das Neue an der Banalität des Bösen ist: „Unklar ist mir, warum Sie die Wendung von der ‚Banalität des Bösen‘ ein ‚Schlagwort‘ nennen. Soviel ich weiß, hat noch niemand das Wort gebraucht; aber das ist ja egal. Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute. Aber wie gesagt, ich möchte mich über diese Dinge nicht weiter äußern, da ich die Absicht habe, darüber noch einmal in

264 Arendt, Hannah: Ein Briefwechsel, a.a.O., S. 71.

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anderem Zusammenhang und ausführlich zu handeln. Aber das konkrete Modell für das, was ich meine, wird Herr Eichmann wohl bleiben.“265

Hier deutet sich eine Argumentation an, die Jaspers in einem Briefwechsel zum Thema der Schuldfrage anführt. Arendt hatte argumentiert, dass die Verbrechen der Nazis nicht als kriminelle Schuld zu verstehen seien, weil sie sich juristisch gar nicht mehr fassen ließen, und dass gerade darin ihre Ungeheuerlichkeit liege.266 Jaspers entgegnet ihr mit einer Argumentation, die derjenigen, die Arendt für ihre Begründung des Begriffs von der Banalität des Bösen verwendet, sehr ähnlich ist: „Ihre Auffassung ist mir nicht ganz geheuer, weil die Schuld, die alle kriminelle Schuld übersteigt, unvermeidlich einen Zug von Größe – satanischer Größe bekommt, die meinem Gefühl angesichts der Nazis so fern ist, wie das Reden vom Dämonischen in Hitler und dergleichen. Mir scheint man muss, weil es wirklich so war, die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen, in ihrer ganz nüchternen Nichtigkeit – Bakterien können völkervernichtende Seuchen machen und bleiben doch nur Bakterien. Ich sehe jeden Ansatz von Mythos und Legende mit Schrecken.“267

Liest man in diesem Kontext die Stellen zum „radikal Bösen“ im dem Totalitarismus-Buch, dann kann man sagen, dass Arendt dort bereits fast alles antizipiert, was sie später an Eichmann entdeckte. Die Unzulänglichkeit des

265 Ebd., S. 78. 266 Vgl. Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel, a.a.O., Hannah Arendt an Karl Jaspers, Brief vom 17. August 1946: „Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, über steigt und zerbricht alle Rechtsordnungen.“ S. 90. Vgl. auch Sederström, Holger: Hannah Arendt, Karl Jaspers und das Böse, in: Ballestream, Karl Graf/Gerhardt, Volker/Ottmann, Henning/Thompson, Martyn P. (Hg.), Politisches Denken, Jahrbuch 2001, Stuttgart 2001, S. 32-59. 267 Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel, a.a.O., Karl Jaspers an Hannah Arendt, Brief vom 19. Oktober 1946/23. Oktober 1946, S. 98f.

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Begriffs des radikal Bösen beschreibt sie auch in einem Brief an Karl Jaspers. „Das Böse hat sich als radikaler erwiesen, als vorgesehen. [...] Die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, dass das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt, während wir wissen, dass das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat. Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht, aber mir scheint, es hat irgendwie mit dem folgenden Phänomen zu tun: Die Überflüssigmachung von Menschen als Menschen. [...] Nun habe ich den Verdacht, dass die Philosophie an dieser Bescherung nicht ganz unschuldig ist. [...] In dem Sinne, dass die Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte.“268

In Jerusalem erkannte Arendt den Grund für die Unzulänglichkeit des Begriffs. Mit der Erkenntnis, dass die „schiere Gedankenlosigkeit“ Eichmanns ihn zum größten Verbrecher des Jahrhunderts werden ließ, fand sie ihr Unbehagen mit dem Begriff des radikal Bösen bestätigt. Arendts Bestimmung des Begriffs in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft war eine Art Kategorienfehler. Sie hatte das Neue, was sie in der totalen Herrschaft entdeckt hatte, mit der – kantisch gesprochen – bestimmenden Urteilskraft bewertet.269 Genau dies war es, was sie ihrer Freundin Mary McCarthy sagen wollte, als sie schrieb:

268 Ebd., Hannah Arendt an Karl Jaspers, 4.3.1951, S. 202f. 269 So heißt es in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: „Es liegt im Sinne unserer gesamten philosophischen Konstruktion, dass wir uns vom radikal Bösen keinen Begriff machen können, und dies gilt auch [...] von Kant, dem einzigen Philosophen, der seine Existenz zumindest geahnt haben muss, wenngleich er diese Ahnung in dem Begriff des pervertiert-bösen Willen sofort wieder rationalisierte. So haben wir eigentlich nichts, worauf wir zurückfallen können, um das zu begreifen, womit wir doch in einer ungeheuerlichen, alle Maßstäbe zerbrechenden Wirklichkeit konfrontiert sind.“ Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 670f.

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„Du [bist] der einzige Leser, der verstanden hat, was ich sonst nie zugegeben habe, nämlich, dass ich dies Buch in einem merkwürdigen Zustand der Euphorie schrieb. Und dass ich mich seitdem in der ganzen Angelegenheit – nach zwanzig Jahren – unbeschwert fühle. Erzähle es niemandem; denn ist das nicht der eindeutige Beweis, dass ich keine Seele habe?“270

Arendts Interpretation der Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk, und ihre These von der Banalität des Bösen bedingen sich gegenseitig. Die Auslöschung des jüdischen Volkes aus dem Menschengeschlecht korrespondiert mit der Banalität des Bösen als Nichteinbeziehung des Standpunkts des Anderen im Denken. Das Eichmann-Buch ist nicht nur ein Buch über Eichmann, sondern vor allem auch über die Zerstörung der Urteilskraft. Diese entdeckt Arendt nicht nur in toto beim Angeklagten, sondern partiell auch bei den Anklägern, die weder in der Anklageschrift noch im Gerichtsverfahren in der Lage waren, dem historisch Neuen des Verbrechens gerecht zu werden. Arendt analysiert diesen Mangel an Urteilskraft mit den Mitteln der Urteilskraft, wobei diese sowohl als bestimmende als auch als reflektierende im Eichmann-Buch zur Entfaltung kommt. Während Arendt bezogen auf die Anklageschrift nach Art der reflektierenden Urteilskraft verfährt, indem sie die Unangemessenheit der herkömmlichen juristischen Begriffe demonstriert, geht sie in ihrer Kritik am Gerichtsverfahren nach Art der bestimmenden Urteilskraft vor. Gleiches lässt sich über ihre Analyse des Täters Eichmann sagen. Auch hier wendet sie weitgehend Ergebnisse, die sie auf dem Wege der reflektierenden Urteilskraft in ihrem Hauptwerk gewonnen hat, nach Art der bestimmenden Urteilskraft an. Es zeigt sich also, dass sich hier – um mit Kant zu sprechen – die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft überschneiden. In der Kritik der Anklageschrift entfaltet Arendt Perspektive für eine neue, politische Interpretation des Menschheitsbegriffs, dessen zentrale Kategorie die Pluralität ist. Dies ist die „Methode“ der reflektierenden Vernunft nach dem Traditionsbruch, wie ich sie bereits für das Totalitarismus-Buch nachgewiesen habe. In ihrer Kritik des Gerichtsverfahrens und in ihrer Täteranalyse verfährt sie nach Art der bestimmenden Urteilskraft, indem sie mit geringfügiger Akzentverschiebung

270 Arendt, Hannah/McCarthy, Mary: Im Vertrauen, a.a.O., Hannah Arendt an Mary McCarthy, Brief vom 23. Juni 1964, S. 260.

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auf ihre Analysen im Totalitarismus-Buch – im Besonderen auf ihre Analysen und Unterscheidungen des Antisemitismus – zurückgreift. Hier werden also die Ergebnisse der reflektierenden Urteilskraft als bestimmende angewendet. Eichmann wird als ein Beispiel mit exemplarischer Gültigkeit vorgestellt. In diesem Sinne kann man das Eichmann-Buch als eine Fortsetzung des Totalitarismus-Buchs lesen.271 Dass dies lange Zeit nicht erkannt wurde, hat zu den vielen Fehleinschätzungen in der Deutung des Buches beigetragen. Die Schwierigkeiten, die kompliziert ineinander verwobenen Argumentationslinien in Eichmann in Jerusalem zu unterscheiden, die in der überaus kontrovers geführten Diskussion über das Buch deutlich wurden, haben genau damit zu tun, dass der Text unausgeführt Argumentationshorizonte enthält, die Arendt in ihrer Analyse über die totale Herrschaft bereits entfaltet hatte und die sie voraussetzte.

271 Siehe hierzu auch Schulze Wessel, Julia: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 16.

3 Reflektierende Urteilskraft als Ethik der Macht Die Zusammengehörigkeit von politischer Freiheit, Macht und Urteilskraft

Das Neue an der totalen Herrschaft war nicht nur die Zerstörung der politischen Freiheit, sondern die Zerstörung der Möglichkeit von Freiheit überhaupt. Der nazistische Terror zerstörte die Spontaneität, die es den Menschen ermöglicht, etwas Neues aus eigenem Antrieb zu beginnen. Aus dieser Einsicht in das Wesen totaler Herrschaft ergab sich für Arendt die Notwendigkeit einer Neuformulierung des Freiheitsbegriffs. Ihre Unterscheidung zwischen der Freiheit des Willens und der des Handelns hat ihren historischen Bezugspunkt im nazistischen Universum der Konzentrations- und Vernichtungslager. Ihre Kritik am neuzeitlichen Konzept der Willensfreiheit wie auch ihre Kritik an der Kritik der praktischen Vernunft Kants ist aus dieser Perspektive und diesem historischen Kontext zu verstehen. Vor diesem Hintergrund erscheint Arendts letzter Satz aus den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft als letzte Hoffnung angesichts des Unvorstellbaren und als ein neuer Anfang. „Initium ut esset, creatus est homo – ‚damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‘ sagt Augustinus.“1 Mit diesem Satz, mit dem Arendt ihre Studie über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beendet, ist zugleich der Anfang zu ihrer Philo-

1

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1998, S. 979.

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sophie des Politischen gesetzt. Der Mensch selbst ist ein Anfang, der neue Anfänge setzen kann. Wurde im vorhergehenden Kapitel dargestellt, wie Arendt vermittels der reflektierenden Urteilskraft einen Begriff der totalen Herrschaft entfaltet, für den die Zerstörung der Urteilskraft wesentlich ist, so soll in diesem Kapitel gezeigt werden, wie ihre Interpretation der Kritik der Urteilskraft von Kant sie zu einem neuen Begriff politischer Freiheit führt. Ohne den Begriff der politischen Urteilskraft, so die These dieses Kapitels, ist politische Freiheit als Resultat von Macht nicht zu denken. In einer radikalen Kritik des abendländischen politischen Denkens, das das Proprium des Politischen verkannt hat, wendet Arendt sich sowohl gegen den traditionellen Freiheitsbegriff als auch gegen den Begriff der Souveränität, weil beide auf einem Willensbegriff basieren, der die Beziehung des Selbst auf sich selbst solipsistisch zum Gegenstand hat, aber nicht die Beziehung zu Anderen. Durch die radikale Kritik der traditionellen Grundbegriffe der politischen Philosophie eignet sich Arendt die Begriffe von Freiheit, Macht und Öffentlichkeit neu an, indem sie aus dieser Tradition Bedeutungsdimensionen dieser Begriffe hervorhebt, die durch die Tradition verschüttet wurden. Ihre Kritik gilt in der Philosophiegeschichte der Gleichsetzung von Freiheit mit Willensfreiheit, somit auch dem kategorischen Imperativ Kants, in der politischen Theorie der Gleichsetzung von Freiheit mit dem Souveränitätsgedanken. In dieser Kritik wird deutlich, dass es Arendt um die Frage geht, wie der Raum des Politischen gestaltet werden muss, damit sich durch die Urteilskraft politische Macht und damit Freiheit entfalten kann. Im Folgenden wird zunächst Arendts Kritik am traditionellen Verständnis von Freiheit und Souveränität als Willensfreiheit dargestellt. Erst vor diesem Hintergrund wird es für sie möglich, die Urteilskraft zum Zentrum ihrer Philosophie des Politischen zu erheben. Hatte ich im ersten Kapitel ihre Übersetzung der ästhetischen in eine politische Urteilskraft dargestellt, so kommt es nun darauf an aufzuzeigen, dass und wie diese die Begriffskonstellation von Freiheit, Macht und öffentlichem Raum konstituiert. Die Komplementarität von Freiheit und Macht ist ohne die Urteilskraft in dem von Arendt entfalteten Verständnis überhaupt nicht zu begreifen.

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3.1 K RITIK

DES TRADITIONELLEN

ALS

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F REIHEITSBEGRIFFS

Arendts Verständnis von politischer Freiheit erschließt sich aus ihrer Abgrenzung des Willens vom Denken und Urteilen. Im zweiten Band Vom Leben des Geistes2 bestimmt sie die Vermögen des Denkens, Willens und Urteilens als die drei grundlegenden geistigen Tätigkeiten, die sich nicht voneinander ableiten lassen. Jede folge einer eigenen Gesetzmäßigkeit. Das gemeinsame Moment der Fähigkeit des Denkens und des Willens liege in einer Aktivierung jenseits der Erscheinungswelt: Während das Denken dem Denkenden vermittels der Einbildungskraft etwas Abwesendes aus der Vergangenheit oder der Gegenwart präsentiere, beziehe der Wille sich auf etwas, was noch nicht existiert, und richte sich also auf die Zukunft. Der Wille sei das Vermögen des Menschen, unabhängig von Notwendigkeit und Zwang Ja oder Nein sagen zu können.3 Der Willensbegriff ist bei Arendt dreifach bestimmt. Er bezieht sich auf den Begriff der Spontaneität bei Kant, das Initium bei Augustinus und die Kontingenz menschlicher Handlung bei Duns Scotus.4 Arendt entwickelt ihre Konzeption des Willens auf dem Wege der bestimmen Negation der drei genannten Philosophien. Bevor ich diese Denkbewegung nachzeichne, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Arendt das Ende der Metaphysik als den Beginn der Geschichtsphilosophie begreift, in der die Potentiale der politischen Philosophie sich aber nicht haben durchsetzen können. Die Verknüpfung der Willensfreiheit mit dem Fortschrittsgedanken sei hier ausschlaggebend gewesen. Kant stellt für Arendt insofern eine Ausnahme dar, als er – paradox formuliert – ein Geschichtsphilosoph war, der kein Geschichtsphilosoph

2 3

Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, Bd. 1, München 1979. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, Bd. 2, München 1979, S. 16f.

4

Vgl. auch Jacobitti, Suzanne: Arendt, Politics, and The Self, in: Political Theory 16 (1988), S. 53-77. Jacobitti hat als erste die Konzeption des Wollens bei Arendt herausgearbeitet. Im Unterschied zu der hier vorgestellten Interpretation, in der nachgewiesen wird, dass Arendts Verständnis des Wollens als Spontaneität im engen Zusammenhang mit ihrer Analyse totaler Herrschaft steht, räumt Jacobitti dem Konzept des Selbst mehr Bedeutung ein. Arendt hat meiner Interpretation zufolge den Begriff der Spontaneität als Triebfeder des Handelns schon in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft antizipiert.

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sein wollte. Arendt knüpft an die Philosophie des Mittelalters an, verbindet deren Einsichten mit Kants Begriff der transzendentalen Freiheit als Spontaneität und richtet die so gewonnene Konzeption gegen die Geschichtsphilosophie. Im Vordergrund dieser Reflexion steht die Kritik, dass die Willensfreiheit im Verständnis der neuzeitlichen Philosophie mit der Freiheit zum Handeln identifiziert werde. Zwischen Wollen und Handeln müsse jedoch analytisch unterschieden werden, insofern ein Handelnder aufhört zu wollen, wenn er anfängt zu handeln.5 Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Bestimmung des Begriffs des Willens sieht Arendt darin, dass Vorstellungen über das Vermögen des Willens ihren historischen Ursprung in der Theologie und nicht in einer ungebrochenen Tradition philosophischen Denkens haben. Das Vermögen des Willens sei der blinde Fleck der griechischen Philosophie. Die Vorstellung der Freiheit als Willensfreiheit widerspräche der Idee der Freiheit im Sinne des vorchristlichen Denkens, die die Freiheit auf einen objektiven Zustand des Körpers bezieht und nicht auf den subjektiven eines Bewusstseins.6 Arendt knüpft an dieses Freiheitsverständnis an, grenzt die traditionelle Bestimmung des Willens als Willensfreiheit aus dem politischen Freiheitsbegriff aus und bestimmt das innere Datum des Ich-will als hinreichenden Beleg für die Wirklichkeit der Erscheinungen. Sie interessiert sich für den Willen als Triebfeder des Handelns, als Fähigkeit des Beginnens. Der Begriff des Willens beinhaltet die Möglichkeit seiner Negation, sonst wäre er kein Wille. Gäbe es keinen Gegenwillen, so bedürfte es überhaupt keines Willens. Die Vorstellung eines Faktums der Vernunft sei, so Arendt, ein Widerspruch in sich, insofern es

5

Ronald Beiner unterscheidet zwischen der Bestimmung des Willens bei Arendt im Früh- und im Spätwerk. Im Frühwerk ordnet Arendt das Handeln dem Freiheitsbegriff zu, im Spätwerk jedoch dem Willen. Im Unterschied zu dieser Interpretation kann gezeigt werden, dass Arendt Wollen und Handeln einerseits analytisch trennt, andererseits den Willen als aufgehobenes Moment im Handeln präsentiert. Nur unter dieser Perspektive macht Arendts Aussage Sinn, dass Wollen und Handeln ein und derselbe Prozess seien. Vgl. Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1985, S. 165f; Yarbrough, Jean/Stein, Peter: Vita activa and Vita contemplativa: Political Thought in Life of the Mind, in: Review of Politics 43 (1981), S. 323-354.

6

Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, a.a.O., S. 22.

R EFLEKTIERENDE U RTEILSKRAFT

ALS

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den Begriff eines unfreien Willens enthält.7 Die Negation des Unterschieds zwischen Wollen und Handeln bestreitet letztlich den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, weil alles, was das Subjekt will, gleichzeitig die Realisierung des Willens wäre. Bei Arendt ist die Unterscheidung zwischen dem Vermögen des Willens und dem des Handelns nicht nur eine Frage der Ausführung des Willens, wie es bei Kant der Fall ist, indem er den Willen sowohl unter dem Freiheits- als auch unter dem Naturbegriff subsumiert. Bei Arendt beruht die Unterscheidung zwischen dem Willen und dem Handeln darauf, dass das Handeln ein gänzlich anderes Vermögen darstellt, weil es auf die Menschen als „gesellige“ Wesen angewiesen ist. Das übersinnliche „Ich will“ erscheint zwar im sinnlichen „Ich-kann“, ist aber nicht mit dem Vermögen des Handelns zu identifizieren, weil sich politische Freiheit nur im Handeln zeigt. Politische Freiheit realisiert sich nur in einem öffentlich garantierten Raum.8 Dies vorangeschickt sollen im Folgenden die drei Momente des Willensbegriffs bei Arendt näher erläutert werden. Spontaneität: Arendt kritisiert an Kants Konzeption des Willens, dass der Wille kein eigenständiges geistiges Vermögen ist, sondern praktische Vernunft. Kant bestimmt den Willen weder als Freiheit noch als libe-

7

Ebd., S. 29.

8

Arendt konstatiert in ihrer Konzeption der politischen Freiheit, dass einerseits das Wollen ein eigenständiges Vermögen sei, dass aber andererseits das Vermögen des Wollens und die Fähigkeit des Handelns zusammenfallen: „Das Handeln wird hier nicht von einem Zukünftigen geleitet, das der Vorstellung gegenwärtig ist und daher von dem Willen ergriffen werden kann. Was das Handeln leitet, [...] ist ein Prinzip. Das Prinzip inspiriert es, aber es schreibt ihm kein Resultat vor, als ginge es um die Verwirklichung eines Programms; es realisiert sich nicht in irgendwelchen Ergebnissen, sondern allein in dem Vollzug des Handelns selbst. In diesem Vollzug fallen Wollen und Tun zusammen, sie sind ein und dasselbe; das Wollen bereitet das Tun nicht vor, es ist bereits Tat. Und das Tun vollstreckt nicht einen Willensakt, in ihm manifestiert sich überhaupt nicht so sehr ein subjektiver Wille und sein Endzweck. [...] Freiheit [...] ist weder im Willen noch sonst wo in der Menschennatur lokalisiert; sie fällt vielmehr mit dem Handeln zusammen: solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.“ Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Die neue Rundschau 69 (1958), S. 670-694, hier, S. 674f.

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rum arbitrium. Für ihn gibt es reine Spontaneität, die er oft ‚absolute Spontaneität‘ nennt, nur im Denken. Der kantische Wille ist das ausführende Organ der Vernunft. Arendt wendet dagegen ein, dass der Wille unfrei wäre, wenn er unter die praktische Vernunft subsumiert würde: „Das liberum arbitrium ist weder spontan noch autonom. Die letzten Spuren eines Schiedsrichters zwischen Vernunft und Begierde finden sich noch bei Kant, dessen ‚guter Wille‘ sich in einem merkwürdigen Dilemma befindet: er ist entweder ‚gut ohne Einschränkung‘, und dann ist er völlig autonom, hat aber keine Wahl; oder er erhält sein Gesetz – den kategorischen Imperativ – von der ‚praktischen Vernunft‘, die dem Willen sagt, was er zu tun hat, und hinzufügt: Mach für dich keine Ausnahme, beachte das Axiom der Widerspruchsfreiheit, das seit Sokrates das stumme Zwiegespräch des Denkens beherrscht. Der Wille ist bei Kant in der Tat ‚praktische Vernunft‘ ganz im Sinne des Aristotelischen nous praktikos; er bezieht seine Verbindlichkeit aus dem Zwang, den evidente Wahrheit oder logisches Denken auf den Geist ausüben. Deshalb behauptet Kant immer wieder, jedes ‚du sollst‘, das nicht von außen kommt, sondern im Geiste selber entsteht, ziehe ein ‚du kannst‘ nach sich.“9

Wie aber bestimmt Kant den Willen? Kant beginnt in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft mit einer Begriffsbestimmung des Willens: „Der Wille als Begehrungsvermögen ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt, und alles, was als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird, heißt praktischmöglich (oder -notwendig), zum Unterschiede von der physischen Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe (sondern, wie bei der leblosen Materie, durch Mechanismen und bei Tieren durch Instinkt) zur Kausalität bestimmt wird. – Hier wird nun in Ansehung des Praktischen unbestimmt gelassen, ob der Begriff, der der Kausalität des Willens die Regel gibt, ein Naturbegriff oder ein Freiheitsbegriff sei.“10

9

Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, a.a.O., S. 61f.

10 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Ders: Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt a.M. 1988, S. 79: BXIII, XIV.

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Zwei Momente sind in dieser Begriffsbestimmung hervorzuheben: dass der Wille eine Naturursache sei und nach Begriffen wirke, und die Frage, ob die Kausalität des Willens ein Natur- oder Freiheitsbegriff sei. Wenn Kant sagt, dass der Wille als Begehrungsvermögen und Naturursache nach Begriffen wirkt, ist darunter zu verstehen, dass zwischen dem vorgestellten Willen und der Realisierung des Willens ein Unterschied besteht. Der vorgestellte Wille ist die Ursache der Realisierung des Willens, aber nicht die Realisierung selbst. Kant betont, dass die Prinzipien des Naturbegriffs technisch-praktisch, die des Freiheitsbegriffs moralisch-praktisch sind und dass der Wille sowohl unter dem Natur- als auch unter dem Freiheitsbegriff steht. Der Wille ist frei, gehört zur praktischen Philosophie; aber er untersteht in seiner Realisierung dem Naturbegriff, somit der theoretischen Philosophie, weil die Realisierung des Willens mit den Naturgesetzen übereinstimmen muss. Steht also der Wille in der kantischen Konzeption sowohl unter dem Freiheits- als auch unter dem Naturbegriff, so versucht Arendt mit dem Begriff des Willens als Triebfeder des Handelns eine Brücke für die unterschiedliche Bestimmung des philosophischen und politischen Freiheitsbegriffs zu bauen. Sie kritisiert Kant mit Kant, indem sie sich lediglich auf den transzendentalen Freiheitsbegriff der dritten Antinomie als Spontaneität in der Kritik der reinen Vernunft bezieht. Dort bestimmt Kant die Freiheit in Negation zur determinierten Natur: „Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstande, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetz wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte.“11 Freiheit als Kausalität aus Freiheit wird jenseits der Erscheinungswelt bestimmt. Die Verwirklichung menschlicher Freiheit wird hiervon unterschieden und untersteht dem Sittengesetz, der praktischen Vernunft. Die Freiheit des menschlichen Handelns ist ein Handeln auf der Grundlage des Sittengesetzes. Obwohl der handelnde Mensch eine Erscheinung der Sinnenwelt ist, erkennt sich der Mensch – so Kant – „auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann“12. Er ist „sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung

11 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 2, in: Ders: Werkausgabe, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1988, S. 489: B 560, 561. 12 Ebd., S. 498: B 575.

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gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“13. Der Mensch ist sowohl Erscheinung der Sinnenwelt, also der empirischen Realität und den empirischen Gesetzen unterworfen, als auch intelligibles Wesen. Dieser doppelten Bestimmung entspricht die doppelte Bestimmung des Freiheitsbegriffs: als praktischer und als transzendentaler. In der Kritik der reinen Vernunft konstatiert Kant, dass „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründet, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmacht“14. Der praktische Begriff der Freiheit ist „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“15. Es ist die Vernunft, die sich jenseits der Naturgesetze die Idee einer freien Spontaneität schafft, „die von selbst anheben könne zu handeln, ohne dass eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen“16. Die Bestimmung der Freiheit als die Idee einer freien Spontaneität, die Kant in der doppelten Bestimmung des Freiheitsbegriffs entwickelt, greift Arendt auf. Sie subsumiert die Spontaneität jedoch nicht unter das Faktum der Vernunft, sondern verbindet dieses, wie sie es nennt, prä-politische Moment der Freiheit mit Kants Freiheitsverständnis aus seinen politischen Schriften. Als Erläuterung sei Kants Beispiel angeführt: „Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei, und ohne den notwendig bestimmenden Einfluss der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche, eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist.“17

Diese Bedeutung der Spontaneität als Triebfeder des Handelns schildert Arendt eindringlich in ihrer Analyse der totalen Herrschaft. An prominenten Stellen verweist sie beharrlich darauf, dass die Transformation der

13 Ebd. 14 Ebd., S. 489: B 562. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 431: B 477, 479.

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menschlichen Natur eben in der Zerstörung dieser Spontaneität liegt, die in jeder menschlichen Tätigkeit enthalten, für das Vermögen des Handelns jedoch unerlässlich ist. Die Zerstörung der Spontaneität ist, so Arendt, identisch mit der Zerstörung der Individualität. Die Zerstörung der Individualität ist der letzte Schritt nach Ermordung der moralischen und Vernichtung der juristischen Person. „Denn die Zerstörung der Individualität ist identisch mit der Zerstörung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen nicht erklärbar ist. Was danach übrigbleibt, sind jene unheimlichen, weil mit wirklichen, menschlichen Gesichtern ausgestatteten Marionetten, die sich alle benehmen wie der Pawlowsche Hund, die alle bis in den Tod vollkommen verlässlich reagieren und nur reagieren. Das ist der größte Triumph des Systems.“18

Die Idee der Freiheit als Spontaneität, die allen Tätigkeiten zugrunde liegt, aber dem Handeln eigentümlich ist, zeigt sich erst in der Erfahrung der totalen Herrschaft in ihrer ganzen Radikalität.19 Der Freiheitsbegriff Kants als einem Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen,20 ist Arendts „präpolitischer“21 Freiheitsbegriff. Kants Unterscheidung zwischen einem absoluten und einem komparativen Anfang wird von Arendt mit Augustinus Unterscheidung zwischen dem principium von Himmel und Erde und dem initium des Menschen in Beziehung gesetzt.22 Hätte Kant die Philosophie

18 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 934f. 19 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München 1993, S. 49f. „Trotz Kants politischer Philosophie [...] haben wir die außerordentliche politische Bedeutung dieser Freiheit, die im Anfangen-Können liegt, vermutlich erst heute realisiert, da die totalen Herrschaftsformen sich nicht damit begnügten, der freien Meinungsäußerung ein Ende zu machen, sondern drangingen, die Spontaneität des Menschen auf allen Gebieten prinzipiell zu vernichten.“ Ebd. 20 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 2, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1988, S. 428: B 474, 475. 21 Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 51. 22 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, a.a.O., S. 107.

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des Augustinus des Geborenwerdens gekannt, dann hätte er zugestanden, so Arendt, dass „die Freiheit einer relativ absoluten Spontaneität für die menschliche Vernunft nicht anstößiger sei als die Tatsache, dass die Menschen geboren werden – jeder ist wieder ein Neuankömmling in einer Welt, die ihm zeitlich voranging. Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ der Wille.“23

Die Freiheit der Spontaneität liegt in dem Anfangen-Können, indem die Menschen die Geburt des Menschen als einen Anfang bestätigen. „Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins; Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“24

Initium: Die „Wahlfreiheit des Willens“ bei Augustinus, dem, so Arendt, „ersten Philosophen des Willens“, beinhalte zwei Willen: die Wahl zwischen dem Wollen und dem Nicht-Wollen. Der Wille selbst aber sei in seiner „schieren kontingenten Tatsächlichkeit nicht erklärbar“25. Auch Augus-

23 Ebd. Man weiß nicht, ob Kant Augustinus Verständnis der Spontaneität gekannt hat. Kant hat aber – Arendt bezieht sich nicht auf diese Passagen – die Geburt eines Kindes als Anfang der Idee der Freiheit im Konflikt mit äußerlicher Abhängigkeit reflektiert. So verweist er in der Anthropologie (1798) im § 79 auf den ursprünglichen Konflikt zur Freiheit verurteilt zu sein hin, weil das Kind nicht selbst entscheidet auf die Welt zu kommen. Diese zeige sich in dem Schrei, „wovon kein anderes Tier eine Vorstellung hat, [...] nur eben dem mütterlichen Schoß entwunden“. Hier zeige sich der leidenschaftliche Freiheitsdrang des Menschen. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: Ders: Werkausgabe, Bd. XII, Frankfurt a.M. 1988, S. 399-690, hier S. 603: B 230. 24 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1985, S. 166. 25 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, a.a.O., S. 87.

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tinus habe den Willen nicht als eigenständiges Vermögen bestimmt. Der Wille werde dadurch erlöst, dass er aufhöre zu wollen und anfange zu handeln. Das Aufhören des Wollens könne nicht durch einen weiteren Willensakt geschehen.26 Arendt folgt der Einsicht des Augustinus, dass der Wille doppelt bestimmt ist: Ich-will und Ich-will-nicht. Dadurch entzieht sich der Wille der Kausalkette. Andererseits lehnt Arendt die Konzeption des Willens als einer Funktion innerhalb des Geistes ab, in welchem alle einzelnen Vermögen – Gedächtnis, Verstand und Wille – wechselseitig aufeinander bezogen sind. Neben der Erörterung des liberum arbitrium gibt es bei Augustinus jedoch noch eine zweite Freiheitstheorie, die in der Perspektive Arendts von entscheidender Bedeutung ist. In Civitas Dei bestimmt Augustinus den Menschen als einen Anfang. Freiheit ist hier für Augustinus nicht „eine innere Verfassung des Menschen, sondern ein Zeichen für die Art und Weise, in der menschliche Existenz in der Welt vorkommt“27. Arendt interpretiert dies so: „Jeder Mensch [...] ist ein neuer Anfang Kraft seiner Geburt; hätte Augustinus die Folgerungen aus diesen Spekulationen gezogen, so hätte er den Menschen nicht, wie die Griechen, als Sterbliche definiert, sondern als ‚Geborene‘, und die Willensfreiheit hätte er nicht als das liberum arbitrium definiert, die freie Wahl zwischen Wollen und Gegenwillen, sondern als die Freiheit, von der Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ spricht.“28

Der Preis der Freiheit: Kontingenz: Das dritte Moment des Willensbegriffs bei Arendt bezieht sich auf die Lehren von Duns Scotus.29 In seinen Schriften entdeckt sie „spekulative Bedingungen einer Philosophie der Freiheit“30, insofern Scotus die Willensfreiheit nicht als Möglichkeit verteidigt, Mittel zur Erreichung eines Zwecks auszuwählen, sondern sie als Möglichkeit versteht, alles in Freiheit bejahen oder ablehnen zu können. Die Freiheit des Willens bei Scotus bedeutet die Fähigkeit, geistig einen anderen Standpunkt einnehmen zu können. Dies unterscheidet, so Arendt, „den

26 Ebd., S. 99. 27 Augustinus, Aurelius: De Civitas Dei, München 1978, S. 287. 28 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, a.a.O., S. 107. 29 Ebd., S. 120-141. 30 Ebd., S. 140.

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Menschen von der übrigen Schöpfung“31. Der Wille ist bei Scotus nicht durch die Vernunft bestimmt, sondern der Wille bestimmt die Vernunft. Der Wille kann den Gegenstand des Verstandes oder des Begehrens ablehnen oder bejahen. Diese Freiheit, zwischen Entgegengesetztem wählen und geschehene Entscheidungen rückgängig zu machen, hört auf, wenn das Gewollte ausgeführt wird. In jedem Ich-will steckt potentiell ein Ich-kann, das dem Ich-will Grenzen setzt. Scotus ist für Arendt der einzige Denker, für den das Wort „Kontingenz“ keine abfällige Bedeutung hat. Es besteht darin, dass auch sein Gegenteil hätte eintreten können.32 Über das Wirkliche kann man nur sagen, dass es offensichtlich nicht unmöglich gewesen ist. Dass es notwendig gewesen ist, kann nie bewiesen werden. Arendt bestimmt das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit analog zu den Bestimmungen des wollenden und denkenden Ich. Ein Willensakt kann mich, so Arendts Beispiel, zum Schreiben entschließen, ein anderer dazu, nicht zu schreiben, aber ich kann nicht beides zugleich tun. Sobald aber der Wille aufhört zu wollen und eine seiner Möglichkeiten in die Tat umzusetzen beginnt, „verliert er seine Freiheit – und der Mensch, das Subjekt des wollenden Ichs, ist über den Verlust ebenso glücklich wie Buridans Esel, als er das Problem der Wahl zwischen den zwei Heuhaufen dadurch löste, dass er seinem Instinkt folgte: hör auf zu wählen und fang an zu fressen“33. Knüpft Arendt an die von Kant formulierte Idee der freien Spontaneität an, so lehnt sie – angesichts der historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert – die Reduktion der Freiheit auf die Willensfreiheit als Faktum der Vernunft ab, weil die Willensfreiheit auf das Individuum beschränkt ist, die im „Verkehr mit sich selbst erfahrbar und daher von dem Verkehr mit den Vielen unabhängig war“34. Nicht die Geltung der Moral wird von Arendt bestritten, wohl aber das von Kant postulierte Faktum der Vernunft, dem sie das Faktum der Natalität und Pluralität entgegenhält. Das reine Sollen bezieht sich ihrem Verständnis nach nur auf das auf sich selbst bezogene, monadischsolipsistische bürgerliche Individuum. Für eine politische Ethik aber sei es unbrauchbar. Der Nationalsozialismus, der den Minoritätenmord zur mora-

31 Ebd., S. 130. 32 Vgl. ebd., S. 132. 33 Ebd., S. 136. 34 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 201-226, hier S. 211f.

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lischen Pflicht erklärte, habe die Fragilität des Moralischen drastisch vor Augen geführt: „Es war, als ob die Moral sich just in diesem Augenblick ihres Zusammenbruchs innerhalb einer alten, hoch zivilisierten Nation unverhüllt in ihrer ursprünglichen Bedeutung offenbarte, nämlich als Kodex ethischer Normen, Sitten und Gebräuche, dessen vollständiger Austausch genau so wenig Probleme bereiten sollte, wie der Wandel in den Tischsitten eines Volkes.“35

Moral kann ein politisches Gemeinwesen nicht stabilisieren. Arendt beruft sich auf Montesquieu, der darauf hinwies, dass Gesetze die Handlungen von Bürgern bestimmen, während Sitten die Handlungen von Menschen leiten.36 Wenn staatliche Macht die eigenen Gesetze verletzt, so Montesquieu, zerstöre sie zugleich die moralischen Grundlagen ihrer Bürger. Diese Annahme Montesquieus hat sich, Arendt zufolge, im 20. Jahrhundert bestätigt. Seine Einsichten hätten im 18. Jahrhundert fremd, im 19. Jahrhundert dagegen vertraut geklungen. Sie könnten zwar keinen Erklärungsgrund für den Totalitarismus oder andere spezifisch moderne Ereignisse geben, aber einen Hinweis dafür, „dass unsere große Tradition so merkwürdig schweigsam blieb, so offensichtlich bar jeder schöpferischen Antwort, als ‚moralische‘ und politische Fragen unserer eigenen Zeit sie herausgefordert haben“37. Bei Montesquieu entdeckt Arendt eine Idee von politischer Freiheit, in der Freiheit und Macht nicht entgegengesetzt, sondern komplementär gedacht werden. Er bestimmt politische Freiheit nicht als Willensfreiheit, sondern lokalisiert sie im öffentlichen Raum, in dem Macht und Freiheit zusammenfallen. Arendt knüpft daran an. Wie Montesquieu unterscheidet sie die philosophische von der politischen Freiheit, ohne allerdings an der Willensfreiheit festzuhalten.38 Im politischen Verständnis von Freiheit ist diese der Macht nicht entgegengesetzt, sondern komplementär zu ihr ge-

35 Arendt, Hannah: Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur?, in: Dies.: Nach Auschwitz, Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, S. 81-97, hier S. 92. 36 Vgl. Montesquieu: Vom Geiste des Gesetzes, Stuttgart 1994, S. 304f. 37 Arendt, Hannah: Verstehen und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 110-127, hier S. 119f. 38 Vgl. Montesquieu: Vom Geiste der Gesetze, a.a.O, S. 255.

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dacht. Während Arendt einerseits Montesquieus Bestimmung der politischen Freiheit als Sicherheit des einzelnen Bürgers in einem Gemeinwesen kritisiert, übernimmt sie andererseits dessen weitere Bestimmung der politischen Freiheit als der Möglichkeit, das „tun zu können, was man wollen soll“39. Letztere, so Arendt, zeigt, dass politische Freiheit im „Ich kann“ angesiedelt ist. „Die Freiheit liegt nicht in einem Ich-will, dem dann je nachdem ein Ich-kann entsprechen oder widersprechen mag, ohne doch die menschliche Freiheit in Frage zu stellen; das Freisein beginnt überhaupt erst mit dem Handeln, so dass Nichthandelnkönnen und Nichtfreisein auch dann ein und dasselbe bedeuten, wenn die (philosophische) Willensfreiheit intakt fortbesteht. Mit anderen Worten, die politische Freiheit ist nicht ‚innere Freiheit‘, sie kann in kein Innen ausweichen; sie hängt daran, ob eine freie Nation den Raum gewährt, in welchem das Handeln sich auswirken und sichtbar werden kann. Die Macht des Willens, sich durchzusetzen und andere zu zwingen, hat mit diesem Freisein gar nichts zu tun.“40

Der Begriff der politischen Freiheit enthält die prä-politische Freiheit der Spontaneität von Kant als „Einen-Anfang-Setzen-und-etwas-Beginnen“41, die dem Einzelnen entspringt. Ohne diese Fähigkeit ist kein Handeln möglich. Das Handeln aber ist an gleichberechtigte Andere gebunden und nur in der Sphäre der menschlichen Pluralität möglich, denn erst in der Freiheit des Miteinander-Redens entfaltet sich die Welt in ihren unterschiedlichen Perspektiven.

39 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Die neue Rundschau 69 (1958), S. 670694, hier S. 684. Montesquieu formuliert es wie folgt: „In einem Staat, das heißt einer mit Gesetzen ausgestatteten Gesellschaft, kann Freiheit lediglich bedeuten, dass man zu tun vermag, was man wollen soll, und man nicht zu tun gezwungen wird, was man nicht wollen soll.“ Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, a.a.O., S. 214. Man könnte Montesquieus Bestimmung der politischen Freiheit auch lediglich als eine Erweiterung der Willensfreiheit interpretieren, bei der es um die Ausführung der Willensfreiheit geht. Darum geht es Arendt jedoch nicht. 40 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Die neue Rundschau 69 (1958), a.a.O. S. 684. 41 Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 49.

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„Die Fähigkeit, dieselbe Sache aus den verschiedensten Gesichtspunkten zu erblicken, verbleibt in der Menschenwelt, tauscht nur den eigenen natürlich vorgegebenen Standort gegen den der Anderen, mit denen man in der gleichen Welt zusammen weilt, ein und erzielt so eine wahre Bewegungsfreiheit in der Welt des Geistigen, die der Bewegungsfreiheit im Physischen genau parallel läuft.“42

Die Fähigkeit, dieselbe Sache aus den verschiedensten Gesichtspunkten zu erblicken, basiert auf der Einbildungskraft, die Arendt als politische Freiheit bestimmt.43 „Die Freiheit erscheint in der Urteilskraft als ein Prädikat der Einbildungskraft, und nicht des Willens, und die Einbildungskraft hängt aufs engste mit jener ‚erweiterten Denkungsart‘ zusammen, welche die politische par excellence ist, weil wir durch sie die Möglichkeit haben, ‚an der Stelle jedes anderen zu denken.‘“44

Mit diesem Verständnis der Freiheit als einem Prädikat der Einbildungskraft, die es uns ermöglicht, an der Stelle jedes anderen zu denken, hat Kant, so Arendts These, einen politischen Freiheitsbegriff entwickelt, der von der Freiheit des Willens unterschieden ist. Nur unter dieser Perspektive wäre Kants Aussage verständlich, dass „die äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken“ 45 nimmt. Der politische Freiheitsbegriff führt allerdings im Vergleich zum Freiheitsbegriff der praktischen Vernunft in Kants Philosophie nur ein Schattendasein, obwohl er in Kants politischen Schriften deutlich hervortritt. In ihnen ist der Gebrauch der Vernunft an die Öffentlichkeit gebunden. Öffentlichkeit ist ein Prinzip des Politischen. „Es ist für jeden Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. [...] Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich, ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt,

42 Ebd., S. 97. 43 Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1985, S. 35f. 44 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 216. 45 Kant, Immanuel: Was heißt sich im Denken orientieren?, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. V, Frankfurt a.M. 1988, S. 265-283, S. 280: A 325.

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beinahe unausbleiblich.“46 Kant bindet den Prozess der Aufklärung an die Präsenz anderer in einem öffentlichen Raum. An anderer Stelle heißt es: „Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten!“47

In Anlehnung an Kant interpretiert Arendt den öffentlichen Gebrauch der Vernunft als Ort der politischen Freiheit, der die gemeinsame intersubjektive Welt allererst konstituiert. Die Vernunft bedarf der öffentlichen Kommunikation.48 Die Öffentlichkeit hat für Arendt – wie schon für Kant – eine erkenntniskonstitutive Funktion, insofern kritisches Denken und damit die Vernunft selbst an die Öffentlichkeit gebunden ist: „Kritisches Denken bezieht sich nicht nur auf Lehren und Vorstellungen, die man von anderen erhält, nicht nur auf Vorurteile und Traditionen, die man ererbt; vielmehr erst in der Anwendung kritischer Maßstäbe auf sein eigenes Denken erlernt man die Kunst des kritischen Denkens. Und diese Anwendung kann man nicht ohne Öffentlichkeit lernen, ohne die Überprüfung, die aus der Begegnung mit dem Denken anderer entsteht.“49

Dass politische Unfreiheit Konsequenzen für die subjektive Fähigkeit zur Freiheit hat, daran hat Kant nie gezweifelt. Die Erfahrungen mit der totalen Herrschaft im 20. Jahrhundert haben, so Arendt, diese Erkenntnis aus dem 18. Jahrhundert bestätigt. Mit der Abschaffung der politischen Freiheit werde in letzter Konsequenz jegliche Freiheit abgeschafft; und umgekehrt werde politische Freiheit zerstört, wenn die Menschen daran gehindert werden, zu denken, zu wollen, herzustellen, „weil offenbar all diese Tätigkeiten

46 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a.M. 1988, S. 53-61, hier S. 54: A 483. 47 Kant, Immanuel: Was heisst sich im Denken orientieren?, a.a.O., S. 290: A 325, 326. 48 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 104. 49 Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 59.

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das Handeln und damit Freiheit in jedem, auch dem politischen Verstande mit implizieren“50.

3.2 K RITIK DER S OUVERÄNITÄT DES P OLITISCHEN

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G RUNDLAGE

Kritisiert Arendt an der neuzeitlichen Philosophie die Identifizierung von Freiheit mit der Willensfreiheit, so erkennt sie in der neuzeitlichen politischen Theorie eine falsche Identifikation von Freiheit mit der Souveränität. Diese Gleichsetzung gehe einher mit der Verknüpfung des Freiheitsbegriffs mit einem Subjektbegriff, der sich ebenfalls über die Souveränität bestimmt und der christlich-abendländischen Tradition verhaftet bleibt. An die Stelle der göttlich-absolutistischen Souveränität trete neuzeitlich das menschlichbürgerliche Subjekt. Arendts Kritik gilt diesem Verständnis bürgerlicher Subjektivität. Politisch hat sich, so schreibt Arendt, „kein anderer Bestandteil des traditionellen philosophischen Freiheitsbegriffs als so verderblich erwiesen, wie die ihm inhärente Identifizierung von Freiheit und Souveränität“51. Das Denken über Freiheit wird sinnlos, wenn es von der Bedingung der Nicht-Souveränität menschlicher Existenz abstrahiert. Die NichtSouveränität menschlicher Existenz ist, für Arendt, bereits mit dem Faktum der Natalität gesetzt. Um überhaupt leben zu können, bedarf ein Mensch anderer Menschen. Aber nicht nur die Souveränität einzelner Menschen, sondern auch die eines politischen Körpers ist für Arendt ein gefährlicher Irrglaube. Souveränität heißt hier, dass „eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre“52. Wo aber alle Menschen gleiches tun, sich so verhalten, als ob sie einer wären, kann von Freiheit nicht mehr gesprochen werden. Die Idee der Souveränität entspricht nicht nur nicht der menschlichen Bedingung, sie ist dem Begriff der Freiheit überhaupt entgegengesetzt, insofern Freiheit an das Faktum der Pluralität gebunden ist. Wie die Natalität ist auch die Pluralität eine Bedingung menschlicher Existenz. Sie besteht schlicht darin, dass nicht „ein Mensch, sondern viele Menschen [...] die

50 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 204. 51 Ebd., S. 213. 52 Ebd., S. 214.

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Welt bevölkern“53. Das Faktum der Pluralität ist bei Arendt doppelt bestimmt. Einerseits bezieht es sich auf die Gleichartigkeit – alle sind Menschen –, andererseits auf die Verschiedenheit der je einzelnen Menschen. Die Idee der Souveränität streicht die Pluralität menschlichen Daseins durch. Dabei wendet Arendt sich sowohl gegen die autoritären Souveränitätsauffassungen im Verständnis von Hobbes als auch gegen demokratische Souveränitätskonzeptionen in der Tradition von Rousseau als Grundlage des Politischen. Arendt demonstriert ihre Kritik an Hobbes’ Philosophie im Imperialismus-Kapitel von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Seine Philosophie sei als Vorläufer des modernen Utilitarismus zu interpretieren, die einzige Philosophie, „auf [die] die Bourgeoisie sich je hätte berufen können“54. Arendt zufolge antizipiert Hobbes im Leviathan die Weltanschauung der bürgerlichen Gesellschaft, indem er das öffentliche Wohl aus Privatinteressen ableitet.55 Dieser privaten Interessen wegen konstituiert sich der politische Körper, dessen Zweck die unbeschränkte Akkumulation von Macht ist. Hobbes’ Verständnis von Freiheit – die Freiheit der Subjekte als Eigentümer – richtet sich gegen die feudalabsolutistische Gesellschaftsordnung. Sicherheit und Schutz stehen im Vordergrund der Hobbesschen Idee des Staates. Diese Konzeption wird aus der menschlichen Natur abgeleitet, die nur am eigenen Nutzen und der Akkumulation der eigenen Macht interessiert ist. Die Gleichheit aller Menschen liegt in der Fähigkeit zum gegen-

53 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 14 Arendt diskutiert Carl Schmitts Verständnis der Souveränität nicht, aber in einer Fußnote von Freedom and Politics verweist sie explizit auf ihn. Dort heißt es: „Among modern political theorists, Carl Schmitt has remained the most consistent and the most able defender of the notion of sovereignity. He recognizes clearly that the root of sovereignity is the will: Sovereign is who wills and commands. See especially his Verfassungslehre [...]“ Arendt, Hannah: Freedom and Politics, a Lecture, in: Chicago Review 14 (1960), S. 28-46. Dieses Zitat existiert nicht in allen Variationen des Aufsatzes Freiheit und Politik, sondern nur in der englischen Veröffentlichung. Weitere Ausführungen zum Begriff der Souveränität sind auch in dem Aufsatz Kultur und Politik zu finden, siehe Arendt, Hannah: Kultur und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 277- 304, hier S. 294f. 54 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 316. 55 Vgl. ebd., S. 317.

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seitigen Töten und in der Angst vor dem Tod. Deshalb ist es notwendig, eine Instanz einzurichten, die die Unterwerfung aller Willen unter einen Willen ermöglicht und durch eine allgemeine Gewalt abgesichert wird: „Nach meiner Auffassung ergibt sich somit aus der Vernunft wie aus der heiligen Schrift klar, dass die souveräne Gewalt so groß ist, wie sie die Menschen überhaupt nur machen können, ob sie nun bei einem Menschen, wie in einer Monarchie, oder einer Versammlung von Menschen, wie in Demokratien und Aristokratien, liegt. Und obwohl man sich vorstellen kann, dass eine so unbeschränkte Gewalt üble Folgen hat, so sind doch die Folgen ihres Fehlens, nämlich der beständige Krieg eines jeden gegen seinen Nachbarn, viel schlimmer.“56

In Hobbes’ Philosophie entdeckt Arendt die Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft. Den Leviathan interpretiert sie als alle Gewalt und Macht monopolisierenden Souverän.57 Der totale Machtanspruch des Leviathan identifiziert „gesellschaftliche Macht“ mit Recht. Hobbes’ Leviathan ist die einzige politische Theorie, der zufolge sich der Staat nicht auf eine Art konstituierendes Gesetz stützt, sondern auf Einzelinteressen, so dass das private Interesse das gleiche ist wie das öffentliche und die bedingungslose Unterwerfung seiner Untertanen fordert. Hobbes sei „der einzige politische Denker, der je für den von ihm entworfenen Staat mit Stolz den Namen Tyrannis in Anspruch genommen hat“58. Seine Konzeption des Staates entspricht, so Arendt, dem Prinzip des Kapitals in der Gesellschaft. Vorausblickend erkennt er, dass eine Gesellschaft, die die Akkumulation des Kapitals als unendlichen Prozess zum Prinzip gemacht hat, eines politischen Körpers bedarf, der einen ihr entsprechenden Prozess der Machtakkumulation hervorbringt: „Der unbegrenzte Prozess der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner Sicherstellung einer ‚unbegrenzten Macht‘, nämlich eines Prozesses von Machtakkumulation, der durch nichts begrenzt werden darf außer durch die jeweiligen Bedürfnisse der Kapitalakkumulation.“59 Die Reduzierung des Staates auf den Schutz des Eigentums, die Reduzierung des Willens vieler auf einen einzigen Willen durch eine allgemeine Gewalt, die

56 Hobbes, Thomas: Leviathan, Frankfurt a.M. 1984, S. 162. 57 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 320f. 58 Ebd. S. 321. 59 Ebd., S. 326.

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Gleichsetzung von privaten und öffentlichen Interessen – alles, Arendt zufolge, Momente der Hobbesschen Souveränitätskonzeption – sind Voraussetzungen imperialistischer Politik gewesen, die politisches Handeln und damit Politik mit Machtpolitik und Reichtumsakkumulation identifiziert. Arendt kritisiert aber auch die Rousseausche Konzeption des allgemeinen Willens. Sie unternimmt den Versuch, Strukturähnlichkeiten zwischen Hobbes autoritärer und Rousseaus demokratischer Souveränitätsauffassung aufzuzeigen.60 Rousseau setzt, so Arendts Lesart, den Begriff des Willens mit dem des Interesses gleich. Der Allgemeinwille ist identisch mit dem Gesamtinteresse als Interesse des Volkes. Dieses Gesamtinteresse kann „nur dadurch hervorgerufen werden, dass Einzelinteressen und Eigenwillen ihm feindlich entgegenstehen“61. Darin zeigt sich, dass auch Rousseaus Begriff vom allgemeinen Willen das Faktum menschlicher Pluralität negiert: „Where men wish to be sovereign, as individuals or as organized groups, they must submit to the oppression of the will, be this the individual will with which I force myself, or the ‚general will‘ of an organized group. If men wish to be free, it is precisely sovereignty they must renounce.“62

Politik auf Souveränität und dem allgemeinen Willen zu gründen, stellt für Arendt gerade die Zerstörung dessen dar, was man glaubt zu begründen. Denn die Welt wird durch die Pluralität der Perspektiven konstituiert, deren

60 Gleichwohl Arendts Republikanismus, der die Form der direkten Demokratie favorisiert, in einer gewissen Nachfolge der politischen Philosophie Rousseaus steht, kritisiert sie die Konzeption des allgemeinen Willens als den Volkswillen im Politischen: „Rousseaus Theorien kamen den Männern der Französischen Revolution so außerordentlich gelegen, weil er anscheinend ein höchst ingeniöses Mittel gefunden hatte, eine Vielzahl von Menschen an den Platz zu stellen, der bisher von einer einzigen Person ausgefüllt worden war; denn der allgemeine Wille war nichts mehr und nichts weniger, als was die Vielen in eine Einheit zusammenbinden sollte.“ Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 1986, S. 96. 61 Ebd., S. 99. 62 Arendt, Hannah: What is freedom?, in: Dies.: Between Past and Future, New York 1961, S. 164-165.

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Unterschiedlichkeit die Offenheit des Gemeinwesens durch die Pluralität der Meinungen zeigt. Dem allgemeinen Willen Rousseaus stellt Arendt die Pluralität der Meinungen gegenüber. Sie ist der Auffassung, dass es „keine echte Meinungsbildung geben kann, wo alle Meinungen zusammenfallen. Kein Mensch kann sich eine eigene Meinung bilden, ohne sich auf andere Meinungen einzulassen und sie an ihnen auszuprobieren“63. Eine einmütige öffentliche Meinung erzeuge eine einmütige Opposition, die eine wirkliche Meinungsbildung im Keim erstickt.64 Arendt unterscheidet Meinungen von Interessen. Interessen sind an eine Gruppe gebunden, während Meinungen von Einzelnen geformt werden. „Wo es eine einhellige öffentliche Meinung gibt, besteht die Tendenz, Andersdenkende physisch zu beseitigen, denn massenhafte Übereinstimmung ist nicht das Ergebnis einer Übereinkunft, sondern ein Ausdruck von Fanatismus und Hysterie. Im Gegensatz zur Übereinkunft bleibt die vereinheitlichte Meinung nicht bei irgendwelchen genau definierten Zielen stehen, sondern breitet sich wie eine Infektion auf alle benachbarten Angelegenheiten aus.“65

Während Meinungen und Interessen divergieren, ist ein Wille unteilbar. Es gibt keine Übereinkunft von Menschen, die Verschiedenes wollen, sondern nur zwischen Menschen, die verschiedener Meinung sind. Der allgemeine Wille im Sinne Rousseaus eliminiert die Vielfalt der Perspektiven, weil es eine gemeinsame Welt auf eine Perspektive reduziert: „If matters in a nation were to come to a point where everyone saw and understood everything from the perspective, living in total unanimity with one another, the world would have come to an end in a historical-political sense.“66 Man kann an

63 Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 290. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. auch Arendt, Hannah: Die Krise des Zionismus, in: Dies.: Die Krise des Zionismus, Essays & Kommentare 2, Berlin 1989, S. 90f. 66 Arendt, Hannah: The Promise of Politics, New York 2006, S. 176. Siehe hierzu auch Über die Revolution: „Die auszeichnende Qualität diese Volkswillens, nämlich der volonte generale, war gerade seine Einmütigkeit, und wenn Robiesspierre sich ständig auf die ‚öffentliche Meinung‘ beruft, so denkt er dabei durchaus an die Einmütigkeit der volonte generale, nicht aber an eine Meinung,

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dieser Stelle von Arendts Kritik an Rousseau auf eine wichtige Differenz zur Demokratietheorie von Jürgen Habermas hinweisen, die vielleicht auch erklärt, warum Arendts Denken für eine „postmoderne“ Aufklärungskritik so attraktiv werden konnte.67 Während Habermas Souveränität im Sinne eines „Zusammenhangs zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten im normativen Gehalt eines Modus der Ausübung politischer Autonomie“ diskutiert, „der nicht schon durch die Form allgemeiner Gesetze, sondern erst durch die Kommunikationsform diskursiver Meinungs- und Willensbildung“68 abgesichert wird, kritisiert Arendt den Souveränitätsbegriff überhaupt. Auch wenn Habermas’ Paradigmenwechsel von der „praktischen“ zur „kommunikativen Vernunft“ mehr ist als ein bloßer Etikettenwechsel, so kehrt doch bei ihm die Idee eines allgemeinen Willens in der eines allgemeinen Konsensus im Politischen wieder. Die Differenz in den Argumentationen von Habermas und Arendt wird hier besonders deutlich. Habermas arbeitet die Rationalitätsvoraussetzungen und damit die Möglichkeit eines praktischen Diskurses heraus, der in einem gemeinsamen Willen mündet. Für Arendt hingegen ist die Idee eines gemeinsamen Willens schlechthin Gegenstand der Kritik. Arendt behauptet nicht, dass Macht und Recht aus der Meinung hervorgehen, auf die sich alle öffentlich geeinigt haben, sondern dass es Übereinkünfte zwischen Menschen verschiedener Meinungen gibt.69 In ihrem Vergleich zwischen der Französischen und Amerikanischen Revolution hebt Arendt genau diesen Unterschied hervor. Was beide Revolutionen verbindet, ist, dass sie die Quelle aller legitimen

auf die sich viele öffentlich geeinigt haben.“ Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 96. 67 Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992. Dabei handelt es sich in erster Linie um Kritiken und Interpretationen der demokratischen Souveränitätsauffassungen in der Tradition von Rousseau und Kant. Beide Konzeptionen (Rousseaus und Kants) verfehlen, so Habermas, „die Legitimationskraft einer diskursiven Meinungs- und Willenbildung, in der illokutionären Bindungskräfte des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs genutzt werden, um Vernunft und Willen zusammenzuführen – und zu Überzeugungen zu gelangen, in denen alle einzelnen zwanglos übereinstimmen können.“ Ebd., S. 133. 68 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, a.a.O., S. 133. 69 Vgl. Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 204.

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Macht in die Hände des Volkes verlegte, was sie voneinander trennt, ist, dass der Ursprung des Gesetzes der Wille des Volkes sei. Zwar hätte man in Amerika auch vor dem Problem gestanden, eine neue Quelle der Gesetze zu etablieren, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, Gesetz und Macht aus der gleichen Quelle abzuleiten: „Der Ort der Macht wurde ins Volk verlegt, aber die Quelle aller Gesetze sollte die Verfassung werden, ein Schriftstück und Dokument, etwas Objektives, das man zwar so oder anders interpretieren und je nach Umständen abändern und erweitern konnte, das aber niemals ein subjektiver, ephemerer Gemütszustand sein konnte, wie der sogenannte Volkswille, der sich in Wahlen äußert und in Befragungen der öffentlichen Meinung erkundet werden kann.“70

Nicht der allgemeine Wille eines Volkes, als Grundlage der Souveränität, sondern die Macht, die sich durch gemeinsames Handeln entfaltet und durch Bünde und Verfassungen stabilisieren kann, ist die Quelle des Gesetzes. Hier erkennt man den Grund für Arendts emphatische Perspektive auf die Amerikanische Revolution, die wesentlich darin begründet liegt, dass die Unterscheidung zwischen Republik und Demokratie auf einer Trennung zwischen Gesetz und Macht basiert, die nicht nur verschiedene Ursprünge haben, sondern auch unterschiedliche Formen der Legitimierung benötigen.71 Arendt bestreitet nicht die Möglichkeit einer Übereinkunft in Meinungs-, Diskussions- und Handlungszusammenhängen, aber sie bestreitet vehement, dass das Resultat einer Konsensbildung ein singulärer oder kollektiver Souverän sein könne. Dies eben widerspreche der menschlichen Bedingung: „Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie.“72 Das Handeln fällt in ein Netz von Bezügen, „in welchem das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als eindeutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade sich nicht durchsetzen kann“73. Der Handelnde ist nie souverän, sondern souverän ist für Arendt nur Homo faber. Nur Homo faber, der Herstellende, und die in seine Logik eingehende Zweck-Mittel-Kategorie setzt

70 Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 204. 71 Vgl. ebd., S. 215f. 72 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 294. 73 Ebd., S. 294.

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Souveränität voraus: den Zwecken gegenüber, die einer sich setzt, den Mitteln gegenüber, die er für seine Verwirklichung benutzt, den anderen Menschen gegenüber, „denen er im Sinne eines von ihnen erdachten Endproduktes Befehle erteilen muss, die sie nur auszuführen brauchen, die nur der Herstellende, aber niemals der Handelnde besitzt“74. Ist der Begriff der Souveränität an eine Herstellungs- und Produktionslogik gebunden, so kann im Handeln als politischem Handeln Souveränität, in welcher Form auch immer, weder das Ziel noch die Grundlage des Politischen sein. Arendt insistiert auf die Notwendigkeit eines begrenzten politisch-öffentlichen Raums, in dem Meinungen sich entfalten und durch eine „erweiterte Denkungsart“ überprüft werden können. Dadurch entfaltet sich politische Freiheit, weil diese Form des Denkens, die zur Bildung einer Meinung führt, diskursiv und öffentlich ist und der menschlichen Pluralität entspricht. Politische Freiheit basiert auf der prä-politischen Spontaneität als Bedingung der Möglichkeit gemeinsamen Handelns, d.h. einem Sprechen und Tun mit Anderen.75 Weder die traditionelle Willensfreiheit noch die Souveränität bildet also die Grundlage von Arendts politischem Freiheitsbegriff, sondern die Freiheit, die in der Urteilskraft als Prädikat der Einbildungskraft erscheint. „Die Freiheit erscheint in der Urteilskraft als ein Prädikat der Einbildungskraft, nicht des Willens, und die Einbildungskraft hängt auf engste mit jener ‚erweiterten Denkungsart‘ zusammen, welche die politische par excellence ist, weil wir durch sie die Möglichkeit haben, an der Stelle jedes anderen zu denken.“76

Diese Konzeption politischer Freiheit enthält implizit einen Begriff politischer Macht, der politische Freiheit nicht nur stabilisieren, sondern auch legitimieren kann. Macht beruht nicht auf einem gemeinsamen Willen, sondern auf der Macht der Meinung, die sich durch die politische Urteilskraft legitimiert. Wenn aber ein politisches Gemeinwesen auf Macht beruht, dessen Basis nicht ein allgemeiner Willen ist, sondern auf der Macht der Meinung, wie ist dann dieser Begriff der Macht zu verstehen?

74 Ebd., S. 295. 75 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 51f. 76 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 216.

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3.3 M ACHT , ÖFFENTLICHER R AUM UND U RTEILSKRAFT Die Tradition der politischen Philosophie bestimmt Staatsformen als Herrschaftsformen von Menschen über Menschen. Jean Bodin und Thomas Hobbes stehen in dieser Tradition, in der der Begriff des Gesetzes und der Macht als Befehl verstanden werden, der Gehorsam verlangt.77 Im Kontrast zu dieser Traditionslinie, in der Staatsformen nur als Herrschaftsformen konstruiert sind, hebt Arendt die Tradition der griechischen Stadtstaaten hervor, die die politischen Begriffe von Macht und Gesetz jenseits der Kategorien von Befehl und Gehorsam definierten. Arendt bezieht sich positiv auf den Begriff der Isonomie als Prinzip der Gleichen innerhalb der Polis und auf das „öffentliche Ding“, die res publica der Römer. In diesen politischen Konzeptionen entdeckt sie Potentiale eines politischen Gemeinwesens, in der die Herrschaft des Gesetzes auf der Macht des Volkes beruht und die Herrschaft von Menschen über Menschen aufgehoben wird.78 Der

77 Vgl. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 1987, S. 40f. 78 Vgl. ebd., S. 41f. Wenn Arendt sich für ihr Verständnis des Politischen auf die Polis bezieht, in der der Raum der Freiheit durch die aktive Teilhabe der Bürger, dem Austausch der Meinungen im Zusammentreffen mit Anderen entsteht, so ist dies nicht einem idealisierenden Blick auf die Antike geschuldet, der vergangene Zeiten verklärt. Arendt kennt die Bedingungen der Möglichkeit der Polis, die auf dem Ausschluss von Frauen, Fremden, Sklaven und Handwerkern, also der Unfreiheit und Mehrarbeit der Ausgeschlossenen basiert. Vgl. Arendt, Hannah: Die Krise in der Erziehung, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 255-277, hier S. 269. Der Bezug auf die antike Polis dient ihr als Inspiration, als Wissen darum, dass jede Beschäftigung mit dem Politischen an den Anfang zurückkehren muss, um dessen historischen Bedeutungsverschiebungen zu begreifen. In ihrem Aufsatz Kultur und Politik hat Arendt den kritischen Einwand, dass es sich bei ihrem Verständnis des Politischen um eine Reaktualisierung des antiken Politikbegriffs geht, bereits vorweggenommen und zurückgewiesen. Dort hebt sie hervor, dass der Rückbezug auf die Antike notwendig sei, weil die politische Wissenschaft ohne solche geschichtlichen Modelle nicht arbeiten kann, „nicht nur weil Geschichte ihr ja das Material für ihr Studium liefert, sondern auch weil wir nur durch die Zuhilfenahme der in der Geschichte niedergeschlagenen Erfahrungen mit solchen Dingen wie Politik und

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Machtbegriff der neuzeitlichen politischen Theorie reduziert das Phänomen der Macht auf Befehl und Gehorsam und unterscheidet nicht zwischen Macht und Gewalt sowie Stärke, Kraft und Autorität. Arendt führt dies auf die „Unfähigkeit, die Wirklichkeiten zu sehen und zu erfassen, auf die die Worte ursprünglich hinweisen“, und auf die Überzeugung zurück, „dass es in der Politik nur eine entscheidende Frage [gibt]: Wer herrscht über wen?“79 Während die Tradition der politischen Philosophie seit der Neuzeit Macht mit Gewalt gleichsetzt, bestimmt Arendt Macht und Gewalt als Oppositionsbegriffe, die nicht voneinander ableitbar sind. Arendt bezieht sich für ihre Bestimmung des Begriffs der Macht auf dessen etymologische Bedeutung. Der Begriff geht zurück auf das griechische Wort „Dynamis“ und das lateinische „Potentia“, welches nicht dem „Machen“ entspringt, sondern von „möglich“ und „mögen“ hergeleitet wird.80 Nicht die Befehls- und Gehorsams-Beziehung kennzeichnet die Macht, sondern sie entspricht der menschlichen Fähigkeit, gemeinsam zu handeln. Im Unterschied zur Macht sei Gewalt durch die Zweck-MittelRelation, durch Sprachlosigkeit, Isolation und Herrschaft gekennzeichnet. In Opposition zur Traditionslinie von Thomas Hobbes bis Max Weber, die

Kultur unseren eigenen, immer begrenzten Erfahrungshorizont so erweitern können [...] Mein sachlicher Grund nun, vorzuschlagen, uns aus der Neuzeit zu entfernen, ist einfach, dass der politisch-öffentliche Raum im Leben der Antike eine ungleich größere Dignität und für das Leben der Menschen höhere Relevanz besaß.“ Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 282f. Arendt wendet also nicht das Politikverständnis der Polis gegen die moderne Auffassung des Politischen, in der die Dichotomien von Denken und Handeln, Philosophie und Politik, Herrschern und Beherrschten tragend wurden, sondern setzt die Widersprüchlichkeiten innerhalb des Politikverständnisses der Polis mit den Widrigkeiten moderner Politik in Beziehung. 79 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 44-45. 80 Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 194; vgl. auch Grunenberg, Antonia: Der Schlaf der Freiheit. Politik und Gemeinsinn im 21. Jahrhundert. Köln 1997, S. 195f., vgl. auch Grunenberg, Antonia: Macht kommt von möglich, in: Dies./Probst, Lothar (Hg.), Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute, Bremen 1995, S. 83-96.

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Macht asymmetrisch definieren,81 bestimmt Arendt den Begriff der Macht symmetrisch. Während Weber Herrschaft als Spezialfall von Macht begreift und diese als die „Chance“ definiert, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“82, beruht Arendts Begriff der Macht nicht auf einem gemeinsamen Willen – unabhängig auch davon, ob dieser auf Zwang oder einer freiwilligen Einigung beruht, – sondern auf der Macht der Meinung, die jenseits von Herrschaft, nämlich als die gemeinsame Ausübung politischer Freiheit im öffentlichen Raum verstanden wird. Während Weber der Macht einen teleologischen Handlungsbegriff unterlegt, der zur Erreichung des Zwecks, zur Durchsetzung des eigenen Willens Mittel einsetzt, den anderen oder die anderen dazu zu veranlassen, in seinem Sinne zu handeln, reserviert Arendt für dieses Handlungsmodell den Begriff der Gewalt. Gewalt sei jedoch fälschlicherweise im Sinne einer Herstellungskategorie begriffen worden, indem sie als ein Mittel zu einem bestimmten Zweck eingesetzt werde. Die Gewalthandlung verlaufe innerhalb dieses Verständnisses wie ein Herstellungsprozess ab, dessen Kern die Zweck-Mittel-Kategorie beinhalte. Arendt wendet dagegen ein, dass die Vorrangstellung des Zwecks im Verlauf der Handlung verloren gehe und der Zweck von den Mitteln überwältigt werde. Im Unterschied zur Gewalt erhalte Macht den öffentlichen Raum am Leben: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht‘, hieße das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt sei, in ihrem Namen zu handeln.“83

81 Das heißt natürlich nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Webers Macht und Herrschaftsbegriff zur Traditionslinie von Hobbes, Locke und Rousseau gibt. Bezüglich der Legitimitätsvorstellung argumentieren sie unterschiedlich. Mir kommt es hier nur grundsätzlich darauf an, ob der Begriff der Macht vertikal oder horizontal verstanden wird. 82 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 42, § 16. 83 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 45.

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Arendts Machtbegriff ist der weberschen Konzeption entgegengesetzt. Ihr Machtbegriff basiert auf Handeln, Kommunikation und Verständigung, ist also ein, wie Habermas es formuliert, kommunikativer Machtbegriff, der von einem kommunikativen Handlungsmodell ausgeht.84 Während Arendt zwischen lebendiger Macht und materialisierter Macht unterscheidet, differenziert Habermas in Anlehnung an Arendt zwischen „administrativer“ und „kommunikativer“ Macht, die der Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln korrespondiert.85 Im Unterschied zu Arendt hält Habermas am strategischen Moment der Macht fest. Obwohl Habermas Arendts Begriff der Macht in seinem normativen Status schätzt, liest er Arendts Verständnis des Politischen aus verfallstheoretischer Perspektive. Arendts Begriff des Politischen sei „kein denkbarer Weg für irgendeine moderne Gesellschaft“86. Man müsse Arendts Begriff der Macht „aus der Verklammerung mit einer aristotelisch inspirierten Handlungstheorie herauslösen“87. Im Unterschied zu Habermas eliminiert Arendt das instrumentell-strategische Moment im Machtbegriff. Die Differenz zwischen der Konzeption von Arendt und Habermas liegt aber noch in einem zweiten Moment. Während Arendts Begriff der Macht herrschaftsfrei konzipiert ist, wie überhaupt ihre Philosophie des Politischen jenseits des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten gedacht ist, versteht Habermas Herrschaft als die Ausübung politischer Macht, die sich rational und diskursiv legitimieren muss. Jede Regierung, jede politische Organisation ist, so Arendt, auf das lebendige Machtpotential angewiesen, weil sie ihm ihre Existenz verdankt:

84 Vgl. Habermas, Jürgen: Hannah Arendts Begriff der Macht, in: Ders: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1984, S. 228-249, hier S. 229. Nur mit dem, wie oben schon ausgeführt, entscheidenden Unterschied, dass Arendt eben nicht – wie Habermas – vom allgemeinen Willen aus argumentiert. Bei allen Unterschieden in der Interpretation der Philosophie Arendts kann ich Habermas nur zustimmen, wenn er formuliert, dass Arendts Begriff der Praxis an Marx Bestimmung „kritisch-revolutionärer Tätigkeit“ erinnert. 85 Vgl. ebd. 86 Ebd., S. 240. 87 Ebd., S. 249.

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„Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust, und schließlich Ohnmacht. Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde, und die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass kein materiell greifbarer Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag.“88

Während Weber das Wesen des Staates im Anspruch auf das Gewaltmonopol sieht, bestimmt Arendt die Macht als das Wesen politischer Gemeinwesen. Tritt der Begriff der Macht an die Stelle des Begriffs der Herrschaft, dann erscheint ein politisches Gemeinwesen als „seinem Wesen nach organisierte und institutionalisierte Macht“89. Im Unterschied zur Gewalt ist Macht kein Mittel, sie entsteht nur im Zusammenhandeln der Menschen. Im Verständnis von Arendt ist sie die Erscheinungsform sowohl der inneren als auch der äußeren Freiheit. Und darin ist sie zugleich die Einheit der philosophischen Freiheit – das Ich-will – und der politischen Freiheit – das Ich-kann. Macht als das Vermögen, Mögliches zu verwirklichen, ist in diesem Sinne „the freedom to call something into being which did not exist before“90. Unter der Perspektive der menschlichen Pluralität fallen Freiheit und Macht zusammen. Politische Institutionen und Organisationen sind, so Arendt, Ausdruck materialisierter Macht als Vergegenständlichung des menschlichen Handelns. Sie dienen sowohl zum Schutz als auch zur Beschränkung menschlicher Freiheit. Arendt betont die Notwendigkeit der Institutionen, Rechte und Gesetze, weil Handeln und als Resultat Macht schrankenlos sind.91 Ohne diese Materialisierung von Macht kann sich politische Freiheit nicht entfalten.92 Die politischen Institutionen sind für ihren Erhalt auf lebendige Macht angewiesen, insofern Macht sowohl der Grund ihrer Existenz als auch ihrer Stabilität ist. Macht selbst aber ist äußerst fragil. Sie zerfällt so rasch, wie sie durch das Miteinander der Menschen ent-

88 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 193f. 89 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 53. 90 Arendt, Hannah: Between Past and Future, a.a.O., S. 151. 91 Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 195. 92 Vgl. das zweite Kapitel über Arendts Analyse des Imperialismus. Ein wesentliches Moment ihrer Kritik besteht gerade in der Zerstörung der politischen Institutionen und des Rechts durch den Imperialismus.

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stehen konnte. Dies liegt nicht zuletzt an der Eigentümlichkeit des öffentlichen Raums, der so essentiell auf dem handelnden und sprechenden Miteinander der Menschen beruht, dass er selbst unter den scheinbar stabilsten Verhältnissen seinen fragilen Charakter niemals ganz verliert.93 Arendt demonstriert die unterschiedlichen Bedeutungen und Auswirkungen von Macht am Beispiel der Studentenbewegungen in Amerika und Europa. In ihnen entdeckt sie die Entfaltung von lebendiger Macht, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Während die Studenten in Westeuropa und Amerika „öffentlichen Gebrauch“ von den politisch-garantierten Freiheiten machten, zeigte sich die Macht in Prag 1968 als Forderung für politische Freiheiten: „Die Rebellen des Ostens fordern Rede- und Gedankenfreiheit als die unerlässliche Vorbedingung politischen Handelns; die Rebellen des Westens leben unter Verhältnissen, in denen diese Vorbedingungen nicht mehr die Wege des politischen Handelns öffnen.“94 In beiden historischen Fällen von lebendiger Macht begeisterte Arendt vor allem „die Lust am Handeln“ und „die Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft zu ändern“95. Machtverlust zeige sich darin, „dass das Volk seinen Konsens zu dem, was die Machthaber, nämlich die Ermächtigten tun, entzieht“96. Sie versuchen, ihre verlorene Macht durch Gewalt zu ersetzen. Gewalt ist jedoch in der Lage, vorhandene Macht zu zerstören. Die Zerstörung der Macht durch Gewalt bedeutet die Beherrschung des öffentlichen Raumes oder gar die Vernichtung desselben: „Die Gewalt kann nie mehr, als die Grenzen des politischen Bereichs schützen. Wo die Gewalt in die Politik eindringt, ist es um Politik geschehen.“97 An anderer Stelle formuliert sie: „Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande sie zu erzeugen.“98 Neben anderen wichtigen Abgrenzungsbegriffen wie Stärke, Kraft und Autorität ist Gewalt der Gegenbegriff zur Macht. Macht ist stets auf Mehrheiten angewiesen, Gewalt hingegen ist bis zu einem gewissen Grad von der Zahl unabhängig: „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und

93 Vgl. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 81. 94 Ebd., S. 24. 95 Ebd., S. 107. 96 Ebd. 97 Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 20. 98 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 57.

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das letzte ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewaltmittel niemals möglich.“99 Das herausragende Merkmal der Tyrannis ist, so Arendt in Anlehnung an Montesquieu, die Isolierung in zweierlei Hinsicht. Die Isolierung des Herrschers von seinen Untertanen und die Isolierung der Untertanen untereinander, die die Entstehung von lebendiger Macht verhindert, weil sie eine Art systematischer und organisierter Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Misstrauens hervorruft.100 Die Tyrannis zerstört die bestehende Macht und verhindert die Entstehung von Machtpotentialen. Sie ruiniert so die unerlässliche Grundlage und Quelle politischen Handelns. Die Grundlage für die Machtbildung ist das Vermögen der Menschen, miteinander zu sprechen und zu handeln, aber auch die Fähigkeit zu versprechen und zu vergeben: „Wir erwähnten bereits, dass Macht überall da entsteht, wo Menschen sich versammeln und zusammen handeln, und dass sie immer dann verschwindet, wenn sie sich wieder zerstreuen. Die Kraft, die diese Versammelten zusammenhält [...] ist die bindende Kraft gegenseitiger Versprechen, die sich schließlich in dem Vertrag niederschlägt.“101

Arendts Verständnis von politischer Freiheit ist ohne ihr Verständnis einer politischen Macht nicht zu verstehen.102 Politische Freiheit hat für Arendt systematischen Vorrang, insofern diese Form der Freiheit die intersubjektiven Bedingungen menschlicher Existenz überhaupt erst gewährleistet. Wie Arendt die Begriffe Macht und Freiheit in Beziehung zum öffentlichen Raum setzt, soll im Folgenden dargestellt werden.

99 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 43. 100 Vgl. ebd. 101 Ebd., S. 24. 102 Zur Kontroverse um diesen Freiheitsbegriff im feministischen Diskussionszusammenhang siehe Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext, Frankfurt a.M. 1995, S. 98f.

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3.4 D ER

ÖFFENTLICHE

R AUM

Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, dass Arendt die totale Herrschaft als neue Herrschaftsform begreift. Einer der wichtigsten Indikatoren für das Neue dieser Herrschaftsform besteht darin, dass die totale Herrschaft den Anspruch auf die totale Beherrschung des Menschen formuliert: „Die totale Herrschaft gibt sich niemals damit zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen, in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren.“103

In dem Aufsatz Philosophie und Politik formuliert Arendt, dass der Erfolg der inneren Beherrschung des Menschen dadurch erreicht wird, dass die totalitären Massenbewegungen die Möglichkeit der Einsamkeit vernichten, und damit jegliche Form der Bildung eines Gewissens abgeschafft wird, weil der Dialog mit sich selbst bzw. alle Formen des Denkens ein gewisses Maß an Einsamkeit voraussetzen.104 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden Arendts Bestimmung des Öffentlichen und des Privaten in Bezug auf das Selbst und die Welt und damit in Bezug auf das Funktionieren der politischen Urteilskraft diskutiert. In der Forschung wird Arendts Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten häufig als Wiederbelebungsversuch des antiken Stadtstaatenmodells interpretiert, der, auf die modernen Gesellschaftsverhältnisse übertragen, sinnlos erscheine. Diese Kritik berücksichtigt nicht den historischen Bezugspunkt, der in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu finden ist. Arendts scharfe analytische Trennung von Öffentlichem und Privatem ist in der Zerstörung dieser Unterscheidung durch die Nazis begründet. Ist die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit für Arendt konstitutiv für die Fähigkeit des Denkens und Urteilens, so hat die Aufhebung dieser Trennung die Deformation des Denkens zur Folge – sowohl des Denkens als eines stummen Dialogs mit sich selbst (Platon) als auch des Denkens im Sinne der erweiterten Denkungsart (Kant). Ein Gewissen, das sich im Denken bildet, kann sich so nicht mehr

103 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge, a.a.O., S. 701. 104 Vgl. Arendt, Hannah: Philosophie und Politik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 381-400, hier S. 392.

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konstituieren. Gegen die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit im liberalen Sinne betont Arendt die wechselseitige Abhängigkeit beider Bereiche. Andererseits argumentiert sie aus demselben Grund auch gegen die Abschaffung dieser Trennung. Verkennt die liberale Position das dialektische Moment im Verhältnis zwischen dem öffentlichen und privaten Raum, so zerstört die totale Herrschaft sowohl den öffentlichen als auch den privaten Raum, indem sie die Trennung zwischen beiden überhaupt abschafft. Begreift Arendt das Verhältnis von öffentlich und privat dialektisch, so ist auch ihr Begriff des Öffentlichen doppelt bestimmt. Einerseits umfasst er alles, „was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist“105. Andererseits beinhaltet der Begriff die Welt selbst, insofern „sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen. [...] In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, dass eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen.“106

Benhabib interpretiert diese doppelte Bestimmung des öffentlichen Raums als phänomenologische Dimensionierung des öffentlichen Bereichs. Dabei unterscheidet sie zwischen einer ontologischen und institutionellen Bestimmung. Das ontologische Moment des Öffentlichen gelte „unter gleich welchen sozialgeschichtlichen Voraussetzungen und gleich welcher Epoche. [...] Menschen ‚erscheinen‘ einander auch in Konzentrationslagern, weil Seiendes erscheinen muss – um mit Aristoteles und Heidegger zu sprechen.“107

Das zweite Moment aber sei enger an bestimmte sozialgeschichtliche Bedingungen geknüpft, weil „unter den Bedingungen extremer Schreckensherrschaft, Isolierung, Beherrschung und Gewalt […] die Öffentlichkeit als eine gemeinsame Welt schweren Schaden nehmen [kann]“108. Unter totali-

105 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 49. 106 Ebd. S. 52. 107 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998, S. 206. 108 Ebd.

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tären Regimen wandere „die Öffentlichkeit, so paradox das klingen mag, sehr oft in die Privatsphäre ab“109. Für diese Interpretation zieht Benhabib als Beispiele die Schriftsteller Vaclav Havel, György Konrad und Milan Kundera heran, die eine „Phänomenologie des Lebens unter dem Totalitarismus“ entwickelt hätten. Wendet man jedoch Arendts Unterscheidung zwischen Tyrannis und totaler Herrschaft an, dann wäre der von Benhabib beschriebene Rückzug vom öffentlichen in den privaten Raum unter Herrschaftsformen der Tyrannis möglich, nicht aber unter totalitärer Herrschaft, denn diese begnügt sich nicht damit, lediglich die Meinungsäußerung zu verhindern, sondern zerstört alle Beziehungen zwischen Menschen. Sie verweist explizit auf den inneren Zusammenhang zwischen der Realität der Außenwelt und der eigenen Identität: „Ohne den Erscheinungsraum und ohne ein Minimum an Vertrauen auf Handeln und Sprechen als Weisen des Miteinander wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.“110 Was sie kennzeichnet ist der Versuch, die Freiheit als Spontaneität überhaupt zu verhindern, die im Anfangen-Können liegt, die zwar der Tätigkeit des Handelns eigentümlich ist, aber als Element allen Tätigkeiten innewohnt.111 Ausgehend von den zwei Momenten des Öffentlichen bei Arendt schlage ich deshalb eine andere Interpretation vor. Die erste Bestimmung des Öffentlichen bei Arendt ist keine ontologische Dimension des öffentlichen Bereichs, sondern betrifft die Realitätsfähigkeit der Menschen, die so verletzbar ist wie das Öffentliche als Welt. Die zweite Bestimmung des Öffentlichen bezieht sich auf ebendiese Welt als Ort politischer Freiheit. Wenn man nun Arendts Begriff der Öffentlichkeit mit ihrer Bestimmung der Macht zusammenbringt, ergibt sich eine Perspektive, die ihre These der Identität von Freiheit und Politik zu erhellen vermag. Denn Arendt hat, wie oben dargestellt, den Begriff der Macht doppelt bestimmt: als lebendige Macht und als materialisierte Macht. Der Begriff der lebendigen Macht korrespondiert mit der ersten Bestimmung des Öffentlichen; die zweite Bestimmung des Öffentlichen korrespondiert mit dem Ort der Freiheit als materialisierter Form von Macht, also den Organisationen, Institutionen und Verfassungen. Die erste Bestimmung des Öffentlichen entspricht dem Han-

109 Ebd. 110 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 202. 111 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 49f.

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deln und Sprechen als lebendiger Macht und damit als einer Potentialität des politischen Erscheinungsraums: „Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält.“112 Macht als Potentialität liegt somit vor dem politischen Erscheinungsraum, insofern sie sich nicht schon in Institutionen oder Organisationen materialisiert hat. Die Materialisierung von Macht ist auf eben diese lebendige Macht angewiesen. In Anlehnung an Madison, der formulierte, dass alle demokratischen Regierungen letztlich auf Meinungen beruhen, formuliert Arendt, dass „alle politischen Institutionen [...] Manifestationen von Macht [...]; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt“113. Für Arendts Philosophie des Politischen ist der innere Zusammenhang von lebendiger und materialisierter Macht ausschlaggebend. Mit dieser Perspektive versucht sie, den Begriff der politischen Freiheit zu entfalten, denn mit der zweifachen Bestimmung der Macht als lebendige und materialisierte Macht kann sie deren institutionelle Ebene identifizieren und gleichzeitig zeigen, dass diese immer auf die lebendige Macht angewiesen ist, die sie bestätigt oder auf Veränderung der institutionellen Ebenen drängt. „Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht missbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen.“114

Die lebendige Macht entsteht durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Perspektiven, die zu einer Zustimmung aller führen kann, aber nicht muss.115 Die Bedeutung der Macht für Arendts Bestimmung des ersten Moments des Öffentlichen liegt also darin, dass sie das zweite Moment des Öffentlichen als den Erscheinungsraum der Freiheit überhaupt erhält.116 Das Politische der Öffentlichkeit und der private Ort, die Rückzugsmög-

112 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 194. 113 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 42. 114 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 193f. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. ebd., S. 199.

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lichkeit des Einzelnen zum stummen Dialog mit sich selbst gehören zusammen,117 weil man zuerst mit anderen spricht, „ehe man mit sich selbst spricht“118. Betrachtet man Arendts Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen im Rahmen ihrer Neuformulierung des Politischen angesichts der historischen Erfahrung, so wird deutlich, dass das Private als Ort des reflexiven Rückzugs des Einzelnen bestimmt wird. Es geht in der Unterscheidung zwischen Öffentlich und Privat also nicht nur darum festzulegen, was politisch ist und was nicht, sondern darum, die „ungesellige Geselligkeit“ (Kant) des Menschen als einem denkenden und handelnden Menschen in diesen unterschiedlichen Sphären zu gewährleisten. Anders ausgedrückt: weil der Mensch sowohl Teilnehmer als auch Zuschauer ist, bedarf er unterschiedlicher Orte, denn das Handeln bedarf der Anderen, während das Denken ein einsames Geschäft ist, dass aber den politischen Raum zur Voraussetzung hat. Diese Unterscheidung kennt die totale Herrschaft nicht. Sie besetzt beide Sphären und verhindert damit einerseits das Handeln, andererseits das Reden mit sich selbst, das die Pluralität der Außenwelt zur Voraussetzung hat: „Beides liegt im Wesen der totalen Herrschaft, die sich innenpolitisch nicht damit begnügt, Einzelne einzuschüchtern, sondern durch systematischen Terror alle zwischenmenschlichen Bezüge vernichtet.“119 Die Entstehung von Macht wird verhindert, denn die Macht als Welt der Bezüge entsteht nur durch die Vielen, die ihre Perspektive auf die Welt in Form von Meinungen mitteilen. Deshalb sind Meinungsbildung und Urteilskraft für Arendt die ausschlaggebenden rationalen Vermögen des Men-

117 Vgl. Arendt, Hannah: From Machiavelli to Marx, Container 44.7, (unv. Nachlass, Hannah Arendt Archiv Oldenburg). Dort formuliert Arendt: „Equally important, the notion of publicity: Just as the categorical imperative demands that you act ‚in such a way that the you could want your maxim to become a general law,‘ (465) so the chief political imperative is ‚All actions which relate to the right of other men are contrary to right and law, the maxim of which does not permit publicity.‘ 470: Quote. Politics by definition public. Ethics or morality in Kant related to the individual, but not private; even in the privacy of morality I am to consider my act containing a general law which could be publicly announced.“ 118 Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 187. 119 Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 90.

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schen im Raum des Politischen.120 Meinungen beruhen zwar auf der Standortgebundenheit der Menschen, d.h. sie sind nicht zufällig, sondern bedingt durch den Platz, auf dem sie stehen, den Bedingungen, denen sie unterworfen sind, die nie die gleichen, sondern „von Individuum zu Individuum, von einer Klasse und Gruppe zur anderen“121 verschieden sind. Zugespitzt formuliert: Die Meinung als Standpunkt ist subjektiv bestimmt durch einen besonderen Standort, aber vermittelst der Einbildungskraft habe ich die Fähigkeit, mir gedanklich den Standort und damit auch den Standpunkt des Anderen zu vergegenwärtigen – sie ermöglicht mir, meine Denkungsart zu erweitern. Durch die Einbildungskraft, die mich lehrt, Besuche an diesen Standort zu machen, kann ich den Subjektivismus meines eigenen Standpunkts und damit meiner Meinung beheben. Die politische Urteilskraft hat die Meinung zum Gegenstand, die nicht mit der Einfühlung oder Empathie zu verwechseln ist. „Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solcher Standort ich in meinen eigenen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht [...] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.“122

Diese Einbildungskraft ermöglicht zweierlei, sie schafft Distanz zu dem, was zu nah ist, und sie rückt Dinge in die Nähe, die zu fern sind. Damit befreien wir uns von unseren subjektiven Meinungen und Vorurteilen und erreichen eine Unparteilichkeit jenseits von Objektivität. Dieser Prozess der Urteilsbildung begleitet das Handeln der Menschen und verleiht ihrer Macht eine Legitimität, die ihre Stärke aus der erweiterten Denkungsart bezieht. Deshalb begreift Arendt Kants Kritik der Urteilskraft als „versteckte Kritik der politischen Vernunft“123. Diese bestimmte den Begriff der er-

120 Vgl. Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 295. 121 Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen, a.a.O., S. 61. 122 Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, a.a.O., S. 342. 123 Arendt, Hannah: Denktagebuch, 1950-1973, München 2002, Bd. 1, S. 577.

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weiterten Denkungsart als Form des Denkens, durch das sich die Menschen im Handeln und Denken orientieren. In der erweiterten Denkungsart, so hatte Arendt argumentiert, bringen die Menschen die Weltlichkeit der Welt durch die jeweilig unterschiedliche Perspektive auf die Welt hervor. Zugleich enthüllen sie mit ihrem Urteil nicht nur ihre Sicht auf die Welt, sondern zeigen zugleich auch, wer sie sind. Durch das Urteilen entscheidet sich, wer zu dieser Welt gehört, denn indem man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft. Und schließlich gibt der sensus communis als ein regulatives Prinzip vor, wie geurteilt werden soll, worin sich der pluralistische Charakter des Urteilens erweist. Alle diese Momente, die Arendt als conditio sine qua non der Welt- und Selbstorientierung ausgewiesen hatte, kehren, wie gezeigt, im Begriff der Macht wieder. Dies heißt aber nichts anderes, als dass der Begriff des Politischen, den Arendt in der Interpretation des Begriffs der Urteilskraft von Kant gewann, das Kraftzentrum bildet, ohne das politische Freiheit im arendtschen Sinne sich nicht entfalten kann. Für die Entfaltung politischer Freiheit ist der innere Zusammenhang von Macht und politischer Urteilskraft konstitutiv. Freiheit, Macht, Öffentlichkeit und Urteilskraft sind bei Arendt intern aufeinander bezogene Begriffe. Zugleich ist dieses Bezugsgewebe aber von äußerster Fragilität und Verletzbarkeit. Deutlich wird dies im Prozess der Beschädigung und letztendlich Zerstörung der Bedingungen politischer Urteilskraft, wie sie sich im 20. Jahrhundert ereignete. In der Zerstörung der Urteilskraft zerfällt auch die Einheit von Macht und politischer Freiheit, und in diesem Zerfall geht auch – wie hier abschließend gezeigt werden soll – die Individualität jedes Einzelnen zugrunde.

3.5 V ITA ACTIVA

UND DER

B EGRIFF DER W ELT

Arendt beginnt Vita activa systematisch mit Begriffsbestimmungen, zunächst der von Vita activa selbst: „Mit dem Wort Vita activa sollen im Folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätig-

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keiten, weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“124

Arendt unterscheidet Bedingungen menschlicher Existenz in zweifacher Hinsicht: Bedingungen, unter denen den Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist, von Bedingungen, die er selbst mit erschafft.125 „Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. [...] Die Wirklichkeit der Welt macht sich innerhalb der menschlichen Existenz als eine diese Existenz bedingende Kraft geltend und wird von ihr als solche empfunden.“126

Der Gegenstand der Vita activa ist nicht bloß Arbeiten, Herstellen und Handeln, sondern die Anordnung, in der sie zueinander stehen. Liegt die Bedingtheit des Menschen in der Spannung zwischen einer vorgängigen Welt im Sinne der Natur und einer von Menschen geschaffenen Welt, so sind die Bedingungen, die die Menschen selbst schaffen und die sie gleichzeitig bedingen, in unterschiedlichen Zeiten verschieden. Durch die jeweilige Konstellation dieser Grundtätigkeiten unterscheiden sich die Auffassungen verschiedener Gesellschaften und historischer Epochen. Genau diese unterschiedlichen geschichtlichen Bedingtheiten der Menschen nimmt Arendt zum Ausgangspunkt ihrer Erörterungen, wenn sie in der Vita activa, ausgehend von der Antike bis zur modernen Welt, die Neuzeit in den Fokus ihrer Untersuchungen stellt.127 Die Vita activa umfasst drei Grundtätigkeiten: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Diese drei Grundtätigkeiten korrespondieren mit drei Grundbedingungen: dem Leben, der Weltlichkeit und der Pluralität. Der Begriff des Arbeitens entspricht dem

124 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 14f. 125 Vgl. ebd., S. 16f. 126 Ebd. 127 Vgl. auch Krüger, Hans-Peter: Philosophische Anthropologie als Lebenspolitik. Deutsch-jüdische und pragmatische Moderne-Kritik, Berlin 2009, S. 183207.

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„biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebenden Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der das Arbeiten steht, ist das Leben selbst.“128

Durch Herstellen produziert der Mensch Dinge, Gegenstände, die künftige Generationen überdauern und damit eine Welt, die das einzelne menschliche Leben überdauert und ihm Stabilität gibt. Die Welt bietet eine künstliche Welt von Dingen. Sie „bietet Menschen eine Heimat in dem Maße, in dem sie menschliches Leben überdauert, ihr widersteht und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Herstellens steht, ist Weltlichkeit, nämlich die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität.“129

Die Tätigkeit des Handelns umfasst Handeln und Sprechen, weil erst das gesprochene Wort die Tat in einen Bedeutungszusammenhang, in eine Mitwelt fügt.130 Hier entsteht das Gewebe menschlicher Bezüge und Angelegenheiten, sie werden durch Handeln und Sprechen konstituiert.131 Im Vergleich zu den Verbrauchs- und Gebrauchsgütern des Arbeitens und Herstellens hat das Resultat des Handelns weder eine handgreifliche Dinghaftigkeit noch die flüchtig vergängliche Festigkeit von Verbrauchsgütern. Arendt spricht von Erzeugnissen des Handelns, Sprechens und Denkens. Die Wirklichkeit der Handelnden hängt von der Pluralität ab, die ihrer Gegenwart bedarf, da nur „das Gesehenwerden, das Gehörtwerden und schließlich das Erinnertwerden ihnen überhaupt die schiere Existenz bezeugen können“132. Handeln und Sprechen sind Manifestationen menschlicher Existenz, die sich der Tätigkeit des Denkens verdanken, die zwar in der Welt selbst nicht erscheint, nicht hörbar, nicht verbraucht oder gebraucht wird, und dennoch mit der Welt der Erscheinung in Verbindung steht. Was

128 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 16. 129 Ebd. 130 Vgl. ebd. 131 Vgl. ebd., S. 87. 132 Ebd.

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die Tätigkeiten des Handelns, Sprechens und Denkens im Unterschied zu den Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens verbindet, ist, negativ formuliert, dass sie unproduktiv sind. Sie bringen selbst nichts hervor und sind auf Verdinglichung angewiesen: „Tat, Wort und Gedanken bedürfen, um sich in der Welt anzusiedeln, immer einer ganz anderen Tätigkeit, als die war, die sie hervorgebracht hat. Die Dinghaftigkeit, die innerhalb der Welt allein Wirklichkeit und Dauer garantiert, kann ihnen nur dieselbe ‚Werktätigkeit‘ verleihen, welcher auch die anderen Dinge ihre weltliche Existenz verdanken.“133

Der Begriff der Welt wird von Arendt vom Begriff der Erde unterschieden.134 Während die Erde als faktische Begebenheit verstanden wird, unter der das Leben der Menschen auf der Erde gegeben ist, so reserviert sie den Begriff der Welt für das, was die Menschen selbst hervorbringen und sie zugleich bedingt. Dieser Weltbegriff hat verschiedene Dimensionen. Er bezieht sich auf die von Menschen geschaffene Dingwelt und auf die Beziehung der Menschen zueinander. Der Doppelcharakter des Weltbegriffs bezieht sich auf die Bedingtheiten menschlicher Existenz und korrespondiert mit den Grundtätigkeiten von Herstellen und Handeln, die wiederum dem öffentlichen und privaten Raum zugeordnet werden. Zwei wesentliche Dimensionen des Weltbegriffs lassen sich unterscheiden. Die Weltlichkeit der Welt als Bedingtheit, die Menschen selbst schaffen, ist Ergebnis des Herstellens und Handelns. Die Weltlichkeit der Welt verdankt wesentlich „dem Menschen ihre Existenz, seinem Herstellen von Dingen, [...] seinem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften“135. Arendt erörtert die Angewiesenheit des Menschen auf die Resultate des Herstellens und Handelns. Die „Dingwelt“ umfasst die Produkte des Herstellens und die Erzeugnisse des Handelns. Die Institutionen und Verfassungen gehören ebenfalls zur Dingwelt. Sie sind Erzeugnisse von Handeln und Herstellen, die als Grenzen und Zäune

133 Ebd. 134 Zum Weltbegriff bei Arendt siehe Jaeggi, Rahel: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts, Berlin 1997. 135 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 27.

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des politischen Raums verstanden werden können und den Erscheinungsraum einhegen. Sie sind Materialisierungen von lebendiger Macht. Diese Vergegenständlichungen menschlicher Fähigkeiten bieten den Menschen einen Erscheinungsraum: Er ist ein Artefakt, ein von den Menschen selbst Geschaffenes und garantiert Beständigkeit. Der öffentliche Raum schafft einen Erscheinungs- und Erinnerungsraum. Dieser Erscheinungs- und Erinnerungsraum ist das Resultat gemeinsamen Handelns und damit die Vergegenständlichung von Macht in Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen regeln, Stabilität und Orientierung bieten. Sie setzen dem Handeln Grenzen, hegen es ein und ermöglichen Beständigkeit. Diese Form der Vergegenständlichung des Handelns nennt Arendt die Materialisierung von Macht. Sie ist im Unterschied zu der Dingwelt von homo faber auf die beständige Bestätigung der Handelnden angewiesen. Sobald sie der Unterstützung der Handelnden ermangelt, erstarren die Institutionen und treten den Menschen als fremde Macht entgegen. „Politische Institutionen [...] erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“136 Welt als weltliche Wirklichkeit: der gemeinsame Realitätsbezug. In dem Menschen einander erscheinen und sich im Sprechen und Handeln austauschen, konstituieren sie das Zwischen als gemeinsame Welt, die sie miteinander verbindet und trennt. Das, was die Menschen miteinander verbindet ist diese Welt, die sie selbst durch die Vielfalt der Perspektiven auf die Dinge hervorbringen. Dadurch entsteht eine weltliche Wirklichkeit, die Realität, in dessen Mittelpunkt die Sorge um die Welt, aber nicht um den Menschen steht.137 Der Begriff der Wirklichkeit wird durch die generelle Welthaftigkeit der Lebewesen begründet, weil Subjekte zugleich Objekte der Wahrnehmung sind.138 Sie sind sowohl Wahrnehmende als auch Wahrgenommene. Das „Vorhandensein von Anderen“139 ist die Bedingung der Möglichkeit der Welt und der Pluralität der Menschen, da sie nicht nur in der Welt, sondern von dieser Welt sind, da das Prinzip der Gleichheit von Ungleichen realisiert wird.140 Diese Welt entsteht durch Mitteilung, durch

136 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, a.a.O., S. 42. 137 Vgl. Arendt, Hannah: Was ist Politik?, a.a.O., S. 24. 138 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 29f. 139 Ebd., S. 195. 140 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 209.

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Handeln und Sprechen, sie konstituiert ein Zwischen. „Nur wo Dinge [...] von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven“ 141 gesehen wird entsteht die gemeinsame Welt. In Was ist Existenzphilosophie? formuliert Arendt, dass Menschen nur in einem „umgreifenden Sein“ existieren können, weil „nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“142. Nur im Miteinander der Menschen, in einer gemeinsamen gegebenen Welt, kann sich menschliche Existenz überhaupt entwickeln. In diesem „umgreifenden Sein“ bewegen sich die Menschen miteinander und „jagen weder dem Phantom des Selbst nach, noch leben sie in dem hybriden Wahn, das Sein überhaupt zu sein“143. Arendt bindet die Konstituierung des Selbst an ein intersubjektives Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, das sich durch Handeln und Sprechen entfaltet. Im Miteinander des Sprechens offenbaren sich die Menschen; sie zeigen, wer sie sind. „Dies Risiko, als ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten, kann nur auf sich nehmen, wer bereit ist, in diesem Miteinander auch künftig zu existieren.“144 Die Konstituierung der Person ist bei Arendt an die Pluralität, also ans Miteinander gebunden. Sie kann sich nur im Miteinander entfalten. Ist der Bezug zu anderen Menschen der Tätigkeit des Handelns – im Unterschied zur Tätigkeit des Arbeitens und Herstellen – eigentümlich, so ist der wesentliche Unterschied zwischen Handeln und Herstellen, der der Unvorhersehbarkeit und Irreversibilität. Ein hergestelltes Ding kann wieder zerstört und wieder aufgebaut werden. Das Handeln ist, selbst wenn man Resultate oder Ergebnisse des Handelns antizipieren kann, unvorhersehbar, weil es in ein Netz von Bezügen mit anderen Handelnden fällt.

141 Ebd., S. 57. 142 Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt a.M. 1990, S. 47. 143 Ebd. 144 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 220.

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3.6 D IE K ONSTITUIERUNG DES W ELT - UND S ELBSTVERHÄLTNISSES IM U RTEILEN In der Forschung wird Arendts Begriff des Handelns im Sinne von „Handeln und Sprechen“ als Dualität rezipiert. So unterscheidet Maurizio Passerin D’Entrèves in Anlehnung an Jürgen Habermas Theorie des kommunikativen Handelns zwischen einem expressiven und einem kommunikativen Handlungsmodell in Arendts Vita activa.145 Er vertritt die These, dass das expressive Handlungsmodell – „the performance of noble deeds by outstanding individuals“ – mit einem „heroischen“ Politikkonzept korrespondiert, während das kommunikative Handlungsmodell ein Politikverständnis enthält, das „the collective process of deliberation and decision-making“ betont und auf „equality and solidarity“ basiert.146 Benhabib wiederum geht zwar auch von einer Dualität in Arendts Handlungsmodell aus, hält jedoch die Unterscheidung zwischen einem expressiven und kommunikativen Modell von Passerin D’Entrèves für unzureichend.147 Das kommunikative Handlungsmodell könne die „begrifflichen Probleme“148, die Arendt – anders als Habermas – im Sinn habe, nicht einfangen. „Denn während das kommunikative Handeln an gelingender Verständigung unter Konversationspartnern orientiert ist, und zwar auf der Grundlage von Geltungsansprüchen, die in Sprechakten erhoben werden, ist narratives Handeln in Arendts Theorie ein Handeln, das in ein ‚Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und in ihm dargestellter Geschichten‘ eingebettet ist. Dieses ‚Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und in ihm dargestellter Geschichten‘ vereint die konstative und die expressive Dimension von Sprechakten. Sein rationaler Kern kann nicht so eindeutig herausgelöst werden, wie Habermas es gern sähe und wie er es mit seinem Begriff der Geltungsansprüche zu tun versucht.“149

145 Vgl. Passerin D’Entrèves, Maurizio: The Political Philosophy of Hannah Arendt, London 1994, S. 84f. 146 Ebd. 147 Vgl. Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O., S. 199f.; Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, S. 369452. 148 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt, a.a.O., S. 202. 149 Ebd.

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Benhabib versucht nun ihre Unterscheidung zwischen einem agonalen und narrativen Handlungsmodell dadurch plausibel zu machen, indem sie das erstere essentialistisch und das zweite konstruktivistisch begreift.150 „Während das Handeln im agonalen Modell durch Ausdrücke wie ‚Enthüllung dessen, wer einer ist‘ und ‚Manifestwerden des Inneren‘ beschrieben wird, ist Handeln im narrativen Modell durch das ‚Erzählen einer Geschichte‘ und das ‚Weben eines Gewebes aus Geschichten‘ charakterisiert. Während das Handeln im ersten Modell ein vorgängiges Wesen, nämlich das ‚Wer man ist‘, zu manifestieren scheint oder offenkundig werden lässt, legt das Handeln im zweiten Modell nahe, dass das ‚Wer man ist‘ im Prozess des Tuns und beim Erzählen der Geschichte entsteht.“151

Treffen Passerin D’Entrèves und Benhabibs Unterscheidungen nun das, was Arendt unter Handeln versteht? Liest man die Passagen zum Wer einer ist in Arendts gesamtem Werk, erscheinen Passerin D’Entrèves und Benhabibs Charakterisierung des expressiven oder agonalen Handlungsmodells zumindest fragwürdig. Gegen das expressive Handlungsmodell im Sinne Passerin D’Entrèves ist einzuwenden, dass Arendts Charakterisierung des „Helden“152 nicht in der Weise zu verstehen ist, dass nur noble deeds by outstanding individuals im öffentlichen Raum erscheinen. Dies benennt Arendt ausdrücklich: „Der Held, um den sich eine Geschichte zentriert und dessen Person die Geschichte aufdeckt, bedarf keiner heroischen Eigenschaften. Der Heros ist ursprünglich bei Homer nur der freie Mann, der als solcher teilhat an dem Krieg um Troja und von daher eine Geschichte zu erzählen hat. Der Mut, den wir heute als unerlässlich für einen Helden empfinden, gehört bereits, auch wenn er kein heroischer Mut in unserem Sinne ist, zum Handeln und Sprechen als solchen, nämlich zu der Initiative, die wir ergreifen müssen, um uns auf irgendeine Weise in die Welt einzuschalten und in ihr die uns eigene Geschichte zu beginnen.“153

150 Ebd. 151 Ebd. 152 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 175. 153 Ebd., S. 178.

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Ist also der Held nicht das Modell eines elitären Handlungsmodells, wie Passerin D’Entrèves unterstellt, trifft dann Benhabibs Bestimmung eines agonalen Handlungsmodells zu? Ist das Wer einer ist das Manifestwerden des Inneren? Und kann man hier von einem essentialistischem Handlungsmodell sprechen? Ich denke nicht. Im Gegenteil: Zum einen erscheint die Enthüllung der Person nur im Handeln und Sprechen, zum anderen erscheint die Enthüllung nur den Anderen. Es ist dem, der zeigt Wer er ist, nicht verfügbar.154 Rahel Jaeggi erhellt diesen Gedanken, indem sie formuliert, dass die Enthüllung keineswegs als Aufdecken eines bereits Vorhandenem verstanden werden sollte. Es sei eher als Kreation zu verstehen, das erst durch diese Enthüllung entsteht.155 Mit diesem Argument kann auch eine aristotelische Lesart nicht gehalten werden, weil die potentia des Aristoteles, – zumindest in der Form – alle Bestimmungen des actus schon enthält. Anders gesagt: Im Handeln und Sprechen der Person enthüllt sich nicht nur, was potentiell schon da ist; es entfaltet sich erst durch das Handeln und Sprechen. Innerhalb dieses actus entfaltet und zeigt sich das Wer einer ist als Individualität des Menschen. Arendt grenzt zudem den Personenbegriff sowohl vom Begriff des Subjekts als auch vom Begriff des Selbst ab, eben weil das Personenhafte sich der Verfügungsgewalt des Subjekts entzieht und daher das genaue Gegenteil des Nur-Subjektiven ist.156 Die Person unterscheidet sich auch vom Selbst, weil das Selbst sich auf sich selbst zurückzieht, während die Person aus sich herausgehen muss, um Person zu werden.157 Das Personsein, so haben Leo Penta und Christa Schnabl überzeugend herausgearbeitet, entfaltet sich nur im Kontext eines Wir, d.h. ohne einen öffentlichen Raum und ohne Macht kann es sich nicht

154 Arendt grenzt den Begriff der Person auch vom Selbst und dem Subjekt ab. Siehe hierzu: Arendt, Hannah: Was ist Existenzphilosophie?, a.a.O., S. 72, Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Wollen, a.a.O., S. 164f. Zur Abgrenzung zum Subjekt siehe auch Arendt, Hannah: Laudatio auf Karl Jaspers, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München 1989, S. 89-98, hier S. 90. Vgl. auch Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 137. 155 Vgl. Jaeggi, Rahel: Welt und Person, a.a.O., S. 73. 156 Vgl. Arendt, Hannah: Laudatio auf Karl Jaspers, a.a.O., S. 90. 157 Vgl. Penta, Leo: Macht und Kommunikation, Berlin 1985, S. 156.

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zeigen. Das heißt die Bildung der Person ist an die Anderen gebunden.158 Zugleich betont Arendt, dass das, was im Handeln und Sprechen erscheint, „dem, der es zeigt, selbst unbekannt“ ist: „er kann darüber nicht verfügen“159. Arendt entwickelt, so Schnabl im Anschluss an Penta, einen qualitativen Pluralitätsbegriff.160 Nach Arendt kennzeichnen zwei Momente das Faktum der Pluralität: Gleichheit und Verschiedenheit. Ohne Gleichheit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, ohne Verschiedenheit, die sie als absolute Unterschiedenheit jeder Person bestimmt, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für Verständigung.161 Im Handeln und Sprechen offenbart sich die Individualität der Menschen, sie zeigen aktiv ihre Einzigartigkeit, erscheinen auf der Bühne der Welt, „auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang ihrer Stimme in Erscheinung traten“162. Das Politische, das Handeln und Sprechen, hat es mit diesem Personenhaften zu tun, mit dem Wer einer ist, aber nicht mit dem Was.163 Welche Bedeutung hat nun das Wer im Unterschied zum Was bei Arendt? Arendt beruft sich auf Augustin, der die Fragen nach dem Wer bin ich? und Was bin ich? gestellt hat.164 Diese Fragen stehen im Kontext der Natur des Men-

158 Vgl. ebd.; auch Schnabl, Christa: Das Moralische im Politischen, Hannah Arendts Theorie des Handelns im Horizont der Theologischen Ethik, Frankfurt a.M. 1997. 159 Arendt, Hannah: Laudatio auf Karl Jaspers, a.a.O., S. 90. 160 Penta, Leo: Macht und Kommunikation, a.a.O., S. 133, vgl. auch Schnabl, Christa: Das Moralische im Politischen, a.a.O., S. 165. 161 Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa a.a.O., S. 213. 162 Ebd. S. 219. 163 Arendt, Hannah: Kultur und Politik, a.a.O., S. 301. 164 Dazu Arendt: „Die erste Frage richtet der Mensch an sich selbst, die zweite Frage richtet der Mensch an Gott. Zunächst ist eine Erörterung notwendig, die die Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem Wesen des Menschen betrifft: „Was die Antworten anlangt, so kann man in Kürze sagen, dass das ‚Wer bin ich?‘ mit dem: Ein Mensch, was immer das sein mag, zu beantworten ist, während die Frage ‚Was bin ich?‘ überhaupt nur von Gott zu beantworten ist, der den Menschen geschaffen hat. Mit anderen Worten, Die Frage nach dem Wesen des Menschen ist genau so eine theologische Frage wie die Frage nach dem

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schen oder auch eines Wesen der Menschen. Wie Augustinus beantwortet Arendt diese Frage negativ. Es gibt keine Natur oder ein Wesen des Menschen. Falls es das gäbe, könne nur Gott die Frage beantworten. Das heißt, dass Wer jemand ist zeigt sich nur im gemeinsamen Handeln der Vielen, in der Pluralität. Die Bildung der Person verschränkt sich bei Arendt mit ihrem Begriff der Macht. Die Macht entsteht nur durch das Handeln der Vielen, die nur in diesem Zusammensein ihr Wer und damit die Person enthüllen. Die Person ist ein Effekt der Begegnung mit Anderen. Arendt gewinnt diese Konstellation nicht aufgrund von normativen Grundlagen, von denen sie die misslungenen und gescheiterten Momente des Personseins kritisiert, sondern ex negativo. In der Enthüllung der Person durch Sprechen und Handeln bildet sich das Wer durch die Anderen. Denn Wer sie sind, zeigt sich im Handeln und dabei entfaltet sich die Möglichkeit des Wir. Die Person, die sich im Sprechen und Handeln enthüllt, ist eine „eindeutige Identität für andere“165. Arendt bezieht sich hier auf die lateinische Bedeutung des Wortes Persona: „Das Wort meint ursprünglich die Maske, in der die Schauspieler des Altertums gemeinhin auftraten. Diese Maske hatte offenbar eine doppelte Funktion: sie sollte das natürliche Gesicht des Schauspielers verbergen oder besser ersetzen, und sie musste gleichzeitig so konstruiert sein, dass die natürliche Stimme noch durchklingen konnte.“166

Die Enthüllung der Person zeigt sich nur der Mitwelt, weil Selbstdarstellung und Selbstpräsentation nicht mit der Enthüllung der Person identisch sind.167 „[D]ass dies Wer, das für die Mitwelt so unmissverständlich und eindeutig sich zeigt, dem Zeigenden selbst gerade und immer verborgen bleibt, als sei es jener daimon der Griechen, der den Menschen zwar sein Leben lang begleitet, ihm aber

Wesen Gottes; beide können nur im Rahmen einer göttlichen Offenbarung beantwortet werden.“ Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 418, Anm. 2. 165 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 185. 166 Arendt, Hannah: Über die Revolution, a.a.O., S. 136f. 167 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 40ff.

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immer nur von hinten über die Schultern blickt und daher nur denen sichtbar wird, denen der Betreffende begegnet, niemals ihm selbst“168.

Es gibt folglich keine Person ohne den öffentlichen Raum, in der sich die Person enthüllt, aber über diese Enthüllung selbst nicht verfügt. Nur im Sprechen und Handeln unterscheiden sich die Menschen aktiv voneinander. Es sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.169 Im Handeln als Neuanfang wird die Geburt bestätigt. Es entspricht der Geburt des Jemand. Das Sprechen realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die einzigartige Verschiedenheit der Menschen. „Das Wesen einer Person – nicht die Natur des Menschen überhaupt (die es für uns jedenfalls nicht gibt) und auch nicht die Endsumme individueller Vorzüge und Nachteile, sondern das Wesen dessen Wer-einer-ist, kann überhaupt erst entstehen und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Geschichte.“170

Man kann, so hat Saavedra es formuliert, sagen, dass Arendts Begriff des Handelns eine „interne Einheit von zwei Elementen bildet: von Tat und Wort“171. Entscheidend ist, dass Arendt die Enthüllung der Person nicht nur an das Miteinander bindet, sondern dass die Person als Handelnder und Sprechender aus der Position des Zuschauers betrachtet wird. Auch hier zeigt sich Arendts Unterscheidung zwischen dem Zuschauer und dem Akteur. Der Mitwelt als Zuschauende offenbart sich die Person in seinem Handeln und Sprechen, insofern der Begriff der Erscheinung den Zuschauer erfordert.172 Bezieht man nun Arendts Bestimmung des Wer einer ist zurück auf ihre Analysen der totalen Herrschaft, so ist das sie Kennzeichnende, dass die Entfaltung von Macht und Öffentlichkeit, somit auch die Enthüllung des Personseins nicht möglich war. Es gibt unter dieser Herrschaftsform keine Person. Penta formuliert dies wie folgt:

168 Arendt, Hannah: Vita activa, a.a.O., S. 219. 169 Vgl. ebd., S. 165. 170 Ebd., S. 186. 171 Saavedra, Marco Estrada: Die deliberative Rationalität des Politischen: Eine Interpretation der Urteilslehre Hannah Arendts, Würzburg 2002, S. 32. 172 Vgl. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, a.a.O., S. 141.

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„Der Vorgang des Verfalls des Wir des Handelns kann zugleich und alternativ als ein Schwund des im Handeln erscheinenden Wer beschrieben werden, während sich das Verschwinden dieses Wer wiederum als Verfallserscheinung des Wir manifestiert. [...] Im Fall des Totalitarismus, also des zu Ende gedachten und praktizierten Versuchs, den einen oder den anderen Pol gegen sein Korrelat zu kehren oder zu verselbständigen, treffen sich die nunmehr verzerrten und gegen sich verkehrten Pole in ihrem gegenseitigen Untergang.“173

Enthüllt sich im Wer die Individualität eines Menschen, so wird durch das Sprechen dieser Person gleichzeitig enthüllt, wie er/sie die Welt sieht. Die Weltlichkeit der Welt, die sich durch die Vielfalt der Perspektiven konstituiert, enthüllt zugleich die Individualität des Menschen. Beides aber kann sich nur entfalten, wo es die Bedingung der Möglichkeit für einen öffentlichen Raum gibt. Nicht das Gegen- oder Füreinander, sondern nur das Miteinander lässt die Person in seiner Einzigartigkeit erscheinen, und bietet der Mitwelt, den gleichberechtigten Anderen, die Möglichkeit die unterschiedlichen Perspektiven auf ein Gemeinsames zu berücksichtigen, um sie für das eigene Urteil zu reflektieren. In der Operationsweise des sensus communis reflektiert der Urteilende die Meinungen und Perspektiven von gleichberechtigten Anderen und eignet sich so die Welt in der Vielfalt der Perspektiven auf sie an. Entscheidend für diese Form des Denkens ist dabei nicht, dass man Argumente umdrehen oder Behauptungen auf den Kopf stellen kann, sondern dass man die Fähigkeit entwickelt, „die Sachen wirklich von verschiedenen Seiten zu sehen, und das heißt politisch, dass man sich darauf verstand, die vielen möglichen, in der wirklichen Welt vorgegebenen Standorte einzunehmen, von denen aus die gleiche Sache betrachtet werden kann und in der sie, ihrer Selbigkeit ungeachtet, die verschiedensten Aspekte zeigt.“174

Die Urteilskraft zeigt sich darin, dass die Person, indem sie über die Welt urteilt, zugleich, enthüllt, wer sie ist. Welt- und Selbstverhältnis fallen im Urteilen zusammen. Das Urteilen ist die andere Seite des Handelns. Es ist

173 Penta, Leo: Macht und Kommunikation, a.a.O., S. 133, vgl. auch Schnabl, Christa: Das Moralische im Politischen, a.a.O., S. 165. 174 Arendt, Hannah: Was ist Politik ?, a.a.O., S. 96.

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deshalb nur folgerichtig, wenn Arendt – und dies kann durchaus als ihr Vermächtnis gelesen werden – von einer Identität von Freiheit und Politik spricht: „Ohne einen politisch garantierten öffentlichen Bereich hat Freiheit in der Welt keinen Ort, an dem sie erscheinen könnte, und wenn sie auch immer und unter allen Umständen als Sehnsucht in den Herzen der Menschen wohnen mag, so ist sie doch weltlich nicht nachweisbar. Im Sinne einer nachweisbaren Realität fallen Politik und Freiheit zusammen, sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten der nämlichen Sache.“175

175 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, a.a.O., S. 201f.

Schluss: Partei ergreifen im Interesse der Welt

Die reflektierende Urteilskraft steht – so zeigte das erste Kapitel – im Zentrum von Arendts Denken nach dem Traditionsbruch. Sie umfasst zugleich, was das Politische ausmacht, durch das Menschen sich in der Welt orientieren, indem sie sich sowohl teilnehmend als auch beobachtend zu dieser Welt verhalten. Die Zerstörung der Urteilskraft und damit auch des Politischen hingegen – dies war Thema des zweiten Kapitels – kennzeichnet totale Herrschaft. Im Mittelpunkt der Krisendiagnose Arendts, so wurde gezeigt, standen zwei Entwicklungen moderner Gesellschaften: die durch die expansive Dynamik des Imperialismus verursachte Krise des Nationalstaats auf der einen Seite, die Etablierung von totalisierenden und antipolitischen Einstellungen in der Politik – Einstellungen, die Menschen ausschließlich als Material für deterministische Schemata missbrauchten – auf der anderen Seite. Die Koinzidenz beider Entwicklungen setzte eben jene totalitäre Dynamik frei, die dann in den gesellschaftlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts kulminierte. In ihr zerreißt das Band, das Macht und Freiheit zusammenhält – und darin gehen beide zugrunde. Im Begriff der Macht nämlich kehren – so zeigt das dritte Kapitel – gerade jene Momente wieder, die Arendt auch im Begriff der Urteilskraft als conditio sine qua non der Weltund Selbstorientierung ausgewiesen hatte. Der Begriff des Politischen, den Arendt in der Interpretation des Begriffs der Urteilskraft von Kant gewann, bildet – so lautete meine These – das Kraftzentrum, ohne das politische Freiheit im arendtschen Sinne sich nicht entfalten kann. Freiheit, Macht, Öffentlichkeit und Urteilskraft sind bei Arendt intern aufeinander bezogene

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Begriffe – ein Bezugsgewebe, das allerdings von äußerster Fragilität und Verletzbarkeit ist. Was aber bleibt von Arendt im post-totalitären Zeitalter, so könnte man abschließend fragen. Die Antwort liegt in der Verknüpfung von Krisendiagnose und Freiheitsbegriff, wie sie in ihrer politischen Theorie vorliegt. Beide Momente bedürfen heute einer Reaktualisierung. Bezogen auf die Krisendiagnose zeigt sich dies allein schon in dem Begriff „post-totalitäres Zeitalter“. Die Frage, die sich daran unmittelbar anschließt, lautet: Leben wir denn tatsächlich in post-totalitären Zeiten? Oder müssen wir paradox von Totalitarismen nach dem Ende des Totalitarismus sprechen? Dies soll keineswegs nur bezogen werden auf die Vielzahl anti-modernistischer Bewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern auch auf die sozialen Verwerfungen im Zuge einer einseitig ökonomisch ausgerichteten Globalisierung oder auf das paradoxe Phänomen eines Abbaus von Demokratie im Namen der Demokratie. Mit Blick auf das zuletzt genannte Phänomen spricht Nancy Fraser in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel Hannah Arendt im 21. Jahrhundert von den quasi- und proto-totalitären Elementen, die es heute auch in den freiheitlich-demokratischen Gesellschaften ausfindig zu machen gelte: „Das Ziel einer solchen Analyse bestünde jedenfalls immer darin, die Mischung aus proto-totalitären und antitotalitären Kristallen genau zu ermitteln, in der Hoffnung, uns vor den ersteren bewahren und die letzteren pflegen zu können.“1 Dazu bedarf es allerdings der Urteilskraft im arendtschen Sinne. Indem die vorliegende Arbeit die Voraussetzungen und den Umfang dieses Schlüsselbegriffs bei Arendt dargestellt hat, ist sie eine Art grundlagentheoretischer Vorarbeit zu dem von Fraser avisierten Projekt einer Gegenwartsanalyse nach dem Vorbild der arendtschen Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Denn genau hier liegt eine unverminderte Aktualität ihres Werkes. Es ist die Art und Weise ihres Denkens, die es fortzusetzen gilt. Wie arbeitet die reflektierende Urteilskraft? Wie muss sie arbeiten, um das Neue in der Gegenwart zu erkennen? Dies wurde an Arendts Texten demonstriert. Und genau auf diese Weise kann man beginnen, „die Gefahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts theoretisch in einem Maßstab zu erfassen, der Arendts Zugang

1

Fraser, Nancy: Hannah Arendt im 21. Jahrhundert, in: Meints, Waltraud/Klinger, Katherine (Hg.), Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Hannover 2004, S. 73-86, hier S. 85.

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zu denen des zwanzigsten Jahrhunderts in etwa vergleichbar ist, ohne an Komplexität oder Scharfsinnigkeit einzubüßen“.2 Ich möchte mit einigen Überlegungen enden, die sich auf das zweite zentrale Moment ihrer politischen Theorie, ihren Freiheitsbegriff, beziehen. Arendts politische Theorie ist eine Theorie des Politischen und als solche – wie das dritte Kapitel dieser Arbeit zeigte – zugleich eine Theorie der politischen Freiheit. Genau darin liegt auch ihre orientierende Kraft für eine kritische Theorie des Politischen. Zwar gibt es keine Aufsätze oder Abhandlungen von Arendt zum Status, zum Anspruch und zur Aufgabe Politischer Theorienbildung. Man kann aber Arendts große Studien Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Eichmann in Jerusalem als exemplarische Beispiele ihres Verständnisses von Politischer Theorie lesen. Das Problem, was sich damit gleichzeitig stellt, ist, dass die Bewegung der reflektierenden Urteilskraft sich immer am Material erweisen muss und sich damit einer spezifischen Operationalisierung im Sinne einer Methode entzieht. Wenn man sich fragt, warum Arendt nicht schulbildend gewirkt hat, so mag dies genau darauf zurückzuführen sein. Gleichwohl hätten die genannten Arbeiten Arendts grundlegend für die gesamte Disziplin werden können, weil sie beispielhaft vorführen, wie Gegenwartsanalyse, Kritik und Handlungsorientierung bei kritischem Bezug auf die abendländische Tradition politischen Denkens ineinander greifen.3 Handlungsorientierend ist Arendt auch bezogen auf die politisch-praktischen Herausforderungen unserer Gegenwart. Vergegenwärtigt man sich, was sie als die drei wesentlichen Schritte zur Entwicklung der totalen Unfreiheit gesehen hat, so waren dies der Tod der juristischen Person, der der moralischen Person und der des Individuums. Greift man dies auf, so ergibt sich als Schlussfolgerung, dass die Durchsetzung des Rechts, Rechte zu haben, eine der dringlichsten Aufgaben bleibt – und zwar in dem Sinne, dass die Menschen ein Recht auf politische Zugehörigkeit haben müssen, nicht nur im Sinne einer moralischen Forderung, sondern eines positiven Rechts, das sowohl auf der Ebene eines politischen Gemeinwesens als auch trans-

2

Ebd., S. 85.

3

Straßenberger, Grit/Münkler, Herfried: Was das Fach zusammenhält. Die Bedeutung der Politischen Theorie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft, in: Buchstein, Hubertus/Göhler, Gerhardt (Hg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden 2007, S. 45-79, hier S. 68.

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national abgesichert werden muss. Erst so wäre die Bedingung der Möglichkeit erfüllt, an den politischen Angelegenheiten teilzuhaben. Zwei Arbeiten aus der jüngsten Zeit knüpfen an Arendts wegweisende Forderung an und entwickeln sie weiter: Das Recht auf Rechtfertigung von Rainer Forst und Die Rechte der Anderen von Seyla Benhabib.4 Benhabib diskutiert den Zusammenhang zwischen Kants Idee eines Weltbürgerrechts und Arendts Forderung nach einem Recht, Rechte zu haben, und verbindet dies mit einer Diskussion der gegenwärtigen Rechtsgrundlagen und Rechtsinstitutionen. Sie verweist dabei auf das grundsätzliche Problem, dass die Bildung politischer Gemeinwesen immer mit Exklusionen und Inklusionen zu tun hat. Auch Rainer Forst greift Arendts Forderung nach dem Recht, Rechte zu haben, auf und entwickelt sie in der Perspektive einer Theorie der Gerechtigkeit weiter. Beiden Studien fehlt allerdings die interne Verzahnung von Gegenwartsdiagnose und Handlungsorientierung, die für Arendts Politische Theorie zentral war, und damit die Beantwortung der Frage, welche innergesellschaftlichen Kräfte es sind, die das Recht, Rechte zu haben, von außen und von innen her bedrohen. Richtig aber bleibt, dass es nach Wegen zu suchen gilt, die die politische Teilhabe aller Menschen am demokratischen Gemeinwesen stärken. Dafür – und darin zeigt sich auch die Anschlussfähigkeit Arendts an den 5 aktuellen Zivilgesellschaftsdiskurs – scheint mir ihr Machtbegriff zentral zu sein. Macht entsteht durch das gemeinsame Handeln der Menschen – nicht gegen-, über- oder füreinander, sondern miteinander. Genau dieses Potential gilt es zu stärken. Damit verknüpft ist zweierlei: Bedingen sich öffentlicher Raum und die Entfaltung lebendiger Macht, so enthält dieser Raum für die Menschen zugleich die Möglichkeit zu zeigen, wie sie in ihren unterschiedlichen Perspektiven die Welt wahrnehmen und wer sie sind. Es enthüllt sich so gleichursprünglich die Welt und das Selbst. Indem ich mein Urteil über die Welt äußere, enthülle ich für die anderen zugleich, wer ich bin. Wenn dem so ist – und ich habe in dieser Arbeit zu zeigen versucht, dass dies die Perspektive Arendts ist –, dann hat der öffentliche

4

Vgl. Forst, Rainer: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2007; Benhabib, Seyla: Die Rechte der Anderen, Frankfurt a.M. 2008.

5

Straßenberger, Grit/Münkler, Herfried: Was das Fach zusammenhält, a.a.O., S. 69.

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Raum nicht nur eine welt- und selbstkonstitutive, sondern letztlich auch eine erkenntniskonstitutive Funktion. Denn die Selbstinterpretationen und Selbstverständnisse von politischen Gemeinwesen und ihren Bürger, die sich im öffentlichen Raum offenbaren, enthalten einen Wahrheitsgehalt über die Wirklichkeit der Welt. Die Aufgabe von Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie besteht darin, diese Welt- und Selbstverständnisse zum Ausgangspunkt ihrer Analyse zu machen, um die historischen und gesellschaftspolitischen Hintergründe derselben herauszufinden.

Literatur

S CHRIFTEN

VON

H ANNAH ARENDT

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Edition Moderne Postmoderne Martin Gessmann Wittgenstein als Moralist Eine medienphilosophische Relektüre 2009, 218 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1146-5

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Kurt Röttgers Kritik der kulinarischen Vernunft Ein Menü der Sinne nach Kant 2009, 256 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1215-8

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Juni 2011, ca. 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1681-1

2009, 420 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1281-3

Fernand Mathias Guelf Die urbane Revolution Henri Lefèbvres Philosophie der globalen Verstädterung 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1511-1

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Juni 2011, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Peter Nickl, Georgios Terizakis (Hg.) Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit? Philosophische Ergründungen. Texte zum ersten Festival der Philosophie in Hannover 2008 2010, 244 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1268-4

Eckard Rolf Der andere Austin Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus 2009, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1163-2

Sibylle Schmidt, Sybille Krämer, Ramon Voges (Hg.) Politik der Zeugenschaft Zur Kritik einer Wissenspraxis 2010, 358 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1552-4

Tatjana Schönwälder-Kuntze Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung und der Effekt Kantischer Moralphilosophie 2010, 314 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1366-7

Detlef Staude (Hg.) Methoden Philosophischer Praxis Ein Handbuch 2010, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1453-4

Nikolaus Urbanek Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente 2010, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1320-9

Jörg Volbers Selbsterkenntnis und Lebensform Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault 2009, 290 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-925-1

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