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German Pages [489] Year 2016
Pädagogik und Philosophie 7
René Torkler
Philosophische Bildung und politische Urteilskraft Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808153
.
B
René Torkler Philosophische Bildung und politische Urteilskraft
PÄDAGOGIK UND PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Die Arbeit formuliert einen zeitgemäßen Bildungsbegriff, der sich dennoch nicht in dem technologischen Kompetenzdenken erschöpft, das den gegenwärtigen Mainstream von Bildungstheorie und Didaktik so nachhaltig prägt. Dies erfolgt auf der Grundlage des hermeneutischen Verfahrens, welches Hannah Arendts Kant-Rezeption zugrunde liegt. Bildung wird als praktischer Prozess verstanden, durch den Formen der Weltorientierung erschlossen werden. Zudem wird deutlich gemacht, auf welche Weise philosophische Bildung eine wichtige Rolle für die politische Bildung von Schülerinnen, Schülern und allen sich Bildenden überhaupt spielt. Diese genuin politische Perspektive schließt eine Lücke in der philosophiedidaktischen Forschung der letzten Jahrzehnte.
Der Autor: René Torkler hat mit der vorliegenden Arbeit 2014 an der Universität Vechta promoviert, er ist seit 2015 Juniorprofessor für Didaktik der Ethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
René Torkler
Philosophische Bildung und politische Urteilskraft Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Pädagogik und Philosophie 7 Wissenschaftlicher Beirat: Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens, Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath, Volker Steenblock, Barbara Weber und Franz Josef Wetz
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48753-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80815-3
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
A. Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte? .
11
B.
Politische Bildung und Philosophiedidaktik vor dem Hintergrund des Traditionsbruchs . . . . . . . . . . .
Arendts Denken im Kontext politischer Bildung: Bestandsaufnahme und Standortbestimmung . . 1.1. Politische Bildung statt politischer Erziehung . . . . 1.1.1. Erziehung im Dunkel der Privatheit . . . . . 1.1.2. Grenzen von Arendts Erziehungsbegriff . . . 1.1.3. Bildung statt Erziehung . . . . . . . . . . .
21
1.
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1.2. Werte in der politischen Bildung: Denken ohne Geländer 1.2.1. Ansätze normativer Orientierung . . . . . . . . 1.2.2. Werteordnung und politische Bildung . . . . . . 1.2.3. Denken ohne Geländer . . . . . . . . . . . . . 1.3. Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Politische Bildung und der Begriff des Politischen . 1.3.2. Politische Bildung als praktische Hermeneutik . . 1.3.3. Pluralität, Praxis und politische Bildung . . . . . . 1.4. Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe . . 1.4.1. Kategoriale Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Der kategoriale Aspekt politischer Bildung . . . . 1.4.3. Übungen im politischen Denken . . . . . . . . . .
25 25 25 31 35 38 38 42 48 55 55 60 65 68 68 72 76
5 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Inhalt
2.
Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt . . . .
83 83
.
83
. . . . . . . .
96 105 114 120 120 125 132 138
2.1. Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik . . 2.1.1. Das Ressentiment der Philosophie: Politik und Philosophiedidaktik . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. »Aufklärung« und »Fortschritt« in der Philosophiedidaktik . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Leitmethapher Orientierung . . . . . . . . . . 2.1.4. Orientierungsrahmen Welt . . . . . . . . . . . 2.2. Verstehen und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Die didaktische Transformation der Hermeneutik 2.2.2. Der gerissene Ariadnefaden . . . . . . . . . . . 2.2.3. Verstehen der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 2.2.4. Erbschaft ohne Testament . . . . . . . . . . . . 2.2.5. Im »in-between« oder: Der lebendige Raum der Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 146
C. Arendts Kant-Rezeption als Lehrstück politischer Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1.
Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1. Das Böse und die Freiheit bei Kant . . . . . . . . . . . 1.1.1. Der ungedeckte Wechselbegriff . . . . . . . . . 1.1.2. Die Freiheit der Willkür . . . . . . . . . . . . . 1.1.3. Der Hang zum Bösen . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4. Die Allgemeinheit des Bösen . . . . . . . . . . 1.2. Arendts Phänomenologie des Bösen . . . . . . . . . . 1.2.1. Das radikal Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Mensch und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . 1.2.3. Stolpersteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4. Vom Denken zum Urteilen . . . . . . . . . . . 1.3. Bildungsphilosophische Erträge . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Bildungstheoretische Perspektiven: Bildung als Kampf gegen Gedankenlosigkeit und Desinteresse 1.3.2. Methodische Perspektiven: »Ver-lernen« am Exemplar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
153 155 155 157 159 164 169 169 173 178 181 187
. 188 . 192
Inhalt
2.
Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik . 196
2.1. Aspekte der Ethik Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Die Allgemeinheit ethischer Pflicht . . . . . . . . 2.1.2. Verstand und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Einzelnes und Allgemeines: Moralität als Nötigung 2.1.4. Freiheit als Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . 2.1.5. Freiheit als Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Arendts Kritik an Kants Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Freiheit als Initialität . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Menschliche Spontaneität im Arbeiten, Herstellen und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Kritik des philosophischen Intellektualismus . . . 2.2.4. Die Subsumtionsproblematik: Kant unter Ideologieverdacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5. Willensfreiheit und Souveränität . . . . . . . . . 2.2.6. Freiheit und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Bildungsphilosophische Erträge . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Bildungstheoretische Überlegungen . . . . . . . . 2.3.2. Methodische Überlegungen: Das Vergessen und die Politische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . .
198 198 202 205 209 213 218 221 225 229 235 245 255 262 262 268
3.
Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen . 277 3.1. Welt und Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 3.1.1. Exkurs: Gemeinsinn – Karriere eines Begriffs . . . 277 3.1.2 Kants Aufnahme des sensus communis- Begriffes . 292 3.1.2.1. Abgrenzung und Untergliederung des Begriffsfeldes sensus communis . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2. Gemeinsinnund ästhetisches Urteil . . . . . . . 3.1.2.3. Das Gefühl für die Gemeinschaft . . . . . . . . 3.1.2.4. Der »gemeine Menschenverstand« und seine Maximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Hannah Arendt und die Welt des Gemeinsinns . . 3.1.3.1. Der Gemeinsinn und die Wirklichkeit der öffentlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.2. Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand . 3.1.3.3. Der Verlust des Gemeinsinns . . . . . . . . . . 3.1.3.4. Gemeinsinn, Verstand und Denken . . . . . . . 3.1.3.5. Geselligkeit, Gemeinsinn und Urteilskraft . . .
292 300 311 316 327 327 333 338 345 356
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Inhalt
3.2. Vom ästhetischen zum politischen Urteil . . . . . . . 3.2.1. Urteils- und Einbildungskraft in der Philosophie Immanuel Kants . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1. Die Urteilskraft als Mittelglied im Projekt der Vernunftkritik . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2. Verfahrensweisen der Urteilskraft . . . . . . 3.2.1.3. Einbildungs- und Urteilskraft: Vom Untertan zum Mitspieler . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Urteilskraft als politisches Vermögen . . . . . 3.2.2.1. Kultur und Politik . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2. Vita activa und vita contemplativa . . . . . 3.2.2.3. Urteilskraft als Unterschiede-machen . . . . 3.2.2.4. Einbildungskraft und repräsentatives Denken 3.3. Bildungsphilosophische Erträge . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Methodische Perspektiven . . . . . . . . . . . 3.3.2. Bildungstheoretische Überlegungen . . . . . .
D. Das Wagnis der Bildung
. . 363 . . 363 . . 364 . . 374 . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
382 391 394 403 411 419 427 427 433
. . . . . . . . . . . . . . . . 443
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
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Danksagung
Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2014 an der Universität Vechta als Dissertationsschrift angenommen. Da die Abfassung in meine Zeit als Studienrat am Leibniz-Gymnasium in Düsseldorf fällt, gibt es keine finanziellen Förderer, welchen an dieser Stelle Dank gesagt werden müsste – wohl aber viele Menschen, deren Mithilfe für das Gelingen dieses Dissertationsprojektes von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Dies sind zuallererst die beiden Betreuer dieser Promotionsschrift, Prof. Dr. Karl-Heinz Breier und Prof. Dr. Volker Steenblock. Die intensive und freundschaftliche Begleitung, die ich von KarlHeinz Breier in den Jahren des Schreibens trotz der räumlichen Distanz erfahren durfte, war für mich stets eine wichtige Stütze neben meiner schulischen Arbeit und das Verständnis für die spezifischen Schwierigkeiten einer neben dem Schuldienst abgefassten Dissertation ging in diesem Zusammenhang weit über alles Erwartbare hinaus. Auch Volker Steenblock möchte ich für das Zweitgutachten danken und für die während der Promotionszeit und darüber hinaus gewährte Unterstützung meiner Arbeit im Bereich Philosophiedidaktik. Dank gebührt zudem dem Doktorandenkolloquium für Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Vechta, vor dem ich meine Arbeit in ihren verschiedenen Stadien immer wieder zur Diskussion stellen konnte und hier besonders Prof. Dr. Peter Nitschke, dessen schier unerschöpfliches Arsenal kritischer Anmerkungen zu Hannah Arendt die Arbeit weiterentwickeln half. Annika Heidkamp, Dr. Annika Schlitte und Uli Böhme danke ich für das gründliche Korrekturlesen des Textes, wobei alle verbliebenen Fehler natürlich zu meinen Lasten gehen. Den größten Dank schulde ich dabei meiner Freundin Annika Schlitte, ohne deren konsequente Bereitschaft zur inhaltlichen Auseinandersetzung über Probleme der Arbeit und ohne deren stete Er-
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Danksagung
mutigung ich dieses Projekt kaum zu einem erfolgreichen Abschluss hätte bringen können. Eichstätt, im August 2015
René Torkler
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A. Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
Bildung hat als Thema Konjunktur. Das gilt gegenwärtig nicht nur mit Blick auf politische Sonntagsreden, sondern auch im Bereich der Philosophie. Das Ausmaß, in dem Philosophen sich gegenwärtig befleißigen, die Schatztruhe der philosophischen Tradition zu öffnen und ihren Reichtum in den Dienst der Bildung zu stellen, ist in den letzten Jahren durchaus auffällig. 1 Dieses Engagement der Philosophie ist nicht nur erfreulich, es ist auch der Sache nach geboten. Denn »so wie die kritische Reflexion zu Fragen der Gegenwart blind ist, wenn sie sich nicht mit dem Wissen der Vergangenheit sättigt, so ist das Wissen der Vergangenheit für sich genommen hohl, wenn es keinen Kontakt zum Gegenwartsbewußtsein gewinnt.« 2 Auffällig ist jedoch, dass bei der aktuellen Behandlung des Bildungsthemas der Aspekt des Politischen sehr weitgehend ausgespart wird. Dies befremdet umso mehr, als doch viele der einflussreichsten klassischen Bildungstheorien der Philosophiegeschichte – man denke nur an Platons Höhlengleichnis oder Rousseaus Emile – ihre Gedanken zu Erziehung und Bildung in einem recht direkten Verhältnis zum späteren politischen Leben entfaltet hatten. Diese Verbindung von Bildung und Politischem scheint sich unter den Bedingungen der 1 Vgl. Hastedt, Heiner (Hrsg.): Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Stuttgart 2012; Hutter, Axel und Kartheininger, Markus: Bildung als Mittel und Selbstzweck. Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs. Freiburg, München 2009; Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. München 2008; Lessing, Hans-Ulrich und Steenblock, Volker (Hrsg.): »Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …« Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg 2010; Meyer, Kirsten: Bildung. Berlin, Boston 2011; Nida-Rümelin, Julian: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013; Nussbaum, Martha: Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen 2012; Rehn, Rudolf und Schües, Christina: Bildungsphilosophie. Grundlagen – Methoden – Perspektiven. Freiburg, München 2008. 2 Hutter, Axel: Einleitung. In: Ders. und Kartheininger, Bildung als Mittel und Selbstzweck, 9–13, 13.
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Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
Spätmoderne mindestens gelockert zu haben. So taucht ein Bezug zum Politischen häufig nur im Kontext von Bildungsgerechtigkeit 3 auf; bisweilen wird immerhin die Notwendigkeit von Bildung für die Funktionstüchtigkeit von Demokratien herausgestellt. 4 Selten jedoch gehen Autoren so weit, einen konstitutiven inneren Bezug zwischen einem Begriff des Politischen und dem vorgestellten Bildungsbegriff zu unterstellen. Genau dies jedoch soll im Rahmen dieser Arbeit im Ausgang von Hannah Arendts Kant-Rezeption unternommen werden. Unsere Ausgangsfrage wirkt angesichts dieses Projektes einigermaßen konkret. So wollen wir zunächst die Frage stellen, inwiefern die Rezeption philosophischer Texte – und gemeint sind philosophische Texte im Allgemeinen, nicht Texte der sogenannten politischen Philosophie – einen Beitrag leisten kann zu einer Bildung, welche die politische Dimension menschlichen Daseins ernst nimmt und mitreflektiert. Dass dies nicht automatisch und auch nicht bei jedem beliebigen Text der Fall sein wird, scheint recht offensichtlich zu sein. Wenn eine solche, politisch reflektierte Form der Rezeption philosophischer Texte möglich sein soll, so muss es hier also entweder eine spezifisch politische Methode der Rezeption philosophischer Texte geben oder ein ebensolches Verfahren der Auswahl geeigneter philosophischer Positionen – und damit wären wir bei einem klassisch didaktischen Gegenstand, welcher in dieser Form sowohl für die politische Bildung als auch die Philosophiedidaktik von Interesse sein muss. Dabei macht es zunächst einmal keinen allzu großen Unterschied, ob wir unter politischer Bildung ausschließlich die Didaktik des politischen (Schul-)Unterrichts verstehen oder auch die Theorie der Bildung mit Blick auf das Politische überhaupt – denn wir gehen hier davon aus, dass das Erstere in reflektierter Form ohnehin nur unter Rückgriff auf das Zweite möglich ist. In jedem Fall benötigt
3 Vgl. Meyer, Bildung, 155 ff.; Stojanov, Krassimir: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden 2011; sowie Ders.: Bildungsgerechtigkeit als Freiheitseinschränkung? Kritische Anmerkungen zum Gebrauch der Gerechtigkeitskategorie in der empirischen Bildungsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik. 54/2008, Heft 4, 515–530. 4 Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, 179 ff.; Nussbaum, Nicht für den Profit!, 27 ff.; Reichenbach, Roland: Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne. Münster, New York, München, Berlin 2001, 111 ff.
12 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
politische Bildung eine »philosophische Hintergrundtheorie« 5 – und um eine solche soll es im Rahmen dieser Arbeit gehen. Ähnliches gilt für die Philosophiedidaktik, welche in ihrer gegenwärtig vorzufindenden Form ebenfalls auf einem genuin philosophischen theoretischen Fundament aufruht. Diesem Fundament einen Sinn für das Politische anzudienen wird daher nicht weniger unser Anliegen sein. Doch bevor wir unser Vorgehen im Einzelnen beleuchten, muss freilich zunächst geklärt werden, wie und warum diese systematische Ausgangsfrage mit dem historischen Gegenstand von Hannah Arendts Kant-Rezeption in Verbindung gebracht werden soll. Überhaupt kann die Inanspruchnahme von Hannah Arendt für ein Projekt philosophischer Theoriebildung ja durchaus verwundern. Hannah Arendt hat es über weite Strecken ihres Lebens abgelehnt, sich selbst als Philosophin zu bezeichnen. Ihr eigenes Arbeitsgebiet beschrieb sie in einem Fernsehinterview einmal als »politische Theorie« und gab gleichzeitig an, der Philosophie »endgültig Valet gesagt« 6 zu haben. Ihr Anliegen war es seitdem vielmehr, politische Phänomene zu beschreiben, dabei eine spezifische Form genuin politischen Denkens zu exponieren und überhaupt das Politische in seinen Erscheinungs- und Verfallsformen sichtbar und verständlich zu machen. Die Rolle der Philosophie für dieses Unternehmen sah sie mindestens kritisch. Dennoch hielt ihre Skepsis gegenüber der politischen Kompetenz der Philosophie sie keineswegs davon ab, Positionen der philosophischen Tradition für ihr Werk in einer Breite und mit einer Detailkenntnis auszuwerten, wie sie auch in vielen philosophischen Fakultäten der Gegenwart ihresgleichen suchen dürfte. Der Verdacht liegt also nahe, dass auch Arendt die Rezeption philosophischer Texte für etwas hielt, das beim politischen Räsonieren mindestens einen Beitrag leisten kann – und eben diesen politischen Beitrag sichtbar zu machen, ist hier recht eigentlich unser Gegenstand. Angesichts der erwähnten Breite ihrer Rezeptionsleistung erscheint es zur Erarbeitung der dabei eingesetzten Methode ratsam, eine Eingrenzung bezüglich des Gegenstandes dieser Rezeption zu treffen, welche es dennoch erlaubt, wesentliche Facetten dieser MeGagel, Walter: Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989. Opladen 1994, 29. 6 Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: Dies.: Ich will verstehen, 46–72, im Folgenden zitiert als GG, hier 46. 5
13 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
thodik herauszustellen und die nach Möglichkeit auch wesentliche Züge von Arendts Denkens verstehen hilft. Seyla Benhabib hat Arendt einmal als »gefesselt zwischen Aristoteles und Kant« 7 bezeichnet; und wenn unsere Wahl im Rahmen dieser Arbeit nicht auf Aristoteles, sondern auf Kant fällt, so liegt dies nicht zuletzt daran, dass Arendt selbst Kant mit Blick auf die Relevanz seines Denkens für politische Zusammenhänge aus der philosophischen Tradition deutlich hervorhob. Sosehr sie »eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen« diagnostizierte, so klar galt für sie diesbezüglich aber auch: »Kant ist ausgenommen.« (GG 47) Angesichts der Tatsache, dass Kant auch in der Politischen und in der Rechtsphilosophie eine Rolle spielt, welche zu vernachlässigen jedem Kundigen einigermaßen unmöglich ist, erscheint Arendts Auswahl nur sachgerecht. Der Grund jedoch, aus dem Arendt Kant diese besondere Stellung de facto zuerkannte, nimmt sich überraschend aus. Denn dieser Grund liegt keineswegs in den Werken, welche wir heute gemeinhin als Kants politische Schriften lesen würden. Arendt behauptete vielmehr: »Über Kants Politische Philosophie zu sprechen und sie zu erkunden hat seine Schwierigkeiten. Im Unterschied zu so vielen Philosophen […] hat Kant niemals eine Politische Philosophie geschrieben.« 8 Letzteres war freilich eine Provokation und kündigt Vieles von dem an, was wir als Arendts Methodik der Rezeption philosophischer Texte im Rahmen dieser Arbeit herausstellen werden. Da es wohl außer Zweifel steht, dass Arendt Schriften wie Zum ewigen Frieden oder die Metaphysik der Sitten gut kannte – zitiert sie diese doch selbst im Rahmen der genannten Vorlesung – so deutet sich hier auch an, dass Arendt das Politische in Kants Werk nicht dort suchen will, wo dessen Buchtitel es nahelegen. Arendt findet Kants politisches Denken vielmehr in dessen Kritik der Urteilskraft und damit in einer Untersuchung, in der auch Kant es wohl nicht vermutet hätte. Diese Einschätzung Arendts ist zumindest nicht naheliegend, taucht doch der Begriff »Politik« im ganzen Werk kein einziges mal auf. Wenngleich Arendt selbst ihre Kant-Rezeption methodisch zu7 Benhabib, Seyla: Denn sie war ein freier Mensch. Hannah Arendt, die Philosophin des 20. Jahrhunderts. In: DIE ZEIT 42/2006, 61–62, 61. 8 Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München 1985, im Folgenden zitiert als U, hier 17.
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Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
nächst wenig reflektierte, so findet sich doch im ersten Teil Vom Leben des Geistes 9 ein Hinweis darauf, dass sie die Legitimation für ihren Zugriff auf Kants Werk aus dessen Kritik der reinen Vernunft selbst ableitete. Wir lesen dort: »Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte.« 10
Kant formuliert hier eine Art »hermeneutisches Ideal« 11 , dessen zugrunde liegender Gedanke in seiner bekanntesten Formulierung meist Schleiermacher zugeschrieben wird. 12 Arendt zitiert dieselbe Passage und bemerkt dazu: »Und das läßt sich eben auch auf sein eigenes Werk anwenden.« (D 72) Allerdings findet dieses hermeneutische Ideal bei Arendt offenkundig eine neue, politische Wendung. Diese Wendung herauszuarbeiten und auf ihren bildungsphilosophischen Ertrag hin zu überprüfen, macht erst den vollen Gedanken unserer Untersuchung sichtbar. Arendts Werk verdankt Kants Denken viel. Sicher ist es kein Zufall, dass ihr Spätwerk, welches sich immer stärker auf die Ausarbeitung philosophischer Fragestellungen hin entwickelte, von einem dreibändigen Werk Vom Leben des Geistes gekrönt werden sollte. Bedenkt man die thematischen Benennungen der drei geplanten Bände – Das Denken, Das Wollen, Das Urteilen – so liegt es auf der Hand, dass hier das Vorbild der drei kantischen Kritiken wirksam ist. Wir sollten uns jedoch davor hüten, in Arendt vorschnell eine Kantianerin sehen zu wollen. Die Wendung »besser […] als er sich selbst verstand« deutet nämlich bereits auf den Charakter ihrer KantArendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. I: Das Denken. München 1979, im Folgenden zitiert als D, hier 72. 10 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Werke Bd. III, hier A 314/B 370, im Folgenden zitiert als KrV. 11 Makkreel, Rudolf: Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft. Paderborn 1997, 205. 12 Schleiermacher hatte es in seinen Vorlesungen als Aufgabe der Hermeneutik bestimmt, die »Rede« eines Autors »zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber.« Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt a. M. 1990, 94. 9
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Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
Deutung hin. Was Arendt intendiert, ist keine kommentarische KantPhilologie. In der Folge ist das vorliegende Buch keine Arbeit darüber, ob Arendt Kant sachgerecht auslegte oder wie eine solche, möglichst Kant-immanente Auslegung zu bewerkstelligen und didaktisch umzusetzen wäre. Uns geht es vielmehr um die Frage, wie sie ihn auslegte und warum sie dies so tat; und wir verbinden mit dieser Intention die Vermutung, dass wir von Arendt Hinweise auf eine politisch bildende Form der Lektüre philosophischer Texte, auf eine politische Hermeneutik, erhalten werden. Es handelt sich also ebenfalls nicht um eine Arbeit darüber, wie tragfähig Arendts Argumentation vor dem Hintergrund der Diskussion innerhalb der politischen Philosophie erscheint, sondern darüber, ob ihre Methode der Rezeption von Texten der philosophischen Tradition im Allgemeinen und des Werkes von Immanuel Kant im Besonderen ein didaktisch-bildungsphilosophisches Potential aufweist, das zu heben sich in ebendieser Perspektive lohnt. Dass unser Interesse an Arendts Methode der Rezeption von Texten der philosophischen Tradition ein bildungsphilosophisches ist, mag insofern verwundern, als Arendt als Bildungsphilosophin nur wenig in Erscheinung getreten ist. Hier wird es notwendig sein, ihren »eigenen«, von Kant inspirierten hermeneutischen Ansatz – nämlich einen Autor »besser zu verstehen, als er sich selbst verstand« – auch auf ihr Werk anzuwenden, um einen bildungsphilosophischen Ertrag zu erzielen. Auf Arendts Devise, dieser Ansatz lasse sich »eben auch auf sein eigenes Werk anwenden« (D 72), setzen wir also hinzu: Und auf ihres auch! Denn wohl lassen sich auch in ihren »Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken« (KrV A 314/B 370) Gedanken von bildungsphilosophischer Relevanz entdecken; es lässt sich jedoch nicht sagen, dass Arendt selbst dieses Potential systematisch ausgeschöpft hätte. Einen weiteren Fingerzeig für unser Vorgehen bildet darum der Gedanke der didaktischen Transformation, welcher der Philosophiedidaktik entstammt und hier zur Anwendung kommen soll. Denn »Philosophie ist zwar nicht ihre eigene Didaktik, wohl aber enthält sie didaktische Potenzen, die eine separate Ausarbeitung lohnen.« 13 Wir werden im Rahmen dieser Arbeit also versuchen, mit Arendt Rohbeck, Johannes: Denkrichtungen der Philosophie in didaktischer Perspektive. In: Information Philosophie, 5/2001, 66–72, 66.
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Gibt es ein politisches Lesen philosophischer Texte?
über Arendt hinaus zu gehen und die didaktischen Potenzen ihrer Kant-Rezeption aufzuzeigen. Unser Vorgehen gliedert sich dabei in zwei Hauptteile. Der erste Teil (B) wird es unternehmen, Hannah Arendts Denken – ausgehend von Diskursen und Problemfeldern der beiden hier relevanten didaktischen Disziplinen, nämlich der politischen Bildung und der Philosophiedidaktik – zu eben diesen Diskursen in Relation zu setzen und Arendts Werk auf mögliche Anknüpfungspunkte hin zu untersuchen. Unser Blick wird sich hier zunächst auf die politische Bildung (B.1.) richten und soll dort in vier Schritten vorgehen. Es wird sich schnell herausstellen, dass der gewählte Ansatz, mit Arendt über Arendt hinaus zu gehen, ein Anliegen beschreibt, dessen Dringlichkeit sich schon mit Blick auf ihren Erziehungsbegriff als notwendig erweist, um die ihr im Politischen so wichtige Freiheit auch im Bereich der Bildung ernst zu nehmen. (B.1.1.) Mit Blick auf die im Begriff politischer Bildung enthaltenen normativen Aspekte (B.1.2.) wird uns ihr Diktum von Denken ohne Geländer weit über die Möglichkeiten traditioneller Werteerziehung hinaus tragen und (B.1.3.) zu einem die politische Bildung sinnvoll fundierenden Politikbegriff führen, welcher sich wesentlich durch ihr aristotelisch inspiriertes Verständnis politischen Handelns als einer Form freier Interaktion in Pluralität erschließt. Es wird sich zudem (B.1.4.) zeigen, dass Arendts Vorstellung politischen Denkens sich als kritisch-unterscheidendes und begrifflich-kategoriales Denken erweist, das an den Begriffen der philosophischen Tradition zwar geschult ist, auf diese aber nicht festgelegt bleibt. Da mit diesem Punkt bereits die Relevanz philosophischer Begriffsbildung für die politische Bildung aufgewiesen ist, soll der Konnex von politischer und philosophischer Bildung nun in umgekehrter Blickrichtung ins Auge gefasst werden. Im zweiten Kapitel unseres ersten Hauptteiles soll geprüft werden, inwiefern sich Verbindungslinien zwischen Politik und Philosophiedidaktik aufweisen lassen, welche mit Blick auf das vorliegende Projekt erkenntnisleitend sein können. Dabei wird nicht nur eine Analogie sichtbar werden zwischen dem Verhältnis von Philosophie und Politik, wie Arendt es verstand, auf der einen und dem Verhältnis von Philosophie und Philosophiedidaktik, wie es sich derzeit darstellt, auf der anderen Seite. Auch werden wir im Begriff der Orientierung, verstanden als Orientierung in der Welt, einen verbindenden Aspekt 17 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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zwischen philosophischer und politischer Bildung präsentieren, welcher die plurale Grundstruktur des in dieser Arbeit vorzustellenden Bildungsbegriffs bereits aufscheinen lässt. Alle Weltorientierung befindet sich in Arendts Denken in der Situation, durch den Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts von einem selbstverständlichen Zugriff auf diese Tradition weitgehend abgeschnitten zu sein – den uns mit der Tradition verbindenden »Ariadnefaden« hielt sie für gerissen. Die Vergangenheit kann darum ihrer Auffassung nach für die Welt nach dem 20. Jahrhundert nicht in der gleichen Weise Bedeutung gewinnen, wie dies vor dem Traditionsbruch möglich gewesen wäre; ein Lernen von der Tradition muss darum einen Transformationsprozess des Alt-Bekannten in Für-heute-Relevantes mit einschließen. Ein solches Lernen muss also ein Ver- und Umlernen mit sich bringen. »Hannah Arendt heute lesen – das könnte bedeuten, dieses Verlernen zu lernen.« 14 In Arendts Thematisierung eines Traditionsverhältnisses unter der Bedingung des Traditionsbruches, welches auch ihr eigenes Werk in sehr lebendiger Form performativ offenbart, ergibt sich auf diese Weise eine hermeneutische Perspektive, deren »didaktische Potenzen« für eine hermeneutisch orientierte Philosophiedidaktik hier zu sichten sind. Diese Sichtung hat sich der zweite, umfangreichere Hauptteil (C) zur Aufgabe gemacht, welcher Hannah Arendts Kant-Rezeption als ein Lehrstück politischer Hermeneutik darzustellen sucht. Die drei Teile thematisieren Arendts Auseinandersetzung mit Kants Begriff des Bösen (C.1.), ihre Kritik an Kants Ethik (C.2.) und im letzten und umfangreichsten der drei Teile ihre Untersuchung von Kants Begriffen Gemeinsinn und Urteilskraft in dessen Kritik der Urteilskraft. Die Teile sind von ihrer Binnenstruktur her stets ähnlich angelegt. In einem ersten Schritt wird jeweils (C.1.1., C.2.1. und C.3.1.2/ 3.2.1) dasjenige Problem- und Begriffsfeld innerhalb von Kants Philosophie, auf das Arendt zugreift, aus einer weitgehend kantimmanenten Perspektive dargestellt. Die Aspekte, welche dabei zur Darstellung gelangen, sind freilich insofern auf Arendts Rezeption abgestimmt, als sich nicht alle Aspekte von Kants Ethik und alle Probleme der Kritik der Urteilskraft darstellen lassen, um im Anschluss Hahn, Barbara: Hannah Arendt. Leidenschaften, Menschen und Bücher. Berlin 2005, 20.
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thematisieren zu können, wo Arendt Auslassungen vornimmt. Dieses Problem ist nicht vollständig lösbar; der hier dargestellte Kant ist insofern immer schon »Arendts Kant«. Dennoch soll gerade die Frage des zum Teil recht selektiven, minimal-invasiven Zugriffs auf das kantische Original thematisiert werden. Im zweiten Schritt (C.1.2., C.2.2. und C.3.1.3./3.2.2.) thematisiert jedes Kapitel jeweils, wie das kantische Begriffs- und Gedankengut Eingang findet in Arendts Denken und wo Aspekte akzentuiert oder abgelehnt und ausgelassen werden. Hier soll herausgestellt werden, wo Kants Denken eine konstitutive Rolle für Arendts Werk spielt – und dies tut es auf unterschiedliche Weise, denn bisweilen werden Begriffe und Unterscheidungen übernommen, teilweise transformiert und des Öfteren offen abgelehnt. Unsere mit Blick auf die Arendt-Forschung relevante These ist es an dieser Stelle, dass ihre Art und Weise, sich mit Kant auseinanderzusetzen, konstitutiv ist für ein Verständnis ihres Werkes im Ganzen. Dieser Aspekt wird in den besagten mittleren Teilen der Kapitel (C.1.2., C.2.2. und C.3.1.3./ 3.2.2.) jeweils erkenntnisleitend sein. Im dritten Teil jedes Kapitels (C.1.3., 2.3., 3.3.) soll ein Resümee zu den Erträgen unserer Auswertung gezogen werden, und zwar jeweils in zwei Perspektiven. Dabei wird der jeweils untersuchte Gegenstand daraufhin ausgewertet, inwiefern im Rahmen des Kapitels bildungsphilosophisch oder allgemein-pädagogisch interessante Probleme und Gedanken exponiert wurden. Ein weiterer Teil wertet Arendts im jeweiligen Kapitel nachgezeichnete Kant-Rezeption in methodischer Perspektive aus. Hier soll auch thematisiert werden, wo Arendt in ihrem Zugriff selektiv vorgeht und Gedanken, die innerhalb des kantischen Systems wichtig sind, nicht mit aufnimmt. In diesen drei Auswertungskapiteln kommt also der eigentliche Ertrag unserer Untersuchung zur Sprache; sie lassen sichtbar werden, worin Arendts Methode der Kant-Rezeption in ihrer Essenz besteht. Kapitel C.3. weicht von der beschriebenen Systematik teilweise ab. Ein einleitender Exkurs (C.3.1.1.) soll für unsere Untersuchung relevante Grundzüge der Begriffsgeschichte dieses Gemeinsinns aufarbeiten. Diese Gründlichkeit der Untersuchung erscheint geboten, da sowohl Kant als auch Arendt sich explizit wie implizit auf die weit verzweigte Begriffsgeschichte des Vermögens beziehen. Zudem liegt gerade hier der Kern von Arendts Kant Rezeption – nämlich in ihrer Analyse des den Gemeinsinn thematisierenden § 40 in der Kritik der Urteilskraft. 19 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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Zudem werden mit Gemeinsinn (C.3.1.) und Urteilskraft (C.3.2.) eigentlich zwei Untersuchungen in einem Kapitel durchgeführt, teilen sich jedoch aufgrund der inhaltlichen Bezüge eine gemeinsame Auswertung (C.3.3.). Bei dieser ergeben sich aus dem methodischen Ertrag noch weitergehende bildungsphilosophische Aspekte, weshalb die bildungsphilosophische Auswertung in C.3. am Ende des Kapitels steht. Wenn unser Vorhaben Sinn ergeben soll, so ist dies an die Voraussetzung gebunden, dass am Ende mindestens die Umrisse eines Bildungsbegriffes sichtbar werden, welcher strukturelle Analogien zu Arendts Verständnis des Politischen aufweist. In diesem Falle würden Bildungsprozesse vor dem Hintergrund von Arendts Analyse des Politischen reflektierbar. In dem bereits erwähnten Fernsehgespräch mit Günter Gaus findet Arendt eine sehr griffige und darum viel zitierte Formulierung für das, was ihr Verständnis des Politischen in seinem Kern ausmacht, weil es auf den Punkt bringt, was sich in Prozessen politischen Handelns ereignet: »Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen in das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht.« (GG 72)
Die Bildung ist – wie das politische Handeln – ein praktischer Vorgang, kein poietischer Prozess. Wir können kein konkretes Ziel dieses Prozesses angeben und aufgrund der ihm eigenen Freiheitlichkeit der Interaktion ist er seinem Wesen nach weitgehend unabsehbar und unberechenbar. Eine Reflexion auf das, was im Vorgang der Bildung geschieht, ist jedoch ebenso möglich wie eine Reflexion auf politisches Handeln. Auch Bildung ist ein Wagnis, auf das wir uns nur einlassen können. Die vorliegende Arbeit will behilflich sein bei der Frage, worauf wir uns in Bildungsprozessen einlassen und wie wir uns ihre Reflexion vorstellen können.
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B. Politische Bildung und Philosophiedidaktik vor dem Hintergrund des Traditionsbruchs
Acht Jahre nach ihrer Emigration in die Vereinigten Staaten schreibt Hannah Arendt an ihren Lehrer Karl Jaspers: »Manchmal frage ich mich, was schwieriger ist, den Deutschen einen Sinn für Politik oder den Amerikanern einen leichten Dunst auch nur für Philosophie beizubringen. Ich will mir noch ein wenig den Kopf zerbrechen […].« 1
Wie wir diesen Zeilen Hannah Arendts wohl unschwer entnehmen können, liegen politisches und philosophisches Talent nicht zwangsläufig dicht beieinander; bisweilen scheinen zwischen beiden wenn nicht Welten, so doch zumindest ein Ozean zu liegen. Was wir bei Arendt jedoch an dieser Stelle vermuten dürfen, ist der dem Ausspruch offenkundig zugrunde liegende Umstand, dass ihr sowohl politische als auch philosophische Bildung Anliegen genug waren, um sich »den Kopf zerbrechen« zu wollen und dass es zudem einen beklagenswerten Mangel darstellt, wenn es nicht gelingt, beides zusammenzuführen. Wenn wir im Folgenden versuchen wollen, politische Bildung wie Philosophiedidaktik von Arendt her zu denken und damit das besagte Zerbrechen des Kopfes in ihrer Perspektive wieder aufnehmen, so sind dabei vorab zwei Ausgangsbedingungen dieses Vorhabens in Rechnung zu bringen, welche als Grundannahmen in ihr Denken eingegangen sind und die dieses Anliegen zunächst zu erschweren scheinen. Dies ist zum einen der grundsätzliche Konflikt zwischen Politik und Philosophie und zum anderen die Tatsache, dass beide, Politik wie Philosophie und in der Folge auch politische Bildung und Philosophiedidaktik, in der Moderne unter der Bedingung des Traditionsbruchs zu denken sind. Das Verhältnis zwischen Philoso-
1 Arendt, Hannah/ Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969. München, Zürich 1993, im Folgenden zitiert als BWJ, hier der Brief vom 28. 01. 1949, 165.
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Politische Bildung und Philosophiedidaktik
phie und Politik ist für Arendt schon im Grundsatz ein problematisches und muss uns hier beschäftigen und begleiten, weil »aus dem Konflikt zwischen Philosophie und Politik, wie er im Prozeß des Sokrates zum Ausdruck kam, unsere politische Philosophie entstanden [ist]. Der Konflikt, möchte man meinen, ist durch Plato nicht beigelegt, sondern von ihm nur diktatorisch zugunsten der Philosophie entschieden worden – was dann allerdings für nahezu die gesamte politische Theorie des Abendlandes maßgebend geworden ist.«
Diese neige in der Folge dazu, den »Raum der menschlichen Angelegenheiten in der Höhle […] mit anderen Worten vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus« 2 zu betrachten. Die Gefahr besteht hier Arendt zufolge darin, dass die menschlichen Angelegenheiten, um die es im Politischen geht, als das Innere der platonischen Höhle verstanden und damit nicht recht ernst genommen werden, während die Philosophie als das Eigentliche des Menschen außerhalb dieser Höhle verortet wird. Eine solche Arbeitsteilung muss für die politische Bildung als unproduktiv gelten, da für sie die Orientierung auf politische Praxis das eigentliche Anliegen sein muss und für die Philosophiedidaktik ebenso, da diese ihren recht verstandenen Gegenstand ja gerade in der Vermittlung von philosophischer Tradition und der Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt hat. Wir werden also versuchen, in unseren Überlegungen ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen philosophischem Denken und politischer Praxis zu wahren. Eine strukturelle Grundbedingung, die Arendts Denken mit politischer Bildung teilt und teilen muss, ist der Totalitarismushintergrund, der den Umgang mit Autorität und Tradition in ein anderes Licht gerückt hat. 3 Der von Arendt konstatierte Traditionsbruch ist dabei mit einem recht ambivalenten Orientierungsdefizit verbunden, dem politische wie philosophische Bildung Rechnung zu tragen haben:
2 Arendt, Hannah: Was ist Autorität. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. v. Ursula Ludz. München 2 2000, 159– 200, im Folgenden zitiert als WiA, hier 180 f. 3 Vgl. Greiffenhagen, Martin und Sylvia: Werte und Wertewandel. In: Breit, Gotthard und Schiele, Siegfried (Hrsg.): Werte in der politischen Bildung. Schwalbach 2000, 16–29, 17 ff.; Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Ausschwitz. Hamburg 2005, 9 ff.; Klages, Helmut: Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt, New York 1993.
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»Mit dem Verlust der Tradition haben wir den Ariadnefaden verloren, der uns durch die ungeheuren Reiche der Vergangenheit sicher geleitete, der sich aber auch als die Kette erweisen könnte, an die jede Generation neu gelegt wurde und durch die ihr die Vergangenheit in einem im vorhinein vorgezeichneten Aspekt erschien.« (WiA 161)
Auch wenn verschiedentlich die Frage gestellt worden ist, ob die notwendige Bindung politischer Bildung an die Geschichte des Totalitarismus nicht als zu vergangenheitsbezogen gelten muss, kann das von Arendt konstatierte Defizit an und Bedürfnis nach Orientierung kaum als überholt gelten – stellt sich einem Edukanden heutiger Bildungseinrichtungen die Welt heute doch keineswegs als übersichtlicher oder eindeutiger dar. So ist die Arbeit an der Orientierungsfähigkeit in der Welt denn wohl auch zweifellos das verbindende Moment von politischer Bildung und Philosophiedidaktik. Um herauszufinden, in welchem Umfang Arendts Denken uns helfen kann, Orientierungsfähigkeit zu organisieren, werden wir dieses in einem ersten Teil auf Berührungspunkte mit der Theorie politischer Bildung (B.1.) sowie auf konstruktive Momente zur Lösung von deren Problemen hin untersuchen und dabei vier systematische Punkte zu klären versuchen: Erstens (B.1.1.) wird eine Beleuchtung von Arendts Erziehungsbegriff sowie eine deutliche Kritik an demselben notwendig sein. Denn obwohl Arendts Freiheitsbegriff ihr politisches Denken in hohem Maße prägt, finden wir in ihren Überlegungen zur Erziehung wenig bis nichts, was einer Entwicklung hin zur Freiheitsfähigkeit zuträglich erscheint oder Hinweise darauf gibt, wie eine solche sinnvoll zu fördern wäre. Zudem wird hier deutlich werden, dass Arendt weniger für einen Begriff politischer Erziehung als vielmehr für ein politisches Verständnis von Bildung in Anspruch genommen werden kann. Unser Anliegen muss hier daher als Bildungsanliegen von Problemen der Erziehung begrifflich abgegrenzt werden. Damit ist ein zentrales Problem, nämlich die Frage, wie eine Bildung in und zur Freiheit vorstellbar ist, vor dem Hintergrund von Arendts eigenem Erziehungsbegriff formuliert und diese Frage wird unsere Untersuchung weiter begleiten. Zweitens (B.1.2.) zielt die Orientierung, welche politische Bildung leisten will, auf die Mündigkeit der zu Bildenden, was besonders im Bereich von Werten und Moralvorstellungen die Frage aufwirft, wie eine solche zu bewerkstelligen ist, ohne dass sie auf eine autoritative Überwältigung hinausläuft. Im Weiteren werden wir uns 23 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Politische Bildung und Philosophiedidaktik
darum mit der normativen Perspektive politischer Bildung befassen, wobei recht schnell klar wird, dass Arendt für eine (ohnehin wenig sinnvolle) Werteerziehung nicht in Anspruch genommen werden kann und die Perspektive hier eher darin besteht, die Fähigkeit freier Urteilsbildung und damit ein Denken ohne Geländer zu fördern. Politische Bildung benötigt drittens (B.1.3.) einen Politikbegriff, um als solche kenntlich zu sein. Daher soll unter Bezugnahme auf Arendts Begriff des Politischen das Verhältnis politischer Bildung und politischer Praxis in den Blick genommen werden. Arendts an Aristoteles’ praxis-Begriff angelehntes Verständnis politischen Handelns soll als ein zentraler begrifflicher Bezugspunkt politischer Bildung herausgestellt werden. Es wird sich in der Folge viertens (B.1.4.) zeigen, dass politische Bildung nur schwerlich betrieben werden kann, ohne das philosophische Begriffsfundament politischen Denkens zu untersuchen. Hier wird zu fragen sein, in welchem Sinne politische Bildung als kategoriale Bildung verstanden werden kann. In dieser Dimension politischer Bildung wird mit Arendts Denken eine Perspektive eröffnet, welche hier zunächst nur markiert wird, da sie in ihrer vollen Bedeutung erst im Gesamtverlauf der Arbeit eingeholt werden kann. Der zweite Teil (B.2.) soll in zwei Schritten aufweisen, wie Arendts Denken für die Philosophiedidaktik fruchtbar gemacht und inwiefern politische Bildung als philosophiedidaktisches Anliegen verstanden werden kann. Dazu soll in einem ersten Schritt (B.2.1.) gezeigt werden, welche Rolle Politik und politische Bildung für die Philosophiedidaktik spielen. Hier zeigt sich, dass die Philosophie zu ihrer eigenen Didaktik in einem ähnlich gespannten Verhältnis zu stehen scheint wie Philosophie und Politik dies Arendt zufolge taten. Ein verbindendes Anliegen zwischen politischer und philosophischer Didaktik werden wir im Begriff der Orientierung finden, welcher hier in seiner bildungsphilosophischen Relevanz herausgearbeitet werden soll. Zweitens (B.2.2.) wird sich die Frage stellen, welchen Stellenwert Texte der Tradition in Kontexten von Bildung und Orientierung haben können. Von hier aus wird drittens Arendts Verstehensbegriff zu beleuchten sein, welcher auf dem Wege didaktischer Transformation zahlreiche didaktische und bildungsphilosophische Perspektiven eröffnet.
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1. Arendts Denken im Kontext politischer Bildung: Bestandsaufnahme und Standortbestimmung
1.1. Politische Bildung statt politischer Erziehung 1.1.1. Erziehung im Dunkel der Privatheit Hannah Arendt hat sich selbst in den 1950er Jahren recht deutlich zur Frage der Erziehung – oder genauer, zur Frage des rechten Verhältnisses von Politik und Erziehung – geäußert. Vor dem Hintergrund ihres Vortrags über die Krise in der Erziehung 1 , welche sie sich der amerikanischen Gesellschaft zu attestieren genötigt sah, scheint es alles andere als selbstverständlich zu sein, ausgehend von ihrem Denken einen Begriff politischer Bildung formulieren zu wollen. Erziehung hat ihren Platz für Arendt in einem als präpolitisch zu verstehenden Raum; ihr Anliegen ist es gerade, die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung von Erziehungsbereich und der Sphäre des Politischen nachzuweisen. In diesem Zuge wird auch die Rolle von Autorität für Denken und Politik auf der einen Seite und Erziehung auf der anderen sehr unterschiedlich bewertet und dies bringt verschiedene Probleme in Arendts Erziehungsverständnis mit sich, an denen nicht wortlos vorbeigehen kann, wer sich als Didaktiker auf Hannah Arendt beziehen will. Eine angemessene Einordnung von Arendts Erziehungsbegriff ist nur vor dem Hintergrund verschiedener systematischer Unterscheidungen ihres frühen Hauptwerks Vita activa 2 möglich. Wichtig ist hier zunächst der am Vorbild der griechischen Antike entwickelte, strenge Gegensatz von öffentlicher Sphäre und Privatbereich: »Der dunkle, verborgene Raum des Privaten bildete gleichsam die andere Arendt, Hannah: Die Krise der Erziehung. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 255–276, im Folgenden zitiert als KE. 2 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2003, im Folgenden zitiert als VA. 1
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
Seite des Öffentlichen […].« (VA 79) Politisches Handeln spielt sich im Lichte der Öffentlichkeit ab und ist dort für jedermann sichtbar. Dies ist nicht nur sein ureigenstes Charakteristikum, sondern auch diejenige Eigenschaft des Politischen, welche es von der Erziehung trennt, die Arendt im »Dunkel der Privatheit« 3 verortet. Mit diesem Dunkel verbindet sich für sie keineswegs eine Abwertung des Privaten als eines dem Einfluss legitimierender Öffentlichkeit entzogenen Bereichs. Arendt zufolge gibt es schlicht »eine große Anzahl von Sachen, die die Helle nicht aushalten, mit der die ständige Anwesenheit anderer Menschen den öffentlichen Raum überblendet« (VA 64). Sie versteht den privaten »Raum des Verborgenen« (KE 267) vielmehr als eine Art notwendigen Schutzraum, einen abgeschirmten Bereich, »wo in der Behütetheit der Familie und der Geborgenheit der eigenen vier Wände alles dazu dient und dienen muß, das Leben von Individuen zu schützen.« 4 Öffentlichkeit als Bereich der Politik ist der Erziehung also in ganz fundamentaler Weise entgegengesetzt; Kinder als die Adressaten von Erziehung bedürfen eines Schutzes, der nach den in der Öffentlichkeit geltenden Regeln nicht zu gewährleisten ist und aus diesem Grunde müssen sich Politik und Erziehung auch strukturell voneinander unterscheiden. Dies gilt für Arendt auf einer ganz grundsätzlichen Ebene und zwar nicht nur für die elterliche, sondern bedingt auch für die schulische Erziehung. Sie kritisiert daher in dem besagten Erziehungsvortrag harsch die »progressive education«, eine amerikanische Spielart der Reformpädagogik, welche besonders die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung betonte. 5 Diese Kritik speiste sich aus der Auffassung, dass einer solchen Form von Erziehung das grundlegende Missverständnis einer Bedingung menschlicher Existenz zugrunde liege: der Natalität, dem hoffnungsvollen Gedanken einer jedem Menschen innewohnenden politischen Initiativkraft, mit dem Arendt ihr Totalitarismusbuch beschlossen hatte: »Initium ut esset, creatus est homo – ›damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‹, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da
Hellekamps, Stephanie: Hannah Arendt über die Krise der Erziehung – Wiedergelesen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jahrgang 9 (2006), Nr. 3, 413–423, 416. 4 Arendt, Hannah: Freiheit und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 201–226. Im Folgenden zietiert als FuP, hier 208. 5 Vgl. Hellekamps, Krise der Erziehung, 415. 3
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Politische Bildung statt politischer Erziehung
und bereit. Seine Kontinuität wird garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.« 6
Mit der Geburt eines Menschen wird für Arendt ein Neuanfang gemacht, der ihn dazu befähigt, von sich aus handelnd in das Geschehen der Welt einzugreifen und der damit die wesentliche Grundbedingung einer politischen Existenz bildet: »Weil er ein Anfang ist, kann der Mensch etwas Neues anfangen, also frei sein.« (FuP 220) Eine so verstandene Anfänglichkeit des Menschen tritt an Kindern freilich noch stärker zu Tage als an Erwachsenen, gelten Kinder doch vielfach als Symbol neuer Chancen und der Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung der Welt. Da liegt es nahe, diese im jungen Menschen besonders augenscheinlich zu Tage tretende Möglichkeit eines Neuanfangs und die eigene Vorstellung von einer Veränderung der Welt zum Besseren miteinander zu verknüpfen – und genau in dieser Verknüpfung von Politik und Erziehung liegt Arendt zufolge der Fehler der progressive education. »Arendts Konzeption des kategorial Neuen schließt die Trennung von Politischem Handeln und Erziehung ein.« 7 Sie war sehr skeptisch gegenüber jeglicher Pädagogik, in der »Erziehung ein Mittel der Politik und politische Tätigkeit selbst als eine Form Erziehung verstanden wurde« (KE 257); mit beidem verbindet sich für sie ein Missverständnis eigener Art. Politik mit der Intention zu betreiben, seine Mitmenschen erziehen zu wollen, verkennt die Tatsache, dass wir es in der Politik immer mit bereits Erzogenen zu tun haben. Wer also politische Tätigkeit als Erziehung verstehe, der »gibt vor zu erziehen, wo man zwingen will und sich scheut, Gewalt anzuwenden« (KE 258) – und zerstört damit die mit jedem politischem Handeln notwendig einhergehende Freiheit. Wer in umgekehrter Manier nun Erziehung als Mittel der Politik versteht, macht es keineswegs besser: Wenn man es den Kindern, »die man zu Bürgern eines utopischen Morgen erziehen will« vorenthalten will, aus sich heraus und mit eigener Zielsetzung politisch initiativ zu werden, »schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand.« (Ebd.) Diese Form politisierter Erziehung ist laut Arendt sowohl vom utopischen Staatsdenken als auch von Rousseau her bekannt (vgl. KE 257) und steht völlig quer Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München 2006, im Folgenden zitiert als EU, hier 979. 7 Hellekamps, Krise der Erziehung, 415. 6
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
zu ihrem Politikverständnis. Nicht nur entlasten sich die Erwachsenen auf diese Art und Weise von den in ihrer eigenen Verantwortlichkeit liegenden politischen Problemen, sie instrumentalisieren die Kinder auch für die eigenen Vorstellungen eines politischen Neubeginns, anstatt diesen selbst umzusetzen: »Anstatt sich mit seinesgleichen zu einigen, die Anstrengung des Überzeugens auf sich zu nehmen und das Risiko zu laufen, das nicht leisten zu können, greift man diktatorial mit der absoluten Überlegenheit des Erwachsenen ein und versucht das Neue dadurch zustande zu bringen, daß man ein Fait accompli schafft, also so tut, als sei das Neue bereits da.« (KE 257 f.)
Wie grundsätzlich Arendt dafür eintrat, Erziehung nicht zum Vehikel eines politisch als richtig Erkannten zu machen, wird in besonders frappierender Weise an ihrem Beitrag zur Little-Rock-Kontroverse deutlich, als die Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit sich im Rahmen der Rassentrennungsdebatte auf die soeben für Schwarze geöffneten Schulen der amerikanischen Südstaaten richtete. Die Ereignisse empörten Arendt zutiefst: »Sind wir jetzt an den Punkt gekommen, wo es die Kinder sind, die aufgefordert werden, die Welt zu verändern oder zu verbessern?« 8 Arendt, Hannah: Little Rock. »Ketzerische Ansichten über die Negerfrage und equality«. In: Arendt, Hannah: Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. von Knott, Marie Luise, Berlin 1986, 95–117, im Folgenden zitiert als LR, hier 103. Hannah Arendt war der Auffassung, »daß hier Kindern – schwarzen und weißen – die Bewältigung eines Problems aufgebürdet wurde, das Erwachsene eingestandenermaßen seit Generationen nicht hatten lösen können« – womit tatsächlich in gewisser Weise eine Inanspruchnahme eigentlich schutzbedürftiger Kinder für die politischen Ziele der Erwachsenengeneration attestiert werden könnte. (LR 102) Allerdings war diese Kontroverse weit komplexer und das zugrunde liegende Problem lässt sich nicht auf Trennung von Erziehung und Politik reduzieren; vor allem ging es um Arendts Ablehnung der Verfahrensweise, ein Problem politisch-rechtlicher Ungleichheit auf dem Feld des Sozialen überwinden zu wollen – und hier wird die Angelegenheit denn auch wirklich problematisch. Ihrer Ansicht nach war die rechtliche Gleichstellung von Weißen und Schwarzen ein politisches Problem, während auf dem Feld des Sozialen Ungleichheit – im Unterschied zur rechtlichen Ungleichheit – weder vermeidlich noch in politisch legitim erscheinender Weise zu erreichen ist. Ihre Position muss schon in der Pointiertheit ihrer Äußerung als fragwürdig betrachtet werden: »Wie dem auch sei, Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist.« (LR 105) Zudem ist deutlich herausgearbeitet worden, dass Arendt hier das amerikanische Rassenproblem »durch eine Brille [besah], die für einen anderen Zusammenhang gemacht« war, nämlich den europäischen Antisemitismus und die Diskriminierung von Juden. (Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt a. M. 2006, 242, 237) Auch ihre im
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Politische Bildung statt politischer Erziehung
Wie wir gesehen haben, bedarf die Erziehung für Arendt eines Schutzraumes, der von der Welt der Politik und damit von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschirmt sein muss, um eine gedeihliche Entwicklung von Kindern gewährleisten zu können. Im Fall Little Rock war die notwendige Grenze zwischen Erziehungsraum und Öffentlichkeit empfindlich verletzt worden; schwarze Kinder wurden durch das steigende Medieninteresse aus der für sie so wichtigen Verborgenheit herausgerissen und fanden sich als Spielball eines politischen Konflikts ungeschützt den Gesetzen der politischen Öffentlichkeit ausgesetzt. Damit Schule eine die Kinder nicht überfordernde Entwicklung sicherstellen kann, muss jedoch nicht nur vermieden werden, dass sie wie im Fall Little Rock zum Austragungsort politischer Konflikte wird und so zog ein weiterer Aspekt Arendts Kritik auf sich. In Little Rock sollte eine bessere Welt »innerhalb der Welt der Kinder […] gleichsam im Modellmaßstab« (KE 259) in der Hoffnung errichtet werden, die weitere gesellschaftliche und politische Realität außerhalb der Schule werde sich in die gleiche Richtung fortentwickeln; es sollte eine Gesellschaftsreform auf dem Wege einer Schulreform bewerkstelligt werden – und dieser Punkt erschien problematisch auch unabhängig von Arendts Ansichten zu Diskriminierung in Recht und Gesellschaft, die damals für so erregte Debatten sorgten. Für Arendt lag etwas Naives in der Vorstellung, im Sinne der progressive education auf dem Wege einer Schulreform zu einer Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gelangen. Ein ähnlicher Gedanke lag in den 80er Jahren Lawrence Kohlbergs Konzept der Just-Community-Schools zugrunde und auch Hartmut von Hentig zielt hier in eine ähnliche Richtung, wenn er »Schule als polis« neu denken möchte. 9 Unabhängig davon, ob Arendts grundsätzliche KriSubtext mitschwingende Unterscheidung von Paria und Parvenu will auf den Zusammenhang der amerikanischen Rassenbeziehungen nicht recht passen, weshalb sie ihr Urteil in diesem Punkt auch partiell revidierte. Vgl. Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a. M. 1986, 429 ff., 436 f., ähnlich Benhabib, Die melancholische Denkerin, 238, 245 f. 9 Vgl. Hellekamps, Krise der Erziehung, 415; Hentig, Hartmut von: Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft. München, Wien 1993, 183 ff. sowie Sander, Wolfgang: Theorie der politischen Bildung: Geschichte – didaktische Konzeptionen – aktuelle Tendenzen und Probleme. In: Ders.: Handbuch Politische Bildung, Schwalbach 1997, 5–45, 39.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
tik an politisch inspirierten Schulreformen sich am Ende als tragfähig erweisen wird, so muss man Erwartungen an die Reichweite von Reformen dieser Art heute schon aus der Perspektive schulischer Praxiserfahrungen sicherlich relativieren: »Die Chancen, im Rahmen der Schule politisch zu handeln, sind begrenzt.« 10 – Für Arendt galt aber schon die Zielsetzung für sich genommen als in sich problematisch. Auch eine Reform der Schule am Vorbild der Politik wie Kohlberg und von Hentig sie anstreben, gefährdet in Arendts Sicht die Geborgenheit, welcher das Kind noch bedarf: »Aber genau die gleiche Zerstörung des eigentlichen Lebensraumes tritt überall dort ein, wo man versucht, aus Kindern selbst eine Art Welt zu errichten. Zwischen diesen Kindern bildet sich auch eine Art Öffentlichkeit, und ganz abgesehen davon, daß dies eine Art Scheinöffentlichkeit und das ganze Unternehmen eigentlich eine Art Betrug ist, liegt das Schädliche darin, daß Kinder, also Menschen, die im Werden sind und noch nicht sind, gezwungen werden, sich dem Licht einer Öffentlichkeit überhaupt zu exponieren.« (KE 267 f.)
Eine Schule am Vorbild des Politischen organisieren zu wollen ist also immer eine Illusion, denn »Schule [ist] […] keineswegs die Welt und darf auch nicht vorgeben, sie zu sein […].« (KE 269) Schule ist nicht Politik – und dies ist für Arendt eine Unterscheidung auf einer ganz fundamentalen, ja, auf einer ontologischen Ebene. Die Schüler würden in einer solchen Schule also nicht nur über die Situation getäuscht, in der sie sich befinden, sondern sie werden auch mit einer Situation konfrontiert, die für sie eine heillose Überforderung darstellen muss, da »Kinder Arendt zufolge noch nicht handeln können. Kinder sind im Sinn der Politikfähigkeit noch unfertig.« 11 Gordon bringt diese Ausführungen Arendts sogar in Zusammenhang mit der Debatte um ein etwaiges »Verschwinden der Kindheit« 12 . Detjen, Joachim: Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München 2007, 10. Detjen weist zudem darauf hin, dass der Gedanke einer Gerechten Schulgemeinschaft deutlich älter ist und sich bis zu den Philanthropisten der Aufklärungszeit zurückverfolgen lässt. Vgl. ebd. 11 Hellekamps, Krise der Erziehung, 416 12 Gordon, Mordechai: Hannah Arendt on Authority: Conservativism in Education Reconsidered In: Ders. (Hrsg.): Hannah Arendt and education. Colorado 2001, 37–67, 62 f. (Übers. R. T.) In eine entgegengesetzte Richtung argumentiert Gieseke, wenn er mit dem Hinweis auf das Verschwinden der Differenz zwischen Kindheit und Erwachsensein in der modernen Gesellschaft einen »Abschied von der Kindlichkeit des Kindes« und eine »entpädagogisierte Schule« einfordert. Vgl. Gieseke, Hermann: Das Ende der Erziehung. Neue Chancen für Schule und Familie. Stuttgart 2 1986, 13 ff., 111 ff. 10
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Politische Bildung statt politischer Erziehung
1.1.2. Grenzen von Arendts Erziehungsbegriff In Deutschland ist bereits in den 1980er Jahren die Frage gestellt worden, inwieweit Formen der politischen Erziehung mit dem in Deutschland grundgesetzlich garantierten Recht auf Erziehung vereinbar sind. 13 Auch Arendts Position zielt hier in eine ähnliche Richtung. Da sie Schule verstand als »die Institution, die wir speziell für die Heranwachsenden zwischen die Privatsphäre des Elternhauses und die wirkliche Welt schieben, um den Übergang von der Familie zur Welt überhaupt möglich zu machen« (KE 269), warnte sie auch vor dem für die Kinder verwirrenden Konflikt, der sich durch divergierende Ansprüche von Schule und Elternhaus aus dieser Zwischenposition der Schule ergeben könne. Ein solcher Konflikt »zwischen Familienvorurteil und der Praxis in der Schule zerstört mit einem Schlag sowohl die Autorität der Lehrer als auch die der Eltern und ersetzt sie durch die Herrschaft der öffentlichen Meinung unter Kindern, die weder die Fähigkeit noch das Recht haben, eine eigene öffentliche Meinung herauszubilden.« (LR 112) 14
Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussion aufzunehmen und detailliert nachzuverfolgen, aber wir können feststellen, dass in Arendts Denken Schule, Erziehung und Politik in einer gewissen Spannung zueinander stehen, was einem von Arendt ausgehenden Begriff Politischer Bildung mindestens gewisse Grenzen setzen würde, wollte man sich auf reine Arendt-Philologie zu diesem Bereich beschränken. Es soll uns deshalb auch insgesamt nicht darum gehen, Arendts Erziehungsbegriff einer vollständigen systematischen Prüfung zu unterziehen, auch wenn hier sicherlich in vielerlei Hinsicht Kritik angebracht wäre. 15 Einige der Fragen, die Arendt in ihrem Erziehungsvortrag offenlässt, können hier jedoch nicht unbeleuchtet bleiben. 13 Vgl. Weiler, Hagen: Politische Erziehung oder sozialwissenschaftlicher Unterricht. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1985, Bd. I, 11. 14 Hier in der Übersetzung von Hans Günther Holl in Young-Bruehl: Leben, Werk und Zeit, 428. 15 Vgl. Hierzu Hellekamps, Krise der Erziehung, 420 ff. Hellekamps stellt vor allem infrage, inwieweit es schlüssig ist, wenn Arendt Kindheit als Schutzraum begreifen will, diese aber selbst kaum als Lebensphase eigenen Rechts versteht, sondern als Durchgangsstadium zum Status des Erwachsenseins – das dann allererst das Leben in der politischen Öffentlichkeit ermöglicht. Dies scheint zumindest in einer gewissen Spannung zur Vorstellung kindlicher Natalität zu stehen, bliebe Natalität so doch den Erwachsenen vorbehalten. Zudem bleibt offen, wie sich Kindheit abseits der Öffent-
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
Aufgrund der von Arendt selbst beschriebenen Zwischenposition der Schule ist es zunächst einmal fraglich, ob sich die Schule derart klar als nicht-öffentlicher Raum verstehen lässt, wie Arendt es tut. Die Dichotomie von öffentlichem Leben auf der einen und privatem oder gesellschaftlichem Leben auf der anderen Seite erweist sich bei ihrer Anwendung auf die Schule letztlich als zu statisch und Arendt verstrickt sich bei ihren Beispielen von öffentlichem Verkehr, Ferienorten und Hotelbesuchen selbst in Argumentationen, die der Klarheit ihrer Unterscheidung von öffentlich und gesellschaftlich eher einen Bärendienst erweisen. (vgl. LR 106 f.) 16 Zweifelsohne ist eine strukturell begründete Unterscheidung von politischer Sphäre und Bereich der Erziehung sinnvoll, fraglich bleibt jedoch, ob diese sich im Kern auf Arendts Gegenüberstellung öffentlich – gesellschaftlich zurückführen lässt. Arendt verkennt hier, dass – im Gegensatz zum Gesellschaftlichen, das sich als »jenes sonderbare, irgendwie zwitterhafte Reich zwischen dem Politischen und dem Privaten« (LR 104) herausgebildet hat – dem Bereich der Erziehung ein dynamisches Element eigentümlich ist: Anders als die Gesellschaft, in der »seit Beginn der Neuzeit die meisten Menschen den größten Teil ihres Lebens verbringen« (LR 104), liegt der Erziehungsbereich nicht einfach als ein möglicher Verbleibs- oder Verweilbereich zwischen Privatsphäre und politischer Öffentlichkeit, sondern ist auf die Ermöglichung eines Übergangs zwischen beiden ausgerichtet. Erziehung ist vor-, nicht apolitisch. Freilich brauchen Kinder einen Schonraum, der ihnen die Konfrontation mit Härten der Welt erspart, aber es darf bezweifelt werden, ob von diesem Erfordernis ein gerader Weg zu Arendts Vorstellung führt, Schule und Politik seien sich wesensmäßig entgegengesetzt. Die Schule ermöglicht das Einüben von Politik ja gerade deshalb, weil die Schule ein Schonraum ist, gerade weil sie (noch) nicht lichkeit genau gestalten soll, ohne sich allzu sehr der Gestalt des antiken oikos anzugleichen. 16 Seyla Benhabib hält in diesem Zusammenhang – auch unter explizitem Verweis auf Little Rock – Arendts Unterscheidung von Politischem und Gesellschaftlichem insgesamt für unhaltbar. Vgl. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 220 ff., 225. Gegen die Schärfe von Arendts Unterscheidung von Politischem und Sozialem spricht zudem, dass sie in einer Diskussion mit Freunden zugab, sich selbst bisweilen zu fragen, wie man sich eine Praxis vorzustellen habe, der jeglicher Bezug zum Sozialen abgehe. Vgl. Arendt, Hannah: On Hannah Arendt. In: Hill, Melvin A.: Hannah Arendt: The Recovery of the public World. New York 1979, 301–340, 316.
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Politische Bildung statt politischer Erziehung
Politik ist. Wollte man diesen Anspruch an schulische Praxis abweisen, so könnte diese kaum leisten, was Arendt selbst von ihr verlangt und was aufgrund ihrer Zwischenstellung zwischen privatem und öffentlichem Raum Ziel von Schule sein muss: Die Befähigung zu Politik, zum Handeln in Freiheit – da andernfalls auch auf diese Weise »den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand« (KE 258) geschlagen würde. In dem von Arendt konzipierten pädagogischen Kontext fehlt jedoch sehr weitgehend der Gedanke der Freiheit oder der Befähigung zur Freiheit, dafür ist umso mehr von der Autorität des Lehrers und von Kenntnissen der Tradition die Rede – und von der Krise, die beides in der Moderne befallen hat und die Erziehung lähmt. »Müssen Kinder Autorität und Tradition (in einem nicht näher bestimmten Sinn) anerkennen lernen, um später Verantwortung für die Welt übernehmen und damit selbst erziehen zu können?« 17 – Es spricht einiges dafür, dass Arendt dies bejahen würde und auch Gordons Lesart des Textes stützt dieses Verständnis von Arendts Erziehungsbegriff. 18 Arendt zufolge ist es die Aufgabe der Erwachsenengeneration, die Kinder »für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten« (KE 276) – und sicher gehört auch in dieser Perspektive die Vermittlung eines gewissen, auch reproduzierbaren Wissensbestandes zu den Aufgaben von Schule. Dennoch ist seit der »didaktischen Wende« 19 in der Politischen Bildung das Kanondenken immer mehr aus der Diskussion verschwunden und auch Arendt sieht ein Problem von Erziehung in der Moderne ja gerade Hellekamps, Krise der Erziehung, 422. »What is missing from the conception of democratic education of many pedagogues is the necessity of grounding critique and reform on a deep familiarity with the past and tradition. […] Children will not be able to be revlutionary and creative unless educators first introduce them to the values and ideas of the past.« Gordon, Arendt on Authority, 63. 19 Vgl. Der Begriff der didaktischen Wende geht auf K. G. Fischer zurück: »Man muss diese didaktische Wende im Zusammenhang mit der – geisteswissenschaftlich-hermeneutischen – Allgemeinen Didaktik sehen und verstehen; die von ihr bereitgestellten Begriffe – das Elementare, das Fundamentale, das Exemplarische usw. – konnten in die Reflexion eingebracht werden.« Gagel zufolge wurde die Didaktik damit von einer auf Methodik beschränkten Hilfsdisziplin zu einer »Theorie der Bildungsinhalte«. Fischer, Kurt Gerhard: Einführung in die politische Bildung. Ein Studienbuch über den Diskussions- und Problemstand der Politischen Bildung in der Gegenwart. Stuttgart 3 1973, 27; Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989, 132 ff. Vgl. dazu Sander, Theorie der politischen Bildung 12 ff. 17 18
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
darin, dass »sie in einer Welt vonstatten geht, die weder durch Autorität strukturiert noch durch Tradition gehalten ist« (KE 275) – ist doch die von ihr konstatierte Erziehungskrise gerade nur ein Erscheinungsbereich einer allgemeinen Krise der Tradition, welche die Moderne als Ganze erfasst hat. (vgl. KE 274) Nun sind weder die Probleme moderner Gemeinwesen noch gar die krisenhafte Situation der Moderne als solcher – und dieser Hinweis Arendts bleibt ohne Frage sinnvoll – (allein) auf dem Wege der Erziehung zu beheben. Dennoch muss sich Arendt fragen lassen, warum im Bereich von Schule und Erziehung gerade das von Bedeutung sein soll, was im Bereich des politischen Denkens seine Bedeutung eingebüßt hat. Wenn Hannah Arendt in der politischen Sphäre davon ausgeht, dass wir Schlussfolgerungen aus dem für die Moderne prägenden Traditionsbruch und dem mit diesem einhergehenden Verlust von Autorität ziehen müssen, scheint sie aus dieser für den Menschen grundlegend neuen Situation keine Konsequenzen für den Bereich der Erziehung ziehen zu wollen. Obwohl sie es nicht akzeptiert, wenn Denken unreflektiert von Autorität vorstrukturiert ist, gilt diese Anforderung für die Erziehung offenkundig nicht. Diese extrem unterschiedliche Betrachtung von Politik und Erziehung ist als Implikation der Gegenüberstellung von Politik und Gesellschaft aber nur wenig plausibel; die starke, kaum kritisch eingehegte Position, die der Autoritätsbegriff in Arendts Erziehungsvorstellung einnimmt, ist mit einem modernen Erziehungsverständnis kaum hinnehmbar. Es bleibt die Frage: »Wie können Kinder ein reflektiertes, urteilendes Verhältnis zu Tradition und Autorität gewinnen?« 20 Dies kann nicht durch bloße Traditionsvermittlung allein gelingen. Arendt verzichtet in ihren Reflexionen über Erziehung auf eine Berücksichtigung der Genese von Freiheitsfähigkeiten, ohne die das von ihr vorgestellte Erziehungsmodell jedoch auf ein Hineinleben der Kinder in die Welt der Erwachsenen hinausläuft. Und so lässt uns Arendt zurück, ohne eine konkretere Antwort auf die Frage zu geben, die für uns als politische Bildner und Didaktiker von existentiellem Interesse sein muss: »How can teachers encourage students to be critical and innovative readers and learners?« 21
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Hellekamps, Krise der Erziehung, 422, Hervorhebung R. T. Gordon, Arendt on Authority, 59, Hervorhebung R. T.
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Politische Bildung statt politischer Erziehung
1.1.3. Bildung statt Erziehung Wie soll ein von Arendt ausgehender Ansatz politischer Bildung nun vorgehen, wo soll er anschließen? Wir werden den Versuch unternehmen, mit Arendt über Arendt hinaus zu gehen, um die Leerstellen in ihrem Didaktikverständnis so gut als möglich zu füllen. In diesem Zusammenhang ist auf eine weitere Unterscheidung hinzuweisen, welche Arendt in ihrem Erziehungsvortrag nur erwähnt, ohne sie in ihren Implikationen für die Didaktik weiterzuverfolgen: »Man kann nicht erziehen, ohne zugleich zu lehren; eine Erziehung ohne lernen ist leer und degeneriert daher besonders leicht in ein moralisch-pathetisches Gerede. Aber man kann sehr wohl lehren, ohne zu erziehen. Und man kann bis ins spätere Alter lernen, ohne darum erzogen zu werden.« (KE 276)
Diese Unterscheidung verschiebt das Problem auf eine andere Ebene, da das im restlichen Erziehungsvortrag so zentrale Moment der Gegenüberstellung von Kindern und Erwachsenen umgangen wird zugunsten der Unterscheidung zwischen dem Begriffspaar »Lehren/ Lernen« auf der einen und »Erziehen« auf der anderen Seite. Dadurch wird der Blick auf etwas freigegeben, was der Vortrag nicht mitreflektiert hatte: den Unterschied zwischen Erziehung und Bildung. Es sind verschiedene Gründe denkbar dafür, dass Arendt den Bildungsbegriff im Kontext ihrer Ausführungen zu Schule und Erziehung völlig vermied. Zum einen stand ihr eine amerikanische Krise vor Augen, als sie den Text verfasste und der englische Begriff education lässt die Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung nicht recht zu. 22 Zudem taucht der Begriff Bildung in ihren Schriften Dass Arendt zwischen Erziehung und Bildung nicht allzu scharf unterschied, legt auch ihr Text über Aufklärung und Judenfrage in gewisser Weise nahe; beide Begriffe werden hier in einem Atemzug genannt. Der Text legt aber zudem auch die Vermutung nahe, dass Arendt den Bildungsbegriff historisch herleitete und dieser für sie möglicherweise im für sie ambivalenten Kontext jüdischer Assimilation seit der Aufklärung verortet blieb. Besonders Herder spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle: »War die Judenfrage und ihre Diskussion noch bei Lessing und Dohm wesentlich geleitet von der Religionsfrage und ihrer Tolerierung, so wird für Herder die Assimilation zu einer Frage der Emanzipation und damit zu einer Staatsfrage. […] Selbst die Tatsache, daß die Juden trotz aller Unterdrückungen in der fremden Welt nicht untergingen, sondern sich, wenn auch parasitär, anzupassen suchten, versteht er aus der Geschichte ihres Volkes. Es gilt jetzt, dieses Parasitäre der jüdischen Nation produktiv zu machen. Wieweit solche Assimilation möglich ist, […] ist eine Frage der Erziehung und Bildung«. Arendt zufolge entsteht die Judenfrage erst vor dem Hintergrund der Aufklärung; »die nichtjüdische Welt hat sie gestellt. Ihre Formulierun-
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
der 1950er Jahre vor allem im Zusammenhang des »Bildungsphilistertums« auf, das sie für einen »Ausverkauf der […] Bildungswerte« verantwortlich macht: »Der Bildungphilister mag ein spezifisch deutscher Typus sein, die Vergesellschaftung der Kultur, ihre Entwertung in gesellschaftlichen Werten, ist ein allgemein modernes Phänomen, und dem Bildungsphilister entspricht in England der Snob, in Amerika der ›high-brow‹-Intellektuelle und in Frankreich, wo Rousseau in den Salons des 18. Jahrhunderts das Phänomen zum ersten Mal entdeckte, vielleicht der ›bien-pesant‹.« 23
Diese Art des Umgangs mit Kulturgütern galt Arendt neben dem »Kulturschwund in der Massengesellschaft« als einer der »beiden kulturzerstörerischen Abläufe« der modernen Welt und damit sicher als nicht weniger problematisch. (KuP 280 f.). Damit hatte sie Bildung als Begriff in einem Kontext verortet, welcher mit der wichtigen Rolle für die Entwicklung des weltsorgenden Bürgers kaum vereinbar erscheinen konnte. In der Theorie der Politischen Bildung hingegen hat sich die Unterscheidung zwischen politischer Erziehung und politischer Bildung inzwischen etabliert. 24 gen und ihre Antworten haben das Verhalten der Juden, haben ihre Assimilation bestimmt.« Was mit dem aufklärerischen Gleichheitspostulat und der Forderung nach Toleranz begann, hat die Juden nach Arendt in die Situation gebracht, sich der Mehrheitsgesellschaft zunehmend anpassen zu müssen. Die Ambivalenz, welche gerade der Bildungsbegriff bei Herder für sie einnimmt, mag sie durchaus von einem positiv konnotierten Gebrauch des Begriffes abgehalten haben, da er sie von ihrer eigenen Tradition abzuschneiden und zur Assimilation zu zwingen scheint: »So werden die Juden die Geschichtslosen der Geschichte. […] Bildung ist die einzige Möglichkeit, diese Gegenwart zu überstehen. Ist Bildung vor allem Verstehen der Vergangenheit, so ist der ›gebildete‹ Jude angewiesen auf eine fremde Vergangenheit.« Arendt, Hannah: Aufklärung und Judenfrage. In: Dies: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M. 1976, 108–126, im Folgenden zitiert als AuJ, hier 120, 126, vgl. 108, 121 ff. Heuer zufolge ist in diesem Zusammenhang auch der »Ursprung für Arendts strikte Trennung von Politik und Gesellschaft, politischer Gleichheit und gesellschaftlicher Ungleichheit« zu suchen. Heuer, Wolfgang: Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts. Berlin 1992, 69. 23 Arendt, Hannah: Kultur und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 277–302. Im Folgenden zitiert als KuP, hier 281, 277. 24 In diesem Zusammenhang ist freilich Sibylle Reinhardt zuzustimmen, welche geltend macht, dass die Trennung von politischer Bildung eher eine analytische denn eine aus der Praxis gewonnene Unterscheidung ist. Vgl. Reinhardt, Sibylle: Bildung zur Solidarität. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 288–302, 298.
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Politische Bildung statt politischer Erziehung
Politische Erziehung ereignet sich im Medium des sozialen Lernens und meint im Kern, dass pädagogisch intendierte soziale Interaktionsformen auf ein Gesamtkonzept politischen Lernens bezogen werden. 25 Man kann hier zwischen staatsbürgerlicher Erziehung und Sozialerziehung unterscheiden. Erstere hat auch Arendt im Blick, wenn sie von der Intention einer Regierung schreibt, »die Kinder auf ihre künftigen Pflichten als Staatsbürger vorzubereiten«. (LR 111) Hier gerät also zuallererst der Staat und sein gesicherter Fortbestand in dem nüchternen Sinne in den Blick, dass die zukünftigen Staatsbürger über wichtige staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in Kenntnis gesetzt werden. Demgegenüber zielt Sozialerziehung auf die Ausbildung und Kultivierung von Verhaltensdispositionen und Grundhaltungen, die für ein menschliches Zusammenleben im sozialen Kontext ebenso als Voraussetzung betrachtet werden wie für die Fähigkeit des Umgangs mit gesellschaftlichen Gegebenheiten und Problemen. Sie ist damit eher ein Thema der Allgemeinen oder der Schul-Pädagogik als der Politischen Bildung. Beides bezieht sich zudem weniger auf den Bildungsauftrag der Schule, als vielmehr auf ihre Integrationsfunktion. Im Unterschied zu diesen zum Umfeld der politischen Bildung nur im weiteren Sinne gehörenden Formen der Erziehung manifestiert sich politische Bildung im engeren Sinne in Sprache und Denken, weniger in der einfachen Kenntnis von Tatsachen oder erwünschten Verhaltensdispositionen. Ein solches, auf den Neuhumanismus zurückgehendes Bildungsverständnis gründet auf der Vorstellung eines BildungswisDass diese Unterscheidung nicht nur für unseren Zusammenhang von einiger Wichtigkeit ist, sondern elementar für das Verständnis politischer Bildung in der Schule überhaupt, ist eine Position, die wir nicht zuletzt bei Hermann Giesecke formuliert finden, der sich mit seinem Motto »Bildung statt Erziehung« massiv gegen einen Erziehungsauftrag der Schule wendet: »Unterricht muß jeglichen ›Erziehungsauftrag‹ zurückweisen, der nicht aus den Bedingungen des Unterrichts notwendigerweise erwächst. Die Schule ist nicht der Ort eines allgemeinen ›sozialen Lernens‹ – dafür sind die Familie und die Gleichaltrigen da –, sondern der Ort, wo man lernt, gemeinsam mit anderen geistige Arbeit – und nicht irgend etwas – zu betreiben.« Giesecke, Das Ende der Erziehung, 114. Darüber hinaus ist in rechtlicher Hinsicht nur Unterricht als schulische Aufgabe klar umrissen, während die gesetzliche Regelung einer vermeintlichen Erziehungsaufgabe öffentlicher Schulen rechtlich einigermaßen vage erscheint. Vgl. Weiler, Erziehung ohne Indoktrination, 548. 25 Vgl. Sander, Wolfgang: Zur Geschichte und Theorie der politischen Bildung. Allgemeinbildung und fächerübergreifendes Lernen in der Schule. Marburg 1989, 186.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
sens, dessen Gegenstände epochenüberdauernde Gültigkeit und persönlichkeitsformende Kraft besitzen sollen. 26 Der hier zu verhandelnde Bildungsbegriff soll sich an diesem humanistischen, sich von Erziehung absetzenden und diese überschreitenden Verständnis von Bildung orientieren, und in seinem philosophischen Kontext im nächsten Kapitel noch genauer bestimmt werden. Vorläufig können wir festhalten, dass Arendt im Sinne dieser Unterscheidung kaum als politische Erzieherin gelten kann. Es ist deutlich geworden, dass Hannah Arendt selbst in ihrer politischen Philosophie nicht explizit eine didaktische Position angelegt hat, geschweige denn pädagogische Zielsetzungen mit dieser verband. Wohl aber haben wir Anlass zu der Annahme, dass ihr Wirken in einem Kontext stand, der das Üben politischen Denkens systematisch zu reflektieren suchte, womit wir zweifelsohne didaktisches Gebiet betreten. Im Vorwort zu »Zwischen Vergangenheit und Zukunft« bezeichnet sie ihr eigenes Vorgehen als »Übungen im politischen Denken«, deren »einziges Ziel ist, Erfahrung darin zu erwerben, wie man denkt.« 27 Diesen Prozess zu reflektieren und didaktisch zu beleuchten in der Absicht, zu einem besseren Verständnis von Prozessen des Lernens und Lehrens zu gelangen, schließt damit direkt an Hannah Arendts eigenes Vorgehen an. Die Suche nach einer solchen Methode politischen Denkens muss als Kernbereich politischer Bildung und Didaktik gelten. Arendt erweist sich folglich nicht als politische Erzieherin, wohl aber als lohnende Ansprechpartnerin dessen, der sich als politischer Bildner versteht.
1.2. Werte in der politischen Bildung: Denken ohne Geländer 1.2.1. Ansätze normativer Orientierung Der Bildungsbegriff ist seit jeher mit einer normativen Perspektive verbunden 28 und in der Gegenwart ist sogar ein zunehmendes InteDie Darstellung zu Formen politischer Erziehung und Bildung folgt recht weitgehend der Arbeit Joachim Detjens. Vgl. Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 3 f. 27 Arendt, Hannah: Vorwort. Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 7–19. Im Folgenden zitiert als ZVZ, hier 18. 28 Diesen Umstand verdeutlicht z. B. die humboldtsche Aussage, dass »wenn wir aber 26
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Werte in der politischen Bildung: Denken ohne Geländer
resse an dieser Perspektive für die pädagogische Praxis erkennbar; Werteerziehung hat bildungspolitisch immer noch und immer wieder Konjunktur. 29 Diese Entwicklung nahm ihren Anfang bereits in der Grundwertedebatte der 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts und erhielt neuen Auftrieb im Zusammenhang der Multikulturalismusdiskussion der 1990er Jahre, in der sich die Frage nach einheitlichen und verbindlichen ethischen Grundlagen in pluralistisch verfassten Gesellschaften stellte. Bestimmende Bezugspunkte dieser Diskussionen waren zum einen in entwicklungspsychologischer Hinsicht Lawrence Kohlbergs Untersuchungen zur Theorie der Moralentwicklung 30 , die in Deutschland seit den 1980er Jahren zunehmend rezipiert wurden und die moralpsychologische Forschung seitdem prägen, sowie in sozialphilosophischer Perspektive die Kommunitarismusdebatte. 31 Die verschiedenen Konzepte zur Norm- oder Wertorientierung haben in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften ein nahezu unüberschaubares Ausmaß angenommen, sodass hier nur holzschnittin unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit […] die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt.« Wilhelm v. Humboldt: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe, Bd. VII, 1, S. 30, Hervorh. R. T. 29 Vgl. Massing, Peter: Werteerziehung und Schulsystem. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 163–183, 163 ff. 30 Vgl. Kohlberg, Lawrence: Moralische Entwicklung und demokratische Erziehung. In: Lind, Georg und Raschert, Jürgen: Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg. Weinheim und Basel 1987, 25–43. Die Bedeutung der kohlbergschen Theorie für die politische Bildung hebt vor allem Sybille Reinhardt hervor. Vgl. Reinhardt, Sybille: Moral- und Werteerziehung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, 338–348. Kritisch zu einer Anwendung Kohlbergs für die politische Bildung dagegen Sutor, Bernhard: Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft. Ethik als Dimension politischer Bildung. In: Ders.: Politische Bildung und Praktische Philosophie, 317–328, 321, 324 ff. sowie Ders.: Politikunterricht und moralische Erziehung. Zum Verhältnis von politischer Bildung und politischer Ethik. Ebd., 253–273; sowie Detjen, Joachim: Werteerziehung im Unterricht mit Lawrence Kohlberg? Skeptische Anmerkungen zum Einsatz eines Klassikers der Moralpsychologie in der Politischen Bildung. In: Breit/ Schiele, Werte in der politischen Bildung, 303–335. Ausführlicher zu Kohlberg und zur Kritik an seinem Ansatz Weiler, Hagen: Ethisches Urteilen oder Erziehung zur Moral? Opladen 1992, 2 Bde., Bd. 2, 338–522. 31 Vgl. Klein, Ansgar und Speth, Rudorf: Demokratische Grundwerte in der pluralisierten Gesellschaft. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 30–55, 34 ff. Zur Kommunitarismusdebatte vgl. Honneth, Axel: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1993, 7–17; sowie ebenda den Beitrag von Rainer Forst.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
artig ein erster Überblick skizziert werden kann. Die jüngeren, auf normative Orientierung zielenden Ansätze lassen sich zu diesem Zweck mit Jürgen Rekus in bildungstheoretisch, organisationstheoretisch und erziehungstheoretisch orientierte Ansätze unterscheiden. 32 Steht diese Unterscheidung auch in gewisser Weise quer zur benannten Unterscheidung in politische Erziehung und politische Bildung, so lässt sich an ihr doch verdeutlichen, dass wir es in der konkreten Praxis mit drei unterschiedlichen Stoßrichtungen zu tun haben, welche in Absicht auf normative Orientierung eingeschlagen werden können. So basiert der bildungstheoretische Ansatz in der Folge von Klafki auf der Annahme von Bildungsgegenständen, um ausgehend von klassischen Positionen und Problemen der philosophisch-ethischen Tradition oder durch die Vermittlung von bestimmten, als kultureller Konsens angenommenen Werten normative Orientierung zu ermöglichen. 33 Demgegenüber ist der Grundgedanke der organisationstheoretischen Ansätze, moralisches Handeln auf dem Wege der Schüleraktivität zu stimulieren, wie dies in der Tradition der Landerziehungsheimbewegung im Rahmen sozialer Dienste oder dem sozialen Lernen im Rahmen einer demokratischen Schulstruktur wie in KohlEs sei an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen, dass Erziehungs- und Bildungswissenschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchaus mit sich gerungen haben, nicht jegliche Form normativer Orientierungsangebote für reaktionär oder mit dem Pluralismusgebot der Schule grundsätzlich für unvereinbar zu halten. Vgl. dazu die Darstellung bei Rekus, Jürgen: Bildung und Moral. Zur Einheit von Rationalität und Moralität in Schule und Unterricht. Weinheim und München 1993, 135 ff.; zur Einteilung der Konzepte 137 f. Eine alternative Einteilung, welche von der Wertklärung einen moralisch-kognitiven, auf Urteilsbildung zielenden Ansatz und eine auf Empathieförderung angelegte Perspektive unterscheidet und die »eine ausgezeichnete Basis für einen politmoralischen Unterricht« bildet, findet sich bei Schreiner, Günter: Zum Verhältnis von moralischer Erziehung und politischer Bildung. In: Breit, Gotthard und Schiele, Siegfried (Hrsg.): Grundfragen und Praxisprobleme der politischen Bildung. Bonn 1992, 473–499, 498. 33 Freilich ist die Art und Weise, in der Rekus Philosophie- und Ethikunterricht mit Wertvermittlung gleichermaßen unter der Überschrift der bildungstheoretischen Ansätze zusammenfasst, in der Sache inakzeptabel, was hier aber nicht ausführlich diskutiert werden kann. (Vgl. Rekus, Bildung und Moral, 144 ff.) Sowohl die geisteswissenschaftliche Didaktik im Allgemeinen als auch die Philosophiedidaktik im Besonderen werden in Rekus’ Darstellung sicherlich nur reduziert wahrgenommen, was der Wahrnehmung seines von Herbart und Petzelt ausgehenden, erziehungswissenschaftlichen Ansatzes zugute kommt. 32
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Werte in der politischen Bildung: Denken ohne Geländer
bergs just-community-schools anvisiert wurde. Kaum ein Beitrag, der sich mit der Förderung der ethischen Entwicklung von Schülern befasst, kommt ohne den Hinweis aus, dass sich Moral- oder Werteerziehung in der Schulkultur niederschlagen müsse, um erfolgreich zu sein. Die von Rekus etwas irreführend als erziehungstheoretisch bezeichneten Ansätze zeichnen sich im Unterschied zu den beiden anderen dadurch aus, dass sie von Werthaltungen der Schüler ausgehen und auf dem Wege des kommunikativen Umgangs mit der moralischen Dimension sozialen Zusammenlebens Orientierung im Handeln erreichen wollen. Neben dem englischen »Lifeline-Projekt« kann hier das Verfahren der »Wertklärung« genannt werden. 34 Mit Blick auf die jeweilige Verfahrensweise ließe sich ebenso gut von gegenstandsorientierten, handlungsorientierten und schülerorientierten Konzepten sprechen. Wenngleich Rekus die Möglichkeiten von Ethik- und Philosophieunterricht sicher unterschätzt, so ist ihm in seiner Einschätzung, dass alle drei Ansätze für sich genommen mit gewissen Problemen behaftet sind, wohl zuzustimmen: Während eine bloße Wertvermittlung mit ihrem stark affirmativen Charakter letztlich auf die Übernahme vorgegebener Werte hinauslaufen und damit die Selbstständigkeit des Urteils der Edukanden vernachlässigen muss, gehen die wertklärenden Ansätze andersherum so stark vom Schüler aus, dass sie sich dem Vorwurf des ethischen Relativismus aussetzen. 35 Die handlungsorientierten Ansätze wollen dem Problem der Wertindoktrination auf dem Wege der Handlungsorientierung entgehen, haben daraufhin aber mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die mit dem sozialen Handlungsprozess verbundene Ebene ethischpolitischer Reflexion auf den etwas unbestimmten Wert der Gerechtigkeit zu reduzieren und damit gewissermaßen moralisches Handeln auf »Fair-Play« zu reduzieren. 36 Dies ist also das zu bestellende Problemfeld für denjenigen, der im Begriff ist, sich mit Wert- oder Normenorientierung auseinandersetzen – und an einer solchen Orientierung mitzuarbeiten ist ganz ohne Frage eine Aufgabe der politischen Bildung. Die Methode der Wertklärung ist auch als praktische Perspektive politischer Didaktik im Gespräch; vgl. Weißeno, Georg: Werteklärung – ein neues Konzept für den Politikunterricht. Interpretation einer Wertediskussion. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 336–353. 35 Vgl. Rekus, Bildung und Moral, 153, 173. 36 Rekus, Bildung und Moral, 163 ff. 34
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
1.2.2. Werteordnung und politische Bildung Auch die politische Bildung hat in ihrer Geschichte stets eine normative Komponente gehabt und diese Komponente wird seit der Aufklärung von allen Theoretikern der politischen Bildung reflektiert; ein Umstand, der besonders bei Rousseau in seinem Erziehungsroman Emile an Bedeutung gewinnt. Dort heißt es: »Nachdem sich Emile in seinen physischen Beziehungen zu den anderen Wesen, in seinen moralischen zu den anderen Menschen betrachtet hat, muss er sich noch in seinen bürgerlichen Beziehungen zu seinen Mitmenschen betrachten« 37 . Die moralische Bildung gehört hier offenbar als eine Art Vorstufe zur Entwicklung eines politischen Selbstverständnisses hinzu und es ist klar, dass dies Rousseaus Vorstellung der Notwendigkeit von Homogenität im Volkskörper geschuldet ist, ohne die er die einheitliche Bildung des Gemeinwillens gefährdet sah. Rousseau gilt seitdem als Klassiker eines Denkens, welches Politik und Bildung verbinden will und dabei für eine Politik eintritt, die sich als von der Moral nicht vollends losgelöst versteht. Der grundlegende Gedanke, »dass die Freiheit des Gemeinwesens an die Tugend seiner Bürger […] geknüpft ist«, reicht freilich bis in die antike politische Philosophie zurück. 38 Auch für die heutige Zeit wird für die politische Bildung von vielen Theoretikern gefordert, diese unter Bezugnahme auf die Diskurse ethischer Theoriebildung zu fundieren. Das erscheint folgerichtig vor dem Hintergrund, dass eine »demokratische Gesellschaft in hohem Maße auf demokratieförderliche kognitive, normative und handlungsleitende Bewußtseinsinhalte der Gesellschaftsmitglieder angewiesen ist.« 39 Auch ergibt sich in der Moderne für die politische Bildung offensichtlich das Problem, dass die von Rousseau noch für politische Gemeinwesen angenommene Homogenität in unseren heutigen, pluralistisch verfassten Gesellschaften weder als gegeben noch als erstrebenswert gelten kann. Eine Werte- oder Moralerziehung, die den Edukanden mit gesellschaftlich anerkannten Normen und Werten Rousseau, Jean-Jacques: Emile. Paderborn 1998, 501. Münkler, Herfried/Krause, Skadi: Sozio-moralische Grundlagen der Demokratie. In: Breit, Gotthard und Schiele, Siegfried (Hrsg.): Demokratie-Lernen als Aufgabe der politischen Bildung. Schwalbach 2002, 223–240, 223. 39 Greven, Michael zitiert bei Reinhardt, Moral- und Werteerziehung, 338. 37 38
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ausstattet, um ihn auf seine Rolle als Bürger vorzubereiten, ist heute daher sicher keine Option mehr. Nicht nur wäre dies eine Reduktion von Schule und Unterricht auf ihre Integrationsfunktion. 40 Es mangelt in der Moderne vor allem an einer verbindlichen normativen Grundlage, welche einem solchen Verfahren zugrunde gelegt werden könnte. 41 Wollte man diesem Zustand begegnen, indem man politische Bildung als eine Art »Feuerwehr« gegen den vorgeblichen »Werteverlust« westlicher Gesellschaften begreifen würde, so wäre dies wohl ein Missverständnis. 42 Werteerziehung als Reaktion auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Werteverfall zu verstehen, muss in der Tat Anlass zu einigem Unbehagen geben. 43 Trotz aller Notwendigkeit, einen Beitrag zur normativen Orientierungsfähigkeit der Edukanden zu gewährleisten, »kann die politische Bildung keine Werte produzieren.« 44 Auch die politische BilVgl. Rekus, Bildung und Moral, 23 f. Bernhard Sutor hat sich in diesem Zusammenhang vielfach für die Formulierung eines »am Verfassungskern orientierten Minimalkonsenses« stark gemacht, der »zwar nicht zwingend abgeleitet, aber interpretierend gewonnen und konsensfähig formuliert werden« könne: »Jeder, der politische Bildung meint, kann folgender Zielvorstellung zustimmen: Politische Bildung soll die Fähigkeit und Bereitschaft vermitteln zu politischer Beteiligung durch möglichst unvoreingenommene Information, gewissenhafte Urteilsbildung und verantwortliche Entscheidung, die sich kritisch orientiert an den Grundnormen der Verfassung.« (Sutor, Bernhard: Verfassung und Minimalkonsens – Die Rolle des Grundgesetzes im Streit um die politische Bildung. In: Ders.: Politische Bildung und Praktische Philosophie. Ausgewählte Beiträge zur politischen Bildung. Paderborn 2005, 67–81, 67, 73, 81, vgl. 76.) Sutor zeigt sich der Problematik bewusst, dass man nicht von mehr als einer »Orientierung an der Verfassung« sprechen könne, weil man diese »als Rechtsdokument nicht überstrapazieren« dürfe. (Sutor, Bernhard: Erziehungsprogramm oder Rechtsrahmen? Zur Bedeutung des Grundgesetzes für die politische Bildung. In: Ders.: Politische Bildung und Praktische Philosophie, 101–113, 112.) Dem kann freilich in dieser reduzierten Variante nicht widersprochen werden. Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, auf welchem Wege dieses Ziel erreicht werden soll und ob hier ein verfassungsmäßiges Ethos anvisiert wird oder eine moralische Bildung, die ein solches zwar beinhalten wird, aber nicht um der Verfassung sondern um der Schüler in ihrer Eigenschaft als mindestens potentiell politischer Lebewesen willen als Ziel politischer Bildung gelten muss. 42 Sander, Handbuch politische Bildung, 8 f. 43 Vgl. Sander, Wolfgang: »erkennen, als jemand, der einmalig auf der Welt ist!« Werteerziehung als Aufgabe der Schule. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 184–201, 184. Zur Diagnose des Werteverfalls vgl. im gleichen Band Greiffenhagen, Werte und Wertewandel. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 16–29. 44 Schiele, Siegfried: Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung bei der 40 41
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dung steht hier vor dem von Böckenförde formulierten Dilemma, dass der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat von »Vorraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann«. 45 Die Frage, inwieweit eine im Grundgesetz angelegte Wertordnung der politischen Bildung in normativer Perspektive als Grundlage dienen kann oder für den – im Allgemeinen als Beamter im öffentlichen Bildungssystem stehenden politischen Bildner – sogar stehen muss, kann als einigermaßen umstritten gelten. Es spricht einiges dafür, dass diese Perspektive einen »Rückzug« darstellt, um dem Dilemma zu entkommen, das sich aus Pluralismusgebot und dem Prinzip sittlicher Autonomie der Edukanden auf der einen und dem Konzept der Wertevermittlung auf der anderen Seite ergibt. 46 Das eigentliche Problem tritt in Gestalt zweier Fragen zutage: Zunächst erscheint mindestens frag-würdig, ob im Zusammenhang mit dem Grundgesetz von einer solchen Werteordnung überhaupt sinnvoll gesprochen werden kann. Wie auch Detjen, der diese Frage ansonsten bejaht, einräumen muss, sind damit verschiedene Schwierigkeiten verbunden. Zum einen taucht der Begriff »Werte« im gesamten Grundgesetz kein einziges Mal auf und ist damit eher ein Bestandteil der Rechtsauslegung des Grundgesetzes als dessen konstitutiver Bestandteil oder evidente Grundlage. 47 »Auch das Bundesverfassungsgericht ist keine Bundeswertekammer.« 48 Zudem ist eine auf Werte rekurrierende Rechtsauslegung alles andere als unumstritten, was nicht nur mit der schwachen erkenntnistheoretischen Basis der Wertphilosophie zu tun hat, sondern auch mit der wertphilosophisch kaum aufzulösenden Problematik der Vermittlung verschiedener Werte. 49 Problematisch erscheint in diesem ZusammenVermittlung von Werten. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 1–15, 15. 45 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1991, 112. 46 Vgl. Rekus, Bildung und Moral, 152 f. 47 Vgl. Detjen, Joachim: Die Werteordnung des Grundgesetzes. Wiesbaden 2009, S. 29 ff. 48 Weiler, Hagen: Erziehung ohne Indoktrination? Grundrechte wissenschaftlicher Bildung im Unterricht öffentlicher Schulen. Göttingen 2005, 547. Weilers Studie macht auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Texte das für Schule und Unterricht geltende, auf der Wertoffenheit des Grundgesetzes beruhende Indoktrinationsverbot stark. 49 Vgl. Detjen, Werteordnung, 37 ff., Sowie Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Zur
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hang ebenfalls, dass der Wertbegriff mit einer gewissen Unbestimmtheit im Gebrauch zu kämpfen hat; im Rahmen der politischen Bildung werden Werte häufig als »Auffassung von etwas Wünschenswertem« 50 oder als »Vorstellung davon, was erstrebenswert ist« 51 verstanden. 52 Nun bleibt aber nach Abzug des tautologischen Gehalts dieser Definitionen kaum mehr als ein etwas diffuses Verständnis des Wünschens oder Erstrebens übrig, was als Grundlage einer normative Orientierung intendierenden politischen Bildung, die mehr sein will als bloße Wertklärung allein, kaum sinnvoll erscheint. Auf diese Weise erscheinen Werte leicht als etwas »im Himmel Hängendes« 53 , das seine normative Kraft mehr suggeriert als einen normativen Anspruch begründet. Unabhängig von diesem grundlegenden Problem, ob Werte oder eine solche Wertordnung als Korrelat von Recht und Verfassung überhaupt sinnvoll angenommen werden können, ist die zweite und in unserem Zusammenhang entscheidendere Frage, in welchem Verhältnis eine solche zur Praxis der politischen Bildung stehen könnte. Auch hier ist Skepsis angebracht: »Die Verfassung des freiheitlichen Staats ist als solches noch kein Erziehungsprogramm« 54 , sondern ein Rechtsdokument 55 , weshalb nicht nur Bernhard Sutor konKritik der Wertbegründung des Rechts. In: Ders: Recht, Staat, Freiheit, 67–114, 78 ff.; ähnlich skeptisch Lohmann, Georg: Werte, Tugenden und Urteilsbildung. Gegenstände und Ziele von Ethikunterricht und Politikunterricht. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 202–217, 210 ff. Vgl. Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte. Baden-Baden 1985, S. 143 ff. 50 Detjen, Werteordnung, 30. 51 Schiele, Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung bei der Vermittlung von Werten, 1. 52 Deutlich differenzierter wird der Wertbegriff bei Georg Lohmann problematisiert, der daraufhin aber auch konstatiert: »Auf jeden Fall scheint Vorsicht geboten, wenn man die Rede von Werten unreflektiert auf alle Bereiche praktischen Entscheidens ausdehnt. […] Die im Alltag durchgängige Verwendung der Rede von Werten zeigt sich als abkürzende Redeweise, die sachlich auch irreführend sein kann.« Lohmann, Werte, Tugenden und Urteilsbildung, 208. 53 Schweidler, Walter: Werte im 21. Jahrhundert: Wer bestimmt die Richtung? In: Ders.: Weltweite Werte? Paradigmen des 21. Jahrhunderts. Bochum 2000, III. 54 Isensee, Josef: Verfassung als Erziehungsprogramm? In: Brüggemann, Wolfgang; Isensee, Josef; Lemper, Lothar Theodor; Löwisch, Dieter: Wertebezogene Erziehung: Auf der Suche nach pädagogischer Erneuerung. Dortmund 1983, 22–37, 35. 55 Dennoch kann freilich der Gedanke, dass die Existenz eines solchen Dokumentes für sich etwas Erstrebenswertes ist, für die politische Bildung Relevanz haben. Dies wird bei Klein/Speth deutlich, welche vorschlagen, dass »die Verfassung […] viel-
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statiert: »Aus dem Grundgesetz lässt sich kein Gesamtprogramm politischer Bildung herleiten.« 56 Wohl kann es als Material eines auf politische Bildung zielenden Unterrichts in Frage kommen, schon weil eine jede Verfassung auf eine gewisse Akzeptanz, mindestens aber auf Kenntnis des mit ihr verbundenen normativen Fundaments angewiesen ist. 57 Ein solches Zur-Kenntnis-Bringen – und mehr kann der politische Bildner mit einem feststehenden Wertekanon kaum tun – geht aber zweifellos über den Bereich politischer Erziehung nicht hinaus und zudem entsteht auf diesem Wege noch keine in der Person verankerte Werthaltung, wie man sie mit einem Bildungsprozess verbinden müsste. Die normative Ordnung des Grundgesetzes kann – wo sie nicht nur gekannt und akzeptiert, sondern geteilt wird – ggfs. als inhaltlich sinnvolle Füllung eines demokratischen Ethos betrachtet werden; dennoch kann ein solches Ethos nicht geschaffen werden, indem es auf die politischen Edukanden einfach übertragen würde. Auch Detjen räumt ein, dass eine axiomatische Weitergabe der Werteordnung des Grundgesetzes nicht nur lernpsychologisch unzweckmäßig ist, sondern auch dem Status der Lernenden als autonome Subjekte widerspricht. 58 »Es kann in der Schule keine ›mechanische Tradierung‹ oder Indoktrinierung durch abzuarbeitende Wertekataloge geben.« 59 Die »moralische Substanz«, auf die der Staat angewiesen ist, kann er nicht aus der eigenen Autorität heraus gebieten, ohne seinen freiheitlichen Charakter aufzugeben – darin liegt gerade »das große Wagnis, das er um seiner Freiheitlichkeit eingegangen ist«. 60 Dies gilt auch für den Bereich des Bildungssystems, denn »Pädagogen können mehr als Ganzes als Wert angesehen werden« könne. (Klein/Speth, Demokratische Grundwerte in der pluralisierten Gesellschaft, 48.) Unbeschadet der besagten Probleme bei der Verwendung des Wertbegriffes hat diese Vorstellung eine gewisse Nähe zur arendtschen Vorstellung, dass es »nur ein einziges Menschenrecht« gebe, nämlich »das Recht, Rechte zu haben.« (Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht. In: Die Wandlung 4/1949, 754–770.) 56 Sutor, Verfassung und Minimalkonsens, 71. 57 Weshalb Bernhard Sutor zu Recht das Arbeiten mit dem Verfassungstext als Unterrichtsaktivität im Politikunterricht einfordert. Vgl. Sutor, Erziehungsprogramm oder Rechtsrahmen, 109. 58 Vgl. Detjen, Werteordnung, 407. 59 Schiele, Siegfried: Vorwort. In: Ders. und Breit, Gotthard (Hrsg.): Werte in der politischen Bildung. Schalbach 2000, IX–XI, XI. Gegen einen Grundwertekanon der Verfassung argumentiert auch Lohmann, Werte, Tugenden und Urteilsbildung, 212 f. 60 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 112.
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[…] die Werteorientierung von Kindern und Jugendlichen nicht herstellen […].« 61 Werteerziehung in dem Sinne, dass man objektive Werte bloß »aus einem ›Wertehimmel‹ herunterholen und wirksam machen« 62 müsste, kann und sollte die politische Bildung aus diesen Gründen nicht sein. Dass politische Bildung ein Geschäft ist, in dem eine normative Dimension immer mitschwingt, liegt also sicher nicht daran, dass der Mensch erst mit einer spezifischen Werthaltung ausgestattet werden müsste, um sich als politisch verstehen zu können. Vielmehr scheint das Beziehen einer Position überhaupt mit dem in sich kontroversen Wesen des Politischen selbst verbunden zu sein. Fischer formuliert diesen Umstand folgendermaßen: »Stellungnahme aber, Meinungsbildung, Positionsbezug oder wie immer man dies nennen mag, ist undenkbar ohne Normen und Werte; das ist die ›crux‹ aller Politischen Bildung, die politische Bildung zu sein beansprucht.« 63
Politische Fragen sind nicht zuletzt darum »politisch, weil sie Selbstverständnis, Wertorientierung und Interessen von Betroffenen tangieren.« 64 Da sich die divergierenden Werthaltungen moderner Gesellschaften als soziale Konflikte öffentlich zeigen, die nicht durch anerkannte Konventionen vorentschieden sind, sind die Dilemmata zwischen Werten, die so in die politische Sphäre eindringen, auch eine Herausforderung für die politische Bildung. 65 Während die aus Giesecke, Hermann: Fünf Thesen: Werteerziehung in der Schule. In: Hamburg macht Schule 6/2004, 8–9, 8. 62 Sutor, Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft, 320. 63 Fischer, Kurt Gerhard: Wie ist Theorienbildung für Politische Bildung möglich? In: Ders. (Hrsg.): Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung. Stuttgart 4 1980, 243–258, 250. 64 Sutor, Verfassung und Minimalkonsens, 80. 65 Vgl. Reinhardt: Moral- und Werteerziehung, 340 f. Reinhardt verweist hier auf Sutors Kritik an Kohlberg: Politische Bildung darf ihre ethische Dimension nicht auf das Entscheiden von Dilemmasituationen verengen, da diese zwar Werthaltungen hervorrufen, oft aber ein bloßes, unpolitisches Moralisieren zur Folge haben. Zudem kritisiert Sutor ganz grundsätzlich die individualmoralische, gesinnungsethische Stoßrichtung des kohlbergschen Modells. Die durch ein unpolitisch-idealistisches Moralverständnis entstehende Überforderung ethischer Erziehung ist für Sutor eines der Grundprobleme politischer Werteerziehung in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform: »Das zentrale Element des Politischen ist nicht die autonome Selbstbestimmung des Individuums, sondern die auf die Gesellschaftswelt bezogene Intention der sozial konstituierten Person.« Sutor, Bernhard: Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft, 321, vgl. ebd., 324 ff. sowie Ders.: Politik61
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divergierenden Werthaltungen und Weltanschauungen resultierenden Polarisierungen bis in die 1970er Jahre hinein auch Diskussion und Herangehensweise der politischen Bildung stark prägten, gehört es zu den bis heute weithin akzeptierten Grundeinsichten des Beutelsbacher Konsenses von 1976, dass solche weltanschaulich-politisch begründete Kontroversität im Rahmen politischer Bildung nur transportiert und nicht für die Edukanden vorentschieden werden darf. Jegliche Indoktrination gilt seitdem nicht nur mit der Rollenvorstellung eines Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch mit der Mündigkeit als einer zentralen Zielvorstellung politischer Bildung als unvereinbar. 66 Darum muss »Politische Bildung […] Urteilsbildung im Politischen, und dies heißt immer auch Parteinahme, ermöglichen, darf sie deshalb aber nicht programmatisch vorwegnehmen wollen.« 67
1.2.3. Denken ohne Geländer Politische Bildung ist keine wertfreie Angelegenheit, aber sie darf weder weltanschaulich einseitig betrieben noch individualmoralisch überfrachtet werden. 68 An dieser Stelle erweisen sich Gedanken Hannah Arendts als überaus fruchtbar, stellt sich der politischen Bildung doch stets die Aufgabe, diese Einsichten im Sinne einer »philosophischen Hintergrundtheorie« 69 zu untermauern. So schreibt Arendt im Vorwort einer Essaysammlung über ihre Übungen im politischen Denken: »Sie enthalten keine Vorschriften darüber, was gedacht werden soll oder welche Wahrheiten hochzuhalten wären. […] Ihr einunterricht und moralische Erziehung. Zum Verhältnis von politischer Bildung und politischer Ethik. In: Ders.: Politische Bildung und Praktische Philosophie, 253–273. 66 K. G. Fischer schreibt dazu: »Widersinnig sind alle anti- und apädagogischen Mätzchen, widersinnig ist der Gedanke der Erziehungsdiktatur als Durchgangsphase zur ›eigentlichen Befreiung‹ des Menschen, widersinnig ist jeder absolute Wahrheits- und Geltungsanspruch, wenn es um ›Gesamt‹, ›Totalität‹ und ähnliches geht. Man kann Menschen nicht befähigen, ihre relative Emanzipiertheit wahrzunehmen und zu erweitern, für Emanzipation einzutreten, indem man sie in den Stand der Unmündigkeit zurückweist.« Fischer, Wie ist Theorienbildung für die politische Bildung möglich, 247. 67 Sutor, Verfassung und Minimalkonsens, 78. 68 Vgl. Sutor, Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft, 324. 69 Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989, 29.
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ziges Ziel ist, Erfahrung darin zu erwerben, wie man denkt.« (ZVZ 18, Reihenfolge umgestellt, R. T.) Der Sinn einer philosophischen Hintergrundtheorie kann in diesem Verständnis nicht darin bestehen, moralphilosophische Überlegungen bereitzustellen, die dann vom politischen Edukanden bloß internalisiert werden müssten. Hannah Arendts Werk in seiner didaktischen Perspektive wahrzunehmen muss vielmehr heißen, den Zugang des Denkens zur politischen Dimension der Menschen aufzuweisen und das didaktische Handeln von diesem Zugang her weiterzuentwickeln. Hannah Arendt hat in dieser Perspektive stets eine Linie verfolgt, die ein Verständnis dessen, was mit politischer Bildung gemeint sein kann, auf einer ganz grundsätzlichen Ebene befördert. In einem Gespräch 70 mit Kollegen in Toronto 1972 nimmt sie Grundgedanken des Beutelsbacher Konsenses vorweg und erklärt sie – sehr zur Verwunderung eines metaphysische Verankerung von Normativität einfordernden Hans Jonas – zur eigenen didaktischen Vorgehensweise: »Ich will nicht indoktrinieren. Das stimmt wirklich. Ich will niemanden dazu bringen, das, was immer ich denken mag, zu akzeptieren. […] Ich kann Ihnen nicht schwarz auf weiß sagen […], was die Folgen dieser Art von Denken, das ich nicht zu indoktrinieren, sondern in meinen Studenten zu erzeugen oder zu erwecken suche, in der täglichen Politik sind. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß der eine ein Republikaner und der dritte ein Liberaler oder Gott weiß was wird. Aber eines möchte ich hoffen: daß gewisse extreme Dinge, welche die klare Folge von Nicht-Denken sind, […] nicht eintreten mögen.« (Toronto 112, 82, Reihenfolge umgestellt, R. T.)
Das Geschäft politischer Bildung stellt sich für Arendt nicht als eine wertfreie im Sinne einer normativ neutralen Angelegenheit dar, jedoch wollte sie es nicht in dem Sinne normativ geleitet betreiben, dass sie auf der Suche nach objektiven Werten gewesen wäre, um ihren Studenten diese zu vermitteln. Die »normative Lücke« 71 , welche Seyla Benhabib in Arendts Denken beklagt, mag sie als politische Theoretikerin angreifbar machen – für die politische Bildung erweist sie sich als Chance, weil ihr Denken damit gerade den Freiraum lässt, der für eine Entwicklung zur Mündigkeit erforderlich ist. Eine solche 70 Arendt, Hannah: Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto (November 1972). In: Dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. München 2007, 73–115, im Folgenden zitiert als Toronto. 71 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 302.
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Entwicklung ist nicht an ein bestehendes Wertesystem gebunden, sondern sie setzt Urteils- und Kritikfähigkeit voraus: »Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet […] Das erweist sich aber an der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.« 72
Auch für Arendt spielte der die Vorstellung kritischen Denkens in diesem Sinne eine zentrale Rolle. Ihre Kritik am Wertbegriff ist dabei alles andere als ein Ausdruck von Relativismus, sie zielt vielmehr darauf, dass der sogenannte Werteverfall auf ein im Wertbegriff selbst verweisendes Problem zurückzugehen scheint: »Die vielbeklagte Entwertung der Werte […] fängt damit an, daß man alles zu Werten bzw. Waren macht, also alles mit allem in Relation setzt und damit relativiert.« (VA 199) Der beklagte Werteverlust erweist sich auf diese Weise vielmehr als Sinnverlust, denn »in dem Vergleichen verliert alles seinen ihm angestammten Sinn und bekommt jegliches einen Wert.« (EU 321) Dass es zu dieser Umwandlung von Sinngehalten in relative Werte kommt, ist für Arendt mit dem Aufkommen des Gesellschaftlichen verbunden. Überhaupt gilt, dass der Wertbegriff »von Hause aus ein gesellschaftlicher Begriff ist« und erst später von der Wertphilosophie in einen »idealistischen Nebel verhüllt« wurde: »Die Vergesellschaftung der Güter, der Tugenden und schließlich der Menschen, die sich darin beweist, daß alles zum Wert wird, über dessen jeweiligen Preis im allgemeinen Austausch die Gesellschaft entscheidet, führt automatisch in einen radikalen Relativismus, in dem Absolutes überhaupt nicht mehr festzustellen ist, weil ja erst die eines Absoluten überhaupt nicht fähige Gesellschaft seinen Maßstab hergeben müßte.« (EU 319)
Arendt kritisierte den Wertbegriff also zum einen als einen gesellschaftlichen Begriff, der in den Relativismus führen musste. Sie sah sich deshalb mit Hobbes einig, »daß ein ›absoluter Wert‹ ein Widerspruch in sich selbst wäre«, da die Rede von Werten gerade impliziere, Adorno, Theodor W.: Kritik. In: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1971, 10–19, 10.
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»daß nichts existiere außer dem, was in der Gesellschaft gegen etwas anderes austauschbar ist.« (EU 319) In politisch-ethischer Perspektive von Werten zu sprechen, zog Arendts Kritik also gerade deshalb auf sich, weil der Weg in den Relativismus dadurch unvermeidlich wurde. Ebenso kritisch sah sie aber die wertphilosophische Übersteigerung von Werten zu festen Entitäten als Grundlage praktischer Philosophie. Arendt war die Vorstellung eines festen Wertekanons gerade deshalb immer fremd, weil auch sie das Denken als »kritisch« (Toronto 82) in dem Sinne verstand, dass es in sokratischer Tradition wohl Unstimmigkeiten in Werthaltungen zu identifizieren vermag, Werthaltungen aber nicht selbst hervorbringt. Im Leben des Geistes schreibt sie dazu: »Das Denken schafft keine Werte, es sagt nicht ein für allemal, was ›das Gute‹ sei.« (D 190) Wie wir (in Kapitel C.2) sehen werden, ist es dieser Gedanke, der Arendt zu ihrer Kritik an Kants Ethik veranlasste. Moralische Urteilsfähigkeit galt ihr nicht als die Fähigkeit, die Wirklichkeit unter allgemeine moralische Normen zu subsumieren. 73 Arendts Wirken bezieht seine Triebfeder und seinen normativen Impuls nicht aus einer von ihr als gültig angenommenen normativen Ordnung oder einer Idee des Guten, sondern aus der Beschäftigung mit Holocaust und Totalitarismus; auch darin liegt sicher eine (der insgesamt dennoch wenigen) Parallelen zu Adorno: »Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« 74 Es ist bereits 1985 die Frage gestellt worden, ob dieser Gedanke die politische Bildung nicht zu sehr an der Vergangenheit orientiere und daher ihren »Blick in die Zukunft [blockiert].« 75 Dagegen ist zuallererst einzuwenden, dass besonders Arendts Vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse. Vorlesungen zu Fragen der Ethik. München, Zürich 2003, im Folgenden zitiert als B, hier vgl. 137 f. 74 Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt 1970, 88–104, 88. 75 Giesecke, Hermann: Wozu noch »Politische Bildung«? Anmerkungen zum 40. Geburtstag einer nach wie vor umstrittenen Bildungsaufgabe. In: Neue Sammlung 4/1985, 465–474, 468. Einer für die politische Bildung vermeintlich verblassenden Aktualität des bei Arendt wie Adorno zu findenden Gedankens des Antitotalitären lässt sich an dieser Stelle durchaus auch mit dem Hinweis begegnen, dass auch dem Grundgesetz »der geschichtlich erfahrene totalitäre Staat […] [als] das dauerhafte Feindbild« eingeprägt ist. (Detjen, Werteordnung, 65.) Den antiautoritären Impuls der beiden Theoretiker auch in der politischen Bildung im Blick zu behalten entspricht daher vor allem einer freiheitlichen Grundhaltung, auf die zu verpflichten keine Missachtung des Überwältigungsverbots darstellen kann, sondern ihrerseits 73
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
Analyse des Totalitarismus Gedanken expliziert, welche über die Totalitarismusanalyse hinaus ein klareres Verstehen des Menschen in der modernen Massengesellschaft überhaupt anvisiert – was kaum als zu wenig zukunftsorientiert gelten kann. 76 Eine von Hannah Arendt ausgehende Theorie politischer Bildung wird Giesekes Vermutung darüber hinaus aber einen Gedanken entgegenzusetzen haben, den schon Karl Jaspers auf den Punkt bringt: »Die Kraft der Freiheit ist in den demokratischen Staaten gebunden an die Einsicht in das Wesen des Totalitären. […] Dieses Prinzip kann sich heute überall in der freien Welt ausbreiten wie eine Pilzkrankheit. Der Infektionsstoff ist durch die menschliche Natur selber allgegenwärtig, die Immunität durch die Vernunft allein nicht absolut verläßlich, wenn nicht Klarheit durch unbefangenes Auffassen erreicht wird.« 77 Das wuchernde Prinzip, das auch Arendt mit der Metapher eines wuchernden Pilzes beschreibt, ist in ihrem Kern die Gedankenlosigkeit, welche sie im Rahmen ihrer Berichterstattung zum Eichmannprozess mit ihrer umstrittenen Begriffsbildung der Banalität des Bösen zu fassen versuchte und deren Genese wir deshalb in Kapitel C.1. noch einer genaueren Untersuchung unterziehen werden. Für die politische Bildung liegt hier eine nicht zu unterschätzende Einsicht, denn »die Desinteressierten schließlich bilden eine ständige Herausforderung für die Bildungsbemühung.« 78 Mit Hannah Arendt kann man diese wohl sogar als die größte Herausforderung ansehen – schließlich liegt der Ursprung des banalen Bösen gerade in der Gedankenlosigkeit solcher Desinteressierten; auch ist »die wachsende Apolitia, das Desinteressement an Politik« 79 ein Topos, den sie in seiner Entwicklung von der Antike bis zu seiner fatalen Ausprägungsformen im 20. Jahrhundert verfolgt. Das Bemerkenswerte ihres Denkens liegt nun nicht zuletzt darin, dass es dem Bösen, das sie in den Verbrechen des Nationalsoziaeine Voraussetzung des Politischen selbst ist. Vgl. Breier, Karl-Heinz: Leitbilder der Freiheit. Politische Bildung als Bürgerbildung. Schwalbach 2003, 52. 76 Vgl. Rombach, Regine: Athen, Rom oder Philadelphia? Die politischen Städte im Denken Hannah Arendts. Würzburg 2007, 53. Vgl. dazu bei Arendt WiP 15 und VA 72. 77 Jaspers, Karl: Was ist Erziehung? München, Zürich 1977, 290. 78 Detjen, Joachim: Die Demokratiekompetenz der Bürger. Herausforderung für die politische Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25/2000, 11–20, 19. 79 Arendt, Hannah: Geschichte und Politik in der Neuzeit. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 80–109, im Folgenden zitiert als GPN, hier 90.
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Werte in der politischen Bildung: Denken ohne Geländer
lismus sah, keine objektiven, absoluten Werte entgegensetzen wollte, sondern dessen Möglichkeit gerade als Ergebnis der Vordergründigkeit fester Moralkodizes verstand. Feste Wertordnungen lehnte sie aus der Erfahrung heraus ab, dass »diejenigen, die noch sehr fest an die sogenannten alten Werte glaubten, am ehesten bereit waren, ihre alten Werte gegen eine neue Wertordnung einzutauschen, vorausgesetzt, man gab ihnen eine. Und ich fürchte mich davor, weil ich glaube, daß in dem Moment, in dem Sie jemandem eine neue Wertordnung – oder jenes berühmte ›Geländer‹ – geben, dieses sofort ausgetauscht werden kann. Das einzige nämlich, an das sich der Bursche gewöhnt, ist, ein ›Geländer‹ zu haben und eine Wertordnung, ganz gleich, welche.« (Toronto 88)
Mit ihrer Metapher vom Denken ohne Geländer liefert Hannah Arendt sowohl Praxisanleitung als auch Zielbestimmung der politischen Bildung: Werte- oder Moral-Erziehung kann sich in modernen Gesellschaften nicht mehr als Wertevermittlung im Sinne von Werte-Implementierung oder gar Indoktrination verstehen, sondern muss einen reflexiven Prozess anstreben, weil Reflexivität selbst ein Merkmal der Moderne ist. 80 Mit der metaphorischen Wendung des Denken ohne Geländer will Arendt die Meinungspluralität moderner Gesellschaften denkbar halten, ohne dabei auf einen moralischen Relativismus zurückzufallen. Darum orientierte sie sich – wie (in Kapitel C.3.) zu zeigen sein wird – nicht am homogenitätsfordernden Gemeinwillen Rousseaus, sondern rückt vielmehr von Kant ausgehend den Pluralität verbürgenden Gemeinsinn als politisches Vermögen des Menschen in den Mittelpunkt des Interesses. Von der Beschäftigung mit Kants reflektierender Urteilskraft her soll zudem verständlich werden, was alle Moral- und Werteerziehung letztlich intendiert, nämlich ethisch-politische Urteilsfähigkeit, die nicht vorgegebene Wertmaßstäbe exekutiert oder sich auf gruppenimmanente Normenkonsense verlässt. Die Forderung nach solcher Urteilsfähigkeit bzw. das Fehlen einer solchen Kompetenz bildet wohl den eigentlichen Kern aller gegenwärtigen Ansätze, die sich um moralisch-ethische Orientierung bemühen. 81 Arendt formuliert diesen Anspruch in ihrem Bericht vom Eichmannprozess: Vgl. Reinhardt, Moral- und Werteerziehung 347. In dieser Forderung nach Urteilsfähigkeit kommen so unterschiedliche Positionen wie die von Rekus, Kohlberg, Schreiner, Sander u. v. a. miteinander überein, weshalb es umso gebotener erscheint, im zweiten Teil dieser Arbeit genauer zu untersuchen,
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
»Was wir in diesen Prozessen [Nachkriegsprozessen] fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen.« 82
Ziel einer von Hannah Arendt aus gedachten politischen Bildung muss es also sein, im Edukanden Denkprozesse anzustoßen, die ihn vor der banalen Existenz eines Gedankenlosen bewahren und ihn zu einem eigenständigen Urteil befähigen – nicht mehr und nicht weniger sollte als Zielvorgabe der politischen Bildung in ethischer Perspektive gelten: »›Denken ohne Geländer‹. Das heißt, wenn Sie Treppen hinauf- oder heruntersteigen, dann gibt es immer das Geländer, so daß sie nicht fallen. Dieses Geländer ist uns abhanden gekommen. So verständige ich mich mit mir selbst. Und ›Denken ohne Geländer‹, das ist es in der Tat, was ich zu tun versuche.« (Toronto 113)
Wenngleich also eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Projekt einer »Werteerziehung« 83 in der politischen Bildung einerseits sicher geboten erscheint, muss eine Orientierungsfähigkeit in diesem Bereich ganz ohne Zweifel zu den Zielen politischer Bildung gerechnet werden. 84 Arendts Denken ohne Geländer kann in dieser Perspektive als regulative Idee 85 politischer Bildung verstanden werden. was mit praktischer Urteilskraft genau gemeint sein kann und inwiefern diese als Zielvorstellung der politischen Bildung tauglich ist. Auf grundsätzliche Probleme des Bildungsziels Urteilsfähigkeit weist hin Lohmann, Werte, Tugenden und Urteilsbildung, 214 ff. 82 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1986, im Folgenden zitiert als Eichmann, hier 64. 83 Vgl. Sander, »erkennen, als jemand, der einmalig auf der Welt ist!«, 187. 84 Ein solches Ziel widerspricht für sich genommen auch noch nicht den Beutelsbacher Grundsätzen, wie z. B. Schiele betont. Vgl. Schiele, Möglichkeiten und Grenzen, 10 f. 85 Hier muss freilich angemerkt werden, dass der Gebrauch dieses kantischen Begriffs in unserem Zusammenhang nur in einem reduzierten, eher übertragenen Sinne erfolgt. Der Gebrauch regulativer Ideen erfolgt für Kant, um »den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen«, obwohl dieser »ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt«. (KrV B672) Ein solcher Ideengebrauch sei damit »nicht konstitutiv, nämlich nicht so beschaffen, daß dadurch […] die Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypothese angenommen worden, folge«, […] sondern er ist »nur regulativ, um dadurch, […] die Regel dadurch der Allgemeinheit zu nähern.«
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
1.3. Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis 1.3.1. Politische Bildung und der Begriff des Politischen Dieses »Denken ohne Geländer« ist nicht ausschließlich die Schlussfolgerung aus der an sich kontingenten pluralistischen Verfasstheit westlicher Gesellschaften, sondern etwas daran gehört zum Wesen von Politik selbst. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass eine ihrem Namen gerecht werdende Theorie politischer Bildung ihrem Wirken einen Politikbegriff zu Grunde legen muss, sofern sie sich um einen Zugang zum Politischen bemüht und nicht ihren eigenen Gegenstand im Sozialen oder Kulturellen auflösen will. 86 Dafür ist offensichtlich nicht jeder Politikbegriff gleichermaßen gut geeignet. 87 Er muss erstens hinreichend weit sein, um die Komplexität der politischen Wirklichkeit einzufangen. […] Der Politikbegriff muss andererseits so konkret sein, dass der Bereich des Politischen von anderen gesellschaftlichen Bereichen abgegrenzt ist.« 88
Bernhard Sutor geht die Bestimmung des Politischen darum auch sehr grundsätzlich an und bindet die politische Bildung an die aristo(KrV B 675) Eine regulative Idee wird damit zum Maßstab einer Vorgehensweise, ohne dass diese im strengen Sinne ableitbar oder ihre Möglichkeit beweisbar wäre. Kant rechtfertigt dieses Vorgehen für die Idee der Freiheit damit, dass »doch dieselben Gesetze für ein Wesen [gelten], das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden.« (GMS 448, FN) Ethik zu betreiben, war für Kant nur sinnvoll im Vertrauen auf die Verantwortung konstituierende Fähigkeit der menschlichen Freiheit. Da die ethische Dimension des Bildungsanliegens letztlich mit der Vorstellung wirklicher menschlicher Selbsttätigkeit verbunden bleiben muss, soll hier nun davon ausgegangen werden, dass Menschen zum besagten Denken ohne Geländer fähig sind und dass dieses als Vorstellung die Praxis des politischen Bildners zu leiten imstande ist. Auch Arendts Denken ohne Geländer »muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.« (GMS 448) 86 Vgl. z. B. Sander, Handbuch politische Bildung, 32 ff., sowie Massing, Peter: Wege zum Politischen. In: Ders. und Weißeno, Georg (Hrsg.): Politik als Kern der politischen Bildung. Wege zur Überwindung unpolitischen Politikunterrichts. Opladen 1995, 61–98, 65 ff. 87 Vgl. Sutor, Bernhard: Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie. In: Fischer, Kurt Gerhard (Hrsg.): Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung. Stuttgart 4 1980, 126–139, 130. 88 Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 295.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
telische Unterscheidung von Theorie, Praxis und Poiesis zurück. Politik gehört nach Aristoteles zusammen mit Ethik und Ökonomie zur Praxis, deren Handlungsregeln nicht theoretisch abgeleitet, sondern aus Tradition und Erfahrung im Gespräch gewonnen werden müssen. 89 Erfüllt diese Bestimmung des Politikbegriffs zwar das erste der beiden von Detjen genannten Kriterien, so scheint Hannah Arendts Politikbegriff gerade zur Unterscheidung des Politischen vom Gesellschaftlichen und Kulturellen besser geeignet zu sein. Zwar knüpft auch Arendt am aristotelischen Praxisbegriff an, geht aber in vielerlei Hinsicht über das antike Vorbild hinaus. 90 Da diese Zusammenhänge bereits vielfach Darstellung gefunden haben und zum Teil im Rahmen dieser Arbeit noch eingehender Erläuterung finden werden, werden wir uns an dieser Stelle vorerst auf eine Skizze der wesentlichen Punkte beschränken. In ihrem Begriff des Politischen verbindet Arendt zunächst die politische Praxis, deren fragiles, an die Flüchtigkeit des Sprechens geknüpftes Wesen sie immer wieder betont, von vornherein mit der am Ideal der antiken Polis gewonnenen Vorstellung von politischer Öffentlichkeit. 91 Urs Marti hat herausgearbeitet, dass sich in diesem »Bild des Politischen als eines Ortes, wo der öffentliche Auftritt zum Selbstzweck wird« 92 und das Arendt darum gerne mit der Metapher der Bühne zu fassen versucht, Muster der antiken Polis-Gemeinde und der modernen revolutionären Räte-Versammlung vermischen. Arendt versteht »unter dem Politischen einen Weltbereich, in dem Menschen primär als Handelnde auftreten und menschliche Ange-
89 Vgl. Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 126 ff. 90 Vgl. Marti, Urs: Öffentliches Handeln – Aufstand gegen die Diktatur des Sozialen. Überlegungen zu Hannah Arendts Politik-Begriff. In: DZPhil 5/1992, 513–525. 91 Wenngleich Arendts Ableitung eines Begriffs des Politischen aus dem Ideal des griechischen Stadtstaats im Detail an manchen Stellen in einer gewissen Spannung zu den Erkenntnissen althistorischer Forschungen zu stehen scheint, (Vgl. ebd., 516 f.) kommt doch z. B. Christian Meier in seiner Studie mit Arendt mindestens darin überein, dass er das Politische als ein »Handlungsfeld« auffasst, von dem »das Politische bei den Griechen – im Sinne dieses modernen Begriffs – nahezu einen Idealtyp davon darzustellen vermag.« Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 1980, 39, 21. 92 Marti, Öffentliches Handeln, 519.
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
legenheiten eine ihnen sonst nicht zukommende Dauerhaftigkeit verleihen« 93 . Dieses am Begriff der Öffentlichkeit orientierte Politikverständnis wird in Vita Activa durch zweierlei Charakteristika noch genauer bestimmt: Zum einen wird das Politische einem eigenen Bereich, dem öffentlich-politischen Raum zugeordnet und ist daher – wir sahen es bereits – dem Bereich des Privaten wesensmäßig entgegengesetzt, »so daß, was in ihm irrelevant ist, automatisch zur Privatsache wird.« (VA 64) Damit entsteht am Licht der Öffentlichkeit weiterhin eine Sphäre, welche von der privaten Perspektive des Einzelnen abstrahiert und dadurch wesensmäßig durch Gemeinsamkeit charakterisiert ist. Diese Sphäre nennt Arendt »Welt, […] insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist« (VA 65). Nur an einem solchen, nicht von Privatinteressen und den Notwendigkeiten des Sozialen kontaminierten Ort ist politisches Handeln als gemeinschaftliche Verständigung über menschliche Angelegenheiten möglich, »Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mit Hilfe der anderen und in der Welt« (FuP 224), weil es sich stets im »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA 222) vollzieht. Arendts Begriff politischen Handelns ist damit von vornherein intersubjektiv angelegt; sie bezieht sich auf Cicero, wenn sie schreibt, dass Handeln durch die es bedingende Erfahrung des »unter Menschen weilen (inter homines esse)« (VA 17) 94 gekennzeichnet wird. Das Politische geht für sie nicht in Staat oder Recht auf, sondern ereignet sich da, wo Menschen gemeinsam die in ihnen liegende Freiheit realisieren, »sich sprechend und handelnd in die Welt einzuschalten und einen neuen Anfang zu stiften.« 95 Eben diese intersubjektive Freiheit, die sich nicht als individuelle Fähigkeit, sondern im gemeinsamen Handeln mit anderen an der Öffentlichkeit zeigt, versteht Arendt als den »Sinn von Politik« (WiP 28). Auch darum ist Freiheit nicht nur im Sinne eines »Möglichkeitskonzepts«, sondern einer »Verwirk-
Arendt, Hannah: Was ist Politik? Hrsg. v. Ursula Ludz, München 1993, im Folgenden zitiert als WiP, hier 15. 94 Vgl. Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum, übers. v. Olof Gigon, München 1951, 1, 32. 95 Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 327–370, im Folgenden zitiert als WuP, hier 369. 93
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lichungskonzeption« 96 zu verstehen, denn sie liegt nicht im Einzelnen verborgen, sondern wird erst im Miteinander der politischen Praxis zu Wirklichkeit – und zu Politik: »Durch das Freisein, in dem die Gabe der Freiheit, des Anfangenkönnens, zu einer greifbar weltlichen Realität wird, entsteht zusammen mit den Geschichten, die das Handeln erzeugt, der eigentliche Raum des Politischen.« (FuP 225)
Politik wird folglich erst dadurch denkbar, dass eine Vielheit von Menschen existiert, mit denen Handeln möglich ist und auch damit knüpft Arendt an das aristotelische, sich von Platon absetzende Verständnis des Politischen an, welches das Politische an Vielheit, nicht an Einheit orientiert: »Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen. […] Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen.« (WiP 9) Aus diesem Grunde nimmt die Pluralität unter den sechs von Arendt genannten Grundbedingtheiten menschlicher Existenz – Leben, Erde, Natalität, Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität (vgl. VA 21) – auch eine Sonderrolle ein: »Die Bedingtheit durch Pluralität steht zu dem, daß es so etwas wie Politik unter Menschen gibt, noch einmal in einem ausgezeichneten Verhältnis; sie ist nicht nur die conditio sine qua non, sondern die conditio per quam.« (VA 17)
Pluralität ist für Arendt also kein Problem, das es politisch zu lösen gälte, sondern das zentrale konstituierende Moment des Politischen überhaupt. 97 Nur vor dem Hintergrund der Pluralität von Meinungen und Perspektiven erschließt sich überhaupt der Sinn von Arendts Konzept von Öffentlichkeit und Welt. Die Welt im oben dargelegten Sinne nun ist für Arendt nämlich nicht nur der Raum, in dem sich das politische Geschehen abspielen kann, sondern sie konstituiert dadurch, dass sie Gemeinsamkeit verbürgt, auch Realität. Als real können wir nur annehmen, was über unsere private Einzelwahrnehmung hinaus intersubjektiv greifbar ist, denn Taylor, Charles: Der Irrtum der negativen Freiheit. In: Ders.: Negative Freiheit? Frankfurt a. M. 1988, 118–144, 122 ff. 97 Arendt kritisiert in dieser Perspektive das Politikverständnis Platons, der Pluralität kaum anders als »annoying« empfunden habe. Arendt, Hannah: »The great Tradition and the Nature of Totalitarianism: Six Lextures, New School, March 18 – April 23, 1953«, unveröff. Maschinenschriftl. Vortragsaufzeichnungen, in: LC-Cont. 75, Folder »Notes for Nine Lextures«, S. 11, zit. bei Ludz, Ursula: Kommentar der Herausgeberin. Hannah Arendts Pläne für eine ›Einführung in die Politik‹. In: Arendt, Hannah: Was ist Politik? Hrsg. v. Ursula Ludz, München 1993, 137–187, FN 73. 96
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
»nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein selbes sich ihnen in äußertster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.« (VA 72)
Eine Wirklichkeit, die nur für einen oder wenige als solche wahrnehmbar ist, ist gar keine Wirklichkeit, weil »das, was wir Wirklichkeit nennen, immer ein Geflecht irdisch-organisch-menschlicher Realität ist.« (FuP 222) Wirklichkeit ist nur insofern wirklich, als sie die Wirklichkeit Vieler, nicht Einzelner oder gar eines Einzelnen ist. Wir werden diesen Punkt im Rahmen von Arendts Diskussion des Gemeinsinns noch genauer beleuchten. (Vgl. Kapitel C.3.) Wichtig ist für unseren Zusammenhang politischer Bildung zunächst, dass die so erzeugte Wirklichkeit von wissenschaftlicher Wahrheit streng zu unterscheiden ist. Arendt unterscheidet hier »zwischen Wahrheit und Sinn, zwischen Erkennen und Denken« (D 70). Nun sind »Menschen […] zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen« sind – und an diese Fähigkeit sprachlichen Interagierens bleibt das Politische für Arendt gebunden. In der politischen Sphäre hat darum »nur das Sinn […], was im Sprechen einen Sinn ergibt.« (VA 11) Und dies ist der Punkt, an dem sich ein unüberbrückbarer Graben zwischen Politik und Wissenschaft auftut. Politische Ereignisse lassen sich nicht wie Gegenstände der Naturwissenschaft erklären, weil die Kategorien Kausalität und Ursache an ihrem phänomenalen Wesen vorbeigehen. 98 Auch wenn zwischen dem sinnsuchenden und sinnstiftenden Denken einerseits und dem wahrheitskonstituierenden Erkenntnisdrang der (Natur-) Wissenschaften andererseits ein Zusammenhang nicht völlig in Abrede gestellt werden kann (vgl. D 70 f.), so haben wir es doch mit zwei wesensmäßig verschiedenen Fähigkeiten zu tun, was in der Perspektive auf die Methode einer am Begriff des Politischen orientierten politischen Bildung von entscheidender Bedeutung ist: »Die Wissenschaftler leben also bereits in einer sprach-losen Welt, aus der sie qua Wissenschaftler nicht mehr herausfinden. Und dieser Tatbestand muss, was politische Urteilsfähigkeit betrifft, ein gewisses Mißtrauen erregen.« (VA 11)
98 Vgl. Vollrath, Ernst: Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens. In: Reif, Adalbert (Hrsg.): Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk. Wien, München, Zürich 1979, 59–84, 66 ff.
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Die Naturwissenschaft gelangt zu ihren Erkenntnissen nicht auf diskursivem Wege, vielmehr vollzieht sich ihr Prozess des Erkennens in sehr weitgehendem Rückzug von der Welt. In der Wissenschaft gibt es Wahrheiten, »die jenseits des Sprechenden liegen« und »für den Menschen, sofern er auch im Singular existiert, d. h. außerhalb des politischen Bereichs im weitesten Verstand, existiert, von größtem Belang« sind. Wo wir es aber – wie in der Politik – mit den »menschlichen Angelegenheiten« zu tun haben, muss es unser Interesse sein, »auch zu verstehen, d. h. denkend über sie zu sprechen.« (VA 10 ff.) Dies ist jedoch nur möglich, wenn wir nicht – wie die Naturwissenschaft – eine Position außerhalb der Welt einnehmen, sondern unseren Standort in der Welt und an ihr anteilnehmend wählen. 99
1.3.2. Politische Bildung als praktische Hermeneutik Gehen wir von diesen Grundannahmen aus, so müssen sich für die politische Bildung auf mehreren Ebenen Konsequenzen ergeben. Die erste betrifft dabei die methodische Ebene, und auch hier gibt es Anlass zu der Annahme, dass Hannah Arendt durchaus einen strukturellen Zusammenhang zwischen didaktischem und politischem Handeln gesehen hat. In einem Gespräch beantwortete sie die Frage, wie sie einen politisch Handelnden zu unterweisen imstande wäre, folgendermaßen: »Ich würde Sie überhaupt nicht unterweisen, und ich würde denken, daß es anmaßend von mir wäre, das zu tun. Sie sollten unterwiesen werden, wenn Sie mit Ihresgleichen um einen Tisch sitzen und Meinungen austauschen. Irgendwie aus dieser Situation heraus sollte dann eine Unterweisung kommen […].« (Toronto 83)
Diese Kritik des »Unterweisens« zugunsten eines kommunikativen Prozesses, den sie sich offenbar als selbstregulierend vorstellte, zeigt, dass die Orientierung in der Welt auch für Arendt ein Prozess ist, dessen Ergebnis der Lehrende eben nicht als Autorität »herstellen, sondern nur ergänzend und korrigierend« 100 fördern kann. Dies muss sich freilich in der didaktischen Ausgestaltung von Bildungsprozessen niederschlagen, weshalb für derartige Prozesse
99 100
Vollrath, Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens, 62 f. Giesecke, Fünf Thesen, 8.
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
Bernhard Sutor zufolge gilt, dass ihr »zentrales Formprinzip Dialog heißen« muss: »Didaktisch ist er unentbehrlich, weil wir nur so der dialektischen Problemstruktur und dem kommunikativen Charakter des Politischen gerecht werden. […] Politische Bildung wird also nicht erreicht durch Belehrung […]. Politische Bildung als Vorgang heißt im Kern, Politik und unsere möglichen Verhaltensweisen zu ihr zum Gegenstand kommunikativer Prozesse zu machen. Die Teilnahme an solchen Prozessen ist auf ihre Weise selbst politisches Handeln […].« 101
Bernhard Sutor empfiehlt hier ein Konzept dialogisch-kommunikativer Bildung, da für die politische Bildung »Methodik mehr als Verfahrenstechnik« 102 sei. Damit wird ein seinem Wesen nach sokratisches Paradigma des Politischen, wie wir es bei Hannah Arendt angelegt finden, 103 auch zum Formprinzip politischer Bildung. Auch für Arendt darf das intersubjektiv-dialogische Wesen von Politik nicht nur ein Gedanke sein, den zu transportieren politische Bildung den Auftrag hat, sondern sich bilden meint hier gerade eine intersubjektiv angelegte Praxis, die sich in der methodisch-didaktischen Ausgestaltung des Unterrichts auch niederschlagen sollte. 104 101 Sutor, Bernhard: Verfassung und Minimalkonsens – Die Rolle des Grundgesetzes im Streit um die politische Bildung. In: Detjen, Joachim (Hrsg.): Politische Bildung und Praktische Philosophie. Ausgewählte Beiträge zur Politischen Bildung. Paderborn 2005, 67–81, 80, Hervorh. R. T. 102 Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 134 ff. 103 Vgl. Ludz, Ursula: Hannah Arendts Pläne für eine ›Einführung in die Politik‹, 163 ff. Hannah Arendts unter dem Titel »Was ist Politik?« herausgegebenen Fragmente einer geplanten Einführung ins politische Denken enthalten Ludz zufolge auch eine Reihe von Notizen, welche bezüglich ihres Politikverständnisses auf eine »sokratische Position« Arendts schließen lassen. 104 Mit diesem Gedanken korrespondiert in jüngerer Zeit die Forderung, das »Prinzip der wechselseitigen Anerkennung« auch zu einer Anforderung an modernen Unterrichtsstil zu machen: »Es muss Raum gegeben werden, dass es erkannt, gelernt und praktiziert wird.« Himmelmann, Gerhard: Integration durch Wertebildung oder durch Einübung von demokratischen Verhaltensweisen? Ein Beitrag zum Konzept »Demokratie-Lernen.« In: Breit, Gotthard und Schiele, Siegfried (Hrsg.): Werte in der politischen Bildung. Schwalbach 2000, 259–262, 260 f. Auch dies ist eine durchaus von Hannah Arendt her begründbare Forderung an politische Bildung; hat Ernst Vollrath in ihrem Denken doch die konstitutive Rolle der wechselseitigen Anerkennung herausgearbeitet: »Die oberste Bedingung für die Anteilnahme am Erscheinungsraum der politischen Phänomene ist die Anerkennung der Anteil nehmenden Menschen in ihrer Pluralität an ihm.« Vollrath, Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens, 64.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
Dies ist schon deshalb unumgänglich, weil Bildungsinstitutionen im Allgemeinen und die Schule im Besonderen gar keine Möglichkeit haben, sich aus der Sozialisation ihrer Edukanden herauszuhalten und daher in dieser Perspektive Verantwortung tragen. 105 Politische Bildung scheint also von ihren institutionell-organisatorischen Rahmenbedingungen her in der Pflicht zu sein, der Intersubjektivität von Lernen im Allgemeinen und politischem Lernen im Besonderen didaktisch Rechnung zu tragen. Arendts Bestimmung des Politikbegriffs ist für unseren Zusammenhang aber auch deshalb ungemein fruchtbar, weil sich das Politische in diesem Verständis seiner Struktur und seinem Wesen nach als bereits mit dem Bildungsbegriff verbunden erweist: »Politik und Bildung und demnach auch politische Bildung sind Weisen menschlicher Praxis, die durch keine wissenschaftliche Theorie vollständig eingeholt werden können.« 106 Politische Bildung als Praxis zu verstehen, meint also nicht etwa, sie auf organisationtheoretisch orientierte Sozialerziehung reduzieren zu wollen, sondern betrifft neben ihrer Vorgehensweise auch ihren Gegenstand und die innere Struktur politischen Denkens überhaupt. Auch wenn es gerade im Rahmen der politischen Bildung wichtig zu sein scheint, einen diesem Gegenstand methodisch entsprechenden Unterricht zu ermöglichen und diesen deshalb von seiner Sozialform her als kommunikativen Verständigungsprozess anzulegen, liegt das Praktische an der politischen Bildung nicht nur und nicht einmal in erster Linie darin, dass sie eine Erfahrung sozialer Praxis für die Edukanden bereithält. Dem an dialogischer Praxis orientierten Paradigma des Politischen entspricht nämlich eine spezifische Erfahrung politischen Lernens, die mit Arendt folgendermaßen formuliert werden kann: »Diese Erfahrung ist eine Denkerfahrung […] und sie kann, wie alle Erfahrung, nur durch die Praxis, durch Übungen erworben werden. (Darin wie auch in anderer Hinsicht unterscheidet sich diese Art von Denken von solchen geistigen Prozessen wie dem Deduzieren, Induzieren und Schlußfolgern, deren logische Regeln der Widerspruchslosigkeit und inneren Konsistenz ein für allemal gelernt werden können und dann nur noch angewandt zu werden brauchen.)« (ZVZ 17 f.)
Arendt setzt das politische Denken als menschliche Praxis prinzipiell von anderen, naturwissenschaftlich geprägten Denkweisen ab und 105 106
Sander, »erkennen, als jemand, der einmalig auf der Welt ist!«, 186. Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 126.
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
stellt es in seiner Eigenständigkeit heraus. Diese von Arendt getroffene Unterscheidung ist für die politische Bildung schon deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil sie in einem ersten Schritt ex negativo bestimmt, worum es in der politischen Bildung im Kern geht: Politische Bildung ist von der empirischen Verfahrensweise quantitativ orientierter Sozialwissenschaft wesensmäßig unterschieden; es geht ihr nicht darum, Erfahrungen einem naturwissenschaftlichen Paradigma folgend zu sammeln, quantitativ zu ordnen und unter logische Gesetze zu bringen. »Die Summe dieser Kenntnisse erklärt nicht Politik. Diese Annahme wäre intellektualistische Reduktion und positivistische Halbierung von Rationalität.« 107 Politische Bildung antwortet entsprechend auf und stellt Fragen, die auf das Verstehen politischer Phänomene gerichtet sind, und nicht bei der Berechnung von Prozenten und Wahrscheinlichkeiten stehenbleiben. Fischer reflektiert diesen Zusammenhang, indem er die Wichtigkeit solcher auf das Verstehen gerichteten Fragen herausstreicht: »Soll politisches Lernen nicht beim Feststellen stehenbleiben, so sind diese Fragen ernstzunehmen. Aber sie würden in ihrer Substanz verändert, ihre Qualität würde vergewaltigt, wenn die Antworten hierauf aus empirischen Daten gewonnen würden.« 108
Wollte man die naturwissenschaftliche Art und Weise des Denkens, die »logische Operation des Deduzierens« auf die Probleme der »menschlichen Angelegenheiten« in der politischen Sphäre übertragen, so ist das Ergebnis für Arendt keine politische Praxis, sondern etwas, das sie als den »Selbstzwang des deduzierenden Denkens« (EU 967 f.) bezeichnet – und dieser verkörpert für Arendt den Wesenskern ideologischen Denkens, das sie gerade als Gegenteil und Verneinung von Politik versteht. Politisches Denken findet im Gegensatz zur Ideologie seinen Niederschlag in der multiperspektivischen Struktur der kantischen »erweiterten Denkungsart«, nach welcher es darum geht »an der Stelle jedes anderen« (KU B158 f., vgl. U 94 ff.) zu denken. Die erweiterte Denkungsart trägt damit dem pluralistischen Moment des Politischen Rechnung, dem es um die Einbeziehung einer Vielheit von Meinungen und Perspektiven geht. Politisches Denken als Ableitung logischer Zusammenhänge zu verstehen geht damit
107 108
Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 131 f. Fischer, Wie ist Theorienbildung für Politische Bildung möglich?, 251.
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nicht nur an der Sache vorbei, sondern kann in letzter Konsequenz sogar zum Verlust politischer Urteilsfähigkeit führen. 109 Die methodische Eigenart politischen Denkens und Bildens kann sich in der Folge nicht am naturwissenschaftlichen Paradigma des Deduzierens und Induzierens orientieren; politisches Denken ist als hermeneutische Disziplin nicht auf objektivierbare Erkenntnis, sondern auf das Verstehen gerichtet: »Das Verstehen nämlich ist – im Unterschied zur fehlerfreien Information und dem wissenschaftlichen Wissen – ein komplizierter Prozeß, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt. Es ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein.« 110
In diesem Sinne erweist sich »politisches Lernen als unabgeschlossene Suchbewegung« 111 , die in ihrem hermeneutischen Zugriff darauf abzielt, auch das multiperspektivische Moment des Politischen einzufangen und mit abzubilden, da es den Verstehenden in ein Verhältnis zur pluralistisch konstituierten Wirklichkeit der Welt setzt, welches selbst praktisch ist: »Das ursprüngliche Verstehen entsteht aus der anteilnehmenden Zugehörigkeit zur Welt der Phänomene – vielmehr, es ist diese Zugehörigkeit, und nicht etwa eine erkenntnistheoretisch zubereitete und eigens einzunehmende Haltung.« 112
Das Verstehen ereignet sich in der aktiven Auseinandersetzung mit der Welt und zielt dabei auf »Sinn, aber kein objektivierbares Resultat« 113 , da wir uns im Verstehen in der Absicht auf ein Urteil mit den Meinungen anderer auseinandersetzen. Diese Form der »Perspektivenübernahme« oder doch zumindest des Abgleichs verschiedener
109 Vgl. Falkenhagen, Hilke: Die Macht der Unterscheidung. Über den Urteilsbegriff bei Hannah Arendt im Kontext ihrer Totalitarismusanalyse. Univ.-Diss., Berlin 2004, 76 ff. 110 Arendt, Hannah: Verstehen und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 110–127, im Folgenden zitiert als VuP, hier 110. 111 Ackermann, Paul: Politisches Lernen als unabgeschlossene Suchbewegung. In: Weidinger, Dorothea (Hrsg.): Politische Bildung in der Bundesrepublik. Zum 30jährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung. Opladen 1996, 147–152, 147 ff. 112 Vollrath, Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens, 73. 113 Rombach, Athen, Rom oder Philadelphia, 56.
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
Perspektiven ist es darum auch, die das »Verstehen« für Peter Henkenborg zu einer »Kategorie« politischer Bildung macht. 114
1.3.3. Pluralität, Praxis und politische Bildung Damit befinden wir uns zudem an dem Punkt, der die eigentliche Schnittstelle zwischen politischem Denken und Bildung überhaupt ausmacht. Diesen Zusammenhang formuliert Robert Spaemann unter Bezugnahme auf Goethe folgendermaßen: »›Sich mitzuteilen ist Natur. Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.‹ Etwas ›aufnehmen, wie es gegeben wird‹, setzt voraus, daß wir wissen: es gibt außer uns noch andere Mittelpunkte der Welt und andere Perspektiven auf sie. […] Der Gebildete weiß, daß er nur ›auch einer‹ ist.« 115
Arendts auf dem Faktum menschlicher Pluralität fußender Weltbegriff erweist sich damit nicht nur als innere Bestimmung des Politischen, sondern auch als konstitutiv für den Bildungsprozesses einer Persönlichkeit. Bildung ist damit nicht zuletzt das Projekt, dem eigenen Ich ein Weltverhältnis zu erschließen, in dem man es mit den Phänomenen der Welt in praktische Auseinandersetzung bringt. K. G. Fischer bringt dies auf den Punkt: »Das Wesentliche liegt in den Stoffen als ihr Verborgenes. Es muss heraufund herausgeholt werden. Dieses Wesentliche betrifft das ich des educandus, es wendet sich an seine Haltung, nicht ans Gedächtnis. […] Ich-gleichgültige Wissensvermittlung […] hat in der Schule als Propädeutik des Lebens keinen Ort.« 116
Während sich politische Bildung also als Bildung und damit als Praxis erweisen muss, ist sie zugleich auch politische Bildung und damit Bildung zur Praxis: »Die Adressaten politischer Bildung sollen
114 Vgl. Henkenborg, Peter: Werte und kategoriale Schlüsselfragen im Politikunterricht. Politische Bildung und Werteerziehung: Begründungen, Prinzipien und Kontroversen. In: Breit/Schiele, Werte in der politischen Bildung, 263–287, 267. 115 Spaemann, Robert: Wer ist ein gebildeter Mensch? Aus einer Promotionsrede (1994). In: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart 2001, 512– 516, 512. 116 Fischer, Kurt Gerhard: Das Exemplarische im Politikunterricht. Beiträge zu einer Theorie politischer Bildung. Schwalbach 1993, 36.
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fähiger gemacht werden zu vernunftgeleiteter politischer Praxis.« 117 Sosehr sich politische Bildung an den Menschen als Menschen richtet, sosehr versteht sie ihn – von Arendt aus formuliert – als Wesen, das »im Singular gar nicht vorstellbar« (FuP 214) ist und das sich durch diese Grundbedingung seiner eigenen Existenz, die Pluralität, damit konfrontiert sieht, immer mit anderen sprechend und handelnd zu interagieren. »Nur im Tod oder angesichts des Todes kann menschliches Dasein ganz und gar singularisch werden« (ebd.) – menschliches Leben ist damit wesensmäßig Interaktion. Um zu diesem »acting in concert« (FuP 224), wie Arendt es mit Rückgriff auf Burke nennt, fähig zu sein, bedarf es »politischer Rationalität«, die Bernhard Sutor darum zu Recht als »Richtziel« 118 politischer Bildung versteht: »Durch Politische Bildung sollen Verhaltensweisen aufgebaut werden, die den Menschen als ›homo politicus‹ qualifizieren.« 119 Eben dafür nun bedarf es auch einer »Denkerfahrung«, von der Arendt schreibt, sie könne »durch Übungen erworben werden« (ZVZ 17). In Arendts Konzeption politischen Denkens und Handelns scheint also ein propädeutischer Aspekt mitgedacht zu sein; wir haben hier offenkundig Grund zu der Annahme, auf ein didaktisch und bildungsphilosophisch fruchtbares Potential zugreifen zu können. Es sollen an dieser Stelle jedoch ebenso bereits Zweifel angemeldet werden, ob die von Arendt intendierten Tätigkeiten politischen Handelns und Urteilens im Sinne konkreter Kompetenzen operationalisierbar sein werden. 120 In ihrem Begriff ist über die alles prägende Grund117 Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 131 f., Hervorh. R. T. 118 Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 131. 119 Fischer, Wie ist Theorienbildung für Politische Bildung möglich?, 245. Fischer erläutert hierzu: »Ich verstehe unter ›Verhaltensweisen‹, die den Menschen als ›homo politicus‹ qualifizieren, gesichertes Wissen, selbsterworbene Erkenntnisse, Fähigkeit zur Einsicht, Befähigungen zum Kenntniserwerb, Erkenntnisgewinnung und Einsichtigkeit, zu kommunikativem Verhalten im Sinn von sozialer Handlungskompetenz sowohl in kleinen Gruppen als auch in ›der‹ Öffentlichkeit, das sich vom Verstand, soweit seine Kräfte reichen, leiten läßt. Und ich meine mit ›homo politicus‹ jenen Menschen, der seine Fähigkeiten einsetzt, um gesellschaftlich-politische Verhältnisse zu erhalten und/oder zu verändern, die mehr und mehr in jedem Menschen unabhängig von seiner Rasse und Klasse, seiner Geschlechtszugehörigkeit und anderem […] nichts als einen Menschen erkennen lassen und ihm ermöglichen, sich als Mensch darzuleben, sein ›Wesen‹ zu verwirklichen und von seinen Rechten Gebrauch zu machen. Diesen Prozeß bezeichne ich als Emanzipation.« (Ebd., 246.) 120 Die enstprechende Diskussion wird in der politischen Bildung freilich geführt; die Kontroverse um das von Weißeno, Detjen und anderen vorgestellte »Kompetenzmo-
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Politische Bildung und der Begriff des Politischen: Bildung als und zur Praxis
annahme menschlicher Pluralität bereits ein Moment der Unwägbarkeit und Unabsehbarkeit menschlicher Interaktion mitgedacht; ein allzu technisches Verständnis von Operationalisierung, welche sich womöglich mit der Formulierung erwartbarer Resultate von Bildungsprozessen verbindet, ist ein von Arendt her kaum einzulösende Perspektive. Fassen wir zusammen: Politische Phänomene bedürfen eines spezifischen Zugangs, der für Arendt ein verstehender, in einem weiteren Sinne hermeneutischer ist. Dieser Zugang erweist sich gewissermaßen als Praxis zur Praxis: Nicht nur ist Politik als solche als Praxis im oben beschriebenen Sinne zu begreifen, auch »Politische Theorie zu betreiben, ist selbst eine Praxis« 121 , da die Auseinandersetzung mit dem Politischen sich nicht in Bahnen vollziehen kann, die sich an einem naturwissenschaftlichen Paradigma orientieren, ohne ideologisch zu werden und sich damit von ihrem politischen Gegenstand zu entfernen. Für die Politische Bildung ergibt sich daraus, dass sie sich selbst methodisch und strukturell an ihrem Gegenstand orientieren muss und sich damit nicht nur ebenfalls als Praxis erweist, sondern auch auf Praxis gerichtet ist. In diesem Sinne können wir politische Bil-
dell« und die von Sander und anderen getragene »Streitschrift« soll hier nicht entschieden werden. Vgl. Weißeno, Georg u. a.: Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell. Bonn 2010; sowie Autorengruppe Fachdidaktik: Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift. Schwalbach 2011. Dennoch ermöglicht uns die von Arendts Werk her zu entwickelnde Perspektive einen kritischen Blick auf den Kompetenzbegriff insgesamt, der besonders in den Kapiteln, die sich im engeren Sinne um Arendts Kant-Rezeption bemühen, wieder zur Sprache kommen wird. (vgl. besonders C.3.3.) Unsere Untersuchung versteht sich in dieser Hinsicht mehr als Impuls für die besagte Kontroverse denn als konkreter Beitrag zu dieser. Tonio Oeftering hat die Diskussion innerhalb der Politikdidaktik um den Kompetenzbegriff mit einem an Arendt orientierten Ansatz für die politische Bildung in Verbindung gebracht. Da die Diskussion um den Kompetenzbegriff hier gut zusammengefasst ist, verweisen wir an dieser Stelle für eine weitergehende Darstellung einzelner Positonen in diesem Zusammenhang auf Oeferings Untersuchung. Vgl. Oeftering, Tonio: Das Politische als Kern der politischen Bildung. Hannah Arendts Beitrag zur Didaktik des politischen Unterrichts. Schwalbach 2013, 13 ff., 47 ff. Im Verlauf unserer Untersuchung wird mit Blick auf die Auswertung von Arendts Werk jedoch klar werden, dass Oefterings Ansatz aufgrund seiner sehr konkret-unterrichtspraktischen Ausrichtung den vollen bildungsphilosophischen Ertrag, welcher aus Arendts Werk gezogen werden kann, letztlich unerreicht lässt. 121 Breier, Karl-Heinz und Gantschow, Alexander: Einführung in die politische Theorie. Berlin 2006, 39.
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dung als eine Tätigkeit verstehen, die sich selbst als Praxis darstellt und zudem auf Praxis zielt, auf politische Teilhabe vorbereitet. Da hierfür Orientierung in der Sphäre des Politischen erforderlich ist, ist der durch politische Bildung eröffnete Zugang zur Welt ein hermeneutischer; das Verstehen im arendtschen Sinne kann als »die andere Seite des Handelns« (VuP 125) begriffen werden als eine der ganz zentralen Zielperspektiven politischer Bildung: »In dieser Hinsicht bereitet das Verstehen Schritt für Schritt auf das Handeln vor, und allein wer versteht, ist in der Lage, sich in der Welt zu orientieren. Daher sollte eine an freiheitlichen Kategorien geschulte politische Bildung zu diesem Prozess der Einbürgerung beitragen. Politische Bildung ist so gesehen eine praktische Disziplin, im besten Sinne des Wortes eine Einbürgerungswissenschaft.« 122
Für den politischen Bildner ist hier freilich von Interesse, wie dies zu bewerkstelligen ist und welcher Art »Übungen«, Denkerfahrungen und Kategorien es bedarf, um eine Orientierung in der Welt ermöglichen: »Welches politische Denken kann die Muskeln unserer politischen Urteilskraft nachhaltig trainieren?« 123
1.4. Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe 1.4.1. Kategoriale Bildung Wie wir gesehen haben, geht es beim politischen Denken nach Arendt nicht um das Sammeln »fehlerfreier Information[en]« (FuP 110) oder das Einüben »von solchen geistigen Prozessen, [die] ein für allemal gelernt werden können und dann nur noch angewandt zu werden brauchen.« (ZVZ 17 f.) An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung philosophischer Theoriebildung für die politische Bildung, wie sie in verschiedenen Publikationen immer wieder betont worden ist. So hat nicht nur Bernhard Sutor ein »Defizit an politischer Philosophie und Ethik« 124 beklagt; 122 Breier, Leitbilder der Freiheit, 299, ähnlich Sutor: »Politische Bildung […] muß auf den einsichtig handelnden Bürger zielen, auf Respektierung der anderen, auf Loyalität gegenüber der gesetzten Ordnung, auf Einvernehmen und Verträglichkeit.« Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 130. 123 Breier, Karl-Heinz: Hannah Arendt. Hamburg 2 2001, 9. 124 Sutor, Bernhard: 50 Jahre politische Bildung – Erfolge und Defizite in einer sub-
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
auch Micha Brumlik fordert, man solle die »politische Bildung auf den Boden der politischen Philosophie zurückholen« 125 . Hier ist nun freilich die Frage, wie und mit welcher Intention dies ins Werk gesetzt werden soll, da die Auseinandersetzung mit praktischer Philosophie in der Perspektive auf politische Bildung kaum einen Selbstzweck darstellt und es nicht (allein) darum gehen kann, Gegenstände politischer Philosophie zum Gegenstand von Unterricht zu machen; zu groß ist die Gefahr des Erstarrens zum bloßen Lerngegenstand. Eine solche, materialem Bildungsdenken verhaftete »Wissensmast« 126 kann nicht im Interesse vernünftiger, auf Orientierung in der Welt zielender politischer Bildung sein: »Stoffe sind nicht Selbstzweck,« 127 oder, wie Jaspers es formuliert: »Nicht das Wissen hilft, sondern […] die Fähigkeit, die Dinge denkend unter Gesichtspunkten zusammenzufassen.« 128 An dieser Schnittstelle von Philosophiedidaktik und politischer Bildung muss unser Ziel also sein, »die politische Theorie […] gewinnend in den Dienst zu nehmen«, ohne dass dies auf »die katalogisierende Verwaltung einer museal-antiquarischen Ideensammlung hinaus[läuft].« 129 Wir können uns hier einige von Klafkis Argumenten gegen materiale Bildungstheorien zu eigen machen, um zu verstehen, warum der bloße Transport politischer Ideengeschichte als philosophischer Beitrag zu sinnvoller politischer Bildung nicht ausreichend sein kann. Das zentrale Problem liegt hier auf der Hand: Wird das Bildungsgeschehen eben vom Gegenstand als dem Material des Bildungsprozesses her begriffen, muss der sich Bildende »als bloßes Gefäß
jektiven Bilanz. In: Breit, Gotthard und Schiele, Siegfried (Hrsg.): Demokratie braucht politische Bildung. Schwalbach 2004, 117–129, 126. 125 Brumlik, Micha: Braucht politische Bildung eine normative Theorie? In: kursiv. Journal für politische Bildung, 4/1997, 12–19, 12. Diese Forderung ist schon bei Jaspers greifbar: »Um die Weite in der gegenwärtigen Weltsituation zu erfassen als etwas in der Tat Neues, das unser aller Schicksal wird, ist die Weite des überlieferten politischen Denkens, wie es in den wenigen politischen Denkers sich zeigt, unerläßlich.« Jaspers, Karl: Wohin treibt die Bundesrepublik? München 1966, 207. 126 Arnold, Rolf: Lebendiges Lernen – Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur. In: Neuland, Michéle (Hrsg.): Schüler wollen lernen. Lebendiges Lernen mit der Neuland-Moderation. Eichenzell 1995, 1 ff. 127 Fischer, Das Exemplarische im Politikunterricht, 36. 128 Jaspers, Karl: Die Idee der Universität. Berlin u. a. 1961, 70. 129 Breier, Leitbilder der Freiheit, 76 f.
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des Bildungsprozesses« 130 erscheinen – eine Bildungsauffassung, die schon Platon bei den Sophisten kritisierte. 131 Klafki unterscheidet bei den materialen Bildungstheorien die Theorien des »bildungstheoretischen Objektivismus« einerseits und die »Bildungstheorie des Klassischen« andererseits. 132 Der bildungstheoretische Objektivismus setzt dabei Kulturgüter als objektive Größen mit Bildungsinhalten gleich. Auf diese Weise werden diese jedoch nicht nur (1) enthistorisiert, sondern der bildungstheoretische Objektivismus ignoriert auch (2) den Umstand, dass die Fragehaltung des sich Bildenden sich nur in den seltensten Fällen am fachwissenschaftlichen Forschungsgegenstand orientiert. Er erweist sich damit als »Scientismus«; ein Vorwurf, der heute auch unter dem Begriff der »Abbilddidaktik« geläufig ist. Darüber hinaus problematisiert Klafki, dass der bildungstheoretische Objektivismus (3) die eigentlich didaktische Aufgabe der Auswahl von Bildungsinhalten umgehe, indem er sie aus der Fachwissenschaft abzuleiten versuche. 133 Als ähnlich problematisch erweist sich die »Bildungstheorie des Klassischen«: »Im Klassischen verehrt, bewahrt und tradiert eine Gemeinschaft die Fundamente und die Leitbilder ihres höheren geistigen Lebens.« Hier stellt sich nun einerseits das Problem, dass von einer »einmütigen Anerkennung« 134 tradierter Kulturgüter und der damit verbundenen Wertung in modernen Gesellschaften nicht ohne Weiteres ausgegangen werden kann. Schwerer noch wiegt hier allerdings Klafkis zweiter Einwand: Gerade in der Absicht auf politische Bildung ist es eine auf der Hand liegende Schwierigkeit, dass es im 130 Ebert, Joachim: Kategoriale Bildung. Zur Interpretation der Bildungstheorie Wolfgang Klafkis. Frankfurt a. M. 1986, 25. 131 Dass Bildung als Bedeutungsebene des Symposions eine Rolle spielt, wird bereits am Anfang des Dialogs deutlich, als Sokrates sagt: »Das wäre vortrefflich, Agathon, wenn es mit der Weisheit so wäre: daß sie, wenn wir einander nahten, aus dem Volleren in den Leereren überflösse, wie das Wasser in den Bechern durch einen Wollstreifen aus dem vollen in den leeren fließt.« (175d) Dies kann ohne Zweifel als eine Kritik des sophistischen Bildungsmodells gelesen werden. Vgl. Rehn, Rudolf: (Philosophische) Bildung und Markt. In: Ders. und Schües, Christina (Hrsg.): Bildungsphilosophie. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. München 2008, 21–35, 27 f. 132 Klafki, Wolfgang: Kategoriale Bildung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik (1959). In: Ders. (Hrsg.): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim und Basel 1975, 25–45, 27 ff. 133 Vgl. Ebert, Kategoriale Bildung, 27 ff. 134 Klafki, Kategoriale Bildung, 30 f.
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
Falle wirklich neuer Probleme keine klassischen Lösungen geben kann. 135 Dieses Problem wird uns im Hauptteil dieser Arbeit ins Zentrum von Hannah Arendts Methode des politischen Denkens führen. Den materialen Bildungstheorien stellt Klafki nun die formalen Bildungstheorien gegenüber, welche das Bildungsphänomen vom sich Bildenden her zu begreifen versuchten, wobei er funktionale, auf dem Edukanden innewohnende »Kräfte« gerichtete Bildungstheorien von methodischen Bildungstheorien unterscheidet. 136 Auch aus der Perspektive auf das Subjekt allein ist der eigentliche Bildungsprozess nicht darstellbar, da »die humanen Potenzen […] erst im Umgang mit den Gegenständen der Welt für den Menschen zu konkreten Kräften bzw. Fähigkeiten« werden können. 137 Der Grundgedanke von Klafkis Theorie kategorialer Bildung war es nun, diese »Alternative von materialer und formaler Bildung aufzuheben« 138 . Insofern hat der Terminus »kategoriale Bildung« mit dem philosophischen Kategorienbegriff zunächst »nur eine allgemeine Bedeutung gemein«, nämlich »die Korrespondenz bzw. Korrelation eines objektiv gegenständlichen und eines subjektiv-formalen Momentes. In diesem Sinne bezeichne ›kategoriale Bildung‹ die Überwindung jenes alten, bis in die Gegenwart hineinwirkenden Dualismus von ›materialer‹ und ›formaler‹ Bildung, aber nicht auf dem Wege eines Sowohl-als-auch beider Momente, sondern als reale ›Aufhebung‹ dieser Zweiheit.« 139 Die kategoriale Struktur von Bildung bedeutet im klafkischen Sinne also in erster Linie ein Erschlossensein dinglicher und geistiger Vgl. Ebert, Kategoriale Bildung, 28 ff. Auch wenn Klafkis Kritik formaler Bildungstheorien an dieser Stelle auch nicht annähernd in gegenstandadäquater Weise ausgeführt werden kann, muss darauf hingewiesen werden, dass hier sicherlich Schwierigkeiten seines Denkens liegen. Zwar ist eine Kritik inhaltsleerer Universalmethoden als möglichem Kern des Bildungsbegriffes sicher gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Methodisierung des Unterrichts nicht ganz von der Hand zu weisen. Ebenso muss aber Ebert zugestimmt werden, wenn er schreibt, die Kritik Klafkis an den anthropologischen Grundannahmen Humboldts und anderer »funktionaler« Bildungstheoretiker scheine »über die notwendige Kritik funktionaler Bildung weit hinauszugehen.« Ebert, Kategoriale Bildung, 43; vgl. ebd., 45. 137 Ebert, Kategoriale Bildung, 39. Klafkis Kritik methodischer Bildung läuft parallel zu dieser Kritik funktionaler »Kräftebildung«: »Sowenig es geistige ›Kräfte‹ des Individuums ohne Inhalte gebe, ebensowenig gebe es Methoden ohne Inhalte.« (Ebd., 45) 138 Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 132; ebenso Ebert, Kategoriale Bildung, 37. 139 Ebert, Kategoriale Bildung, 52. 135 136
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
Wirklichkeit für den Menschen bei gleichzeitigem Erschlossensein des Menschen für diese Wirklichkeiten. Damit entfällt der Dualismus von formaler und materialer Bildung, um in einer höheren Einheit aufgehoben zu werden. Während diese Definition noch recht abstrakt ist, geht es Klafki darum, dass die Wirklichkeit nur konkret am Einzelnen und Besonderen erschlossen werden kann. 140 Die konkreten Einzelnen, welche dies ermöglichen, sind »elementar« für den Bildungsprozess eines Individuums nur insofern sie dies ermöglichen und haben dadurch als Kulturgegenstände Bildungswert. 141 Laut Klafki ist es nun möglich, »jene Fülle des Konkreten auf Grundformen, -strukturen, -typen, -beziehungen, kurz: auf ein Gefüge von Kategorien zurückzuführen und deren aktive Aneignung/Entwicklung im Bildungsprozess mit pädagogischer Unterstützung zu ermöglichen.« 142
1.4.2. Der kategoriale Aspekt politischer Bildung Der politische Theoretiker ist, wie Hannah Arendt schreibt, »in love with the world« und um die Deutung dieser Welt muss es also auch dem politischen Bildner gehen. Dafür »bedarf es zentraler Hinsichten; es bedarf ausgewählter Kategorien, die das Verstehen menschlichen Handelns leiten« 143 , weshalb die Bedeutung des kategorialen Ansatzes für die politische Bildung auch schon vielfach hervorgehoben worden ist. 144 Peter Massing formuliert sie folgendermaßen: Vgl. Ebert, Kategoriale Bildung, 53 f. Vgl. Klafki, Wolfgang: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Weinheim 1964, 322. 142 Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim, Basel 1993, 96. 143 Breier und Gantschow, Einführung in die politische Theorie, 7. 144 Vgl. Giesecke, Hermann: Didaktik der politischen Bildung. München 1965; Sutor, Didaktik politischer Bildung im Verständnis Praktischer Philosophie, 132 ff. sowie Ders.: Politische Bildung als Praxis. Grundzüge eines didaktischen Konzepts. Schwalbach 1992, 33 ff.; Breier, Leitbilder der Freiheit, 57 ff., 75 ff. Henkenborg hat darüber hinaus in jüngerer Zeit vorgeschlagen, eine Erweiterung der etablierten Kategorienmodelle politischer Bildung durch Grundbegriffe der Gesellschaftstheorien zu erweitern. Vgl. Henkenborg, Peter: Gesellschaftstheorien und Kategorien der Politikdidaktik: Zu den Grundlagen einer fachspezifischen Kommunikation in der politischen Bildung. In: Politische Bildung 30, 2/1997, 95–121. Da dies im Ergebnis zu einem Kategorienfundus von erheblich gesteigertem Umfang führt, soll auf eine Erörterung dieses Ansatzes hier verzichtet werden, da mit Joachim Detjen bezweifelt 140 141
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
»Kategorien sind verallgemeinernde Begriffe, in denen prägende Elemente des Politischen deutlich werden. Sie sollen Zugänge zum Politischen eröffnen, indem sie in Schlüsselfragen umformuliert das Wesentliche, das Verallgemeinerbare von Politik aufschließen.« 145
Nun ist in diesem Sinne freilich nicht jeder Begriff eine Kategorie, sondern nur wenn und insofern er einen Bezug zur menschlichen Praxis hat und damit Welterschließungscharakter besitzt; Kategorien im Sinne der politischen Bildung werden damit zu den prägenden Strukturen eines Wirklichkeitsbereiches. »In der politischen Bildung öffnen die Kategorien Zugänge zum Politischen« – und hierfür ist es notwendig, dass sie »ihr Zentrum im Begriff der Politik« selbst haben; Kategorien können hier also nicht den Charakter logischer Ableitungen haben, sondern müssen »vielmehr pragmatisch als Einsichten am Gegenstand Politik selbst gewonnen« 146 werden. Auch hier kann sich der Kategorienbegriff im Sinne der politischen Bildung nur sehr mittelbar auf die philosophischen, von Aristoteles und Kant herkommenden Begriffe der Kategorie berufen. In der Übertragung auf Fachwissenschaften bzw. -didaktiken zielt die Rede von Kategorien meist vielmehr auf »Grundbegriffe, unter denen eine Fachwissenschaft ihre Erkenntnisse zusammenfasst und ordnet.« 147 Im Rahmen der politischen Bildung haben sich hier vor allem drei verschiedene Kategriensysteme etabliert: Ein erster Versuch, die Sphäre des Politischen kategorial zu strukturieren ist die dem Englischen entlehnte Unterscheidung der drei politischen Dimensionen Polity, Policy und Politics. Dabei zielt Polity auf die Dimension der politischen Ordnung, Policy auf die Inhalte und Ziele von Politik und Politics auf den Charakter des politischen Handelns selbst. 148 Von jedem dieser drei Gesichtspunkte aus kann das Feld des Politischen mit mehreren Kategorien erschlossen werden kann, ob diese Erweiterung tatsächlich einen zusätzlichen, konstitutiven Betrag zur Erschließung des Politischen zu leisten vermag. vgl. Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 306. 145 Massing, Peter: Wege zu einem kategorialen und handlungsorientierten Unterricht. In: Kuhn, Hans-Werner/Massing, Peter (Hrsg.): Politikunterricht – kategorial und handlungsorientiert. Schwalbach 1999, 5–38, 11. 146 Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 295. 147 Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 307. 148 Vgl. Ackermann, Paul; Breit, Gotthard; Cremer, Will; Massing, Peter; Weinbrenner, Peter: Politikdidaktik kurzgefasst. Dreizehn Planungsfragen für den Politikunterricht. Schwalbach 1994, 31 f.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
werden. Wenngleich diese Einteilung des Politischen in drei Dimensionen so plausibel wie übersichtlich erscheint und damit sicher einen gewissen heuristischen Wert für sich beanspruchen kann, so erlaubt sie doch bloß recht formale Differenzierungen und lässt für die Entwicklung valider Kriterien der Beurteilung wenig Fruchtbares erwarten: »In normativer Hinsicht sind sie folglich blind.« 149 Ein analytischer Bezugsrahmen des Politischen, der sich mit Hilfe sequenzieller Kategorien auf Politik als einen Problemverarbeitungsprozess richtet, ist der aus der Policy-Forschung stammende policy cycle oder Politikzyklus. Es handelt sich um ein Phasenmodell des Politischen, welches im Gegensatz zum recht statischen Dimensionenmodell Politik als dynamischen Prozess begreift. Die Minimalversion eines solchen Zyklus ist der Dreischritt »Politikinitiierung – Politikdurchführung – Politikbeendigung«, wobei dieses Modell um verschiedene Phasen und Faktoren politischer Prozesse erweiterbar ist, um seine analytische Schärfe zu erhöhen und es gegebenenfalls zu akzentuieren. Es wird hier stets davon ausgegangen, dass Politik im Kern darin besteht, dass menschliche Probleme die Ebene der Öffentlichkeit erreichen, sodass zunächst eine öffentliche Auseinandersetzung erfolgt. Zyklisch ist das Modell zu nennen, weil der von einem Problem angestoßene Prozess öffentlicher Auseinandersetzung idealtypischerweise auf eine Entscheidung zuläuft, welche wiederum mit Problemen behaftet ist, die zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung werden müssen. So entstehen Modelle, welche politische Problemlösungsprozesse in vier bis sechs Phasen unterteilen. 150 Einer allzu technischen Vorstellung politischer Problemlösungsprozesse wird auf diese Weise vorgebeugt, da das Phasenmodell der Vorstellung einer produkthaft abschließbaren Lösung politischer Prozesse entbehrt; auch vor dem Hintergrund des pluralistisch-multiperspektivischen Wesens des Politischen erweist sich
Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 297. Achermann u. a. weisen zudem darauf hin, dass die Unterscheidung der drei Dimensionen eine nur analytische ist, die zu einer »Zergliederung des Realzusammenhanges« führen könne. Zudem erscheint Politik in der Analyse der drei Dimensionen leicht als etwas Statisches, Unhistorisches. Vgl. Ackermann u. a., Politikdidaktik kurzgefasst, 29 f.; ebenso Massing, Wege zum Politischen, 79 f. Massing merkt zudem an, dass das Modell der drei Dimensionen uns keinerlei Hilfe bei dem didaktischen Problem der unterrichtlichen Inhaltsauswahl bietet. 150 Vgl. Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 299. 149
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
der Zyklus als plausibles Analysemodell. 151 Seine Grenzen liegen dennoch letztlich in seiner Modellhaftigkeit selbst: »Auch wenn das Modell von Politik noch so komplex ist, seine Beziehung zur vielfältigen politischen Wirklichkeit gleicht trotzdem etwa dem Verhältnis einer Büchse Fleischextrakts zu einer Rinderherde.« 152
Der Politikzyklus ist ein Instrument der Analyse und der Darstellung, während das politische Geschehen nicht zwingendermaßen auch im Bewusstsein der politisch Handelnden ein konstruktiver Problemlösungsprozess ist und seine etwas schematische Unterteilung in vier bis sechs Phasen nicht notwendigerweise ins Zentrum dessen führen muss, was politische Auseinandersetzung im Kern ausmacht. 153 Für Hannah Arendt hätten wir es hier wohl mit einem »Prozeßdenken« zu tun, »das zudem noch meint, den historischen Prozeß im ganzen […] überblicken zu können.« Als solches sieht es »nur Gradunterschiede und verfehlt dabei die eigentlich politischen Phänomene.« (WiA 162) Zudem können wir uns an dieser Stelle Arendts Begriff politischer Praxis in Erinnerung rufen, bei der es darum ging, initiativ zu werden in dem Sinne, dass ein initium, ein Anfang gesetzt wird. Das Bild des Zyklus erweckt den Eindruck, Politik drehe sich ohne Anfang und Ende mehr oder weniger um sich selbst – die Vorstellung eines in menschlicher Freiheit gründenden Handelns scheint hier keinen Platz zu finden. Arendts Verständnis eines Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten, in welches das Handeln des Einzelnen einen neuen Faden schlägt, scheint politische Prozesse zwar weniger übersichtlich abzubilden, unterstellt aber in weit geringerem Maße eine dem Geschehen möglicherweise unangemessene intentional-teleologische Struktur. Kategorien politischer Bildung müssen sich, so hatten wir gesehen, am Begriff des Politischen selbst orientieren, um dieses als Realitätsbereich angemessen erschließen zu können. Im Anschluss an Bernhard Sutor formuliert Detjen den Weg, der herkommend vom Begriff des Politischen selbst zu Kategorien führen soll, welche den Zugang zu diesem ermöglichen können, folgendermaßen:
Vgl. Massing, Wege zum Politischen, 83 ff. Massing, Wege zum Politischen, 89. 153 Vgl. Massing, Wege zum Politischen, 89 sowie Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 300 f. 151 152
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
»Generell besteht die menschliche Daseinsbewältigung darin, Spannungsverhältnisse von Elementen oder Prinzipien, die sich gegenseitig bedingen oder begrenzen, zum Ausgleich zu bringen. In diesen nicht auflösbaren Spannungen entfaltet sich auch das menschliche Leben in Gesellschaft. Politisches Gestalten bewegt sich also zwischen Polen und muss die Spannung zwischen ihnen aushalten.« 154
Da polare, nicht aufhebbare Spannungen die Sphäre des Politischen schon aufgrund dessen pluraler Verfasstheit notwendigerweise mitbestimmen, erscheint es folgerichtig, die Kategorien politischer Bildung als politische Grundbegriffe zu verstehen, die sich ebenfalls in unaufhebbarer Spannung gegenüberstehen und deren Verhältnisbestimmung gleichsam erst das Feld aufspannt, in dem sich politische Urteilsbildung dann vollziehen kann. Detjen schlägt hier – wiederum im Rückgriff auf die Arbeiten Sutors – zehn Kategorienpaare vor, welche das politische Verstehen leiten sollen. 155
1.4.3. Übungen im politischen Denken Das Politische und das Soziale, privat und öffentlich, Macht und Gewalt, Freiheit und Souveränität, Autorität und Zwang – die Liste unaufhebbare Spannungen enthaltender Begriffspaare, über deren Aufschlüsselung Hannah Arendt versucht, das Feld des Politischen zu vermessen, ließe sich verlängern. Dieses Vorgehen entspricht, wie Ernst Vollrath herausgearbeitet hat, ihrer Methode des politischen Denkens. Wir hatten bereits gesehen, dass Hannah Arendt selbst das Verstehen als das movens dieses Denkens angegeben hat. Dieses Verstehen nun vollzieht sich ganz wesentlich durch das »Unterschiede-Machen« und kann in diesem
Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 301. Die zehn Begriffspaare sind Kommunikation – Integration, Macht – Recht, Prozess – Ordnung, Gesellschaft – Staat, Interessen – Gemeinwohl, Dissens – Konsens, Konflikt – Kompromiss, Partizipation – Repräsentation, Freiheit – Gleichheit, Effizienz – Legitimität. (Vgl. Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart, 301 f.) Auch wenn der erkenntnisfördernde Wert dieser Kategorien kaum bezweifelt werden kann, muss doch gefragt werden, ob sie tatsächlich »die Spezifika der Politik bereits erschöpfend ein[fangen]« (ebd., 306) oder ob der kategoriale Aspekt der politischen Bildung nicht eher darin besteht, im Abgleich mit dem politischen Geschehen den Aufweis solcher polaren begrifflichen Spannungen, deren Liste sich kaum schließen lassen dürfte, zu betreiben und zur Formulierung zu bringen. 154 155
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
Sinne als kategorial strukturiert bezeichnet werden. 156 Sie wehrte sich darum auch gegen die »neueren Methoden der Sozialwissenschaften«, welche in ihrem quantitativ-soziologischen Zugriff auf das Politische dazu führen, »daß sich Unterscheidungen, wie wir sie vorschlagen, überhaupt erübrigen.« (WiA 166) Eine sich in Arendts Sinne am Politischen selbst orientierende Hintergrundtheorie politischer Bildung wird nun zu klären haben, wie »die Spannung zwischen dem Verallgemeinerbaren und Exemplarischen von Politik einerseits und den lebensweltlichen Erfahrungen der Schüler und konkreten Gegenständen des Unterrichts andererseits durch einen kategorial strukturierten und als Deutungslernen gestalteten Prozess politischer Urteilsbildung überbrückt wird.« 157
Dazu ist ein genauerer Blick auf die Kategorien notwendig, mit denen die Wirklichkeit der Welt strukturiert werden soll. Als »Begriffe, die uns einen Wirklichkeitsbereich erschließen« 158 , müssen sich solche Kategorien stets auf die Erfahrung politischer Wirklichkeit beziehen, weil – so Hannah Arendt – alles »Denken aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung erwächst und an sie als die einzigen Wegweiser, mit deren Hilfe man sich orientiert, gebunden bleiben muß.« (ZVZ 18) Hannah Arendts Übungen im politischen Denken bestehen darum zu einem guten Teil aus einer »Kritik der Vergangenheit, der traditionellen Begriffe«, deren »Hauptziel ansonsten darin besteht, die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe zu entdecken, um aus ihnen ihren ursprünglichen Geist herauszudestillieren. Gemeint ist der Geist, der sich gerade aus den Schlüsselworten der politischen Sprache – als da sind Freiheit und Gerechtigkeit, Autorität und Vernunft, Verantwortung und Tugend, Macht und Ruhm, mit denen fast alle Rechnungen ohne Rücksicht auf die dahinter liegende phänomenale Wirklichkeit beglichen werden müssen – so schmählich verflüchtigt und leere Hülsen hinterlassen hat.« (Ebd.)
Nur im Zusammenspiel mit der lebendigen Erfahrung politischer Phänomene vermag uns die begriffliche Reflexion also das Wesentliche, das Verallgemeinerbare von Politik aufzuschließen, das es ohne 156 Vgl. Vollrath, Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens, 74 f., Zitat ebd. Zur Rolle von Unterscheidungen in Arendts Denken vgl. auch Falkenhagen, Die Macht der Unterscheidung, 197 f. 157 Henkenborg, Werte und kategoriale Schlüsselfragen im Politikunterricht, 265. 158 Sutor, Politische Bildung als Praxis, 33.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
diese Erfahrung des phänomenal verfassten Politischen nicht geben würde. Insofern ist politische Wissenschaft ebenso wie politische Bildung stets praktische, also auf die Praxis bezogene Wissenschaft. Arendts Hinweis auf die »lebendige Erfahrung«, aus der alles Denken erwachsen soll, meint hier keineswegs, dass Arendt einer empiristischen Erkenntnistheorie das Wort reden wollte. Vielmehr geht es ihr um etwas, was Klafki als die »›wechselseitige Erschließung‹ von Subjekt und Wirklichkeit« 159 zu fassen versucht hatte: Nur insofern Begriff und politische Erfahrung aufeinander bezogen sind, ist sinnvolles politisches Denken möglich; weder erschließt sich der Sinn einer Erfahrung, ohne dass diese kategorial vorstrukturiert ist, noch ist politisches Denken als begriffliche Reflexion ohne Bezugnahme auf das Konkrete, Einzelne, Besondere möglich. 160 Bei Klafki hatte sich dieser Zusammenhang in dessen Begriff der kategorialen Anschauung verdichtet: »Immer werde im Besonderen ein ›Allgemeines‹ erfaßt, das dennoch unmittelbar gegeben sei. Wenn dieses Allgemeine der Anschauung sowohl den besonderen ›Fall‹, durch den es erscheint, als auch eine Reihe anderer ›Fälle‹ oder sogar eine ganze Wirklichkeitsdimension erschließe, dann wirke solche Anschauung als Kategorie dessen, der sie erfaßt habe, d. h. als kategoriale Anschauung.« 161
Für Arendts politisches Denken ist es darüber hinaus nun charakteristisch, dass der konkreten Erfahrung im Politischen nicht nur die Rolle eines an sich kontingenten Einzelfalles zukommt, sondern das Einzelne ist als Beispiel eines Allgemeinen und damit – wie Arendt es mit Kant formuliert, »der Gängelwagen der Urteilskraft«. (U 101/ KrV B 173 f.). 162 Politische Phänomene sind Einzelfälle, deren EinKlafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 96. Vgl. zu diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit Annette Kammertöns und Sutors Erläuterung des hermeneutischen Zirkels in Breier, Leitbilder der Freiheit, 293 ff. 161 Ebert, Kategoriale Bildung, 56 f. 162 Wenngleich die Berührungsfläche zwischen Klafkis und Arendts Denken freilich insgesamt klein ist, so ging es uns an dieser Stelle darum, Bezugspunkte in Arendts Denken für didaktische Grundfragen aufzuweisen. Die Unterschiede gerade im Verständnis des exemplarischen Denkens sind, schon was die konkreten Begrifflichkeiten angeht, immens: So versteht Klafki das Exemplarische als einen bloß didaktisch gebrauchten Anlass oder Anstoß eines an sich mathematisch-naturwissenschaftlich gedachten Verhältnisses von Gesetzmäßigkeit und Einzelfall. Arendts Verständnis des Beispiels im politischen Denken mit seinem spezifischen Verhältnis von Einzelnem und allgemeiner Regel wird bei Klafki tendenziell wohl eher durch den Begriff des 159 160
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
maligkeit zu ihrem Wesen gehört, denn »kein politischer Konflikt ist ein Exemplar neben vielen anderen der gleichen Art.« 163 Die Wirklichkeit der Welt ist für Arendt eine Wirklichkeit von Erscheinungen (vgl. D 29 ff.), welche stets nur als einzelne Beispiele dessen existieren, was in der Gesamtschau die gemeinsame Welt ausmacht. Vollrath arbeitet die wechselseitige Erschließung von Denken und Welt heraus: »Das Denken ist dabei auf die Welt und ihre Phänomene gerichtet und hält sich an deren Wirklichkeit, um so selber wirklich zu werden. Es verwandelt sich aus dem reinen Denken in das Urteilen und das urteilende Verstehen. Die Basis solchen Urteilens sind nicht die Erfahrungen, die das reine Denken mit sich selbst machen kann, sondern es ist die Welt, in der wir mit anderen leben und die in Gefahr ist, wann immer pure Logizität an die Stelle der Erfahrung der gemeinsamen Wirklichkeit der Welt getreten ist.« 164
Nur in Abgleich und Austausch mit der Erfahrung ist politische Kategorienbildung möglich; Politische Begriffe sind für Hannah Arendt nicht Entitäten metaphysischen Ursprungs, welche eine dieser vorgängige Ordnung der Welt der Erscheinungen wären. 165 Hier liegt sicher auch einer der Gründe dafür, dass Arendt bei ihren Texten nicht von Grundlagen oder Ergebnissen, sondern eben von Übungen im politischen Denken gesprochen hat. Politisches Denken hat es nicht mit einer ewigen, metaphysischen Ordnung zu tun, sondern es ist seinem Wesen nach von einer gewissen Vorläufigkeit geprägt, welche der Fähigkeit der Menschen zur Freiheit und damit zum Neuen geschuldet ist. Marie Luise Knott hat Arendts begriffliche Verstehensarbeit darum mit dem methodischen Begriff des »Verlernens« beschrieben. 166 Für ein festes, seinem Umfang und Inhalt nach abgeschlossenes System politischer Kategorien lässt sich Arendt folglich sicher nicht in Anspruch nehmen. Der »ursprüngliche Geist der traditionellen Typischen abgebildet. Vgl. Klafki, Das pädagogische Problem des Elementaren, 445 ff. sowie dazu Ebert, Kategoriale Bildung, 62 f. 163 Fischer, Das Exemplarische im Politikunterricht, 41. 164 Vollrath, Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens, 79. 165 Arendt zufolge geht die Vorstellung transzendenter Begriffe, die den Bereich der menschlichen Angelegenheiten ordnen sollen, auf Platon zurück – wofür dessen Ideenlehre ursprünglich aber gar nicht gedacht gewesen und de facto auch untauglich sei. (Vgl. WiA 177 ff.) 166 Vgl. Knott, Marie Luise: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt. Berlin 2011. Zum »Verlernen« bei Arendt vgl. auch Hahn, Hannah Arendt, 20.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
Begriffe« lässt sich aus diesen eben nicht herausdestillieren, ohne die phänomenale Wirklichkeit im Blick zu behalten. Auch in diesem Punkt war sie geprägt von der Erfahrung des Totalitarismus, der »unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für das moralische Urteil gesprengt« (VuP 112) habe. Im Totalitarismus zeigt sich etwas Neues; er ist darum nicht nur der zentrale Dreh- und Angelpunkt des arendtschen Denkens, sondern er zeigt seinerseits auf, worin hier ein Problem für die politische Bildung besteht: Mit feststehenden Kategoriensystemen ist immer nur dasjenige an den politischen Phänomenen fassbar, worin sich diese ähnlich sind. 167 »Da die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der Geist im Dunkeln« – Arendt zitiert diesen Satz Toquevilles mit dem Hinweis, auch dieser sei »aus einer Situation heraus geschrieben, in der die philosophischen Kategorien der Vergangenheit nicht mehr zum Verstehen ausreichten.« (PuP 399) In dieser Situation nun befinden wir uns umso mehr, da der Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts Grundkonstanten politischen Denkens massiv in Frage gestellt hat. Die Begriffe der philosophischen Tradition sind für das politische Verstehen darum nur sehr bedingt nutzbar zu machen: »Das Vertrackte an der Weisheit der Vergangenheit ist, daß sie uns sozusagen unter den Händen zerrinnt, sobald wir sie ernsthaft auf die zentralen politischen Erfahrungen unserer eigenen Zeit anzuwenden suchen.« (VuP 112) Dem Neuen, das durch die im menschlichen Handeln wurzelnde Anfänglichkeit in die Welt kommt, tragen die überlieferten politischen Kategorien nur unzureichend Rechnung – auch wenn wir gar nicht anders können, als von diesen auszugehen, um dieses Neue begreiflich zu machen. (vgl. VuP 115) Systematisch stellt sich hier also insgesamt die Frage, wie sich unser Umgang mit der Tradition gestalten soll, »wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind und die Erinnerung an den Anfang ganz und gar verblaßt ist.« 168 Für die politische Bildung muss dies heißen, dass »die politischem Handeln zugrundeliegenden Prinzipien im Sinne von Erkenntnissen immer neu zu erarbeiten, und ihre Integration in den Urteilsprozeß als Maßstäbe, als Maßgeblichkeiten […] zu üben« ist. Vgl. Fischer, Das Exemplarische im Politikunterricht, 43. Arendt, Hannah: Tradition und die Neuzeit. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 23–53, im Folgenden zitiert als TuN, hier 35.
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Politische Orientierung durch Kategorien und Begriffe
Auch Fischer bringt hier den Begriff der Übung ins Spiel, da auch für ihn Umfang und Inhalt sinnvoller politischer Kategorien kein feststehender Kanon und damit »das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch längst nicht gesprochen« 169 sein kann. So sinnvoll es also erscheint, Kategorien der politischen Bildung strukturell als zueinander in Spannung stehende Grundbegriffe fassen zu wollen, so unangemessen scheint die Vorstellung eines festen Kanons; jede solche »Zusammenstellung bedarf neuer Reflexion.« 170 So notwendig wir von solchen Kategorien ausgehen müssen, um politische Phänomene verständlich zu machen, sosehr müssen wir offenbar darauf achten, dass wir unsere Kategorien flüssig halten, um die für ein Verstehen des Neuen notwendige Offenheit nicht zu verstellen. Eine Herausforderung für eine von Hannah Arendt ausgehende Theorie politischer Bildung wird folglich darin bestehen, aufzuweisen, wie die Genese solcher Kategorien nun überhaupt denkbar ist und wie ihre Er- und Bearbeitung bewerkstelligt werden kann. Hier liegt der genuin philosophische Anteil einer Theorie politischer Bildung, weil es hier um die Reflexion des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem geht. Dass philosophische Begriffsbildung in dieser Perspektive völlig unverzichtbar ist, hat Hannah Arendt trotz aller Kritik am unpolitischen Wesen der »Fachphilosophie« und der »Denker von Gewerbe« gesehen; ihre breite Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte wäre sonst auch kaum erklärlich. Die Frage nach dem Zusammenhang philosophischer Konzepte und politischer Phänomene hat Arendt besonders in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes thematisiert. Aber »The Life of the Mind ist kein Buch, das von Politik handelt. Zumindest nicht explizit. Es handelt von den Kategorien, die das abendländische Denken bis heute begleitet haben: Denken, Wollen, Urteilen. Als ob die Frage nach der Politik nur über einen Umweg, nicht direkt zu stellen wäre.« 171 Diesen Umweg in den Blick zu nehmen, wird im Hauptteil dieser Arbeit den eigentlichen Fokus der Auseinandersetzung mit Arendts Denken bilden. Für Hannah Arendt wird die Entwicklung politischer Kategorien – soviel können wir an dieser Stelle schon sagen – stets vom Einzelnen, oder genauer: vom Beispiel ausgehen. In ihrer Auseinanderset169 170 171
Fischer, Das Exemplarische im Politikunterricht, 42 f. Ebd. Hahn, Hannah Arendt, 15.
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Arendts Denken im Kontext politischer Bildung
zung mit Kants Urteilslehre schreibt sie: »Das Beispiel ist das Besondere, das einen Begriff oder eine allgemeine Regel in sich enthält […]. Die Beispiele leiten und führen uns, und das Urteil nimmt dadurch ›exemplarische Gültigkeit‹ an.« (U 110) 172 Politisches Urteilen – und die Forderung nach politischer Urteilsfähigkeit ist es, was die Zielformulierung der Mündigkeit mit dem arendtschen Denken im Kern verbindet – subsumiert den Einzelfall nicht unter eine Regel, sondern es findet das Allgemeine vom Besonderen, vom Beispiel her. Von Hannah Arendt her argumentieren zu wollen, ist also in sich schon ein methodisches Vorgehen, welches der ihr eigenen Verfahrensweise entspricht: Es ist exemplarisch, oder wie Volker Gerhardt es formuliert: »Es zeigt am Beispiel, was daran begrifflich belastbar und insofern allgemein gültig ist. Das Einzelne ist der Ausgangspunkt allen Denkens […]. Im Exemplarischen erhält das Individuelle einen universellen Rang.« 173 Wenn unser Denken nun aber in dieser Weise exemplarisch verfasst ist; wenn wir gar nicht anders können, als exemplarisch zu denken, dann folgt daraus für die Didaktik, dass ein exemplarisches Vorgehen nicht nur und nicht einmal in erster Linie zu verstehen ist als Antwort auf das »Problem, daß die Menge des gesellschaftlich vorhandenen Wissens immer größer ist als das Wissenswerte« 174 – denn diese Erkenntnis ist philosophisch gesehen banal. Dass politische Bildung in sich exemplarisch verfasst sein muss, liegt daran, dass unser politisches Denken in sich exemplarisch verfasst ist. Und diesen Umstand gilt es an Hannah Arendts Rezeption der kantischen Philosophie herauszuarbeiten.
Reihenfolge vom Verfasser umgestellt. Gerhardt, Volker: Einleitung: Exemplarisches Denken. In: Ders.: Exemplarisches Denken. München 2009, 13–18, 16 f. 174 Grammes, Tilmann: Exemplarisches Lernen. In: Gagel, Handbuch politische Bildung, 49–62, 49. Gleichwohl hat die wissenschaftliche Diskussion um das Exemplarische in der Bewältigung der Stofffülle explizit einen seiner wichtigen Ausgangspunkte. Die sogenannten »Tübinger Beschlüsse« von 1951 sahen im Bildungssystem des Nachkriegsdeutschlands die Gefahr, dass in Schule wie Hochschule »das geistige Leben durch die Fülle des Stoffs zu ersticken« drohe und wurden damit zu einer Art Initialzündung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sowie zur »allgemeine[n] Ermunterung, dem Stoffelend auf positive Weise zu entgehen.« Gerner, Berthold: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Das exemplarische Prinzip. Beiträge zur Didaktik der Gegenwart. Darmstadt 1972, IX–XXIII, IXf. 172 173
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2. Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
2.1. Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik 2.1.1. Das Ressentiment der Philosophie: Politik und Philosophiedidaktik Inwiefern ist nun politische Bildung ein Anliegen der Philosophiedidaktik? Ist sie es überhaupt? Wir erwähnten schon, dass Hannah Arendt einen Konflikt zwischen Philosophie und Politik ausgemacht hatte, welcher für sie bis auf Platon zurückging und sich von dort durch den größeren Teil der politischen Philosophie zog. Arendt zufolge hätten die allermeisten Philosophen »mit Platon übereingestimmt: Nimm diesen ganzen Bereich menschlicher Angelegenheiten nicht zu ernst!« (U 34) Zur Verdeutlichung dieses Konfliktes zitiert sie Pascal, der die besagte, abschätzige Haltung der Philosophie gegenüber dem für das Politische konstitutiven Bereich der »menschlichen Angelegenheiten« auf pointierte Weise zusammenfasst, indem er über Platon und Aristoteles schreibt: »Wenn sie zu ihrer Zerstreuung ihre Gesetze und ihre Politik machten, war das für sie nur ein Spiel; es war der am wenigsten philosophische und am wenigsten ernste Teil ihres Lebens; der philosophischste war, einfach und ruhig zu leben. Wenn sie über Politik schrieben, taten sie es gleichsam, um ein Narrenhaus zu ordnen. Und wenn sie zum Schein davon sprachen wie von einer großen Sache, so nur deshalb, weil ihre Zuhörer Könige oder Kaiser zu sein glaubten. Sie gingen auf deren Prinzipien ein, um ihre Narrheit so unschädlich wie möglich zu machen.« 1
Auch Arendt gesteht zu, dass diese Einschätzung sicherlich als übertrieben gelten darf. Dennoch bleibt an dieser Stelle die Frage interessant, inwieweit es der Philosophiedidaktik bisher gelungen ist, sich Pascal, Blaise: Gedanken. Übers. v. Rüttenauer, Wolfgang. Köln 1997, Nr. 326, S. 161 f.
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
von dem beschriebenen Konflikt abzusetzen und das Politische als Spezifikum des Menschen ernst zu nehmen. Hier zeigt sich ein disparates Bild: Während nahezu alle Lehrpläne und Richtlinien 2 der politischen Philosophie eine deutlich akzentuierte curriculare Position in den Richtlinien des Faches zuerkennen, erscheint die Rolle des Politischen in der fachdidaktischen Diskussion einen sehr überschaubaren Raum einzunehmen. Den meisten einschlägigen Hauptwerken zur Philosophiedidaktik sind die Begriffe »Politik«, »Staat« oder »Demokratie« nicht mal einen Eintrag im Stichwortregister wert. 3 So werden zwar auf der curricularen Ebene durchaus Inhalte der politischen Philosophie in nicht geringem Umfang als obligatorische Inhalte verstanden und auch die Lehrpläne sehen die Philosophie sehr weitgehend in der Pflicht, eine Aufgabe in der politischen Bildung wahrnehmen zu sollen. In der fachdidaktischen Diskussion bleibt die Reflexion des Problems, auf welche Weise philosophische Bildung einen Beitrag zu politischer Bildung zu leisten im Stande ist, dagegen auf merkwürdige Weise hinter diesem Anspruch zurück. 4 In Nordrhein-Westfalen ist »die Aufgabe der politischen Bildung« nicht nur in den Richtlinien des Faches Philosophie für die Sekundarstufe II verankert, es entfällt auch ein ganzes Halbjahr des Oberstufenunterrichts auf »Probleme von Politik, Recht, Staat und Gesellschaft (Rechts- und Staatsphilosophie)«. Ähnlich ist die Lage in der Sekundarstufe I: Eines der sieben »Fragenkreise« genannten Themenfelder stellt die »Frage nach Recht, Staat und Wirtschaft« und macht damit eine regelmäßige Beschäftigung mit politischen Gegenständen im weiteren Sinne obligatorisch. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Philosophie. Frechen 1999, XVI, 14 f. 18; Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Praktische Philosophie. Frechen 2008, 12. 3 Dies gilt z. B. für Rehfus, Wullf D. und Becker, Horst: Handbuch des Philosophieunterrichts. Düsseldorf 1986; Martens, Ekkehard: Einführung in die Didaktik der Philosophie. Darmstadt 1983 sowie Steenblock, Volker: Theorie der kulturellen Bildung. Zur Philosophie und Didaktik der Geisteswissenschaften. München 1999. 4 Freilich ist es nicht so, als wäre der Zusammenhang von Philosophie und Politischer Bildung aus der Perspektive der Philosophiedidaktik noch nie thematisiert worden. Einer der frühesten Belege ist hier wohl das Bändchen von Holzapfel, Heinrich (Hrsg.): Philosophie und politische Bildung an den höheren Schulen. Düsseldorf 1960. Allerdings wird auch hier weniger die politisch bildende Dimension der Philosophie diskutiert, als vielmehr die Möglichkeit der Einbeziehung von Inhalten der politischen Philosophie in den Gymnasialunterricht. Die Zurückhaltung der Didaktik in dieser Perspektive hat Johannes Rohbeck mit einer seit den 1970er Jahren, besonders seit dem 1978 abgehaltenen Kongress »Mut zur Erziehung« verbreiteten Haltung erklärt, 2
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Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik
Wir wollen uns diesen Zusammenhang in Auseinandersetzung mit einflussreichen philosophiedidaktischen Positionen verdeutlichen. In Wulff D. Rehfus’ bildungstheoretischem Ansatz bedeutet Philosophieunterricht in erster Linie, »daß sich der Schüler Wirklichkeit theoretisch aneignet und nicht praktisch.« In der Folge wird Handlungsorientierung von Rehfus vehement aus den Zielen des Philosophieunterrichts verbannt, denn die Gefahr einer solchen Ausrichtung ist für ihn, »Nützlichkeitsdenken, funktionales, instrumentelles Denken, ist Ideologie und Dogmatismus. Ein Denken, das eingebunden ist in eine vorab schon festgelegte Praxis, verdient nicht den Namen Philosophie.« 5 Das Ergebnis des im Grundsatz zu unterstützenden Anliegens, die Ausrichtung des Philosophieunterrichts nicht durch falsch verstandene Handlungsorientierung auf Utilitätsdenken zu verkürzen, bringt in Rehfus’ Texten leider eine Abwehrreaktion mit sich, welche die Philosophiedidaktik von vornherein von jeglicher politischen Dimension abschneidet: »Denken kann nicht an Praxis gemessen werden, sondern nur am Denken selbst. Denken muss davor bewahrt werden, sich vor der Praxis rechtfertigen zu müssen. Das Maß des Denkens ist einzig das Denken.« Wenn Praxis wie hier gegen Theorie ausgespielt wird, muss sich die Rolle des Politischen für die Philosophiedidaktik notwendigerweise marginalisieren. Zwar gibt es für Rehfus »nichts, was nicht Gegenstand philosophischer Reflexion werden könnte« 6 , allerdings steht dieses Gegenstandwerden für Rehfus immer im Kontext der Selbst- und/ als »Subjektkonstituierung […]. Das Selbst des Edukanden muss als autonomes, selbstbewußtes und identisches konstituiert werden.« 7 Eine solche Konstitution des Ichs scheint für Rehfus zumindest so weit von den Handlungsbezügen dieses sich konstituierenden Subjekts abstrahieren zu können, dass sich in den Erörterungen zu Gegenstandsbereich und Intentionen seines sich gleichwohl als philoso»Erziehung sei eben nicht politisch zu verstehen.« Rohbeck selbst plädiert in diesem Zusammenhang für einen Philosophieunterricht, der nicht auf einen Ethikunterricht reduziert werden solle und in dem neben der ethischen auch die historische, politische und anthropologische Ebene einen festen Platz haben sollten. Rohbeck, Johannes: Politische Aufklärung und Moralerziehung. In: ZDP 4/1986, 241–249, 241, vgl. 248 f. 5 Rehfus, Wullf D.: Methodischer Zweifel und Metaphysik. Der bildungstheoretisch-identitätstheoretische Ansatz in der Philosophiedidaktik. In: Ders. und Becker, Handbuch des Philosophieunterrichts, 98–113, 101. 6 Rehfus, Wullf D.: Didaktik der Philosophie. Grundlage und Praxis. Düsseldorf 1980, 167. 7 Rehfus, Didaktik der Philosophie, 173.
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
phische Paideia verstehenden Ansatzes keinerlei Ausführungen finden lassen, welche die Bezogenheit des Menschen auf seine Mitmenschen als anthropologisch relevant reflektieren. 8 Hinweise, dass politische Bildung in einer so verstandenen Philosophiedidaktik eine Rolle spielen könnte oder gar sollte, enthält sein Ansatz folglich nicht. 9 Wie wir sehen werden, reproduziert Rehfus damit ein philosophisches Ressentiment, welches die Philosophie gewissermaßen von politischer wie didaktischer Praxis gleichermaßen abschneidet. 10 Eine Position, welche seit den 1980er Jahren gemeinhin als Gegenposition 11 zu Rehfus’ bildungstheoretischem Ansatz verstanden wird, bietet Ekkehard Martens’ »Dialogisch-pragmatische Philoso8 Vgl. Rehfus, Didaktik der Philosophie, 167 ff., 209 ff. Pfister macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Rehfus’ Vorstellung einer Konstitution des »ich« als Abarbeitung am objektiven Geist weder hinreichend klar ausgearbeitet ist noch in hinreichender Weise eine Verbindung zur Lebenswelt von Schülern herstellt. Vgl. Pfister, Jonas: Fachdidaktik Philosophie. Bern, Stuttgart, Wien 2010, 182. 9 Nicht zuletzt erscheint Rehfus’ Ansatz auch dadurch als nicht unproblematisch, dass ihm, worauf Martin Euringer hinweist, in praktischer Perspektive ein elitärer, traditionalistisch-moralisierender Grundzug zu eigen ist, welcher durch sein Verständnis von Philosophieunterricht als wertebildendem Unterricht zudem »pädagogische Missverständnisse« bereithalte. Euringer, Martin: Vernunft und Argumentation. Metatheoretische Analysen zur Fachdidaktik Philosophie. Darmstadt 2008, 144, vgl. 144 ff. 10 Es soll an dieser Stelle bemerkt werden, dass es in Perspektive auf die Orientierungsfunktion der Philosophie generell unproduktiv ist, Theorie und Praxis gegeneinander auszuspielen – sei es, wie bei Rehfus zu beobachten, zugunsten der Theorie, sei es, wie andernorts, zugunsten der Praxis. »Die ungebrochene Forderung nach Praxisorientierung kann deshalb in der Tat nicht überzeugen, weil sie damit Theorie zum ›impotenten‹ Anhängsel einer bestehenden Praxis macht; Theorie wäre auf diese Art und Weise überflüssig.« Heiner Hastedt schlägt deshalb vor, »Theorie und Praxis nicht mehr als strikte Alternative zu begreifen«, wenn man nicht den Orientierungsanspruch der praktischen Philosophie einbüßen wolle. Hastedt, Heiner: Philosophische Ethik und Orientierung in der Moderne. In: Dietz, Simone u. a. (Hrsg.): Sich im Denken orientieren. Für Herbert Schnädelbach. Frankfurt a. M. 1996, 156–171, 160 f. 11 Wie Steenblock zeigt, erweist sich in der Praxis »ein Gutteil des bisher diskutierten Gegensatzes […] als Scheingegensatz«, wenn man von sich von der Vorstellung einer objektiv vorliegenden Philosophie im Sinne eines feststehenden Bildungsgutes verabschiedet. Vgl. Steenblock, Volker: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophiedidaktik und Handbuch: Praktische Philosophie. Münster 2011, 31 f. Das prizipiell unterschiedliche Verständnis von Didaktik als einer der »eigentlichen« Philosophie nachgeordneten Disziplin bei Rehfus und einem konstitutiven Verhältnis von Didaktik und Philosophie bei Martens bleibt freilich ebenso bestehen wie ihre unterschiedliche Einschätzung der Rolle dialogischer Praxis für den Philosophieunterricht.
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Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik
phiedidaktik« 12 , welche sich zudem – wie wir sehen werden – durch eine weit höhere Anschlussfähigkeit an die Theorie der politischen Bildung auszeichnet. Als Martens’ didaktische Grundannahme kann gelten, dass die Leistung von Philosophieunterricht darin besteht, ein »Dialogangebot« 13 zu machen; womit er die Philosophiedidaktik als solche in eine platonisch-sokratische Tradition stellt. 14 Auch das auf Martens zurückgehende philosophiedidaktische »Methodenparadigma« wird in letzter Konsequenz auf den platonischen Dialog Laches zurückgeführt. 15 Daneben stellt der Theätet mit seiner Entwicklung der für Platon erkenntnistheoretisch wichtigen Gesprächstechnik der Hebammenlehre, der Mäeutik, die argumentative Basis bereit, um die Qualitäten des »Dialog[s] als Lehr-Lernprozess« herauszustellen. Entgegen der bei Rehfus anzutreffenden Fixierung auf die Innerlichkeit des Subjekts wird hier von einem »konstitutive[n] Verhältnis von Dialog und Philosophie« 16 ausgegangen. Martens folgt damit einem Verständnis von Didaktik, welches nicht vom Blick auf das einzelne Subjekt her gedacht ist, sondern es ganz in arendtscher Manier unternimmt, der Pluralität als Grundbedingung menschlichen Seins Rechnung zu tragen. Auf diese Weise »subsumiert man ferner die philosophierenden Subjekte nicht unter die Einheit eines zeitlosen, apriorischen Vermittlungssubjekts, sondern faßt […] sie als Vielheit konkreter, empirischer Subjekte auf, die sich am philosophischen Objekt und aneinander abarbeiten müssen« 17 .
In Martens’ Programm verbinden sich also zwei Einsichten miteinander: In didaktischer Perspektive muss die Pluralität wirklicher Menschen ernst genommen werden und nicht zugunsten einer abstrakten Vorstellung von »dem Menschen« transzendiert werden. Dazu darf Martens, Ekkehard: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik. Hannover 1979. 13 Martens, Ekkehard: Philosophieunterricht als Problem- und Lerngeschichte. Ein dialogisch-pragmatischer Ansatz. In: Rehfus, Wullf D. und Becker, Horst: Handbuch des Philosophieunterrichts. Düsseldorf 1986, 89–97, 95. 14 Vgl. Martens, Einführung, 22 ff. 15 Vgl. Martens, Ekkehard: Wozu Philosophie in der Schule? In: Meyer, Kirsten (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Philosophie. Stuttgart 2010, 156–172, 160 ff. Eine ausführliche Darstellung dieses methodischen Instrumentariums findet sich in Martens, Ekkehard: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Hannover 2003. 16 Martens, Einführung, 56. 17 Martens, Einführung, 18 f. 12
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
handelnde Interaktion nicht aufgegeben werden zugunsten des logischen Prozesses der Subsumption empirischer Wirklichkeit unter ewige Maßstäbe, welche dieser völlig enthoben sind. Damit greift Martens Grundgedanken des arendtschen Denkens auf, welche wir im Verlauf der Arbeit noch genauer werden fassen müssen. Wir hatten bereits gesehen, dass Arendts Denken in hohem Maße einer Anthropologie verpflichtet ist, welche sich nie auf den Menschen, sondern stets auf die Menschen – im Plural – richtet, da sie Menschen als Wesen verstand, die »im Singular gar nicht vorstellbar« sind; »gäbe es nur einen Menschen, […] so gäbe es den Begriff Mensch in unserem Sinne überhaupt nicht« (FuP 214). Das Politische an dieser Grundannahme ist für Arendt offensichtlich: »Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen. […] Da die Philosophie und die Theologie sich immer mit dem Menschen beschäftigen, da alle ihre Aussagen richtig wären, wenn es entweder nur Einen Menschen oder nur zwei Menschen oder nur identische Menschen gäbe, haben sie keine philosophisch gültige Antwort auf die Frage: Was ist Politik? gefunden.« 18 (DTB 15)
Es wird deutlich, dass das Spannungsverhältnis, das Arendt zwischen Philosophie und Politik ausmacht, strukturell in vielerlei Hinsicht demjenigen ähnelt, das Martens für die Entfremdung zwischen der Philosophie und ihrer Didaktik verantwortlich macht. Wo Arendt in diesem Zusammenhang sogar von einer »Feindseligkeit gegen alle Politik bei den allermeisten Philosophen« (GG 47) spricht, da sind ähnliche Ressentiments der Fachphilosophie gegenüber der Philosophiedidaktik nicht weniger greifbar. Martens hat einige solcher Vorstellungen zur Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Philosophiedidaktik zusammengetragen und wie wir sehen werden, lässt sich hier eine Analogie zu dem von Arendt als spannungsreich beschriebenen Verhältnis zwischen Philosophie und Politik kaum von der Hand weisen. Vanessa Albus hat zudem erst kürzlich darauf hingewiesen, dass diese von Martens vor dreißig Jahren formulierten Vorbehalte der Fachphilosophie der Didaktik gegenüber sich seit dem Erscheinen von Martens’ Text – trotz eines offenkundig gestiegenen Bedarfs an Philosophiedi-
Arendt, Hannah: Denktagebuch. 2 Bde, München, Zürich 2003, im Folgenden zitiert als DTB, hier 15.
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Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik
daktik im schulischen wie außerschulischen Bereich – nicht wesentlich abgebaut haben. 19 Der ersten dieser Positionen zufolge wird die Didaktik von der Fachphilosophie bisweilen mit dem Argument für überflüssig gehalten, dass sowohl didaktisches Talent als auch die Eignung zum philosophischen Lernen einer Person in die Wiege gelegt sei – oder eben nicht: »Zum Philosophen muss man Geboren seyn, dazu erzogen werden, und sich selbst dazu erziehen: aber man kann durch keine menschliche Kunst dazu gemacht werden« 20 – Fichtes Worte in seiner Wissenschaftslehre von 1797 bringen dieses Argument auf den Punkt. Auch dass es in der Philosophie immer um »die Sache selbst« gehe oder die Philosophie in sich ohnehin didaktisch verfasst sei und ihre Vermittlung darum keiner externen Disziplin überlassen könne, stützen die von Martens insgesamt als »Überflüssigkeitsthese« bezeichnete Verhältnisbestimmung von Philosophie und Philosophiedidaktik. 21 Wenngleich hier keine direkten Parallelen zum Verhältnis der Philosophie zur Politik greifbar sind, so ist eine gewisse Abschätzigkeit in den Worten Fichtes wohl mit Händen zu greifen. Dieser Eindruck verstetigt sich, wo die Didaktik nicht nur auf ein Verständnis nachträglicher Vermittlungstechnik reduziert wird, sondern die Anforderungen der Didaktik an die Philosophie sogar als schädlich dargestellt werden. So führe eine »didaktische Rücksichtnahme« auf den Horizont der Lernenden nur allzu leicht zu verfälschenden Vereinfachungen, wodurch nicht nur dem Gegenstand Gewalt angetan, sondern zudem der Lerner nicht ernst genommen werde. 22 Martens hat diese Position exemplarisch an der Haltung Adornos zur Didaktik herausgearbeitet, dessen Skepsis gegenüber didaktischer Praxis auf die Gefahr zielt, dass um der Vermittlung willen und aus Rücksicht auf die Fähigkeiten der Rezipienten das Erfassen philosophischer Gegenstände in Kommunikation aufgelöst wird: »Kriterium des Wahren ist nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann. Zu widerstehen ist der fast universalen Nötigung, die
Vgl. Albus, Vanessa: Die desolate Lage der Philosophiedidaktik. In: Information Philosophie, 2/2013, 16–26, 20 f. 20 Fichte, Johann Gottlieb: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre 1797, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1971, 435. 21 Vgl. Martens, Einführung 9 ff. 22 Vgl. Martens, Einführung 11. 19
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
Kommunikation des Erkannten mit diesem zu verwechseln und womöglich höher zu stellen […].« 23 Adorno wendet sich damit gegen ein Denken, das »die Verständlichkeit aller Dinge für alle im Sinne eines konsequenten Anpassungsprinzips glorifiziert« 24 . In dieser Haltung scheint nicht zuletzt Adornos (mit Arendt geteiltes) »Unbehagen« 25 an der Gesellschaft als einer die Entwicklung des Subjekts überformenden Größe auf: »Fiktiv wäre es, zu unterstellen, unter gesellschaftlichen Bedingungen, zumal solchen der Bildung, welche die geistigen Produktivkräfte gängeln, zurechtstutzen, vielfach verkrüppeln […] könnten alle alles verstehen oder auch nur bemerken.« 26 Adornos Kritik ist dabei im Kern natürlich berechtigt. Eine Didaktik der Philosophie, welche ihre Aufgabe dadurch verrichten wollte, dass sie ihren Gegenstand in anbiedernder Art und Weise unkritisch den gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen anpassend eingliedern wollte, wäre fraglos abzulehnen. Doch Adornos Kritik geht offensichtlich tiefer, ist gegen didaktisch-pädagogische Praxis insgesamt gerichtet, wenn er schreibt: »Das Problem der immanenten Unwahrheit der Pädagogik ist wohl, daß die Sache, die man betreibt, auf die rezipierenden zugeschnitten wird, keine rein sachliche Arbeit um der Sache willen ist. Diese wird vielmehr pädagogisiert.« 27 Didaktisches Handeln wird hier offenbar nicht wegen einer etwaigen assimilierenden Unterwerfung des philosophischen Gegenstandes unter die Bedingungen des gesellschaftlichen Diskurses, sondern an sich abgelehnt. Wieder wird dabei Theorie gegen Praxis – hier der Gegenstand gegen seine Vermittlung – ausgespielt und die Praxis delegitimiert, da sie die Theorie notwendigerweise zu verfälschen scheint – ohne weiter zu reflektieren, wie der Gegenstand dem Subjekt ohne einen Prozess der Aneignung gegeben sein sollte. Es spricht einiges dafür, dass dieses Bild von Didaktik problematisch ist. »Mit seiner
Adorno, Theodor W: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966, 49. Adorno, Theodor W: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1974, Bd. 2, 32. 25 Vgl. dazu Ahrens, Jörn: In schlechter Gesellschaft. Über ein Unbehagen bei Arendt und Adorno. In: Auer, Dirk; Rensmann, Lars und Schulze Wessel, Julia: Arendt und Adorno. Frankfurt a. M. 2003, 234–259. 26 Adorno, Negative Dialektik, 49. 27 Adorno, Theodor W: Tabus über den Lehrberuf. In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit, 70–87, 75. 23 24
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umgekehrten Einseitigkeit, statt einer Subjekt- nun einer Objekt-Anpassung, denunziert Adorno jede Didaktik als ›immanent unwahr‹. Didaktik als Praxis und Philosophie als Theorie stehen sich unvermittelt gegenüber.« 28 Freilich unterscheidet sich das von Martens herausgearbeitete Ressentiment der Philosophie gegenüber ihrer Didaktik in vielen Punkten von demjenigen, das Arendt zufolge die Philosophie (zumindest in Teilen) gegenüber der Politik zu hegen pflegt. In ihrem Kern jedoch kommen beide in einer Abneigung überein, sich mit der Pluralität konkreter Menschen in ihrer faktischen Beschaffenheit zu befassen, welche sich letztlich – wie Arendt es formuliert – der Unbeholfenheit der Philosophie verdankt, mit konkreten »menschlichen Angelegenheiten« umzugehen. Während die Philosophie sich mit einer abstrakten Vorstellung von dem Menschen beschäftigen wolle, habe es die Politik – und darin kommt sie unserer Grundannahme zufolge mit der Didaktik überein – mit dem »Zusammen- und Miteinandersein der Verschiedenen« zu tun; mit Menschen in ihrer Besonderheit – nicht als einem Allgemeinen. »Der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen.« (Arendt, WiP 9 ff.) Für die Philosophie offenbart sich in ihrer Perspektive auf Kontemplation und Innerlichkeit eine gewisse Distanz zur menschlichen Praxis überhaupt. Diese Distanz verbindet sich mit der Philosophie jedoch keineswegs notwendig, ja nicht einmal ursprünglich, sondern sie ist vielmehr eine historisch gewachsene. 29 Aller problematischen pädagogiMartens, Einführung 14 f. In diesen Zusammenhang gehört auch die Vorstellung einer sogenannten EsoterikExoterik-Spannung, die sich mit der Philosophie verbinde; die Spannung zwischen Selbstbezüglichkeit der Philosophie gegenüber ihrer Wirksamkeit und möglicherweise sogar ihrer Verantwortung für die Welt außerhalb des akademisch-philosophischen Diskurses. Auch hier lässt sich auf vielfältige Weise zeigen, dass die Verortung der Philosophie in einem (esoterischen) akademischen Diskurs, welcher einer (exoterischen) »Restkultur« dichotomisch gegenübergestellt werden könnte, sicher zu kurz griffe. Holzhey und Zimmerli schreiben dazu: »Dieses Suchen nach Selbstgewißheit zwischen Innen und Außen ist die Frage nach Esoterik und Exoterik der Philosophie. Es ist ein heute bereits ehrwürdiger Mythos, daß Philosophie sich dabei stets für die Exoterik entschieden oder daß sie die Beziehung von Esoterik und Exoterik nur als Disjunktion verstanden habe.« Den Autoren zufolge ist »dieser Mythos trotz ehrwürdigem Alter irreführend und falsch«. Holzhey, Helmut und Zimmerli, Walther Ch.: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Basel, Stuttgart 1977, 9.
28 29
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schen Vereinnahmungen 30 des sokratischen Philosophierens zum Trotz steht die Person des Sokrates immer noch für eine der »paradigmatische[n] Möglichkeiten des Philosophierens bis heute«: das Ideal eines »öffentlichen Philosophierens«, das seine Affinität zum Politischen schon dadurch offenbart, dass es sich nicht in elitären Zirkeln, sondern »auf der Agorá, dem Markt, dem Zentrum des sozialen und politischen Lebens in Athen« 31 abspielt: »Das Ideal der Philosophie als einer allgemeinen, jeden Menschen betreffenden Angelegenheit« 32 . Die problematische Distanz zu den »menschlichen Angelegenheiten« – der menschlichen Alltags- und Lebenswelt – ist hier offenkundig noch nicht feststellbar. Wie Volker Steenblock herausgearbeitet hat, entwickelt sich – nicht zuletzt wohl befördert durch die der Politik angelastete Erfahrung der Hinrichtung des Sokrates (vgl. Arendt, PuP 384 ff.) – erst in der Folge, mit den Gründungen der platonischen Akademie und dem aristotelischen Lykeion, eine Entfernungsbewegung der Philosophie von Alltagswelt und politischer Öffentlichkeit: 33 »Auch Epikurs vielkritisierte Emigration aus der Politik mag den Eindruck einer der polis abgewandten Lebensform noch verstärken.« 34 Für Arendt haben wir es hierbei jedoch nicht nur mit einer organisatorisch-räumlichen Veränderung zu tun, sondern dieser ent-
Vgl. dazu Meyer-Drawe, Käte: Höhlenqualen. Bildungstheoretische Provokationen durch Sokrates und Platon. In: Rehn/Schües, Bildungsphilosophie, 36–51. 31 Steenblock, Volker: Philosophische Bildung im Prozess der Kultur. Wie stand es um die Orientierungsleistung der Philosophie in der Geschichte? In: Ders.: Philosophie und Lebenswelt. Beiträge zur Didaktik der Philosophie und Ethik. Hannover 2012, 75–96, 84, 77. 32 Steenblock, Volker: Von Athen nach PISA. Philosophische Bildung in der menschlichen Lebenswelt. In: Rehn/Schües, Bildungsphilosophie, 159–186, 162. 33 Obgleich wenn es üblich geworden ist, auch bei den Vorsokratikern von verschiedenen philosophischen Schulen – z. B. der eleatischen oder atomistischen Schule – zu sprechen, ist dies historisch in Bezug auf die Organisationsform des Philosophierens wenig angemessen: So »haben wir über einen wirklichen Schulbetrieb in dieser frühesten Epoche keinerlei Kenntnisse […]. Die erste philosophische Schule, die den Namen in vollem Umfang verdient, ist die Akademie, die Schule Platons, der sie in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts v. Chr. gegründet hat.« Insofern ist der hier geltend gemachte Bruch, der schon durch die organisatorische Absetzung der Philosophie von der politischen Öffentlichkeit zu verzeichnen ist, historisch durchaus belegbar. Vgl. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform. Frankfurt a. M. 2004, 96. 34 Steenblock, Philosophische Bildung im Prozess der Kultur, 79. 30
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spricht in Gestalt der platonischen Ideenlehre auch ein inhaltlicher und methodischer Bruch: »Genau an diesem Punkt hat Plato dem Sokrates seine Gefolgschaft aufgekündigt. […] Nicht durch den Diskurs, sondern durch den Blick auf diese für das Auge des Geistes sichtbaren Formen wird dem Philosophen die Wahrheit mitgeteilt […]. Sokrates glaubte an das gesprochene Wort, das heißt, an das Argument, zu dem man durch Vernunftgebrauch gelangen kann, und das kann nur in einer Folge von gesprochenen Sätzen vor sich gehen.« (B 64 f.)
Im selben Maße, wie sich die Philosophie vom öffentlichen Leben entfernt, zeigt sie sich zunehmend am Leben außerhalb der Höhle menschlicher Angelegenheiten interessiert, um dort das Eigentliche des Menschen zu suchen – ungestört von den Menschen in der Höhle. Steenblock verfolgt diesen Entfernungsprozess bis zur Gründung des alexandrinischen Museions, in dem sich die esoterische Tendenz der akademischen Philosophie noch verstärkt habe. »Gegenüber dem Marktplatz hat eine Ortsverlagerung des Philosophierens stattgefunden. Und mehr. Modern würde man sagen: Philosophie und Wissenschaften beginnen, sich als eigene systemische kognitive Formationen auszudifferenzieren. Damit muss die Frage zumindest erlaubt sein, ob nicht seither mit ihrer Akademisierung die Philosophie an jenem öffentlichen Status auch verloren hat, für den ein Sokrates noch wie kaum ein anderer gestanden hatte.« 35
Dieser Prozess habe sich bis heute weiterentwickelt bis hin zur »gegenwärtigen lebensweltlichen Separation allen philosophischen Selbstverständnisses« 36 . Wir können den Übergang vom Ideal des öffentlichen Philosophierens hin zum esoterisch-akademischen Philosophieren also als den philosophiegeschichtlichen Punkt verstehen, an dem ein Ressentiment in die Philosophie Einzug hält, welches ihr den ungetrübten Blick auf politische wie pädagogische Praxis in der Folge mindestens erschwert haben dürfte. Arendt hat diese Entwicklung sehr genau gesehen; das am besagten Punkt einsetzende »bewußte Desinteressement an Politik der spätantiken Philosophenschulen« geht der mittelalterlich-christlichen Vorstellung des Vorrangs der vita contemplativa voraus. (VA 24 f.) Die Kritik an der daraus resultierenden, untergeordneten Stellung der vita activa ist eines der Hauptanliegen ihres Werkes Vita 35 36
Steenblock, Philosophische Bildung im Prozess der Kultur, 78. Steenblock, Von Athen nach PISA, 175.
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activa oder Vom tätigen Leben. »So ist bis zum Beginn der Neuzeit die Vorstellung der Vita activa immer an ein Negativum gebunden; sie stand unter dem Zeichen der Un-ruhe. […] Das absolute Primat der Kontemplation vor jeglicher Tätigkeit« (VA 25) sei damit zu einer die Philosophie dominierenden Vorstellung geworden: »Vom Standpunkt der Kontemplation aus betrachtet, spielt es keine Rolle mehr, was die notwendige Ruhe stört; hier wird alles, was Bewegung oder Tätigkeit ist, unterschiedslos zur Störung.« (VA 26) Arendt ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass »meine Aneignung des Begriffs Vita activa in offenkundigem Widerspruch zur Tradition steht« – auch wenn sie die Unterscheidung als solche keineswegs leugnen wollte. »Woran ich zweifle, ist vielmehr die hierarchische Ordnung, die dieser Unterscheidung von Anfang an anhaftete.« (VA 27) Arendts Begriff der Vita activa wird dadurch bestimmt, dass »die in ihr beschlossenen Tätigkeiten sich nicht auf ein immer gleichbleibendes Grundanliegen ›des Menschen überhaupt‹ zurückführen lassen und daß sie ferner den Grundanliegen einer Vita contemplativa weder überlegen noch unterlegen sind.« (VA 27) Gehen wir von Arendt aus, so sind wir gut beraten, auch aus der Perspektive der Didaktik diese Rangordnung in Frage zu stellen zugunsten einer Philosophiedidaktik, die Arendts anthropologische Grundeinsicht der menschlichen Pluralität ernst nimmt und dieser auch durch ein am Dialog, an Praxis im Sinne menschlicher Interaktion orientiertes Verständnis Rechnung zu tragen. Versuchen wir, diese Überlegungen zu resümieren, so lässt sich sagen, dass die von der Tradition vorgenommene Unterordnung der Vita activa unter die reine Kontemplation, wie Arendt sie kritisiert, eine Erklärung dafür bietet, warum sich die Philosophie mit ihrer eigenen Didaktik so auffällig schwer tut. Auch didaktisches Handeln gehört in den Bereich der Vita activa und muss von ähnlichen Grundkonstanten ausgehen wie die Verständigung im Bereich der Politik. Philosophische Didaktik versteht sich daher zu Recht als Praxis, denn auch hier geht es – bei aller Wichtigkeit der Vermittlung von fachlichem Wissen – um die Einübung einer Form von Interaktion, welche der sokratischen Tradition verpflichtet ist: »Etwas durchgesprochen zu haben, etwas gesprochen zu haben, die doxa, irgendeines Bürgers, schien Ergebnis genug zu sein.« (PuP 386) Bei allem Beharren auf einem inhaltlich substanziellen Philosophieunterricht wird dieser eine seiner Zielsetzungen sicher auch in der Arbeit an der intersubjektiven Verständigungsfähigkeit der Edukanden sehen müs94 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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sen – und damit zugleich einem Selbstverständnis gerecht werden, politische Bildung zu sein. Wenden wir Arendts auf das politische Denken zielende Intentionen als Leitvorstellung eines Philosophieunterrichts, so böte dieser einen »Bereich, in dem sich die Menschen als ›plurale‹ erfahren können […]. Ihn freizulegen, wieder zu Bewußtsein zu bringen und damit in die heutige politische Debatte einzuführen, ist Hannah Arendt ein wichtiges Anliegen. […] Mehr, als damit Denkprozesse anzuregen, hat Arendt wahrscheinlich nie gewollt.« 37
In letzter Konsequenz ging es Arendt jedoch sicher um mehr als das Anregen von Denkprozessen; »der Akzent für Arendt liegt […] auf dem öffentlichen Bereich des Handelns und seiner Beeinflussung durch ein Denken, das der sokratischen Methode verpflichtet ist – jener Methode, deren zusätzliche Funktion darin besteht, ideologisch verkrustete Meinungen, auch Institutionen aufzubrechen […].« 38
Arendts Denken ist damit geprägt von einem »sokratischen Paradigma« 39 , wobei sie nicht in erster Linie dessen konstitutive Rolle für den Philosophieunterricht im Blick hat, sondern vielmehr den Umstand, dass »die sokratische Hebammenkunst, die die Konsequenzen ungeprüfter Meinungen herausarbeitet und diese dadurch zerstört […] mittelbar politisch ist. Denn diese Zerstörung wirkt befreiend auf ein anderes Vermögen, das Vermögen der Urteilskraft, das man mit einiger Berechtigung das politischste der geistigen Vermögen des Menschen nennen kann.« (D 191)
Arendts im Kern sokratisches Bild einer Praxis intersubjektiven Rechenschaftgebens kann damit als verbindendes Strukturmoment von Politischer Bildung und philosophiedidaktischer Praxis gelten, welche ihr Hauptanliegen in der Urteilsfähigkeit ihrer Adressaten sehen. Die plurale Struktur sokratischer Gesprächspraxis trägt nämlich als ein solches Strukturmoment besonders der politischen-öffentlichen Dimension in politischer wie philosophischer Didaktik Rechnung.
Ludz, Hannah Arendts Pläne für eine ›Einführung in die Politik‹, 173 f. Ludz, Hannah Arendts Pläne für eine ›Einführung in die Politik‹, 167. 39 Vgl. dazu Raupach-Strey, Gisela: Das Sokratische Paradigma: Maieutik und mehrdimensionale Konstituierung. In: Birnbacher, Dieter; Siebert, Joachim und Steenblock, Volker: Philosophie und ihre Vermittlung. Ekkehard Martens zum 60. Geburtstag. Hannover 2003, 20–59. 37 38
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Arendts Denken erweist sich damit als theoretische Grundlage, welche den Zusammenhang von sokratischem Selbstverständnis der Didaktik und der Urteilsfähigkeit als anzustrebender Fähigkeit zu formulieren erlaubt und zugleich klärt, warum dieser Zusammenhang im Kontext Politischer Bildung zu verorten ist.
2.1.2. »Aufklärung« und »Fortschritt« in der Philosophiedidaktik Weder politische Bildung noch Philosophiedidaktik können jedoch ihrem Selbstverständnis nach dabei stehenbleiben, »etwas durchgesprochen« zu haben, um damit »Denkprozesse anzuregen«. Neben dem Wie des Bildungsprozesses muss die Didaktik auch eine Antwort auf das Wohin des Bildungsprozesses geben, und in der politischen Bildung ist mit dem Begriff der Mündigkeit ein solcher Leitbegriff gefunden worden, welcher sich unter Politikdidaktikern in hohem Maße als konsensfähig erwiesen hat. Begibt man sich auf die Suche nach einem Begriff, der in der Philosophiedidaktik in ähnlicher Weise als konsensfähig gelten kann, so stößt man unweigerlich auf den Begriff der Aufklärung, dessen innerer Bezug zum Begriff der Mündigkeit wohl nur allzu offensichtlich ist: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Aufklärung A 481) 40 – folgen wir der kantischen Formulierung, erscheint die Vermutung kaum zu optimistisch, dass eine auf Mündigkeit ausgerichtete politische Bildung und eine sich als Aufklärung verstehende Philosophiedidaktik sich als mindestens kompatibel erweisen. Zudem scheint der Begriff als Leitbegriff eines sich als Bildungstheorie verstehenden Konzeptes geeignet zu sein, da die Begriffe Aufklärung und Bildung »ungefähr gleichzeitig […] im späten 18. Jahrhundert die Bühne des öffentlichen Nachdenkens betreten« 41 . Bei näherem Hinsehen erweist sich der die Philosophiedidaktik einigende Aufklärungsbegriff jedoch als recht uneinheitlich. Für Rehfus ist der Aufklärungsbegriff in erster Linie deshalb Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders: Werkausgabe Bd. XI, Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, 51–62; in Folgenden zitiert als Aufklärung. 41 Schnädelbach, Herbert: Bemerkungen über Philosophie und Bildung. In: Rehn/ Schües, Bildungsphilosophie, 52–62, 53. 40
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von Bedeutung, weil Philosophiedidaktik einen »Zeitkern« haben müsse, womit er meint, »daß jede Didaktik die geschichtlich-gesellschaftlichen Umstände berücksichtigen muß, für die sie Didaktik sein will. Der erste Schritt einer Philosophiedidaktik muß deshalb eine Theorie der Moderne sein. Eine Theorie der Moderne, so meine ich, muß eine Theorie der Aufklärung sein, genauer: sie muß die Gegenwart begreifen als eine Entwicklungsphase innerhalb der Selbstbewegung der Aufklärung.« 42
Rehfus’ Aufklärungsbegriff ist damit noch recht eng an den Epochenbegriff der Aufklärung gebunden. Für seinen Begriff der Moderne versteht er ausdrücklich die neuzeitliche Subjektphilosophie in der Folge Descartes’ und Kants als konstitutive Bezugspunkte. Die Bedeutung der Aufklärung für die Philosophiedidaktik der Gegenwart ist damit jedoch eine primär historische: »Rehfus versteht die Gegenwart als das Ende der Aufklärungsepoche« 43 , womit die Aufklärung automatisch zum Ausgangspunkt philosophiedidaktischer Reflexion werden muss. Diesem stark epochengebundenen Verständnis gegenüber »kann und muss [Aufklärung] aber auch als Disposition, also als Haltung begriffen werden. Der Ausgang aus der Unmündigkeit lässt sich nicht historisieren, denn es ist ja immer wieder mit neuen Unmündigkeiten zu rechnen […]; also brauchen wir ein strukturelles Aufklärungsverständnis.« 44 Insofern mag etwa die »Figur des Sokrates […] als ›Prototyp‹ des Aufklärers gesehen werden.« 45 Martens versteht unter Aufklärung denn auch einen Prozess, der sich in drei ideengeschichtlichen Stufen vollzogen habe. »Ihr Hauptmerkmal ist die rationalistische Methode, das sokratische Rechenschaftgeben.« Dieses Phänomen sei »um 600 v. Chr. bei den Griechen als erste Aufklärung entstanden.« 46 Auch der Aufklärungs-
Rehfus, Methodischer Zweifel und Metaphysik, 105 f. Euringer, Vernunft und Argumentation, 83. 44 Schnädelbach, Herbert: Das Projekt »Aufklärung« – Aspekte und Probleme. In: Birnbacher/Siebert/Steenblock, Philosophie und ihre Vermittlung, 188–201, 193 f. 45 Reichenbach, Roland: Philosophie der Bildung und Erziehung. Stuttgart 2007, 90. Auch Schnädelbach versteht Sokrates als »Stammvater der Aufklärung in Kants Sinn« und macht ihn andernorts sogar »nicht nur zum Großvater, sondern zugleich zum ersten Märtyrer der Aufklärung.« Schnädelbach, Bemerkungen über Philosophie und Bildung, 52; Ders., Das Projekt »Aufklärung«, 195. 46 Martens, Philosophieunterricht als Problem- und Lerngeschichte, 92. 42 43
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begriff steht für Martens damit letztlich auf einem sokratischen Fundament. Das uns mit der Aufklärung als Epochenbegriff geläufige 18. Jahrhundert habe demgegenüber »nach der ersten Aufklärung der nur wenigen griechischem Vollbürger nun in der zweiten europäischen Aufklärung eines Rousseau, Voltaire oder Kant zur realen gesellschaftlich-politischen Befreiung des Denkens und Handelns eines großen Teils der Bevölkerung« geführt. Von der »ersten Aufklärung« führt also eine Ausweitung des Adressatenkreises von einer recht elitären Veranstaltung einiger weniger hin zum egalitären, europäischen Bürgerverständnis des 18. Jahrhunderts, um in der Folge als weltweiter Verbreitung ihres inneren Prinzips zu gipfeln: »Die Forderung nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Recht auf Glück oder materielle Sicherheit aller Menschen sind ein weiterer Schritt neben der wissenschaftlich-technischen Revolution zur dritten, weltweiten Aufklärung, etwa in der Erklärung der Menschenrechte, im Programm der kommunistischen Weltrevolution oder de[n] Befreiungsbewegungen der Dritten Welt.« 47
Auf die Frage, inwieweit alle drei Prozesse ihr tertium comparationis tatsächlich im sokratischen Rechenschaftgeben finden, kann an dieser Stelle nicht in der notwendigen Ausführlichkeit eingegangen werden. Trotz aller Unterschiede in der Perspektive scheinen Rehfus wie Martens mit ihrem Rekurs auf den Aufklärungsbegriff jedoch im reflexiv-kritischen Potential zu sehen, das sich mit diesem verbindet; »Aufklärung ist nicht denkbar ohne Kritik.« 48 Wenn Kritik nun den eigentlichen Grund dafür ausmacht, Aufklärung als konstitutiven Bestandteil des Bildungsprozesses zu verstehen, so ist hier zu bemerken, dass dieses Verständnis zunächst einmal ein negatives ist. Auf dieses »bloß Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht)« (KU B 159, FN) weist auch Kant hin. »Aufklärung meint in diesem Zusammenhang Befreiung von Vorurteilen, von Autoritäten, meint einen reinigenden Vorgang« (U 47). Im Rahmen des Bildungskontextes erweist sich dieses kritische Moment als nicht unproblematisch. So verbindet sich für Rehfus mit dem Begriff der Aufklärung und ihrem spezifischen Vernunftbegriff
47 48
Martens, Philosophieunterricht als Problem- und Lerngeschichte, 95. Rehfus, Methodischer Zweifel und Metaphysik, 106.
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auch die Problematik einer Identitätsnot, die seiner Vorstellung nach der Aufklärung entspringt: »Damit zersplittert der einzelne in unzusammenhängende Einzelaktionen und erfährt die Wirklichkeit als ihn überwältigende. Symptome dafür sehe ich zum Beispiel in der Zerstörung der Familie, der Abspaltung von Alltag und Wissenschaft und so fort. Der Grund dieser Identitätsnot ist meines Erachtens der Verlust allgemein angenommener Grundsätze des Denkens und Handelns. Dies wiederum, so vermute ich, ist Ergebnis der Selbstbewegung der Aufklärung, die auch noch sich selbst aufgeklärt hat in dem Sinne, daß sie das Vermögen, das sie eigentlich ausmacht, und das der Moderne den Halt gab, vernichtet: Vernunft. Indem Vernunft noch als ideologische und interessengesteuerte »entlarvt« wird, zieht sich die Aufklärung den Boden unter den eigenen Füßen weg. Die gegenwärtige »Identitätsnot« sehe ich deshalb als notwendiges Ergebnis der Selbstbewegung der Aufklärung. […] Die Identitätskrise, die ich in Ansatz bringe, geht einher mit einer Krise der Vernunft der Aufklärung und stellt deshalb das Selbstverständnis der Neuzeit insgesamt in Frage. Die jetzt geführte Mythen-Diskussion, Feyerabends Angriff auf die Rationalität und gesellschaftliche Regressionserscheinungen belegen in gewisser Weise zu eindrücklich meine Diagnose.« 49
Diese Diagnose jedoch greift in dieser Form freilich zu weit. Rehfus muss sich hier mit Habermas fragen lassen, ob er nicht mindestens teilweise »die unbequemen Folgelasten einer mehr oder weniger erfolgreichen kapitalistischen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auf die kulturelle Moderne« 50 verschoben hat, wenn er beispielsweise den Wandel familiärer Verhältnisse der Aufklärung anlasten will – wobei auch und gerade Habermas sieht, dass die kulturelle Moderne Probleme mit sich bringt, deren Ursachen in ihr selbst liegen; das Habermasche Diktum von der »Neuen Unübersichtlichkeit« 51 scheint in Rehfus’ Zeitdiagnose ja gerade recht merklich mitzuschwingen. 49 Rehfus, Methodischer Zweifel und Metaphysik, 108 f. Vgl. Ders., Didaktik der Philosophie, 16 ff. Martin Euringer hat herausgearbeitet, in welchem oftmals hoch problematischen Ausmaß Rehfus’ didaktische Überlegungen von einem normativ überwältigenden und inhaltlich bisweilen durchaus fragwürdigen Traditionalismus geprägt sind. Vgl. Euringer, Vernunft und Argumentation, 133 ff., 143 ff. 50 Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. (1980) in: Ders.: Kleine politische Schriften I–IV. Frankfurt a. M. 1981, 444–464, 450. Zur Kritik an Rehfus’ Diagnose einer Desorientierung und Identitätsnot erzeugenden Vernunft vgl. Euringer, Vernunft und Argumentation, 139 f. 51 Habermas, Jürgen: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In: Ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985, 141–163, 147.
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Die Vernunft entfesselt in der Kritik ihrer selbst eine innere Dynamik, die mit Blick auf das Individuum Prozesse in Gang setzt, welche dieses auch destabilisieren, es Rehfus zufolge in eine Identitätsnot stürzen. Was dieses destabilisierende Moment des Aufklärungsbegriffes angeht, so liegt es sicher in der Natur der Sache, »dass die Aufklärung Preise hat, die zu zahlen schmerzlich ist«, beginnt diese doch »nicht mit dem Aufgeklärten […], sondern mit dem Zweifel, der um sich greift, und der ist nur das Symptom der Verunsicherung und Erschütterung lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten. 52 Dieser Umstand stellt freilich weniger den Aufklärungsbegriff in Frage als vielmehr seine Eignung als zentraler didaktischer Leitbegriff. Wenngleich hier nicht darüber entschieden werden soll, inwieweit allen Implikationen dieser rehfusschen Diagnose zu folgen ist, so ist es doch kaum von der Hand zu weisen, dass ein didaktischer Leitbegriff mit einem positiven, konstruktiven Moment mindestens verbunden sein muss, um sich als solcher zu eignen. Dass der Aufklärungsoptimismus sich noch auf den mit dem Aufklärungsbegriff verbundenen Begriff des Fortschritts gründen konnte, liegt auf der Hand – und lässt für uns ein weiteres Mal fraglich erscheinen, inwiefern hier ein pädagogischer Leitbegriff zu finden ist. Zum einen kann dieser Zusammenhang seit Horkheimer und Adorno nicht mehr vorbehaltslos mit einem pädagogisch geeigneten Optimismus verbunden sein, seit diese mit ihrer These von der »Selbstzerstörung der Aufklärung« offenlegten, im aufklärenden Denken seien eben nicht nur Freiheit und Fortschritt angelegt gewesen, sondern möglicherweise eben auch »die internationale Drohung des Faschismus: der Fortschritt schlägt in Rückschritt um.« 53 Wir können diese Problematik in unserem Zusammenhang nicht erschöpfend weiterverfolgen; dennoch tritt hier klar zu Tage, dass sich gerade in der Perspektive auf eine sich als politisch bildend verstehende Didaktik mindestens eine gewisse Vorsicht geboten ist. Wenngleich sich Hannah Arendt nicht systematisch mit der Aufklärung auseinandersetzte 54 und – ebenso wie Adorno ja auch – der aufklärerischen HalSchnädelbach, Das Projekt »Aufklärung«, 195. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1955, 7, 10. 54 Arendt hat sich in versprengten Bemerkungen freilich immer wieder auf die Aufklärung bezogen, z. B. in ihrem bereits zitierten Vorlesungsmanuskript Das Urteilen. Der einzige Text, der sich mit der Aufklärungsepoche näher auseinandersetzt, ist ihr 52 53
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tung der Kritik einiges abgewinnen konnte, teilte sie die generelle Skepsis der Aufklärung gegenüber und war ebenfalls der Auffassung, dass »der Widerspruch bereits in der Aufklärung selber angelegt ist.« 55 Zum anderen »scheint die um sich greifende Innovationsrhetorik die alte Fortschrittsidee zumindest teilweise ersetzt zu haben.« 56 Reichenbach zufolge liegt dies an einem gewandelten Verständnis von Zukunft; die Frage sei hier: »Kommt die Zukunft von vorne auf uns zu oder schreiten wir nach vorne durch sie hindurch. Wo die Zukunft noch als Möglichkeitsraum erfahren wird, können wir durch sie hindurchschreiten, sie gestalten, sie verbessern: das war der Kern der Metapher ›Fortschritt‹. Wo sie aber als Geschehen auf uns zukommt, müssen wir uns ständig erneuern, uns gegen sie wappnen […].« 57
Mit diesem von Reichenbach skizzierten, veränderten Verständnis einer »offenen« Zukunft ergibt sich die Situation, dass »wir nicht mehr sicher sind, wohin die Reise (der Politik, der Moral, der Bildung) geht, gehen kann, und vor allem, wohin die Reise gehen soll.« 58 Der Fortschrittsbegriff erweist sich damit als eine für die Didaktik vor allem in normativer Hinsicht wenig plausible Kategorie. Hannah Arendt notierte in diesem Zusammenhang bereits 1955 in ihr Denktagebuch: »Ein Fortschritt – nicht der Welt, in der wir uns bewegen, sondern – der Menschheit oder des Menschen selbst ist, genau genommen, eine dumme Vorstellung. Wer entscheidet über den fortschrittlichen Charakter des Prozesses?« (DTB 544)
Auch wenn der Begriff der Aufklärung durch seine Verbindung zu sokratisch-kritischer Methodik als Bezugspunkt der Bildungstheorie insgesamt eine wichtige Rolle spielen mag: Das Wohin des Bildungs-
Text Aufklärung und Judenfrage, welcher der Aufklärung das Dilemma bescheinigt, von der Forderung nach Gleichheit und Toleranz ausgegangen, in Bezug auf die Juden aber bei einem Zwang zur Assimilation angekommen zu sein. »Aus diesem Dilemma der Aufklärung folgt, daß der Widerspruch von Mehrheit und Minderheit nicht auf dem Weg indifferenter Gleichheit und abstrakter Gerechtigkeit zu lösen ist«. Heuer, Citizen, 69. 55 Heuer, Citizen, 64. 56 Reichenbach, Philosophie der Bildung und Erziehung, 93. 57 Reichenbach, Philosophie der Bildung und Erziehung, 94. 58 Reichenbach, Philosophie der Bildung und Erziehung, 93.
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prozesses mit dem Leitbegriff der Aufklärung beantworten zu wollen, führt nicht auf ein für den didaktischen Zusammenhang ausreichend konstruktives Ergebnis. Dieser Mangel kann durch den Fortschrittsbegriff in keiner Weise kompensiert werden; stellte sich doch auch einem so profilierten Aufklärungstheoretiker wie Oelmüller die Frage »Fortschritt wohin?« 59 bereits in der 1970er Jahren. Der Aufklärungsbegriff mit dem ihm über den Fortschrittsgedanken anhaftenden Optimismus erweist sich nicht nur als pädagogisch fragwürdig, sondern auch philosophisch zunehmend als mindestens hinterfragt: »Von diesem Optimismus hat das 20. Jahrhundert nicht viel übriggelassen. Aber das Problem ist geblieben, und nach wie vor scheiden sich die Geister daran, ob sie an den Institutionen der Aufklärung, wie gebrochen auch immer, festhalten, oder ob sie das Projekt der Moderne verlorengeben«. 60
Es ist nicht zu übersehen, dass die Aufklärung im Rahmen der hier von Habermas angesprochenen Diskussion, welche in den unterschiedlichsten Schattierungen und unter den unterschiedlichsten Vorzeichen um ein etwaiges Ende der Moderne zugunsten einer möglicherweise angebrochenen Postmoderne streitet (oder vielleicht besser: stritt), als handlungsleitendes Prinzip an Überzeugungskraft eingebüßt hat. 61 Zum einen haben die als postmodern apostrophierten »Die Frage nach gemeinsamen Zielen und nach Prioritäten bei der Planung und Verwirklichung dessen, was wünschenswert und realisierbar ist, erweist sich immer mehr als eine lebensnotwendige Frage.« Oelmüller, Willi: Einleitung in: Ders. (Hrsg.): Fortschritt wohin? – Zum Problem der Normenfindung in der pluralen Gesellschaft. Düsseldorf 1972, 7–10, 8. 60 Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 453. 61 Dies lässt sich wohl behaupten, ohne Hannah Arendt in dieser Frage einem der beiden Lager zuordnen zu wollen. In der Diskussion selbst wird Arendt mit ihrer Kant-Interpretation divergierend verortet: Während einerseits die »selbsternannten Vertreter einer unvollendeten Moderne« (z. B. Habermas, Wellmer, Benhabib) ihre Kant-Rezeption im Sinne der Urteilkraft als einer kommunikativen Variante praktischer Vernunft verstehen, interpretiert andererseits z. B. David Ingram ihr Verständnis des Gemeinsinns eher im Sinne postmoderner Denker wie Lyotard. Wir können es an dieser Stelle durchaus mit Waltraud Meints dabei belassen festzustellen, Arendts Fragment über das Urteilen könne »auch als ein Bezug zur und auf die Moderne vorgestellt werden, der sich der ordnungsstiftenden Polarisierung von Moderne und Postmoderne gerade nicht fügt.« Meints, Waltraud: Die gleichberechtigten Anderen und die »erweiterte Denkungsart«. Hannah Arendts Abschied von der traditionellen Philosophie. In: Grunenberg, Antonia; Meints, Waltraud; Bruns, Oliver; Harckensee, Christine (Hrsg.): Perspektiven politischen Denkens. Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt. Frankfurt am Main 2008, 71–92, 74. 59
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Theoretiker das auf vernünftiger Subjektivität basierende Menschenund Gesellschaftsbild der Aufklärung radikal in Frage gestellt: »Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß heute vor allem jene Theorien an Einfluß gewinnen, die zeigen möchten, daß dieselben Kräfte der Machtsteigerung, aus denen die Moderne einst ihr Selbstbewußtsein und ihre utopischen Erwartungen geschöpft hat, tatsächlich Autonomie in Abhängigkeit, Emanzipation in Unterdrückung, Rationalität in Unvernunft umschlagen lassen. Derrida zieht aus Heideggers Kritik der neuzeitlichen Subjektivität den Schluß, daß wir in der Tretmühle des abendländischen Logozentrismus nur durch ziellose Provokation entkommen können. […] Foucault radikalisiert Horkheimers und Adornos Kritik der instrumentellen Vernunft zu einer Theorie der Ewigen Wiederkehr der Macht. Seine Botschaft vom immer gleichen Machtzyklus der immer neuen Diskursformationen muß den letzten Funken von Utopie und von Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst ersticken.« 62
Mit der postmodernen Kritik am neuzeitlichen Subjektivismus geraten die anthropologischen Grundlagen des Aufklärungsdenkens massiv ins Wanken. Am drastischsten ist dieses Problem wohl auf der berühmten letzten Seite von Foucaults Werk über die Ordnung der Dinge gezeichnet worden, wo der moderne Mensch als »Erfindung« der Moderne erscheint, der möglicherweise »verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« 63 Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Erschütterung aufklärerischer Anthropologie nicht ohne bildungsphilosophische Implikationen ist, da Bildung seit Humboldt als Geschehen verstanden wurde, welches sich im »Modus individueller Identitätsbildung« vollzog. Damit muss auch das Verständnis des im Bildungsprozess anvisierten Adressaten einer Überprüfung unterzogen werden. »Spätestens seit der Subjektkritik der eine Zeit lang so genannten ›Postmoderne‹ kann man […] dieses Bildungssubjekt nicht von vornherein einfach als ›Identitätspol‹ und im Sinne eines ruhenden, ›soliden, authentischen Ichkerns‹ begreifen.« 64 Zum anderen ist die Aufklärung auch selbst zum Ziel der postmodernen Kritik geworden. Denn was als postmodern gelten kann, hat bekanntlich in philosophischer Perspektive erstmals und Maßstab Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates, 144. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1974, 462. 64 Steenblock, Volker: Philosophische Bildung als »Arbeit am Logos«. In: Ders.: Philosophie und Lebenswelt, 26–36, 27. Steenblock fährt fort: »Differenziertere Vorstellungen erscheinen hier angebracht, auch eine, wenn man so will, Ent-Teleologisierung und metaphysische Abrüstung des Bildungssubjekts; nicht jedoch seine Demontage.« Ebd., 28. 62 63
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setzend Jean-François Lyotard herausgearbeitet, der in der Folge als »der Autor eines philosophischen Postmodernismus« 65 gelten kann: »Lyotard ging vom Unterschied modernen und postmodernen Wissens aus. Der moderne Wissenstypus zielt auf eine Meta-Erzählung, d. h. auf eine Gesamtidee, welche sämtliches Einzelwissen umfassen und auf ein politisches und soziales Ziel ausrichten soll; Hauptbeispiel ist das Emanzipationsmodell der Aufklärung. Diese moderne Erwartung ist inzwischen unglaubwürdig geworden.« 66
Auch Lyotard selbst fasst seine Position in seinem Buch über »Das postmoderne Wissen« zusammen: »›Postmoderne‹ bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.« 67 Damit wurde die Aufklärung in der postmodernen Kritik nicht nur durch die Vorstellung eines verschwindenden Subjekts ihrer anthropologischen Grundlage beraubt, sondern auch selbst als Meta-Erzählung entlarvt, deren weitergehende Funktion als erkenntnis- oder handlungsleitender Begriff damit recht weitgehend delegitimiert war. Dem auf Meta-Erzählungen verwiesenen, modernen Wissenstypus setzt Lyotard bekanntlich einen von ihm als postmodern bezeichneten, neuen Wissenstypus gegenüber, »der nicht mehr auf Einheit, sondern auf Pluralität, Komplementarität und Unausschöpfbarkeit setzt« 68 . Wo das vereinheitlichende Band einer modernen Meta-Erzählung nicht mehr legitim erscheint, bleibt stattdessen radikale Pluralität »hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster. […] In den verschiedenen Bereichen, in denen von Postmoderne gesprochen wird, erweist sich solche Pluralität als der einheitliche Fokus«, als das »Grundbild« der Postmoderne. 69 Unter solchen Vorzeichen kann kritisches Denken allein den Edukanden jedoch kaum zur Mündigkeit führen: »Kritik lässt sich als besondere Vernunftleistung verstehen. Der Vernunftanspruch der Geisteswissenschaften kann aber in ihr nicht aufgehen, sondern droht geradezu in ihr unterzugehen, wenn aus der kritischen Dekonstruktion
Welsch, Wolfgang: Unsere Postmoderne Moderne. Berlin 1993, 35. Welsch, Wolfgang: Was war die Postmoderne – und was könnte aus ihr werden? In: Flagge, Ingeborg und Schneider, Romana (Hrsg.): Die Revision der Postmoderne/Postmodernism revisited. Hamburg 2004, 32–39, 34 f. 67 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Bremen 1982, S. 14. 68 Welsch, Was war die Postmoderne, 35. 69 Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 5. 65 66
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fragwürdig gewordener Vernunftansprüche nicht neue Ansprüche auf kognitive Einsichten entwickelt werden.« 70
Wo die radikale Vielheit von Perspektiven zur prägenden Erfahrung wird, normative Eindeutigkeit demontiert und die Meta-Erzählung der Aufklärung als Handlungsanleitung ausfällt, bedarf es nicht nur der Fähigkeit des kritischen Denkens. Von immer größerer Dringlichkeit ist vielmehr die Fähigkeit, sich unter Bedingungen der Pluralität Orientierung verschaffen zu können.
2.1.3. Leitmetapher Orientierung Wenn sich nun für den politischen Bildner wie für den Philosophiedidaktiker die Aufgabe stellt, eine Brücke zwischen philosophischem Denken und menschlichen Angelegenheiten zu bauen, so verwundert es nicht, wenn wir es in diesem Bereich mit Metaphern zu tun bekommen. Für Arendt bildete »die Metapher in ihrem ursprünglichen, nicht-allegorischen Sinne von metapherein, ›herübertragen‹,« 71 eben eine solche »Brücke über den Abgrund zwischen den inneren und unsichtbaren Geistestätigkeiten und der Erscheinungswelt« (D 110) und steht damit an der Schwelle, an der jede philosophische Didaktik ihre Vermittlungsarbeit zu leisten hat. Nun ist es offensichtlich, dass auch Aufklärung und Fortschritt ihre begriffliche Prägnanz aus ihrem metaphorischen Charakter bezogen. Aufklärung ist eine Lichtmetapher, und seit Platons Höhlengleichnis hat es eine gewisse Tradition, die Erkenntnis mit dem Begriffsfeld des Gesichtssinnes zu assoziieren. (vgl. D 115 ff.) 72 Der Fortschritt war demgegenüber eine räumliche Metapher, welcher allerdings durch die normative Uneindeutigkeit der Moderne die Richtung abhanden gekommen war. Die Kompensation dieses Mangels wird in jüngerer Zeit vom Begriff der Orientierung erhofft, welcher ebenfalls eine räumliche Metapher bemüht. Im Gegensatz zum FortRüsen, Jörn: Orientierung, Bildung, Globalisierung. Plädoyer für einen geisteswissenschaftlichen Humanismus. In: Gauger, Jörg-Dieter und Rüther, Günther (Hrsg.): Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben: Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007. Freiburg 2007, 399–404, 401 f. 71 Arendt, Hannah: Walter Benjamin. In: Dies: Walter Benjamin, Bertolt Brecht. Zwei Essays. München 1971, 7–62, im Folgenden zitiert als WB, hier 22. 72 Vgl. dazu auch Schnädelbach, Das Projekt Aufklärung, 188 f. 70
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schritt ist der Begriff der Orientierung jedoch – auch normativ – nicht an die Kenntnis einer eindeutigen Richtung gebunden, sondern reflektiert vielmehr die unter den Bedingungen der Postmoderne vorfindliche Situation der Pluralität von Richtungen, Meinungen und Perspektiven, in welcher – wo das Erlangen einer den Begriff verdienenden Über-sicht schon nicht möglich ist – zumindest eine methodisch reflektierte Möglichkeit des Umgangs mit Pluralität wünschenswert erscheint. Wie wir sehen werden, eignet der Orientierung damit in ihrem Kern bereits ein politisches Moment an. Der Begriff der Orientierung kann zudem als begriffliches Verbindungsstück von politischer Bildung und Philosophiedidaktik angesehen werden. So forderte Gieseke für die politische Bildung bereits 1985, diese müsse ein »grundlegendes Orientierungswissen vermitteln.« 73 Dass dafür aus Sicht der politischen Bildung die Inhalte politischer Philosophie eine wichtige Rolle spielen, liegt auf der Hand: »Eine politische Bildung […] muss fundiert sein in einer Orientierung, die von der politischen Praxis ausgeht und die es unternimmt, plausible Einsichten wegweisender Repräsentanten freiheitlich-politischen Denkens in ihren kategorialen Argumentationszusammenhang aufzunehmen und mit einzubeziehen.« 74
Auch in Philosophiedidaktik und Bildungsphilosophie hat der Begriff der Orientierung auf breiter Front Einzug gehalten. 75 So unterschiedlich Konzepte philosophischer Bildung auch gedacht sein mögen – die »Notwendigkeit einer Orientierungskompetenz« erweist sich als begrifflich verbindendes Element, Orientierung im philosophischen Bildungskontext als neuer Leitbegriff. 76
73 Giesecke, Hermann: Wozu noch »Politische Bildung«? Anmerkungen zum 40. Geburtstag einer nach wie vor umstrittenen Bildungsaufgabe. In: Neue Sammlung 4/1985, 465–474, 472. 74 Breier, Leitbilder der Freiheit, 87. 75 Vgl. z. B. Draken, Klaus; Münnix, Gabriele und Rolf, Bernd (Hrsg.): Orientierung durch Philosophieren. Berlin 2007. 76 Schües, Christina: Aufgaben philosophischer Bildung. Theodor W. Adorno und Hannah Arendt. In: Rehn/Schües, Bildungsphilosophie, 136–156, 137 f. Schües verweist an dieser Stelle auf ein Gespräch zwischen Mittelstraß, Steenblock und Zimmerli. Besonders Mittelstraß betont in diesem Gespräch, dass »Bildung und Orientierung strukturell zusammengehören« und Steenblock macht dazu geltend, dass »durch die Zivilisationsdynamik die Notwendigkeit reflexiver Orientierung und philosophischer Bildung sozusagen Tag für Tag vor unseren Augen steigt«. Mittelstraß, Jürgen; Steenblock, Volker und Zimmerli, Walter Ch.: Der Bildungsbegriff in der
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Doch was ist dieses Orientierungswissen, dessen Erwerb sogar eine entsprechende Kompetenz zu versprechen scheint? Hier ist zunächst einmal zu bemerken, dass die Forderung nach Orientierungswissen politische Bildung wie Philosophiedidaktik in den weiteren Kontext einer Diskussion über Sinn, Zweck und Funktion der Geisteswissenschaften überhaupt stellt, besteht deren Anliegen doch insgesamt nicht zuletzt darin, »der privaten und öffentlichen Praxis, der Orientierung in der historischen, in der menschlichen Welt [zu] dienen« 77 . So hat es inzwischen auch einige Üblichkeit, den Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den auf technische Anwendung zielenden Naturwissenschaften eine Orientierungsfunktion zuzusprechen: »Das von den Geisteswissenschaften erzeugte Wissen hat Orientierungsfunktion. Der Vorgang, in dem sich diese Orientierung lebenspraktisch vollzieht, heißt Bildung.« 78 In diesem Zusammenhang hat Jürgen Mittelstraß den Begriff der Geisteswissenschaften als Orientierungswissenschaften diskutiert, um damit das Verhältnis von Funktion und Methode im Vergleich zur Naturwissenschaft beschreibbar zu machen. 79 Zur Erläuterung des Begriffs »Orientierungswissenschaften« baut Mittelstraß zunächst auf der Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Wissensformen auf. 80 Er unterscheidet dabei zwischen Krise. Stellungnahmen von Jürgen Mittelstraß, Volker Steenblock und Walter Ch. Zimmerli. In: Information Philosophie. 2/2006, 46–50, 48, 50. 77 Scholtz, Gunter: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. 1991, 10. 78 »Die Zukunftsfähigkeit der Geisteswissenschaften steht und fällt mit ihren Fähigkeiten, genau das Wissen zu produzieren, das zur Orientierung in den Sinndimensionen der menschlichen Lebenspraxis erforderlich ist, und für die Bildung einzustehen, über die Menschen verfügen müssen, wenn sie sinnkompetent leben wollen.« Rüsen, Orientierung, Bildung, Globalisierung, 400. 79 Mittelstraß, Jürgen: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften. In: KühneBertram, Lessing, Hans-Ulrich und Steenblock, Volker: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften. Würzburg 2003, 35–49. Es geht Mittelstraß dabei nicht um die in Marquards Kompensationsmodell der Geisteswissenschaften in die Diskussion gebrachten »Orientierungsgeschichten, die einen lebensweltlichen ›Sinnbedarf‹ erfüllen sollen.« (Ebd., 37) Zu dessen Kompensationsmodell der Geisteswissenschaften vgl. Marquard, Odo: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, 98–116, 105. 80 Volker Steenblock weist in diesem Zusammenhang darauf hin, »daß man ›Orientierung‹ nicht zum ›Orientierungswissen‹ verdinglichen« könne, da sie »eher als historisch-endliches Bemühen, das sich in immer neuen Kontexten in der entdeckenden
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»einem Wissen, das die Verfügungsgewalt des Menschen über seine Welt vergrößert, und einem Wissen, das diesem verfügbaren Wissen geeignete, gemeint ist immer: begründete, Orientierungen verschafft. Verfügungswissen ist ein positives Wissen, ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel, Orientierungswissen ist ein regulatives Wissen, ein Wissen um Ziele und Maximen. Verfügungswissen konstituiert in wesentlichen Aspekten die moderne Welt; nämlich in Form von rationalen, technischen Kulturen; Orientierungswissen ist das, von dem man sagt, daß es in dieser Welt zunehmend fehlt.« 81
Mittelstraß liefert damit eine genauere begriffliche Bestimmung des von Gieseke und anderen geforderten Orientierungswissens, welche dieses als ein qualitativ-handlungsorientiertes Wissen einem quantitativen, auf technische Nutzbarkeit zielenden Wissentypus gegenüberstellt. »Philosophisches Orientierungswissen in diesem Sinne ist unterschieden von quantifizierbarem Faktenwissen; es ist Selbstdenken, kritisches Denken, ein Denken in Zusammenhängen, auch in Zusammenhängen unserer Tradition.« 82 Der Unterschied betrifft damit offenkundig sowohl die innere Struktur der beiden Wissenstypen als auch die sich mit dem jeweiligen Wissen verbindende Intention. Das Verfügungswissen zeichnet sich wesentlich durch seine mehr Auseinandersetzung der Individuen mit ihrer Welt bildet,« zu verstehen seien. Dieser Auffassung soll im vorliegenden Kapitel ausdrücklich unterstützt werden. Steenblock, Theorie der kulturellen Bildung, 137. 81 Mittelstraß, Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, 41. Mittelstraß macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass es sich bei diesen beiden Wissensformen nicht um real voneinander getrennt zu erwerbende Formen von Wissen handelt, sondern um Ordnungsbegriffe. Daher sei es auch »zu einfach, die Wissenschaft in verfügende und orientierende Wissenschaften zu zerlegen. Verfügungswissen und Orientierungswissen sind nämlich Ordnungsbegriffe, mit denen wir, perspektivisch, die Welt gliedern. Reines Verfügungswissen und reines Orientierungswissen gibt es gar nicht – wer verfügt, weiß auch warum, und wer sich orientiert, verfügt auch über seine Orientierungen. Oder anders ausgedrückt: Die Unterscheidung zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen vollzieht sich in unserem Kopf, wenn wir über die Dinge reden; als unsere Sicht der Dinge, nicht als die Sicht der Dinge selbst. Denken ist in diesem Sinne reicher, als die Wirklichkeit, wie umgekehrt auch die Wirklichkeit, nämlich – so paradox das auch klingt – wirklicher als das Denken ist. […] Zudem ist Orientierung nichts, das sich disziplinär aufteilen ließe, hier im Sinne einer Gleichsetzung von Geisteswissenschaft als Orientierungswissenschaft. […]« (Ebd.) 82 Dölle-Oelmüller, Ruth: Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung. In: Steenblock, Volker und Hermanni, Friedrich (Hrsg.): Philosophische Orientierung. Festschrift zum 65. Geburtstag von Willi Oelmüller. München 1995, 163–186, 167.
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oder weniger große Eignung zu einer eher technischen Form der Weltbeherrschung aus, während Orientierungswissen als handlungsorientierend-sinnstiftende Wissensform eine gemeinsame Welt überhaupt erst konstituieren hilft. Auch hier hilft die oben dargestellte arendtsche Unterscheidung »zwischen Wahrheit und Sinn, zwischen Erkennen und Denken« (D 70) und damit zwischen der sprachlos Wahrheit konstituierenden, quantitativ verfahrenden Naturwissenschaft und der sprachlich-hermeneutischen Praxis der Politik, begreiflich zu machen, worin der auch didaktisch relevante Unterschied liegt. Mit Hannah Arendt könnten wir den Unterschied so formulieren, dass es dem Verfügungswissen um eine Verwertbarkeit in zielorientierten Herstellungsprozessen geht, dem Orientierungswissen dagegen um Handlungs- und Urteilsfähigkeit. Verfügungswissen »beantwortet Fragen nach dem, was wir tun können, aber nicht Fragen nach dem, was wir tun sollen. Also muß zum positiven Wissen ein handlungsorientierendes Wissen, eben ein Orientierungswissen, hinzutreten.« Denn ansonsten entstünden »Orientierungsdefizite, wird das Können, das sich im Verfügungswissen zur Geltung bringt, orientierungslos.« 83 Doch was bedeutet es nun genau, sich orientieren zu wollen? Während sich der Orientierungsbegriff zwar recht oft in philosophischen Texten findet, so erreicht er dabei doch nur selten den Charakter eines förmlich ausgebauten philosophischen Begriffs. 84 Ein Problem ist hier die Weite des Orientierungsbegriffes, der bisweilen synonym mit dem Informationsbegriff, manchmal aber auch mit einem emphatischen Sinnbegriff gleichbedeutend verwendet wird. 85 Um noch genauer ausmachen zu können, ob hier überhaupt Gleiches gemeint wird oder ob wir es bei dem Philosophiedidaktik und politische Bildung einigenden Bedürfnis nach Orientierung nicht vielmehr mit einem schillernden, alles meinenden Zauberbegriff zu tun haben, erscheint es ratsam, noch etwas bei diesem Begriff zu verweilen und ihn inhaltlich noch weiter zu bestimmen.
Mittelstraß, Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, 41. Vgl. hierzu die ausführliche Recherche zur Geschichte des Begriffs bei Orth, Ernst Wolfgang: Orientierung über Orientierung. Zur Medialität der Kultur als Welt des Menschen. In: Ders.: Was ist und heißt ›Kultur‹ ? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung. Würzburg 2000, 30 ff. 85 Vgl. Dölle-Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung, 173. 83 84
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»Philosophisch überlebt er eher in jenen Philosophien, die nach einer berühmt gewordenen Bestimmung Kants zur Philosophie dem Weltbegriffe, nicht dem Schulbegriffe nach gehören.« 86 Unsere Beschäftigung mit dem Orientierungsbegriff selbst führt damit auf recht geradem Wege zu Kant, welcher in seiner kleinen Schrift »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« 87 bekanntlich drei verschiedene Formen der Orientierung unterscheidet. Kants Analyse erhellt dabei zunächst die den räumlich-metaphorischen Grundzug des Orientierungsbegriffes: »Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden […] Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand.« (SiDo A 307)
Orientierung ist also zunächst Sache des sinnlichen Menschen, der sich mit Hilfe seines Leibes 88 im geographischen Sinne zu orientieren vermag, indem er sich selbst ins Verhältnis zur Richtung des Orients, des Sonnenaufgangs setzt: »Also orientiere ich mich geographisch bei
Orth, Orientierung über Orientierung, 30. Orth nennt als Beispiele die »Weltorientierung« und Jaspers Existenzphilosophie, Orientierung als Begriff der Erkenntnistheorie bei Husserl und Cassirer und den jungen Heidegger, der sich mit Hilfe des Orientierungsbegriffs um eine Bestimmung und Definition von Philosophie überhaupt bemüht habe. Vgl. ebd., ähnlich Dölle-Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung, 172. 87 Kant, Immanuel: Was heißt: Sich im Denken orientieren? Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt a. M. 1978, im Folgenden zitiert als SiDo. 88 Dass Kant die Grundlage der Orientierungsfähigkeit in etwas verortet, was wir heute wohl als die die Leiblichkeit des Menschen bezeichnen würden, wird schon in einer seiner vorkritischen Schriften deutlich. Kant zufolge bilden drei gedachte, einander rechtwinkelig schneidende Flächen die Grundlage der räumlichen Orientierung: Eine horizontale Fläche, auf der der Körper steht und die die Unterscheidung zwischen oben und unten ermöglicht und jeweils eine die Unterscheidung von vorne/ hinten sowie rechts/links ermöglichende Fläche. »Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur insoferne kennen, als es in Beziehung auf uns selbst stehet, so ist kein Wunder, daß wir von der Verhältnis dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen.« Auf die Rolle der Leiblichkeit für die Orientierungsfähigkeit des Menschen sei darum an dieser Stelle verwiesen – dieser Zusammenhang kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht weiter erörtert werden. Kant, Immanuel: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume. Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. II, Frankfurt a. M. 1978, 995. 86
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allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund.« (SiDo A 308) Auch wenn in Königsberg Geographievorlesungen zum Kanon von seinen Veranstaltungen zählten, ist dies freilich nicht die Form der Orientierung, welche Kant eigentlich zur Untersuchung des Begriffs veranlasst. Er ist vielmehr der Auffassung, der aus der Geographie abgeleitete Orientierungsbegriff könne »behülflich sein, die Maxime der gesunden Vernunft, in ihren Bearbeitungen zur Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände, deutlich darzustellen.« (Ebd.) Zu diesem Zweck soll der geographische Orientierungsbegriff in zwei Schritten »erweitert« werden und nur noch in »Analogie« zu seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden werden. In einem ersten Abstraktionsschritt lässt sich dann »darunter verstehen, sich in einem Raum überhaupt, mithin bloß mathematisch [zu] orientieren.« (Ebd.) In einem zweiten Schritt schließlich kann man den Begriff »noch mehr erweitern, da er denn in dem Vermögen bestände, sich nicht bloß im Raume, sondern überhaupt im Denken, d. i. logisch zu orientieren.« (SiDo A 309) Das Problem, welches Kant hier im Sinn hat, ist das folgende: »Da eine ›absolute‹, vom Subjekt losgelöste Orientierung bei Vernunftfragen aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen ist« 89 , ist die Vernunft auf sich selbst verwiesen. Auch da, wo sie zur Erweiterung ihrer Erkenntnis über bisherige Erfahrung hinaus notwendig ist, »tritt das Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf« (SiDo A 311). Dennoch benötigt die Vernunft zu ihrer Orientierung hier »kein vernunftfremdes ›Leitungsmittel‹, sondern nur ihr eigenes Interesse« 90 , sie vermag sich selbst »lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren.« (SiDo A 311) Kant versteht die menschliche Vernunft als Instanz, welche in ihrem Bedürfnis nach Orientierung nur auf sich selbst verwiesen werden kann. »Das ›an‹ und das ›in‹ fallen hier zusammen, insofern die Instanz, an die wir uns in unserem Orientierungsbedürfnis wenden, keine andere sein kann als das Medium, in dem dieses Orientierungsbedürfnis sich artikuliert. Das ver-
Hutter, Axel: Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken. Hamburg 2003, 192. 90 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 192. 89
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nünftige Denken ist etwas, das wir uns schon zutrauen müssen, wenn wir uns an und in ihm zu orientieren suchen […].« 91
Kants Bestimmung des Orientierungsbegriffs lautet daher: »Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben zu bestimmen.« (SiDo 310, FN) Kants Interesse am Orientierungsbegriff ist also in allererster Linie theoretischer Natur; der Begriff ermöglicht es, zu legitimieren, warum es in Perspektive auf den spekulativen Gebrauch der Vernunft legitim sein kann, »daß die Vernunft es bedarf: etwas, was ihr verständlich ist, voraus zu setzen […].« (SiDo A 315) Der von Kant für Annahmen dieser Art etwas missverständlich gewählte (da nicht primär religiös zu verstehende) Begriff des »Vernunftglaubens« ist jedoch nicht nur in Hinblick auf die theoretische Vernunft von Belang. Im Bereich der theoretischen Vernunft nennt Kant den Vernunftglauben auch eine »reine Vernunfthypothese […], d. i. eine Meinung, die aus subjektiven Gründen zum Fürwahrhalten zureichend wäre […]. Dagegen der Vernunftglaube, der auf dem Bedürfnis ihres Gebrauchs in praktischer Absicht beruht, ein Postulat der Vernunft heißen könnte: nicht, als ob es eine Einsicht wäre, welche aller logischen Forderung zur Gewißheit genüge täte, sondern weil dieses Fürwahrhalten (wenn in dem Menschen alles nur moralisch gut bestellt ist) dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist.« (SiDo A 320)
Die Vernunft muss zur Erweiterung ihrer Erkenntnis, sei sie theoretisch oder praktisch, also bisweilen von Annahmen ausgehen, die sie zunächst nur für wahr halten, nicht aber im strengen Sinne beweisen kann. Solche Annahmen nennt Kant im Bereich der theoretischen Vernunft Hypothesen, im Bereich der praktischen Vernunft Postulate. Diese sind in Hinblick auf die menschliche Orientierungsfähigkeit von elementarer Bedeutung; sie sind »also der Wegweiser oder Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann […].« (SiDo A 320)
Dietz, Simone u. a.: Sich im Denken orientieren. Einleitung in: Dies. (Hrsg.): Sich im Denken orientieren, 9–18, 10.
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Für unseren Zusammenhang ist hier besonders von Interesse, dass Kant dem Bedürfnis der Vernunft im Bereich des praktischen Vernunftgebrauchs eine sehr starke Position einräumt, wenn er schreibt: »Weit wichtiger ist das Bedürfnis in ihrem praktischen Gebrauche,« da wir auf diesen nicht nur zurückzugreifen genötigt sind, »wenn wir urteilen wollen, sondern wenn wir urteilen müssen.« (A 315) Als weltliches, auf andere Menschen verwiesenes Lebewesen befindet sich der Mensch offensichtlich nicht nur in der Lage, sich in theoretischer Perspektive orientieren zu können. Er steht vielmehr in politisch-praktischen, zwischenmenschlichen Zusammenhängen und Bezügen, welche es vielfach nicht erlauben, nicht zu urteilen – auch wenn die Grundlage seines Urteilens im Grad ihrer Begründetheit die Reichweite seines Handelns unangemessen zu unterschreiten scheint: »wir müssen Entscheidungen treffen, wir müssen urteilen. Und dafür müssen wir Orientierungen haben. […] Diese Orientierung ist keine für alle Menschen zu allen Zeiten letztbegründete, universale, objektive Wahrheit.« 92 Solche letzten Orientierungen geben zu können, ist dennoch immer wieder als die Rolle der Philosophie beschrieben worden. So stellte für Wilhelm Traugott Krug, Nachfolger Kants in Königsberg, »die Philosophie gleichsam die Orientierungs-Wissenschaft in Bezug auf alle übrige Wissenschaften« 93 dar. Dass sie diese Rolle zu spielen vermag, ist indes recht fragwürdig; einiges spricht dafür, dass »es eine patente, ein für allemal fixierbare Orientierung über Orientierungen nicht geben kann.« 94 Bereits Krug formulierte dieses der Philosophie als der Orientierungswissenschaft erwachsende Problem: »Soll sie aber dieß sein, so muß sie freilich vorher ihren eigenen Orient oder Aufgangspunkt gefunden haben. Ob sie diesen bereits gefunden, ist zur Zeit noch problematisch.« 95 Einen solchen archimedischen Punkt hat die Philosophie freilich nicht zur Verfügung, eine solche letzte Orientierung kann sie folglich nicht geben. Letztlich ist es jedoch möglicherweise die dem Orientierungsbegriff inhärente Stärke, dass er eines solchen Meta-Kriteriums gar
Dölle-Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung, 174. 93 Krug, Wilhelm Traugott: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. 3. Bd., Leipzig 1833, 131. 94 Orth, Orientierung über Orientierung, 39. 95 Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 131. 92
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
nicht zwingendermaßen bedarf, da sich Orientierung immer »an einer Art Substrat, an einem Medium« 96 vollzieht: »Die Orientierung im Denken ist eben nicht eine rein theoretische Angelegenheit, sondern bezeichnet unser Bedürfnis nach Situierung in einer Welt, die zugleich als intelligible und empirische verstehbar sein muss. […] Wären wir rein intelligible Wesen, brauchten wir uns nicht im Denken zu orientieren. Wir wären schon orientiert.« 97
Als intelligibles Wesen bedarf der Mensch keiner Orientierung; orientierungsbedürftig wird er – wenn nicht nur, so doch vor allem – im Verhältnis zu einer Bezugsgröße, welche zugleich als Medium gleichsam den Bezugsrahmen seines Orientierens darstellt – und dieser »Problem- und Bedeutungsraum« ist »die Welt des Menschen« 98 . Wie Christina Schües herausgearbeitet hat, besteht die bildungsphilosophische Bedeutung Hannah Arendts gerade in der Formulierung eines wesentlichen Zieles von Bildungsprozessen, nämlich, »im Bildungsstreben teilzuhaben an der Gestaltung der Welt. […] Die philosophische Aufgabe wäre also, im Selberdenken eine begriffliche und bedeutsame Grundlage für die Orientierung in der Welt, aber auch der Welt bereitzustellen.« 99
2.1.4. Orientierungsrahmen Welt Die Orientierungsleistung der Philosophie selbst sah Arendt freilich durchaus kritisch. »Orientierung in der Welt« konnte für Arendt nie bedeuten, in der Philosophie einen der Handlungswirklichkeit der Menschen vorhergehenden, metaphysischen Ordnungsrahmen zu sehen, welcher auf die Welt gleichsam nur angewendet zu werden bräuchte, um – diese ordnend – eigene Orientiertheit zu erreichen. Dazu wollte Arendt die Welt gerade mit »von der Philosophie ungetrübten Augen« (GG 47) sehen. Andernfalls würde – in der bildlichen Sprache des Höhlengleichnisses gesprochen – der »Raum der menschlichen Angelegenheiten in der Höhle […] mit anderen Worten vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus« 100 betrachtet. Einen Orth, Orientierung über Orientierung, 29. Dietz, Sich im Denken orientieren, 9. 98 Orth, Orientierung über Orientierung, 29. 99 Schües, Aufgaben philosophischer Bildung, 145, 156. 100 Arendt, Hannah: Was ist Autorität? In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zu96 97
114 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik
philosophischen Standpunkt, »der glaubt, sich über die menschlichen Belange erheben zu können« 101 , hätte Arendt immer als Verblendung abgelehnt – und wenn wir uns erinnern, war die Eignung des in die Höhle menschlicher Angelegenheiten zurückkehrenden Philosophen in Sachen Weltorientierung ja auch in der platonischen Sicht bestenfalls als eingeschränkt geeignet zu betrachten. Nun hatten wir gesehen, dass die »Welt«, die für Hannah Arendt in sich bereits plural verfasst ist, sich als das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA 222) gerade erst in der gegenseitigen Bezogenheit der Menschen aufeinander konstituiert. 102 In diesem Sinne ist die Welt nicht nur der Bereich, in dem eine Orientierung notwendig wird, sondern sie ist für eine Orientierung geradezu konstitutiv; Orientierung erscheint ohne das Potential, das in ihrer pluralen Verfasstheit liegt, sogar geradezu unmöglich. Auch und gerade in Absicht auf Orientierung gilt also: »The criterion is the world.« 103 Dass Pluralität in politisch-praktischer Perspektive geradezu Bedingung der Möglichkeit von Orientierung ist, scheint auch Kant in seiner Orientierungsschrift durchaus gesehen zu haben, wenn er schreibt: »Der Freiheit zu denken ist erstlich der bürgerliche Zwang entgegengesetzt. Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen, oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mit-
kunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. v. Ursula Ludz. München 2000, 159– 200, im Folgenden zitiert als WiA, hier 180 f. 101 Heuer, Wolfgang: Zum Stellenwert von »Philosophie und Politik« in Hannah Arendts Denken. DZPhil 41, 2/1993, 378–380, 379. Vgl. dazu auch Ludz, Hannah Arendts Pläne für eine »Einführung in die Politik«, 163 ff. Ludz zufolge war es geradezu der Kern von Arendts »sokratischer Position«, dass sie eine solche »Tyrannei der Wahrheit« (PuP 384) ablehnte. 102 Vgl. Jaeggi, Rahel: Welt/Weltentfremdung. In: Heuer, Wolfgang; Heiter, Bernd und Rosenmüller, Stefanie (Hrsg.): Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2011, 333–335. Eine ausführlichere Darstellung von Arendts Begriff der Welt findet sich freilich in Jaeggi, Rahel: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts. Berlin 1997. 103 Arendt, Hannah: From Machiavelli to Marx. Unveröff. Vorlesungsmanuskript, Cornell Univerity, 1965, Libary of Congress, Arendt Papers, Box 39. Blatt 023453– 023514. Link: http://memory.loc.gov/mss/mharendt_pub/04/040380/0060d.jpg
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zuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme« (SiDo A 325).
Hier wird allererst deutlich, dass das »sich« in »sich orientieren« nicht in erster Linie reflexiv gedacht ist und auf ein Subjekt zurückverweist, sondern vielmehr intersubjektiv gemeint ist und auf die Wechselbeziehung innerhalb einer plural verfassten Welt verweist. Aufgrund der Wechselbeziehung zwischen beidem notiert Ernst Vollrath zu dieser Passage Kants: »Ein Denken, das in keiner Gemeinschaft mehr mit anderem Denken stehen kann, weil die Bedingung dazu, das Recht der öffentlichen Mitteilung, zerstört worden ist, verliert jede Orientierung, auch die an sich selbst.« 104 Diese auf einen plural verfassten Bezugsrahmen verweisende »Pointe« des Orientierungsbegriffs formuliert Orth von Scheler her: »Was man mit Max Scheler die ›Weltoffenheit‹ des Menschen nennt, bekundet sich darin, daß der Mensch fortwährend Wirklichkeit bezeugt, d. h. […] Wirklichkeit ver-gegenwärtigt. […] Zu diesem Umgang gehört das Verwiesensein auf ›Andere‹, die ihrerseits Zeugen sind. […] Zu der Eigentümlichkeit dieser Zeugenschaft gehört es, daß es hier keinen Richter gibt, der die Zeugen vor Gericht befragt und ihre Bezeugungen beurteilt. Der Richter wird nur virtuell im wechselseitig bezeugenden Umgang imaginiert.« 105
Weder Philosophie noch eine alles transzendierende Vernunft treten als Orientierung gebender Richter auf; denn »Orientierung ist allemal etwas Konkretes, nichts Abstraktes« 106 . Sie können – mit Arendt gesprochen – niemals »die Wirklichkeit ersetzen, die aus der Gesamtsumme von Aspekten entsteht, die ein Gegenstand in seiner Identität einer Vielheit von Zuschauern darbietet.« (VA 72) Orientierung muss immer auf etwas Gemeinsames, Geteiltes rekurrieren, das sie im intersubjektiven Verwiesenheitszusammenhang der Welt findet – und dieses »weltlich Gemeinsame liegt außerhalb unserer selbst« (VA 69). Folglich muss Orientierung sich vielmehr in einem Verhältnis wechselseitiger Verwiesenheit konstituieren, für welche die Grundbedingung der Pluralität, die Existenz gleichberechtigter Anderer wiederum offenkundig eine notwendige Voraussetzung ist. Dass Scheler die Metapher des Richters wählt, welche Orth hier in den Zusammenhang seiner Erläuterungen zum Orientierungs104 Vollrath, Ernst: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft. Stuttgart 1977, 172. 105 Orth, Orientierung über Orientierung, 42. 106 Ebd.
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begriff stellt, ist zudem insofern aufschlussreich, als uns diese bereits terminologisch in den Bereich führt, in welchem die Orientierungsfähigkeit des Menschen von Arendt aus formuliert angesiedelt werden muss: im Bereich des Urteilens. Denn es ist die Urteilskraft, welche uns hilft, unsere Erfahrungen in ein Weltganzes einzuordnen und den Dingen, die uns bewegen, »ihren Standort in der Welt« 107 zuzuweisen. Wie wir gesehen haben, ist es alles andere als überraschend, dass Arendt in diesem Problemkreis an Kant anschließt, da »kritisches Denken bei Kant an die Öffentlichkeit geknüpft« ist und damit »an die Präsenz Anderer im öffentlichen Raum«: »Die Öffentlichkeit hat für Kant – so Arendts Interpretation – nicht nur eine erkenntniskonstitutive, sondern eine weltkonstituierende Funktion, insofern erstens kritisches Denken und damit die Vernunft selbst an die Öffentlichkeit gebunden ist und zweitens die Öffentlichkeit selbst – durch die Präsenz gleichberechtigter Anderer – die Wirklichkeit der Welt konstituiert«. 108
Wir hatten diesen Zusammenhang bereits im Kontext von Hannah Arendts Politikbegriff verfolgt. Eine plural verfasste Welt ist für Arendt »nicht nur eine conditio sine qua non, sondern auch eine conditio per quam menschlichen Zusammenlebens« (VA 17), da es der Pluralität von Perspektiven und Meinungen bedarf, um eine politische Sphäre aufzuspannen, welche wirklich menschliches, nämlich menschliche Angelegenheiten in ihrer Vielheit reflektierendes Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht. »Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielheit ihrer Perspektiven.« (VA 73) Um die Wirklichkeit der Welt zu gewährleisten, »bedarf es immer einer Pluralität von Menschen oder Völkern und einer Pluralität von Standorten, um Wirklichkeit überhaupt erst möglich zu machen und ihren Fortbestand zu garantieren. Welt, mit anderen Worten, entsteht nur dadurch, daß es Perspektiven gibt, sie ist nur jeweilig, als die so oder anders gesichtete Ordnung von Weltdingen.« (WiP 105)
Es liegt auf der Hand, dass in der Perspektive auf die Möglichkeit einer Orientierung in der Welt eine der zentralen Bedeutungen der arendtschen Rezeption Kants besteht. Arendt bezieht sich auf die Kritik der Urteilskraft mit der Definition des sensus communis als der 107 108
Vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 173. Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 82.
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
»Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens […], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten […]. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt«. (KU B 157)
Diese Anknüpfung an Kants Verständnis des sensus communis in der Kritik der Urteilskraft erweist sich hier deshalb als bedeutsam, weil letztlich »dieser Gemeinsinn, der ursprünglich der Sinn ist, durch den alle anderen Sinne, die von sich aus rein subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden, der also das Vermögen ist, durch das die Gemeinsamkeit der Welt sich dem Menschen so erschließt« (VA 359).
dem Einzelnen unter Bedingungen der Pluralität Orientierung überhaupt erst ermöglicht. Orientierung vor dem Hintergrund von Arendts Kant-Rezeption bedeutet Orientierung in der Welt – und dafür ist der Gemeinsinn ganz offensichtlich das zentrale ermöglichende menschliche Vermögen: »Für Arendt bedeutet der Gemeinsinn den allen Menschen gemeinsamen Realitäts- oder ›Weltsinn‹, ohne den die Menschen sich nicht auf eine gemeinsame Wirklichkeit beziehen können.« 109 Im arendtschen Verständnis erweist sich der Gemeinsinn also nicht nur als Welt-, sondern in der Folge auch als Orientierungssinn. Damit muss die Ausbildung und Kultivierung dieses Gemeinsinns zu einer zentralen Intention politischer Bildung werden. Der Gemeinsinn erweist sich als Orientierungssinn, weil er die Voraussetzung dafür bildet, sich zu einer plural verfassten Welt in Beziehung zu setzen. Damit ist er jedoch nicht nur Grundvoraussetzung menschlicher Orientierungsfähigkeit, sondern auch der Urteilskraft. Der Gemeinsinn »garantiert […] für Arendt die Bedingung der Möglichkeit von politischen Urteilen, die an die doppelte Bestimmung des Gemeinsinns geknüpft sind: Einerseits garantiert der Gemeinsinn eine von uns allen gemeinsame Welt, andererseits ist der Gemeinsinn die Bedingung der Möglichkeit über Ereignisse zu urteilen.« 110 109 110
Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 86. Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 86 f.
118 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Politische Bildung als Aufgabe der Philosophiedidaktik
Dass hier ein Ansatzpunkt für didaktisches Handeln liegt, ist offensichtlich, sobald Orientierungs- und Urteilsfähigkeit als Zielvorstellungen von Politischer Bildung wie Philosophiedidaktik gelten können. Dass ein entsprechendes didaktisches Handeln möglich sein muss, lässt sich schon mit Rückgriff auf Kant vermuten, denn »einerseits wird der Gemeinsinn bei Kant vorausgesetzt, andererseits wird er durch die Urteile, die die Menschen fällen, erschlossen.« 111 Aufgabe didaktischen Handelns muss es in der Folge sein, an dieser Erschließung des Gemeinsinns tätig mitzuwirken. Kapitel C.3 wird daher prüfen, inwiefern sich auf Grundlage von Hannah Arendts KantRezeption didaktische Methoden und Vorgehensweisen entwickeln lassen, welche die tätige Einübung einer gemeinsinnsförderlichen Praxis erlauben. Auch wenn wir es im Bereich der Bildung mit einem kognitiv nicht zu unterschreitenden Anspruch zu tun haben, ist »Orientierung […] allemal etwas Konkretes, nichts Abstraktes, etwas, das man tut, nicht etwas, das man weiß, wie man Shakespeares Biographie oder das Periodensystem der chemischen Elemente weiß. Anders ausgedrückt: Nicht der, der viel weiß, ist der, der Orientierungsfragen beantwortet, sondern der, der lebensformbezogen für sich schon die geheimnisvolle Grenze zwischen Wissen und Können überschritten hat. Das aber machte ja schon den idealistischen Begriff der Bildung aus. Bildung ist selbst ein Moment der Orientierung und wie diese etwas Konkretes. Teil der Lebenswelt, nichts Abstraktes, der begrifflichen Welt.« 112
Insofern ist der Begriff des Orientierungswissens vom Bildungsbegriff nicht zu trennen. »Bildung ist, in aristotelischen Kategorien gesprochen, ein praktischer, nicht ein poietischer Prozess« 113 , der seinen Sinn nicht in der musealen Anhäufung von Wissensbeständen erfährt, sondern dem eine Fähigkeit entsprechen muss, wenn er für das Leben der zu Bildenden von Bedeutung sein soll. »Was wir ferner brauchen, ist nicht nur ein Orientierungswissen, sondern auch ein Orientierungskönnen.« 114 Ziel didaktischer Theorie muss es also sein, die theoretischen Grundlagen eines solchen Orientierungskönnens methodisch zu fixieren und beschreibbar zu machen.
Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 87. Mittelstraß: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, 42. 113 Schweidler, Walter: Bildung als Chance – Motivation und Intentionalität. In: Rohbeck, Johannes und Steenblock, Volker (Hrsg.): Philosophische Bildung und Ausbildung. Dresden 2007, 43–53, 52. 114 Mittelstraß: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, 42. 111 112
119 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
2.2. Verstehen und Tradition 2.2.1. Die didaktische Transformation der Hermeneutik Wenn Bildungsprozesse dazu dienen, sich in der Welt orientieren zu können, so stellt sich unweigerlich die Frage, in welches Verhältnis sich derartige Orientierungsprozesse zu ihrer eigenen Tradition stellen. Die politische und philosophische Orientierung, welche wir in Bildungsprozessen anstreben, kann sich nicht zeitlos und ungeschichtlich verstehen 115 , sondern muss immer begriffen werden als »ein Denken in Zusammenhängen, auch in Zusammenhängen unserer Tradition.« 116 Dabei will immer von neuem bestimmt werden, wie dieses Verhältnis zur Tradition beschaffen ist, welche Zusammenhänge zur Tradition bestehen und wo diese einer kritischen Überprüfung oder Neuordnung unterworfen werden müssen: »Eine Perspektive wie die genannte schließt als regulative Idee weder unsere alltäglichen Bildungshemmnisse, Sonderwege und Heterogenitätserfahrungen […] aus, noch muss sie die vielen Einflüsse, Brüche und Konflikte leugnen, in die wir in den »Wetterlagen« des Lebens geraten können. […] Sie ist unser Bemühen um einen uns eigentümlichen und angemessenen Selbstausdruck, Kennzeichen eben der nötigen Anstrengungen von endlichen und fehlerbehafteten Wesen, die sich in Tradition und Traditionskritik ihre Errungenschaften, Verhältnisse und Orientierungen stets neu zurechtlegen und dabei möglichst etwas Sinnvolles aus sich und ihrer Welt machen müssen.« 117
Den Rückgriff auf die Traditionsbestände philosophischen wie politischen Denkens können wir damit immer auch als Rückgriff auf be-
Vgl. Martens, Philosophieunterricht als Problem- und Lerngeschichte, 95. Dölle-Oelmüller, Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung, 167. 117 Steenblock, Philosophische Bildung im Prozess der Kultur, 92. Man kann es geradezu als Kriterium eines gelingenden Bildungsprozesses verstehen, dass der Traditionsbestand, auf den rekurriert wird, in seiner Eignung für die gegenwärtige Orientierung des Edukanden erfasst wird, denn wenngleich das Orientierungspotential der Geistesgeschichte quer durch die philosophiedidaktische Theorie hindurch außer Frage steht, erweist sich die philosophische Tradition ja gerade und nur dadurch als Bildungsgut, dass dieses Potential auch als solches nutzbar gemacht wird: »Kommen die Schüler jedoch nicht dazu, ihre Zeit durch Philosophie besser zu begreifen und sich in ihr zu orientieren, erreichen die Mittel ihre Zwecke nicht, wie umgekehrt auch die Zwecke ohne die Mittel nicht zu erreichen sind.« Martens, Philosophieunterricht als Problem- und Lerngeschichte, 96. 115 116
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Verstehen und Tradition
reits erfolgte Orientierungsversuche verstehen, welche im Rahmen des von uns als Bildung verstandenen Zusammenhangs auf ihren gegenwärtigen Orientierungswert hin überprüft werden sollen. »Wer sich über Orientierungen orientieren will, bleibt also gleichwohl in die Geschichte der Orientierungen verstrickt. Und diese Geschichte ist eine (irgendwie verräumlichende) Mediengeschichte.« 118 Wenn wir Orientierung nun aber als ein Geschäft begreifen, bei dem wir auf die Traditionsbestände der Philosophie und der Geisteswissenschaften überhaupt verwiesen sind, so stellt sich für uns sogleich die Frage, was sich in diesem Zusammenhang unter einem Orientierungskönnen konkret vorstellen lässt. Es stellt sich also die Frage der Methode, mit der sich unser Orientierungsanliegen ins Werk setzen lässt. Wenn Orientierung auf Tradition verwiesen bleibt und diese einbeziehen will, so kann diese Methode kaum eine andere als eine hermeneutische sein: »Die Hermeneutik beschreibt, was beim Philosophieren geschieht: Das Aufnehmen des Alten in Traditionsübernahme, Traditionsbewahrung und Traditionskritik sowie seine neue Ergreifung in einer neuen Gegenwart, schließlich seine Fortführung um Eigenes und seine Überführung in Neues.« 119
Die Hermeneutik fungiert als diejenige Methode der Philosophie, welche das Verhältnis des Denkens zur Tradition methodisch reflektieren hilft und ist daher geradezu eine ausdifferenzierte Methodik dessen, was in Bildungsprozessen überhaupt angestrebt wird. 120 Als solche wird sie in der philosophiedidaktischen Diskussion, wenn nicht als die einzige, so doch zumindest als zentrale methodische Basis von Prozessen philosophischer Bildung begriffen – auch weil der Hermeneutik nicht nur ein Verhältnis zur Tradition, sondern auch »von Anfang an ein Moment des Didaktischen, der passenden Anwendung auf neue Verhältnisse, ja auch des Innovativen als zugehörig erscheint.« 121 In Ekkehard Martens’ einflussreichem philosophiedidaktischen Methodenparadigma etwa wird der hermeneutische Zugang zu phi-
Orth, Orientierung über Orientierung, 44. Steenblock, Volker: Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik und zur Bedeutung der Textarbeit in philosophischen Bildungsprozessen. In: Ders.: Philosophie und Lebenswelt, 141–166, 157. 120 Vgl. Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 158. 121 Vgl. Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 143. 118 119
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
losophischen Kontexten, wie sie sich in der Philosophiegeschichte darstellen, neben Phänomenologie, Analytik, Dialektik und Spekulation als einer der insgesamt fünf Zugänge begriffen, die sein methodisches Konzept umfasst. Dabei wird schnell deutlich, dass es sich hier nicht um die philosophischen Methoden selbst handelt, die in Bildungsprozessen ihre direkte Anwendung finden sollen, sondern vielmehr um didaktische Spiegelungen von Vorgehensweisen der akademischen Philosophie. Dies gilt im Kontext von Martens’ ursprünglich von antiken philosophischen Kontexten inspirierten Methodik auch für die Hermeneutik: »Offensichtlich entsprechen die einzelnen Methoden des sokratisch-aristotelischen Paradigmas nur in einem schwachen Sinne […] der Hermeneutik im Sinne etwa Gadamers […].« 122 Das spezifisch Hermeneutische, das die Philosophiedidaktik Martens zu Folge methodisch von der philosophischen Hermeneutik zu lernen vermag, ist einerseits die Berücksichtigung der »Phasenunterscheidung von ›Vorentwurf‹, ›Textverstehen‹ und ›Horizontverschmelzung‹« 123 , welche im didaktischen Prozess nachvollzogen werden könne: »Im Verstehensprozess bewegen wir uns notwendigerweise in dem ›hermeneutischen Zirkel‹, dass wir einen Text mit unseren Erwartungen lesen, ferner dass wir die Einzelaussagen eines Textes nur aus dem Gesamtzusammenhang, und diesen umgekehrt erst aus den Einzelaussagen verstehen« 124 .
Der hermeneutische Zirkel ist dabei also nicht in einem negativen Sinne als ein zirkuläres Beweisführungsverfahren zu verstehen, sondern vielmehr als die produktive, allem Verstehen zu Grunde liegende Struktur des Verstehensprozesses überhaupt, womit er eigentlich »eher eine positive, zu besserem Verständnis hinführende Spirale darstellt.« 125 Wenngleich sich verschiedene Verständnisse und Konzepte dieses sogenannten hermeneutischen Zirkels voneinander unterscheiden lassen – schließlich stellt die Hermeneutik »keine einheitliche Formation dar, sondern fächert sich historisch und systematisch in Martens, Ekkehard: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover 2003, 54 f. 123 Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, 105, vgl. 76 f. 124 Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, 76. 125 Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 160; ähnlich Grondin, Jean: Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 131. 122
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Verstehen und Tradition
verschiedene Richtungen auf« 126 – so lässt sich dennoch wohl sagen, dass die Annahme eines solchen wohl als dasjenige Moment gelten darf, was uns hermeneutische Positionen unter diesem Begriff zusammenfassen lässt. So finden wir den Prozess der gegenseitigen Verweisung von Vorverständnis und Textverstehen sowie der Einzelaussagen des Textes und seinem Gesamtsinn auch bei Gadamer formuliert, wo sie einen zentralen Bestand seines Hauptwerkes Wahrheit und Methode ausmacht: »Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.« 127
Um auf den didaktischen Kontext überhaupt anwendbar zu sein, bedarf es allerdings vielfach eines Prozesses der Umformulierung der Hermeneutik als philosophischer Denkrichtung auf den didaktischen Anwendungsbereich, denn die »Philosophie ist zwar nicht ihre eigene Didaktik, wohl aber enthält sie didaktische Potenzen, die eine separate Ausarbeitung lohnen.« 128 Wenn wir in didaktischer Hinsicht von Hermeneutik sprechen, sind wir also nicht in einem starken Sinn auf die Tradition philosophischer Hermeneutik festgelegt, sondern wir können in didaktischer Perspektive mit einigem Recht traditionsbezogene Verstehensprozesse vielfältigster Art unter diesen Begriff subsumieren. »Verstehensprozesse sind vernünftige und methodisierbare Konstruktionen in immer neuen Referenzsubjekten mit stets neuen Orientierungsinteressen […].« 129 Rohbeck hat für dieses in der Philosophiedidaktik sich verbreitende Verfahren, Methoden philosophischer Denkrichtungen auf didaktische Kontexte zu applizieren, indem man ihr Potential in dieser Perspektive formuliert und damit für Bildungskontexte nutzbar macht, den Begriff der didaktischen Transformation geprägt: »Die Rohbeck, Johannes: Zehn Arten, einen Text zu lesen. In: ZDPE 4/2001, 286–292, 286. 127 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 2010, im Folgenden zitiert als WuM, hier 271. 128 Rohbeck, Johannes: Denkrichtungen der Philosophie in didaktischer Perspektive. In: Information Philosophie, 5/2001, 66–72, 66. 129 Vgl. Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 165. 126
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
Grundidee besteht darin, die Denkrichtungen der Philosophie in ganz spezifische Verfahren zu transformieren und in eigenständigen Übungen zu praktizieren.« 130 Dieses Verfahren ist dem Grundverständnis nach schon im Sinne eines gewollten Methodenpluralismus prinzipiell auf jede philosophische Denkrichtung anwendbar und bietet dieser die Möglichkeit, ihr didaktisches Potential zu heben. Auch Martens versteht die auf fünf Denkrichtungen fokussierte Auswahl seines Methodenparadigmas als »keineswegs vollständig oder zwingend«; vielmehr ließen die Methoden sich »variieren und ergänzen oder spezifizieren«. 131 Während die Hermeneutik für Martens eine Option seines Methodenparadigmas ist, die gleichberechtigt neben den anderen steht, wird der Hermeneutik bei Rohbeck und Steenblock durchaus eine zentrale Rolle für die Philosophiedidaktik eingeräumt. So geht Rohbeck davon aus, Philosophie und ihre Didaktik befänden sich »in der komfortablen Lage, über eine eigene Theorie des Verstehens zu verfügen – die Hermeneutik […]. Die Philosophiedidaktiker sind gut beraten, diese hausgemachten Ressourcen für die Lektüre im Unterricht zu nutzen.« 132 – und Rohbeck hat mit seinem methodischen Konzept ein Verfahren vorgestellt, welches die Potentiale der Hermeneutik nutzt, um unterrichtlicher Textarbeit zu einer hohen Variabilität zu verhelfen. Wenngleich die Hermeneutik also im Stande ist, Texterschließungsverfahren, wie sie als zentrale Bestandteile des unterrichtlichen Geschehens in jedem politisch wie philosophisch bildenden Unterrichtsprozess von ganz entscheidender Bedeutung sind, theoretisch zu fundieren, so ist ihre Bedeutung darauf keineswegs zu beschränken. Denn »über ihre Einschätzung als Texterfassungsmethode hinaus [stellt] die Hermeneutik dasjenige traditionelle wie aktuelle Theoriekonzept dar […], das Kultur- und, mit ihnen verbunden, Bildungsprozesse überhaupt in jeweiligen Abläufen adäquat auf den Begriff zu bringen wie auch in Hinsicht auf mögliche Zwecke und Ziele zu begleiten vermag […].« 133 Eine Theorie politisch-philosophischer Bildung – so können wir 130 Rohbeck, Johannes: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Didaktische Transformationen. Dresden 2003, 7–11, 7. 131 Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, 65, 56. 132 Rohbeck, Zehn Arten, einen Text zu lesen, 286. 133 Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 142.
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Verstehen und Tradition
also zusammenfassen – benötigt eine Grundlagentheorie, welche die Basis für ihr methodisches Vorgehen bereitstellt. Da es sich hier um Prozesse des Verstehens handelt, die zudem in ihrem Zusammenhang mit der Tradition früherer Orientierungen betrachtet werden sollen und müssen, kann diese Theorie nur eine hermeneutische sein. Die »Orientierungsarbeit« 134 , welche den Einzelnen in ein Verhältnis zu Welt und Tradition setzt, muss ein Moment des Fremdverstehens und der Traditionskritik beinhalten; sie vollzieht sich »im Gespräch miteinander und mit der Tradition« 135 und ist mindestens in diesem weiten Sinne eine hermeneutische. »Die Unaufgebbarkeit der Hermeneutik für die Philosophiedidaktik wurzelt […] darin, […] dass wir das, was wir über uns selbst und die Welt zu wissen glauben, letztlich im Modus der Hermeneutik erwerben.« 136
2.2.2. Der gerissene Ariadnefaden Wie wir gesehen hatten, findet sich bei auch bei Hannah Arendt, die immerhin mit Gadamer in den Vorlesungen des sich ebenfalls als Hermeneutiker verstehenden Heidegger gesessen hatte und damit durch eine ähnliche Schule 137 gegangen war, eine Theorie des Verstehens, und es hat darum auch in den letzten Jahren immer wieder VerSteenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 159. Schnädelbach, Herbert: Morbus hermeneuticus – Thesen über eine philosophische Krankheit. In: Ders.: Vernunft und Geschichte. Frankfurt a. M., 279–284, 284. »Wir brauchen ein dialogisches Verhältnis zur Tradition, und die historische Hermeneutik hat vor allem die Aufgabe, den Philosophen, die selbst nicht mehr sprechen können, durch Auslegung ihrer Werke als Dialogpartner eine Chance zu geben und sie so zu präsentieren, daß sie uns kritisieren und wir von ihnen lernen können.« Ebd. 136 Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 166. 137 Schubbe spricht in Bezug auf Arendt und Gadamer darum auch von »gemeinsamen Wurzeln« im Denken Heideggers, von dem sich beide im Laufe ihres Werkes aber merklich entfernt hätten. Auch für diese Entfernung lasse sich jedoch ein »gemeinsamer Absprungsort« in Heideggers Denken ausmachen, den er in Heideggers Begriff des »In-der-Welt-seins« findet. Während Arendt hier den Absprung in eine politische Deutung dieses Begriffs nimmt, werde Grondin zufolge bei Gadamer die heideggersche »Grundverfassung des In-der-Welt-seins […] zum ›In-der-Wirkungsgeschichte-sein‹.« hin gewendet. Schubbe, Daniel: Politische Windungen des Verstehens – Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer. In: Grunenberg u. a. (Hrsg.), Perspektiven politischen Denkens, 153–171, 156, vgl. 153 ff. Vgl. Grondin, Jean: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers. Weinheim 1994, 147. 134 135
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suche gegeben, diese Verstehenslehre als Arendts Methode und als ihre Theorie der Hermeneutik aus dem Gesamtwerk zu isolieren. 138 Inwiefern kann es nun gelingen, das, was als Arendts Lehre des Verstehens gelten kann, so zu formulieren, dass ihr didaktisches Potential sichtbar wird? Unserem Vorhaben scheinen von vornherein gewisse Grenzen gesetzt zu sein, denn »der Versuch, das Arendtsche Verstehen in einem Begriff oder einer rein methodologischen Dimension einzufangen, nimmt dem Verstehen seinen Bewegungscharakter und verfehlt es daher immer schon grundlegend.« 139 Seyla Benhabib hat mit Blick auf ihre methodische Vorgehensweise einmal von »hermeneutischen Mysterien« 140 gesprochen und in der Tat hat Arendt ihren Begriff des Verstehens nie einer abgeschlossenen systematischen Klärung unterzogen. »Hannah Arendt befaßte sich nicht mit methodologischen Überlegungen« 141 ; Antonia Grunenberg zufolge ließe sich sogar »von einer systematischen Verweigerung wissenschaftlicher Methodologie« 142 sprechen. Der einzige Text, welcher das Verstehen explizit als Hauptanliegen nennt, ist ein früher Aufsatz 143 , von dem sie selbst sagte, sie habe »bitten off more than I could chew and was quite out of my depth« 144 und den sie daher selbst zeitlebens als unfertiges Fragment betrachtete und nicht wiederveröffentlichte. Auch wenn Arendts Konzept 138 Vgl. z. B. Opstaele, Dag Javier: Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff. Würzburg 1999. Ders.: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hannah Arendts hermeneutische Theorie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 55, 1/2001, 101–117. Trawny, Peter: Verstehen und Urteilen. Hannah Arendts Interpretation der Kantischen »Urteilskraft« als politisch-ethische Hermeneutik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 60, 2/2006, 269–289. 139 Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 153–171. 140 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 33. 141 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens. In: Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a. M. 1988, 150–174, 156. 142 Grunenberg, Antonia: Denken im Schatten des Traditionsbruchs. In: DZPhil, Sonderband 16: Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? Berlin 2007, 101–119, 115. 143 Arendt, Hannah: Verstehen und Politik. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 110–128, im Folgenden zitiert als VuP. 144 Denneny, Michael: The Privilege of Ourselves: Hannah Arendt on Judgement. In: Hill, Melvyn A. (Hrsg.): Hannah Arendt: The Recovery of the Public World. New York 1979, 245–274, Anm. 14, 272.
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des Verstehens »letztlich nicht an der Tradition hermeneutischer Theorien geschult ist,« 145 werden wir versuchen, uns eben diese Differenz zur philosophischen Hermeneutik im Kontrast – oder vielleicht besser – im Gespräch mit Gadamers Hermeneutikbegriff klarzumachen, um Arendts Verstehensbegriff zunächst noch etwas besser zu beleuchten. Im Vergleich zu Gadamer fällt zunächst das grundlegend verschiedene Traditionsverhältnis auf; denn während Gadamer davon ausgeht, dass die menschliche Existenz ganz grundlegend mit der Verwiesenheit auf Überlieferung verbunden ist, verneint Arendt vehement die Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf die Tradition. Auch wenn Gadamers Denken in gewisser Weise »in einem gebrochenen Verhältnis zur Tradition« 146 steht und er bemerkt, dass »die Kontinuität der abendländischen Denktradition nur noch in gebrochener Weise wirksam« (WuM 4) sei, so wird seine Position im Grundsatz von der Vorstellung bestimmt, dass wir »in Überlieferungen stehen«, »so daß das, was die Überlieferung sagt […] ein Eigenes […], ein Sichwiedererkennen« darstellt. (WuM 280, 286 f.) Damit nimmt er dem Überlieferungsgeschehen gegenüber eine stark affirmative Haltung ein; im Gegensatz zu Heidegger »will Gadamer die notwendige Eingebundenheit des verstehenden Lebens in die Tradition erweisen.« 147 Entsprechend gilt für seinen Begriff des Verstehens, dass Gadamer nicht nur einen bewussten Zugriff auf die Gehalte der Tradition für möglich hält, sondern dass das Bewusstsein »sich von der Tradition getragen [weiß]« 148 . Für Gadamer stehen wir in einem Überlieferungszusammenhang, in dem uns die Überlieferung zu Bewusstsein kommt: 149 »Es wird sich in solchem Verstehen immer um mehr handeln, als nur um historische Konstruktionen der vergangenen ›Welt‹, der das Werk zugehörte. Unser Verstehen wird immer zugleich ein Bewußtsein der Mitzugehörigkeit dieser Welt enthalten. Dem aber entspricht eine Mitzugehörigkeit des Werkes zu unserer Welt. […] Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung 145 Regine Romberg: Athen, Rom oder Philadelphia? Die politischen Städte im Denken Hannah Arendts. Würzburg 2007, 49. 146 Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 161. 147 Figal, Günter: Wahrheit und Methode zur Einführung. In: Ders. (Hrsg.): HansGeorg Gadamer. Wahrheit und Methode. Berlin 2007. 1–7, 1. 148 Grondin, Einführung zu Gadamer, 152. 149 Vgl. Ries, Wiebrecht: Hans Georg Gadamers ›Wahrheit und Methode‹. Darmstadt 2009, 74.
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der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.« (WuM 295)
Dieser fest gefügte hermeneutische Zusammenhang besteht für Arendt nicht – oder wir können sagen: nicht mehr. Der bei Gadamer nur anklingende Bruch mit der Tradition ist für Arendt von anderer Qualität und in weit höherem Maße trennend: »Dieser Traditionsbruch ist heute eine vollendete Tatsache; weder ist er das Resultat von Wahl und Vorsatz, noch ist er abhängig von weiteren Entscheidungen.« (TuN 35) 150 Arendts Verständnis der Tradition ist nicht völlig einheitlich, da sie den Begriff in durchaus unterschiedlichen Kontexten verwendete. 151 Als Basis ihres Traditionsverständnisses kann jedoch »die römische Trinität von Tradition, Autorität und Religion« (WiA 192) gelten. Religion meint für Arendt in diesem Zusammenhang das am Wortsinn von re-ligare orientierte Verständnis von »Zurückgebunden- und Verpflichtetsein« (WiA 187) – im römischen Falle eine Rückbindung an die Stadtgründung. Religion, Tradition als »die Vorstellung von der Heiligung der Vergangenheit durch Überlieferung« (WiA 190) und eine auf die Stadtgründung verweisende und diese verwaltende politische Autorität bildeten bei den Römern einen stets auf die eigene Vergangenheit verweisenden, festen Sinn- und Legitimationszusammenhang. Arendt verstand den »Verlust« der Tradition als einen Prozess, dessen Anfangsphase sie im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert verortet, da hier das Vertrauen in die Überlieferung dem Zweifel als neuzeitlichem Untersuchungsprinzip untergeordnet worden sei. 152 »Der Bruch der Tradition beginnt mit der cartesianischen Neuzeit, die die bis dahin auch während des Mittelalters gültige römische Dreieinigkeit von Tradition, Autorität und Religion aufsprengte.« 153 In Vita activa wird beschrieben, wie als Folge des auf Selbstreflexion 150 Dass der Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts auch für die philosophische Didaktik mit einer Notwendigkeit zur Neuorientierung verbunden ist, hat auch Ekkehard Martens bereits herausgestellt. Vgl. Martens, Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik, 12 ff. 151 Vgl. Heuer, Citizen, 172 ff. 152 Vgl. Kohn, Jerome: Tradition. In: Heuer, Wolfgang; Heiter, Bernd und Rosenmüller, Stefanie: Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, 320– 322, 321. 153 Heuer, Citizen, 175 ff.
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beruhenden cartesischen Denkens aus dem neuen wissenschaftlichen Prinzip einer »reductio scientae ad mathematicam« sehr weitgehend das menschliche »Vermögen, […] durch das die Gemeinsamkeit der Welt sich den Menschen erschließt«, durch ein »System mathematischer Gleichungen […], in welchem alle real gegebenen Verhältnisse in logische Beziehungen umgesetzt werden«, abgelöst wurde. Der »Gemeinsinn wurde jetzt als gesunder Menschenverstand zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug.« Eine derartige Erschütterung des für unsere Wirklichkeitsauffassung zentralen Gemeinsinns konnte freilich auch für das Verhältnis zur Tradition wie für die menschliche Orientierungsfähigkeit insgesamt nicht ohne Folgen bleiben, wo sich die Menschen in der Folge »in einer Welt bewegen, die genau dem entspricht, was ein weltloser Verstand in sich selbst vorfindet.« Die cartesische Umwälzung des Denkens führte den Menschen weg von seinen äußeren Bezügen und hin zu seinem eigenen Inneren, einem »Spiel des Verstandes mit sich selbst«, das in Arendts Denken den Ausgangspunkt für einen fortschreitenden Welt- und Traditionsverlust bildet. (VA 359–361) Dieser Zusammenhang wird im Rahmen einer eingehenden Analyse von Arendts Gemeinsinnsbegriffs noch einmal eine Rolle spielen (vgl. Kap. C.3.1.). Arendt sah darin wie Heidegger eine subjektivistische Verkehrung des Verhältnisses von Mensch und Welt. 154 Im 19. Jahrhundert wird das cartesische Prinzip des Zweifels schließlich direkt auf Religion, Philosophie und Metaphysik zurückgewendet. Das Reißen des Ariadnefadens der Tradition beschleunigt sich zusehends, »nachdem Kierkegaard die Grundvoraussetzungen der überlieferten Religion, Marx die Grundbegriffe der überlieferten politischen Philosophie und Nietzsche die Grundkategorien der traditionellen Metaphysik mitsamt ihrer Moral durch die bewußte Umkehrung der hierarchischen Ordnung in allen drei Bereichen ein für allemal erschüttert hatten.« (TuN 35) Dass dieser mit Blick auf die Tradition delegitimierende Prozess der Geistesgeschichte nicht ohne massive Auswirkungen auf Selbstverständnis wie Orientierungsfähigkeit des Menschen bleibt, ist von Alexander Gantschow sehr eindrucksvoll nachgezeichnet worden. In dem Maße, in dem Menschen aus dem »orientierungsspendenden Überlieferungszusammenhang« heraustreten, kommt ihnen das »herkömmliche Ordnungswissen für eine gelingende Daseinsverständi154
Vgl. Grunenberg, Denken im Schatten des Traditionsbruchs, 102.
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gung« 155 immer mehr abhanden. Was die drei Denker in Arendts Verständnis jedoch vom Menschen nach dem Traditionsbruch trennt, ist, dass ihr Denken selbst noch von einer Tradition gehalten wurde, die diesem »eine Stätte bot« (TuN 37). Ihr Denken bildet selbst ein Übergangsstadium, welches inzwischen abgeschlossen ist und hinter das wir heute nicht mehr zurück können; ihre »Revolte« war noch kein »Bruch«. 156 »Kierkegaard, Marx und Nietzsche sind für uns Wegweiser zu einer Vergangenheit, die ihre Autorität verloren hat«, denn sie »haben als erste ohne Leitung jedweder Autorität zu denken gewagt.« Die Tradition, in der sie noch standen und aus der sie sich selbsttätig herauslösten, ist Arendt zufolge heute nicht mehr ohne weiteres zugänglich; ein erneutes, Kontinuität erzeugendes »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« im Sinne Gadamers steht damit eigentlich gar nicht mehr offen. 157 Dass dies so ist, führt Arendt in letzter Konsequenz auf die Erfahrung des Totalitarismus im 20. Jahrhundert zurück. Das »Trauma« von Auschwitz und der Holocaust als »Zentrum« des deutschen Totalitarismus galt ihr dabei als »geschichtliches Phänomen, das unsere normalen Lebensorientierungen außer Kraft setzt«: 158 »Wenn wir sagen: Dies hätte nicht geschehen dürfen, so meinen wir, daß wir dieser Ereignisse mit den großen und durch große Traditionen geheiligten Mitteln unserer Vergangenheit weder im politischen Handeln noch im geschichtlich-politischen Denken Herr werden können.« (EU 947) Die Ereignisse des 20. Jahrhunderts stellten für durch ihre vollständige Verkehrung der Verhältnisse zwischen Mensch und Welt für Arendt einen derart tiefen Bruch mit dem Denken der abendländischen Tradition dar, dass sie die Konsequenz zog, dass das gerissene Band der Tradition sich auch nicht mehr würde knüpfen lassen: 159 »Wo mit Kierkegaard, Nietzsche und Marx noch Beispiele für eine Revolte gegen die Autorität der Tradition vorliegen, habe erst die totale Herrschaft
155 Gantschow, Alexander: Das herausgeforderte Selbst. Zur Lebensführung in der Moderne. Würzburg 2011, 239. 156 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 154. 157 Vgl. Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 162. 158 Trawny, Peter: Denkbarer Holocaust. Die politische Ethik Hannah Arendts. Würzburg 2005, 144. 159 Grunenberg, Antonia: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Denken mit dem Bruch der Tradition. In: Grunenberg u. a. (Hrsg.), Perspektiven Politischen Denkens, 49–69, 61 ff.
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als Teil der Ereignisgeschichte den wirklichen Bruch vollzogen, mit dem unsere Kategorien des politischen Denkens und die Maßstäbe unserer moralischen Urteile gesprengt sind.« 160
Der Totalitarismus war nicht nur eine Negation der abendländischen Tradition, sondern er erwies sich darüber hinaus vielmehr als ein Phänomen, das in den Kategorien der Tradition nicht beschrieben werden konnte, sich weder greifen noch angemessen beurteilen ließ. Den Totalitarismus auf bisher bekannte Begriffe zu bringen oder mit den bis zu seinem Auftreten gültigen Kategorien zu beurteilen, musste für Arendt – weil ein solches Vorgehen lediglich »das Neue sogleich in das Alte einfügt« (VuP 116) – zwangsläufig eine Reduktion des Phänomens mit sich bringen und das in diesem aufscheinende Neue in der Folge letztlich verfehlen. Arendts Zugriff auf die Überlieferung kann daher nicht mehr in einem unvoreingenommenen, in der Konsequenz gar affirmativen »Gespräch« bestehen; sie beschreibt ihr Traditionsverhältnis vielmehr in dem an Heidegger erinnernden Bild einer Demontage: »Mit anderen Worten, ich bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren. Eine solche Demontage ist nur möglich, wenn man davon ausgeht, daß der Faden der Tradition gerissen sei und wir ihn nicht erneuern können. Historisch gesehen, ist eigentlich die Tausende von Jahren alte Dreieinigkeit von Religion, Amtsmacht und Tradition zusammengebrochen. Der Verlust dieser Dreieinigkeit zerstört nicht die Vergangenheit, und die Demontage selbst ist nicht destruktiv; sie zieht nur Konsequenzen aus einem Verlust, der eine Tatsache ist und als solche nicht mehr Bestandteil der ›Ideengeschichte‹, sondern unserer politischen Geschichte, der Geschichte unserer Welt.« (D 207)
Das sich hieraus ergebende Dilemma für eine mit Orientierungsanspruch auftretende Hermeneutik ist offenkundig: Ist nicht die Aufgabe des Verstehens hoffnungslos geworden, wenn es stimmt, daß wir uns einem »Etwas gegenübersehen, welches unsere Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe zerstört hat?« (VuP 116)
160
Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 159. Vgl. VuP 112.
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2.2.3. Verstehen der Wirklichkeit Verstehen kann für Hannah Arendt keinen der Tradition gegenüber affirmativen Vorgang bezeichnen; ein Verstehen im Sinne eines Einverständnisses ist für Arendt nur im Rahmen einer Freundschaft möglich – und das ist kaum das Verhältnis, das sie sich der Tradition gegenüber vorstellt. 161 Arendts Verstehen ist eines, das sich nicht in erster Linie auf die Tradition richtet, sondern auf die Wirklichkeit politischer und historischer Phänomene. Als solches ist es »das eigentlich zentrale Geistesvermögen in Arendts theoretisch-philosophischen Überlegungen« 162 ; es durchzieht diese »als Tiefenströmung der begrifflichen Kristallisation« – und diese erweist sich in der Tat als methodisch schwer fixierbar. Gegenstand des Verstehens sind für Arendt nicht Texte, sondern politisch historische Grenzphänomene; es ist unser – möglicherweise auch scheiternder – Versuch, das Neue zu fassen. Arendts Verstehen setzt also genaugenommen erst da an, wo das Verstehen einer traditionsbezogenen Hermeneutik aufhört; es hebt erst in dem Moment an, wo es damit eigentlich »im herkömmlichen Sinne nichts mehr zu verstehen gibt.« 163 »Der hermeneutische Wille scheitert, wenn das Verstehen sich mit einem Stoff befasst, der die herkömmlichen Verstehensinstrumente außer Kraft gesetzt hat und dessen kultureller Sinn nicht zu erzeugen ist.« 164 Arendts Verstehen will also »über das hermeneutische Interpretationsgeschehen hinaus« 165 ; durch den Traditionsbruch notwendig geworden, verdankt es sich der Einsicht, dass die Philosophie zwar die Sprache verloren hat, um die Wirklichkeit zu erfassen – dass die Reaktion hierauf aber nicht in schweigendem Verstummen bestehen kann. 166 161 Thürmer-Rohr, Christina: Verstehen. In: Heuer u. a., Arendt Handbuch, 328– 330, 328. 162 Opstaele, Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, 102. 163 Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 153, 163 164 Thürmer-Rohr, Christina: Verstehen, 328. 165 Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 49. 166 Trawny, Verstehen und Urteilen, 283. »Das ›Trauma‹ entzieht die Möglichkeit einer endgültigen Heilung. Es läßt einem nur die Wahl zwischen zeitweiligen Verdrängungen oder lebenslang dauernden Integrationsversuchen, Wieder-holungen also, in welchen es darum geht, mit dem ›Trauma‹ der- oder diejenige zu sein, der einer oder eine ist.« Ders., Denkbarer Holocaust, 145.
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Als solches ist das arendtsche Verstehen von Gadamers Konzept der Hermeneutik deutlich abzusetzen; es ist vielmehr die Reaktion auf das offenkundige Versagen der herkömmlichen Verstehensversuche vor dem Grauen des Holocaust. »An Auschwitz läßt sich – auch beim hermeneutisch eingeforderten besten Willen – kein Sinn entdecken oder nachvollziehen. Der gute Wille des gadamerschen Verstehens als dialogisches Verständigen scheitert angesichts der Worte und Taten.« 167 Eine »Horizontverschmelzung« (WuM 311) scheint hier nicht die Metapher der Wahl zu sein, um ein Verständnis dieses Geschehens darstellbar zu machen. 168 Das Bild der Verschmelzung von Fremdheits- und Vertrautheitshorizont gerät in diesem Zusammenhang offenbar zu harmonisch, denn die Fremdheitserfahrung, welche dem Verstehen vorausgeht, ist bei Arendt als eine existentielle zu denken: »Verstehen ist nicht-endend und kann daher keine Endergebnisse hervorbringen; es ist die spezifisch menschliche Weise, lebendig zu sein, denn jede einzelne Person muß sich mit jener Welt versöhnen, in die sie als Fremder hineingeboren wurde und wo sie im Maße ihrer klar bestimmbaren Einmaligkeit immer ein Fremder bleiben wird.« (VuP 110)
Aus dieser knappen Formulierung Arendts erfahren wir über ihren Begriff des Verstehens, dass dieses (1) ein unendlicher Prozess ist, der (2) eine Lebensweise des Menschen darstellt, (3) auf Versöhnung zielt, (4) Weltbezug hat und (5) einer Fremdheit des Menschen in der Welt geschuldet ist. Beginnen wir mit dem ersten Punkt. (1) Die prinzipielle Unendlichkeit des Verstehens rückt dieses in die Nähe des Denkvermögens, 169 von dem Arendt ebenfalls schreibt, es sei »als eine Tätigkeit endlos wie das Leben, das es begleitet.« (VA 206). Weder hinterlässt das Denken Spuren noch wird es durch eine vorweisbare Erkenntnis an ein Ende kommen. Denken wie Verstehen sind unabschließbare, nicht auf ein Ziel hin angelegte Prozesse, welche zum menschlichen Leben als solchen dazugehören. »Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.« (VuP 110) Wir können das Verstehen also wie das Denken als permanenten, lebens-
Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 163. Vgl. Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 168. 169 Vgl. Heuer, Wolfgang: Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen. In: Ders. und Von der Lühe, Irmela: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste. Göttingen 2007, 197–212, 201 ff.; Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 63. 167 168
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begleitenden Prozess sehen, der das Leben zu einem menschlichen macht. (2) Dass dieser lebenslange Prozess für Arendt zugleich die spezifisch menschliche Lebensweise darstellt, ist interessant im Hinblick auf unsere bisherige Bestimmung, Arendts Verstehensbegriff richte sich auf Extrem- und Grenzsituationen. 170 Offensichtlich ist das Verstehen dasjenige Vermögen des Menschen, das in diesen Situationen darauf abzielt, das Neue einer Entwicklung oder eines Phänomens begrifflich fassbar werden zu lassen. Als solches ist es aber nicht nur in Ausnahmesituationen relevant, sondern das Verstehen-Wollen stellt vielmehr eine Haltung dar, die einzunehmen gerade die Alternative des Menschen zum reduktionistischen Denken in »Analogien und Verallgemeinerungen« wie zum tumben Verharren in Vorurteilen darstellt, welche die Wirklichkeit letztlich beide verfehlen müssen und die uns »das Erschütternde der Wirklichkeit […] nicht mehr spüren lassen« (EU 25). Die Realität zur Kenntnis zu nehmen ist aber offensichtlich eine Bedingung der Möglichkeit sinnvoller Orientierung in der Welt. (3) Eine Versöhnung als Ziel des Verstehens anzunehmen, erweckt allerdings den Eindruck, dass es Arendt letztlich doch darum ginge, in affirmativer Art und Weise Harmonie zu erzeugen, womöglich mit dem Verstehen sogar eine Rechtfertigung oder Entschuldigung einhergehen zu lassen. 171 Dies ist offenkundig ein »Missverständnis«, denn Arendt unterscheidet scharf zwischen Versöhnen und Verzeihen: »Versöhnen hat nichts mit Verzeihen zu tun.« Während das Verzeihen als »Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit« (VA 301) menschlichen Handelns neben dem Versprechen als die zweite korrigierende und stabilisierende Instanz 172 des an sich fragilen menschlichen Handelns und seiner Folgen verstanden wird, die sozusagen im Nachhinein mit dessen Folgen umzugehen vermag, ist die Versöhnung ein wirklichkeitserschließender und damit zum Han170 Dies wird so z. B. bei Schubbe stark gemacht, der Grenz- und Ausnahmesituationen als das eigentliche Interpretandum des Verstehens betrachtet. Vgl. Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 163. 171 Vgl. Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 67. 172 Vgl. dazu Gess, Brigitte: Verzeihen. In: Heuer u. a., Arendt Handbuch, 330–331, 330. Dass der ursprünglich christlich geprägte Begriff des Verzeihens von der jüdischen Denkerin Arendt erstmals in einen politischen Kontext gestellt oder – in Knotts Worten – verlernt wird, ist eine der zentralen Thesen von Knott, Verlernen, 63.
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deln befähigender Vorgang: »Ich versöhne mich mit der Realität als solcher und gehöre von nun an dieser Realität als Handelnder zu. Das findet im Verstehen statt.« (DTB 331) Versöhnung ermöglicht es damit sozusagen überhaupt erst, an der Realität der Welt dadurch teilzunehmen und teilzuhaben, dass diese als solche zur Kenntnis genommen und anerkannt wird. Ohne das »Bemühen, etwas zu verstehen und sich mit einer Wirklichkeit ›zu versöhnen‹, die ohne ihre Mitwirkung zustande gekommen war« (VA 374), ohne also dem »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA 222) verstehend zu begegnen, wird es Menschen nicht möglich sein, unseren »Faden in ein Netz der Beziehungen zu [schlagen]« 173 , wie es Arendt zufolge im Handeln stets geschieht. Daher ist Arendts Verstehen auch nicht auf Sinn gerichtet und erzeugt auch nicht Sinn; oft genug lässt sich ja in der sich uns darbietenden Realität nur wenig Sinn erkennen. (vgl. ebd.) (4) Der Umgang mit der Wirklichkeit kann sich oftmals vielmehr darstellen als eine »Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde«. Diese Einsicht bildet einen zentralen Gedanken schon von Arendts Totalitarismusanalyse. Es muss hier darum gehen, die mit seiner Erfahrung verbundene Last »zu untersuchen und bewußt zu tragen und dabei weder ihre Existenz zu leugnen noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen, als habe alles, was geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. Kurz: begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen. (EU 25)
Das Verstehen des Totalitarismus kann niemals in einem affirmativen Sinne erfolgen, sondern besteht gerade darin, sich einer Wirklichkeit entgegenzustellen, in einer Konfrontation mit der Welt. Da die Wirklichkeit der Welt dabei immer etwas in sich plural Verfasstes ist, gilt dasselbe auch für das Verstehen: »Auch wenn das Verstehenwollen in der Einsamkeit stattfinden mag wie das Denken, so findet es nie ohne die Vorstellung der Positionen anderer Menschen statt« 174 ; es beinhaltet stets »das Gefühl der Lebendigkeit im Prozeß des Verstehens selbst und in seiner Kommunikation mit anderen.« 175 Dass das Verstehen Weltbezug hat, bedeutet also nichts anderes, als »daß es sich 173 Arendt, Hannah: Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: Dies: Ich will verstehen, 46–72, im Folgenden zitiert als GG, hier 72. 174 Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 202. 175 Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 168.
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um ein aus der Pluralitäts-Sicht entwickeltes Verstehen handelt.« 176 Auch für das Verstehen bildet die intersubjektiv konstituierte Welt den Bezugsrahmen, der durch menschliches Handeln und Herstellen aufgespannt wird: Die Bedeutung menschlicher Werke und Handlungen erschließt sich immer nur aus dem Kontext, dem zwischenmenschlich konstituierten Bezugsgewebe der Welt, zu der sie in Relation stehen und in der sie gemeinsam »öffentlich werden« (GG 69). Daher kann Arendt auch davon sprechen, das Verstehen sei »die spezifisch politische Weise des Denkens (›the other fellow’s point of view!‹)« (DTB 332) Dieser strukturell politische, die Pluralität der Meinungen reflektierende Zug des Verstehens wird besonders im Denktagebuch herausgestellt: «Verstehen in der Politik heisst nie, den Anderen verstehen (nur die welt-lose Liebe ›versteht‹ den Anderen), sondern die gemeinsame Welt so, wie sie dem Anderen erscheint. Wenn es eine Tugend (Weisheit) des Staatsmanns gibt, so ist es die Fähigkeit, alle Seiten einer Sache zu sehen, d. h. sie so zu sehen, wie sie allen Beteiligten erscheint.« (DTB 451)
Der Einbezug der Blickwinkel von anderen, die Welt handelnd mitkonstituierenden Menschen macht das Verstehen zur »andere[n] Seite des Handelns, nämlich jene[r] Form der Erkenntnis, durch welche […] die handelnden Menschen (nicht jene Menschen, die sich kontemplativ irgendeinem fortschrittlichen oder endzeitlichen Geschichtsverlauf widmen) das, was unwiderruflich passiert ist, schließlich begreifen können und sich mit dem, was unvermeidlich existiert, versöhnen.« (VuP 125)
Das Verstehen garantiert also durch die Anerkennung eines gemeinsamen Bezugsrahmens die Möglichkeit, in der Wirklichkeit der Welt gemeinsam politisch handelnd tätig zu werden. (5) Aufgrund der »Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten« (VA 234 ff.) ist der Bestand dieser gemeinsamen Welt für Hannah Arendt permanent gefährdet. Nicht zuletzt bedarf er eines politischen Raumes, der dieses gemeinsame Handeln zulässt und dazu politisch-rechtlicher Institutionen zu seiner Absicherung bedarf. 177 Dies ist jedoch alles Andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Fremdheit des Menschen in der Welt ist deshalb ein Thema, das das Denken von Hannah Arendt, die insgesamt 18 Jahre als staaLudz, Hannah Arendts Pläne für eine »Einführung in die Politik«, 160. Vgl. Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 213 ff. Dieser Zusammenhang kann aus Platzgründen im Rahmen dieser Arbeit nicht genauer verfolgt werden. 176 177
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tenlose »displaced person« die Erfahrung von Recht- und Heimatlosigkeit machen musste 178 , prägt und ihr gesamtes Werk durchzieht. Sie ist aber nicht nur und auch nicht in erster Linie ein persönliches Thema, sondern eine Folge des Traditionsbruches, der »das Selbstverständnis des Abendlandes auf den Kopf gestellt« hat. »Aus diesem Geschehen waren die Menschen als Verlassene herausgekommen, einer Welt gegenüberstehend, die sie selbst zerstört hatten.« 179 Arendts Versuche, zu verstehen sind damit immer auch »Ansiedlungsversuche« 180 in einer gemeinsamen, geteilten Welt, welche darauf abzielen, »in der Welt zu Hause zu sein« (VuP 110). Im Totalitarismusbuch schreibt sie dazu: »Aus der Zwiespältigkeit und Vieldeutigkeit der Einsamkeit werde ich erlöst durch die Begegnung mit anderen Menschen, die mich dadurch, daß sie mich als diesen Einen, Unverwechselbaren, Eindeutigen erkennen, ansprechen und mit ihm rechnen, in meiner Identität erst bestätigen. In ihren Zusammenhang gebunden und mit ihnen verbunden, bin ich erst wirklich als einer in der Welt und erhalte mein Teil Welt von allen anderen.« (EU 977)
In diesem Sinne ist auch das »Heimatgefühl« (GG 49) zu verstehen, welches ein mit Anderen übereinstimmendes Verstehen Arendt zufolge erzeugt: Heimat als der eigene Ort in der Welt ist letztlich nur garantiert über eine geteilte Wahrnehmung der Wirklichkeit ebendieser Welt. In diesem Sinne kann uns das Verstehen in der Welt beheimaten, es ist ein »Prozeß der Verwurzelung« im Zusammenhang der Welt und bedeutet »dasselbe wie: in der Welt ein Heim finden, sich zu Hause fühlen.« Wer diesem Weltzusammenhang nicht verstehend entgegentritt und dadurch seinen Ort in der Welt findet, ist ent-wurzelt; und das »heißt, an der Oberfläche leben, und damit ist das Parasit-sein ebenso verbunden wie die ›Oberflächlichkeit‹.« (DTB 332) Die Parallelen zu Arendts Beschreibungen der Oberflächlichkeit und Tiefelosigkeit des Bösen liegen auf der Hand; 181 wir werden diesen Zusammenhang im folgenden Kapitel weiter entfalten. Wer bei Vorurteilen oder beim reduktionistischen Denken in Analogien stehen bleibt und damit nicht im skizzierten, weltbezogenen Sinne versteht, ist oberflächlich. Das Verstehen hingegen schlägt Wurzeln in den Zusammenhang der Welt und gibt dem 178 179 180 181
Vgl. Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 49. Grunenberg, Denken im Schatten des Traditionsbruchs, 102. Thürmer-Rohr, Christina: Verstehen, 329. Vgl. Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 202.
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
Denken damit Tiefe: »Die Dimension der Tiefe wird durch Wurzelnschlagen erzeugt, d. h. Verstehen im Sinn von Versöhnung.« (DTB 332) Auch auf diese Weise kommt dem Verstehen eine besondere Bedeutung für das Menschsein überhaupt zu. 182
2.2.4. Erbschaft ohne Testament Ist der eingangs konstatierte Zusammenhang von Orientierung und Traditionsbezug nun mit dem von Arendt konstatierten Traditionsbruch gänzlich obsolet? Ist die abendländische Tradition für unser Verstehen der Wirklichkeit endgültig diskreditiert und damit unzugänglich geworden? Selbst wenn der Faden der Tradition zerrissen ist, können wir es gar nicht vermeiden, uns in ein Verhältnis zu ihr zu setzen. 183 Dass wir für eine sachkundige Orientierung auf dem Gebiet des politischen Denkens auch nach dem Traditionsbruch auf einen Zugriff auf die Tradition der – nicht nur politischen – Philosophie angewiesen sind, zeigt Hannah Arendts eigenes Werk zudem in kaum zu überbietender Deutlichkeit. Auch wenn sie sich selbst nicht als Philosophin verstehen wollte und stattdessen behauptete, »mein Beruf […] ist politische Theorie« (GG 46), so ist es völlig unübersehbar, in welcher Breite sie sich der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition widmete und in welchem Maß sie in ihrem eigenen Werk auf diese zurückgriff. Uns soll an dieser Stelle vor allem die Art und Weise dieses Zugriffs interessieren. Die Unterlagen zu Arendts eigener Seminarvorbereitung zeigen zudem, dass sie dieser Zugriffsweise auf die Tradition (mindestens implizit) auch selbst eine didaktisch relevante Rolle zuerkannte 184 – während sie Theorie explizit immer als dem 182 Vgl. Sontheimer, Kurt: Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin. München 2005, 253 f. 183 Vgl. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 155. 184 Vgl. Arendt, Hannah: Politische Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Seminarnotizen 1955 und 1968. in: Heuer u. a., Dichterisch denken, 213–225, 220. Wenngleich die Literaturliste des Seminars keine philosophische Literatur ausweist, so geht Arendt in ihrem Skript offensichtlich davon aus, dass auf Grundgedanken von Vico, Smith, Kant, Hegel und Collingwood mindestens im Sinne eines vorausgesetzten Ordnungswissens zurückgegriffen werden kann. Neben der Veranstaltung, deren Vorbereitungsnotizen Heuer u. a. veröffentlicht haben, las Arendt im selben Jahr zudem auch über Machiavelli, Locke, Hobbes, Rousseau, Montesquieu, Tocqueville und Marx. Vgl. Arendts unveröffentlichte Vorlesungsmanuskripte von 1955, Libary of Congress,
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Verstehen und Tradition
direkten Zugriff auf die hinter dieser liegende politisch-historische Erfahrung als nachrangig beschrieb und ihren Studenten riet: »Keine Theorien, vergessen Sie alle Theorien.« 185 In diesem Zusammenhang unterschied Arendt recht scharf zwischen Autoren und Kommentatoren: »Autoren sind diejenigen, die im wörtlichen Sinne die Welt mit ihren Werken bereichern und sich in derselben Welt bewegen wie wir, nämlich in der ›wirklichen Welt‹, während sich die Kommentatoren in der Welt der Bücher bewegen. […] Der politische Schriftsteller liebt die Welt, der Kommentator dagegen die politische Theorie.« 186
Autoren und Kommentatoren unterscheiden sich also dadurch, dass die theorieorientierte Existenz des Kommentators sich durch ihre Weltabgewandtheit auszeichnet, während die Welt für die Autoren von Bedeutung ist und das, was die Autoren schreiben, umgekehrt auch Bedeutung für die Welt erlangen kann: 187 »Die Autoren sind auctores, das bedeutet Bereicherung der Welt. Wir bewegen uns in einer Welt, die durch die Autoren bereichert wurde. Wir können nicht ohne sie leben, sie gehören auf eine ganz andere Art zu ihr als die Kommentatoren.« 188 Autoren können damit zur Orientierung in der Welt einen Beitrag leisten, während die Kommentatoren für den Zusammenhang der Welt wohl kaum mehr Orientierungshilfe zu bieten haben als die weltabgewandten Philosophen, die nach ihrem Aufstieg geblendet in Platons Höhle zurückkehren und sich in dieser nicht mehr zurechtfinden. Kommentatoren leiden am morbus hermeneuticus. 189
Washington D.C., Arendt Papers, Blatt 024014, 024099, 023991, 024056, 024187, 024081. 185 Arendt, Hannah: Politische Erfahrungen im 20. Jahrhundert, im Folgenden zitiert als PE, hier 217. 186 Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 211. 187 Vgl. Breier, Hannah Arendt, 11. 188 Arendt, Hannah: History of Political Thought, Berkeley 1955, unveröffentlichter Nachlass, Libary of Congress, Washington D.C., Arendt papers, Blatt 023943. 189 Vgl. Schnädelbach, Morbus hermeneuticus, 279 ff. »Die hermeneutische Krankheit besteht in der Philologisierung der Philosophie […].« Schnädelbach aktualisiert hier die von Nietzsche vorgetragene Kritik zum »Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in welcher er für das ausgehende 19. Jahrhundert ein »überschwemmendes, betäubendes und gewaltsames Historisieren« beklagt. Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. Frankfurt a. M. 1981, 95–184, 149 f.
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Wenn Hannah Arendt sich auch in ihren eigenen Lehrveranstaltungen mit sogenannten philosophischen »Klassikern« auseinandersetzte, so war ihre Auswahl folglich kaum deren Status als Klassiker geschuldet – denn das wäre die Perspektive des Kommentators gewesen. Genau genommen waren es nicht einmal die Theorien der Autoren als solche, denen ihr Interesse galt. »Erfahrungen und Worte, so Arendt, gehen den Ideen voraus und nicht umgekehrt. Welche Erfahrungen, welche Worte sind es – das interessierte sie.« 190 Um einen Weltbezug erlangen zu können, musste das Werk eines Autors also selbst auf einen erfahrenen Weltbezug zurückgehen – der hermeneutische Grundzug dieses Gedankens ist unübersehbar, hat aber wegen seines metaphysischen Charakters auch Kritik als an Heidegger angelehnte »Ursprungsphilosophie« 191 erfahren. Arendt nannte den im Autor zu Tage tretenden Weltbezug amor mundi, Liebe zur Welt. Als Beispiel für einen solchen der Welt zugewandten Autor nennt sie Machiavelli: »Machiavelli war an Italien interessiert, nicht an politischer Theorie, nicht einmal an seiner eigenen, sozusagen. Nur der Kommentator ist an politischer Theorie per se interessiert.« 192 Wirklich politisches Denken ist »kein Denken über die Welt, sondern ein Denken in der und an die Welt.« 193 Wenn Autoren nun die Welt bereichern, stehen sie innerhalb des intersubjektiven Zusammenhangs der Welt; sie befinden sich mit dieser in einem wechselseitigen, dialogischen Argumentationszusammenhang und können so zur Orientierung einen Beitrag leisten. »Perhaps every author arguments the world with only one Thought or Word.« 194 Auch wenn es nur einzelne Gedanken und Worte ihres Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 210. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 158. Auch Grunenberg zufolge hat Arendt an Heidegger geschätzt, dass dieser bei seinem »Hinterfragen der modernen Denktradition verborgene Schichten eines Verstehens frei[legte], die ungewohnte Einblicke des Denkens ermöglichten.« Grunenberg, Denken im Schatten des Traditionsbruchs, 117. Da sich der weitere Argumentationszusammenhang sich auf diesen Aspekt von Arendts Denken nicht stützen muss, soll dieser hier nur Erwähnung finden und auf eine hier möglicherweise notwendige Kritik kann in unserem Zusammenhang verzichtet werden. 192 Arendt, Hannah: History of Political Thought, Berkeley 1955, unveröffentlichter Nachlass, Libary of Congress, Washington D.C., Arendt papers, Blatt 023943. 193 Grunenberg, Denken im Schatten des Traditionsbruchs, 119. 194 Arendt, From Machivelli to Marx, Blatt 023514, Hervorh. R. T. Arendt nennt hier auch konkrete Beispiele für Autoren, Worte (»Keywords«) und Gedanken, die eine Auseinandersetzung mit der Welt ermöglichen: »Machiavelli: Virtu and Fortuna, Lo 190 191
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Verstehen und Tradition
Werkes sind, die für die Welt relevant werden können, so ist das Verstehen der Wirklichkeit von der Tradition offensichtlich nicht abgeschnitten, sondern steht mit dieser in einer argumentativen Auseinandersetzung. An diesem Punkt werden durchaus auch Parallelen zum Denken Gadamers deutlich. So findet sich auch bei Arendt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Vorurteils. Im Denken heißt es: »Gerade die Dringlichkeit (a-scholia) der menschlichen Geschäfte verlangt häufig Vorurteile.« (D 77) Für die verstehende Auseinandersetzung mit der Welt kommt es darauf an, diese zu Urteilen weiterzuentwickeln. Hier zeigt sich in Arendts Denken wiederum eine gewisse Nähe zur Hemeneutik, wo auch sie die Tatsache reflektiert, dass der Prozess unseres Verstehens immer von einem Vorverständnis ausgehen muss, das im Verstehensprozess überschritten, transzendiert wird. Arendt macht hier zudem geltend, dass auch das auf dem Wege naturwissenschaftlicher Methodik erzeugte Wissen für unser Weltverstehen nur in diesem Sinne eines eingebrachten Vorverständnisses relevant ist: »Wahres Verstehen kehrt immer zu den Urteilen und Vorurteilen zurück, welche der streng wissenschaftlichen Untersuchung vorausgingen und sie leiteten. Die Wissenschaften können das unkritische Vorverständnis, von dem sie ausgehen, nur erhellen, niemals aber beweisen oder widerlegen. […] Um Wissen Sinn zu verleihen, gibt es keinen anderen Weg, als es zu transzendieren.« (VuP 114)
Arendts Begriff des »Verstehens« bezeichnet damit einen dem hermeneutischen Zirkel mindestens strukturähnlichen, dialektischen Prozess, der sich in dem Wechselspiel von »vorläufigem Verstehen«, »Wissen« und »wahrem Verstehen« (VuP 113) vollzieht. 195 Es hebt Stato – To rise | Hobbes: Power as power process.| Spinoza: Freedom to philosophize in the sense of activity, not in the sense of holding definite opinions. Libertas philosophandi.| Locke: Property –Labor theory:| Montesquieu: Action – the principles of actions in the varous forms of government.| Rousseau: Society – compassion | Kant: | Tocqueville: Freedom and Equality | Hegel: History as the Place where meaningfulness reveals itself the historical process | Marx: Labor as Productivity«. Ebd. 195 Schubbe zufolge besteht hierin eine der Parallelen zwischen Gadamer und Arendt: »Den Zirkel des Verstehens […] nimmt Arendt ebenso wie Gadamer wohlwollend auf. Beide stehen bewußt in der Nachfolge Heideggers, der bereits in Sein und Zeit betont hatte, daß es nicht darauf ankäme, diesen Zirkel des Verstehens als logischen Fehler zu begreifen, sondern im Gegenteil auf die rechte Weise in ihn hineinzukommen.« Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 164.
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mit einem Vorverständnis an, welches zwar den Charakter des Rudimentären und Anfänglichen hat, dennoch aber heuristisch die Suche nach einem tieferen Verständnis anleitet und somit für den Verstehensprozess konstitutiv ist. 196 Im Rahmen dieses Vorverständnisses ist es freilich nicht so, »daß das traditionelle Begriffsgerüst seine Macht über die Gedanken der Menschen verloren hat.« (TuN 34) Doch wir befinden uns heute in der Situation, dass diese »verborgene Tradition« »uns sozusagen unter den Händen zerrinnt, sobald wir sie ernsthaft auf die zentralen politischen Erfahrungen unserer eigenen Zeit anzuwenden suchen.« (VuP 112) Das Begriffsgerüst der Tradition als bedeutungsvoller Gesamtzusammenhang hat an Deutungshoheit über unsere Wirklichkeit massiv eingebüßt: »Verlorengegangen ist die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Generation auf die andere überzugehen und dabei eine Eigenständigkeit zu entwickeln schien. […] Man hat dann immer noch die Vergangenheit, aber eine zerstückelte Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewißheit verloren hat.« (D 208)
Es ist also keineswegs so, als wäre die Vergangenheit nicht mehr präsent – doch sie lässt sich nicht mehr als bestehende, zusammenhängende Erzählung wiedergeben, ihr innerer Sinnzusammenhang steht seit dem Traditionsbruch in Frage. 197 Das Zersplittern der Tradition kommt damit dem Verlust der Meta-Erzählung sehr nahe, wie wir ihn bei Lyotard als für die Postmoderne charakteristisch beschrieben gefunden hatten. Wir befinden uns damit in einer Welt, die durch keinerlei einheitliches, sinnstiftendes Band mehr gehalten wird, welches ein Gesamtverständnis unseres gegenwärtigen Weltzusammenhangs gewährleisten würde. Die abendländische Tradition ist für Arendt also kein zusammenhängendes Überlieferungsgeschehen mehr, das aus sich selbst heraus zu deuten ist, sondern sie ist zu einer »Erbschaft ohne Testament« 198 geworden, bei der sich für uns heute die Frage stellt, welche neue Art des Zugriffs angesichts unserer neuen historisch-politischen Situation die angemessene ist. Arendt formuliert ihre eigene Methode nicht selbst aus, sondern Vgl. Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 56. Vgl. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 154. 198 Arendt, Hannah: Über die Revolution. München 1963, 277: Arendt entlehnt diesen Ausdruck, wenn sie in ihrem Revolutionsbuch dem Kapitel über »Tradition und Geist der Revolution« ein Zitat von René Char voranstellt: »Notre héritage n’est précédé d’aucun testament.« 196 197
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Verstehen und Tradition
»findet« sie in ihrer Deutung Benjamins und Heideggers. 199 Sie wird kurz vor Ende ihres Lebens darauf hinweisen, dass sie auf diese »Methode […] hier nur am Rande eingegangen« (D 208) sei. Wie wir bereits sahen, hat sie dies in dem an Heidegger angelehnten Begriff der Demontage zu fassen versucht. »In der Demontage zeigt sich ein Blick auf die Geschichte, der helfen kann, sich urteilend in der Gegenwart zu bewegen.« Der Begriff soll dabei nicht zuletzt versinnbildlichen, dass die Tradition eben nicht mehr als unhinterfragte Autorität auftritt, sondern aufgrund ihres zerstückelten Erscheinungsbildes »als Materiallieferant« 200 . Arendt hat diese Methode als die Methode Benjamins in ihrem Aufsatz über den Freund als »Perlentauchen« beschrieben. 201 Benjamin habe die Einsicht in den unumkehrbaren Traditionsbruch geteilt, habe wie Arendt gesehen, »daß es den Weg zurück nicht gab« (WB 51) und im Umgang mit der Tradition eine Entdeckung gemacht: »Er entdeckte, daß an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war, an die Stelle der Autorität die gespenstische Kraft, sich stückweise in der Gegenwart anzusiedeln und ihr den falschen Frieden der gedankenlosen Selbstzufriedenheit zu rauben.« (WB 49)
Die Überlieferung liegt auch für Benjamin nicht mehr als geschlossener Überlieferungs-zusammenhang vor, sondern in »Bruchstücken« (D 208), die nun aufgenommen und in einen neuen Zusammenhang gestellt werden können. »Für Arendt ist die Vergangenheit wie ein Steinbruch: Einzelne Elemente werden herausgebrochen und mit anderen neu zusammengeführt.« 202 Wenngleich Arendt Benjamins Umgang mit der Tradition als dessen Methode beschreibt, können wir mit Blick auf ihr eigenes Werk konstatieren, dass hier eine deutliche methodische Nähe besteht; Arendts Reflexionen über Walter Benjamin können daher durchaus als methodische Reflexion ihres eigenen Denkens gelten. 203
Vgl. Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 169 ff. Schubbe, Hannah Arendt und Hans-Georg Gadamer, 166. 201 Arendt, Hannah: Walter Benjamin. In Dies.: Bejamin, Brecht. Zwei Essays. München 1971, 7–62, im Folgenden zitiert als WB. 202 Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt. Frankfurt a. M., New York 1994, 12 f. 203 Vgl. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 156 ff. sowie Mahrdt, Helgard: »Unausrottbar ist das Poetische, solange es das Wundern gibt« Hannah Arendt über Walter Benjamin In: Heuer/von der Lühe, Dichterisch denken, 31–49, 41, 48 f. 199 200
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
»Dieses Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit den ›Denkbruchstücken‹, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dieses Denken leitet, ist die Überzeugung, daß zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, daß aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristalisationsprozess ist; daß in der ›Meereshut‹ – dem selbst nicht-historischen Element, dem alles geschichtlich Gewordene verfallen soll – neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die […] überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt«. (WB 62)
Der Perlentaucher entreißt der Tiefe der Tradition genau diejenigen »Denkbruckstücke«, denen ein Weltbezug zugrunde liegt und die wieder Weltbezug erlangen können und bringt sie ins »Tageslicht« der gegenwärtigen Auseinandersetzung ein. Der Traditionsbruch hat mit Blick auf die Tradition also nicht nur trennende Wirkung; Arendt »betrachtete diesen Bruch als ein Zeichen, daß die Fäden, die Gedankensplitter frei und auf solche Weise, daß die Freiheit geschützt blieb, aufgenommen und zu etwas Neuem, Dynamischen und Erhellenden gemacht werden sollten.« 204 Nur in dieser neuen Gestalt, in der Form neu komponierter Fragmente kann die Tradition wieder Bedeutung für uns haben; der Verlust des Überlieferungszusammenhanges ist damit auch ein Kristallisationsprozess des Neuen. Benjamins Vorgehen habe in diesem Punkt eine Geste erkennen lassen, die wiederum auf Kafka zurückgehe. Schon Kafkas Methode hatte »diese eigentümliche Doppeltheit von Bewahren- und Destruierenwollen an sich: er wollte es bewahren, auch wenn es nicht Wahrheit war. […]; und er wußte andererseits, daß man die Tradition nicht wirksamer zerschlagen kann, als indem man sich das ›Reiche und Seltsame‹, die Korallen und Perlen, aus dem überkommenen herausbricht.« (WB 52)
Für die Demontage als Methode des Umgangs mit der Tradition ist also nicht in erster Linie das destruktive Moment das des Demontierens das Entscheidende, sondern die Auffassung, dass »die ›Korallen‹
204 Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt als Geschichtenerzählerin. In: Reif, Adalbert: Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk. Wien 1979, 319–325, 319.
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Verstehen und Tradition
und ›Perlen‹ […] vielleicht nur als Bruchstücke zu retten sind.« (D 208) Ernst Vollrath hat im Anschluss an Arendts Methodik ein Verfahren vorgeschlagen, welches genau dem von Arendt intendierten Umgang mit dem Vergangenen und der Tradition entspricht: »Man könnte es das Verfahren des historischen Zitats nennen. […] Das Zitat bricht mit der puren Kontinuität: es ist gleichsam seine Natur, aus dem (historisch-logischen) Zusammenhang gerissen worden zu sein. Es stellt einen anderen Zusammenhang her, weniger einen zeitlichen, als einen räumlich-weltlichen.« 205
Dazu muss Arendt freilich weit über das hinausgehen, was sie bei Benjamin als das Sammeln von Zitaten beschreibt; ihr Werk ist mehr als eine Montage aus Scherben einer zerstobenen Vergangenheit. Benhabib hat Arendts Vorgehen als eine »alternative Archäologie der Moderne« beschrieben: »Eine derartige Begriffsgeschichte ist ein Erinnern im Sinne eines kreativen Neudurchdenkens, das verlorengegangene Potentiale der Vergangenheit freisetzt.« 206 So wie es die Aufgabe, manchmal sogar eine Last der Menschen ist, das Neue zu verstehen, so entsteht auch in der neuen Anordnung der Bruchstücke etwas Neues. 207 Es geht Arendt nie um eine mit philologischer Präzision vorgenommene Abbildung der Tradition zum Zweck affirmativer Traditionsvergewisserung. Aus dieser weltorientiert-verstehenden Interessenlage heraus erklärt sich auch »die Eigenwilligkeit ihres Umgangs mit Begriffen, die Kritiker ihr gelegentlich zum Vorwurf gemacht haben.« 208 Arendts Zugriff auf die abendländische Philosophie ist nicht kommentierend, sondern steht im Kontext ihres von Sorge um und Liebe zur Welt geprägten Verstehensbegriffs.
Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 19; vgl. ebd. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 158. 207 Dass im Verstehen ein solcher Traditionsbezug immer schon mitgedacht ist, verdeutlicht Kristeva durch ihr Spielen mit dem französischen Begriff des com-prendre als einem mit-nehmen: »Die Mit-Nehmende nimmt auch: Sie wählt, entreißt, knetet, verformt die Elemente, sie eignet sie sich an und erschafft sie neu. Gemeinsam mit den anderen, aber kraft ihrer eigenen Wahl, ist die Mit-Nehmende jene, die einen Sinn entstehen läßt, dort, wo der Sinn der anderen, verwandelt, zu lesen ist.« Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 57 f. 208 Vgl. Sontheimer, Hannah Arendt, 253. 205 206
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2.2.5. Im »in-between« oder: Der lebendige Raum der Didaktik Während Gadamer also noch davon ausging, dass wir als geschichtliche Wesen in einem Traditionszusammenhang fest verhaftet sind, so öffnet sich dieser Zusammenhang bei Arendt zugunsten eines deutlich aktiveren Zugriffs auf einzelne Elemente dieser Tradition; diese werden in den intersubjektiv gedachten Zusammenhang der Welt gestellt, um bereichernd in diese hineinzuwirken. »Laut Arendt sind wir nicht geschichtlich, sondern wir haben die Gabe der Erinnerung.« 209 Im Vergleich zu dem bei Arendt sehr aktiv gedachten, erinnernden Traditionszugriff, welcher als eine Auswahl und ein Herausbrechen sowie ein Neu-Zusammenfügen und -Anordnen der für welt-relevant befundenen Denkbruchstücke ein tätiges Demontieren der Tradition bedeutet, muss das von Gadamer bekannte Im-Überlieferungszusammenhang-Stehen merkwürdig passiv anmuten. Gadamer selbst hat das Verhältnis zwischen dem die Tradition Befragenden und der Überlieferung als Dialog gekennzeichnet, was vor dem Hintergrund dieses recht statischen Verständnisses der Tradition überraschen kann – ist ein Dialog idealerweise doch ein wechselseitiger, beide Partner gleichermaßen involvierender Prozess. Es ist daher die Frage gestellt worden, ob der Dialog ein angemessenes Bild ist, um Gadamers Zugriff auf die Überlieferung zu beschreiben. »Denn das Traditionsverhältnis ist bei Gadamer ein Gespräch zwischen sehr ungleichen Partnern, da man erstens gar nicht mit einem anderen Subjekt, sondern mit der ›Überlieferung‹ spricht und da diese zweitens immer recht hat.« 210 Ein solcher Umgang muss sich in bildungsphilosophischer Perspektive jedoch gerade als nicht unproblematisch erweisen, geht es der Philosophiedidaktik doch darum, »bisherige Denkbemühungen und Problemlösungsvorschläge […] als Dialogangebot, nicht aber als abgeschlossene Wahrheit oder als totes Bildungsgut« 211 in Bildungsprozesse einzubringen. »Ihr Anliegen ist es, Orientierungen durch Argumentation und Traditionswissen so vorzubereiten, dass eine reifende Urteilskraft sie am Ende aus eigener Freiheit ergreifen Mahrdt, Hannah Arendt über Walter Benjamin, 46. Scholtz, Gunter: Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers. In: Wischke, Mirko und Hofer, Michael (Hrsg.): Gadamer verstehen – Understanding Gadamer. Darmstadt 2003, 13–34, 14. 211 Martens, Philosophieunterricht als Problem- und Lerngeschichte, 95. 209 210
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Verstehen und Tradition
kann.« 212 Der damit verbundene Anspruch auf einen Zugriff auf die philosophische Tradition ist besonders prägnant in Schnädelbachs Warnung vor der Selbstphilologisierung der Philosophie als dem morbus hermeneuticus vorgetragen worden: »Wir brauchen ein dialogisches Verhältnis zur Tradition, und die historische Hermeneutik hat vor allem die Aufgabe, den Philosophen, die selbst nicht mehr sprechen können, durch Auslegung ihrer Werke als Dialogpartner eine Chance zu geben und sie so zu präsentieren, daß sie uns kritisieren und wir von ihnen lernen können.« 213
Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob Arendts perlentauchende Demontage sich nicht eher als andere Modelle eignet, um ein didaktisch motiviertes Traditionsverhältnis theoretisch zu fundieren. In einem didaktischen Zugriff auf die philosophische Tradition geht es um »eine Bildungsbewegung, die angestoßen wird« 214 – und die genau wie Arendts »lebenslange Verstehensarbeit« 215 ein prinzipiell unabschließbarer Prozess ist. »Eine solche Begriffsgeschichte ist ein Gedenken, im Sinn eines schöpferischen Aktes des Neudenkens, das die verlorenen Potentiale der Vergangenheit freisetzt.« 216 Ihr Werk »führt den Dialog mit den sichtbaren oder versteckten ›Autoren‹, steht in ständiger Wechselwirkung mit den anderen, und mit sich selbst zuallererst.« 217 Dass das Gespräch ein zentrales, da die Grundbedingtheit menschlicher Pluralität reflektierendes Strukturelement dieser Verstehensarbeit ist, haben sowohl Arendt als auch ihre Interpreten immer wieder betont. 218 »Wenn […] die Vergangenheit nicht als Tradition überliefert wird, dann kann frei über sie verfügt werden; und wenn eine solche freie Verfügung sich selber historisch präsentiert, dann wird sie Anlaß zum Dialog.« 219 Arendts Denken erscheint geradezu als der Ort, an dem ein solches Gespräch mit der Tradition in der Perspektive auf eine Orientierung in der Welt stattzufinden scheint. In Anlehnung an ein Gedicht von Ted Weiss, das dieser über seine Freundin Arendt schrieb, fasst Marie Luise Knott deren Denk212 213 214 215 216 217 218 219
Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 24. Schnädelbach, Morbus hermeneuticus, 284. Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 24. Knott, Verlernen, Klappentext. Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 170. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 58. Vgl. z. B. Ludz, Hannah Arendts Pläne für eine »Einführung in die Politik«, 163 ff. Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin, 319.
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
methode denn auch im Begriff eines »living-room«. Dies ist im Englischen freilich eine schönere Metapher als im Deutschen, da sie nicht nur »Wohnzimmer« sondern auch wörtlich im Sinne von »lebendiger Raum« verstanden werden kann. »Die Toten, Dichter wie Denker, erscheinen im lebendigen Raum des ›Wohnzimmers‹, sie werden Fleisch und Blut und können selbst neu ins Denken und ins Urteilen […] kommen. Arendt ›raisoniert‹ mit ihnen […], als sei sie selbst eine Zeitgenossin«. 220 Im Begriff des Living-room kommen damit zweierlei Charakteristika von Arendts Denken zum Ausdruck. Zum einen erhält hier die hinter den Werken der Tradition liegende lebendige Erfahrung den Raum ins Leben zurückzutreten. Arendts Beschäftigung mit der Vergangenheit ist »keine Verfallsgeschichte, sondern der Versuch, die in Sprachschichten und Begriffssedimenten abgelagerte Menschheitsgeschichte zu durchdenken.« 221 Die Tradition der abendländischen Philosophie wiederzubeleben, indem man die hinter ihr liegenden Erfahrungsschätze hebt, ist ein Gedanke, den Arendt Heidegger entlehnt. Bei vielen ihrer methodischen Reflexionen bezieht sie sich auf ihn – auch in ihrem Text über Benjamin. Arendt zufolge sei diese Wiederbelebung des antiken Denkens seit den zwanziger Jahren maßgeblich von denjenigen auf den Weg gebracht worden, die sich »der Unheilbarkeit des Traditionsbruchs am klarsten bewußt waren – also […] vor allem von Martin Heidegger. […] Mit Heideggers großem Spürsinn für das, was aus lebendigem Auge und lebendigem Gebein Perle und Koralle geworden und als solches nur durch die ›Gewaltsamkeit‹ der Interpretation, nämlich ›die tödliche Stoßkraft‹ neuer Gedanken zu retten und in die Gegenwart zu heben ist, hatte Benjamin, ohne es zu wissen, im Grunde erheblich mehr gemein als mit den dialektischen Subtilitäten seiner marxistischen Freunde.« (WB 57)
Knott, Verlernen, 107. Wie Young-Bruehl berichtet, sprach auch Jaspers mit Blick auf Arendt einmal vom »Wohnzimmer« der gegenwärtigen Kommunikation, in welches Arendt die Denker der Tradition – völlig ungeachtet des chronologischen Zusammenhangs derselben – zu bringen pflegte. Vgl. Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin, 320. Eine ähnliche Wahrnehmung berichtet der New Yorker Verleger Alfred Kazin, der Arendt 1946 auf einer Party kennenlernte und beeindruckt war von »her passion for discussing Plato, Kant, Nietzsche, Kafka, even Duns Scotus, as if they all lived with her and her strenuous husband Heinrich Bluecher in the shabby rooming house on West 95th Street.« Kazin, Alfred: Woman in dark times. In: New York Review of Books, 33/1982, 3–6, 3. 221 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 158. 220
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Verstehen und Tradition
Zum anderen werden die Perlen der Tradition eingefügt in die plurale Struktur der Welt; jede wird, als eine ihrer Perspektiven, »Meinung unter Meinungen« (PuP 384): »Arendts Werk ist ein Gespräch mit ›Freunden‹, mit Platon und Sokrates, ebenso wie mit Heidegger, Rahel Varnhagen, Shakespeare, Jarrell, Emiliy Dickinson, Lessing, Auden, Broch, Rilke oder Heine. […] Arendt konstelliert auch Menschen, die im realen Leben nie miteinander gesprochen haben, nie miteinander hätten sprechen wollen oder können, […] diese Stimmen […] rauben der Gegenwart den ›falschen Frieden‹ einfacher, eindimensionaler Gewissheiten und gedankenloser Selbstzufriedenheit. Es tun sich Räume auf. Zitate lassen andere im Gesprächsraum eines Textes oder Vortrags erscheinen, sie stiften geheimnisvolle Beziehungen, […] bei denen also seine eigene Einbildungskraft gefordert ist.« 222
Die Intention dieser »Zusammenkünfte« in Arendts Denken liegt auf der Hand: »Falscher Frieden« soll gestört, Gedankenlosigkeit vermieden werden; Arendts Denkräume sind Räume der verstehenden Reflexion der Wirklichkeit – nicht der Traditionsvergewisserung oder der Hommage an vermeintlich »große Denker«. Dass Arendt mit der Wiederbelebung der Tradition an Heidegger anschließt, wird auch im Denktagebuch deutlich. Arendt reflektiert hier: »Auf diesen Platz setzt sich Heidegger, also in die Mitte des Werkes, in der sein Autor gerade nicht ist, als sei dies der ausgesparte Raum für Leser und Hörer. Von hier aus rückverwandelt sich das Werk aus dem Resultathaft-totGedruckten in eine lebendige Rede, auf die Widerrede möglich ist. Es ergibt sich ein Zwiegespräch, bei dem der Leser nicht mehr von außen kommt, sondern mittendrin mitbeteiligt ist.« (DTB 354)
Arendt denkt nie von der Tradition aus, sondern der Rezipierende nimmt im Zugriff auf die Überlieferung eine aktive, zentrale Rolle ein. Das Verhältnis zu dieser wird dialogisch gedacht; es schließt die Möglichkeit von Widerspruch und Transformation nicht nur ein, sondern hat hier als Demontage geradezu seinen Akzent. »Aber Arendt geht noch einen Schritt weiter: Sie macht ihre Texte zu einer Bühne, auf der auch der Leser animiert ist, sich von den Meinung der Herrschenden und der herrschenden Meinung zu befreien, sich zu entwirren, und befreit von dem ganzen heutigen Durcheinander derartiger Drähte und
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
Schnüre selbst in Erscheinen zu treten. Die Welt bleibt umstritten. Sie muss eine Umstrittene bleiben.« 223
Arendts Bild von einem Umgang mit der Tradition ist offenkundig nicht nur dialogisch gedacht, sondern impliziert – was für den Didaktiker von hohem Interesse ist – geradezu Streit und Debatte. Das von Knott in die Diskussion gebrachte Bild eines living rooms, mit dem sie wohl an die Arendt seit ihrer Habilitation prägende Vorstellung des Salons als diskursiver Öffentlichkeit anzuschließen versucht, bietet sich geradezu an als Paradigma einer Didaktik, die weder ihre dialogische Grundstruktur noch ihren Traditionsbezug aufgeben will. Arendts Methode macht sichtbar, wie sich beides zusammendenken lässt – und darin besteht wohl die Aufgabe philosophischer Didaktik: den dialogischen Zugang zu den Gegenständen des eigenen Faches denkbar zu machen und methodisch zu reflektieren. 224 Darum hat Hans-Jörg Sigwart bei ihrem Denken auch von einer politischen Hermeneutik gesprochen: »Das ›Gemeinsame‹ als Konstituens des Politischen bezieht sich daher nicht nur auf die Objekte des Verstehens […] sondern manifestiert sich primär in der Vorstellung vom Subjekt der Interpretation selbst. Das ›Ganze‹ des politischen Gemeinwesens bildet dabei nicht nur den ›Horizont‹ der Interpretation, sondern nimmt als die Gesamtheit der an ihm beteiligten Individuen in gewisser Weise selbst die Stelle des Interpreten ein.« 225
In dieser »Hermeneutik des ›Wir‹« ist für den Verstehensprozess ein pluraler Weltzusammenhang der orientierende Bezugsrahmen des Verstehensprozesses; im Verstehen verschränken sich damit eigentlich zwei Verhältnisse, die beide dialogisch gedacht sind: einerseits das Verhältnis der Rezipierenden zur Tradition sowie andererseits dasjenige der an diesem Prozess beteiligten »konkreten historischen ›pluralen Subjekte‹ der Selbstauslegung« 226 untereinander. Es ist deutlich geworden, dass das philosophiedidaktische Paradigma des Dialogischen bei Arendt auch im Verhältnis zur Tradition prägend ist. Arendt eignet sich damit (weit mehr als Gadamer) als Hintergrundtheorie einer didaktisch transformierten Hermeneutik als derjenigen Hintergrundtheorie, welche den geforderten dialogiKnott, Verlernen, 108. Vgl. Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 22 ff. 225 Sigwart, Hans-Jörg: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt. Würzburg 2012, 477. 226 Sigwart, Politische Hermeneutik, 477. 223 224
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Verstehen und Tradition
schen Zugriff auf die Tradition denkbar macht und diesen – die Pluralität der Meinungen ernst nehmend und auf die Tradition ausdehnend – als einen in sich politischen Zugang zur Philosophiegeschichte begreift. Politisch ist dieser Zugang zum einen aufgrund seiner plural gedachten Grundstruktur und zum anderen wegen seines Verhältnisses zur politischen Wirklichkeit jenseits der Theorie. Diese soll nicht mittels philosophischer, ewiger Maßstäbe beurteilt werden; vielmehr muss die begriffliche Ordnung der Welt im Wechselverhältnis mit dieser erfolgen. Arendts Anspruch bestand darin, die Begriffe an der Wirklichkeit zu schulen, nicht, die Wirklichkeit den Begriffen zu unterwerfen. Die Lebendigkeit dieses Traditionszugangs wird für Arendt – und dies ist für ihren Traditionszugang von großer Bedeutung – in besonderem Maße durch Sprache gewährleistet. Dabei ist einerseits die »moralische Resonanz« der Sprache entscheidend, weil die »Sprache, in der erzählt wird, […] der moralischen Qualität des erzählten Gegenstands angemessen sein [muß].« 227 Schon mit Blick auf ihre Totalitarismusanalyse hatte dies bisweilen bis zum Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit (z. B. durch Eric Voegelin) geführt. 228 Dabei gehört der stark narrative Charakter von Arendts Werk ebenso zu ihrem Verhältnis zur Vergangenheit dazu wie das Verfahren von Destruktion und Montage; Arendt selbst hat ihre Methode daher immer wieder als »storytelling« 229 beschrieben. »Die Arendtsche Lektüre ist wie ein echtes literarisches Mosaik konstruiert, das die Erzählungen von Kafka, Nietzsche, Heidegger … und Arendt selbst miteinander verbindet.« 230 Das Medium der Erzählung war in Arendts Augen Teil der jeder Generation aufs Neue zukommenden Aufgabe, »den Pfad des Denkens neu entdecken und mühsam bahnen« (D 206) zu müsBenhabib, Die melancholische Denkerin, 153. Arendt hielt Voegelin daraufhin entgegen, es sei unmöglich, über die Konzentrationslager in der Tradition des »sine ira et studio« zu schreiben, da dies einer Billigung der Konzentrationslager nahezu gleichkomme. Arendt, Hannah: A Reply to Eric Voegelin. In: Essays in Understanding 1930–1954. Formation, Exile and Totalitarianism. New York 1994, 401–408, 402 ff. Was Voegelins Kritik angeht, so können wir insgesamt wohl Benhabibs Worten beipflichten, wenn sie schreibt: »Voegelins Interpretation der Arendtschen Arbeit geht zweifellos mehr auf die durch seine eigene hermeneutische Linse verursachten eigentümlichen Verzerrungen zurück«. Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 157. 229 Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin. (Der Originaltitel lautet »Hannah Arendts Storytelling.« In: Social Research 44/1977, No. 1, 183–190.) 230 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 147. 227 228
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Philosophiedidaktik als Orientierung in der Welt
sen. Sich in diesem Sinne erzählend in ein sehr lebendiges Verhältnis zur Vergangenheit zu setzen, gehörte schon mit Blick auf die Bestimmung der eigenen Identität zur Lebendigkeit des Vergangenheitsbezugs hinzu: »Narrativität ist für unsere Identität konstitutiv.« 231 Wie wir sehen werden, erhält der ohnehin hermeneutische Charakter von Arendts Methode dadurch einen Zug, welcher bei Ricœur aufgenommen und weiterentwickelt werden wird und der auch für Arendts Traditionsbezug von nicht unwesentlicher Bedeutung ist. Benhabib hat Arendts Vorgehen darum zu Recht als eine »Methodologie der ›fragmentarischen Geschichtsschreibung‹ oder des ›Geschichtenerzählens‹« 232 bezeichnet. Wie es ihr in diesem Zuge gelang, gleichermaßen »mit einer liebenswerten Verachtung für bloße Fakten […] und steter Achtung vor dem lebenden Inhalt der Geschichte« 233 vorzugehen, werden wir im Folgenden exemplarisch an Arendts Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants zeigen und dabei mit ihrer Aufnahme des Begriffs vom radikal Bösen beginnen, welche besonders ihr philosophisches Spätwerk so maßgeblich geprägt hat.
231 232 233
Benhabib, Die melancholische Denkerin, 154. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 158. Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin, 319.
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C. Arendts Kant-Rezeption als Lehrstück politischer Hermeneutik 1. Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
Eine Arbeit, die es sich zum Gegenstand gemacht hat, Hannah Arendts Kant-Rezeption auf ihr Potential für die politische Bildung hin zu untersuchen, wird nicht umhinkommen, dem Begriff des Bösen eine zentrale Rolle einzuräumen. Dabei fällt recht schnell auf, dass das aktuelle Interesse am Bösen hoch ist; dies zeigt nicht zuletzt die hohe Zahl aktueller Veröffentlichungen zu diesem Thema. Nicht alle diese Veröffentlichungen können sich davon freisprechen, gewissermaßen die Ungunst der Stunde genutzt zu haben: Im Jahr 2001 betrat das Böse in der umstrittenen Begriffsbildung einer »Achse des Bösen« eine der größten Bühnen politischer Öffentlichkeit und es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sich in der Folge eine Reihe von Publikationen anschickte, ihm auf diese Bühne folgen zu wollen. Diese Faszination für den Begriff ist auch nach über zehn Jahren ungebrochen. Die Fähigkeit der philosophischen Tradition, Aufklärung über das Phänomen zu bieten, ist jedoch vor nicht allzu langer Zeit auch vom französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy in Frage gestellt worden: »Die westliche Philosophie ist im Grunde von der Sorge beherrscht, das Böse als Wahrnehmungsfehler wegzuerklären.« 1 Während die Intensivierung der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Böse eher zufällig erscheint, ist das Böse freilich stets Gegenstand theoretischer Auseinandersetzungen gewesen. Oft wurde es als Gegenstand rein theologischer Überlegungen verstanden. Wie Ricœur zeigt, ist es Kant, der den »härtesten Schlag« gegen die Frage »Unde malum? – Woher kommt das Böse« geführt hat und die Beschäftigung mit dem Bösen vom onto-theologischen Diskurs auf die Ebene der praktischen Vernunft verlagerte: »Unde malum faciamus?
1
Lévy, Bernard-Henri, Interview in DIE ZEIT, 03. November 2011, 9.
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Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
[…] Kant kann nicht mehr fragen, woher das Böse kommt, die Frage ist vielmehr, woher es kommt, dass wir es tun.« 2 Kant behandelte das Böse im Rahmen seiner Freiheitslehre und war bestrebt, der frei handelnden Person auch ihre unmoralischen Handlungen zurechnen zu können. Die Religionsschrift beinhaltet darum den Versuch, die Möglichkeit, Wirklichkeit und Allgemeinheit eines Hangs zum Bösen in der menschlichen Natur zu zeigen. Das Vorhaben, im Rahmen der Transzendentalphilosophie Freiheit zum und Allgemeinheit des Bösen miteinander zu vereinen, wird sich als mindestens problematisch erweisen. Hannah Arendts explizit nicht-transzendentalphilosophische Vorgehensweise rückt die Beschäftigung mit dem Bösen weg vom Rand der Auseinandersetzung ins Zentrum ihres philosophischen Interesses. Den »unmittelbaren Anstoß«, »die Vita contemplativa (das betrachtende Leben) als Gegenstück der Vita activa (des tätigen Lebens) zu untersuchen.« 3 , bildete ihre Anwesenheit beim EichmannProzess in Jerusalem, gefolgt von ihrer Begriffsbildung der »Banalität des Bösen« (D 13). Hatte Arendt den Begriff des Bösen zwar als kantische Entlehnung auch in früheren Werken schon verwendet, so setzte spätestens Mitte der sechziger Jahre eine systematische Reflexion dieses Begriffs ein. Ihre Vorlesung Basic Moral Propositions entwirft – ausgehend von der Frage nach dem Bösen – bereits skizzenhaft eine Lehre des Denkens, Wollens und Urteilens, macht damit bereits die Grundzüge ihres späteren philosophischen Hauptwerkes Vom Leben des Geistes erkennbar und gibt für uns damit gewissermaßen zugleich den Blick frei auf ihre späteren Zugriffe auf die kantische Philosophie wie ihre Kritik seiner Ethik oder ihre Aufnahme des Urteilsbegriffs. Programm und Bedeutung ihrer Kantrezeption werden hier also der Stoßrichtung nach erkennbar. Ich möchte daher vorschlagen, die Annäherung an ihre Theorie des Bösen über besagte Vorlesung zu versuchen, welche seit 2003 in veröffentlichter Form und seit 2006 als Übersetzung unter dem Titel Über das Böse vorliegt. Kommen wir aber zunächst zu Kant selbst. Ricœur, Paul: Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie. Zürich 2006, 28, 30, 35 f. 3 Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt am Main 2006, 274, vgl. Arendt, Hannah: Das Leben des Geistes. Band I: Das Denken. München, Zürich 1979, (= D), 16 ff. 2
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Das Böse und die Freiheit bei Kant
1.1. Das Böse und die Freiheit bei Kant 1.1.1. Der ungedeckte Wechselbegriff Dass das Böse – wie gesagt – leicht als Gegenstand rein theologischer Überlegungen verstanden wird, führte dazu, dass Kant mit seiner Rede vom »radikalen Bösen« bei vielen seiner aufgeklärten Zeitgenossen zunächst auf abwehrendes Unverständnis stieß. Goethe bezeichnete Kants Lehre vom »radikalen Bösen« (bereits 1793) als »Schandfleck«, mit dem er »seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich […] beschlabbert, damit doch auch Christenmenschen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.« 4 Auch Herder konstatierte (nur einige Jahre später), dass er »einer radikalen bösen Grundkraft im menschlichen Gemüt und Willen durchaus nichts abgewinnen kann.« 5 Stein des Anstoßes war für beide eine sicher verfehlte Interpretation der kantischen Religionsschrift, welche Kants Begriff des Bösen als eine säkularisierte Neuausgabe der christlichen Erbsündenlehre verstand. Goethe wie Herder befürchteten, dass Kants auf seinem Autonomiebegriff fußende Moralphilosophie in einem elementaren Punkt auf eine religiöse Basis gestellt werden sollte. Mit Blick auf Kants Philosophie zeigt sich jedoch, dass ein solches Verständnis des Bösen am Kern zumindest desjenigen Problems vorbeigeht, welchem sich Kant innerhalb seiner praktischen Philosophie zu stellen hatte. Dies ergibt sich zuallererst schon aus Kants genereller Einordnung der Theologie in sein wissenschaftliches System. Die Kritik der Urteilskraft stellt jegliches Nachdenken über Religion unter den Primat des Praktischen. Onto-, Kosmo- und Physikotheologie werden von Kant zugunsten einer Ethikotheologie verworfen. (KU §§ 85 ff.) Damit macht er die praktische Philosophie zur neuen »Grundveste« einer jeden Religionsphilosophie; »die Ethik diktiert nach dem Durchgang durch die drei Kritiken der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ihr Maß.« 6 4 Goethe, Johann Wolfgang von: Brief vom 6. 7. 1793, zit. nach Schulte, Christoph: radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche. München 1988, 26. 5 Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität, Leipzig o. J., 123. Brief, S. 100. 6 Schulte, radikal böse, 21.
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Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
Es ist daher nur konsequent, wenn Kants Religionsschrift das Böse von vornherein als Moralisch-Böses auffasst. Themen dieser 1793 erstmals herausgegebenen Schrift sind Möglichkeit, Wirklichkeit und Allgemeinheit eines solchen moralisch Bösen. Die Faktizität unmoralischer Handlungen wird Kant auch bereits bei der Abfassung seiner moralischen Grundlegungsschriften, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft bewusst gewesen sein. Dennoch wird das Phänomen des Bösen in der Grundlegung gar nicht und in der zweiten Kritik nur insoweit thematisiert, als das moralisch Böse vom bloß unangenehmen Übel unterschieden werden soll. (vgl. KpV 105 f.) Die Problematik von Handlungen, welche vom Sittengesetz abweichen, wird hier in ihrer Brisanz für Kants Autonomiekonzept noch nicht erfasst. Diese Brisanz ergibt sich bereits aus einem letztlich »ungedeckten Wechselbegriff« der Grundlegung, welcher gravierende Probleme für Kants Vorstellung von Autonomie und moralischem Handeln enthält. Kant konstatiert hier: »Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe« (GMS 450 f.). Und »also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.« (GMS 447)
Wenn moralisches Handeln nun autonomes Handeln sein soll und Autonomie mit Freiheit gleichbedeutend, scheint un- oder nicht-moralisches Handeln per definitionem aus dem Bereich autonomer, selbstbestimmter Handlungen ausgeschlossen zu sein. »Wenn der Wille irgend worin anders, als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung […] das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus.« (GMS 441) Bestimmt etwas anderes als der kategorische Imperativ unser Handeln, so gerät dieses offenbar automatisch heteronom; fremdverschuldet, nicht selbstbestimmt. In diesem Falle könnte dem Subjekt folglich keinerlei Verantwortung dafür zugerechnet werden, nicht aus Pflicht gehandelt zu haben; die Ursache der Handlung läge ja nicht beim Subjekt selbst, sondern in der Kausalität des Naturzusammenhanges begründet. Ist nicht-moralisches Handeln aber in jedem Falle heteronom, wäre ein Subjekt überhaupt nicht in der Lage, eigenverantwortlich Schlechtes zu tun. Mehr noch: die Gleichsetzung von Freiheit und Moralität einer Handlung gefährdet letztlich sogar auch die Zurechenbarkeit der moralischen Handlung: Wenn freies 156 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Das Böse und die Freiheit bei Kant
Handeln sozusagen »automatisch« gut ist, sind dem Subjekt nur gute Handlungen zurechenbar; die Verdienstlichkeit moralischen Handelns würde jedoch voraussetzen, dass das Subjekt selbst auch nichtmoralisch hätte handeln können. 7
1.1.2. Die Freiheit der Willkür Wie also steht es um die Möglichkeit zurechenbarer unmoralischer Handlungen? Die Lösung dieses Problems liegt für Kant auf der Ebene der menschlichen Willkür, auf welche er schon bei der Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft hatte zurückgreifen müssen: »Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.« (KrV A 534) Die menschliche Willkür ist zwar »sensitiv«, also sinnlich, und kann daher »pathologisch affiziert« werden. Aber auch wenn sich die menschliche Willkür für sinnliche Anreize empfänglich zeigt, so ist dies nur eine der Quellen, aus denen ihr eine Handlungsmotivation erwachsen kann. Denn im Unterschied zur tierischen Willkür (arbitrium brutum) ist sie nicht »pathologisch nezessitiert«. Ihre Ausrichtung nach sinnlichen Anreizen ist mithin zwar möglich, nicht aber notwendig: Sie ist »liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht.« Der Begriff, welcher die Unvereinbarkeit von Freiheit und Sinnlichkeit aufheben soll, ist also die Willkür. Wenngleich diese Vorstellung bereits in der Kritik der reinen Vernunft auftaucht, findet der Begriff der Willkür in seinen moralischen Grundlegungsschriften zwar Erwähnung. Eine systematische Einordnung der Willkür gegenüber dem in der Grundlegung stark gemachten Begriff eines »guten Willens« erfolgt jedoch erst in der Metaphysik der Sitten: »Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch 7
Vgl. Schulte, radikal böse, 28 ff.
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Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden.« (MS AB 27) 8
Auch in der Grundlegung hatte Kant den Willen bereits als ein »Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln« bezeichnet und in der Folge konstatiert: »so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.« (GMS 412) Der Wille kann also weder frei noch unfrei sein. Daher kann auch Kants Frage der Metaphysik, »wodurch das Böse in die Welt gekommen ist« (MS A 87), nicht als Problem des Willens, sondern auf der Ebene von Willkür und Maximen geklärt werden, da »von der Willkür die Maximen« ausgehen und nur die Willkür »frei genannt werden« kann. Nur unter der Bedingung der »absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit)« (REL B 12) kann das Böse zurechenbar sein. Kant kann sich hier auf den bereits in der ersten Kritik entworfenen Begriff von der »Freiheit im praktischen Verstande« stützen. Er versteht diese als »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.« (KrV A 533) Die Freiheit der Willkür bleibt auch bei bösen Handlungen bestehen, da keine Nötigung durch sinnliche Antriebe vorliegt. »Die behauptete Unabhängigkeit bezieht sich […] ausschließlich auf die Nötigung, nicht aber auf das Bestimmtsein durch sinnliche Antriebe« überhaupt 9 , weswegen es auch kein Widerspruch ist, die Willkür gleichzeitig als »sensitivum« wie auch als »liberum« zu kennzeichnen. Diese Konstruktion löst zwar das Problem, dass eine unmoralische Handlung nicht in strenger logischer Negation zur moralischen, autonomen Handlung als unfrei aufgefasst werden muss. Der Mensch wird im unmoralischen Handeln nicht schuldfrei von der Sinnlichkeit übermannt, sondern entscheidet sich in einem freien Willkürakt, einer »intelligilblen Tat« (REL B 26) für die unmoralische Handlung. Ob der von Prauss geprägte Begriff einer »Autonomie zur Heteronomie« 10 nun den Kern dessen trifft, was Kant sich hier vorDie terminologische Spannung zwischen der Metaphysik der Sitten und Grundlegung sowie zweiter Kritik wird an dieser Stelle wohl am deutlichsten greifbar: Während die Metaphysik behauptet, dass der Wille »weder frei noch unfrei genannt werden« könne, ist in der Grundlegung der Begriff »freier Wille« (GMS 447) offensichtlich ganz eindeutig an prominenter Stelle nachweisbar. 9 Hutter, Axel: Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken. Hamburg 2003, 138. 10 Prauss, Gerold: Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt 1983, 59 ff. 8
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Das Böse und die Freiheit bei Kant
stellt, oder ob er als »Widerspruch in sich« 11 aufgefasst werden muss, ist in der Kantforschung recht umstritten. Unbestreitbar ist jedoch m. E., dass Kant in einer – wie er selbst sagt – »für die Moral wichtigen Bemerkung« eine Revision seines Wechselbegriffs der Grundlegung vornimmt: Wir erfahren hier, dass »eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen« (REL B 12) kann. Kants Vorstellung, dass »ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei« (GMS 447) seien, lässt sich mit den Ausführungen der Religionsschrift schwerlich in Einklang bringen. In der Grundlegung schien eine andere Triebfeder als das Sittengesetz selbst noch stets automatisch mit einer »Heteronomie der wirkenden Ursachen« (GMS 446) gleichbedeutend zu sein. Schulte folgert daher zu Recht: »An der Möglichkeit der freien Annehmung böser Maximen zerbricht die Identifikation von Freiheit und Autonomie.« 12 Die Vorstellung einer Willkür, welche sowohl sensitiv als auch frei vorgestellt wird, ermöglicht also ein Verständnis unmoralischer Handlungen, welche nicht schon durch ihre Abweichung vom Sittengesetz automatisch als heteronom und damit nicht zurechenbar hätten gelten müssen. Die Möglichkeit des Bösen leitet sich also aus der absoluten Spontaneität einer Willkür ab, welche Kants Vorstellung nach sowohl sinnlich als auch frei ist. Eine Bestimmung als sowohl sensitiv als auch frei lässt sich im Rahmen der Transzendentalphilosophie kaum als unproblematische Bestimmung kennzeichnen, bildet jedoch das Schlüsselelement bei der Beantwortung der Frage »wodurch das Böse in die Welt gekommen« (MS A 87) ist. Um die Wirklichkeit des Bösen geht es Kant in seiner folgenden »anthropologischen Nachforschung« (REL B 15).
1.1.3. Der Hang zum Bösen Dass Kant seine wohl umfassendsten anthropologischen Betrachtungen innerhalb der Religionsschrift vorlegt, hängt letztendlich damit Weiper, Susanne: Triebfeder und höchstes Gut. Würzburg 2000, 70 f. Hier findet sich auch eine Aufarbeitung der Diskussion um den Prauss’schen Begriff der »Autonomie zur Heteronomie«. 12 Schulte, radikal böse, 72; ebenso Blanke, Tobias: Das Böse in der politischen Theorie. Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen. Bielefeld 2006, 79 ff. 11
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Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
zusammen, dass er einerseits zwar zeigen muss, wie das factum phaenomenon des Bösen als raum-zeitliches Ereignis vorstellbar ist. Gleichzeitig darf das Phänomen des Bösen diesem raum-zeitlichen Zusammenhang aber nicht ursächlich entspringen. Sein zentrales Anliegen ist hier, dass das Böse in letzter Konsequenz nicht in der menschlichen Sinnlichkeit wurzelt. Die Radikalität des Bösen besteht gerade in ihrem nicht raum-zeitlichen Charakter. Kant geht in seiner »anthropologischen Nachforschung« zunächst davon aus, dass wir im sinnlichen Menschen eine »ursprüngliche Anlage zum Guten vorfinden, welche sich wiederum in drei »Elemente« zergliedern lässt: »1) Die Anlage für die Tierheit des Menschen, als eines lebenden; 2) Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3) Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens.« (REL B 15)
Erst durch die dritte Anlage, inhaltlich genauer gefasst als »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz«, besteht die Möglichkeit moralischen Handelns. Die Passagen der Religionsschrift sind daher zu Recht als Kants »transzendentale Anthropologie« 13 bezeichnet worden. Zwar kann auf dieses dritte Element »schlechterdings nichts Böses gepfropft werden« (REL B 18); aber das heißt natürlich nicht, dass Kants Darstellung in der eingangs dargestellten Zirkelproblematik einer Unzurechenbarkeit unmoralischer Handlungen verharren würde. Dass der Mensch erst durch diese Anlage als ein mit Zurechenbarkeit begabtes Wesen gelten kann, ergibt sich eben erst aus der Alternative zwischen verschiedenen Möglichkeiten bei der Bestimmung der Willkür und heißt nicht, dass nur Handlungen, welche durch das moralische Gesetz bestimmt wurden, zurechenbar wären. Erst durch diese Anlage ergibt sich ja überhaupt die »Möglichkeit zur Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetz.« (REL B 21) Für unseren Zusammenhang noch weit interessanter ist hier nämlich, dass alle drei Anlagen sich »unmittelbar […] auf den Gebrauch der Willkür beziehen.« Die Anlage zur Tierheit und die Anlage zur Menschheit kommen für Kant in der rein sinnlichen SelbstOlivetti, Marco M.: Foundations of an Integrative Bioethics from the Philosophical Point of View. (I) Life, Beeing and Persons. Vortrag im Rahmen der 1st International Summer School in Integrative Bioethics, gehalten am 4. September 2006 in Mali Losinj, Kroatien (eigene Mitschrift).
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Das Böse und die Freiheit bei Kant
liebe überein, welche in gewisser Weise den gleichsam mächtigsten motivationalen Gegenspieler der Vernunft bildet, während das Sittengesetz sich als moralische Triebfeder beim homo phaenomenon Gehör und Achtung verschaffen will. Als Anlage zur Tierheit bleibt die Selbstliebe »bloß mechanisch«, während bei der Anlage zur Menschheit »vergleichende Selbstliebe« gemeint ist. (REL B 16) Auf beide Anlagen kann zwar »allerlei Laster gepropft werden«. Bemerkenswert ist jedoch, dass dieses »gepropft werden« ja offensichtlich impliziert, dass beiden Anlagen erst noch etwas hinzugefügt werden muss, was ihnen selbst nicht wesentlich aneignet. Quelle des Bösen ist damit nicht die sinnliche Veranlagung des Menschen selbst. »Der Grund des Bösen kann nun […] nicht, wie man gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen, und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden.« (REL B 31) Ursprung des Bösen ist nicht die Natur oder die Sinnlichkeit des Menschen; die Laster können nicht aus der Selbstliebe »als Wurzel, von selbst entsprießen.« Gleichwohl gehört das Böse zur menschlichen Natur, aber nicht als sinnliche Anlage, sondern als »Hang zum Bösen« (REL B 20) Auch wenn Kant meint, verschiedene Stufen menschlicher Bosheit ausmachen zu können, so wird der Charakter des besagten Hanges an der extremsten Stufe, der »Bösartigkeit oder […] Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens« am deutlichsten. Diese kann inhaltlich nämlich noch präziser als »Verkehrtheit (perversitas)« beschrieben werden, »weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt.« Bösartigkeit besteht also nicht im Wirken sinnlicher Antriebe überhaupt, sondern im freien Willkürakt einer Unterordnung der moralischen Triebfeder unter die nicht-moralische. Ein Hang im Sinne einer rein physischen Naturanlage wäre niemals ein »Hang zum moralisch Bösen, denn dieses muss der Freiheit entspringen.« (REL B 24 f.) Nicht die sinnliche Handlungsmotivation ist das Bösartige, sondern die willkürliche, freie Entscheidung, dem moralischen Gesetz nicht den ersten Platz unter allen eigenen Triebfedern und den grundsätzlichen Vorrang gegenüber allen anderen Beweggründen einzuräumen. Da die Entscheidung über diese Rangfolge der eigenen Motive und Beweggründe auf reflektierte, freie Art und Weise getroffen wird, »kann ein Hang zum Bösen nur dem moralischen Vermögen der Willkür ankleben.« (REL B 25) Diese Entscheidung ist sehr grundsätzlicher Natur; Kant sieht »böse« kaum als adäquates Attribut für einzelne Handlun161 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
gen an, sondern als eine Qualität, welche die grundsätzliche moralische Verfasstheit des Menschen betrifft. Bösartigkeit ist nicht schlicht die Negation moralischen Handelns, sondern der Hang zum Bösen ist das negative Gegenstück zur guten Gesinnung. Von dieser schreibt Kant in der Religionsschrift: »Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein, und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. Von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjektive Grund, oder die Ursache, erkannt werden (obwohl darnach zu fragen unvermeidlich ist; weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wiederum ihren Grund haben muß).« (REL B 14)
Die gute Gesinnung kann als erster subjektiver Grund moralischen Handelns nicht weiter erklärt werden. Von einem ersten subjektiven Grund einen weiteren ersten subjektiven Grund anzugeben wäre nicht nur widersinnig, sondern würde zudem in einen infiniten Regress führen, da wir stets nur eine weitere Maxime angeben könnten, der wieder eine weitere Maxime zugrunde läge. Die Gesinnung erscheint hier als eine Art übergeordneter Maxime, welche sich auf die besagte innere Rangfolge meiner Motive und Beweggründe bezieht und bei der es wenig Sinn macht, sie auf immer weitere, »noch erstere« Maximen zurückführen zu wollen: »Daß der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z. B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjektiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.« (REL BA 7, Fußnote)
Ähnlich verhält es sich beim Hang zum Bösen, welcher von Kant diesbezüglich innerhalb der Religionsschrift konsequent parallel konstruiert ist. 14 Wenn die moralische Triebfeder dem Sittengesetz auf dieser grundsätzlichen Ebene hintangesetzt wird, »so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung 14
Vgl. Schulte, radikal böse, 83.
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Das Böse und die Freiheit bei Kant
betrifft) verderbt, und der Mensch darum als böse bezeichnet.« (REL B 23, Hervorh. R. T.) Der Hang zum Bösen erweist sich als übergeordnete, in sich jedoch »verkehrte« Maxime, welche eine Übertretung des Sittengesetzes mindestens billigend in Kauf nimmt. Er ist damit eine Art verdorbenes »Meta-Kriterium« 15 der Willensbestimmung. Diese Verderbnis der »Denkungsart […] in ihrer Wurzel« ist ebenso wenig weiter herleitbar wie die gute Gesinnung es war: Wieder würden wir in einem infiniten Regress stets nur eine weitere Maxime angeben können. Aus diesem Grund hält Susan Neiman »Kants Diskussion für außerordentlich enttäuschend.« Die Unerforschlichkeit des Hanges sei sicher »eine ehrliche Aussage über unsere Grenzen. Von Immanuel Kant hätten wir zwar nicht weniger erwartet, aber uns doch mehr erhofft.« 16 Hervorzuheben bleibt, dass nicht die einzelne Handlung selbst hier als böse gekennzeichnet wird, sondern »der Mensch« bzw. sein moralischer Charakter. Böse ist er jedoch nicht aus Gründen, deren Ursprung im Naturzusammenhang läge, sondern er hat sich selbst zu einem bösen Menschen gemacht. Inwieweit sich Kants Charakterisierung des Hangs zum Bösen als »Tat« mit seiner These von der Allgemeinheit des Bösen vereinbaren lässt, werden wir später zu klären haben. »Tat« soll hier zunächst ganz explizit nicht als Handlung im Sinne eines factum phaenomenon verstanden werden, sondern in der Bedeutung »von demjenigen Gebrauch der Freiheit [.], wodurch die oberste Maxime (dem Gesetz gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen« wird. (REL B 25) Weil die Festlegung der inneren Rangfolge meiner Motive und Beweggründe ein willkürlicher, freier Akt ist, kann Kant den Hang zum Bösen auch als »zugezogen« (REL B 21) bezeichnen. Die beschriebene Tat ist ein innerlicher Entscheidungsakt, welcher die Hierarchie meines inneren Selbstverhältnisses zwischen homo phaenomenon und homo noumenon betrifft. »Die eine oder die andere Gesinnung«, also sowohl die gute Gesinnung als auch der Hang zum Bösen, sind »erworben« (REL B 14), denn in dem Moment, in dem ich wissentlich und willkürlich eine selbstsüchtige, auf die Selbstliebe zurückzuführende Triebfeder der Bestimmung durch das moralische Gesetz überordne, ist mein ChaWillaschek, Marcus: Praktische Vernunft. Weimar 1992, 157. Neiman, Susan: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt a. M., 394.
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rakter bereits tendenziell verderbt (wenngleich diese Verderbtheit in schwacher Ausprägung noch nicht Bösartigkeit bedeuten muss, sondern auch bloß Willensschwäche bedeuten kann). Ich habe nämlich mindestens »die (gelegenheitliche) Abweichung« vom Sittengesetz in meine Maxime aufgenommen. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Kant davon spricht, dass nur eine einzige unmoralische Handlung genug wäre, um das Böse in die Welt zu tragen. Schlimmer noch: Schon die eine lustvolle Erfahrung, welche dem homo phaenomenon aus einem einmaligen Nachgeben der Selbstliebe erwächst, verbindet sich mit der Erfahrung einer willentlichen Gesetzesübertretung und verstärkt die eigendünkelhafte Neigung des Menschen: »Hang ist eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt.« (REL B 20) Das »krumme Holz« (REL B 141), aus dem der Mensch in moralischer Hinsicht gezimmert ist, erhält seine Krümmung also nicht nur erst in einem freien Willkürakt des Menschen; ist die Krümmung erst einmal da, so hat sie eine Tendenz, sich zu verschlimmern. Das Böse ist dem menschlichen Subjekt nicht wie eine säkularisierte Neuausgabe der Erbsünde auferlegt, sondern wird erlernt. Der Hang zum Bösen ist das Resultat eines willkürlich eingeleiteten Lernprozesses, welcher sich nur schwierig wieder umkehren lässt. Es wird Kant große Schwierigkeiten bereiten, diesen freien Willkürakt einerseits als beim »Gebrauch der Freiheit« notwendig eintretend zu charakterisieren, ohne auf der anderen Seite die Freiheit der »intelligiblen Tat« einzubüßen. Nachdem Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen abgehandelt sind, soll nun genau dies versucht und damit die Allgemeinheit des Bösen gezeigt werden.
1.1.4. Die Allgemeinheit des Bösen Diese Allgemeinheit hat Kant im Blick, wenn er davon spricht, der Mensch sei »von Natur böse.« (REL B 26) Es wird sich zeigen, dass das Vorhaben, die Freiheit bei der Zuziehung des Bösen mit der Allgemeinheit des Bösen in Einklang zu bringen, letztlich nicht als erfolgreich betrachtet werden kann. Um die Zurechnung des Bösen aufrecht erhalten zu können, hatte Kant den Hang zum Bösen von einer rein physischen Naturanlage explizit abgesetzt. Ein Hang »unterscheidet sich darin von einer Anlage, daß er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher 164 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann.« (REL B 20) Mit dieser Bestimmung des Hangs zum Bösen liefert Kant eine »paradoxe und letztlich unhaltbare« 17 Definition des Bösen. Kants Vorstellung zufolge handelt es sich auf der einen Seite um ein »radikales, angeborenes« auf der anderen hingegen um ein »nichts destoweniger aber von uns selbst zugezogenes« Böses. Das Böse mit dem Attribut »angeboren« zu versehen und es der »menschlichen Natur« zuzuordnen scheint mit der Vorstellung, der Mensch habe es sich »selbst zugezogen«, vollständig unvereinbar zu sein. Das Böse als radikal, als in der menschlichen Natur verwurzelt zu beschreiben, will hier nicht sagen, dass es sich um ein innerhalb des Naturzusammenhanges stehendes Phänomen handelt und darum ist der Hang auch sicher nur in einem »übertragenen«, »sehr metaphorischen Sinn […] angeboren« 18 . Das Problem der Zurechenbarkeit würde sich sonst in unverminderter Schärfe stellen, denn wie auch Kant stets wieder betont, »eine böse Handlung muß […] so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre.« (REL B 42) Die Vorstellung des angeborenen Hanges ist vielmehr eine Umschreibung für die Allgemeinheit dieses Hanges. Kant lässt wenig Zweifel daran, dass er diese Allgemeinheit im umfassendsten Sinne verstanden wissen will; nämlich als Aussage über die gesamte Gattung des Menschen: »Er ist von Natur böse, heißt so viel, als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet.« (REL B 27)
Während dies zweifellos eine sehr starke Aussage ist, gibt sich Kant – was eine diese Aussage rechtfertigende Beweisführung anbelangt – weit weniger entschlossen. Er meint, den Hang zum Bösen, welcher immerhin »den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht« (REL B 38), gar nicht weiter herleiten zu müssen: »Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.« (REL B 27 f.)
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Schulte, radikal böse; 84, ebenso Blanke, Das Böse in der politischen Theorie, 78. Vgl. Willaschek, Praktische Vernunft, 151 ff.
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Dieses Vorgehen scheint weniger der Evidenz der Behauptung als vielmehr der Tatsache geschuldet zu sein, dass sich dieser Beweis schlichtweg gar nicht führen lässt. 19 Die Behauptung der Universalität einer Einwohnung eines bösen Hanges in allen Menschen steht nicht nur in einer deutlichen Spannung zu der offensichtlich empirischen Vorgehensweise. Einziger Hinweis auf den Hang sind ja die Taten der Menschen; der Hang ist somit nur eine empirische Hypothese. 20 Darüber hinaus muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Kant mit Verweis auf die Erfahrung weit hinter die von ihm selbst zu Beginn der Abhandlung vorgegebenen Bedingungen zurückfällt. 21 Dort hieß es, man könne »das Urteil, daß der Täter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen.« Das Böse war schließlich auf der Ebene der Maximenbildung verortet worden, »aber die Maximen kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst.« (REL BA 5 f.) 22 Die eigentliche Herausforderung besteht jedoch darin, dass Kant versuchen muss, Zufälligkeit und Allgemeinheit des Hanges gleichzeitig zu verteidigen. Kant sieht das Problem sehr genau. Einerseits ist der Hang »moralisch böse […] als etwas, was was dem Menschen zugerechnet werden kann« und besteht daher »folglich in gesetzwidrigen Maximen der freien Willkür« und nicht in einer physischen Naturanlage. Eine Naturanlage hätte die gewünschte Allgemeinheit gewährleistet; allerdings zu dem Preis, dass die Zurechenbarkeit unhaltbar geworden wäre. Zurechenbare freie Akte hingegen bringen nun das Problem mit sich, dass sie »der Freiheit wegen, für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammen reimen will, wenn nicht der subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Mensch-
19 Vgl. Buchheim, Thomas: Die Universalität des Bösen nach Kants Religionsschrift. In: Gerhard, Volker (Hrsg.): u. a. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. III: Sek VI–X. Berlin, New York 2001, 655–665, 663. 20 Willaschek, Praktische Vernunft, 153. 21 Vgl. Schulte, radikal böse, 86 f. 22 Das von Buchheim starkgemachte Argument, dass jeder Mensch »an sich selbst das sicherste, wenn auch nicht gewisse, empirische Beispiel einer radikal-bösen Gesinnung« habe, muss immer vor diesem stark einschränkenden Hintergrund gesehen werden. Vgl. Buchheim, Die Universalität des Bösen, 664.
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heit selbst, es sei, wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist.« (REL B 27 f.)
Es gibt also einen ersten Grund der Einwohnung des Bösen, welcher bis an den Grund aller Maximen aller Menschen heranreichen soll. Kant hält es für notwendig, die Herleitung eines solchen Grundes aus der Sinnlichkeit erneut auszuschließen. (REL B 31) Hier wird nun also endgültig der Bereich verlassen, wo empirische Aussagen irgendein Gewicht beanspruchen können. »Die eigentliche Beschaffenheit« dieses ersten Ursprunges »muss aus dem Begriffe des Bösen sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden.« (REL B 33) Das ist laut Kant deshalb möglich, weil der Hang sich als erster Grund menschlicher Verderbtheit »so früh, als sich nur immer der Gebrauch der Freiheit im Menschen äußert, wahrnehmen läßt, und nichts destoweniger doch aus der Freiheit entsprungen sein muß, und daher zugerechnet werden kann.« Es liegt in der Natur des Menschen als eines Wesens, welches grundsätzlich die Fähigkeit besitzt, sein Handeln am eigenen Wohlergehen zu orientieren und das Sittengesetz damit zurückzustellen hinter die Bedingung der eigenen Glückseligkeit, »denn durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein.« (REL B 42) Der Hang ist damit – um mit Henry Allison zu sprechen – »inseparable from our nature as rational animals, it is ›rooted in humanity itself.‹« 23 Dass Kant in diesem Zusammenhang mehrfach von einem »Vernunftursprung« (REL B 43/46) des Hangs zum Bösen spricht, darf hier jedoch nicht mit »einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft« verwechselt werden, denn eine »gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil […] so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde.« (REL B 31 f.) Das Böse entspringt nicht im gleichen Sinne der Vernunft wie das moralische Gesetz. Im Unterschied zum Guten wollen »wir ja nie das Böse um des Bösen willen.« 24 Das würde nur ein »teuflisches« Wesen tun. Allison, Henry E.: Kant’s Doctrine of radical evil. In: Funke, G: Akten des siebenten Internationalen Kant-Kongresses, Bonn 1991, 51–72, 66. 24 Spaemann, Robert: Moralische Grundbegriffe. München 1982, 86. Vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 2006, 28: »Niemand will böse sein.« sowie Willaschek, Praktische Vernunft, 153: »Wir handeln ja nie um des Bösen willen unmoralisch.« 23
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Der »Vernunftursprung« wird von Kant begrifflich dem »Zeitursprung« entgegengesetzt. Wie die gute Gesinnung lässt sich der Hang zum Bösen »nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten.« (REL B 14) Einen Zeitursprung hat eine jede Handlung nur als factum phaenomenon, als Glied in der Kausalkette des Naturzusammenhangs. »Von freien Handlungen, als solchen, den Zeitursprung […] zu suchen, ist also ein Widerspruch.« Bei einer freien Handlung nämlich »wird die Bestimmung der Willkür zu ihrer Hervorbringung nicht als mit ihrem Bestimmungsgrunde in der Zeit, sondern bloß in der Vernunftvorstellung, verbunden gedacht.« Das Böse hat als zurechenbare Handlung, als intelligible Tat, seinen Ursprung nicht in der Zeit, während »die böse Handlung als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen« (REL B 41, Hervorh. R. T.) werden kann. Eine unmoralische Handlung reiht sich damit stets nahtlos in den Kausalzusammenhang des mundus phaenomenon, aber eben nur als raum-zeitliches Ereignis, nicht als Akt der Freiheit. Der Hang zum Bösen ist damit in Kants Freiheitslehre integriert und gewährleistet eine Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen. Bleibende Schwierigkeit jedoch ist die Bestimmung des Hanges als allgemein und zurechenbar. »Freiheit und Zuziehung des Hangs zum Bösen aber bleiben unvereinbar,« 25 denn dass der Hang »allgemein zum Menschen« (REL B 21) gehören soll, ist mit einer Willkürfreiheit, welche der guten Alternative im Grundsatz die gleichen Chancen auf Verwirklichung einräumt, schwer vereinbar. Die noch stärkere Aussage, der Hang sei allgemein, »weil er nicht ausgerottet werden kann« (REL B 26), lässt sich mit einer Freiheit zum Guten noch schwerer zusammen denken. Die Freiheit, sich in einer intelligiblen Tat eine gute Gesinnung zu erwerben, mag unwahrscheinlicher sein als die Zuziehung eines Hangs zum Bösen. Gleichwohl muss eine solche »gute« intelligible Tat in gleichem Maße möglich sein, da die intelligible Tat andernfalls kaum zu Recht »frei« genannt werden könnte. Die Allgemeinheit des Bösen zu behaupten, muss a priori mit der Vorstellung von Willkürfreiheit kollidieren; die Allgemeinheit des bösen Hangs ist also nicht aufrecht zu erhalten.
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Arendts Phänomenologie des Bösen
1.2. Arendts Phänomenologie des Bösen 1.2.1. Das radikal Böse Von einem allgemeinen Hang zum Bösen, der auf anthropologischer Ebene auszumachen ist, geht Arendt von vornherein nie aus. Dennoch knüpft sie so eindeutig wie explizit an Kants Terminologie der Religionsschrift an, wenn sie in ihrem ersten großen politischen Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 26 im Zusammenhang ihrer Analyse der nationalsozialistischen Konzentrationslager vom »Grauen vor dem radikal Bösen« (EU 916) schreibt. Der Begriff »radikal« wird hier jedoch in einer noch recht unreflektierten Weise verwendet und soll eigentlich das Extreme am Verbrechen des Holocaust verdeutlichen. Das radikale Böse meint in »Elemente …« bereits das »zuvor nicht bekannte […] Böse.« 27 Ihre Anknüpfung an Kant erfolgt ergo nur dem Begriff nach. Ein Böses, welches im eigentlichen Wortsinn radikal, also verwurzelt in der menschlichen Natur ist, erscheint ihr in Wirklichkeit unplausibel. Was das Böse und sein eigentliches Wesen angeht, habe Kant zwar als »einziger Philosoph […] seine Existenz zumindest geahnt, […] diese Ahnung in dem Begriff des pervertiert-bösen Willens sofort wieder in ein aus Motiven Begreifliches rationalisiert.« (EU 942) Wir haben gesehen, dass diese Kritik Kants Böses nur sehr bedingt korrekt abbildet. Kants Herausforderung bestand darin, innerhalb seiner Freiheitslehre die Möglichkeit des Bösen aufzuzeigen. Das oben dargestellte argumentative Verfahren als Rationalisierung zu kennzeichnen, mag in gewisser Weise angemessen sein. Gleichwohl kann es m. E. ja gerade als eine der Schwachstellen in Kants Lehre vom Bösen angesehen werden, dass er einerseits auf der Verwurzelung des Bösen in der menschlichen Natur bestand, dessen Motivation jedoch in letzter Konsequenz »unerforschlich« geblieben war. »Motive« für das Böse nennt Kant in der Religionsschrift also sicher nicht; die Rationalisierung in etwas Begreifliches hingegen war sicher nicht nur Kants, sondern auch Arendts Anliegen. 28 Wenngleich Arendts Denken Kant viel verdankt, so sind ihre 26 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 2006, im Folgenden zitiert als EU. 27 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 335. 28 Vgl. Neiman, Das Böse denken, 33.
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Ablehnung jeglicher Zwei-Welten-Metaphysik sowie ihre Kritik an Kants oben diskutierter Identifikation von Willen und praktischer Vernunft die Punkte, welche die beiden in Bezug auf unseren Gegenstand deutlich voneinander trennen. 29 Da Arendt das Böse in der Folge nicht als universell in der menschlichen Natur verwurzelt auffasste, sah sie auch keine Veranlassung, die Allgemeinheit eines solchen Charakteristikums herzuleiten. Arendts Denken nahm seinen Ausgangspunkt stets im »Zusammenbruch aller geltenden moralischen Normen im öffentlichen und privaten Leben« (B 14) zur Zeit des NS-Regimes. »Darüber können wir uns, bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Taten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.« (REL B 27 f.) So hatte Kant in der Religionsschrift formuliert. Was die Wirklichkeit dieses Bösen anging, würde Arendt diesem kantischen Ausspruch wohl nichts entgegengesetzt haben. Ihr Hauptinteresse galt also keineswegs einer etwaigen Allgemeinheit des Bösen, welche in ihrer Philosophie keinen Platz hatte. Ihr Fokus waren die Wirklichkeit und besonders die Möglichkeit des Bösen. »Sie wollte wissen, was alle wissen wollen, die angesichts der NS-Verbrechen fassungslos sind: Wie konnte das geschehen?« 30 Auschwitz war für Arendt – wie für viele andere Intellektuelle ihrer Generation – »der Nervus rerum ihrer politischen Philosophie.« 31 Wie wir sehen werden, zielte diese Frage weniger auf das Ausmaß des Bösen ab, welches sich hier ereignet hatte. Kern ihres Interesses bildete das Problem der Art und Weise, auf welche sich das Böse im totalitären NS-Staat zeigte. Und diese Erscheinungsweise des Bösen ging über das bisher Gekannte hinaus: »Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. Äußerlich gesprochen: Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, daß das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, daß das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat.« (BWJ 202) Vgl. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 180. Augstein, Franziska: Nachwort in: Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München 2003, 181. 31 Meints, Waltraud: Politische Urteilskraft als ›eine Art von sensus communis‹. Aspekte einer Theorie der politischen Urteilskraft bei Hannah Arendt. In: Lenk, Wolfgang; Rumpf, Mechthild und Hieber, Lutz (Hrsg.): Kritische Theorie und politischer Eingriff. Oskar Negt zum 65. Geburtstag. Hannover 1999, 181–192, 181. 29 30
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Aus diesem an Jaspers adressierten Brief wird deutlich, dass Arendt zwar bereits 1951 klar war, als wie unzureichend sie die Reflexion über das Böse in der philosophischen Tradition empfand – aber ebenfalls, dass sie diesem Umstand noch keine begriffliche Lösung entgegenzusetzen hatte. Wohl aber war das das zentrale Problem identifiziert: »Wenn wir uns die Erklärung vergegenwärtigen, die Kant für den menschlichen Hang zum Bösen gibt, so wird klar, dass es das ›radikal Böse‹ schon immer gegeben hat und dass daher das von Hannah Arendt als Novum thematisierte Epochenereignis einer anderen Begrifflichkeit bedarf.« 32
Arendts Meinung, dass die Diskussion des Bösen in der philosophischen Tradition an dieser Erscheinungsweise des Bösen schlichtweg vorbeiging, artikulierte sich im Eichmannbuch schließlich in voller Deutlichkeit: »Im Dritten Reich hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran.« 33 Wenn sie den Begriff eines »radikal Bösen« spätestens nach Vita activa (1957) nicht mehr verwendete, so liegt dies daran, dass sich ihr die Unangemessenheit des Begriffs für die von ihr vorgelegte Erklärung des Bösen erst mit dessen zunehmender systematischer Durchdringung erschloss. Darauf angesprochen entgegnete sie 1963: »Sie haben vollkommen recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen.« 34 Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft. Reinbek 2005, 29. 33 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1986, im Folgenden zitiert als Eichmann. 34 Arendt, Hannah/Scholem, Gershom: Ein Briefwechsel. In Arendt, Hannah: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Hrsg. v. Geisel, Eike und Bittermann, Klaus. Berlin 1989, 63–79, im Folgenden zitiert als BWS, hier 78. Tatsächlich ist es in der Forschung einigermaßen umstritten, ob Hannah Arendt ihre Position mit Blick auf das Böse änderte oder ob ihre beiden Verständnisse des Bösen in einer Kontinuität stehen. Da Waltraud Meints dies in einem detaillierten Forschungsbericht minutiös zusammengetragen hat, soll die entsprechende Forschungskontroverse hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden. Es wird stattdessen verwiesen auf Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 177 ff. Arendt selbst hat diese Kontinuität entweder nicht gesehen oder zumindest den mit der Entwicklung verbundenen systematischen Schritt als wichtiger angesehen. So schreibt sie an Mary McCarthy: »Die ›Wendung‹ Banalität des Bösen als solche steht im Gegensatz zu der vom radikal Bösen, die ich im Totalitarismusbuch benutze.« Arendt, Hannah/McCarthy, Mary: Im Vertrauen. Briefwechsel. Hrsg. Von Carol Brightmann. München 1995, 234. 32
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Bei dieser Weiterentwicklung in der begrifflichen Reflexion über das Böse zeigt sich also wieder einmal die Rolle von Arendts Lehrer Karl Jaspers, mit dem sie zeitlebens in freundschaftlicher Verbindung blieb. Von dieser Freundschaft zeugt heute ein Briefwechsel, in welchem die beiden gerade die Fragen der Schuld im Dritten Reich diskutierten. Überraschenderweise lässt sich feststellen, dass es eigentlich Jaspers ist, welcher die Vokabel der Banalität in diesen Zusammenhang einführt; hatte dieser doch (bereits 1946!) an Arendt geschrieben: »Mir scheint, man muß, weil es wirklich so war, die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen, ihrer ganz nüchternen Nichtigkeit – Bakterien können völkervernichtende Seuchen machen und bleiben doch nur Bakterien.« (BWJ 99) Jaspers’ Denken ist hier auch wohl nicht ohne Einfluss auf Arendt geblieben, denn in ihrer Reflexion im Laufe ihres Nachdenkens über das Böse gelangt sie zu einem sehr ähnlichen Resultat. In einem Brief schreibt sie: »Ich bin in der Tat heute der Meinung, daß das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. […] Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.« (BWS 78) Wieder ist es Ricœur, der den an dieser Stelle zentralen Gedanken auf den Punkt bringt: »Wie radikal auch immer das Böse sein mag, es kann doch nicht so urgründig sein wie das Gute.« Das Böse ist »nicht dem Guten symmetrisch« 35 , es ist also nicht nur nicht bloß eine negative Spiegelung des Guten, sondern es ist im Vergleich zum Guten weniger urgründig, ihm fehlt es – wie radikal es auch immer sei – ganz maßgeblich an Tiefe. Gerade weil Arendt dem Bösen diese »Tiefe« absprechen wollte, sind ihre Äußerungen oft dahingehend missverstanden worden, sie wolle das Böse und die Verbrechen Eichmanns trivialisieren. Dies zeigte sich wohl am eindrucksvollsten in der Kontroverse, die ihre Berichterstattung vom Prozess gegen den Architekten der »Endlösung« auslöste. In diesem Zusammenhang wurden Arendt viele ihrer Äußerungen über Eichmann vorgeworfen, wie etwa ihre Einlassung, sie habe ihn für einen »Hanswurst« (GG 64) gehalten, der sich nur »niemals vorgestellt [hatte], was er eigentlich anstellte« (Eichmann 56). Hannah Arendt hat den Begriff der »Banalität des Bösen« innerhalb des Eichmann-Buches noch nicht systematisch reflektiert. Es ist Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg und München 2002, 181.
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keine theoretische Abhandlung über das Wesen des Bösen; die besagte umstrittene Begrifflichkeit taucht überhaupt nur ein einziges Mal auf. 36 Wie Arendt in ihrem späteren philosophischen Hauptwerk Vom Leben des Geistes zugesteht, setzte diese Reflexion erst als Folge der Diskussion ein, welche aufgrund der Veröffentlichung über sie hereinbrach. Auch dies beschreibt sie »in Kantischer Sprache: Nachdem mir aufgefallen war, daß ich mich nolens volens ›in den Besitz eines Begriffs gesetzt‹ hatte (Banalität des Bösen), kam ich nicht um die quaestio juris herum, ›mit welchem Recht man denselben besitze und ihn brauche.‹« (D 15) 37 Der Begriff der Banalität des Bösen wurde in der Folge zum eigentlichen Ausgangspunkt für ihr philosophisches Hauptwerk: »Der Eichmannprozeß bildete so etwas wie eine Wasserscheide, weil er die Widersprüche zutage förderte, mit denen Hannah Arendt existentiell und begrifflich ihr ganzes Leben lang kämpfte.« 38
1.2.2. Mensch und Persönlichkeit Arendt teilt sich mit Kant die Einsicht, dass »es für den Menschen unmöglich ist, das Böse um des Bösen willen zu wollen.« (B 42) Auch greift sie, wie wir sehen werden, in vielerlei Hinsicht auf Kants Philosophie zurück; der Kern seiner Moralphilosophie überzeugt sie jedoch nicht. Ihre Skepsis richtet sich dabei nicht nur gegen Kant, sondern gleichermaßen gegen Platon sowie überhaupt gegen jegliche Moral, in welcher bei der Entscheidung eines besonderen Falles auf eine allgemeine Regel zurückgegriffen werden muss. Umso skeptischer ist sie, wenn diese Regel mit einer Vorstellung von Transzendenz verbunden ist; also mit der Vorstellung einer Welt, für die die Menschen »ein spezielles Organ« benötigten, um »außerhalb Ihrer selbst etwas zu sehen, was unvergänglich und göttlich ist.« (B 71) Bernstein, Richard J.: Verantwortlichkeit, Urteilen und das Böse. In: Smith, Gary (Hrsg.): Hannah Arendt revisited. ›Eichmann in Jerusalem‹ und die Folgen. Frankfurt a. M. 2000, 291–309, 292. Die Begriffsprägung einer »Banalität der Bösen« findet sich in der Tat wohl als Untertitel des Buches, findet im gesamten Fließtext jedoch nur ein einziges Mal weitere Erwähnung. Vgl. Eichmann 371. 37 Identische Formulierungen finden sich bereits in Arendts Vorlesung »Über den Zusammenhang zwischen Denken und Moral«, die Arendt bereits 1970 gehalten hatte. Vgl. Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang zwischen Denken und Moral. In: Dies: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 128–155, im Folgenden zitiert als ZDM, hier 129 ff. 38 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 290. 36
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Arendt unterscheidet hier scharf zwischen der sokratischen Mäeutik und der platonischen Ideenlehre, welche für sie den »Punkt« darstellt, an dem »Plato dem Sokrates seine Gefolgschaft aufgekündigt« habe. (B 64) Im Unterschied zur platonischen Ideenlehre bleibe der Mensch beim sokratischen (Selbst-)Gespräch, wie es in Theaitetos und Sophistes dargestellt wird, innerhalb seiner selbst. Die Sprache, welche für sie den Menschen im Anschluss an Aristoteles von anderen Tiergattungen unterscheidet, ermöglicht auch das Denken; von Arendt verstanden als der innere Dialog mit mir selbst. Und es ist eben dieser Dialog, welcher »das Person-Sein […] vom Nur-menschlich-Sein« unterscheidet. Auch bei Kant hatten wir eine Unterscheidung zwischen der »Anlage zur Menschheit« von einer »Anlage zur Persönlichkeit« unterschieden gefunden. Die Persönlichkeit konstituierte sich im Unterschied zum bloßen Menschen durch die »Empfänglichkeit der bloßen Achtung für das moralische Gesetz […] sofern es Triebfeder der Willkür ist.« (REL B 18) Mittels dieser Anlage erhält der Mensch »Zugang zu der Welt der nicht natürlichen Gesetze« 39 , weshalb wir ja von den Ausführungen der Religionsschrift auch von einer »transzendentalen Anthropologie« gesprochen hatten. Es ist eben dieses »Organ«, welches Arendts Skepsis geweckt hatte, dessen Gebrauch bei Kant die Persönlichkeit vom bloßen Menschen unterscheidet. Die moralische Fähigkeit macht den Menschen für Kant zur Persönlichkeit, was in ähnlicher Weise auch für Arendts Denken gilt. Den Ausspruch, jemand sei eine »moralische Persönlichkeit« hält sie darum für eine »redundante Behauptung […]: Das Personhafte eines Individuums ist gerade seine ›moralische‹ Eigenschaft.« (B 53) Allerdings involviert die Konstitution als Person in ihrer Philosophie andere menschliche Vermögen. Das sokratische Selbstgespräch, verstanden als Dialog mit dem eigenen Selbst, impliziert den Menschen als ein »Zwei-in-einem« und nur als solcher ist er auch Person. Erst das Bewusstsein, dass ich mein Leben lang mit mir selbst werde zubringen müssen, macht den sokratischen Ausspruch im »Gorgias« verständlich: »Es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun.« (B 59) Der Prozess der inneren Unterhaltung mit mir selbst kann schließlich sehr unterschiedliche Resultate haben, Harmonie oder Disharmonie zu Tage fördern. Dies gilt natürlich zunächst einSchweidler, Walter: Der gute Staat. Politische Ethik von Platon bis zur Gegenwart. Stuttgart 2004, 191.
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Arendts Phänomenologie des Bösen
mal für jedes Gespräch, das ich führe, nur »von mir selbst kann ich nicht weggehen.« (B 70) Wer Böses tut, wird sich im Denken der Tatsache bewusst werden müssen, dass er den Rest seines Lebens in der Gesellschaft eines Verbrechers wird fristen müssen; und wer würde einen solchen Zustand wohl freiwillig aushalten wollen? Es liegt in der Struktur des Denkens als eines inneren Dialogs, »daß ich mich in diesem Denkprozess, in dem ich die spezifisch menschliche Differenz der Sprache aktualisiere, klar als Person konstituiere. […] Persönlichkeit […] ist das einfache, beinahe automatische Ergebnis von Nachdenklichkeit.« (B 77 f.) Mit dem Denken verbindet sich zudem die Fähigkeit des Erinnerns, denn »niemand kann sich an das erinnern, was er nicht durchdachte, indem er darüber mit sich selbst gesprochen hat.« (B 76) Geschehenes kann im Denken, dem inneren Dialog, als Geschichte erzählt und dadurch mitteilbar gemacht werden. Die systematische Bedeutung dieses Befunds wird sich im Zusammenhang mit Arendts Lehre vom Urteil noch deutlich erhöhen. Für den Moment gilt es für unseren Zusammenhang festzuhalten, dass »Böses tun heißt, diese Fähigkeit [des Erinnerns, R. T.] beeinträchtigen; der sicherste Weg für den Verbrecher, niemals entdeckt zu werden, ist, das, was er tat, zu vergessen und nicht weiter darüber nachzudenken.« (B 75) Wenn ich mein schlechtes Tun nicht im inneren Dialog reflektiere, werde ich der Gegenwart des Verbrechers nicht gewahr werden. Der verbrecherische Charakter meines inneren Gegenüber ist mir also nicht bewusst, weshalb ich mich an mein böses Verhalten auch niemals werde erinnern können. Eine solche Verfassung macht mich für meine Mitmenschen brandgefährlich: »Wenn ich mich weigere zu erinnern, bin ich eigentlich bereit, alles zu tun – genauso wie mein Mut völlig sorglos sein würde, wenn zum Beispiel der Schmerz eine Erfahrung wäre, die man sofort vergißt.« (B 76) Denken und Erinnern sind dabei weitestgehend unabhängig von »Begabungen und Intelligenz« (B 77). Arendts Ausführungen machen hier wieder an die Passagen in Kants Grundlegung denken, welche den guten Willen als unabhängig von allen »Glücksgaben« darstellte (vgl. GMS 393 f.): »Eine Person kann […] intelligent oder dumm, schön oder häßlich, mit freundlichem Gemüt oder unfreundlich auf die Welt gekommen sein. […] All dies hat wenig mit dem zu tun, was uns hier beschäftigt. Wenn sie ein denkendes Wesen ist, das in seinen Gedanken und Erinnerungen wurzelt und also weiß, dass es mit sich selbst zu leben hat, wird es Grenzen geben zu
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dem, was sie sich selbst zu tun erlauben kann, und diese Grenzen werden ihr nicht von außen aufgezwungen, sondern selbst gezogen sein.« (B 86)
Das Problem einer fehlenden Verwurzelung in den eigenen Gedanken und Erinnerungen bildet ein Grundmotiv in Arendts Reflexion über das Böse. Im »Leben des Geistes« wird sie dazu schreiben: »Das Denken im nichtkognitiven, nichtspezialisierten Sinne […] ist kein Vorrecht der wenigen, sondern eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen; entsprechend ist die Denkunfähigkeit nicht ein Mangel an Hirn bei den vielen, sondern eine stets bereitliegende Möglichkeit bei jedem.« (D 190)
Die Denktätigkeit ist also insofern eine moralische Eigenschaft, als sie mein Handeln auf diejenigen Handlungsoptionen beschränkt, welche ich vor mir selbst für verantwortbar halte. Arendt rekurriert hier recht eindeutig auf das Daimonion des Sokrates, jene Stimme, »welche von innen aus ihm redete, die ihn von etwas, das er zu tun beabsichtigte, abhielt, die ihn aber niemals zum Handeln drängte.« (B 89) Wichtig in Bezug auf Arendts Verständnis des Bösen ist hierbei, dass die Person in ihren »Gedanken und Erinnerungen wurzelt.« Person-Sein erweist sich als das Herstellen von Beziehungen und Verknüpfungen in der Welt. 40 Das Bewusstsein dieses durch das eigene Denken geknüpften Netzes von Beziehungen begrenzt mein Handeln nicht nur, sondern es bestimmt auch meinen Platz in der Welt. Diese Verortung meiner selbst in der Welt kann sich, wie Arendt freimütig zugesteht, mit der Zeit natürlich ändern – inklusive der selbstgezogenen Handlungsgrenzen. Dennoch sind wir hier an dem Punkt, an welchem klar wird, warum Arendt den Begriff der Radikalität im Zusammenhang mit dem Bösen fallen ließ: Das Böse wird nur da möglich, wo eine mangelnde Verwurzelung in der Welt zu beklagen ist; es hat gerade das Gegenteil von Radikalität zur Voraussetzung: »Das grenzenlose, extreme Böse ist nur dort möglich, wo diese selbst-geBenhabib zeigt, dass Arendts Welt-Begriff stets auf eine mit Anderen geteilte Welt im Sinne abzielt und dass sie sich gerade in diesem Punkt an einer Begrifflichkeit Heideggers orientiert: »Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-Seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das in-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.« Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1976, 118. Nach Behabib war dies für Arendt »Heideggers grundlegende Erkenntnis. Bei Heidegger wird das Mitsein zu einer konstitutiven Dimension des Daseins in der Welt.« Benhabib, Die melancholische Denkerin, 99.
40
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schlagenen und gewachsenen Wurzeln, die automatisch Möglichkeiten einschränken, ganz und gar fehlen.« (B 86) Die »größten Übeltäter« sind darum gerade »jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. […] Das große Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln.« (B 77) Der Grund für extreme Auswüchse ist also keine wie auch immer geartete Verwurzelung in der Welt oder der menschlichen Natur, sondern im Gegenteil, dass es wurzellos ist und an der Oberfläche der Welt dahingleitet. »Es kann die Ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert.« (BWS 78) 41 »Banalität« meinte ergo niemals das Herunterspielen des Schreckens, den die Taten Eichmanns und anderer zur Folge hatten. »Man mußte böswillig sein oder die früheren Texte von Arendt nicht gelesen haben, um behaupten zu können, sie entschuldige oder banalisiere auf diese Weise die Verbrechen Eichmanns.« 42 Es war vielmehr die »Gedankenlosigkeit« (D 14), mit welcher die Verbrechen begangen wurden, die Hannah Arendt nicht nur schockierte, sondern in der sie den Präzedenzfall eines tiefer liegenden theoretischen Problems erblickte: »Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte.« (Eichmann 57) Ohne Zweifel ist die Frage legitim, ob der Begriff nicht als »unglücklich gewählt« 43 gelten muss; klar ist aber auch: Es ging niemals um eine etwaige Banalität der Verbrechen, sondern um den Umgang mit diesen, welcher mit »›Routinisierung des Bösen‹ oder dessen ›Veralltäglichung‹« 44 vielleicht präziser, aber sicherlich auch weniger griffig umschrieben gewesen wäre.
Auch der Pilz als Metapher für die »Oberflächigkeit« des Bösen taucht erstmals in einem Brief von Jaspers von 1956 auf, wo Jaspers an Arendt im Kontext ihrer Analyse des Totalitarismus über diesen schreibt: »Es ist wie die Diagnose und Symptomatologie einer Pilzkrankheit, die aus sich selber wuchert und alles auffrißt.« (BWJ 310) 42 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 232. 43 Benhabib, Seyla: Identität, Perspektive und Erzählung in Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem. In: Smith, Hannah Arendt revisited, 95–119, 96. 44 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 152. 41
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1.2.3. Stolpersteine Was Hannah Arendt hier als »sokratische Moral« entwickelt, ist eine Antwort auf Probleme, welche man auch als Gewissenskonflikte kennzeichnen könnte. Dabei wendet sie sich gegen Auffassungen, welche den Gewissenskonflikt als emotionalen Konflikt verstehen wollen. »Das Gewissen ist angeblich eine Weise des Fühlens, jenseits von Verstand und Beweisführung sowie, aufgrund von Empfindungen, des Wissens, was Recht und Unrecht ist.« (B 95) Dass ein solches Verständnis der Auflösung von Gewissenskonflikten – nämlich aufgrund von einem »Wissen, was Recht und Unrecht ist«, welches sich auf eine emotionale Basis stellt – das moralische Phänomen trifft, um das es ihr hier geht, schließt Arendt explizit aus. Zwar mag es ein solches Gefühl geben, aber das einzige Wissen, welches aus diesem Gefühl erwachsen könnte, wäre kein Wissen über Recht und Unrecht, Schuld oder Unschuld, sondern nur darüber, ob »Menschen sich schuldig fühlen oder unschuldig.« Derartige Gefühle lassen sich darum auch trefflich als Schuldgefühle bezeichnen, sie besitzen deshalb aber noch keineswegs moralischen Status. Arendts Argumentation wirkt an dieser Stelle abermals recht kantisch, wenn sie schreibt, dass »leider solche Gefühle keine verläßlichen Hinweise geben auf Recht und Unrecht, ja eigentlich auf gar nichts hinweisen.« Schuldgefühle entstehen z. B. »durch einen Konflikt zwischen alten Gewohnheiten und neuen Befehlen« (ebd.) und sind dabei weitestgehend unabhängig davon, welches von beiden eigentlich moralisch weniger akzeptabel wäre. Demgegenüber sind »Gewissenskonflikte […] eigentlich nichts anderes als Beratungen zwischen mir und mir selbst; sie werden nicht durch Fühlen ausgelöst, sondern durch Denken.« (B 96, Hervorh. R. T.) Es wird hier deutlich, dass sich Arendt und Kant durchaus ihre Skepsis bezüglich der moralischen Zuverlässigkeit von Gefühlen teilen. Dennoch muss an dieser Stelle ebenso daran erinnert werden, dass »Denken« bei Arendt ohne jede Vorstellung eines »mundus intelligibilis« auskommt. Denken ist zudem zwar Tätigkeit, niemals aber Tat im Sinne von Handlung; geschweige denn »intelligibele Tat«: Arendt wendet sich explizit gegen »die Vorstellung, daß Denken […] eine Art von innerem Handeln sei« um recht gelassen zu konstatieren: »Für diese Verwirrung gibt es viele Gründe.« (B 92) Wichtigster Grund für die strenge arendtsche Trennung von Denken und Handeln ist ihre Vorstellung, dass Handeln ebenso wie Macht stets Plu178 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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ralität zur Vorbedingung hat: »Politisch gesprochen besteht der Hauptunterschied zwischen Denken und Handeln darin, daß ich nur, während ich denke, mit meinem eigenen Selbst oder dem Selbst eines Anderen zusammen bin, wohingegen ich in dem Augenblick, in dem ich zu Handeln beginne, in der Gesellschaft der Vielen befinde.« (B 93) Wir können diese Problematik an dieser Stelle nicht weiterverfolgen. Zu konstatieren bleibt jedoch, dass Denken niemals Handeln ist oder direkt hervorruft. Mit Handeln ist stets eine Unterbrechung des Denkens verbunden und mit Denken eine Unterbrechung des Handelns oder die Ablehnung einer konkreten Handlung. Die Funktionsweise eines als im Denken wurzelnden Gewissens ist also stets nur negativ; wie das sokratische Daimonion Sokrates stets nur sagte, »was er nicht tun soll« (D 189), vermag unser Gewissen nur zu sagen: »Ich kann nicht, und ich will nicht.« (B 96) Ein positiver Handlungsimpuls kann von hier mithin nicht erwartet werden. Auf dem Wege der Denktätigkeit werde ich also nicht dahin kommen, eine Antwort auf die Frage »Was soll ich tun« zu erlangen. Letztlich ist Denken keineswegs ein Garant für absolute moralische Integrität, es verhindert nicht unmoralisches Handeln per se, sondern nur diejenigen Handlungen, welche es mir unmöglich machen würden, mit mir selbst zusammenzuleben. Das will nicht heißen, dass alles Handeln, welches mir ein solches Zusammenleben nicht gleich unmöglich machte, moralisch unbedenklich wäre. Arendt konstatiert hier, dass mittels dieses sokratischen Prüfverfahrens Differenzierungen möglich werden, welche der kategorische Imperativ unbeachtet lässt. Wenn Kant sage, »jede Maxime, die kein universal gültiges Gesetz werden kann, ist Unrecht« (B 96), so zeige sich darin eine »merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Abstufungen des Bösen.« Es gibt hier keine Handlungen, welche stärker abzulehnen wären als andere – egal, ob es sich um einen Ladendiebstahl oder einen Massenmord handelt: »In Kants Aussage ist das Böse dasselbe.« (B 97) Arendt will hier einen Unterschied geltend machen, von dem sie meint, er habe größere moralische Bedeutsamkeit als die kantische Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität – eine Unterscheidung, welche diesen beiden Begriffen inhaltlich vielleicht sogar besser gerecht zu werden vermag. Es ist dies der Unterschied »zwischen jener Art von Übertretungen, mit denen wir klarkommen oder sie entweder durch Bestrafung oder Vergebung loswerden können« (B 98) und dem »skandalon«, dem »tödlichen Stolperstein« auf der anderen Seite. Es geht bei der Befassung mit dem Bösen nicht darum, ein 179 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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absichtliches Zuwiderhandeln nachweisen zu können und das Böse damit der Person selbst zurechenbar zu machen. Da, wo wirklich Böses gerade dadurch entsteht, dass ein Mensch sich in gedankenloser Art und Weise seiner Konstitution als Person verweigert hat, entsteht der Skandal ja auch gerade dadurch, dass wir mit der Person gar nicht weiter verfahren können. Auch in der Vita Activa, wo Arendt den Begriff der Banalität noch gar nicht geprägt hatte, ist dieser Gedanke bereits greifbar: »Auf jeden Fall können wir das ›radikal Böse‹ daran erkennen, dass es den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Machtmöglichkeiten der Menschen entzieht.« (VA 307) Wir haben es hier zu tun mit »solchen Straftaten, von denen wir nur noch sagen können: ›Das hätte nie geschehen dürfen.‹« (B 98) Mit der bloß selbstsüchtigen Übertretung moralischer oder juristischer Normen können wir umgehen, indem wir den Täter bestrafen oder ihm vergeben. Dies ist jedoch nur solange möglich, wie sich das »wer?« der Handlung überhaupt beantworten lässt; solange der Täter also seine Tat – es mag in selbstsüchtiger oder verzweifelter Attitüde sein – durchdacht hat und sich dieser Übertretung erinnernd bewusst werden kann. »Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemendem getan wurde, das heißt von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.« (B 101) Das »Skandalon« ist diejenige Erscheinungsweise des Unmoralischen, bei der sich nur noch das »was?« der Tat beantworten lässt und uns das »wer?« aufgrund der Gedankenlosigkeit des Verbrechers abhandengekommen zu sein scheint. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Arendt in der Vita Activa über das Böse schreibt: »Böse Taten sind buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich.« (VA 308) Da sich Strafe wie Vergebung stets nicht auf die Tat selbst, sondern stets auf den Täter richten, kommt uns für unsere Optionen im Umgang mit dem Bösen zugleich der Adressat abhanden: »Das Skandalon ist das, was – durch Vergeben oder Bestrafen – wiedergutzumachen nicht in unserer Macht steht und was deshalb ein Hindernis für alle weiteren Leistungen und Taten bleibt. Und der Täter ist […] jemand, der die Weltordnung als solche verletzt.« (B 121)
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1.2.4. Vom Denken zum Urteilen Ein Problem dieser sokratischen Moralkonzeption ergibt sich daraus, dass sie den Begriff einer Vernunft zugrunde legt, »die weder purer Verstand ist […] noch Kontemplation, die Fähigkeit mit den Augen des Geistes eine verborgene oder geoffenbarte Wahrheit zu sehen,« (B 117) sondern vielmehr die pure Tätigkeit des Denkens. Das Problem der offenbar rein negativen Auswirkungen des Denkens auf unser Handeln war bereits angesprochen worden: »Das Denken schafft keine Werte, es sagt nicht ein für allemal, was ›das Gute‹ sei.« (D 190) Doch wenn das Denken in seiner Einsamkeit nun so gar nichts beizutragen vermag zur Beantwortung der Frage »Was soll ich tun?« – wer kann es dann? Woher kommt der Handlungsimpuls; was macht uns handeln und wie? In den 1950er Jahren begnügte sich Arendt mit dem Ziel, eine »gewisse – wenn auch nur negative – Richtschnur zu finden.« 45 Zur Beantwortung dieser Frage wendet sich Arendt zunächst einer anderen Gemütskraft zu: dem Willen. Wir können ihre Diskussion des Willens hier nicht im Ganzen nachvollziehen; sie hat diesem Problem den zweiten Band ihres Vom Leben des Geistes 46 gewidmet. Auch werden wir im Rahmen des nächsten Kapitels noch einmal auf Probleme der Verbindung von Willen und Freiheit zurückzukommen haben, wenn wir uns mit Arendts Kritik an Kants Ethik auseinandersetzen werden. (vgl. Kap. C.2.) Innerhalb unserer hier betrachteten Vorlesungsschrift läuft ihre Analyse des Wollens auf eine von Nietzsche innerhalb des Willensbegriffs getroffene Differenzierung zu: »Ich lernte die Ursache des Handelns unterscheiden von der Ursache des Sound So-Handelns, des In-dieser-Richtung-, Auf-dieses-Ziel-hin-Handelns. Die erste Ursache ist ein Quantum von angestauter Kraft, welches darauf wartet, irgend wie, irgend wozu verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen etwas an dieser Kraft gemessen ganz Unbedeutendes, ein kleiner Zufall zumeist, gemäß dem jenes Quantum sich nunmehr auf eine und bestimmte Weise ›auslöst‹ : das Streichholz im Verhältnis zur Pulvertonne.« 47
Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a. M. 2004, 517. 46 Arendt, Hannah: Das Leben des Geistes. Band II: Das Wollen. München, Zürich 1979. (= W) 47 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 360. Leipzig 1930, 271. 45
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Nietzsche differenziert hier innerhalb des Willens zwischen der Energie, welche die Handlung ins Werk zu setzen erlaubt, und der Richtung, in welche dies geschieht und welche den Charakter der Handlung bestimmt. Arendt stimmt der von Nietzsche getroffenen Differenzierung als solcher zwar zu, hält allerdings die Art und Weise, in welcher Nietzsche die Bedeutung der Handlungsorientierung ihrer bloßen Energie unterordnet verständlicherweise für eine »gefährliche Unterschätzung dieser sogenannten zweiten Ursache.« (B 135) Keineswegs ist die zweite im Willen ausgemachte Funktion etwas ganz Unbedeutendes und Arendt liegt viel daran, hier nicht einfach den Zufall walten zu lassen. »Denn diese letztere Funktion ist tatsächlich dasselbe wie die des Urteils; […] und ob von diesem Vermögen des Urteilens, einem der geheimnissvollsten Vermögen des menschlichen Geistes, gesagt werden soll, es sei der Wille oder die Vernunft oder eine dritte geistige Fähigkeit, ist zumindest eine offene Frage.« (B 129)
Für Arendt ist die Frage freilich nicht offen. Die Diskussion des Willens ist nur von vorübergehendem Interesse; die Beschäftigung mit der Urteilskraft ist ihr eigentliches Anliegen. Wir befinden uns hier an dem Punkt in Arendts Wirken, an dem sie die ethischen Implikationen des Eichmannbuches, welche sie »aus Bescheidenheit« lange nur privat zugegeben hatte, systematisch in ihrer Rezeption des späten 48 Kant aufzuarbeiten begann: »Hannah Arendts ›Bericht über die Banalität des Bösen‹ wurde zu einer Herausforderung, ihre politische Ethik zu schreiben. Aber das Schreiben einer moralia war nicht ihre Art. Was sie anstrebte, war eine Kritik der Urteilskraft, denn einen festen Moralkodex hielt sie […] nicht für hilfreich.« 49
Das Urteil gilt Arendt als der »wahre Schiedsrichter zwischen Recht und Unrecht, schön und häßlich, wahr und unwahr.« (B 137) Auch den argumentativen Übergang zu ihrer Lehre des Urteilens werden wir an dieser Stelle (vorerst) kaum mehr als skizzieren können. 50 Dies jedoch ist schon deshalb interessant, weil sie mit der 48 Young-Bruehl zitiert hier aus einem Brief von 1963. Young-Bruehl, Hannah Arendt, 513. 49 Young-Bruehl, Hannah Arendt, 514. 50 Wir greifen darum an diesem Punkt der Untersuchung mit Blick auf den doppelten Charakter der Urteilskraft als einer bestimmenden oder reflektierenden etwas vor; die eingehendere Auseinandersetzung mit dem Vermögen der Urteilskraft aus Kants wie aus Arendts Perspektive wird im dritten Kapitel dieses Buchteiles (C.3.) erfolgen.
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Urteilskraft ein weiteres mal an Kant anknüpft und dabei zwischen Urteilskraft und Bösem Bezüge darlegt, welche innerhalb von Kants System nicht bestanden hatten. Diese Vorgehensweise wird zu einer Charakteristik ihrer Kant-Rezeption, welche Richard J. Bernstein auf den Punkt bringt: »Obwohl sich Arendt auf Kant berief, wußte sie sehr gut, daß sie sich von seiner Position kompromißlos entfernte.« 51 Auch wenn dieser Zusammenhang in Kapitel C.3 noch in aller Ausführlichkeit erschlossen werden soll, wollen wir die Grundrichtung von Arendts Rezeptionsbewegung bereits hier anhand einiger ihrer Bemerkungen zu Kants Kritik der Urteilskraft herausstellen. Dort heißt es: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch, wenn sie, als transzendentale Urteilskraft, a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.« (KU B XXV f.)
Kant unterscheidet also bestimmende Urteile von reflektierenden Urteilen. Im moralischen Kontext sind für ihn die bestimmenden Urteile relevant und der Kategorische Imperativ ist als »synthetischer praktischer Satz a priori« (GMS 444) die allgemeine Regel, unter welche der besondere Fall zu subsumieren ist. Wir hatten eingangs bereits bemerkt, dass Hannah Arendt eine gewisse Skepsis gegen unabänderliche allgemeine Regeln hegte – besonders wenn diese auf einem Wege gewonnen werden sollten, bei dem die Vorstellung von Transzendenz eine tragende Rolle spielt. In Bezug auf den Kategorischen Imperativ ergibt sich für sie noch eine zusätzliche Schwierigkeit, »denn da es keine Regeln für die Subsumtion gibt, muss hier frei entschieden werden.« (B 138) Sie bestreitet daher, dass diese (bestimmende) Art des Urteilens die wesentlich moralische ist und weitet das Einsatzgebiet des reflektierenden Urteils, Unser Vorgriff scheint einerseits durch den Kontext der vorgestellten Vorlesung nahegelegt zu werden und ist mit Blick auf die weitere Lektüre insofern sinnvoll, als im Rahmen der Darstellung immer wieder Verweise auf die Unterscheidung bestimmender und reflektierender Urteilskraft nötig sein werden. 51 Bernstein, Richard J.: Judging – The Actor and the Spectator. In: Philosophical profiles. Philadelphia 1986, 221–238, übersetzt bei: Benhabib, Seyla: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt a. M. 2006, 292.
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welches Kant dem Bereich des Geschmacks zugeordnet hatte, auf moralische Gegenstände aus. »Wenn wir Moralität unter mehr als ihrem negativen Aspekt – Böses unterlassen, was bedeuten kann, daß jegliches Tun unterlassen wird – betrachten, dann müssen wir menschliches Verhalten in dem Sinn betrachten, den Kant nur hinsichtlich des sozusagen ästhetischen Verhaltens für angemessen hielt.« (B 144)
Sie ist sich dabei durchaus der Tatsache bewusst, dass sie damit implizit annimmt, die Gebiete des Schönen und des Guten seien »irgendwie von gleicher Natur« (B 139) und meint daraufhin zudem, »daß der Mangel an Urteilskraft sich auf allen Gebieten zeigt: Wir nennen ihn Dummheit bei verstandesmäßigen (kognitiven) Angelegenheiten, Geschmacklosigkeit in ästhetischen Fragen und moralische Stumpfheit oder Geisteskrankheit, wenn es sich um Verhalten handelt.« (B 138 f.) Als Gegenteil all dieser Mangelerscheinungen identifiziert sie den Gemeinsinn; dieser galt ihr als »genau der Boden, auf dem sich die Urteilskraft herausbildet, wenn immer sie ausgeübt wird.« (B 139) Sie rekurriert auch hierbei ganz wesentlich auf den § 40 aus Kants dritter Kritik, wenn sie schreibt, Gemeinsinn sei – unter Zuhilfenahme der Einbildungskraft – »jener Sinn, der uns in eine Gemeinschaft mit Anderen einpaßt, uns zu ihren Mitgliedern macht und uns in die Lage versetzt, Dinge, welche unseren fünf privaten Sinnen gegeben sind, zu kommunizieren.« (B 140) Die Kommunikation ist dabei keineswegs Selbstzweck, sondern führt dazu, dass mir die Angelegenheiten der Menschen, in deren Gesellschaft ich mich befinde, gegenwärtig sind. Mittels der Einbildungskraft kann ich mir diese Angelegenheiten Anderer nun vergegenwärtigen, auch ohne dass diese Anderen dazu gegenwärtig sein müssten. Ich kann mir ihre Angelegenheiten vergegenwärtigen und bei meinem Urteil berücksichtigen. Dies führt dazu, dass sich meine Denkungsart beim Urteilen erweitert, und zwar in dem Maße, in dem ich andere berücksichtige: »Mein Urteil [wird] um so repräsentativer sein […], je mehr Standpunkte anderer Leute ich mir in meinem Denken vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtigen kann.« (B 143) Dass die Gültigkeit solcher Urteile niemals Objektivität oder Universalität für sich wird beanspruchen können, ficht Arendt nicht an. Sie hat in Kants reflektierendem Urteil eine Möglichkeit der Handlungsorientierung ausgemacht, welche nicht rein 184 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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subjektiv ist in dem Sinne, dass es rein von persönlichen Einfällen abhängig wäre, sondern intersubjektiv und repräsentativ: »Auch wenn ich Andere beim Urteilen berücksichtige, heißt das nicht, daß ich in meinem Urteil mit dem ihren übereinstimme. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht Stimmen ab, um zu dem zu kommen, was ich für richtig halte. Aber mein Urteil ist auch nicht in dem Sinne subjektiv, daß ich zu meinen Schlußfolgerungen nur komme, indem ich mich selbst berücksichtige.« (B 142)
Der wohl grundlegendste Unterschied zwischen Denken und Urteilen besteht für Arendt insgesamt darin, dass Denken eine Tätigkeit in der Einsamkeit darstellt. 52 Für das Urteilen ist die Gemeinschaft konstitutiver Bezugspunkt; erst sie ermöglicht die Herausbildung von Gemeinsinn als der Grundlage des Urteilens: »Die Gemeinschaft unter den Menschen [bringt] den Gemeinsinn hervor […]. Die Gültigkeit des Gemeinsinns erwächst aus dem Umgang mit Leuten – genauso wie wir sagen, daß Denken aus dem Umgang mit mir selbst entsteht.« (B 143) Ohne die Gesellschaft Anderer werde ich also keinen Gemeinsinn entwickeln können; ohne dass ich mich mit den Angelegenheiten Anderer befasse, werde ich nicht im Stande sein, diese bei meinem Urteil zu berücksichtigen. In diesem Sinne ist »die Geselligkeit des Menschen […] Bedingung des Funktionierens« der Urteilskraft. 53 Erst das Befassen mit den menschlichen Angelegenheiten Anderer liefert mir Beispiele von Tugend und Untugend, welche das Besondere sind, das meinen allgemeinen Begriff von Tugend formen wird. Diese Beispiele– sie »müssen nicht geschichtlich wirklich sein« (B 148) – werden dem Menschen zum »Wegweiser allen moralischen Benhabib weist sehr zurecht darauf hin, dass zwischen Denken und Urteilen in Arendts Philosophie ein »Spannungsverhältnis« besteht, »und die Verbindungen, die Arendt zwischen ihnen herstellen wollte, eher schwache sind.« (Benhabib, Die melancholische Denkerin, 300) Das systematische Problem ist das folgende: »Arendt hat nicht überzeugend darstellen können, dass eine Haltung moralischer Reflexion, wie sie vom Verfahren der erweiterten Denkungsart gefordert wird, und die Platonische Emphase von Einheit oder Harmonie der Seele mit sich selbst miteinander vereinbar sind. […] [Sie] hat in ihren wenigen Überlegungen über das Denken und Urteilen zwei verschiedene Modelle verwendet« (ebd., 298), »die genauere Erforschung der zwischen dem Denken, Urteilen und Handeln bestehenden Beziehungen hätte eine moralphilosophische Abhandlung erfordert.« (Ebd., 300) Wir werden diese Problematik im Kapitel über die Urteilskraft wieder aufgreifen. 53 Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München 1985. (= U) 52
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Vom radikalen Bösen zu seiner Banalität
Denkens« (B 147), indem sie im moralischen Urteil vergegenwärtigt und berücksichtigt werden. Hier vermischt sich die Vorstellung Kants, »daß man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes anderen versetzt«, »um gleichsam die gesamte Menschenvernunft an sein Urteil zu halten« (KU § 40), mit der griechischen Vorstellung einer »Freundschaft im Gespräch« 54 , nach der das Gespräch mit den Menschen, in deren Gesellschaft ich mich befinde, in der Polis das Gemeinsame konstituiert. 55 In ihrer Vorstellung des Urteilens erweist sich Hannah Arendt also tatsächlich in gewisser Weise, wie Seyla Benhabib es formuliert, als »gefesselt zwischen Aristoteles und Kant.« 56 Wenngleich im Rahmen dieses Kapitels Arendts Lehre der Urteilskraft nur vorläufig markiert werden soll, so zeigt sich doch ihre Wichtigkeit in Bezug auf unseren Ausgangsgegenstand, das Böse. Im Phänomen des Bösen haben Denken und Urteilen in Hannah Arendts Philosophie einen gemeinsamen Bezugspunkt, da sich das Böse hier nicht nur als »Gedankenlosigkeit« (D 14) sondern auch als Versagen der Urteilskraft darstellt. »Unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht [hängen] von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, ab […]. Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt.« Wieder liegt der Stolperstein des Bösen aber nicht im etwaigen Vorsatz desjenigen, der sich mit jemandem in verbrecherischer Gesellschaft befindet oder entsprechende Beispiele auswählt. Es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand mit Vorsatz – um Arendts Beispiel zu bemühen – den Ritter Blaubart als Beispiel menschlicher Tugend auswählt. Die Wahrscheinlichkeit ist »weitaus größer, daß jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bißchen weniger gefährlich ist eine andere gän-
Arendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Hamburg 1999, 43 f. 55 Vgl. Schwan, Gesine: Die Macht der Gemeinschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2006, 3–7, 4. 56 Benhabib, Seyla: Denn sie war ein freier Mensch. Hannah Arendt, die Philosophin des 20. Jahrhunderts. In: DIE ZEIT 42/2006, 61–62. 54
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Bildungsphilosophische Erträge
gige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ›skandala‹, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.« (B 149 f.)
Der Verzicht auf eigenes Denken und Urteilen gehörte für Arendt zu den Elementen, in welchen sich die Bedingungen des Nazitotalitarismus kristallisierten. In ihrer Begriffsbildung der Banalität des Bösen ging es daher um genau »diese banale – weil sehr verbreitete und oft als harmlos akzeptierte – Bedingung des Verzichts auf ein persönliches Urteil« 57 . Arendts Analysen eröffnen uns dabei nicht nur in politologischer oder historischer Hinsicht wichtige Perspektiven, sondern es werden auch in bildungsphilosophischer Perspektive einige Aufgaben deutlich.
1.3. Bildungsphilosophische Erträge Wie wir gesehen haben, ist der Begriff des Bösen der erste begriffliche Anknüpfungspunkt von Hannah Arendts Kant-Rezeption, weshalb es schon vielfach hervorgehoben worden ist, dass dieser Zusammenhang in seiner systematischen Bedeutung für ihr Werk kaum überschätzt werden kann und dass ihre Reflexionen über das Böse bis heute in vielerlei Hinsicht von ungebrochener Aktualität sind. 58 In der Perspektive auf Bildung und Erziehung ist es denn zuallererst das Wissen »über die Möglichkeiten zum Bösen im Menschen« selbst und die damit verbundene Erkenntnis, »wessen alles der Mensch fähig ist«, welche eine »Vorbedingung modernen politischen DenKristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 238 f. Bernstein, Richard J.: Sind Hannah Arendts Reflexionen über das Böse noch relevant? DZPhil 55/2007, 573–585; Heuer, Wolfgang: Hannah Arendt über das Böse im 20. Jahrhundert. In: Horster, Detlef (Hrsg.): Das Böse neu denken. Frankfurt a. M. 2006; Kateb, George: Hannah Arendt. Politics, Conscience, Evil. Oxford 1983; Villa, Dana R.: Beyond good and evil. Arendt, Nietzsche and the Aesthetisation of Political Action. Political Theory 20/2/1992, 274–308, Heuer, Willnauer, Elmar: heute das Böse denken. Mit Immanuel Kant und Hannah Arendt zu einem Neuansatz für die Theologie. Berlin 2005.
57 58
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kens« 59 darstellt. Arendt versteht das Wissen über den Charakter des Bösen also als einen elementaren Ausgangspunkt allen politischen Denkens – und wir gehen wohl nicht zu weit, es in der Folge auch als wichtigen anthropologischen Bezugspunkt aller politischen Bildung zu begreifen. Mit Bezug auf unsere Zielsetzung, Hannah Arendts Werk in einer didaktischen Perspektive auszuwerten, ergeben sich darüber hinaus jedoch weitere Perspektiven – sowohl auf einer inhaltlichen, bildungsphilosophischen als auch auf einer methodischen Ebene.
1.3.1. Bildungstheoretische Perspektiven: Bildung als Kampf gegen Gedankenlosigkeit und Desinteresse Auf einer inhaltlichen Ebene ist zunächst einmal von Bedeutung, dass Arendt das Böse auf eine Form der Gedankenlosigkeit zurückführt, die ihrem Wesen nach eine mögliche, allgemeinere Haltung des Menschen abbildet. Als Denkunfähigkeit ist sie eine »stets bereitliegende Möglichkeit bei jedem« (D 190) – und damit keine Frage des intellektuellen Potentials. Das macht es zu einer Aufgabe politischer Bildung, begrifflich zu fassen, wie diesem Desinteresse an der Welt entgegenzuwirken ist, denn die sich mit dieser Haltung verbindende »Verantwortungslosigkeit […] stellt für Arendt ein untrügliches Symptom eines Welt- und Selbstverlustes dar. Welt- und Selbstverlust sind zwei Seiten derselben Medaille« 60 – und diese Medaille kann in der Perspektive politischer Bildung keine Auszeichnung sein, sondern bedarf eines Gegenmittels, einer Abwehrstrategie. Wir haben bereits in unseren Überlegungen zum normativen Aspekt politischer Bildung und zum Traditionsbruch gesehen, dass das 20. Jahrhundert uns in normativer Perspektive einen unvoreingenommenen Rückgriff auf die Tradition recht weitgehend versperrt; ein allzu selbstverständliches Anknüpfen an Althergebrachtes ist hier eher Teil des Problems, als dass es dessen Lösung sein könnte: »Die Banalität des Bösen ist der Schatten, der den guten Taten einer traditionsgebundenen Moral in einer nicht mehr traditionalen GesellArendt, Hannah: Organisierte Schuld. In: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M. 1976, 32–45, in Folgenden zitiert als OS, hier 44 f. 60 Meints, Waltraud: Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld 2011, 169. 59
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schaft auf dem Fuße folgt.« 61 Es ist also – wir sagten es bereits – »Denken ohne Geländer« gefragt. Auch hier zeichnet Arendt den Weg vor, den dieses beschreiten könnte: die Anleitung zum freien Denken und reflektierten Urteilen, denn »das Böse ist ein Phänomen mangelnder Urteilskraft.« (DTB 767) Dabei wird deutlich, dass so eine normative Orientierung angestrebt werden kann, welche aufgrund ihres negativen Ansatzpunktes weder Gefahr läuft, den Edukanden normativ zu gängeln, noch einem moralischen Relativismus, einer normativen Entwurzelung anheim zu fallen. Auch wenn Arendt in ihrer Herleitung des Begriffs der Gedankenlosigkeit auf die Person Adolf Eichmanns direkten Bezug nimmt, muss an dieser Stelle klar sein, dass wir es nicht mit einem Einzeloder moralischen Extremfall zu tun haben, sondern mit einem Problem gerade des modernen Menschen überhaupt. Martin Heidegger hatte diese Situiertheit des modernen Menschen bereits ein Jahr vor Arendts Bericht vom Eichmannprozess vor Augen gehabt, als er schrieb: »Machen wir uns nichts vor. Wir alle, eingeschlossen diejenigen, die gleichsam von Berufs wegen denken, wir alle sind oft genug gedanken-arm; wir alle sind allzu leicht gedanken-los. Die Gedankenlosigkeit ist ein unheimlicher Gast, der in der heutigen Welt überall aus- und eingeht. Denn man nimmt heute alles und jedes auf dem schnellsten und billgsten Weg zur Kenntnis und hat es im selben Augenblick ebenso rasch vergessen. […] Die zunehmende Gedankenlosigkeit beruht auf einem Vorgang, der am innersten Mark des Menschen zehrt: Der heutige Mensch ist auf der Flucht vor dem Denken. Diese Gedankenflucht ist der Grund der Gedanken-losigkeit.« 62
Dass im »Widerstand gegen Besinnungslosigkeit und Gedankenlosigkeit« 63 einer der bildungsphilosophisch relevanten Gedanken liegt, bemerkt auch Christina Schües, wenn sie in Arendts Begriff der Gedankenlosigkeit sowie in Adornos Konzept der Halbbildung eine spezifische Form von Reflexionsfähigkeit und -willigkeit herausgearbeitet sieht und daher meint, dass hier ex negativo ein Standard für die philosophische Bildung formuliert wird: »Dieser Anspruch, der nur durch die denkende Zuwendung auf Welt- und Denkverhältnisse geHabermas, Jürgen: Mut zur Erziehung – Brief an R. Spaemann (1978). in: Ders.: Kleine Politische Schriften (I–IV). Frankfurt a. M. 1981, 407–410, 409. 62 Heidegger, Martin: Gelassenheit. Pfullingen 1959, 11 f. 63 Schües, Aufgaben philosophischer Bildung, 151 ff. 61
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nährt wird, droht verloren zu gehen, wenn Bildung, speziell philosophische Bildung, vernachlässigt wird und von ›ihrem Todfeind‹, der Halbbildung, erstickt wird.« 64 Die Gefahr, welche durch die gänzliche Vernachlässigung philosophischen Nachdenkens bestehe, sei das Verfehlen der angestrebten Orientierungsfähigkeit durch die Reduktion von Bildung auf ein bloßes »Reaktionswissen. Zum schnellen Reagieren gehören bestimmte Informationen, eine schnelle selektive Auffassungsgabe und Reaktionsgeschwindigkeit. Jede Reflexion, gar Nachdenklichkeit, würde den Prozess verlangsamen, geradezu entschleunigend wirken und wäre damit dem Anpassungsdruck an eine Situation entgegengesetzt. […] Doch – und das wird oft genug verkannt – braucht eine demokratische Gesellschaft Nachdenklichkeit. […] Nachdenklichkeit […] bedeutet, sich der Anpassung an das Schema der fortschreitenden Unterwerfung unter bzw. fortschreitender Einlassung in und an ein System zu entziehen.« 65
Der von der Didaktik zu beschreitende Weg kann also – von Arendt her betrachtet – ein weiteres Mal nicht als ein Erwerb von spezialisierten, ausdifferenzierten Kompetenzen gedacht werden, da es Arendt gewissermaßen um eine Nachdenklichkeit überhaupt geht. »Das einfache, beinahe automatische Ergebnis von Nachdenklichkeit« (B 77 f.) ist für Arendt die Persönlichkeit, deren Bildung sich in diesem Sinne kaum durch die Reduktion auf spezialisierte Kompetenzen rekonstruieren lassen dürfte. 66 Es ist in der Diskussion um Kompetenzen in der Didaktik schon verschiedentlich auf die Gefahr hingewiesen worden, »dass unsere Bildungsstätten eine Generation von ›problemlosen Problemlösern‹ ausbilden könnten, weil aus differenzierten Einzelkompetenzen nicht perspektivisch Bildung« 67 erwächst. In der Konsequenz scheint es also notwendig zu sein, dass Unterricht Raum zum Denken gibt, und sich die didaktische Perspektive nicht auf beobachtbare Verhaltensweisen des sich Bildenden verengt. Dass Schües, Aufgaben philosophischer Bildung, 154. Schües, Aufgaben philosophischer Bildung, 154 f. 66 Denken stellt für Arendt einen Rückzug von der durch ihren Erscheinungscharakter bestimmten Welt dar. Da es bei der Formulierung von Kompetenzen »tatsächlich gar nicht mehr um Kompetenz geht, sondern schlicht um Performanz«, dürfte sich die Bildung der Persönlichkeit im arendtschen Sinne einem solchen Bedürfnis nach Standardisierbarkeit entziehen, da »Bildungsstandards […] blind bleiben für die Eigenlogik der subjektiven Bildung«. Vgl. hierzu Gruschka, Andreas: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011, 59, 61. 67 Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 23. 64 65
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Bildungsphilosophische Erträge
ein solcher Raum im Rahmen von Bildungsprozessen zur Verfügung steht, ist keineswegs so selbstverständlich, wie es zunächst klingen mag. Philosophische wie politische Bildung werden ihrem Begriff aber nicht gerecht werden können, wenn man bereit ist, den Bildungsgedanken zugunsten »der gegenwärtig so offensiv vertretenen Kompetenzproduktionstechnologie« 68 zu vernachlässigen. »Es ist nichts weniger als ein Kategorienfehler, anzunehmen, unser Vermögen […] zu verantwortlichen Urteilen ließe sich bruchlos quantitativ operationalisieren.« 69 Und neben dem Denken gehören der Wille und die Fähigkeit zu Urteilen zu den intendierten Dispositionen eines Unterrichts, der dem Schüler eine Bildung ermöglichen will, die der politischen Dimension seiner Persönlichkeit gerecht werden kann. Auch in dieser Perspektive ist Arendts Auseinandersetzung mit dem Bösen relevant, da das Böse nicht nur den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung der vita contemplativa bildet, sondern Grenzen der Urteilskraft ebenso zu Tage treten lässt wie Gefahren, die sich aus dem mangelnden Gebrauch derselben ergeben. Auch hier kann in Arendts Kant-Rezeption eine Hintergrundtheorie philosophisch-politischer Bildung entdeckt werden, welche helfen kann, zentrale Begriffe des Bildungsanliegens in ihrem Gehalt inhaltlich zu bestimmen und damit darzulegen, was unter einem politischen Urteil überhaupt zu verstehen ist. In dieser Perspektive wird in den folgenden Kapiteln zu klären sein, welche Art von Urteilskraft hier eigentlich anzustreben ist, um nicht mit der wohlfeilen Forderung einer nicht näher bestimmten Urteilskompetenz zur Generation von pseudo-didaktischen »Plastikwörtern und Leerformeln« 70 beizutragen. Denken wie Urteilen erweisen sich für Arendt als Vermögen, welche Pluralität als menschliche Grundbedingung voraussetzen: Das Denken als ein sokratisches »Zwei-in-Einem«, als der innere Dia-
68 Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 16. Während viele Fachdidaktiken wie auch die GFD als fachdidaktischer Dachverband fachdidaktisches Arbeiten inzwischen sehr weitgehend an Empirie, »Kompetenzen« und »Standards« orientieren, bemerkt Steenblock: »Dieselbe Trias ist jedoch […] in einer ›philosophischen Pädagogik […]‹ höchst umstritten, besonders seiner unverhohlenen pragmatischen Ausrichtung wegen auch der Kompetenzbegriff; zudem wird auf die zweifelerweckende Heterogenität gegenwärtiger Kompetenzkonstrukte verwiesen.« Ebd., 19. 69 Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 24. 70 Gruschka, Verstehen lehren 14.
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log mit sich selbst und das Urteilen im Sinne von Kants reflektierender Urteilskraft als einbeziehende Vergegenwärtigung von Standpunkten Anderer. Hier liegt wohl einer der wichtigsten inhaltlichen Punkte, die Arendt für die Didaktik interessant machen: Ihr Denken steht vor einem sokratischen Hintergrund, dessen dialogisch-plurale Grundstruktur sie im Denken und Urteilen der Menschen aufweist. Diese anthropologischen Grundannahmen sind auch für die politische Didaktik von zentraler Bedeutung. Sosehr Arendts Denken als eine normativ fundierte Position verstanden werden kann und muss, so wenig ist sie dies im Sinne einer subjektivistisch verengten Auffassung von Moral; das Intersubjektive ist bei Arendt stets von vornherein mitgedacht. Dies wird uns einerseits bei ihrer Kritik von Kants Ethik weiterbeschäftigen, lässt aber auch an dieser Stelle bereits die didaktische Schlussfolgerung zu, welche Arendt schon Michael Gerstein gegenüber nahelegt: In normativ-politischer Perspektive solle dieser »unterwiesen werden, wenn Sie mit Ihresgleichen um einen Tisch sitzen und Meinungen austauschen. Irgendwie aus dieser Situation heraus sollte dann eine Unterweisung kommen […].« (Toronto 83) Damit wird der Dialog als das sokratisch inspirierte Paradigma auch der politischen Didaktik herausgestellt und Multiperspektivität zur Grundanforderung eines Bildungsprozesses, welcher seinem Wesen nach berechtigt ist, sich politisch zu nennen.
1.3.2. Methodische Perspektiven: »Ver-lernen« am Exemplar Neben dieser inhaltlichen Ebene ist Arendts spezifische Art und Weise des Lesens, die wir exemplarisch an ihrer Kant-Rezeption erarbeiten, für uns in einer methodischen Perspektive von Bedeutung. Es geht uns hier darum, Arendts Umgang mit der philosophischen Tradition zu untersuchen und für die didaktische Theorie nutzbar zu machen. Für Arendt hatte die Philosophie nicht als wissenschaftlich-esoterische Veranstaltung Bedeutung, sondern nur wenn und insofern sich mit ihr Phänomene der Lebenswelt zugänglich machen ließen. Diese Situation ist strukturanalog zu derjenigen des Philosophiedidaktikers: Philosophiegeschichte und Universitätsphilosophie können in der Didaktik nicht als Selbstzweck betrachtet werden, sondern ihre Begriffe müssen in Bezug zu lebensweltlichen Phänomenen gebracht werden. Das »Rätsel, wie das (philosophische) Denken für die Wirk192 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Bildungsphilosophische Erträge
lichkeit tauglich werden könne« 71 , ist ein ständiger Begleiter im Subtext von Hannah Arendts Werk. Marie Luise Knott hat dies bereits für das »Verzeihen« untersucht und im Begriff des »Verlernens« gefasst: Ein Begriff der Tradition – hier das radikale Böse – wird im Abgleich mit politisch-historischer Wirklichkeit – in einen anderen verlernt. Auch Knott interessiert hier, »auf welche Weise, aus welcher denkerischen Not und aus welchem Aufbruch heraus Arendt das überlieferte Verständnis dieses Begriffs verwarf, ihn aus dem christlichen Kontext herauslöste, ihn ›demontierte‹ und sich einen neuen Begriff […] ver-erlernte. Es geht um die Denkwege, darum, wie und warum sie diesen Begriff, dessen tradierte Vorstellung in der Gegenwart nicht mehr trug, eine neue Gegenwart schuf.« 72
Dieses Verfahren lässt sich – wie wir gesehen haben – auch in Arendts Entwicklungsarbeit am Begriff des Bösen entdecken und es deutet sich hier zudem bereits die Rolle der reflektierenden Urteilskraft an, deren Aufgabe es ist, »das historisch Neue in der Bestimmung der Unangemessenheit der tradierten Begriffe« 73 zu erkennen. Da das skizzierte Verfahren eines ist, bei dem sich das Verstehen eines historisch oder individuell Neuen im Abgleich von tradiertem Begriff und aktueller Welterfahrung vollzieht, lässt sich Arendts Methode in diesem Sinne als ein hermeneutisches Verfahren kennzeichnen; geht es doch nicht nur um den Umgang mit dem entgegentretenden Weltinhalt, sondern auch um den Umgang mit dem eigenen Vorverständnis. Der Weg des Verstehens führt dabei über das Beispiel, und dies ist auch von zentraler Bedeutung für die Didaktik: Wenn exemplarisch gedacht wird, wird auch exemplarisch gelernt – wenn auch nicht in dem banalen Sinne, dass der Zeitmangel eine Auswahl der Unterrichtsinhalte geböte und es der Begriff des exemplarischen Lernens erlaubte, diese Not zur Tugend zu verbrämen. Arendts Auseinander-
Knott, Verlernen, 102. Am Begriff des Verzeihens führt Knott eindrucksvoll vor, wie ein ebenfalls ursprünglich dem religiösen Bereich entstammender Begriff in einen weltlichen Begriff verlernt wird. Die Analogie reicht dabei noch weiter, als hier verhadelt werden kann: So können beide Begriffe auf eine christlich geprägte Begriffsgeschichte zurückblicken; das Böse etwa als ein Begriff der Erbsündenlehre. In beiden Fällen gelingt es Arendt, diesen religiösen Charakter aufzubrechen und die Begriffe in weltliche Konzepte zu »verlernen«. Vgl. Knott, Verlernen, 61 ff., hier 64. 73 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 139. 71 72
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setzung kann in der Analyse Knotts einen Hinweis darauf geben, wie ein Erfassen von Wirklichkeit über einen wirklich exemplarischen Zugang vonstattengeht: Nämlich als Verlernen überkommener begrifflicher Deutungsmuster in solche, die dem neu zu erlernenden Phänomen adäquat sind. Das Böse, welches an der Person Eichmanns zu Tage trat, ließ sich nicht mit dem Begriff des radikal Bösen fassen, da Eichmanns oberflächliche Seichtheit für Arendt nur allzu offensichtlich war. Dennoch ließ sich an ihm etwas erblicken, dessen Bedeutung sich nicht im individuellen Fall seiner Person erschöpfte. Auch für Waltraud Meints geht das Eichmann-Buch weit über eine bloße historische Fallstudie auf der Ebene eines Individuums hinaus; vielmehr habe Arendt in der Auseinandersetzung mit dem »Architekten der Endlösung« ein »Beispiel mit exemplarischer Gültigkeit« 74 entdeckt. Die Banalität des Bösen wird zwar nicht als allgemeiner Hang, aber doch als allgemeine menschliche Disposition an der Person Adolf Eichmanns aufgewiesen. Arendts Reflexionen über das Böse führen damit in Einheit von Gegenstand und Methode bereits exemplarisch das exemplarische Denken als ein Denken vom Einzelnen zum Allgemeinen vor. Das Medium, welches das Allgemeine im Besonderen sichtbar und mitteilbar werden lässt, ist für Arendt stets die Erzählung gewesen; das im Totalitarismus in einer ganz neuen Qualität erscheinende Böse »erforderte für Arendt […] eine neue ›Erzählweise‹.« 75 Die »Arendtsche Auffassung vom menschlichen Leben als einer politischen Aktion, die in der Sprache einer Geschichte (story und history) offenbart wird«, erweist sich auch hier als ein ihr Gesamtwerk einigendes »Kettenglied« 76 . Dass Arendt eine Begriffsbildung wie die Banalität des Bösen nicht im Kontext einer systematischen Abhandlung entwirft, sondern die Geschichte einer konkreten Person benötigt, um das Allgemeine, »das, was jeden angeht« 77 , im Besonderen dieser Erzählung aufzuweisen, mag auch hier auf den narrativen Zug ihres Denkens hindeuten. »Die Politologin macht sich erneut zur Erzählerin – sie erzählt die Biografie eines durchschnittlichen, normalen Menschen« 78 . Gerade mit Blick auf
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 138. Wir werden auf den Begriff des Exemplarischen im Laufe von Kapitel C.3. noch ausführlicher zu sprechen kommen. 75 Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 162. 76 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 118. 77 Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin, 322. 78 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 236. 74
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Bildungsphilosophische Erträge
ihre Begriffe von Handlung und Person wird dieser narrative Grundzug ihres Denkens noch von entscheidender Bedeutung sein, wenn wir uns nun mit Arendts Kritik an Kants Ethik auseinandersetzen werden.
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2. Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik
Wie wir gesehen haben, knüpft Arendt beim Begriff des Bösen an einen im Kern moralischen Begriff Kants an. Wie sie in ihrem Spätwerk aber selbst formuliert, »betreffen meine Hauptvorbehalte gegenüber der kantischen Philosophie gerade seine Moralphilosophie, die ›Kritik der praktischen Vernunft‹«. (D 218, FN 83) Kants Ethik, wie er sie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und seiner zweiten Kritik entwickelt, wird von ihr in der Tat sehr deutlich abgelehnt; so notiert sie z. B. 1951 in ihr Denktagebuch: »Der ganze Gegensatz von Pflicht und Neigung ist so unsinnig […].« (DTB 54) Wiewohl ein Kernbestand von Kants ethischem Denken, ist die Unterscheidung von Neigung und Pflicht keineswegs die einzige, nicht einmal die wichtigste Stoßrichtung von Arendts Kritik; ihre Überlegungen sind hier vielfältig. Der Begriff der Pflicht, des guten Willens, des Faktums der Vernunft – es sind wahrlich keine Nebenaspekte, welche ihre Kritik auf sich ziehen. 1 Auch durch ihr veröffentlichtes Werk hindurch lassen sich mehr als ausreichend Belege dafür finden, wie grundsätzlich diese Ablehnung war. Wenngleich die Prägnanz von Notizen ihres Denktagebuches hier oft höher ist, so haben wir doch zu berücksichtigen, dass es sich dabei um nicht für die Veröffentlichung vorgesehenes Material handelt und werden diese nur dort heranziehen, wo sie den bereits beschrittenen Pfad der Argumentation zu einem gesicherten Weg auszubauen geeignet sind. Mit Blick auf Kant werden wir im Weiteren jedoch feststellen, dass einige seiner Begriffe für Arendts politische Theorie äußerst bedeutsam waren; dabei handelt es sich zumeist um Elemente von Kants Werk, die er in seiner ersten Kritik entwickelt, welche Arendt schon als junges Mädchen rezipierte. Hier ist die Ablehnung also keineswegs so grundsätzlich wie mit Blick auf die zweite – wenngleich der transzendentalphilosophische Zug seines Systems für sie nie eine 1
Vgl. Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 56.
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Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik
Perspektive darstellte. Die Trennung von Vernunft und Verstand sowie der Begriff der Freiheit im kosmologischen Verstande sind Anknüpfungspunkte, die für ihr Werk sehr prägende Wirkung entfalteten. »Ihre Kritik der Philosophie Kants ist insofern verwerfend und rettend zugleich.« 2 Nun stellt sich hier vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs des kantischen Systems freilich die Frage, wie es möglich ist, Kants Begriff des unter der praktischen Vernunft stehenden guten Willens ablehnen, an seinem Freiheitsbegriff aber festhalten zu wollen. Weitere solcher systematischen Fragen, die sich aus der kantimmanenten Perspektive her unvermeidlich stellen, könnten hier angeführt werden. Kurz: Es stellt sich die Frage nach der Methode ihrer Rezeption und nach dem Kriterium der Selektion, nach dem Elemente verworfen und andere als zu fischende »Perlen« ausgewählt werden. Wir werden daher auch in diesem Kapitel in drei Schritten vorgehen. In einem ersten Schritt sollen wieder Aspekte von Kants Denken vorgestellt werden, die entweder für Arendts politische Theorie konstitutive Anknüpfungspunkte darstellen oder an denen sich ihr Denken abgrenzend abarbeiten wird. Unser Zugriff auf Kants Ethik ist hier bereits in starkem Maße selektiv, da er weniger einer systematischen Kant-Philologie dient als vielmehr der Exposition von Arendt aufgegriffener und z. T. kritisierter Aspekte. In einem zweiten Schritt soll einerseits die Art und Weise der Aufnahme und ggfs. der Weiterentwicklung von Elementen der kantischen Philosophie nachgezeichnet sowie andererseits die Ablehnung wesentlicher Züge seiner Ethik vor dem Hintergrund des sonstigen arendtschen Denkens plausibel gemacht werden. In einem letzten Schritt werden wir zudem der Frage nachgehen, was die konkret vorliegende Form ihrer Kant-Kritik über ihr Denken insgesamt verrät und inwiefern sich hier Einsichten und methodische Überlegungen gewinnen lassen, welche bildungsphilosophisch fruchtbar zu machen sind. Kommen wir also wieder nun zunächst zu Kant.
2
Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 75.
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2.1. Aspekte der Ethik Kants 2.1.1. Die Allgemeinheit ethischer Pflicht »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.« (GMS BA 14) Diese Definition des Pflichtbegriffs steht ohne Frage im Zentrum von Kants Ethik, die in der Folge auch zu Recht vielfach als Pflichtethik gekennzeichnet worden ist. In seiner Kritik der praktischen Vernunft wird die Pflicht mit einem Pathos aufgeladen, welches sich in Kants Werk in dieser Form nur an sehr ausgewählten Stellen Bahn bricht: »Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet […], welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?« (KpV A 154)
Auch wenn Kants Pflichtbegriff im Rahmen dieser Arbeit nicht in einer dem Gegenstand angemessenen Ausführlichkeit dargestellt werden kann, so lässt sich an diesen Stellen von Kants ethischen Grundlegungsschriften dennoch die zentrale Bedeutung dieses Pflichtbegriffs wohl erahnen, der seine Ethik zudem zum Paradigma einer deontologischen ethischen Position gemacht hat. Nach einer bekannten Definition wollen solche deontologischen Positionen das ethisch Gesollte nicht von Erwägungen auf außermoralisch Gutes – wie etwa den Nutzen einer Handlung – abhängig machen und führen Gesichtspunkte an, welche Sinn oder Wert des ethischen Handelns ohne Bezugnahme auf dessen Konsequenzen zu begründen versuchen. 3 Eine deontologische Handlungsbegründung ist von den konkreten Zielen einer Handlung gerade unabhängig. 4 Ethisches Handeln wäre in diesem Verständnis um seiner selbst willen von moralischem Wert; dieser Wert läge also im Handeln selbst begründet und nicht im Nutzen der Konsequenzen, welche dem Handelnden oder anderen direkt oder indirekt daraus erwachsen könnten. Die 3 4
Vgl. Frankena, William K.: Analytische Ethik. München 1972, 33 f. Vgl. Ricken, Friedo: Allgemeine Ethik. Stuttgart, Berlin, Köln 3 1998, 227.
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Pflicht beinhaltet eben nichts, »was Einschmeichelung bei sich führt«; in Kants Verständnis liegt der Wert einer moralischen Handlung bekanntlich darin, dass sie aus Pflicht und damit um des Gesetzes willen geschieht – nicht um einen konkreten materialen Zweck zu erreichen. Kants Ethik steht folglich ebenso wie Arendts Denken ganz grundsätzlich im Widerspruch zum Utilitarismus, den Arendt in Vita activa scharf kritisiert: »Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche Inhalt des Um-willen geworden – was nur eine andere Art ist zu sagen, daß, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.« (VA 183) Sosehr die Intention, das Verständnis menschlichen Handelns nicht auf Zweck-Mittel-Relationen reduzieren zu wollen, Kant und Arendt also auf der einen Seite eint, sosehr erweist sich Arendt ebenso als scharfe Kritikerin sowohl der utilitaristischen als auch der kantischen Ethik – und dies hat nicht zuletzt mit dessen starkem Pflichtbegriff und der mit diesem auch im obigen Zitat verbundenen Vorstellung moralischer Gesetzmäßigkeit zu tun. Versuchen wir im Folgenden also, uns ein Bild von den einzelnen Aspekten zu machen, welche Arendts Kritik auf sich zogen. In einem ersten Schritt sind hier wohl die Momente der Allgemeinheit und der Notwendigkeit zu nennen, denen Kant bei der Ausformulierung seiner Ethik eine zentrale Position zuwies – womit er jedoch eine Vorstellung ethischen Handelns begründete, welche in einer unaufhebbaren Spannung zu Arendts Handlungsbegriff steht. 5 Beginnen wir mit der Allgemeinheit, die für Kant ein zentrales Charakteristikum gültiger ethischer Normativität darstellt, und betrachten wir dazu zuerst Kants Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen, an welcher wir uns Kants Vorstellung ethischer Normativität verdeutlichen können. Kant nimmt die Differenzierung zwischen diesen zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidenden normativen Sätzen bekanntlich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vor: 6 »Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu Zum Verhältnis von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in der Ethik Kants vgl. Heidemann, Ingeborg: Das Problem der Allgemeingültigkeit in der Ethik. In: KantStudien 1960/61, 33–42, 36 ff. 6 Vgl. dazu Schönecker, Dieter und Wood, Allen W.: Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, 107 ff. 5
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Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik
etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte.« (GMS BA 39)
Nur der kategorische Imperativ gebietet eine Handlung als objektivnotwendige, während der hypothetische Imperativ eine Handlung immer nur als notwendiges Mittel zu einem mehr oder weniger wünschenswerten Zweck beschreibt. Dass die Bedeutung der hypothetischen Imperative für die Ethik von Kant so viel geringer eingeschätzt wird als die des kategorischen Imperativs, liegt nicht zuletzt daran, dass diese »eher für Anratungen (consilia) als Gebote (praecepta) der Vernunft zu halten sind« (GMS BA 47). Wie Kant es wenig später in der zweiten Kritik noch strenger formuliert, handelt es sich bei hypothetischen Imperativen um »zwar praktische Vorschriften, aber keine Gesetze«, weil sie »nicht den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen« (KpV A 37). Ein hypothetischer Imperativ »rät bloß an; das Gesetz der Sittlichkeit gebietet. Es ist aber doch ein großer Unterschied zwischen dem, wozu man uns anrätig ist, und dem, wozu wir verbindlich sind.« (KpV A 64) Während hypothetische Imperative für sich genommen also eher Empfehlungscharakter haben und eine Handlung nur unter der Bedingung wirklich notwendig vorschreiben, dass die gewollte Wirkung auch tatsächlich mit den eigenen, individuell verschiedenen Zielsetzungen übereinstimmt, so hat der kategorische Imperativ Gesetzescharakter und ist in dem Sinne allgemeingültig, dass seine Gültigkeit von den persönlichen, individuellen Meinungen oder Zwecksetzungen einer Person gerade abstrahiert. Hypothetische Imperative beschreiben nur Zweck-Mittel-Relationen; »der gebotenen Handlung wird als Mittel zu einem Zweck das Wort geredet.« 7 Damit ist zum einen noch nicht einmal entschieden, welcher Status der in Frage stehenden Handlung in moralischer Hinsicht zukommt – die intendierten Zwecke können sich in dieser Perspektive ja erheblich voneinander unterscheiden. Darum betont Kant ja auch in der Kritik der Urteilskraft, dass »in uns die moralisch-praktische Vernunft von der technisch-praktischen ihren Prinzipien nach wesentlich unterschieden ist«. (KU B 433) Erst da, wo die Frage »Was soll ich tun?« nicht 7 Kaulbach, Friedrich: Immanuel Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹. Darmstadt 1988, 57.
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nur unter Berücksichtigung materialer Bedingungen beantwortet wird, sondern als »Was soll ich unbedingterweise tun?« eine Präzisierung findet, betreten wir für Kant das eigentliche Feld der Ethik. 8 Hypothetische Imperative sind insofern immer nur partikular, als sie stets nur für diejenigen Menschen Gültigkeit haben, welche auch den materialen Zweck wollen, zu dem der hypothetische Imperative das entsprechende Mittel (dann freilich notwendig) vorschreibt. Für alle anderen sind sie schlicht nicht von Bedeutung. Mit dem Kategorischen Imperativ zielt Kant aber gerade darauf ab, jeglichen Partikularismus in der Ethik zu überwinden; Maximen, also subjektive Handlungsprinzipien, sind ja laut der bekannten Formulierung des Kategorischen Imperativs aus der zweiten Kritik gerade so zu wählen, dass sie »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten« (KpV A 54) können. Eine Handlungsmaxime ist moralisch zulässig, wenn sie in diesem Sinne der Verallgemeinerung fähig ist. In Kants Ethik geht der Anspruch der Allgemeinheit also stets mit der hohen inhaltlichen Allgemeinheit des Sittengesetzes einher, denn »nur formale Prinzipien, die von aller Verschiedenheit des Inhaltes absehen, können allgemeingültig sein, und damit allgemeinverbindlich.« 9 Die Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs wird gerade dadurch erreicht, dass bei der Überprüfung von Handlungsmaximen von aller menschlichen Diversität und Pluralität abgesehen wird. Für Kant ist es nicht zuletzt und gerade diese »Form der Allgemeinheit«, welche eine Handlungsregel »ein Gesetz […] zu sein fähig macht.« (GMS BA 69) Wie der Kategorische Imperativ als »allgemeine[r] Imperativ der Pflicht« (GMS BA 52) diesem Anspruch gerecht wird, lässt sich an Kants Unterscheidung engerer und weiterer Pflichten zeigen. Beide werden von Kant ex negativo definiert: Eine Pflicht im engeren Sinne wird dann übertreten, wenn die einer Handlung zugrunde liegende »Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann«. Bei Pflichten im weiteren Sinne »ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde.« (GMS BA 57) Die im Kategorischen Imperativ vorgenommene Überprüfung der Verall8 9
Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft 148 f. Heidemann, Das Problem der Allgemeingültigkeit, 37.
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gemeinerungsfähigkeit einer Handlungsmaxime findet ihr Kriterium also eigentlich in der letztlich logischen Forderung formaler Widerspruchsfreiheit, bleiben doch auch die weiteren Pflichten an den engeren strukturell orientiert.
2.1.2. Verstand und Vernunft Um zu verstehen, wie weitreichend diese Vorstellung von Allgemeingültigkeit ist und wie sie sich mit der Vorstellung moralischer Notwendigkeit verbindet, muss an dieser Stelle zudem eine Anmerkung zu Kants Gebrauch des Begriffs »Vernunft« gemacht werden, scheinen doch sowohl die hypothetischen Imperative als auch der kategorische Imperativ diese als Quelle zu haben – wenn auch erstere als Anratungen, zweiterer als Gesetz (vgl. Zitat oben, GMS BA 47). Wegen der mit dem Vernunftbegriff zusammenhängenden Möglichkeiten zu Missverständnissen klagte bereits Schopenhauer, dass Kant die Vernunft »auch nicht ein einziges Mal ordentlich und genügend bestimmt« habe und »nur gelegentlich und wie der jedesmalige Zusammenhang es fordert, unvollständige und unrichtige Erklärungen von ihr« 10 gebe. Ganz allgemein verwendet Kant auch den Begriff der Vernunft in einem engeren Sinne und in einem weiteren Sinne, wobei der weitere Vernunftbegriff wohl in erster Linie dazu dient, oberes und unteres Erkenntnisvermögen voneinander abzugrenzen. 11 Wenn Kant – wie im oben vorliegenden Falle – hypothetische Imperative als »Anratungen […] der Vernunft« beschreibt, so versteht er hier »unter Vernunft das ganze obere Erkenntnisvermögen« (KrV B 863); Vernunft in diesem weiteren Sinne umfasst ganz summarisch alle spontan-rationalen Gemütskräfte, also »Verstand, Urteilskraft und Vernunft« (KrV B 169), welche vom »rezeptiv-empirischen Erkenntnisvermögen« 12 menschlicher Sinnlichkeit unterschieden werden. 10 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Erster Band, zweiter Teilband, Köln 1997, 622. 11 Vgl. Höffe, Otfried: Immanuel Kant. München 4 1996, 71 f. 12 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 170 f. Wie Hutter zeigt, ist diese Einteilung der Erkenntnisvermögen, wie Kant sie in der ersten Kritik zu intendieren scheint, mit Blick auf das kantische Gesamtwerk in gewisser Weise unterkomplex, da es Kants sich von der ersten zur dritten Kritik verändernde Position zum Verhältnis von Vernunft und Gefühl noch nicht reflektiert. (Vgl. ebf 170 ff.) Uns soll es an dieser Stelle jedoch
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Wo von der Vernunft im engeren Sinne die Rede ist, differenziert Kant hingegen auch sehr deutlich zwischen Vernunft, Urteilskraft und Verstand – und diese Unterscheidung ist gerade in normativ-ethischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Der »Verstand ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt.« (KrV B 137) Die Verstandestätigkeit des Menschen ist mithin – zumal in praktischer Perspektive – kein Vermögen, das eine Normativität unabhängig von konkreten Zwecksetzungen begründen könnte, da es immer eines Objekts bedarf, auf das eine gegebene Vorstellung bezogen werden kann. Die Form, in welcher sich die der menschlichen Verstandestätigkeit entspringende Normativität äußert, ist damit gerade diejenige des hypothetischen Imperativs, bei welchem das Gesollte ja auch immer in Abhängigkeit von einer bestimmten Zwecksetzung oder Interessenlage steht. Ein hypothetischer Imperativ ist damit genau genommen eigentlich eine menschliche Verstandesregel und entspringt der Vernunft nur im weiteren Sinne des Begriffs: »In der Tat ist für diesen nur der pragmatische Verstand, nicht die Vernunft zuständig, wenn es darum geht, die richtigen Mittel zur Erreichung eines beliebigen Zweckes zu finden und sie handelnd in geschickter Weise zu gebrauchen. Dem Verstand steht es aber nicht an, zu befehlen; er kann höchstens empfehlen und für erfolgreiches Handeln Ratschläge geben.« 13
Demgegenüber ist der kategorische Imperativ Ausdruck menschlicher Vernunfttätigkeit im engeren Sinne. Im Unterschied zum Verstand kann die Vernunft unmittelbar »praktisch sein, d. i. für sich, unabhängig von allem Empirischen den Willen bestimmen«. Ihr geht es nicht um die Erkenntnis von Gegenständen, sondern darum, Gegenstände »wirklich zu machen« (KpVA 65) und betrifft damit das »Vermögen […], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« (KpV A 16,
in erster Linie noch einmal darum gehen, an die Unterscheidung von Vernunft und Verstand erinnern, weswegen wir auf diese Entwicklung in Kants Philosophie hinweisen, ohne sie weiter auszuführen. 13 Kaulbach, Kants Grundlegung, 57. Kaulbach erläutert an dieser Stelle seines Buches auch die verschiedenen Formen hypothetischer Imperative, von deren genauerer Ausführung wir uns an dieser Stelle entlasten und auf die Darstellung Kaulbachs verweisen.
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FN). 14 Im engeren Verständnis einer »obersten Erkenntniskraft« (KrV B 355) wird die Vernunft vom Verstand also gerade unterschieden und so ist das eigentlich moralische Vermögen auch die praktische Vernunft – nicht der Verstand. Wenngleich der Verstand nicht – wie die Sinne – bloß rezeptiv verfährt und damit auch eine Form der Selbsttätigkeit darstellt, so bleibt er doch dabei stets an anschaulich Gegebenes gebunden und würde ohne Bezugnahme auf sinnliche Dati »gar nichts denken«. Demgegenüber ist die Vernunft »als reine Selbsttätigkeit […] noch über den Verstand erhoben« (GMS BA 107 f., kursiv R. T.), da sie den Menschen »weit über alles, was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht« (ebd.) und ihm damit eine Perspektive verschafft, welche über alle kontingenten Bedingungen seiner Sinnlichkeit hinausweist. 15 Die Allgemeingültigkeit der moralischen Gesetzgebung betrifft den Menschen also deshalb, weil er ein mit Vernunft begabtes Wesen ist und insofern Menschen sich als solche verstehen, werden sie vom praktischen Sittengesetz alle gleichermaßen adressiert: »Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.« (KpV A 56) Kants moralische Gesetzgebung will also gerade von allen subjektiven, kontingenten und empirisch bedingten Individualitäten konkreter Menschen abstrahieren und das vernünftige moralische Subjekt ansprechen, das in allen Menschen dasselbe ist. Moralität ist damit keine Eigenschaft der Menschheit, welche diese als Pluralität erfasst, sondern dem in der Pluralität der Menschen allen gemeinsamen vernünftigen Subjekt entspringt. Allgemeinheit im Sinne von Überindividualität wird damit zu einem zentralen Grundanliegen von Kants Ethik insgesamt, wie er es selbst schon in einem frühen Fragment aus seinem handschriftlichen Nachlass formuliert: »Der Wert der Handlung oder Person wird immer durch das Verhältnis zum Ganzen ausgemacht. Dieses ist aber nur durch Übereinstimmung mit den Bedingungen einer allgemeinen Regel möglich.« 16 Was die Allgemeinheit Vgl. Horkheimer, Max: Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932. Hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a. M. 1987, 87 f. 15 Vgl. Kaulbach, Kants Grundlegung, 137. 16 Kant, Immanuel, Handschriftlicher Nachlass, Fragment 6711, Zitiert nach Bittner, Rüdiger und Cramer, Konrad: Materialien zu Kants ›Kritik der praktischen 14
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der Regel angeht, so ist diese beim kategorischen Imperativ ungleich höher, spricht dieser doch alle vernunftbegabten Wesen gleichermaßen an, während alle hypothetischen Handlungsanweisungen, welche auf konkrete, sinnliche, materiale Zwecksetzungen abzielen, Allgemeinheit immer nur näherungsweise herstellen können; hier eine moralisch verbindliche Allgemeingültigkeit zu suchen wäre folglich immer »Anmaßung« (KpV A 31). Diese Verbindlichkeit des kategorischen Imperatives ist dem Menschen Kant zufolge eine unmittelbare Einsicht: »Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln.« (REL B 16, FN) Das Sittengesetz bedarf also keiner ausführlichen theoretischen oder diskursiven Herleitung, sein Anspruch an uns gilt Kant vielmehr als »Faktum der Vernunft«. 17
2.1.3. Einzelnes und Allgemeines: Moralität als Nötigung Die Subsumption eines Besonderen unter ein Allgemeines, unter eine allgemeine Regel der Vernunft, wird dabei zur Grundbewegung der kantischen Ethik. Jede Handlung, die als moralisch vertretbar gelten kann, ist für Kant ein (besonderer) Anwendungsfall einer (allgemeineren, generellen) persönlichen Handlungsmaxime, welche ihre ethische Vertretbarkeit aus der Konformität mit dem allgemeinen Sittengesetz ableitet. Wir haben es also mit einer Form praktischer Philosophie zu tun, deren Bewegungsrichtung vom Allgemeinen ausgeht und zum phänomenalen Einzelnen hin verläuft. Diese Grundrichtung kündigt Kant bereits als Programm in der Einleitung der Kritik der praktischen Vernunft an, wenn er schreibt, er wolle in seiner zweiten Kritik »von Grundsätzen anfangend zu Begriffen und von diesen allererst womöglich zu den Sinnen gehen« (KpV A 32). Vernunft‹, Frankfurt a. M. 1975, 78. Die Herausgeber haben die Orthographie offensichtlich bereinigt. Der Originaltext der Akademieausgabe lautet: »der werth der handlung oder persohn wird immer durch das verhaltnis zum ganzen ausgemacht. dieses ist aber nur durch übereinstimung mit den bedingungen einer allgemeinen regel moglich.« Kants handschriftlicher Nachlass wird im Folgenden – soweit nicht anders angegeben – nach der Akademieausgabe als N zitiert. 17 Vgl. Henrich, Dieter: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft. In: Prauss, Gerold: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln. Köln 1973, 223–254, 247 f.
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Diese Perspektive, in der »vom Allgemeinen zum Besonderen« 18 gegangen wird, ist – und hier liegt einer der zentralen Punkte, die Arendts Kritik auf sich ziehen werden, – charakteristisch für die Verfahrensweise der bestimmenden Urteilskraft, wie Kant sie in der dritten Kritik auseinandersetzen wird: »Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, […] bestimmend.« (KU B XXVI) Im moralischen Urteil wird unter das allgemeingültige moralische Gesetz ein Besonderes subsumiert. 19 Das Besondere besteht für Kant in einer Maxime, also dem subjektiven Handlungsprinzip oder der »Lebensregel« 20 , nach der ein Einzelner verfährt. In den Besitz des Allgemeinen, des vernünftigen Sittengesetzes ist der Mensch als Noumenon, als »Glied einer intelligiblen Welt« Kant, Immanuel: Logik. Werkausgabe Band VI, A 205. Aulke zufolge geht die Anwendung des praktischen Moralgesetzes darum mit einem bestimmenden Urteil einher: So »universalisiert es als logisch bestimmendes Urteil eine Handlungsabsicht nach dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit«. Aulke, Reinhard: Grundprobleme moralischer Erziehung in der Moderne: Locke, Rousseau, Kant. Leipzig 2000, 13. Logisch ist es dabei nicht nur deshalb, weil es in der Anwendung des kategorischen Imperativs stets darum geht, ob eine Handlungsmaxime widerspruchsfrei als allgemeines Gesetz denkbar und diese Überprüfung im Kern eine logische Operation ist. Logisch ist auch die innere Struktur des bestimmenden Urteils, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft darlegt: »Ein jedes bestimmende Urteil ist logisch, weil das Prädikat desselben ein gegebener objektiver Begriff ist.« (KU, Erste Fassung, 37) 20 Bittner, Rüdiger: Maximen. In: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses II. Berlin 1974, 485–498, 489. Wenngleich Bittners Begriff der Lebensregel als Explikation dessen, was bei Kant gemeint ist, verschiedentlich kritisiert worden ist, so illustrieren sie m. E. doch recht gut, dass es sich bei einer Maxime – wie Kant es formuliert – das »subjektive Prinzip des Wollens« handelt, dem als objektives Prinzip das praktische Gesetz entsprechen soll. Allison zufolge sind sie damit eine bestimmte »policy of action«: »When S-type situations, perform A-type actions.« Allison, Henry: Kants Theory of Freedom. Camebridge 1990, 89 f. Nehring macht unter Verweis auf verschiedenste Forschungen darauf aufmerksam, dass zur Maximenbildung, -prüfung und -befolgung bestimmende Urteilskraft allein durchaus nicht hinreichend und deshalb auch hier reflektierende Urteilskraft erforderlich ist. Vgl. Nehring, Robert: Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant. Berlin 2010, 142 ff.; ähnlich Recki, Birgit: ›An der Stelle [je]des andern denken‹. Über das kommunikative Element der Vernunft. In: Dies: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Paderborn 2006, 111–125, 118. Auch Volker Gerhardt bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die reflektierende Urteilskraft in Form des sensus communis aestheticus ein so ursprüngliches »Weltgefühl darstelle, dass man es als Hintegrund all unseres Urteilens – auch des praktischen – verstehen müsse. Vgl. Gerhardt, Immanuel Kant, 276. 18 19
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(GMS BA 111) oder, wie Kant es an anderer Stelle ausdrückt, als Bürger in einem idealen »Reich der Zwecke« (GMS BA 75); nur als solcher hat er »Zugang zur Welt der nicht natürlichen Gesetze« 21 . Als Phaenomenon, als Teil der Erscheinungswelt, wird er dieser vernünftigen, alle vernünftigen Wesen bindenden Gesetzgebung durch sein intelligibles Selbst unterworfen – auch wenn es ihn demütigt (vgl. KpV A 132). Kants Bild des Menschen ist darum immer wieder in dem Wort vom »Bürger zweier Welten« gefasst worden. 22 Während sich der phänomenale Mensch als Naturwesen der Heteronomie naturgesetzlicher Abläufe ausgesetzt sieht, erweist er sich als intelligibles Vernunftwesen dieser Heteronomie wirkender (Natur-)Ursachen gerade als enthoben. Diese Unabhängigkeit von der eigenen, naturgesetzlich determinierten Phänomenalität entlässt ihn jedoch keineswegs in einen Zustand absoluter Gesetzlosigkeit; eine solche, absolute Ungebundenheit wäre in Kants Perspektive vielmehr »ein Unding« (GMS BA 98). Daher ergibt sich hier die Situation, dass die vernünftige Gesetzmäßigkeit des Sittengesetzes von Kant aufgrund der als Selbsttätigkeit gedachten Vernunft zwar eine aus der eigenen Spontaneität fließende, selbstgegebene Normativität darstellt, dass diese vom phänomenalen Selbst aber keineswegs als solche empfunden wird: »Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist; das Verhältnis eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist Abhängigkeit, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine Nötigung, obzwar durch bloße Vernunft und deren objektives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die darum Pflicht heißt, weil eine pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus subjektiven Ursachen entspringt, Schweidler, Der gute Staat, 191. Kaulbach, Kants Grundlegung, 136. Kaulbach macht hier geltend, die Rede vom Bürger zweier Welten dürfe nicht zu der schlicht dualistischen Vorstellung führen, der Mensch sei im Sinne eines Sowohl-als-auch einerseits Natur- und andererseits Vernunftwesen. Vielmehr will er den Menschen gerade »als Über-gang von der einen Welt zur anderen« verstanden wissen. Vgl. ebd. Er folgt damit einem stärkeren Verständnis der Gegenüberstellung von mundus phaenomenon und mundus intelligibilis als z. B. Onora O’Neill, für welche sich die Rede von zwei Welten vollständig auf einzunehmende Standpunkte reduziert: »The metaphor of the intelligible world signals finitude, not the transcendance of human reason.« O’Neill, Onora: Reason and Autonomy in Grundlegung III. In: Höffe, Otfried (Hrsg.): Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a. M. 2010, 282–298, 293. 21 22
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daher auch dem reinen objektiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller Zwang genannt werden kann, als moralischer Nötigung bedarf.« (KpV A 57)
Dass das Sittengesetz überhaupt als Imperativ formuliert werden muss, hat also mit der Doppelnatur des Menschen zu tun. Einer solchen imperativischen Formulierung bedarf der Mensch nur als auch phänomenales Wesen. Wir waren diesem Umstand bereits begegnet, als wir uns die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen verdeutlichten. Erinnern wir uns: »Wären wir rein intelligible Wesen, brauchten wir uns nicht im Denken zu orientieren. Wir wären schon orientiert.« 23 In praktischer Perspektive heißt das, dass wir als rein intelligible Wesen auch keiner moralischen Vorschriften bedürfen würden, da unser Handeln bereits den Ansprüchen des Sittengesetzes genügen würde. Wo der Mensch als auch sinnliches Wesen moralischer Normativität ausgesetzt ist, wären die diese Normativität ausdrückenden Sätze für das intelligible Wesen deskriptiver Natur; sein Handeln entspräche ihnen, ohne dass die Sätze Gebotscharakter hätten. 24 Aus der Perspektive des Menschen als einem Phaenomenon stellt sich die Sache freilich ganz anders dar: Da unsere Willkür stets durch Wünsche und Interessen »pathologisch affiziert« wird, steht der Verwirklichung des moralischen Anspruchs die individuell-kontingente Phänomenalität des Menschen als Widerstand entgegen. Und als phänomenalem Wesen ist dem Menschen die Realisierung dessen, was ihm das allgemeine Moralgesetz als Pflicht vorschreibt, nicht zwangsläufig angenehm: »Die Handlung, die nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung, objektiv praktisch ist, heißt Pflicht, welche um
Dietz, Sich im Denken orientieren, 9. Wie Kants handschriftlicher Nachlass zeigt, ist dieser Zug für sein ethisches Denken so grundlegend, dass wir ihn schon recht früh, vermutlich bereits 1769–1770 angelegt finden können: »Der Mensch muß moralisch gezwungen werden und tut das Gute ungern, nicht weil er böse Neigungen hat, sondern weil er überhaupt Neigungen hat, die nicht völlig unter seiner Gewalt stehen. Würde man in sich nach Belieben Neigungen der Wühlfahrt hervorbringen können, so würde jeder Mensch heilig sein.« (N 6665) Damit finden wir an dieser Stelle auch Dieter Henrichs frühe These bestätigt, dass die Ethik des kritischen Kant auf einen Plan zurückgehe, welchen dieser bereits in den sechziger Jahren getroffen habe. Vgl. Henrich, Dieter: Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion. Kant Studien 54/1963, 404–431, 404 ff.
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dieser Ausschließung willen in ihrem Begriffe praktische Nötigung, d. i. Bestimmung zu Handlungen, so ungerne wie sie auch geschehen mögen, enthält.« (KpV A 142)
Dass das Gute für die Menschen als Imperativ formuliert werden muss, liegt also daran, dass ihnen die Realisierung dieses Guten durchaus unangenehm sein kann und sie es nicht zwangsläufig gerne tun. Damit dasjenige, was die Moral als Pflicht von allen vernünftigen Wesen fordert, zum Anspruch des phänomenalen Einzelnen wird, bedarf es der Form des Imperativs, welcher allgemeine und partikulare Perspektive aufeinander bezieht. »Der Imperativ macht das objektiv notwendige Gesetz auch zur subjektiven Notwendigkeit.« 25 Allerdings geschieht dies in einer Form, welche vom Einzelnen als Nötigung erfahren wird: »Für Menschen und alle erschaffenen Wesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d. i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründete Handlung Pflicht, nicht aber als eine von uns selbst schon beliebte oder beliebt werden könnende Verfahrungsart vorzustellen.« (KpV A 145)
Die für Kants Ethik so zentrale Pflicht ist also etwas, was die Menschen als phänomenale, sich voneinander unterscheidende Sinneswesen erfüllen sollen, ohne dass sie aus ihrer Perspektive als Wesen der Erscheinungswelt eine unmittelbare Neigung dazu verspüren würden – vielmehr müssen sie zur Erfüllung ihrer Pflicht von ihrem intelligiblen Selbst sogar genötigt werden. Ganz besonders prägnant formuliert Kant diesen Umstand in einer Reflexion seines Nachlasses: »Der Mensch muß moralisch gezwungen werden und tut das Gute ungern, nicht weil er böse Neigungen, sondern weil er überhaupt Neigungen hat« (N 6665). Wie jedoch kann sich ein Wesen unter solchen Bedingungen der Nötigung als frei verstehen?
2.1.4. Freiheit als Unabhängigkeit Um dies einsehen zu können, muss darauf hingewiesen werden, dass in Kants Philosophie durchaus unterschiedliche, sich meist ergänzende, aber teilweise auch schwierig zu vereinbarende Bestimmungen von Freiheit auftauchen. Dies macht die Beschäftigung mit Kants Freiheitsbegriff kompliziert; zumal nicht nur die Terminologie der 25
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Werke untereinander divergiert, sondern auch innerhalb sowohl der ersten 26 als auch in der zweiten 27 Kritik verschiedene Definitionen von Freiheit und mit ihr in Verbindung stehender Begriffe auftauchen. Wir wollen uns daher auf die historisch sicher unterkomplexe und wenngleich etwas schematische, so doch für unsere Zwecke hinreichende Unterscheidung einer negativen und einer positiven Perspektive auf die Freiheit beschränken. Mit der Gegenüberstellung von positiver und negativer Freiheit greift Kant auf eine Unterscheidung zurück, deren Diskussion der Struktur nach auch aus der politischen Philosophie durchaus geläufig ist, im Kontext der kantischen Ethik jedoch der Reflexion des Determinismusproblems geschuldet ist. 28 Beginnen wir mit dem Blick auf Kants negative Definition der Freiheit, so können wir zunächst feststellen, dass dieser Blick auf das Problem menschlicher Freiheit auch in der politischen Philosophie Kants bzw. in seiner Rechtsphilosophie durchaus nicht ohne Bedeutung ist. In der politischen Sphäre versteht Kant unter Freiheit nämlich ein »jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende[s] Recht«. Dieses besteht darin, dass die »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür« für jedermann so lange gewährleistet bleiben solle, wie sie »mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.« (MdS AB 45, kursiv R. T.) Das zentrale Moment der Freiheit ist hier also zunächst dasjenige einer Unabhängigkeit; Freiheit wird in politischer Hinsicht verstanden als eine Freiheit-von, weniger als eine Freiheit-zu etwas. In Bezug auf die Freiheit schreibt Dieter Schönecker, »daß Kant innerhalb seines Hauptwerkes zwei verschiedene und sogar widersprüchliche Theorien propagiert. Genau dies scheint aber der Fall zu sein.« Auch in seiner akribischen Studie zum Problem erweisen sich die Spannungen zwischen den Gebrauchsweisen verschiedener Freiheitsbegriffe letztlich als nur teilweise auflösbar. Schönecker, Dieter: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie. Berlin 2005, 1. 27 »In der Kritik kommen zwei verschiedene, aber nicht ausdrücklich unterschiedene Auffassungen vom Willen und von der Willensfreiheit zusammen.« Beck, Lewis White: Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹. München 1995, 170. 28 Vgl. Horn, Christoph, Mieth, Corinna und Scarano, Nico: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kommentar. Frankfurt a. M. 2007, 268 f. Die Autoren machen hier die strukturelle Nähe zu der von Benjamin Constant herkommenden Unterscheidung zwischen einer »Freiheit der Alten« und einer »Freiheit der Modernen«, wobei die zweitere sich im Gegensatz zu den (positiven) antiken Werten und Freiheiten des öffentlichen Lebens auf das Verständnis (negativer) moderner Schutz- und Abwehrrechte verengt habe. 26
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Auch in der Ethik, die bei Kant ja in vielerlei Hinsicht ihre Sprache der politisch-rechtlichen Sphäre entlehnt, bestimmt dieser negierende Blickwinkel zunächst die Herangehensweise an das Problem der Freiheit: »Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden.« (GMS BA 97, kursiv R. T.)
Auch hier tritt an der Freiheit also zunächst das Moment der Unabhängigkeit hervor. Während der Handelnde in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten in seinem Handeln als frei verstanden wird, wo eine Unabhängigkeit von willkürlicher Einflussnahme anderer gewährleistet ist, so liegt der Ursprung der die menschliche Freiheit gefährdenden Einflussnahme in der Ethik nicht in erster Linie bei den Mitmenschen, sondern im Naturzusammenhang. »Kant steht daher unter dem Anspruch, darlegen zu müssen, dass wir als Akteure nicht vollständig durch naturale Determinanten bestimmt sind, sondern auch aus reiner praktischer Vernunft zu handeln vermögen.« 29 Erst wenn ausgeschlossen ist, dass sich unser Handeln auf eine Wirkung natürlicher Ursachen wie Triebe und Leidenschaften reduzieren lässt, kann davon gesprochen werden, dass dieses nicht nur äußerlich mit dem vom Sittengesetz als Pflicht vorgeschriebenen Verhalten übereinstimmt, sondern es darüber hinaus auch möglich ist, dass unser Wollen von der praktischen Vernunft bestimmt wird. Dies hat Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit zur notwendigen Vorbedingung: »Ein Wille oder eine Willkür, die einem solchen Gesetz gehorchen kann, muß unabhängig vom Naturmechanismus sein.« 30 In der zweiten Kritik wird diese negative Bestimmung der Freiheit von Kant noch weiter präzisiert und in den Rahmen seiner theoretischen Philosophie eingeordnet, wenn Kant über den Willen schreibt: »so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität […] gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande.« (KpV A 51 f.) Kant bezieht sich hier auf die »transzendentale« Freiheit, deren 29 30
Horn/Mieth/Scarano, Kommentar, 268. Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, 171.
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Möglichkeit er im Rahmen der sogenannten 3. Antinomie in seiner ersten Kritik diskutiert hatte. 31 Da dieses Dilemma zwischen Determinismus und Indeterminismus keiner rein theoretischen Lösung zugänglich gewesen war, verlangte das Freiheitsproblem einen praktischen Ausweg. 32 Und so wird das grundsätzliche theoretische Problem konkurrierender Kausalitäten in eine praktische Diskussion des Freiheitsproblems gewendet: Auf die »transzendentale Idee der Freiheit« gründet sich für Kant nun »der praktische Begriff derselben«. (KrV B651/A 533) Diese »Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«, wobei Kant davon ausgeht, dass »dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen.« (KrV B562/A534) Wenngleich der Gebrauch der Begriffe »transzendentale Freiheit« und »praktische Freiheit« in der ersten Kritik alles andere als unproblematisch ist, 33 so kann es doch insgesamt als unstrittig gelten, dass der Gedanke der Unabhängigkeit als Grundzug der Freiheit für Kant keineswegs nur eine rein theoretische Überlegung ist, sondern der Freiheitsbegriff für Kant gerade in seiner Perspektive auf den praktischen Gebrauch der Vernunft »den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus [macht]«. (KpV A 4) An diesen Passagen der ersten Kritik wird zudem zweierlei klar: Zum einen ist der strukturelle Gehalt von Unabhängigkeit bei Kant mit dem Begriff der Freiheit untrennbar verbunden; dies zeigt Vgl. Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, 179. Gerhardt, Volker: Immanuel Kant. Vernunft und Leben. Stuttgart 2002, 196. vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft, 127. 33 Kants Gebrauch des Begriffs der praktischen Freiheit weicht in den verschiedenen Teilen der ersten Kritik so eklatant voneinander ab, »daß man kaum glauben mag, hier sei nur ein Autor am Werk gewesen.« (Schönecker, Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, 1.) Während die praktische Vernunft im Rahmen der Dritten Antinomie als auf dem Begriff der transzendentalen Freiheit »gründe[nde]« (KrV B651/A 533) Idee von den Naturursachen unterschieden wird, welche damit auch keiner empirischen Beweisführung zugänglich ist, scheint im Kanon der reinen Vernunft das Gegenteil richtig zu sein: Die praktische Vernunft wird dargestellt als »eine von den Naturursachen« (KrV B831/A803), welche zudem »durch Erfahrung bewiesen werden« (B830/A802) und daher mit der transzendentalen Freiheit gar nichts zu tun haben könne. (Vgl. Schönecker, Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit, 3 ff.) Mit diesem »Kanonproblem« gibt Kant in der ersten Kritik Rätsel auf, die nur schwierig und im Rahmen dieser Arbeit nicht zu lösen sind, weshalb hier auf die detaillierte Studie Schöneckers verwiesen werden muss und kann. 31 32
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sich, wie wir hier nur an einigen prominenten Stellen skizzieren konnten, durch die gesamten kritischen Schriften Kants hindurch. Zum anderen ist sich Kant aber darüber im Klaren, dass eine solche rein negative Bestimmung der Freiheit völlig unzureichend ist, wenn dieser nicht das Verständnis von Freiheit als einem positiven Vermögen »eigener und eigentümlicher Gesetzmäßigkeit« zur Seite gestellt wird. 34 Deshalb erschöpft sich Kants Begriff der transzendentalen Freiheit nicht in der Bestimmung als Unabhängigkeit; vielmehr will er diese gerade verstehen als eine »absolute Spontaneität der Ursachen« (KrV B474/A446). Auf dieser beruht letztlich erst die Möglichkeit der praktischen Freiheit, ohne welche es keine Zurechenbarkeit von Handlungen auf vernünftige Subjekte geben könnte, da die Ursachen dieser Handlungen im Naturzusammenhang zu suchen wären. 35 Dieser Umstand wird auch in der Grundlegung deutlich, wenn Kant zur Bestimmung der Freiheit als Unabhängigkeit bemerkt: »Die angeführte Erklärung der Freiheit ist negativ, und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar […].« (GMS BA 97) Die negative Definition der Freiheit lässt uns letztlich nur erkennen, was Freiheit nicht ist, nämlich keine »Heteronomie der wirkenden Ursachen« (GMS BA 97), also keine Fremdbestimmung durch die Kausalität der Natur. Was Freiheit an und für sich – positiv – ist, konnte auf diesem Wege noch nicht klar werden, auch wenn die negative Bestimmung gegeben sein muss, damit der Blick auf die positive Bestimmung frei werden kann: »Die Freiheit des empirischen Charakters ist zunächst nur negativ zu verstehen, d. h. er ist nicht durch den Naturablauf bedingt. Die Freiheit des intelligiblen Charakters hingegen ist positiv, denn sie läßt eine Ereignisreihe in der Welt entspringen.« 36
2.1.5. Freiheit als Vermögen Nachdem also in der Grundlegung zu Beginn ihres dritten Abschnitts die Freiheit begrifflich der Naturnotwendigkeit gegenübergestellt Prauss, Gerold: Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt a. M. 1983, 62 f. Vgl. Kreimendahl, Lothar: Die Antinomie der reinen Vernunft, 1. und 2. Abschnitt (A405/B432–A461/B489). In: Mohr, Georg und Willaschek, Marcus (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Berlin 1998, 413–446, 434. 36 Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, 181. 34 35
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worden ist und Kant problematisiert hatte, dass sich der volle Bedeutungsgehalt des Begriffs durch eine negative Erklärung nicht erschließt, stellt er fest: »allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist.« (GMS BA 97) Dass aus der negativen eine positive Bestimmung »fließt«, hat damit zu tun, dass sowohl die in der negativen Bestimmung negierte Naturnotwendigkeit als auch die als Eigenschaft des Willens bestimmte Freiheit mit dem Begriff der Kausalität verbunden werden – die Naturnotwendigkeit als Kausalität vernunftloser, der Wille als Kausalität vernünftiger Wesen. Diese Vorstellung von »zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht« (KrV B560/A 532), war ja auch in der ersten Kritik schon Ausgangspunkt der dritten Antinome gewesen. Und da »der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt«, kann auch ein freier Wille nicht völlig gesetzlos agieren, »sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein« (GMS BA 98). Wir hatten schon gesehen, dass für Kant alles andere ein »Unding« wäre – und in der Tat trifft es ja zu, dass der Begriff der Kausalität auf den Kopf gestellt würde, wo sich das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht mit Gesetzen beschreiben ließe. 37 Für Kant ist daher »Freiheit von den Naturgesetzen, die gleichwohl als Kausalität verstanden wird, […] Freiheit nach selbstgegebenen Vernunftgesetzen.« 38 Dennoch kann man mit Recht fragen, ob Kant hier nicht seinerseits das Konzept der Freiheit auf den Kopf stellt: In der analogen Konstruktion von Naturkausalität und Kausalität durch Gesetze der Vernunft muss es durchaus nicht von selbst überzeugen, dass Konformität zu den eigenen, individuellen Leidenschaften Heteronomie und Konformität mit der universellen Vernunft Autonomie ist – und nicht andersherum. Wir hatten ja bereits gesehen, dass die Forderungen der Pflicht dem empirischen Menschen durchaus in Form einer Nötigung entgegentraten. Die Frage: »Why is not conformity to reason […] just another mode of heteronomy?« 39 erscheint daher durchaus berechtigt. Hier ist einerseits noch einmal auf die Kontingenz von Leidenschaften zu verweisen, welche diese in Kants Perspektive nicht nur moralisch unzuverlässig erscheinen lassen, sondern deren Zufällig37 38 39
Vgl. KrV B567 f./A539 f., ähnlich Hutter, Das Interesse der Vernunft, 127. Horn/Mieth/Scarano, Kommentar, 270. O’Neill, Reason and Autonomy, 285.
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keit es auch nicht erlaubt, sie als Basis von selbstbestimmtem Handeln zu verstehen: »Desires come and go, are contingent and naturally caused. Only while a desire (or other alien cause) lasts, does it affect deliberations. To speak of desires as alien is just to stress this contingency. Reason, by contrast, depends on nothing separable from an agent.« 40
Selbstbestimmung meint offensichtlich etwas Stetigeres als Verursachung von Handlungen durch die Leidenschaft, deren Unberechenbarkeit sich der Mensch als sinnliches Wesen ausgeliefert sieht. Darüber hinaus ist es jedoch vor allem erforderlich, sich den Autonomiecharakter von Kants Freiheitsbegriff vor Augen zu führen: Die Vernunft »muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille derselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.« (GMS BA 101)
Entscheidend ist also, dass die Vernunft die Urheberin ihrer eigenen Gesetze ist; nur vernünftige Gesetzgebung garantiert eigene Gesetze in dem Sinne, dass der Handelnde sich selbst als Autor seiner eigenen Handlungen verstehen kann. Darum ist nur auf diese Weise der Wille ein »eigener Wille«; nur für den, der unter den Gesetzen der Vernunft handelt, gilt, dass »der Wille […] in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz« (GMS BA 98) ist. Kant argumentiert hier also nicht für Vernunft und in der Folge für Autonomie, sondern von der Autonomie aus für Vernunft. 41 Und die Wahl zwischen Vernunft und Leidenschaften erweist sich daher tatsächlich als eine Wahl zwischen Autonomie und Sklaverei, wie auch die Orientierungsschrift sehr prägnant formuliert. Kant plädiert auch hier für »die Unterwerfung der Vernunft unter keine andere Gesetze, als: die sie sich selbst gibt«, da die Alternative in einem Zustand der Gesetzlosigkeit bestehe: »Die Folge davon ist natürlicherweise diese, daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht unterworfen sein will, das sie sich selbst gibt, sie sich unter das Joch der Gesetze beugen muß, die ihr ein anderer gibt; denn ohne irgendein
40 41
O’Neill, Reason and Autonomy, 297. Vgl. O’Neill, Reason and Autonomy, 289.
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Gesetz kann gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn, sein Spiel lange treiben.« (SiDo A 326)
Offensichtlich ist nur die Vernunft in der Lage, Gesetze zu liefern, welche Selbstbestimmung gewährleisten; nur hier findet Kant die Stetigkeit, welcher es für eine eigene, der Naturgesetzmäßigkeit entgegengesetzten Gesetzgebung bedarf. Und nur auf diese Weise lässt sich der positive Gehalt des Freiheitsbegriffes einsehen, welche die Freiheit als ein Vermögen erkennbar werden lässt. 42 Mit praktizierter Freiheit geht eine Überschreitung der Schwelle zwischen intelligibler und sensibler Welt einher. 43 Damit greift die transzendentale Freiheit über den Bereich hinaus, welcher empirischer Erfahrung zugänglich ist und insofern geht auch der Begriff der transzendentalen Freiheit immer schon über denjenigen der negativen Freiheit hinaus: Gäbe es nichts Positives, was als Resultat eines intendierten Rückgriffs auf das Noumenale hinter dem Phänomenalen verstanden werden könnte, so wäre die Freiheit nicht als transzendental, sondern einfach nur negativ, also in Abgrenzung von dem zu bestimmen, was sie nicht ist: »Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein), sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen«. (KrV B 581 f./A554 f.)
Im Begriff der transzendentalen Freiheit schwingt der positive Aspekt also stets schon mit; dies war auch in der Bestimmung als »absolute Spontaneität« (KrV B474/A446) bereits deutlich geworden. Die »Begebenheiten« bestimmt Kant noch näher als »Wirkungen in der Sinnenwelt« (KrV B 569/A541) oder »eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen« (KrV B476/A448) sowie als »eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft« (KrV B 474/A446), welche der Mensch vermittels seiner Freiheit »von selbst anzufangen« im Stande ist. War uns die transzendentale Freiheit im vorigen Abschnitt besonders unter ihrem Aspekt der Unabhängigkeit begegnet, so zeigt sich hier, dass im Begriff »transzendentale Freiheit« der negative und der positive Aspekt der Freiheit immer schon zusammengedacht sind. Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft, 128 f., Prauss, Freiheit als Autonomie, 63. 43 Vgl. Kaulbach, Kants Grundlegung, 136. 42
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Kant bestimmt den Begriff transzendental als »über die Erfahrungsgrenze hinausreichend […]« (KrV B532 f./A296) oder auch als »sinnenfrey« (N 6348). Wo der Begriff in theoretischer Perspektive die Erkenntnis von der Möglichkeit des Apriorischen auf die Erfahrung meint, geht es dem Begriff der transzendentalen Freiheit offenkundig um die Bedingung der Möglichkeit des Praktisch-Werdens von Vernunft – und dieses Praktisch-Werden von Vernunft ist mit Freiheit als Autonomie gleichbedeutend. Die »transzendentale Idee der Freiheit« akzentuiert also gerade den intelligiblen Charakter des Menschen, welcher von der bewussten Selbsterfahrung als handelndes Wesen nicht getrennt werden kann und ihm in dieser zugänglich ist. 44 Um diese transzendentale Freiheit handlungswirksam werden zu lassen, ist Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit zwar die notwendige Bedingung, das Praktisch-werden von Vernunft jedoch das Entscheidende. Der Wille erweist sich dabei gewissermaßen als Instanz zur »Ableitung der Handlungen von Gesetzen der Vernunft« (GMS BA 36) und insofern »sind der Wille und die praktische Vernunft identisch« 45 ; daher spricht Kant sogar davon, der Wille sei »nichts anders, als praktische Vernunft.« (GMS BA 36) Weil der Mensch mit einem Willen ausgestattet ist, erweist er sich als »causa noumenon« (KpV A 97), also als ein Wesen, dessen Handlungen ihre Ursache außerhalb des mundus sensibilis haben. Damit sind die Bedingungen der Möglichkeit freien Handelns als sinnenfrei zu beschreiben und die Freiheit ist in diesem Sinne transzendental. (Vgl. N 6348) Neben dem transzendentalen Begriff der Freiheit findet sich in der Kritik der reinen Vernunft die berühmte Definition der kosmologischen Freiheit: »Dagegen verstehe ich unter Freiheit, im kosmologischen Verstande, das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (KrV B 561). Da die Bestimmungen einander zunächst zum Verwechseln ähnlich sehen, lohnt sich ein Blick in die Prolegomena, um zu verstehen, was Kant unter einer »kosmologischen Idee« eigentlich versteht: »Ich nenne diese Idee deswegen kosmologisch, weil ihr Objekt jederzeit nur in der Sinnenwelt nimmt, auch keine andere als die, deren Gegenstand ein Objekt der Sinne ist, braucht, mithin so fern einheimisch und nicht transzendent, folglich bis dahin noch keine Idee ist.« 44 45
Vgl. Gerhardt, Immanuel Kant, 198. Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, 170.
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(Prol. A 142) Auch für eine kosmologische Idee gelte zwar, dass eine Erfahrung ihr niemals »gleichkommen« kann; auch sie ist der Erfahrung also letztlich nicht zugänglich; sie »ist also in Ansehung dieses Punkts immer eine Idee, deren Gegenstand niemals adäquat in irgend einer Erfahrung gegeben werden kann.« (Prol. A 143) Hatte der Begriff der transzendentalen Freiheit noch eher die Bedingung der Möglichkeit einer nicht-empirischen Handlungsverursachung im Blick gehabt, so schaut der Begriff der »Freiheit im kosmologischen Verstande« gewissermaßen von der Sinnenwelt her auf das Phänomen der Freiheit; diese nimmt »ihr Objekt jederzeit nur in der Sinnenwelt« und beschränkt sich daher gleichsam auf den positiven »Output« der Freiheit, nämlich das Setzen eines Anfangs in der Sinnenwelt. »Kosmologisch« heißt die kosmologische Freiheit außerdem, weil auch sie wie die Naturnotwendigkeit nach Gesetzen geordnet verfährt. 46 Sie stellt damit die diesseitige, in der Erscheinungswelt zu verortende, aber dennoch freiheitliche Alternative zur Notwendigkeit der Naturordnung in den Mittelpunkt. In dieser Perspektive vermag der Begriff der »Freiheit im kosmologischen Verstande« in besonderer Weise zu explizieren, worin das »Vermögen« der Freiheit besteht, nämlich in der »reine[n] Spontaneität des Selbstanfangs.« 47
2.2. Arendts Kritik an Kants Ethik Arendt sprach nicht gern von »Moral« oder »Ethik«. 48 Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich ihr Denken meist stärker auf die untersuchten Phänomene richtete als auf die Verfahrensweise, mit der die Annäherung an diese Phänomene zu Wege gebracht werden Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft, 129. Hutter, Das Interesse der Vernunft, 128. 48 Man kann diese kritische Haltung gegenüber der Moralphilosophie durchaus als ein Missverständnis ansehen, wie Heiner Hastedt es tut: »[A]n expliziter Moralphilosophie ist Arendt nicht sonderlich interessiert, weil sie einen allzu engen Moralbegriff unterstellt und deshalb übersieht, inwiefern sie selbst an einer Ethik der Politik arbeitet […].« Hastedt, Heiner: Philosophische Ethik und Orientierung in der Moderne. In: Dietz, Sich im Denken orientieren, 156–171, 169. Eva von Redecker hat in jüngerer Zeit die ethischen Implikationen von Arendts Denken herausgestellt: Redecker, Eva von: Gravitation zum Guten. Hannah Arendts Moralphilosophie. Berlin 2013. 46 47
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sollte. »Arendt wendet Theorie an, sich ihr aber selten zu« 49 . Und für die Frage nach dem Guten oder Erscheinungsweisen des Bösen schienen ihr die Begriffe Moral und Ethik nur sehr bedingt geeignet, um den gemeinten Gegenstandsbereich angemessen zu markieren: »Daß gewöhnlich Fragen von Gut und Böse in Vorlesungen über ›Moral‹ oder ›Ethik‹ behandelt werden, das zeigt wohl, wie wenig wir über sie wissen, denn das Wort ›Moral‹ kommt von ›mores‹, und ›Ethik‹ kommt von ›ēthos‹, dem lateinischen bzw. griechischen Wort für Sitte und Gewohnheit […].« (D 15)
Sowohl Moral als auch Ethik können damit verstanden werden als ein System von Regeln und Gesetzen, deren Gültigkeit auch auf einem Mindestmaß an historisch-kultureller Verwurzelung sowie rechtlichinstitutioneller Implementierung beruhen muss, damit die Bindekraft des Normensystems intakt bleibt. Dass ein Gemeinwesen, das nur durch die bindende Kraft der Moral zusammengehalten wird, auf recht tönernen Füßen steht, hatte Montesquieu zu Arendts Erstaunen bereits im 18. Jahrhundert erkannt. (vgl. VuP 118 f.) »Sitten und Traditionen funktionieren […] nur, solange die Tradition noch gegenwärtig ist.« 50 Dieser Zusammenhang jedoch konnte Arendt zufolge nach dem Traditionsbruch nicht mehr als intakt und unversehrt gelten; die Verbindlichkeit der Inhalte ethischer Normsysteme war für Arendt durch das Zeitalter des Totalitarismus radikal in Frage gestellt worden – und diese Erfahrung des moralischen Verfalls während der NS-Zeit hielt sie auch dem kantischen Pflichtbegriff entgegen 51 : »Es war, als ob die Moral sich just in diesem Augenblick ihres Zusammenbruchs innerhalb einer alten, hoch zivilisierten Nation unverhüllt in ihrer ursprünglichen Bedeutung offenbarte, nämlich als Kodex ethischer Normen, Sitten und Gebräuche, dessen vollständiger Austausch genau so wenig Probleme bereiten sollte, wie der Wandel in den Tischsitten eines Volkes.« 52
Ethik als ein abstraktes System von Normen oder gar im Sinne moralischer Leitsätze oder Kodices waren Arendt also schon deshalb suspekt, weil die Existenz solcher Normensysteme de facto – unabhängig von Komplexitätsgrad und Stringenz der jeweiligen MoralBajohr, Hannes: Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt. Berlin 2011, 82. 50 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 173. 51 Vgl. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 198 f. Meints: »Moral kann ein politisches Gemeinwesen nicht stabilisieren.« Ebd. 52 Arendt, Hannah: Was heißt persönliche Verantwortung unter einer Diktatur? In: Dies: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, Berlin 1989, 81–97, 92. 49
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begründung – den Geschehnissen von Totalitarismus und Holocaust ganz offensichtlich wenig entgegenzusetzen hatte. Arendt konstatierte hier mit unverhohlenem Unverständnis und recht trocken, dass »unsere große Tradition so merkwürdig schweigsam blieb, so offensichtlich bar jeder schöpferischen Antwort, als ›moralische‹ und politische Fragen sie herausgefordert haben.« (VuP 120) Dass Arendt Kants Ethik im Kern ablehnte, hängt darüber hinaus jedoch ganz wesentlich mit ihrem Freiheitsbegriff zusammen, dessen Grundzüge sie erstmals in ihrem Text »Freiheit und Politik« von 1958 systematisch in einem eigenen Text ausformuliert. Es geht ihr hier um ein Verständnis von Freiheit, das sie im Anschluss an Montesquieu als politischen Freiheitsbegriff einem philosophischen Freiheitsbegriff gegenüberstellt. Schon acht Jahre zuvor hatte Arendt in ihrem Entwurf für eine Einleitung in die Politik ihre berühmt gewordene Formel von der Freiheit als dem »Sinn von Politik« (WiP 28) geprägt, die sie an dieser Stelle wieder aufnimmt und weiter entfaltet. Auch an anderer Stelle spricht sie davon, Freiheit sei »tatsächlich der Grund, warum Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben« 53 . Wie wir sehen werden, ist sie sich dabei durchaus der Tatsache bewusst, dass ihre »Begriffe von Freiheit und von Politik im Widerspruch stehen zu den Gesellschaftstheorien der Moderne« (FuP 210) und sie damit an dieser Stelle ein weiteres Mal quer steht zur philosophischen Tradition. Freiheit und Politik bedingen und implizieren sich für Arendt gegenseitig: »Im Sinne einer nachweisbaren Realität fallen Politik und Freiheit zusammen, sie verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten der nämlichen Sache.« (FuP 202) Es mag an dieser Stelle bereits der Hinweis gestattet sein, dass dieser Text von 1958 auf einen Vortrag zurückgeht, welchen Arendt im Rahmen eines Vortragszyklus über »Erziehung zur Freiheit« an der Universität Zürich gehalten hatte 54 und dass sie damit einige ihrer zentralen Gedanken zum Begriff der Freiheit ursprünglich im Kontext erziehungs- und bildungstheoretischer Zusammenhänge entwickelte – was uns Anlass zu der Vermutung geben kann, dass auch Arendt selbst sich des bildungsphilosophischen Potentials dieser Gedanken in der Sache durchaus bewusst war. 55 Arendt, Hannah: Revolution und Freiheit. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 227–251, im Folgenden zitiert als RuF, hier 231. 54 Vgl. Arendt, Ich will verstehen, 290. 55 Auch die unter dem Titel »Was ist Politik« herausgegebenen Texte folgen insofern 53
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Auch in diesem Text ist sie sich des oben bereits skizzierten, starken Gegensatzes zwischen Öffentlichem und Privatem durchaus bewusst. Freiheit bleibt für sie daher so grundsätzlich im Handeln der politischen Sphäre verortet und deshalb sind auch hier keine direkten Einlassungen zum Thema einer Erziehung zur Freiheit zu erwarten, wie unsere Analyse im ersten Teil dieser Arbeit sie als uneingelöste Implikation und Desiderat ihres Erziehungsdenkens aufgewiesen hatte. 56 Es wird daher an uns liegen, diese Implikationen aufzuweisen und das bildungsphilosophische Potenzial ihres Freiheitsdenkens zu heben. Arendt selbst geht vielmehr davon aus, dass »Freiheit […] nur sehr selten – in Revolutions- und Krisenzeiten – zum direkten Zweck politischen Handelns wird« (FuP 201) und schon daher nicht direkter Gegenstand von Erziehungs- und Bildungsprozessen werden kann. Ihre Intention liegt eher darin aufzuweisen, inwiefern in der philosophischen Tradition der Neuzeit antike griechische und genuin politische Freiheitserfahrungen vergessen und verschüttet wurden. Diese sollen wieder freigelegt und für politisches Denken erschlossen werden.
2.2.1. Freiheit als Initialität Unser Anliegen soll es an dieser Stelle zunächst sein aufzuzeigen, inwiefern sie an den oben skizzierten Gedanken der kantischen Ethik anschließt, um sich auch hier – ausgehend von einem zentralen Begriff Kants – von dessen Denken schließlich unüberbrückbar zu entfernen. Beginnen wir also mit den Anknüpfungspunkten an Kant und kommen dann zu der einsetzenden Entfernungsbewegung. Wir erinnern uns:
einem didaktischen Anliegen, als sie keine eigenständige wissenschaftliche Veröffentlichung darstellen, sondern als Lehrbuch über Politik geplant waren. 56 Arendt war in ihrem Erziehungstext davon ausgegangen, dass politisches Handeln eine Tätigkeit der politischen Welt der Erwachsenen ist und damit in der privat-gesellschaftlichen Bereich von Schule und Erziehung keine Wirklichkeit haben kann. Wie Erziehung bei einer derartigen scharfen Trennung vom Politischen jedoch auf eine solche Fähigkeit des Handelns vorbereiten kann, wie also Erziehung zur Freiheit möglich sein soll, war dabei unbefriedigenderweise im Dunkeln geblieben. (Vgl. Kap. B.1.1.2.)
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»Initium ut esset, creatus est homo – ›damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‹, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität wird garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.« (EU 979)
Mit diesen an Augustin anschließenden Gedanken hatte Arendt ihre Totalitarismusanalyse beschlossen. Nachdem ihre Untersuchung gezeigt hatte, wie der Totalitarismus die uns bekannte Welt an ein Ende zu bringen drohte, sollte die hoffnungsvolle Vorstellung einer Chance auf Neuanfang durch den Menschen das Buch beenden – ohne hier jedoch selbst ausgeführt zu werden. 57 In Freiheit und Politik wird dieser Gedanke des Anfangens noch weiter, nämlich bis in die griechisch-römische Antike zurückverfolgt. Dabei wird deutlich, dass im Griechischen wie im Lateinischen jeweils zwei Worte für Handeln existieren, von denen das eine jeweils stärker das Einsetzen einer neuen Handlung akzentuiert (αρχειν bzw. agere) und das andere den bereits in Gang gesetzten, andauernden Handlungsprozess beschreibt (πραττειν bzw. gerere). »In beiden Fällen fängt das Handeln damit an, daß ein Anfang gesetzt, daß etwas Neues begonnen wird.« (FuP 218, vgl. VA 215) Die Sprache erweist sich hier einmal mehr als Träger einer ganz ursprünglichen Freiheitserfahrung, welche sich mit einem spezifisch antiken Verständnis von politischem Handeln verbindet. Arendt zufolge lässt sich sogar sagen, »daß der eigentliche Sinn des Politischen in der Antike mit diesem Anfangenkönnen aufs Engste verbunden war.« (FuP 218) 58 Nachdem der Hinweis auf die dem Menschen eigentümliche Gabe des Anfangenkönnens zum Ende der Totalitarismusanalyse noch weitgehend unkommentiert stehen geblieben war, erläutert Arendt Sontheimer, Hannah Arendt, 258. Arendt weist zudem darauf hin, dass die gemeinte Freiheitserfahrung in der Antike ganz wesentlich an Orte gebunden gewesen sei: Ohne einen öffentlichen Bereich hat Freiheit in der Welt keinen Ort, an dem sie sich ereignen kann.« (FuP 201) So habe dieses für den von ihr profilierten Freiheitsbegriff so zentrale Anfangen zum einen Platz nur da, wo jemand »frei geworden ist für das Leben in der Polis unter seinesgleichen«. Demgegenüber sei in Bezug auf »die römische Freiheit« charakteristisch, dass sie »nur durch die römische Geschichte garantiert« gewesen sei; deshalb »muß sie immer ›ab urbe condita‹ erzählen, mit der Gründung der Stadt anheben.« (FuP 218) Die Erfahrung der Freiheit sei damit in der Antike immer eine städtische Erfahrung gewesen. Dieser Zusammenhang zwischen Arendts Denken und ihrer Verortung an konkreten Orten des Politischen, welche »als Wegweiser durch Hannah Arendts Denken dienen«, wird besonders entfaltet in Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia, 12, vgl. 117 ff.
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nun, es sei Augustin nicht um eine wie auch immer geartete »innere Verfassung des Menschen« gegangen, sondern um »die Art und Weise, in der menschliche Existenz in der Welt vorkommt« (FuP 220). Als etwas, was nicht mit der Welt gleichzeitig geschaffen wurde, bildet der Mensch selbst mit seiner Geburt bereits einen Anfang, ein »initium« in der Welt. »Dieses Anfang-Sein bestätigt sich in der menschlichen Existenz, insofern jeder Mensch wieder durch Geburt als etwas je ganz und gar Neues in die Welt kommt, die vor ihm war und die nach ihm sein wird. Weil er ein Anfang ist, meint Augustinus, kann der Mensch etwas Neues anfangen, also frei sein […].« (FuP 220)
Der Mensch erweist sich also nicht nur aus der Perspektive der Welt, in die er mit seiner Geburt als etwas Neues eintritt, als ein initium, sondern er trägt diese Eigenschaft des Anfang-Seins auch in Form einer Initiativkraft, einer Fähigkeit zum Anfangenkönnen, weiter in die Welt. »Weil jeder Mensch aufgrund seines Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen die Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.« (VA 215) Dieses Charakteristikum menschlichen Lebens, selbst Anfang zu sein und sich als Anfang-setzend zu ereignen, hat Hannah Arendt in Vita activa mit dem Begriff der »Natalität« oder auch als »Gebürtlichkeit« gefasst. Auch hier wird sehr deutlich, dass die Bedingung der Natalität mit der Fähigkeit des Menschen zum Handeln in Freiheit Hand in Hand geht; Arendt schreibt hier, dass die Natalität »die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es soetwas wie Handeln überhaupt geben kann.« (VA 316) Handeln erweist sich dabei als die eigentliche, dem Menschen spezifische Tätigkeit. »Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand« (VA 217), und diese Möglichkeit, jemand und nicht bloß etwas zu sein, ist dem Menschen von Geburt an mitgegeben. (Vgl. VA 216) Daher geht Arendt davon aus, »daß die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt.« (VA 216) Der Mensch ist jedoch nicht einfach aufgrund der Tatsache frei, dass er in diese Welt hineingeboren wurde – was ja offensichtlich eher einen passiven Vorgang als einen Akt der Freiheit darstellt. Insofern ist das bloße »Faktum der Natalität« (VA 217) in Bezug auf menschliches Freisein nur notwendig und nicht hinreichend. Als Freisein zeigt sich menschliches Leben erst durch tatsächliches, eigenes Reali223 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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sieren des Anfangenkönnens. Wenn wir uns als Menschen sprechend und handelnd in die Welt einschalten, so ist dies »wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.« (VA 215) Erst wenn ein Mensch die Fähigkeit zur Initiative auch ergreift und mit seinesgleichen sprechend und handelnd in Interaktion tritt, so gibt er angemessen »Antwort auf die Frage […], die unwillkürlich jedem Neuankömmling vorgelegt wird, auf die Frage: Wer bist Du?« (VA 217) – und damit auch »Aufschluß über das Wer-einer-ist« (VA 218). Dem Handeln kommt also eine identitätskonstitutive Funktion zu, welche sich daraus ergibt, dass es eine narrative Struktur besitzt. Es lässt uns in der Öffentlichkeit der Welt sichtbar werden und hinterlässt dabei im Netz der Welt den Faden der eigenen Lebensgeschichte. 59 Diese narrative Struktur stellt das originär menschliche Merkmal eines Lebens dar, welches sich vom bloß physischen Begriff des Lebens (ζωή) dadurch abhebt, dass es als »spezifisch menschliches Leben« (βíος) als Bio-graphie fass- und mitteilbar wird (Vgl. VA 116): »Der Ausdruck bezeichnet das ›Intervall zwischen Geburt und Tod‹ unter der Bedingung, daß es durch eine Erzählung dargestellt und anderen Menschen mitgeteilt werden kann.« 60 Wir werden auf diesen, sich aus Arendts Handlungsbegriff ergebenden narrativen Zug in ihrem Denken noch zurückzukommen haben. Es gehört zu den ureigensten Charakteristika von Arendts Handlungsbegriff, dass das politische Handeln für sie als mit der Aktualisierung eines »Wer« verbunden gedacht werden muss. 61 Jemand zu sein, ist für Arendt also immer mit einem aktiven In-ErscheinungTreten in der Welt verbunden, mit dem die Anfänglichkeit der eigenen Geburt bestätigt und erneuert wird. Diese Vorstellung eines solchen, »ursprünglich politisch erfahrenen Freiheitsbegriffes« geriet Arendt zufolge nach Augustin weitgehend aus dem Blick: »Auf die Tradition christlicher oder neuzeitlicher Philosophie ist denn auch dieser Freiheitsbegriff ohne alle Wirkung geblieben, und wir finden Spuren, die auf ihn zurückdeuten, erst bei Kant wieder« (FuP 220). Das von Arendt von der grieVgl. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 154 f. Kristeva, Julia: Das weibliche Genie Hannah Arendt. Hamburg 2008, 75 f. Kristeva zufolge erweist sich der Begriff des Lebens als wesentlicher begrifflicher Faden im arendtschen Werk insgesamt. 61 Vgl. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 273 ff. 59 60
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chisch-römischen Antike über das christliche Denken Augustins verfolgte Anfangenkönnen des Menschen, für das sie den Begriff der Natalität prägte, fällt für sie letztlich mit dem zusammen, »was wir seit Kant Spontaneität nennen« (FuP 218) – was mit Blick auf Augustin freilich ebenfalls eine abgeleitete, »von ihm selbst nicht formulierte Auffassung« 62 darstellt. Arendt zufolge findet sich bei Kant die Unterscheidung zweier wesentlich voneinander unterschiedener Freiheitsbegriffe, nämlich der praktischen Freiheit auf der einen und der Freiheit im kosmologischen Verstande auf der anderen Seite. Wie wir bereits sahen, mag diese Darstellung in der Sache in mancherlei Hinsicht unterkomplex erscheinen, jedoch geht es Arendt hier nur um eine sehr grundsätzliche Unterscheidung. Denn während die praktische Freiheit als »Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« in Arendts Perspektive »eine negative Freiheit bleibt«, liegt ihr eigentliches Interesse auf Kants kosmologischem Freiheitsbegriff. Für das mit diesem Freiheitsbegriff einhergehende, positive Verständnis von Freiheit gilt ihr gerade die oben bereits herausgestellte Bestimmung als konstitutiv, die Freiheit im kosmologischen Verstande sei eine Fähigkeit, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« 63 . Es ist also die oben bereits für Kants Philosophie aufgewiesene Unterscheidung eines negativen von einem positiven Freiheitsbegriff, um die es ihr an diesem Punkt der Untersuchung geht. Freiheit soll im Rahmen von Arendts politischer Philosophie als positives Vermögen verstanden werden und so stellt sie an dieser Stelle zunächst heraus, »wie nahe verwandt die Kantsche Spontaneität dem Augustinschen Anfang ist« (FuP 220).
2.2.2. Menschliche Spontaneität im Arbeiten, Herstellen und Denken Daraus, dass Kant die Wendung »im kosmologischen Verstande« gebraucht, wird für sie jedoch auch deutlich, dass sich die Freiheit nicht Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 326. Kant schreibt – in geringfügiger Abweichung zu Arendts Zitationsweise – eigentlich von der »Freiheit im praktischen Verstande«, welche die »Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« sei und von der Freiheit im kosmologischen Verstande unterschieden wird, welche das Vermögen darstelle, »eine Reihe von Begebenheiten v o n s e l b s t anzufangen«. (KrV 561 f.)
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– wie sie es der philosophischen Tradition der Neuzeit vorwirft – auf ein Willensphänomen reduzieren lässt. Die Initialität des Menschen, seine Fähigkeit zum Neuanfang findet sich für Arendt vielmehr – sosehr sie das Zusammenfallen von Handeln und Freisein betont – grundsätzlich in allen menschlichen Tätigkeiten wieder: »Im gewöhnlichen Sprachgebrauch nennen wir diese Begabung das Handeln. Und insofern Handeln und Anfangen das nämliche sind, steckt ein Element des Handelns in allen menschlichen Tätigkeiten, die mehr sind als bloße Reaktionen.« (FuP 222 f.) Insofern bedeutet Spontaneität »das Element des Handelns und der Freiheit in allen Tätigkeiten« (FuP 223). Während Handeln für Arendt also menschliche Freiheit gleichsam in Reinform zu realisieren scheint, steckt ein Funke der Spontaneität, des Anfangenkönnens einer Reihe von Begebenheiten, in nahezu allem menschlichen Tätigsein. Dazu lässt sich feststellen, dass der Spontaneität von Arendt innerhalb der »Bedingungen menschlicher Existenz« (VA 21) eine zentrale Bedeutung zugewiesen wird, welche in ihrer Terminologie im Begriff der Natalität zum Ausdruck kommt. Insofern führt auch an diesem Punkt die Anknüpfung an einen kantischen Begriff geradezu in das Zentrum ihres Denkens hinein. Was die Tätigkeiten der vita activa angeht, so ist das Arbeiten nur in dem recht weiten Sinne mit der Natalität verknüpft, als auch diese Tätigkeit »in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert [ist], daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt« (VA 17) und damit »die Grundbedingung, unter der die Arbeit steht, das Leben selbst« (VA 16) mit der Geburt beginnt: »Im Sinne von Initiative – ein initium setzen – steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als daß diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der Natalität stehen.« (VA 18)
Auch wenn die menschliche Anfänglichkeit also mit allen Tätigkeiten der Vita activa verbunden sein mag, bleibt es jedoch dabei, dass die Tätigkeit des Handelns »an die Grundbedingung der Natalität enger gebunden [ist] als Arbeiten und Herstellen.« (VA 18) Mit Bezug auf die anderen Tätigkeiten des Menschen sind sogar deutliche Einschränkungen nötig. Die Tätigkeit der Arbeit steht zur menschlichen Freiheit insgesamt sogar in einem deutlichen Spannungsverhältnis, da diese aufs engste mit »dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers« (VA 226 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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16) und seiner Erhaltung zusammenhängt; Arbeiten bedeutet im Kern, diesen als zirkulär vorgestellten Lebensprozess zu erhalten. 64 Dieser Lebensprozess hat jedoch »mit Freiheit im eigentlichsten Sinne nichts zu tun; er folgt einer ihm inhärenten Notwendigkeit.« (FuP 203) Als animal laborans ist der Mensch also gerade nicht im vollen Wortsinne frei, sondern bleibt vielmehr im »Kreislauf des Körpers [gefangen]« (VA 170). 65 In etwas höherem Maße wird die Spontaneität des Menschen im Herstellen deutlich, da es wie das Handeln selbst in gewisser Weise einen Neuanfang stiftet: »Auch das Herstellen fügt der Welt einen neuen Gegenstand hinzu« (FuP 223) und reaktualisiert in dieser Perspektive die menschliche Fähigkeit des Anfangenkönnens. Allerdings handelt es sich hier nur in einem sehr reduzierten Sinne um menschliche Freiheit, da in Herstellungsprozessen stets »nur der Anfang frei ist« und der restliche Herstellungsprozess »nie mehr als […] das von der Einbildungskraft vorgestellte Ding [realisiert]« (FuP 224). Dabei bleibt das Herstellen stets auf die eine Grundstruktur begrenzt, welche an »das rechte Verhältnis zwischen Mitteln und Zwecken« (VA 181) gebunden bleibt und »in welcher sich jeder erreichte Zweck immer sofort wieder in ein Mittel in einem anderen Zusammenhang auflöst« (VA 182). Damit ist der homo faber in einem strukturell utilitaristischen »Zweckprogressus ad infinitum hoffnungslos gefangen« (VA 183) – und damit ebenfalls nicht im vollen Sinne frei. Die Eigentümlichkeit des freien Anfangs bei weitgehender Festgelegtheit des weiteren Tätigkeitsverlaufes teilt sich das Herstellen in gewisser Weise mit dem Denken: Wie der Herstellungsprozess nie mehr tut, als dem bereits zuvor (in hier noch freier Setzung) anvisierten Ding Wirklichkeit zu verschaffen, realisiert das Denken »nie mehr als den zu Beginn ergriffenen Gedanken«, welchem der Denkprozess damit »unterworfen bleibt« (FuP 224). Arendt hat es im ersten Band ihres unvollendeten Hauptwerks Vom Leben des Geistes unternommen, ihren Begriff des Denkens genauer darzulegen; einige Aspekte dieser Untersuchung sind im vorigen Kapitel bereits beleuchtet worden. Dazu schreibt sie in der Einleitung des Bandes: »Entscheidend für unser Vorhaben ist die Kantische Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand (intellectus)« Vgl. Reist, Manfred: Die Praxis der Freiheit. Würzburg 1990, 79 ff. Vgl. Mahrdt, Helga: Arbeiten/Herstellen/Handeln. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller, Arendt Handbuch, 265–268, 265.
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(D 23), die sie für »Kants größte Entdeckung« (D 72) hielt. Wir hatten oben bereits auf diese ja auch im Kontext von Kants Ethik relevante Unterscheidung hingewiesen (Vgl. Kap. C. 2.1.2.). Arendt hat dieser auf Kant zurückgeführten Gegenüberstellung in ihrem Werk sehr breiten Raum gegeben; sie ist uns bereits in Form der Unterscheidung »zwischen Wahrheit und Sinn, zwischen Erkennen und Denken« (D 70) begegnet und wird uns noch einmal wiederbegegnen, wenn wir uns mit dem systematischen Ort des Gemeinsinnes beschäftigen. 66 An diesem Punkt unserer Untersuchung soll es uns erst einmal um die Feststellung gehen, dass Arendt auch hier bei einem systematisch relevanten Topos ein weiteres Mal an Kant anknüpft, wenngleich sich innerhalb ihres Denkens durchaus andere Schlussfolgerungen für Ethik und Handeln ergeben. »Die Bestimmung der Freiheit als die Idee einer freien Spontaneität, die Kant in der doppelten Bestimmung des Freiheitsbegriffs entwickelt, greift Arendt auf. Sie subsumiert die Spontaneität jedoch nicht unter das Faktum der Vernunft.« 67 Dass ihre Lesart Kants an dieser Stelle von dem abweicht und möglicherweise über das hinausgeht, was Kant innerhalb seines Systems damit intendierte, ist für sie offenkundig und wird klar reflektiert, wenn sie schreibt: »Kants berühmte Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand, zwischen einer Fähigkeit zum spekulativen Denken und der Fähigkeit zur Erkenntnis aufgrund der Sinneserfahrung […] hat sehr viel weiter reichende Konsequenzen, und vielleicht ganz andere, als er selbst erkannte.« (D 71 f.) Dadurch dass Kant nämlich von einer »Spontaneität der Verstandesbegriffe« (FuP 220) ausgegangen sei, habe er zudem eine »Befreiung des Denkens« erreicht (D 72). Auch hier ist also die dem Menschen eigentümliche Charakteristikum der anfangsstiftenden Spontaneität nachzuweisen. So wenig Arendt bereit war, ein etwaiges Wesen des Menschen abstrakt und formal zu definieren, so wesentlich erscheint ihr doch das von Augustin und Kant aufgenommene Charakteristikum der spontanen Anfänglichkeit für menschliches Tätigsein insgesamt: »An prominenten Stellen verweist sie beharrlich darauf, dass die Transformation der menschlichen Natur eben in dieser Spontaneität liegt, die in jeder menschlichen Tätigkeit enthalten, für das Vermögen des Handelns jedoch un66 67
Vgl. dazu auch Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 298 ff. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 194.
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erlässlich ist. Die Zerstörung der Spontaneität ist, so Arendt, identisch mit der Zerstörung der Individualität.« 68
Mit der Aufnahme von Kants Begriff der Freiheit im kosmologischen Verstande und seiner Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft knüpft Arendt an zwei zentrale, (auch) ethisch relevante Punkte von Kants Philosophie an – lehnte seine Moralphilosophie ansonsten jedoch weitgehend ab. Im Weiteren werden wir daher vor allem zwei Punkte zu klären haben: (1) Zum einen versteht es sich wohl nicht ganz von selbst, warum Arendt einerseits zwar an Kants Begriff der Vernunft (bzw. des Verstandes) oder in ihren Worten des Denkens und Erkennens anschloss, seine Vorstellung vernunftbasierter Normativität, wie sie im kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt, aber negierte. Dieser Frage werden wir in Kapitel 2.2.3. nachgehen. (2) Zum anderen wird noch zu klären sein, warum Arendt zwar Kants Begriff der Spontaneität aufnahm, seine Vorstellung eines freien Willens als der Spontaneität vernünftiger Wesen ebenso ablehnte wie überhaupt jede am Modell der Souveränität entwickelten Vorstellung eines freien Willens. Mit einem Wort: Wir werden nun verfolgen, wie Arendt ein weiteres Mal den Ausgang eines Rezeptionsweges von kantischen Begriffen her nimmt, um sich auf diesem Weg von seinem Denken zu entfernen. Darum soll in Kapitel 2.2.6. schließlich noch ihre eigene Vorstellung von politischer Freiheit skizziert werden.
2.2.3. Kritik des philosophischen Intellektualismus Adolf Eichmann gab während des von Arendt verfolgten Prozesses an, Zeit seines Lebens nach Kants Moralphilosophie gehandelt zu haben und konnte auf Nachfrage des Richters auch »eine ziemlich genaue Definition des kategorischen Imperativs vortragen: ›Da verstand ich darunter, dass das Prinzip meines Wollens und das Prinzip meines Strebens so sein muss, dass es jederzeit zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden könnte‹« (Eichmann 232). Eichmanns »Lesart« der kantischen Ethik basiert hier dennoch offensichtlich auf einer groben Verzerrung der kantischen Intention; machte 68
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 194 f. Vgl. EU 935.
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Eichmann das Prinzip seines Wollens und Strebens doch identisch mit Gesetz und Willen Hitlers und nicht mit der praktischen Vernunft – »auch wenn dies den Massenmord implizierte.« 69 Nun ist es freilich nicht so, dass Arendts Kritik an Kants Moralphilosophie auf Eichmanns Missverständnis kantischer Moralphilosophie aufbauen würde, denn ohne jede Frage handelte es sich hier um »eine Pervertierung des moralischen Imperativs und des darunter liegenden Urteils« 70 . Sogar Eichmann selbst war es letztlich bewusst, dass es sich bei seiner Kant-Interpretation nur um einen »kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« handelte und Arendt reflektierte diese Verzerrung sehr genau: »Natürlich ist es Kant nie in den Sinn gekommen, das Prinzip des Handelns einfach mit dem Prinzip des jeweiligen Gesetzgebers eines Landes oder mit den geltenden Gesetzen zu identifizieren« (Eichmann 232 f.). Dennoch markiert gerade das brutale Missverständnis Eichmanns strukturell einen Punkt in der kantischen Moralphilosophie, welcher Arendts Kritik erregte – ging es doch in beiden Willensbestimmungen darum, »den eigenen Willen mit dem Geist des Gesetzes zu identifizieren – mit der Quelle, der das Gesetz entsprang.« (Eichmann 233) 71 Die Subsumtion eines Einzelnen unter eine allgemeine, höhere Gesetzmäßigkeit, war ein Grundmotiv (auch) der kantischen Ethik, welches ihr auf einer strukturellen Ebene ganz grundsätzlich an einer freiheitlichen Praxis vorbeizugehen schien. Für Arendt konnte die kantische Frage »Was soll ich tun?« weder durch Gewohnheiten und Sitten noch durch Befehle oder Imperative
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 172. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 241. 71 »In Kants Philosophie war diese Quelle die praktische Vernunft; im Hausgebrauch, den Eichmann von ihr machte, war diese Quelle identisch geworden mit dem Willen des Führers.« (Eichmann 233) Eichmann selbst bemerkte dazu: »Sein Erfolg allein beweist mir, dass ich mich unterzuordnen hatte.« (Ebd., 220) Arendt weist an dieser Stelle darauf hin, dass Eichmann an dieser Stelle in einer Formulierung Hans Franks dem »kategorischen Imperativ im Dritten Reich« entsprochen habe: »Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.« Frank, Hans: Die Technik des Staates. München 1942, 15 f. »Die Instanz, die einem sagt, was Recht oder Unrecht ist, war damit ausgeschaltet.« Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 172. Oder in Arendts Worten: »Er brauchte nicht, wie es im Urteil hieß, ›sein Ohr der Stimme des Gewissens zu verschließen‹ ; nicht, weil er keins gehabt hätte, sondern weil die Stimme des Gewissens in ihm genauso sprach wie die Stimme der Gesellschaft, die ihn umgab.« (Eichmann 220) 69 70
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– seien diese »göttlichen oder menschlichen Ursprungs« – in angemessener Weise beantwortet werden. (B 81) Um ihre Kritik des kategorischen Imperativs angemessen einordnen zu können, müssen wir jedoch zunächst einen Schritt zurücktreten und den Blick weiten für einen Zug ihres Denkens, welchen man als Kritik an der philosophischen Tendenz zum Intellektualismus beschreiben könnte. So zieht sich der Philosoph zum Denken von der Welt alles sinnlich Wahrnehmbaren und öffentlich Erscheinenden zurück; »wenn ich denke, bewege ich mich außerhalb der Welt der Erscheinungen« (ZDM 133). Der Schauplatz der »solitären philosophischen Existenz« 72 ist damit also eigentlich ein »Nirgends« (D 195 f.); der Philosoph ist wesensmäßig nicht nur weltabgewandt, sondern vollständig »ortlos« 73 . Arendt zufolge ist es zudem seit Parmenides eine in der Philosophie »geläufige Vorstellung, daß alles den Sinnen nicht Gegebene – Gott, das Sein, die άρχαί […] oder Ideen – wirklicher, wahrer, sinnvoller sei als das Erscheinende, daß es nicht bloß jenseits der Sinneswahrnehmung, sondern über der Welt der Sinne liege.« (ZDM 130 f.) Erscheinendes und Übersinnliches werden also nicht nur voneinander getrennt, sondern auch zu Gunsten des intellektuell zugänglichen Übersinnlichen hierarchisch geordnet. In ihrer Festansprache zu Heideggers 80. Geburtstag sprach Hannah Arendt denn sogar von der »Neigung« großer Denker wie Platon und Heidegger »zum Tyrannischen«, die eine »déformation professionelle« darstelle. 74 Diese habe damit zu tun, dass das denkende Ich sich zum Denken stets von den menschlichen Angelegenheiten zurückgezogen habe. 75 »Doch Arendt gibt auch zu verstehen, dass die ›tyrannische Neigung‹ sich daraus ergäbe, dass selbst unter den größten wenige Denker bereit sind, […] über die Kluft sowohl zwischen Denken und Welt als auch über die Interdependenz beider nachzudenken. Wenige sind bereit, in jenem Erstaunen auszuharren und die Spannung zwischen gemeiner Welt und Welt des Denkens zu denken […] Hier werden die paranoiden Latenzen des Denkens als be-
Breier, Hannah Arendt, 62. Breier, Hannah Arendt, 59. 74 Arendt, Hannah: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt. In: Dies: Menschen in finsteren Zeiten. München 2012, 181–194, 194. 75 Vgl. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 312. 72 73
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herrschtes und systematisches Erstaunen ausgedeutet, die dann auf eine Welt projiziert werden, die ihrerseits zu beherrschen und zu regieren ist.« 76
Wir können dieses Motiv in Arendts Denken also ganz allgemein als Kritik des philosophischen Intellektualismus fassen und es steht außer Frage, dass dieser Intellektualismus für sie mit problematischen Implikationen für die menschliche Praxis einherging. Die Hierarchisierung von Sinnlichem und Übersinnlichem hatte Arendt zufolge besonders in Platons Philosophie handfeste politische Konsequenzen; so lasse sich doch bei den Philosophen seit Platon der Hang nicht übersehen, die plural verfasste Welt des an das Erscheinen der Akteure gebundenen Politischen von der weltabgewandten Perspektive des Übersinnlichen her ordnen zu wollen. Ihre Kritik betrifft damit die philosophische Perspektive auf die Relationen von Einzelnem und Allgemeinem, Sinnlichem und Übersinnlichem sowie von Denken und weltlicher Wirklichkeit, welche von der Philosophie zu Gunsten eines auf Übersinnliches zielenden Denkens des Allgemeinen hierarchisiert werde. Arendt ist schon in Bezug auf die platonische Philosophie davon überzeugt, dass die Anwendung der Ideen auf die Sphäre menschlicher Angelegenheiten weder Platons ursprünglicher Ideenlehre noch den menschlichen Angelegenheiten angemessen ist; die Ideenlehre als solche habe »mit Politik und politischer Erfahrung, das heißt mit dem Bereich menschlicher Angelegenheiten, nicht das mindeste zu tun.« (WiA 180) Letztlich verdanke sich Platons Ansatz dem Bestreben, »ein legitimes Prinzip für Herrschaft und Zwang zu finden« und auch seine Beispiele und Gleichnisse, von der Höhle bis zu den Verhältnissen zwischen Hirte und Herde, Steuermann und Schiff, Arzt und Patient oder Herr und Sklave seien darauf angelegt, »die Notwendigkeit von Herrschaft einleuchtend darzustellen.« (WiA 175) Dementsprechend sei »Platos kategorischer Imperativ: Herrsche über Andere so, wie du über dich selbst herrschst. Herrschaft gegründet auf Selbstbeherrschung.« (DTB 241) Arendts Ablehnung des platonischen Intellektualismus verdankt sich also auch einer Kritik jeder auf Herrschaftswissen 77 basierenden Expertokratie sowie überhaupt jeder politischen Philosophie, die das Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 312 f. Der Begriff des Herrschaftswissens kann hier insofern durchaus im Sinne des schelerschen Begriffs verstanden werden, als eine zu problematisierende Geisteshaltung kritisiert werden soll, welche die menschlichen Angelegenheiten zu technischen Fra-
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Politische auf Herrschaft reduzieren und so Zwang als Mittel der Politik legitimieren will. Dabei wird Politik als Tätigkeit missverstanden, welche lern- und lehrbaren Regeln folgt und damit den Charakter einer techne aufweist, so »daß die Wissenden diktieren und die Nichtwissenden den Regeln gehorchen« müssen. 78 Dieser Zug des platonischen Denkens wurde Arendt zufolge zu einem stets wiederkehrenden Moment der politischen Philosophie insgesamt. »Der Philosoph wird herrschsüchtig, weil er über das Meinungschaos Gewalt haben will.« (DTB 162) Das Verfahren, die gemeinsame politische Welt des öffentlich Erscheinenden von der solitären Perspektive des ortlosen denkenden Ich her zu ordnen, tritt besonders deutlich zu Tage bei den Theorien der »utopischen Vernunftherrschaften, mit denen die Philosophen die Menschen zwingen wollten und die sie sich am Modell des Ich-denke ausdachten.« (FuP 213) Auch und gerade für das utopische Denken kann Platon mit einigem Recht als Bezugs- und Ausgangspunkt in Anspruch genommen werden: »Platos Vernunft-Herrschaft ist ganz und gar utopisch, und zwar in dem doppelten Sinne, daß weder eine Wirklichkeit noch eine politische Erfahrung ihr je entsprochen hätten.« Dies habe in der politischen Philosophie zu der Vorstellung einer »Identifizierung von Autorität mit einer tyrannisch gewordenen Vernunft« geführt und diese Autorität »in den Ideen, welche als Maßstäbe und Standards für menschliche Angelegenheiten benutzt werden können« (WiA 176), verortet. In Wahrheit und Politik 79 wird der oben bereits erläuterte Konflikt zwischen Philosophie und Politik genauer spezifiziert als ein »Konflikt zwischen Wahrheit und Politik« (WuP 332); unter Verweis auf Madisons Ausspruch »Jede Regierung beruht auf Meinung« 80 konstatiert Arendt, dass »innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurgen werden lässt. Vgl. Lipp, Wolfgang: Herrschaftswissen. In: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1974. Bd. 3, 1099–1100. 78 Benhabib, Die erlösende Kraft des Erzählens, 171. 79 Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik. In: Dies: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 327–370, im Folgenden zitiert als WuP. 80 Arendt nimmt hier Bezug auf The federalist Papers, Nr. 49, (Madison). Zum Meinungscharakter des Politischen, der sich vor allem unter Rekurs auf das Denken Burkes herausstellen lässt, vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 29 ff. »Der politische Bereich ist auf die Meinung gegründet«. (Ebd., 31)
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zeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt.« (WuP 333) 81 In dieser Perspektive gleichen sich Vernunft und Tyrann: Sie üben Zwang aus. »Jeder Zwang führt zur Tyrannis, […] für den Ruin des Politischen Bereiches ist es völlig gleichgültig, ob der Zwang durch einen Tyrannen oder von der Vernunft selbst ausgeübt wird.« 82 Dass diese für philosophischen Vernunftgebrauch charakteristische Tendenz nicht nur den menschlichen Angelegenheiten unangemessen ist, sondern diese auch gefährdet, bildet einen Kerngedanken von Arendts Totalitarismuskritik: »Sie stellte die Gültigkeit bzw. Angemessenheit einer rein philosophischen Einstellung zum politischen Handeln und Urteilen selbst in Frage. Ein Denken, das sich nicht einmischte und nicht dem Urteilen der anderen aussetzte, sondern den Anspruch verfocht, im reinen Schauen, abseits vom Geschehen, ›wahre‹ Erkenntnisse gewinnen zu wollen, hielt sie für Hybris, die früher oder später bei neuen Ideologien enden würde.« 83
Die Philosophie tritt dem Bereich menschlicher Angelegenheiten in diesem Fall mit dem Anspruch auf Vernunftwahrheiten entgegen, was diesem sich »in einem steten Fluß« (WuP 332) befindlichen Bereich unangemessen ist: »Sich im Besitz der religiösen oder philosophischen Wahrheit zu wähnen, ist unmenschlich,« 84 denn die Menschlichkeit der menschlichen Angelegenheiten beruht nicht zuletzt auf ihrer Kontingenz – welche der »Preis für die Freiheit« (W 129) ist. 85 Die Begründung für diesen politisch problematischen Zug der Wahrheit liegt darin, dass »die Wahrheit der Philosophen […] den Menschen als einzelnen, außerhalb der Gemeinschaft mit seinesgleichen, anspricht«. (WuP 335) 82 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 38. Vollrath richtet sich hier auch gegen »jene Versuche […], welche den politischen Bereich von einer transzendentalen Kommunikationsgemeinschaft her zu begründen« versuchen. Dass Habermas’ Diskursethik in seiner von Arendt her inspirierten Perspektive wegen ihres transzendentalen Anspruches ebenso problematisch erscheint und ein mit dieser verbundener »herrschaftsfreier« Diskurs ohne zuvor konstituierte politische Sphäre eine Illusion, kann hier aber nur angedeutet werden. (vgl. ebd., 38 ff.) 83 Grunenberg, Denken mit dem Bruch der Tradition, 63. 84 Heuer, Citizen, 65, vgl. WuP 335, 340: »Jede Wahrheit erhebt den Anspruch zwingender Gültigkeit, und die so offensichtlich tyrannischen Neigungen professioneller Wahrheitssager mögen weniger angeborener Rechthaberei als der Gewohnheit geschuldet sein ständig unter dem Zwang, dem Zwang der erkannten oder vermeintlich erkannten Wahrheit zu stehen.« 85 Vgl. Schönherr-Mann, Hans-Martin: Hannah Arendt. Wahrheit, Macht, Moral. München 2006, 169 f. sowie Althaus, Claudia: ›Kontingenz ist der Preis der Frei81
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2.2.4. Die Subsumtionsproblematik: Kant unter Ideologieverdacht? Was den (zu) starken Vernunftbegriff angeht, ist Arendts Kritik am philosophischen Intellektualismus 86 nicht zuletzt auch eine Aufklärungskritik – und dieser Umstand bringt uns wieder in die Nähe der kantischen Philosophie. Wie wir bereits sahen, greift Arendt »zwar wesentliche Inhalte der Aufklärung auf, ist aber schon mehr an einer Kritik des neuzeitlichen Denkens seit Descartes interessiert. Übrig bleibt nur die Kritik […] der Entartung der Vernunft der Aufklärung in ihrer Abstraktheit des unterschiedslosen Gleichheitspostulats, zu dem auch der unmenschliche Charakter des kategorischen Imperativs gehört, und die Innerlichkeit der Rousseauschen Reflexionssucht.« 87
Es griffe aber sicher zu kurz, das mit Blick auf Arendts Kritik von Kants Ethik entstehende Problem als Kritik eines philosophischen Intellektualismus fassen zu wollen. Der zentrale Punkt von Arendts Kritik der Ethik des kategorischen Imperativs spitzt sich vor dem Hintergrund der beschriebenen Intellektualismuskritik auf etwas zu, das man die Subsumtionsproblematik nennen könnte, bei welcher das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem noch etwas stärker in den Fokus rückt. Beide Phänomene sind für Arendt miteinander verbunden, denn auch »das Subsumieren des Partikularen unter eine allgemeine Regel, geht doch auf diese Anwendbarkeit der Ideen in Platos politischer Philosophie zurück.« (WiA 177 f.) Die Subsumptionsproblematik entsteht insofern also am Modell der platonischen Ideenlehre, als diese bei Platon verstanden wird als etwas Übersinnliches, Absolutes, das die kontingent-empirische Wirklichkeit der Welt ordnen soll, weil das »Subsumieren des Vielen unter das Eine Ordnung im Vielfältigen schafft« (WiA 180). Diese platonische »Erfindung« ist jedoch eine Verkürzung der Problematik, welche sich mit Blick auf das menschliche Handeln ergibt:
heit‹ : Hannah Arendts Überlegungen zum öffentlichen Raum. In: Sozialwissenschaftliche Informationen 29/2000, Nr. 4, 257–265. 86 Auch Heiner Hastedt hat in jüngerer Zeit in seiner Kritik des »ethischen Intellektualismus« eine Perspektive stark gemacht, welche neoaristotelische Überlegungen bei Arendt und Schnädelbach zu Gunsten einer »nicht-kognitivistisch verkürzten Urteilskraft« in Stellung bringt. Vgl. Hastedt, Philosophische Ethik und Orientierung in der Moderne, 166 ff. 87 Heuer, Citizen, 64.
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»Platos Lehre von den Ideen führte solche Normen und Maßstäbe in die Philosophie ein, und damit wurde das Problem, wie man Recht von Unrecht unterscheidet, auf die Frage verkürzt, ob ich im Besitz der Norm ›Idee‹ bin, die ich in jedem besonderen Fall anzuwenden habe, oder nicht.« (B 66)
Auf diese Weise wird für Arendt aber eigentlich nicht Ordnung geschaffen, sondern der Pluralität als zentraler Bedingung allen menschlichen Lebens Gewalt angetan – und dieser unmenschliche Zug ist auch dem kategorischen Imperativ in gewisser Weise zu eigen, wie sie in Ihrer Rede zur Verleihung des Lessingpreises erläutert: »Daß es ein Absolutes gibt, die Pflicht des kategorischen Imperativs, die über den Menschen steht, in allen menschlichen Angelegenheiten entscheidet und auch um der Menschlichkeit in jedem Verstande nicht gebrochen werden darf – dies ist ja den Kritikern der Kantischen Ethik oft als etwas Unmenschliches und Unbarmherziges aufgefallen. Aber diese Unmenschlichkeit ist nicht dem geschuldet, daß die Forderung des kategorischen Imperativs etwa die Möglichkeit einer zu schwachen Menschennatur überforderte, sondern einzig und allein dem, daß er absolut gesetzt ist und in seiner Absolutheit den zwischenmenschlichen Bereich, der seinem Wesen nach aus Bezügen und Relationen besteht, auf etwas festlegt, das seiner grundsätzlichen Relativität widerspricht.« 88
Das Verfahren der kantischen Ethik, im moralischen Urteil die konkrete Maxime einer partikularen Handlung unter die allgemeine Regel des Sittengesetzes zu subsumieren, erscheint Arendt aus verschiedenen Gründen als problematisch. Moralisches Urteilen kann nicht auf die Subsumption eines Einzelnen unter ein Allgemeines reduziert werden, da hier offenbar ein Regress lauert: »Wenn Urteilen Subsumieren heißt, so ist eigentlich ›wiederum eine andere Urteilskraft erforderlich …, um unterscheiden zu können, ob es der Fall der Regel sei oder nicht‹« (vgl. DTB 571) 89 Das moralische Urteil als Subsumption zu fassen löst daher in Wirklichkeit gar nicht das sich stellende Problem. »Selbst dieses offenbar einfache Verfahren hat seine Schwierigkeiten; denn da es keine Regeln für die Subsumtion gibt, muß hier frei entschieden werden.« (B 137 f.) So gesehen entlastet gerade in moralischen Ausnahmesituationen der Gebrauch allgemeiner ethischer Maßstäbe nur beArendt, Hannah: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg, hrsg. Von Sabine Groenewold und mit einem Essay von Ingeborg Nordmann. Hamburg 1999, 47. 89 Arendt verweist hier auf die dritte Kritik; vgl. Kant, KU AB VII. 88
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dingt von einem eigenständigen, freien Urteil; besonders in einer Situation wie dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, den Arendt als »Zusammenbruch aller geltenden moralischen Normen im öffentlichen und privaten Leben« (B 14) beschrieb, von welchem sie annahm, er habe »unsere Kategorien des politischen Denkens und unsere Maßstäbe für das moralische Urteil gesprengt.« (VuP 112) Wem es unter den Bedingungen des Totalitarismus gelang, seine moralische Integrität zu bewahren, erreichte dies Arendt zufolge nicht auf dem Wege der Subsumtion seiner Handlungsmaxime unter eine allgemeine Regel: »Diejenigen, die urteilten, urteilten frei: sie hielten sich an keine Regel, um sie unter sie Einzelfälle zu subsumieren, sie entschieden vielmehr jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es eine allgemeine Regel für ihn nicht gäbe.« (Eichmann 65) Eine spätere Kritik Kants, die seinem kategorischen Imperativ als moralischer Gesetzmäßigkeit in späterer Zeit entgegengebracht worden ist, findet sich bei Hans Jonas und bringt ein Strukturelement von Arendts Kritik gut auf den Punkt: »Kants kategorischer Imperativ sagte: ›Handle so, dass du auch wollen kannst, dass deine Maxime allgemeines Gesetz werde.‹ Das hier angerufene ›kann‹ ist das der Vernunft und ihrer Einstimmung mit sich selbst: Die Existenz einer Gesellschaft menschlicher Akteure (handelnder Vernunftwesen) vorausgesetzt, muss die Handlung so sein, dass sie sich ohne Selbstwiderspruch als allgemeine Übung dieser Gemeinschaft vorstellen lässt. Man beachte, dass hier die Grundüberlegung der Moral nicht selber moralisch, sondern logisch ist: das ›wollen können‹ oder ›nicht können‹ drückt logische Selbstverträglichkeit oder -unverträglichkeit, nicht sittliche Approbation oder Revulsion aus.« 90
Der kategorische Imperativ – so Jonas’ Kritik – ist also gar kein Verfahren moralischer Beurteilung, sondern der im Kern logischen Überprüfung auf Selbstwiderspruch; er beurteilt nicht moralisch, sondern er verfährt logisch und wird als Anspruch der Logik sozusagen »von außen« an die Moral herangetragen. Dieser im Kern logische Anspruch auf Widerspruchsfreiheit war als Denkfigur der kantischen Ethik in besonderem Maße bereits oben, bei der Definition der Pflichten im engeren Sinne, hervorgetreten: Werden sie übertreten, so begibt sich der Handelnde in einen Selbstwiderspruch.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 2003, 35.
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Da Jonas’ Hauptwerk erst 1979 erschien, kann es keine Zeugnisse einer Reaktion Arendts auf diese Position geben und wir wissen daher nicht, ob sie Jonas’ Kritik in dieser Form unterstützt hätte. Ganz ohne Zweifel aber war es eines von Arendts Kernanliegen, zu zeigen, dass praktische Urteile von logischen Operationen streng zu unterscheiden sind: »Mein Hauptgesichtspunkt für die Ausgrenzung der Urteilskraft als einer besonderen Fähigkeit unseres Geistes wird der sein, daß Urteile weder durch Deduktion noch durch Induktion zustande kommen; kurz, sie haben nichts mit logischen Operationen gemein – wie wenn man sagt: Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich.« (D 211, kursiv R. T.)
Arendts Skepsis bei der Anwendung logischer Verfahrensweisen im Bereich des Praktischen ist an vielen Stellen ihres Werkes greifbar und verbindet sich dabei mit Kerngedanken ihrer Totalitarismuskritik. Totalitäre Ideologien erwiesen sich für Arendt als Extremfälle von ideellen Gehalten, die – der Wirklichkeit der Welt als solcher äußerlich – an die Welt von außen herangetragen werden und den für Arendt so wichtigen, weil freiheitsstiftenden Zwischenraum zwischen den Menschen gefährden. Arendt betrachtete das ideologische Denken als ein Problem, das sich aus dem Verhältnis von Theorie und Praxis ergab. In ihrem Denktagebuch findet sich eine Reflexion zu diesem Verhältnis, dem sie sich aus verschiedenen Perspektiven näherte. Unter anderem findet sich die folgende Überlegung unter dem Stichpunkt »Ideologien«: »Ideologien: wo ich den Ablauf meines Handelns aus gewissen ideologischen Lehrsätzen mit den Mitteln der Logik ableite – Ich subsumiere das Besondere unter irgendeine angeblich universale Regel. Zum Beispiel [Präsident] Johnsons Weltkommunismus, innerhalb dessen Vietnam als ein besonderer Fall erscheint.« (DTB 655)
Das ideologische Denken wähnt sich dabei im Besitz der Wahrheit – »und Wahrheit zwingt«. Die Notiz formuliert das damit entstehende Problem nur stichpunktartig: »und Handeln, das frei ist. Konflikt.« (Ebd.) Die Pluralität als weltliche Grundbedingung wird dabei vollständig ausgeblendet – sogar der im Denken stets aktualisierte Kernbestand des stummen Zwiegesprächs, des »Zwei-in-Einem« (D 190): »In der Logik, dem verlassenen Denken, gibt es kein erwiderndes
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Selbst als Partner des einsamen Zwiegesprächs, sondern nur den Zwang des logischen Denkens.« 91 Dass »die ideologische Beweisführung, […] immer logisch deduzierend ist« (EU 965), gehörte schon zu Arendts Einsichten der Totalitarismusanalyse. Zur Verdeutlichung dieser These möchte ich eine längere Passage aus ihrer Totalitarismusschrift zitieren: »Ideologisches Denken ist, hat es einmal seine Prämisse, seinen Ausgangspunkt, statuiert, prinzipiell von Erfahrungen unbeeinflußbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar. So tritt an die Stelle der Erbarmungslosigkeit von Natur oder Geschichte die (wie Hitler zu sagen liebte) ›Eiskälte‹ der menschlichen Logik. Diese Logik – und nicht so sehr der ursprüngliche Gehalt der Ideologien: die Unterdrückung des Menschen oder das Primat des Nationalen – überzeugt Menschen, die sich auf ihre Erfahrungen nicht mehr verlassen wollen, weil sie sich mit ihnen in der Welt nicht mehr zurechtfinden können. An die Stelle der Orientierung in der Welt tritt der Zwang, mit dem man sich selbst zwingt, von dem reißenden Strom übermenschlicher, natürlicher oder geschichtlicher Kräfte mitgerissen zu werden.« (EU 966)
Für Hannah Arendt war die logische-deduzierende Verfahrensweise totalitärer Ideologien gerade das Strukturelement an ihnen, welches die Weltorientierung der Menschen durch den logischen Zwang zu unterminieren drohte. »Die totalitäre Ideologie setzt sich an die Stelle der Realität, der Vielfalt der Perspektiven, die sich nie in eine logisch deduzierte Idee pressen lässt.« 92 Der Zwang der Logik ist dabei ein Selbstzwang und die auf Grundlage solcher zwingenden Ableitungen möglichen Folgerungen der Grund, warum die Kategorie der Kausalität für sie als politisch-historische Kategorie nicht taugte. Die ideologische Denkweise bediene sich dabei der »dem menschlichen Verstande selbst innewohnende[n] Logik in sich stimmiger Schlußfolgerungen«, um politisch-historische Ereignisse »in eine Kette der Notwendigkeit [zu] binden, die es erlaubt, die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechts zu eliminieren.« (EU 734, 746) 93 In dieser Perspektive kann eine Überlegung, die logisch zwingend sein mag, gerade wegen des ihr innewohnenden Zwangs nicht sinnvoll erscheinen. Das stalinsche »Wer ein Omlett machen möchte, 91 92 93
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 175. Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 80. Vgl. Knott, Verlernen, 73 ff.
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muss zuvor die Eier zerschlagen« 94 mag hier als Beispiel einer Folgerung des Musters »Wer A gesagt hat, muss auch B sagen« (DTB 128) gelten, die Arendt im Sinn hatte, als sie schrieb: »Wie das eiserne Band des Terrors, der aus vielen Menschen einen Menschen machen will, verhindern muß, daß mit der Geburt eines Menschen ein neuer Anfang in die Welt kommt, eine neue Welt anhebt, so soll der Selbstzwang der Logik verhüten, daß jemand irgendeinmal neu anfängt zu denken, also, anstatt B und C zu sagen und so weiter bis zum Ende des mörderischen Alphabets, von sich aus A sagt.« (EU 970)
Wie an dieser Stelle deutlich wird, widersprach der Selbstzwang der Logik der Fähigkeit spontanen Anfangenkönnens, die aller menschlichen Freiheit zugrunde liegt – muss durch Freiheit doch gerade ein Heraustreten aus dem logischem Selbstzwang möglich sein. 95 Diese Fähigkeit, aus der Logik der herrschenden Verhältnisse herauszutreten und sich in einem eigenständigen Urteil zur Wirklichkeit einer gemeinsamen Welt zu verhalten, fehlte Adolf Eichmann – und so blieb er dabei, sein Handeln aus dem abzuleiten, was er als ihn umgebende Logik kannte. Wenn Arendt die »Konsequenz alles rein Logischen« in ihrem Denktagebuch als eines von drei »Merkmale[n] des radikal Bösen« (DTB 128) reflektiert, so hat sie dabei genau diesen Umstand vor Augen: »Der Mangel an Urteilskraft bei Eichmann war gleichbedeutend mit seiner Unfähigkeit, sich im Denken an die Stelle eines Anderen zu setzen. An die Stelle dieser Form des Denkens trat logisches Schlussfolgern.« 96 Wird ein lebendiger Kontakt zur Wirklichkeit der Welt aber durch logische Vorgehensweisen ersetzt, so gerät der so Verfahrende nur allzu leicht in die »Fallstricke des Denkens in Analogien. […] Für Arendt war mit diesem Ansatz nicht bloß ein methodologisches, sondern auch ein moralisches und politisches Problem verbunden. Denn diese Methode trübte den Sinn für das, was neu und beispiellos war, und verfehlte daher die Aufgabe, angesichts des noch nie Dagewesenen moralisch zu denken. […]« 97 Mit dieser Redewendung soll Stalin die nach heutigem Informationsstand künstlich produzierte Hungersnot in der Ukraine 1932/33 kommentiert haben, die dazu diente, die ukrainischen Bauern in die kollektivierte Landwirtschaft zu zwingen und bei der Schätzungen zufolge etwa sieben bis zehn Millionen Menschen verhungerten. Vgl. Knott, Verlernen, 74. 95 Vgl. Hahn, Hannah Arendt, 26 ff. 96 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 175. 97 Benhabib, Die melancholische Denkerin, 151. »Analoges Denken beherrscht die Logik des Alltags, wo wir uns selbst mit Hilfe von erwarteten und etablierten Mustern 94
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Die logisch-subsumierende Verfahrensweise vermag der Wirklichkeit der Welt wie dem Handeln als solchem ganz offensichtlich nur bedingt gerecht zu werden, da wir es beim Handeln doch immer wieder mit einem Phänomen zu tun haben, das »so einmalig und sui generis ist, daß es sich unter Regeln nicht mehr subsumieren läßt.« (VA 261) Hier wird von Arendt also auch die Möglichkeit eines solchen subsumierenden Verfahrens in Frage gestellt, lässt sich das Besondere einer partikularen Handlung doch immer nur als ansonsten kontingenter Einzelfall eines Allgemeinen unter die allgemeine Regel subsumieren – nicht aber als Besonderes. Schon Aristoteles hatte betont, eine Kenntnis im Bereich der menschlichen Angelegenheiten müsse »nicht nur das Allgemeine, sondern muß auch das Einzelne kennen. Denn sie ist handelnd, und das Handeln betrifft das Einzelne.« 98 Arendt erweist sich hier also ein weiteres Mal als Aristotelikerin; 99 »Kant hat für sie das Besondere in seiner Kritik der praktischen Vernunft verfehlt […].« 100 Das Verfahren der Subsumtion erscheint ihr also mit Blick auf das menschliche Handeln in vielerlei Hinsicht als einigermaßen ungeeignetes Verfahren. Wo die partikularen Erscheinungen der Welt stets nur als Einzelfälle unter allgemeine Kategorien eingeordnet werden, geht der Charakter des Einzelnen als sich konkret Ereignendes verloren, wie Arendt in einem Brief an Hans Magnus Enzensberger schreibt: »Es gibt einen scheinbaren Radikalismus, der […] vieles Partikulare unter ein allgemeines subsumiert, wobei das konkret Sich-Ereignende als Fall unter Fällen verharmlost wird. […] Die Gefahr liegt im Metier. Man kann ihr begegnen durch den immer erneuten Versuch, sich am Konkreten festzuhalten und Unterschiede nicht zugunsten von Konstruktionen zu verwischen.« 101
Hier kündigt sich bereits an, warum Benhabib mit Blick auf Arendts Urteilskraft von einer »Kunst der Unterscheidung« 102 spricht; betonund Regeln orientieren. Deshalb konnte das analoge Denken Routine schaffen, normalisieren und das Unvertraute vertraut machen.« Benhabib hatte darum ja auch den Begriff »Routinierung des Bösen« als Alternative zur »Banalität des Bösen« vorgeschlagen. Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft der Erzählung, 166. 98 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1141b, 14–16. Übersetzt von Olof Gigon, München 4 2000, 239. 99 Vgl. Breier, Hannah Arendt, 42. 100 Hastedt, Philosophische Ethik und Orientierung in der Moderne, 168. 101 Arendt, Hannah; Enzensberger, Hans Magnus: Politik und Verbrechen. Ein Briefwechsel. In Merkur 19, 4/1965, 380–385, 385. 102 Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 150.
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te sie doch gern, dass das weltorientierte Vermögen der Urteilskraft »mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen und zu subsumieren.« (WiP 20) Die Gefahr eines Denkens, welches das Einzelne dem Allgemeinen unterordnet, bestand für Arendt also nicht nur darin, dass das Einzelne als solches nicht mehr zur Geltung kommen könnte. Ebenso bedenklich erschien ihr die Folgeerscheinung, dass für die Wirklichkeit der Welt relevante Unterscheidungen auf diese Weise von Kategorien überlagert werden, die dem Kontext dieser Welt nicht ursprünglich entstammten und die Welt auf diese Weise eben nicht mehr mit »von der Philosophie ungetrübten Augen« (GG 47) betrachtet werden könnte. Dieser Punkt war uns bereits bei der Beschäftigung mit dem Bösen begegnet; war in Kants Ethik doch eine »merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Abstufungen des Bösen« (B 97) zu beobachten gewesen. Worauf laufen Arendts Reflexionen zur Kritik am ethischen Intellektualismus und zu Kants Ethik nun hinaus? Will sie allen Ernstes die Position vertreten, die Geschichte der Philosophie im Allgemeinen und die kantische Ethik im Besonderen seien nichts anderes als totalitäre Ideologie? Dies anzunehmen, würde ihr Anliegen sicher überzeichnen. 103 Allerdings ging es Arendt durchaus um die Feststellung, dass beide der pluralen Erscheinungsweise der menschlichen Angelegenheiten in einer strukturell ähnlichen Art und Weise Gewalt antaten und im Falle der Philosophie damit wahrscheinlich der eigenen, genuinen Intention freiheitlichen Denkens und Handelns in der Konsequenz zuwiderlief. So bringt der Philosoph in seiner Absicht auf eine vernünftige Ordnung der Welt »in den an sich freien Geist den Zwangscharakter der Logik, sodass er nun jedem Menschen im Innern seinen eigenen Tyrannen schafft, der ihm sagt, was er denken und was er nicht denken darf. Erst wenn die Logik als Zwang die Menschen in ihrer Gewalt hat, denkt in jedem Menschen scheinbar der Mensch. Das ist der Sieg des Philosophen – und das Ende des Denkens als freier, spontaner Tätigkeit.« (DTB 162)
103 Dies lässt sich schon daran erkennen, dass sie in »Wahrheit und Politik« schreibt, dass das Ernstnehmen der modernen Ideologien bedeute, diese zum »Philosophieersatz« zu erklären – womit zwischen Ideologie und Philosophie offensichtlich ein deutlicher Unterschied gemacht wird – und zudem »die Frage des Wahrheitsgehalts ausdrücklich für irrelevant zu erklären.« WuP 335.
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Die menschliche Spontaneität wird von der Logik zugunsten einer im Kern logischen Operation unterdrückt und die menschliche Pluralität auf die Enge des »kleinsten gemeinsamen Nenners« (DTB 193) zusammengeschnürt. 104 Von dieser strukturellen Tendenz sieht Arendt auch Kants Ethik belastet: »Noch Kant will im Grunde den Willen zwingen mit evident vernünftigem Argument.« (DTB 188) Als einen »Tyrannen« im Innern des Menschen hat sie zudem nicht zuletzt die kantische Pflicht identifiziert und zitiert als Beleg für diese Diagnose: »Nun findet jeder Mensch in seiner Vernunft die Idee der Pflicht und zittert beim Anhören ihrer ehernen Stimme […].« 105 Kant hatte sich 104 Arendts Kritik zeigt hier insgesamt deutliche Anleihen bei Georg Simmel, den sie durchaus rezipierte (vgl. EUH 791, FN 77; EUH 800, FN 84) und der Kants Ethik in recht ähnlicher Weise problematisierte. So nimmt auch Simmel Anstoß daran, dass Kants Ethik mit der Vorstellung eines vernünftigen Subjekts einhergeht, welches die Verschiedenheit der Einzelindividuen nicht mehr recht zur Geltung kommen lässt: »Das Grundmotiv ist, daß in jedem Individuum ein Kern enthalten ist, der das Wesentliche an ihm und der zugleich in allen Menschen derselbe ist […]: der allgemeine Mensch, der zugleich Individuum ist […] – aber dieser Mensch ist in seinem Kerne und seinem Rechte nach immer nur einer und derselbe«. Die Individualität eines Menschen werde auf diese Weise jedoch gar nicht mehr wahrgenommen; Simmel kritisiert die »Qualitätslosigkeit« des kantischen Ichs und konstatiert, dass »für Kant […] die differenzierte, durch ihre Eigenschaften besonderte Persönlichkeit völlig aus [fällt].« Erst die Philosophie des 19. Jahrhunderts habe berechtigterweise gezeigt, »daß die so verselbständigten Individuen sich auch voneinander unterscheiden wollen«. Auch Arendts Kritik des kantischen Freiheitsbegriffs findet sich bereits angelegt, wo Simmel von der »Isolierung des Menschen gegen den Menschen, die die Freiheitsfunktion dieses Individualitätsbegriffs mit sich brachte« schreibt. (Simmel, Georg: Kant und der Individualismus. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1. Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt a. M. 1995, 273–282, 274 f., 280 f.) Für Simmel mündet die Kritik einer das Individuum nicht als Individuum erreichenden moralischen Allgemeinheit in seine Lehre vom individuellen Gesetz, in deren Zusammenhang diese Stoßrichtung der Kantkritik in einer Weise weiterverfolgt wird, welche Arendts Position prägnant vorbereitet: »Die Kantische Deutung des sittlichen Phänomens ruht darauf, daß für ihn der Begriff des Gesetzes und der Allgemeinheit in einer selbstverständlichen, logisch notwendigen Verbundenheit stehen.« Simmels Kritik an Kants Ethik erweist sich dabei sogar als noch weitergehend, wenn er schreibt: »Der Kategorische Imperativ hebt entsprechend die Freiheit auf […].« (Simmel, Georg: Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. I. Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt a. M. 2001, 417–470; 417, 434) Wir können auf die Parallelen zwischen Arendts und Simmels Kantkritik an dieser Stelle jedoch nur hinweisen, auch wenn eine weitergehende Untersuchung ihrer geteilten Kritik und den aus dieser jeweils erwachsenden Konzepte von individiuellem Gesetz bei Simmel und narrativer Identität bei Arendt sicher ein lohnendes Betätigungsfeld bildete. 105 Kant, Immanuel: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Phi-
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mit dieser Ausführung selbst in die Tradition des dictamen rationis 106 eingeordnet, welche als Stimme der Vernunft als gänzlich erfahrungsunabhängig gedacht wird. 107 Ein solcher »Archimedische[r] Punkt« (DTB 163) widerspricht für Arendt jedoch nicht nur ganz grundsätzlich der Relativität der menschlichen Angelegenheiten, sondern die Vorstellung eines solchen erscheint ihr auch insofern problematisch, als sie den Menschen davon abhält, sich urteilend ins Verhältnis zur Welt zu setzen: »Im Moralischen wird die Urteilskraft durch ›Pflicht‹ überflüssig gemacht.« (DTB 163) Der ethisch entscheidende Punkt bei der Kritik der Anwendung logischer Verfahrensweisen auf den Bereich menschlicher Praxis ist damit in letzter Konsequenz, dass das logische Verfahren der kantischen Ethik das menschliche Denken von aller menschlichen Pluralität abschneidet – und auf diese Weise letztlich eine zentrale ethische Instanz gefährdet: Das menschliche Gewissen. Wie wir im erstem Band vom Leben des Geistes erfahren, ist das Gewissen für Arendt eine Art Nebenprodukt des »Zwei-in-Einem«, das sich im Denken ereignet. (D 192) 108 Das Denken ist damit Kern oder Keim der Pluralität im äußeren Verhältnis des Menschen in seinen weltlichen Bezügen, »[b]eides ist Sprechen!« (DTB 214) Für die Bewahrung und den Bestand dessen, was wir Gewissen nennen, ist die Möglichkeit beider Formen von Pluralität und ihr freies Zusammenspiel eine notwendige Bedingung. »Die innere Pluralität, der Dialog mit sich selbst oder, wie Arendt häufig sagt, das lautlose Gespräch mit mir selbst, hat die äußere Pluralität zur Voraussetzung. Damit ist aber auch die Entfaltung des Gewissens an die Welt gebun-
losophie. In: Rosenkranz, Karl und Schubert, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Immanuel Kants Sämliche Werke. Erster Theil. Leipzig 1838, 619–642, 637. 106 Vgl. Schweidler, Walter: Die wachende Vernunft: zur Bedeutung des ›dictamen rationis‹ für die politische Ethik. In: Bürkle, Horst; Pintarič, Drago (Hrsg.): Denken im Raum des Heiligen: Festschrift für Ansgar Paus. St. Ottilien 2007, 338–366. Arendt kritisiert die Vorstellung eines dictamen rationis von Duns Scotus her, welcher das bei Thomas angenommene Verhältnis eines der Vernunft bloß dienenden Willens zugunsten des Willens verkehrt und für den daher »der Verstand das bloß dienende Vermögen« darstellt. (W 120, vgl. 110 f.) Der Idee des dictamen rationis liegt ihr zufolge die spätestens mit Platon einsetzende Vorstellung zugrunde, »daß das mathematische Denken das Vorbild für alles sein sollte« (D 68, vgl. D 69). 107 Vgl. Kant, Immanuel: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, 637. 108 Vgl. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 175.
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den.« 109 Dieses Denkvermögen bedarf der freien Betätigung, um seine Lebendigkeit zu erhalten. »Reason itself, the thinking ability which we have, has a need to actualize itself. […] We have forgotten that every human being has a need to think […]. And he does ist constantly.« 110 Wo Dialog im Inneren und Dialog nach außen jedoch durch das Verfahren logischen Ableitens ersetzt werden, geht auch dem Gewissen die Basis verloren, weil diese für Arendt eine strukturell dialogische ist.
2.2.5. Willensfreiheit und Souveränität Dieses dialogische, intersubjektive Moment an Arendts Denken steht in einer gewissen Spannung zu einem weiteren menschlichen Vermögen, welches sie ebenfalls in Das Leben des Geistes untersucht, nämlich dem menschlichen Willen. 111 Dabei verfolgt sie Stationen der Reflexion über den Willen und ihm verwandter Phänomene seit der griechischen Antike und stellt fest, dass sich die Geschichte der Begriffe »Freiheit« und »Wille« in der Philosophiegeschichte vielfach miteinander verband – dadurch den Blick auf das Politische und einen Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 176. Arendt, Hannah: On Hannah Arendt. In: Hill, Melvin A. (Hrsg.): Hannah Arendt: The recovery of the public world. New York 1979, 301–339, 303. 111 Arendts unvollendetes Spätwerk Vom Leben des Geistes kann insgesamt als der Versuch begriffen werden, Denken, Wollen und Urteilen als weitgehend unabhängige geistige Instanzen herauszuarbeiten. »Arendt wollte an der Unterscheidung zwischen den Instanzen des Denkens und des Wollens festhalten, aber ihren Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft im Leben des Geistes beenden.« (Young-Bruehl, Hannah Arendt, 621) Diese Auffassung von drei unabhängigen, harmonisch miteinander agierenden geistigen Instanzen wird an Montesquieus Modell der drei staatlichen Gewalten entwickelt, verstanden als ein System der checks-and-balances. (Vgl. ebd., 623) Es ist also unwahrscheinlich, dass Arendt Wollen und Urteilen nur als »Modalitäten dieses Denkens« begreift, wie Kristeva es – möglicherweise in Anlehnung an Heidegger – darstellt. (Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 313) Ziel scheint doch vielmehr eine »Abgrenzung des Willens vom Denken und Urteilen« (Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 189) zu sein, wobei durchaus Zusammenhänge und Dependenzen zwischen den Einzelvermögen herausgestellt werden sollten. Der Band über Das Wollen enthielt zudem eine intensive Auseinandersetzung mit Heideggers Begriff des Wollens. »Heideggers Auffassung, daß Denken und Wollen notwendigerweise im Widerspruch stehen, war genau das, was Arendt kritisieren wollte, und diese Kritik richtete sich auch gegen seine Zurücksetzung des Wollens zugunsten des Denkens und gegen seine Behauptung, das Denken sei selbst schon eine Form des Handelns.« (Young-Bruehl, Hannah Arendt, 605) 109 110
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politischen Freiheitsbegriff jedoch eher verstellte. 112 Arendts Untersuchungen zum Willen sind vielschichtig, detailreich und nicht immer frei von Ambivalenzen; dasselbe gilt für das Verhältnis von Wollen und Freiheit. Auch ist nicht immer deutlich, wo die Untersuchung begriffsgeschichtlicher Aspekte endet und wo die formende Einordnung ins eigene Denken, das oben beschriebene »Verlernen«, beginnt. Da das Wollen in der Antike ein weitgehend unbekanntes Vermögen, ein »blinder Fleck der griechischen Philosophie« 113 gewesen sei, nimmt Arendts Untersuchung ihren Ausgang vom aristotelischen Begriff der prohairesis, welche sie als Wahlfreiheit vom neuzeitlichen Begriff der Willensfreiheit unterscheidet. 114 Die antike Philosophie sei »im Gegensatz zur polis« entstanden und habe sich daher auch nicht für einen politisch relevanten Begriff der Freiheit interessiert. Auch der Begriff der Vorzugswahl bildet das Problem der Willensfreiheit noch nicht recht ab, denn das »liberum arbitrium ist weder spontan noch autonom.« (W 61) Der Blick auf die eigentliche Problematik des freien Willens sei Arendt zufolge erst frei geworden, »als das Christentum in der Willensfreiheit eine unpolitische Freiheit entdeckte, die im Verkehr mit sich selbst erfahrbar war und
112 Waltraud Meints fasst das mit Blick auf unsere Thematik zentrale Problem, welches von Arendts Auseinandersetzung mit der Willensfreiheit behandelt wird, sehr treffend folgendermaßen zusammen: »Im Vordergrund dieser Reflexion steht die Kritik, dass die Willensfreiheit im Verständnis der neuzeitlichen Philosophie mit der Freiheit zum Handeln identifiziert werde. Zwischen Wollen und Handeln müsse jedoch analytisch unterschieden werden, insofern ein Handelnder aufhört zu Wollen, wenn er anfängt zu handeln.« Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 190. Eine ähnliche Perspektive nimmt Otfried Höffe ein. Nach Höffe ist es so, dass »die politische Ethik […] einerseits die Handlungsfreiheit, andererseits die Freiheit zur Mitwirkung bei den politischen Entscheidungsprozessen« von Bedeutung ist, aber der dritte Freiheitsbegriff, die Willensfreiheit, nicht in die politische sondern in die personale Ethik gehört. Höffe, Otfried: Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt. In: Kemper, Peter (Hrsg.): Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt. Frankfurt a. M. 1993, 13–33, 24. 113 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 190. 114 Vgl. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 321. »Das liberum arbitrium, der freie Wille oder das Wahlvermögen (lateinische Übersetzung von proairesis) ist weder spontan noch autonom. Ebenso wie Kant unterwirft Aristoteles den Willen dem Zwang, den die offensichtliche Wahrheit und der logische Schluss auf den Geist ausüben. Das ›Du sollst‹ entsteht für Kant im Geist selbst und impliziert ein ›Du kannst‹. Doch die Freiheit wird erst dann zum Problem, wenn man entdeckt, dass ›du sollst‹ und ›du kannst‹ nicht miteinander übereinstimmen.«
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daher von dem Verkehr mit den Vielen unabhängig war.« (FuP 212) Die Eigenschaft, mit »einer Aktivierung jenseits der Erscheinungswelt« einherzugehen, ist dabei ein Moment, welches das Wollen mit dem Vermögen des Denkens verbindet; beide ereignen sich in dieser Perspektive im weltlosen Nirgendwo. 115 Grundlage der neuzeitlichen Vorstellung des Willensvermögens als einer in der menschlichen Innerlichkeit verbleibenden Instanz liegt für Arendt damit – ebenso wie die Vorstellung des Menschen als eines Anfangs – im Denken des Christentums. »In der Antike unbekannt, wäre das Wollen also eine Erfindung von Paulus und Augustin.« 116 Arendt markiert den ersten Auftritt des Willens mit Paulus’ Römerbrief, in dem erstmals ein in der Innerlichkeit verbleibendes Wollen einer zu dieser Innerlichkeit im Widerspruch stehenden Weltlichkeit gegenübergestellt worden sei: »Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht.« 117 Dieses im Menschen verbleibende Vermögen des Menschen finde erstmalig bei Augustin eine philosophische Reflexion, welcher Arendt daher als der »erste Philosoph des Willens« (W 82 ff.) gilt. 118 Von hier aus wird die Vorstellung eines im Menschen wurzelnden Willensvermögens zu einer bis in die neueste Zeit hinein prägenden philosophischen Vorstellung. Das christliche Denken erMeints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 189: »Das gemeinsame Moment der Fähigkeit des Denkens und des Willens liege in einer Aktivierung jenseits der Erscheinungswelt: Während das Denken dem Urteilenden vermittels der Einbildungskraft etwas Abwesendes aus der Vergangenheit oder der Gegenwart präsentiere, beziehe der Wille sich auf etwas, was noch nicht existiert, und richte sich also auf die Zukunft.« 116 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 320. 117 Römerbrief Kap. 7, Vers 18. Damit wird der Wille deutlich in der ihm wesensmäßig zukommenden Innerlichkeit herausgestellt, wobei er sich in seinem Scheitern eher als Vermögen der Ohnmacht erweist. Vgl. Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia, 97. 118 Auf Augustins Auseinandersetzungen mit dem Vermögen des Willens kann hier aus Platzgründen nicht weiter und erst recht nicht in angemessenem Maße eingegangen werden. Zu Arendts Interpretation von Augustins Lehre des Willens, welche neben dem als doppelt bestimmtem liberum arbitrium der »Wahl zwischen dem Wollen und dem Nichtwollen, velle und nolle« (W 87) noch eine weitere Lehre enthalte, welche Arendt für die menschliche Fähigkeit des Anfangenkönnens in Anspruch nimmt, vgl. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 318 ff.; Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 196 f.; Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 96 ff.; Tassin, Étienne: Wollen. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller, Arendt Handbuch, 335 f.; sowie Arendts eigene Darstellung im zweiten Band vom Leben des Geistes, W 82–107. 115
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weist sich damit als der »Anfang des Willens, der die Problematik der Freiheit eröffnet und zwei wesentliche Konsequenzen enthält: Er erweitert den Raum des inneren Menschen […] und erweitert sich im Willen zur Macht«. 119 Kristeva zufolge ist es jedoch eine der Leistungen Arendts, den Zusammenhang zwischen der augustinischen Vorstellung des Anfangens, dem menschlichen Willen und dem Geborensein als einer Grundbedingung menschlicher Existenz aufgedeckt zu haben: »Durch die Intervention des Willens individualisiert sich schließlich der Anfang. Das göttliche principium, das Himmel und Erde schafft, wird für den Menschen initium. […] Im principium gegeben und durch das initium einer jeden Geburt vorbereitet, reaktualisiert der Wille – das erste geistige Vermögen – beim Menschen die Möglichkeiten der Wiedergeburt unter dem Aspekt der Spontaneität und der Freiheit. […] Mit anderen Worten, die Bedingung des Lebens […] kündigt das geistige Vermögen an, das ›Willen‹ genannt wird. […] Der Wille war Agens dieser Umwandlung und die Geburt eines jeden menschlichen Körpers ihre Grundlage. Das ist das sowohl philosophische wie politische Testament, das Arendt für die Moderne entziffert.« 120
Erst in Arendts Interpretation wird deutlich, wie aus der göttlichen Intention eines Anfangs in der Welt ein individuelles menschliches Vermögen wird, welches die Grundlage aller Freiheit im Sinne von Spontaneität bildet. Wie wir oben bereits sahen, lässt Arendt keinen Zweifel daran, dass die im Gedanken der menschlichen Spontaneität gefasste Vorstellung menschlicher Anfänglichkeit eine Grundbedingung alles Politischen darstellt, ohne die politisches Zusammenleben, wie sie es versteht, kaum möglich erscheint: »Trotz Kants politischer Philosophie […] haben wir die außerordentliche politische Bedeutung dieser Freiheit, die im Anfangen-Können liegt, vermutlich erst heute realisiert, da die totalen Herrschaftsformen sich nicht damit begnügten, der freien Meinungsäußerung ein Ende zu machen, sondern drangingen, die Spontaneität des Menschen auf allen Gebieten prinzipiell zu vernichten.« (WiP 49 f.)
119 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 318 f. Arendts Lösung dieser »Sackgasse« besteht laut Kristeva darin, »die Logik des Willens im politischen Raum zu diskutieren. Weder Gottheit noch Sein noch Subjekt, sondern politischer Raum der Welt, der in der Lage ist, das Leben des Geistes ebenso wie das Leben der Menschheit aufzunehmen, insofern es sich um eine Pluralität des geistigen Lebens handelt.« Vgl. ebd. 120 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 326 f.
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Arendts Kritik an Kants Ethik
Während Arendt Kants Gedanken der menschlichen Spontaneität also in praktischer wie in theoretischer Perspektive aufgreift, sind ihre sich mit diesem Begriff verbindenden Schlussfolgerungen für den Zusammenhang von Wollen und Handeln gänzlich andere. So lehnt sie »die Reduktion der Freiheit auf die Willensfreiheit als Faktum der Vernunft ab, weil die Willensfreiheit auf das Individuum beschränkt ist […]. Nicht die Geltung der Moral wird von Arendt bestritten, wohl aber das von Kant postulierte Faktum der Vernunft, dem sie das Faktum der Natalität und Pluralität entgegenhält.« 121
Freiheit werde »primär weder im Wollen noch im Denken, sondern im Handeln erfahren« (FuP 210). Die kantische Vorstellung einer Identifikation von Willen und praktischer Vernunft 122 , wie sie schon im vorangegangenen Kapitel im Kontext der Diskussion des Bösen problematisiert worden war, bildet hier erneut den Stein des Anstoßes. »Der kantische Wille ist das ausführende Organ der Vernunft. Arendt wendet dagegen ein, dass der Wille unfrei wäre, wenn er unter die praktische Vernunft subsumiert würde.« 123 Diese Kritik steht für Arendt jedoch nicht im Widerspruch zu ihrer Aufnahme von Kants Vorstellung der freien Spontaneität als menschlicher Grundbedingung dessen, was sie sich unter Freiheit vorstellt. »Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ ist der Wille.« (W 107) Mit der Zuschreibung der Spontaneität zum Willen ist das Wesen der Freiheit als einer sich weltlich ereignenden allerdings erst von ihrer notwendigen Bedingung her beschrieben. »Der Freiheitsbegriff Kants als einem (sic!) Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, ist Arendts ›präpolitischer‹ Freiheitsbegriff« 124 , weil Spontaneität nur einen Teil des vollen Sinngehalts dessen umfasst, was Arendt unter Freiheit versteht. Um diesen vollen Sinngehalt des Freiheitsbegriffs zu erfassen, greift sie zunächst auf Montesquieus Unterscheidung zwischen politischer und philosophischer Freiheit zurück. »Der Unterschied beMeints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 198. Kant hatte in der Grundlegung formuliert: »so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.« (GMS 412) Arendt zufolge ist die Gleichung »Wille = praktische Vernunft« der »Grundfehler der Kantischen Moralphilosophie« (DTB 794) 123 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 192. 124 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 195. 121 122
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steht darin, daß die philosophische Freiheit nur die Ausübung des Willens verlangt«, während es »[d]ie politische Freiheit […] nur in politischen, durch Gesetze bestimmten Gemeinschaften gibt.« Die Gegenüberstellung ist deshalb relevant, weil Montesquieu hier »der philosophischen Freiheit eines wollenden Selbst das politische Freisein als eine weltlich-handgreifliche Realität gegenüber[stellt]« (FuP 215). Zwar stellen maßvolle Regierungen für Montesquieu nur »die conditio sine qua non der politischen Freiheit dar, sichern diese jedoch nicht.« 125 Dennoch wird hier ganz offenkundig ein politischer Freiheitsbegriff eingeführt, der sich vom menschlichen Individuum abzulösen beginnt und Freiheit als Phänomen einer Gemeinschaft, also unter Berücksichtigung der menschlichen Pluralität versteht. 126 Allerdings bleibt ihr auch dieser politische Freiheitsbegriff noch zu sehr der philosophischen Tradition verhaftet, klinge es bei Montesquieu doch, als bedürfe es dieser politischen Freiheit nur, »um die Freiheit eines Ich-will zu realisieren« (FuP 215 f.), als sei also die politische Freiheit für Montesquieu die notwendige Bedingung der eigentlich die Sinnspitze der Argumentation bildenden philosophischen Willensfreiheit. Für Arendt ist die politische Freiheit aber mehr als nur der Rahmen, welcher die Sicherheit des Handelns im Sinne einer Durchsetzung des individuell Gewollten verbürgt – für sie ist das Verhältnis vielmehr umgekehrt: Die Spontaneität der Einzelnen ermöglicht das freie Handeln in einer Pluralität von Menschen: »Die Freiheit liegt nicht in einem Ich-will, […] das Freisein beginnt überhaupt erst mit dem Handeln, so daß Nicht-handeln-Können und Nicht-Freisein auch dann ein und dasselbe bedeuten, wenn die (philosophische) Willensfreiheit intakt fortbesteht. Mit anderen Worten, die politische Freiheit ist nicht ›innere Freiheit‹, sie kann in kein Innen ausweichen […]. Die Macht des Wil-
125 Merle, Jean-Christophe: Französische Aufklärer. In: Höffe, Otfried: Klassiker der Philosophie. Erster Band. Von den Vorsokratikern bis David Hume. München 2008, 344–360, 354. 126 Vgl. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 199:»Bei Montesquieu entdeckt Arendt eine Idee von politischer Freiheit, in der Freiheit und Macht nicht entgegengesetzt, sondern komplementär gedacht werden. Er bestimmt politische Freiheit nicht als Willensfreiheit, sondern lokalisiert sie im öffentlichen Raum, in dem Macht und Freiheit zusammenfallen. Arendt knüpft daran an. Wie Montesquieu unterscheidet sie die philosophische von der politischen Freiheit, ohne allerdings an der Willensfreiheit festzuhalten. Im politischen Verständnis von Freiheit ist diese der Macht nicht entgegengesetzt, sondern komplementär zu ihr gedacht.«
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lens, sich durchzusetzen und andere zu zwingen, hat mit diesem Freisein gar nichts zu tun.« (FuP 216)
Dieser an Handeln wie Pluralität gleichermaßen geknüpfte Freiheitsbegriff vereinigt beide im antiken Handlungsbegriff nebeneinander existierenden Aspekte des Handelns (vgl. oben), so dass Handeln im vollen Begriffsumfang als Freisein den andauernden Handlungsprozess (πραττειν bzw. gerere) meint, welcher durch die Spontaneität des Menschen als dem Einsetzen der neuen Handlung (αρχειν bzw. agere) Wirklichkeit wird. »Freiheit […] ist weder im Willen noch sonstwo in der Menschennatur lokalisiert; sie fällt vielmehr mit dem Handeln zusammen: solange man handelt, ist man frei und nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.« (FuP 206) 127 Freiheit ist für Arendt also keine Disposition, welche im Sinne eines »Möglichkeitskonzepts« in der Innerlichkeit eines Menschen verbleiben könnte und unabhängig von seiner Aktualisierung fortbestünde, sondern eine »Verwirklichungskonzeption« 128 ; Frei-sein und Handeln stehen in einem bikonditionalen, einem »genau-dann,-wenn«-Verhältnis: Freiheit ist nur im Handeln wirklich. Dementsprechend ist der Willensbegriff für Arendts politischen Freiheitsbegriff von eher untergeordneter Bedeutung – wird Freiheit ja doch immer genau dann erst zur weltlichen Realität, wenn Menschen interagieren, statt ihren Willen durchzusetzen – und wo sie dies tun, haben sie eigentlich bereits aufgehört, zu wollen. »Jeder Willensakt […] hat sein eigenes Ende vor sich, wenn das Etwas-Wollen in das Es-Tun übergegangen ist.« (W 39) Die Willensfreiheit ist für sie kein Modell dessen, was politisch mit dem Begriff der Freiheit gemeint sein kann; mit dem Willen ist sozusagen kein Staat zu machen, weil er selbst eher wie »eine Art Staatsstreich« (D 209) handelt, wie Arendt unter Bezugnahme auf Bergson formuliert. Die einzige Staatsform, welche sich am Modell des »Ich-will« entwickeln lässt, ist die Tyrannis, welche »unter den
127 Vgl.: Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 200: »Der Begriff der politischen Freiheit enthält die prä-politische Freiheit der Spontaneität von Kant als ›EinenAnfang-Setzen-und-etwas-Beginnen‹, die dem Einzelnen entspringt. Ohne diese Fähigkeit ist kein Handeln möglich. Das Handeln aber ist an gleichberechtigte Andere gebunden und nur in der Sphäre der menschlichen Pluralität möglich, den erst in der Freiheit des Miteinander-Redens entfaltet sich die Welt in ihren unterschiedlichen Perspektiven.« 128 Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, 122 ff.
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klassischen Staatsformen die einzige ist, die prinzipiell nicht mit der Freiheit zu vereinbaren ist.« (FuP 213, 203) Obwohl Kant – wie wir bereits sahen – den Gedanken, dass Interaktion und das Mitteilen von Gedanken an der Öffentlichkeit als Bedingung der Freiheit durchaus gekannt habe (SiDo A 325) 129 , habe sein »von der Willensfreiheit ganz unabhängige[r] Freiheitsbegriff […] in der Überlieferung der kantischen Philosophie kaum eine Rolle gespielt. Und auch in der Philosophie Kants selbst ist er überschattet von dem der praktischen Vernunft, die dem Wollen in seiner Güte oder Schlechtigkeit alle Macht in den Angelegenheiten der Menschen zuschrieb, während das Handeln selbst, wie sie sich erinnern, bereits nicht mehr in den Bereich menschlicher Macht und Freiheit fällt, sondern der Notwendigkeit untersteht und dem Kausalgesetz anheimfällt.« (FuP 217)
Die mit dem kantischen Pflichtbegriff einhergehende Vorstellung der Notwendigkeit einer Handlung führt Arendt zufolge gerade nicht dahin, Handlungsfreiheit zu begründen, sondern lasse vielmehr eine Angst vor den Konsequenzen der Freiheit spüren, welche mit dem Mittel der Notwendigkeit moralischer Sätze eingehegt werden soll. Kants Ausspruch, eine Freiheit ohne Gesetze sei ein »Unding« (GMS BA 98), ist in diesem Zusammenhang möglicherweise eher ein Ausdruck und Symptom dieser Angst als ein Gegenargument. Arendts Blick ist hier weniger ängstlich als vielmehr hoffnungsvoll: »Das Gegenteil der Notwendigkeit ist nicht Kontingenz oder Zufall, sondern Freiheit.« (D 69) Arendt konstatiert für die philosophische Tradition eine Dominanz des philosophischen Begriffs der Willensfreiheit gegenüber einem Pluralität reflektierenden Verständnis politischer Freiheit. Dies habe in der politischen Philosophie auf breiter Front zu der eher unheilvollen Allianz der Begriffe Freiheit und Souveränität geführt, welche besonders in der politischen Philosophie problematische Folgerungen nach sich gezogen habe. »Wo Menschen, sei es als einzelne, sei es in organisierten Gruppen, souverän sein wollen, müssen sie die Freiheit abschaffen« (FuP 215), denn wenn Pluralität als Leitvorstellung politischen Denkens durch Souveränität ersetzt werde, kann Freiheit im politischen Sinne freier Interaktion sich kaum mehr ereignen. Dies habe die politische Philosophie kaum berücksichtigt;
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Vgl.: Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 82.
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»[…] das Ideal wurde vielmehr die Souveränität, die Unabhängigkeit von allen anderen und gegebenenfalls das Sich-Durchsetzen gegen sie. Politisch hat sich wahrscheinlich kein anderer Bestandteil des traditionellen Freiheitsbegriffs als so verderblich erwiesen wie die ihm inhärente Identifizierung von Freiheit und Souveränität. Denn sie führte zu der Leugnung der Freiheit, als man einsah, daß Menschen souverän gerade nicht sind – oder zu der dieser Leugnung nur scheinbar entgegengesetzten Ansicht, daß die Freiheit eines Menschen oder einer Gruppe immer nur auf Kosten der Freiheit, nämlich der Souveränität aller anderen realisierbar war. Was innerhalb dieses Problemzusammenhanges so außerordentlich schwer zu verstehen ist, ist die einfache Tatsache, daß es menschlicher Existenz eigentümlich ist, daß ihr Freiheit nur unter der Bedingung der Nicht-Souveränität geschenkt ist: und daß es ebenso unrealistisch ist, um dieser Nicht-Souveränität willen die Freiheit zu leugnen, wie es verderblich ist zu glauben, daß man nur dann frei sei – als einzelner oder als organisierte Gruppe –, wenn man souverän ist. Auch die Souveränität des politischen Körpers ist immer nur Schein, der zudem niemals anders als mit den Mitteln der Gewalt aufrecht erhalten werden kann.« (FuP 213 f.)
Souveränität ist im Bereich des Politischen immer eine Illusion, weil sie sich im Netz menschlicher Angelegenheiten verlieren muss; »[w]o immer Pluralität ins Spiel kommt, ist Souveränität nur in der Einbildung möglich, und der Preis für sie ist die Wirklichkeit selbst.« (VA 299) Da Handeln bedeutet, seinen »Faden in ein Netz von Beziehungen« (GG 72) zu schlagen, schließt die mit dem Handeln verbundene Pluralität Souveränität ganz grundsätzlich aus. »Der Handelnde bleibt immer in Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän gerade ist er nie.« (KuP 294) Jede auf menschlicher Spontaneität gründende Handlungsinitiative fällt sofort in ein Netz von Bezügen und Beziehungen, »in welchem das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als eindeutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade sich nicht durchsetzen kann.« (KuP 294) Tragen wir der Pluralität im Handeln Rechnung, sind wir also gerade nicht souverän. Dies ist jedoch kein Grund, Freiheit zu leugnen – es ist nur so, dass diese sich auf andere Weise zeigt, als der Begriff der Souveränität es impliziert. Die Negation der Souveränität sollte aber erst recht nicht dazu führen, die eigene Souveränität auf Kosten anderer durchsetzen zu wollen, um die eigene Freiheit aufrechterhalten zu können, da man auf diese Weise einer Illusion von Freiheit nachjagt. Die Souveränität hat hier einen starken Zug ins Tyrannische; 130 man müsse sich darum »von dem alten, auf die rö130
Die »absolute Souveränität« stellt für Arendt grundsätzlich »die absolutistische
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mische Stoa zurückgehenden Vorurteil befreien, daß Nicht-Souveränität das gleiche sei wie Abhängigkeit« (FuP 214). Der Gedanke der Souveränität ist für Arendt also deshalb so wenig politisch, ja sogar das »Haupthindernis zum Verständnis des Politischen« 131 , weil er am Modell des einzelnen Menschen orientiert ist und die Pluralität menschlicher Angelegenheiten weitgehend ausblendet. Dies gilt für sie auch da, wo er als Begriff der politischen Philosophie verstanden und auf den staatlichen Zusammenhang angewendet wird: »Wie die Souveränität des einzelnen ist letztlich auch die Souveränität einer Gruppe oder eines politischen Körpers immer nur ein Schein; sie kann nur dadurch zustande kommen, daß eine Vielheit sich so verhält, als ob sie einer wäre und noch dazu ein einziger.« (FuP 214) Arendt sieht in der Nicht-Souveränität weniger die Gefahr der Abhängigkeit als vielmehr das Machtpotential, das sich aus intersubjektiv gedachtem Handeln ergibt. Dieser Gedanke sei dem modernen Menschen allerdings fremd geworden, »weil wir unter Freiheit entweder Gedankenfreiheit oder Willensfreiheit verstehen und weil wir der Politik die Sorge um die Lebensversorgung zuschreiben […].« (FuP 208) Aber genau wie beim Handeln verstand Arendt unter politischer Macht ein Potential, das nicht vom einzelnen Menschen seinen Ausgang nehmen konnte, sondern nur intersubjektiv zu konstituieren war und darum einer Vielheit bedurfte. In Kants Ethik wird diese Verbindung von Freiheit und Pluralität nicht recht reflektiert: »Es ist höchst auffällig, dass in der Kritik der praktischen Vernunft und den anderen moralischen Schriften Kants von dem sogenannten Mitmenschen kaum die Rede ist. Es geht wirklich nur um das Selbst und die in der Einsamkeit funktionierende Vernunft. Also ist Kants Moral inklusive dem kategorischen Imperativ eine Moral der Ohnmacht […].« (DTB 818) Lösung des Problems der Autorität« dar, welche »sofort in Tyrannis und Despotismus ausarten muß«. (ÜdR, 207) Auf dieses tyrannische Moment der Souveränität macht auch Reichenbach unter Bezugnahme auf Sennets Studien zur Autorität aufmerksam. Diese Betrachtung zur Souveränität steht bei Reichenbach im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophie Rousseaus, welche auch Arendt wegen des Homogenität einfordernden und damit Pluralität vernachlässigenden Gedanken der volonté générale kritisiert. Dabei setzt sie sich aber nicht nur mit Rousseau, sondern auch mit Hobbes und Carl Schmitt auseinander. Vgl. hierzu die Darstellungen bei Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 203 ff.; sowie Tassin, Wollen, 335 f.; Ders.: Souveränität. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller, Arendt Handbuch, 317 f. 131 Tassin, Souveränität, 318.
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Kant erschien ihr in dieser Perspektive »eher unergiebig« 132 , wie sie einmal an Heidegger schrieb, weil sein auf der praktischen Vernunft gründender Freiheitsbegriff für ihren auf Pluralität setzenden Begriff des Politischen wenig anschlussfähig sei. Um jedoch ihre Äußerung, es handle sich bei seiner Ethik um eine »Moral der Ohnmacht«, noch etwas besser einordnen zu können, wollen wir in einem unsere Beobachtungen zu Arendts Freiheitsbegriff abschließenden Schritt nun einen Blick auf das Verhältnis von Freiheit und Macht werfen.
2.2.6. Freiheit und Macht Die intersubjektive Grundsignatur des arendtschen Denkens mit ihrer Betonung dialogischer Praxis finden wir bei ihrem philosophischen Lehrer in gewisser Weise schon ebenso angelegt wie Teile ihrer Kantkritik. Auch Jaspers wollte Kants Ethik in dieser Perspektive modifiziert sehen, als er schrieb: »Die Kantische Frage ›Was soll ich tun?‹ ist nicht mehr genügend beantwortet durch den kategorischen Imperativ (obgleich dieser Imperativ unumgehbar wahr bleibt), sondern will ergänzt sein durch die Gründung allen sittlichen Tuns und Wissens in der Kommunikation.« 133 Jaspers hatte also bereits unmittelbar nach dem Krieg eine kommunikative Öffnung normativer Fragen bzw. der Ethik angemahnt – ein Anliegen, welches Arendt in ihrem Denken mit aller Konsequenz weiterverfolgte, indem sie das Handeln und Freiheit an Pluralität und Öffentlichkeit band. So »bedarf auch das Handeln der Präsenz anderer in einem eben politisch organisier132 Arendt, Hannah/Heidegger, Martin: Briefe 1925 bis 1975. Und andere Zeugnisse. Hrsg. v. Ursula Ludz. Frankfurt a. M. 2002, im Folgenden zitiert als BWH, hier der Brief vom 26. 07. 1974, 250. Arendt fasst ihre Vorgehensweise mit Blick auf das Willensproblem hier recht prägnant zusammen: »Ich habe Kant beim Willensproblem vorläufig ziemlich beiseite gelassen; im Gegensatz zu Denken und Urteilen schien er mir da eher unergiebig. Nun werde ich mir dies alles noch einmal überlegen müssen. Ich bin davon ausgegangen, daß die griechische Antike weder den Willen noch das Freiheitsproblem (als Problem) gekannt hat. Ich fange also die eigentliche Erörterung zwar mit Aristoteles (prohairesis, προαίρεσις) an, aber nur um zu zeigen, wie sich bestimmte Phänomene darstellen, wenn der Wille als selbständiges Vermögen unbekannt ist, und gehe dann von Paulus, Epiktet, Augustin, Thomas zu Duns Scotus.« 133 Jaspers, Karl: Über meine Philosophie. In: Ders.: Erneuerung der Universität. Reden und Schriften 1945/46. Mit einem Nachwort von Renato de Rosa. Heidelberg 1986, 17–50, 29. Vgl. dazu Grunenberg, Denken im Schatten des Traditionsbruchs, 110.
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ten Raum. […] Der politisch-öffentliche Bereich ist der weltlichsichtbare Ort, an dem Freiheit sich manifestieren, in Worten, Taten, Ereignissen wirklich werden kann.« (FuP 207) Freiheit soll gerade als weltliches, also intersubjektives Phänomen herausgestellt werden; »Politische Freiheit gewinnt Realität einzig in einer gemeinsamen Welt« 134 , einen anderen Ort hat sie nicht. Daher kann Freiheit auch nicht in der Innerlichkeit, sondern erst in der politischen Öffentlichkeit Wirklichkeit werden: »Bei Arendt beruht die Unterscheidung zwischen dem Willen und dem Handeln darauf, dass das Handeln ein gänzlich anderes Vermögen darstellt, weil es auf die Menschen als ›gesellige‹ Wesen angewiesen ist. Das übersinnliche ›ich will‹ erscheint zwar im sinnlichen ›Ich-kann‹, ist aber nicht mit dem Vermögen des Handelns zu identifizieren, weil sich politische Freiheit nur im Handeln zeigt. Politische Freiheit realisiert sich nur in einem öffentlich garantierten Raum.« 135
Dieser öffentliche Raum ist ein Freiheitsraum, insofern er durch freien, öffentlichen und gemeinsamen Vernunftgebrauch gekennzeichnet ist und der nur möglich wird innerhalb »des Intervalls, des interesse, wie es bei Hannah Arendt heißt, das zwischen aktiv und passiv am menschlichen Handeln Beteiligten auftritt« 136 . Er kann überall dort entstehen, »wo immer Menschen handeln und sprechend miteinander umgehen […].« (VA 251) Worum es in diesem Raum geht, ist nicht die Durchsetzung eines philosophisch-politischen Programms für die menschlichen Angelegenheiten, »sondern ist die schiere Tätigkeit des Räsonierens selbst, aus der Freiheit entsteht; das Räsonieren schafft einen Raum zwischen den Menschen, in dem Freiheit wirklich ist.« (FuP 205) Die Qualität politischen Handelns ist dabei von der Charakteristik seines Prozesses her bestimmt, es bestimmt sich nie von der Frage, in welchem Maße es ein vorgegebenes Ziel erreicht hat. Das gehört zum Wesen des menschlichen Handelns: »Was daraus wird, wissen wir nie.« (GG 72) Dieser als sprachliche Praxis auf Intersubjektivität angelegte Handlungsbegriff impliziert, wie wir sahen, einen Verzicht auf den Anspruch, dass die freie Spontaneität der eigenen Initiative auch mit der souveränen Durchsetzung des frei Intendierten einhergehen würde:
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Romberg, Athen, Rom oder Philadelphia?, 109. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 191. Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, 282.
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»Wären Souveränität und Freiheit wirklich dasselbe, so könnten Menschen tatsächlich nicht frei sein, weil Souveränität, nämlich bedingte Autonomie und Herrschaft über sich selbst, der menschlichen Bedingtheit der Pluralität widerspricht. Kein Mensch ist souverän, weil Menschen, und nicht der Mensch, die Erde bewohnen und dieses Faktum der Pluralität hat nichts damit zu tun, daß der Einzelne, auf Grund seiner nur begrenzten Kraft, abhängig ist von Anderen, die ihm gewissermaßen helfen müssen, überhaupt am Leben zu bleiben.« (VA 299)
Wer Souveränität für den Bereich der menschlichen Angelegenheiten zum Anspruch erhebt, verwechselt Handeln mit Herstellen: »Der Handelnde ist nie Souverän, sondern souverän ist für Arendt nur Homo faber« 137 , insofern er seinen einmal gefassten Plan der Erzeugung eines bestimmten Zustandes mit der Wahl entsprechender Mittel durchzuführen weiß – und dabei gerade nicht handelt, sondern herstellt. Das Herstellen geht dabei mit einer Gewissheit und Notwendigkeit einher, die nicht zuletzt der Einsamkeit dieser Tätigkeit zu verdanken ist – und welche dem politischen Handeln Arendt zufolge grundsätzlich abgeht. »Handeln […] kann ich immer nur in bezug auf andere und mit ihnen zusammen. Alles Handeln ist in den Worten Burkes ›to act in concert‹« (EU 712 f.) Den Phänomencharakter politischen Handelns, welcher auf der Initialität von »Handlungen der Menschen in der Welt« aufbaut und diese mit einem intersubjektiven Aspekt verbindet, hat besonders Ernst Vollrath herausgearbeitet: »Zur Phänomenalität wirklichen Handelns gehören Charaktere, die es gerade nicht unabhängig von den Situationen und Umständen auftreten lassen, in denen es sich ereignet.« 138 Handeln ist in der Wirklichkeit der Welt immer bedingt. 139 Die damit verbundene Unabsehbarkeit menschlichen Handelns kann beunruhigen. Freiheit bedeutet Nicht-Souveränität – dieser Befund mag uns als intentional angelegten, mit einem Willen ausgestatMeints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 209. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 10, 17; vgl. ebd., ff. 139 »Alle Bedingtheit hat einen doppelten Charakter. Jede Bedingtheit ist zunächst einmal Einschränkung – conditio sine qua non. Jede Bedingtheit ist ferner Ermöglichung – conditio per quam. Die volle Struktur der Bedingtheit liegt in der wechselweisen Verschränktheit beider Momente vor. […] Bedingungen geben an, was erforderlich ist, auf daß etwas möglich wird und möglich bleibt. Das Wirklichsein und Wirklichwerden liegt nicht bei den Bedingungen, sondern allein beim Handelnden selbst. […] Bedingungen der Wirklichkeit des Handelns sind also gerade diejenigen, die Handeln als Anfangenkönnen, als Möglichkeit, bestehen lassen.« Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 12. 137 138
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teten Wesen sicher wenig entgegenkommen. Doch Hannah Arendt verbindet mit diesem selbstbescheidenden Gedanken des notwendigen Verzichts auf Souveränitätsanspruch das Versprechen auf ein positives Phänomen – das Phänomen der Macht. Arendts Definition der Macht geht von der Feststellung aus, »daß unsere Fachsprache nicht unterscheidet zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt – die sich doch alle auf ganz bestimmte, durchaus verschiedene Phänomene beziehen und kaum existieren würden, wenn sie das nicht täten. […] Sie synonym zu gebrauchen« 140 sei fatal, denn »der Unfähigkeit, Unterschiede zu hören, entspricht die Unfähigkeit, die Wirklichkeiten zu sehen und zu erfassen, auf die die Worte ursprünglich hinweisen.« (Ebd.) Ihre Untersuchung spitzt sich – dem deutschen Titel ihrer des hier relevanten Textes entsprechend – auf die Unterscheidung der Begriffe Macht und Gewalt zu, in welcher wir die strukturelle Unterscheidung zwischen den Tätigkeiten Handeln und Herstellen wiederfinden können. 141 »In allen herstellenden Vorgängen steckt ein Moment von Gewalt« 142 ; Arendt trennt hier analytisch zwischen »der für die Herstellung von Dingen erforderlichen Stärke des Einzelnen« und »der für das Handeln notwendigen Macht der Vielen«. (VA 255) Sie grenzt sich hier von Max Weber ab, welcher Macht zwar genau wie Arendt als ein Potential versteht, im Gegensatz zu Arendt aber kein kommunikatives, sondern ein teleologisches Handlungsmodell zugrunde legt. 143 Auf dieser Grundlage war Macht gleichbedeutend gewesen mit »jede[r] Chance, innerhalb einer sozialen Bezie140 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 1970, im Folgenden zitiert als MG, hier 44. 141 Hauke Brunkhorst weist darauf hin, dass die Gegenüberstellung von Macht und Gewalt insofern eine »unglückliche Unterscheidung ist, als Arendt sich damit »freilich selbst um die Einsicht in die Komplexität ihrer Machttheorie bringt. […] Sie hält diese Unterscheidung jedoch selbst nicht konsequent durch.« Brunkhorst, Hauke: Macht/Gewalt/Herrschaft. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller, Arendt Handbuch, 294–298, 296. Da Arendts Machttheorie hier aber nicht in ihrer Komplexität durch ihr Gesamtwerk hindurch verfolgt werden soll, sondern nur insofern thematisiert werden kann, wie es zur Erhellung des Zusammenhangs von Freiheit und Handeln notwendig ist, wird hier aus heuristischen Gründen auf die Unterscheidung zurückgegriffen. 142 Reist, Die Praxis der Freiheit, 106. 143 Habermas, Jürgen: Hannah Arendts Begriff der Macht. In: Reif, Hannah Arendt, 287–305, 287 f.
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hung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« 144 (MG 37) Macht wird von Weber (und Anderen) also gedacht als ein vertikales Phänomen: Der Wille eines Einzelnen oder einiger Weniger wird Vielen gegenüber durchgesetzt. Unsere bisherigen Überlegungen haben bereits gezeigt, dass ein derartiges Phänomen stark an das erinnert, was wir bisher unter dem Begriff der Souveränität verhandelt hatten: Auch sie ist Sache des Einzelnen oder behandelt eine Gruppe zumindest wie einen solchen. Damit rückt die Souveränität für Arendt jedoch in die Nähe der Begriffe Stärke und Gewalt, welche in ihrer Struktur ähnlich beschaffen sind; auch sie sind Sache eines Einzelnen – und damit dem entgegengesetzt, was Arendt unter Macht versteht: »Denn Stärke, im Gegensatz zu Macht, kommt immer einem Einzelnen, sei es Ding oder Person, zu. Sie ist eine individuelle Eigenschaft, welche sich mit der gleichen Qualität in anderen Dingen oder Personen messen kann, aber als solche von ihnen unabhängig ist. Stärke hält der Macht der Vielen nie stand; der Starke ist nie am mächtigsten allein, weil auch der Stärkste Macht gerade nicht besitzt. Wo der Starke mit der Macht der Vielen zusammenstößt, wird er immer durch die schiere Zahl überwältigt, die sich oft nur darum zusammenschließt, um mit der der Stärke eigentümlichen Unabhängigkeit fertig zu werden. […]. (MG 45 f.)«
Der Stärke eignet nichts Intersubjektives, was sie als genuin politisches Potential qualifizieren würde. Ähnlich steht es mit der Gewalt, welche nur individuelle Stärke zu vervielfachen geeignet ist – aber ebenfalls keine Intersubjektivität stiftet: »Gewalt schließlich ist, wie ich bereits sagte, durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten, da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen ›Werkzeuge‹ zu vervielfachen, bis das Stadium erreicht ist, wo die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen.« (MG 47)
Für die Gewalt gilt jedoch zudem, dass »Macht und Gewalt […] Gegensätze [sind]: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden.« (MG 57) Im Gegensatz zur Stärke ist die Gewalt damit sogar genuin unpolitisch. Wer also im Bereich menschlicher Angelegenheiten auf Grundlage seiner Stärke souverän den eigenen Willen 144 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Erster Halbband. Köln, Berlin 1964, 38.
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durchzusetzen bestrebt ist, der ist damit nicht nur nicht im politischen Sinne frei – er ist auch nicht im eigentlichen Sinne mächtig, sondern er wendet Gewalt an. »Im Unterschied zur Gewalt ist Macht kein Mittel, sie entsteht nur im Zusammenhandeln der Menschen« 145 und kann daher nicht als Attribut einer einzelnen Person verstanden werden. Macht ist also immer mit Pluralität verbunden: »Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ›habe die Macht‹, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und ihm ihre Macht verlieh (potestas in populo – ohne ein ›Volk‹ oder eine Gruppe gibt es keine Macht), auseinandergeht, vergeht auch ›seine Macht‹.« (MG 45)
Der Begriff der Macht leitet sich Arendt zufolge nicht von »machen« ab, sondern von »möglich« (vgl. VA 252); menschliche Pluralität birgt »eben nur potentiell« (VA 251) die Chance, dass ein politisches Gemeinwesen »sein jeweiliges Machtpotential« (VA 252) im gemeinsamen Handeln und Kommunizieren auch nutzt. »Macht gründet sich auf den Zusammenschluß meinender Menschen zum Handeln in der Welt.« 146 Durch ihre intersubjektive Grundstruktur ist Macht im arendtschen Denken – im Gegensatz zu Webers Machtbegriff – kein vertikal, sondern horizontal sich entfaltendes Phänomen, weil es zwischen den Menschen entsteht: »Macht besitzt aber eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.« (VA 252) Als solche ist Macht eine recht »flüchtige Erscheinung« 147 , die »so sehr auf dem handelnden und sprechenden Miteinander der Menschen beruht«, dass der der Macht zugrunde liegende Erscheinungsraum »selbst unter den scheinbar stabilsten Verhältnissen seinen potentiellen Charakter niemals ganz und gar verliert.« (VA 251 f.) 148 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 215. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 30. 147 Brunkhorst, Macht/Gewalt/Herrschaft, 294. 148 Von Arendt wird diese Flüchtigkeit unter dem topos der »Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten« (VA 234) thematisiert. Ricœur spricht dies als die »›Schwäche‹ der Pluralität« an und reflektiert in diesem Zusammenhang die arendtsche Vorstellung, dass dieser Zerbrechlichkeit nur auf dem Wege von Versprechen 145 146
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Arendts Kritik an Kants Ethik
Besonders gefährdet ist kommunikativ konstituierte Macht durch die Anwendung von Gewalt. »Gewalt aber kann Macht nur zerstören, sie kann sich nicht an ihre Stelle setzen.« Das Ergebnis ist dann die laut Arendt gängige »Kombination von Gewalt und Ohnmacht als die Staatsform der Tyrannis« (VA 255); denn da eine Tyrannis stets »aktiv die Entstehung von Macht [verhindert]« (VA 256), kann das Machtpotential der Menschen sich in ihr nicht in freier Kommunikation entfalten, so dass »Ohnmacht immer ein Kennzeichen der Tyrannis ist« (VA 256). »Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust, und schließlich Ohnmacht. Wo Macht nicht realisiert sondern als etwas behandelt wird, auf das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde. […] Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält.« (VA 252)
Wenn wir Macht in dieser Weise als Phänomen betrachten, dessen »Grundvoraussetzung ja von vorherein eben diese Pluralität« (VA 254) ist, dann lässt sich tatsächlich sagen, dass der »kategorische Imperativ […] die perfekte Regel für das ohnmächtige Individuum« (DTB 821) ist. In der kantischen Ethik fußt die Möglichkeit einzig auf dem als praktische Vernunft verstandenen guten Willen des Einzelnen. Daraus kann in Arendts Perspektive aber keine Macht entstehen, denn das moralische Urteil verbleibt ganz in der Willensbestimmung des Subjekts und öffnet das Individuum nicht für eine gemeinsame Welt. »Diese Ich-Bezogenheit des Wollenden bleibt bestehen, auch wenn einer sich anschickt, die ganze Welt zu erobern.« (FuP 213) Die Anfänglichkeit und Initiativkraft, die für menschliches Leben so charakteristisch ist, »versickert« jedoch nicht einfach im Prozess politischer Meinungsbildung; das intersubjektive Potential ist selbst im Stande, einen Neuanfang zu stiften. »Macht als Vermögen, Mögliches zu verwirklichen, ist in diesem Sinne ›the freedom to call something into being which did not exist before‹. Unter der Perspektive der menschlichen Pluralität fallen Freiheit und Macht zusammen.« 149 und Verzeihen begegnet werden kann. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 746–752. 149 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 215; Meints zitiert aus: Arendt, Hannah: Between Past and Future. New York 1961, 151.
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Arendts Ideal eines politischen Handlungsprozesses ist es, dass auch in der Interaktion gleichberechtigter Anderer die Gründung eines neuen Zusammenlebens unter Menschen erfolgen kann; den historischen Bezugspunkt dieser Vorstellung bildet hier neben der Amerikanischen Revolution freilich vor allem die Entwicklung der Athenischen Demokratie als einer zu ihrer Zeit gänzlich neuen Form öffentlichkeitsbasierter politischer Kultur: »Die eigentliche Würde der Politik weist auf Erfahrungen zurück, die damals, in der Frühzeit abendländischer Geschichte, auf kleinstem Raum und innerhalb weniger Jahrzehnte sich unvergessen der europäischen Menschheit eingeprägt haben.« (VA 260) 150 Sie sind damit wie »ein schwaches Echo aus dieser frühen, vorphilosophischen Erfahrungswelt, in der Handeln und Sprechen als reine Aktualitäten in der Helle des durch Macht gestifteten Öffentlichen erschienen, […].« (VA 262) Macht, verstanden als sich im Handeln zwischen Menschen konstituierendes Potenzial, ermöglicht den Menschen also, auch auf einer intersubjektiven Ebene einen Neuanfang zu schaffen, der dann mit Recht eine »Gründung der Freiheit« (ÜdR 201) heißen kann.
2.3. Bildungsphilosophische Erträge 2.3.1. Bildungstheoretische Überlegungen Arendts Kritik am philosophischen Intellektualismus und ihre Öffnung des Orientierungsgeschehens für Kommunikation und Öffentlichkeit sind in verschiedenen Punkten von Bedeutung für die bildungsphilosophische Reflexion. Volker Steenblock zufolge stellt philosophische Bildung »ein rein szientifisches Verständnis der Fachphilosophie in Frage. In ihrem eigentümlichen Gegensatz steht – so haben es nicht wenige Beobachter empfunden – der eindrucksvolle akademische Aufwand philosophischer Reflexion zu deren eher verbesserungswürdiger Präsenz in den tagtäglichen Orten und Zusammenhängen lebensweltlicher Orientierungserfordernisse.« 151 150 Der Althistoriker Christian Meier formuliert in seinem Werk »Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte« dementsprechend: »Jedenfalls spricht vieles dafür, in dem, was in Athen und von ihm und auf es hin im fünften Jahrhundert geschah, nicht nur eine ganz neue Stufe, sondern auch einen neuen, keineswegs zwangsläufigen Anfang zu sehen.« Meier, Athen, 23. 151 Steenblock, Philosophische Bildung im Prozess der Kultur, 95.
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Bildungsphilosophische Erträge
Wie wir sehen konnten, kann auch Arendt sicher als einer der kritischen Beobachter in diesem Sinne gelten – und wir dürfen ebenfalls unterstellen, dass sie angesichts des Versagens der Philosophie vor den Herausforderungen des Totalitarismus die Formulierung einer »verbesserungswürdigen Präsenz« mit Blick auf die »Orientierungserfordernisse« der Menschen bestenfalls für zu akademisch gehalten hätte. Mit Blick auf die politische Bildung müssen sich die Philosophie im Ganzen und besonders natürlich ihre Didaktik auch heute fragen lassen, wie ihr Beitrag zur normativen Orientierung ihrer Edukanden aussehen kann. Welche Rolle kommt Arendts Kritik an Kants Ethik in diesem Kontext zu? Arendts Denken impliziert eine starke Kritik am vernünftigen Subjekt der Aufklärung, wie wir es auch und gerade in der kantischen Ethik finden. Wie wir bereits in unseren Überlegungen zur Aufklärung gesehen hatten (vgl. Kap. B. 2.1.2.), scheint dieses Subjekt tendenziell überfordert zu sein, was spätestens seit den 1980er Jahren auch der Pädagogik reflektiert wird. In diese Richtung weisen auch die Überlegungen von Erziehungwissenschaftlern, für die die Vorstellung eines sich emanzipierenden Subjekts in früheren Zeiten die Grundlage aller Reflexion über Erziehungs- und Bildungsprozesse dargestellt hatte. Lenzen zufolge galt früher »die Überzeugung, dass die Vernunft über eine Kraft der Selbstdurchsetzung verfüge, die dann alles Weitere veranlassen werde: Emanzipation der Schüler, der Menschen, Besserung der Verhältnisse, wo nicht sozialistische Revolution, so doch wenigstens sozialdemokratische Reform«. Sein Resümee erscheint dabei heute eher ernüchtert: »Machen wir uns nichts vor, diese Vision ist gescheitert.« 152 Die Bewertung des Scheiterns dieser am sich emanzipierenden Subjekt orientierten Pädagogik erfährt jedoch in Arendts Denken insofern eine Verschiebung ihrer Perspektive, als hier Freiheit und souveräner Wille ganz grundsätzlich auseinanderfallen. Die von Lenzen beschriebene Einsicht in das Scheitern der als sich emanzipierendes 152 Lenzen, Dieter: Reflexive Erziehungswissenschaft am Ausgang des postmodernen Jahrzehnts oder Why should anybody be afraid of red, Yellow and blue? In: Benner, Dietrich; Lenzen, Dieter und Otto, Hans-Uwe (Hrsg.): Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernisierungskrise, Beiträge zum 13. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Zeitschrift für Pädagogik 29/1983, Beiheft. Weinheim/Basel 1992, 75–93, 80. Lenzen blickt hier autobiographisch auf die von der Kritischen Theorie inspirierte Arbeit mit Herwig Blankertz zurück. Vgl. Steenblock, Hermes und die Eule der Minerva, 153.
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Subjekt verstandenen Person kann daher durchaus als Chance begriffen und als notwendiger Schritt dafür angesehen werden, den Blick etwas zu weiten und in der Pluralität die Bedingung der Konstitution ebendieser Person zu sehen. Das Scheitern des souveränen, sich emanzipierenden Subjekts muss so gesehen keinen Freiheitsverlust bedeuten, sondern kann möglicherweise mit einem Gewinn an Freiheit einhergehen. Dass Arendt Willensfreiheit und Souveränität als Modelle der Freiheit kritisiert, weil sie sie für zu subjektzentriert und ich-bezogen hält, ist also bereits auf einer sehr allgemeinen pädagogischen Ebene eine fruchtbare Überlegung. Doch gilt dies nicht nur als Hintergrund für eine Argumentation, welche etwa die Wertschätzung von Kompromissen für das menschliche Zusammenleben als Intersubjektivität und Pluralität reflektierenden Verfahren hochzuhalten bestrebt ist. Vielmehr verbirgt sich hinter Arendts Denken insofern eine weitergehende bildungsphilosophische Überlegung, als die Vorstellung eines sich bildenden Selbst ohne den Hintergrund menschlicher Pluralität insgesamt ein leerer Begriff sein könnte. Dass »die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt«, (VA 216) hat in Arendts Denken nämlich keineswegs mit einer etwaigen Aktualisierung eines vernünftigen Selbst im Praktischwerden von Vernunft, mit der Emanzipation eines Subjekts im Handeln oder Ähnlichem zu tun, sondern vielmehr damit, dass die Identität einer Person aus der solipsistischen Perspektive vernünftiger Innerlichkeit nur sehr begrenzt feststellbar ist. »Sprechen und Handeln« geben eine Antwort auf die »Frage: Wer bist Du? Aufschluß darüber, wer jemand ist, geben implizite sowohl Worte wie Taten« (VA 217). Handeln und Sprechen sind also insofern konstitutiv für die Entwicklung eines Selbst, als die Bildung zur Person als ein Vorgang der Offenbarung verstanden werden muss, bei dem wir nicht eine bereits in der Innerlichkeit vorhandene Person in die Welt entlassen, sondern in der Interaktion mit Anderen zur Person werden: »Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt […]. Nur vollkommenes Schweigen und vollständige Passivität können dieses Wer vielleicht zudecken […].« (VA 219)
Die Bildung einer Person lässt sich in dieser Perspektive nicht verstehen als »das Manifestwerden des Inneren«, sondern als ein Sich264 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Bildungsphilosophische Erträge
Ereignen im Zusammenhang der Welt. In diesem Zusammenhang enthüllt sich die eigene Person im Sinne einer Antwort auf die Frage, »wer-einer-ist«. 153 Eine solche Enthüllung ist auch nach Rahel Jaeggi nicht als Aufdecken eines bereits Vorhandenen zu verstehen, sondern eher als Kreation, die erst durch diese Enthüllung in der Auseinandersetzung mit Anderen entsteht und daher zudem stets ein Moment des Unabsehbaren enthält. 154 Da Handeln und Sprechen an Pluralität gebundene, intersubjektive Vorgänge sind, bedeutet dies, dass »die Bildung einer Person […] an die Anderen gebunden [ist]. […] Das heißt, dass Wer jemand ist zeigt sich nur im gemeinsamen Handeln der Vielen, in der Pluralität. Die Bildung der Person verschränkt sich bei Hannah Arendt mit ihrem Begriff der Macht. […] Die Person ist ein Effekt der Begegnung mit Anderen.« 155
Bildung bedeutet in diesem Verständnis nichts in der Innerlichkeit des Subjekts Verbleibendes oder auch nur wesentlich dort zu Verortendes mehr, sondern vielmehr, dass die eigene Person sich nur insofern konstituiert, als sie ihr Personsein auch in der Wirklichkeit der Welt aktualisiert: »Es gibt folglich keine Person ohne öffentlichen Raum […]. Nur im Sprechen und Handeln unterscheiden sich die Menschen aktiv voneinander. Es sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. Im Handeln als Neuanfang wird die Geburt bestätigt. Es entspricht der Geburt des Jemand.« 156
In einem solchen Verständnis der Bildung zur Person wird die Person vom innerlichen Subjekt ebenso abgekoppelt wie vom Begriff des Selbst und des Selbstbewusstseins. 157 Insofern »kommt der Öffentlichkeit eine persönlichkeitsbildende Funktion zu« 158 . Im entsprechenden Kapitel der Vita activa zeigt sich Arendts Denken als eine Position, deren bildungstheoretische Implikationen in einem an der Vorstellung öffentlichen Erscheinens orientierten Sinne als phänomenologisch gelten können. Arendt zufolge ist es durchaus möglich,
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 232. Vgl. Jaeggi, Rahel: Welt und Person. Zum anthropologischen Hintergrund der Gesellschaftskritik Hannah Arendts. Berlin 1997, 73 ff. 155 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 233 f. 156 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 235. 157 Vgl. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 232. 158 Bajohr, Hannes: Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt. Berlin 2011, 92. 153 154
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»dass dies Wer, das für die Mitwelt so unmissverständlich und eindeutig sich zeigt, dem Zeigenden selbst gerade und immer verborgen bleibt, als sei es jener δαιμων der Griechen, der den Menschen zwar sein Leben lang begleitet, ihm aber immer nur von hinten über die Schulter blickt und nur denen sichtbar wird, denen der Betreffende begegnet, niemals ihm selbst.« (VA 219)
Die identitätstheoretische Perspektive, die sich für Arendt mit diesem an Welt und Öffentlichkeit gebundenen Verständnis der Person eröffnet, ist die Vorstellung einer narrativen Identität, einer Person als erzählbarer Geschichte. »Die Erzählung bringt, wie Hannah Arendt in Erinnerung ruft, das ›Wer‹ einer Handlung« zum Ausdruck. 159 Identität entwickeln bedeutet für Hannah Arendt nichts weniger, als im Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten Fäden zu hinterlassen. 160 »Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar.« (VA 226) Das Leben ebenso wie die eigene Existenz wären eine Aneinanderreihung weitgehend unzusammenhängender Ereignisse (ein was), wo sich die Zeitpunkte dieses Lebens nicht zu einer sinnvollen, intersubjektiv erzählbaren Geschichte (eines wer) verbinden lassen – inklusive aller Brüche, Widersprüche, »Kehren« und Bekehrungen. Erst die Erzählung hat die Kraft, das sonst so flüchtige Handeln zu »kondensieren« 161 und die unzusammenhängenden Fakten und Daten des eigenen Lebens in einen intersubjektiv mitteilbaren Zusammenhang einzuordnen. Arendt ist sich darüber im Klaren, dass dies wohl in letzter Konsequenz nur in der Retrospektive zu leisten ist: Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 137. Mit der Erzählung sind Ricœur zufolge aufgrund ihrer Tendenz zur Selektion allerdings auch gerade verschiedene Gefahren der Manipulation, des gesteuerten und ideologischen Vergessens verbunden. Wir werden auf dieses Problem noch zurückzukommen haben. Vgl. ebd. 160 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint Rehfus’ Ablehnung des dialogischen Paradigmas und seine Betonung der Bedeutung des Schweigens für Prozesse philosophischer Bildung verwunderlich und dies nicht zuletzt deshalb, da er den Anspruch erhebt, mit einem identitätstheoretisch-bildungstheoretischen Ansatz dem Subjekt aus seiner postmodernen Krise helfen wollen. Mit Hannah Arendt könnten wir in dieser Perspektive erwidern, dass das Subjekt eine solche Krise in seiner schweigend-solipsistischen Vereinzelung kaum überwinden dürfte, wenn es sich nicht aufmacht, in der Welt zur Person zu werden. Vgl. Rehfus, Methodischer Zweifel und Metaphysik, 100 f., 106 ff. 161 »De Kunst van hat verhaal rust bij Arendt in de kracht de handeling te condenseren.« Van den Haak, Nel: Narrativiteit bij Paul Ricoeur en Hannah Arendt. In: Jaarboek voor esthetica 2001, 75–90, 76 f. 159
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Bildungsphilosophische Erträge
»Das Wesen einer Person – […] das Wesen dessen Wer-einer-ist, kann überhaupt erst entstehen, und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Geschichte.« (VA 242) Ricœur wird diesen Gedanken Arendts weiterentwickeln. Auch er betont dabei die Rolle von diskursiven Praktiken einer sprachlichen Gemeinschaft, in denen Subjektivität erst geformt wird und fasst dies im Begriff der narrativen Identität. 162 Dass Identitätsbildung auch hier nicht gedacht ist als individuelle Leistung eines vereinzelten Subjekts – obwohl Ricœur wie Arendt bei Kants Spontanitätsbegriff anschließen – wird deutlich, wo auch Ricœur das Selbst als etwas begreift, das erst in der Auseinandersetzung mit dem Anderen konstituiert wird. 163 Dies ist keineswegs eine einseitige Leistung eines Subjekts. 164 Wo wir Bildung als einen Vorgang verstehen, in dem »Menschen sich selbst und ihre Verhältnisse wahrnehmen und gestalten« 165 , ist es kaum von der Hand zu weisen, dass dieser Vorgang Menschen vor dem Hintergrund der ihr Menschsein bedingenden Pluralität thematisiert und dass die narrative Dimension innerhalb dieser Prozesse einen zentralen Schritt vom Was der faktenhaften Informationssammlung zum Wer einer Welt von Personen markiert. Auch was die normative Orientierungsleistung dieses Bildungsprozesses angeht, ist die Bedeutung von Pluralität und Intersubjektivität in der arendtschen Position deutlich geworden. Ihre Kritik an der philosophischen Tradition, hier im Speziellen der kantischen Ethik, läuft auf eine Kritik eines philosophisch-ethischen Intellektualismus hinaus, dessen Quelle der Normativität »nicht von dieser Welt« zu sein scheint. Arendt hält dem eine Vorgehensweise entgegen, welche demgegenüber den Anspruch erhebt, von den weltlichen Bezügen der Menschen auszugehen und von dort aus »ohne Geländer« weiterzudenken. Das zwischenmenschliche Potential, das in Arendts Worten buchstäblich »im Bereich des Zwischen entsteht […], wenn immer Menschen etwas zusammen unternehmen« (DTB 160) und so zum Begriff einer interpersonell und kommunikativ konstituierten 162 Ricœur, Paul: Narrative identity. In: Philosophy Today, 35/1991, 73–81 sowie Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München 1996, 173 ff. 163 Vgl.Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 132 sowie grundlegend Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 219 ff. 164 Vgl. Van den Haak, Narrativiteit bij Paul Ricoeur en Hannah Arendt, 85 ff. 165 Steenblock, Theorie der kulturellen Bildung, 7.
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Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik
Macht verdichtet wird, ist auch für die Bildung insofern relevant, als sich ein dialogisches Paradigma philosophischer Bildung von hierher nicht nur in einer identitätstheoretischen Perspektive fundieren lässt, sondern auch in normativer Hinsicht argumentative Optionen eröffnet. Wie wir bereits im ersten Teil dieser Arbeit (Kap. B.1.2.) herausgestellt hatten, öffnet Arendts Denken die Frage nach normativer Orientierung für die intersubjektive Verständigung, was mit Blick auf die normative Dimension von Bildungs- und Erziehungsprozessen bedeutete, das Moralerziehung im Sinne einfacher Implementierung geltender Moral als Vorgehensweise auszuschließen war. Wir haben im hier vorliegenden Teil dieser Arbeit nun gesehen, dass Arendt diese Argumentationsrichtung insofern auf die philosophische Ethik erweitert, als sogar die kantische Ethik aufgrund der logisch-subsumierenden Struktur ihres Urteils und der im Subjekt verharrenden Perspektive des unter die praktische Vernunft gebeugten guten Willens Arendts auf Pluralität fußende Vorstellung eines intersubjektiv konstituierten Machtpotentials ignoriert und ihrem an weltlichen Bezügen orientierten Ideal praktischen Urteilens nicht genügt: »Also ist Kants Moral inklusive dem kategorischen Imperativ eine Moral der Ohnmacht; als solche aber ist sie unantastbar. Das nennt man Gesinnungsethik, und auf Gesinnungsethik hat man nur in Grenzsituationen ein Recht, wenn man für die Welt Verantwortung nicht mehr übernehmen kann. In der Kritik der Urteilskraft hingegen kommt der politische Mensch zu Wort. Die Frage ist: Lässt sich eine Ethik der Macht aus der Urteilskraft entwickeln?« (DTB 818)
Wir werden diese Frage und das bildungsphilosophische, sich auf die Fähigkeit zu normativer Orientierung richtende Potential von Arendts Antworten im nächsten Teil dieser Arbeit weiterverfolgen.
2.3.2. Methodische Überlegungen: Das Vergessen und die Politische Hermeneutik Das zentrale methodische Problem, das sich im Kontext von Hannah Arendts Kant-Rezeption stellt, ist die Frage, wie sich ihr sehr selektiver Zugriff auf ein von sich aus geschlossenes philosophisches System rechtfertigen lässt. Wir hatten diesen Traditionszugriff bereits als Benjamins Methode der Zitatmontage kennengelernt, die wir 268 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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auch als »Perlentauchen« beschrieben fanden: In der Tiefe der Tradition, zu der der Ariadnefaden im Bruch des 20. Jahrhunderts gerissen war, sucht der Denker nach Perlen, nach »Bruchstücken der Vergangenheit« (D 208), welche in die Gegenwart des Denkens zu retten sind. Dass dieses Vorgehen für Arendts gesamtes Wirken als Autorin unterstellt werden kann, erregt bereits erstmalig im Gutachten zu ihrer Dissertation Anstoß, wo Jaspers moniert: »Die Methode ist als sachliches Verstehen zugleich gewaltsam […].« 166 Auch in der Folge ist ihr Traditionszugriff bisweilen als »Eklektizismus« kritisiert worden. 167 Wo dieser Vorwurf im Raum steht, besteht offensichtlich methodischer Rechtfertigungsbedarf, und an dieser Stelle ist es freilich wenig hilfreich, dass Hannah Arendt sich selbst niemals ausführlich zu ihrer Methode geäußert hat; wir waren diesem Problem bereits in Kapitel B.2 begegnet. Wieder ist es Ricœur, der nicht nur immer wieder betont hat, wieviel sein Denken Arendt verdankt, sondern hier wohl in Weiterentwicklung ihres Denkens eine Überlegung beisteuert, welche im Rahmen dieser Arbeit möglicherweise Schützenhilfe zu leisten vermag. »Ricœurs zentrales Paradigma für die Herstellung sinnvoller Strukturen ist das Erzählen […].« 168 Einen Anknüpfungspunkt bildet daher das narrative Moment im Denken beider Theoretiker, das seit der Abfassung ihrer Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen einen wesentlichen Grundzug von Arendts Denken bildet: Die Narration ermöglichte es ihr an diesem Beispiel, die Lazare bzw. Blumenfeld 166 Jaspers, Karl: Handschriftliches Gutachten zur Dissertation von Hannah Arendt (1928). Aus dem Nachlass von Karl Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung. Zit bei Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 61. 167 Am kritischsten ist hier sicherlich die Dissertation von Jakob Stefan Seitz, der am Ende seiner Arbeit zusammenfassend resümiert: »Deutlich wurden auch die Schwierigkeiten, das komplexe Denken Hannah Arendts zu fassen und an eine bestimmte Denktradition rückzubinden. Ihr Eklektizismus in der Analyse von Autoren, Sachverhalten oder geschichtlichen Ereignissen erschwert die Aufgabe, eine Kohärenz in ihrem Denken zu entdecken. Es vollzieht sich in Brüchen, die dem Leser oftmals nur schwer nachvollziehbar sind. […] Ihr Denken erschöpft sich in dem Versuch, die antiken Modelle, die sie für richtig erkannt hat, auf die moderne Gesellschaft anzuwenden.« Seitz, Jakob Stefan: Hannah Arendts Kritik der politisch-philosophischen Tradition – unter Einbeziehung der französischen Literatur zu Hannah Arendt. München 2002, 323. 168 Bauer, Katharina: Erzählte Spuren. Vom Vergessen und Vergessenwerden. In: Hähnel, Martin: Memoria und Mimesis. Paul Ricœur zum 100. Geburtstag. Dresden 2013, 17–30, 19.
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entlehnten Begriffe des Parvenüs und des Parias in einen erzählten Zusammenhang zu stellen, der ihren Sinn erst zu erhellen vermochte. »Das Leben Rahels wurde in diesem Sinne ein ›Beispiel‹, und verwandelte sich in ein echtes Laboratorium des politischen Denken Arendts, die im Kontakt mit diesem ›Besonderen‹, dessen ›historische Tradition‹ sie teilt, ihre künftigen Begriffe schmiedet.« 169 Auch ihr Spätwerk Vom Leben des Geistes profitiert noch von dieser narrativen Grundstruktur, welche die Entwicklung von Denken und Wollen im Kontext der Geschichte und im Gespräch mit den relevanten Denkern zu erzählen scheint. Auf diesen narrativen Zug, auch von Arendts Gesamtwerk, ist in der Arendt-Forschung immer wieder hingewiesen worden. 170 »Die Berufung des Theoretikers zum ›Geschichtenerzähler‹ ist auch der einheitliche Faden in Arendts politischen und philosophischen Analysen von Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft über ihre Reflexionen über die Französische und Amerikanische Revolution bis zu ihrer Theorie des öffentlichen Raums und zu ihren letzten Worten im ersten Band von The Life of Mind« 171 . Das arendtimmanente Problem, mit dem wir es an dieser Stelle jedoch zu tun haben, ist Arendts eigene Haltung gegenüber dem Vergessen, das im Unterschied zu Ricœur für sie immer bedrohlich und problematisch ist. 172 Wir waren diesem Umstand deshalb auch bei der Auseinandersetzung mit ihrem Begriff der »Banalität des Bösen« begegnet, als dem Charakteristikum des Verbrechers, dessen beeinträchtigtes Erinnerungsvermögen ihm ein Verhältnis zur eigenen Tat verstellte und ihn so erst wirklich gefährlich machte. (vgl. B 75) Ein so eindeutig negativer Blick auf das Vergessen legt einen Umgang mit der Vergangenheit nahe, welcher einen derart selektiven Zugriff auf die Tradition, wie wir ihn bei Arendt finden, eigentlich ausschließen müsste oder zu derartiger Selektivität mindestens in einer deutlichen Spannung steht. Dass Arendts Bewertung eines so vielschichtigen Phänomens wie dem Vergessen in der bei ihr zur Sprache kommenden Eindeutigkeit als unterkomplex gelten muss, ist eine Einsicht, die zu den Verdiensten Ricœurs zu rechnen ist, der hier Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 89, vgl. ebd., 94 f. Vgl. z. B. Benhabib, Die melancholische Denkerin, 153 ff.; Knott, Verlernen, 109; Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 145 ff.; Young-Bruehl, Hannah Arendt als Geschichtenerzählerin, 319 ff. 171 Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 166 f. 172 Vgl. Van den Haak, Narrativiteit bij Paul Ricoeur en Hannah Arendt, 78. 169 170
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deutlich differenzierter argumentiert. Auch er reflektiert »das Vergessen als etwas […], das die Treue des Gedächtnisses beeinträchtigt«, bleibt aber nicht dabei stehen, es als eine »Fehlfunktion« 173 zu begreifen: »Diesem Vergessen als Fehlfunktion des rationalen Subjekts steht ein selektives Vergessen gegenüber, das sogar als Bedingung des funktionierenden Gedächtnisses vorauszusetzen ist: Würden wir permanent alles Erlebte unwiderruflich in unserem Gehirn abspeichern, wären wir vollkommen überfordert damit, dieses Erlebte später wieder als Erinnerung zu reaktivieren und uns im Archiv unseres Gedächtnisses zu orientieren. Zudem würden irgendwann die natürlichen Grenzen der Speicherkapazität erreicht. Die Fähigkeit, zu einem selektiven Vergessen ist in diesem Sinne ein großes Glück. Für Ricoeur müssen daher ars oblivionis und ars memoriae, die Kunst des Vergessens und die Kunst des Erinnerns, Hand in Hand gehen. 174
Im Unterschied zu Arendt wird das Vergessen bei Ricœur also nicht grundsätzlich abgelehnt, da Erinnerung ohne Vergessen ganz prinzipiell nicht möglich erscheint; Grund dafür ist »der unvermeidlich selektive Charakter der Erzählung. Wenn man sich schon nicht an alles erinnern kann, dann kann man erst recht nicht alles erzählen. Die Vorstellung von einer erschöpfenden Erzählung ist eine performativ unmögliche Vorstellung. Die Erzählung enthält notwendigerweise eine selektive Dimension.« 175
Erzählungen, verstanden als Verfahren der Repräsentation von Vergangenheit, sind Vorgänge, innerhalb derer die Neuordnung der zugrundegelegten historischen Information (Ricœur spricht von einer virtuellen »›reinen‹ Erinnerung« 176 ) ebenso unvermeidlich ist wie Akzentuierung und Auswahl, da eine vollständige, alles umfassende Wiedergabe offenkundig nicht möglich ist. Dies gilt ganz besonders für narrative Strukturen – allerdings bringt die Strukturierung und Akzentuierung des Erzählten als negative Rückseite der Auswahl das Problem der Selektion des der Erzählung Zugrundeliegenden mit Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 634, 637. Auf diesen Umstand hatte auch Gadamer bereits aufmerksam gemacht: »Dem Verhältnis von Behalten und Sich-Erinnern gehört in einer lange nicht genug beachteten Weise das Vergessen zu, das nicht nur Ausfall und Mangel, sondern, wie vor allem F. Nietzsche betont hat, eine Lebensbedingung des Geistes ist.« Gadamer, Wahrheit und Methode, 21. (Hervorh. R. T.) 174 Bauer, Erzählte Spuren, 18 f. 175 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 684. 176 Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 658. 173
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sich. »Die Selektion ermöglicht […] die Herstellung narrativer Kohärenz, also, wenn die Geschichte einer Person erzählt wird, die Ausgestaltung eines konsistenten Lebenszusammenhangs.« 177 Mit Blick auf Arendts Methode des Zugriffs auf die philosophische Tradition ist in dieser Perspektive klar, warum ein Zugriff auf diese immer nur selektiv sein kann. Das Verfahren der De- und Remontage von »Perlen« der Tradition reflektiert nicht nur den Umstand, dass ein Verständnis der Tradition als eines selbstverständlichen Sinnhorizontes wegen des Traditionsbruchs nicht mehr legitim erscheint (Arendts Argument), sondern es wird mit Blick auf die ricœursche Argumentation zudem klar, dass ein anderer Zugriff schlichtweg nicht möglich ist. 178 Die Selektion erweist sich als notwendig mit der Methode historischen Arbeitens verbunden sowie als deren konstitutives Charakteristikum; Ricœur zitiert Todorov, um dies deutlich zu machen: »Die Arbeit des Historikers besteht wie jede Arbeit über Vergangenes niemals nur darin, Tatsachen festzustellen, sondern auch darin, bestimmte von ihnen als bedeutender als andere auszuwählen und sie anschließend in Beziehung zu setzen«. 179 Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist also in jedem Fall gerichtet, durch das selektive Moment von leitenden Gesichtspunkten geordnet, und diese bestimmen auch über die Art und Weise der Selektion, fungieren als eine Art Filter der Erinnerung. Es geht hier also um die »Anerkennung der Tatsache, dass wir notwendig vergessen müssen, um überhaupt sinnvoll erinnern zu können […]«. 180 Doch welche Form der Selektion bei unserem Zugriff auf die Vergangenheit erscheint legitim, wenn es um ein solches sinnvolles Erinnern, einen sinnvollen Zugriff auf die Tradition geht? Was sind die Ge-
Bauer, Erzählte Spuren, 19. Auch Gadamer hatte bereits darauf hingewiesen, dass es nicht die Funktion eines Gedächtnis ist, schlicht alles und jedes zu behalten: »Das Gedächtnis muß gebildet werden. Denn Gedächtnis ist nicht Gedächtnis überhaupt und für alles. […] Dem Verhältnis von Behalten und Sich-Erinnern gehört in einer lange nicht genug beachteten Weise das Vergessen zu, das nicht nur ein Ausfall und ein Mangel, sondern, wie vor allem F. Nietzsche betont hat, eine Lebensbedingung des Geistes ist. Nur durch das Vergessen erhält der Geist die Möglichkeit der totalen Erneuerung, die Fähigkeit, alles mit frischen Augen zu sehen, so daß das Altvertraute mit dem Neugeschehenen zu vielschichtiger Einheit verschmilzt.« Gadamer, Wahrheit und Methode, 21. 179 Todorov, Tzvetan: Les Abus de la memoire, Paris 1995, zit. nach Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 138. 180 Bauer, Erzählte Spuren, 19, kursiv R. T. 177 178
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sichtspunkte, die einen sinnvollen Zugriff auf die Tradition ermöglichen? Ricœur reflektiert hier sehr genau die Gefahr einer »Ideologisierung des Gedächtnisses durch die Variationsmittel […], die die narrative Konfigurierungsarbeit anbietet. […] Das Hilfsmittel der Erzählung wird so zur Falle, sobald höhere Mächte die Ausrichtung dieser Fabelkomposition übernehmen […].« 181 Auch die für die Ideologie typische »Verzerrung der Realität« kommt zustande durch »die Selektionsfunktion der Erzählung, die der Manipulation die Gelegenheit und die Mittel zu einer listigen Strategie an die Hand gibt […]. Die Manipulationsmöglichkeiten, die die Erzählung bietet, werden aber vor allem auf jener Ebene mobilisiert, auf der die Ideologie als Rechtfertigungsdiskurs für die Macht und die Herrschaft fungiert.« 182
Wo die Selektion der Macht dient – und Ricœur versteht »Macht« hier im weberschen Sinne als Herrschaft 183 – ist die Erzählung gefährdet, nicht ihrerseits für die Wirklichkeit orientierende Kraft zu entfalten, sondern diese in herrschaftssichernder Perspektive zu verzerren. Was kann nun das Kriterium für Auswahl und Kombination sein, welches dieser »Falle« entgeht und das sie zur Orientierung in der Welt qualifiziert? Lässt sich ein solches Verfahren überhaupt im Rahmen einer politischen Theorie oder gar in Absicht auf politische Bildung betreiben, ohne sich dem Vorwurf der Ideologie auszusetzen? Kehren wir an dieser Stelle zurück zu Arendts Analyse totalitärer Ideologie: »Ideologisches Denken ist, hat es einmal seine Prämisse, seinen Ausgangspunkt, statuiert, prinzipiell von Erfahrungen unbeeinflußbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar.« (EU 966) Das ideologische Denken bestand für Arendt gerade in einer gewaltsamen Strukturierung der menschlichen Angelegenheiten durch der menschlichen Praxis selbst nicht ursprünglich entstammende ideelle Gehalte, welche diese leiten wollten, ohne sich an ihr zu orientieren und ohne dem pluralen Erscheinungsraum menschlicher Wirklichkeit offen zu stehen. Eine solche subsumierende Überformung durch Ideen oder ähnliche erfahrungsunabhängige ideelle Gehalte mit Wahrheitsanspruch galt Arendt stets als inakzeptabel, weil diese sich dem Anspruch einer weltlich konstituierten Realität entzogen und
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Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 684. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 137. Vgl. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 134 ff.
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Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik
daher für eine Orientierung in der Welt nicht als geeignete Ordnungsgesichtspunkte in Frage kamen. Doch was entscheidet denn in der Erzählung des arendtschen Werkes darüber, wie diese zu strukturieren ist; darüber, was »Perle« ist und was nicht? 184 Worauf kommt es an bei einem Traditionsbezug, welcher ein »Denken ›mit der Welt‹« 185 gewährleisten soll? Wie kann man im Umgang mit der Vergangenheit der Gefahr entgehen, welche auch Arendt selbst in ihrem Text über Bert Brecht beschreibt: »Sie erinnerten […] sich an alles und vergaßen, worauf es ankam« 186 ? Für Hannah Arendt geht es im Umgang mit der Vergangenheit immer um »mehr als Erinnern« 187 . Der arendtsche Fokus, ihr Filter der Selektion geht auf eine ganz ursprüngliche Freiheitserfahrung im Politischen zurück. Er hat sich in der bisherigen Untersuchung immer wieder gezeigt und wird sich auch im Weiteren als Regulativ ihres Denkens erweisen. Wir können diesen Fokus mit zweien ihrer Gedanken aus »Was ist Politik« zusammenfassen: Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen. (WiP 9) und Der Sinn von Politik ist Freiheit. (WiP 28) Beide zusammengenommen formulieren letztlich ihr Programm einer Sorge um die Welt, welches das erkenntnisleitende und regulative Prinzip ihrer Rezeptionsmethodik bildet. Ein Zugriff auf die philoso184 Seyla Benhabib hat in ihrem einschlägigen Text bereits 1988 eine ähnliche Frage aufgeworfen: »Was aber leitet die Tätigkeit des ›Geschichtenerzählers‹, wenn die Tradition aufgehört hat, Orientierung zu sein?« Bei Benhabib wird diesem Problem als »Lösung« die Methode des Perlentauchens entgegengestellt, welche das hier von uns formulierte Problem, welche Fragmente der Tradition als Perle gelten können und welche nicht, überhaupt erst sichtbar werden lässt, aber freilich keineswegs selbst löst. Benhabib, Die erlösende Kraft des Erzählens, 168. 185 Vgl. Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin, 323 f. 186 Arendt, Hannah: Bertold Brecht. In: Dies.: Benjamin, Brecht. Zwei Essays. München 1971, 63–107, 76. (Zurück-) Übersetzt bei Young-Bruehl, Arendt als Geschichtenerzählerin, 323. Die Übersetzung von Young-Bruehls Text akzentuiert das Problem noch etwas deutlicher als das arendtsche Original, wo es mit Blick auf viele Vertreter der Generation Brechts ursprünglich heißt: »In sich selbst und in die eigene Jugend und Kindheit verliebt, erinnerten sie sich an alles und vergaßen das Wesentliche.« (Hervorh. R. T.) 187 Arendt, A Reply, 402. (Übersetzung R. T.)
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Bildungsphilosophische Erträge
phische Tradition vor dem Hintergrund der alles Politische bedingenden Pluralität und der den Sinn aller Politik bildenden Freiheit erweist sich daher nicht als ideologische Überformung erlebter Wirklichkeit durch ideelle Kategorien, welche an die Wirklichkeit menschlicher Angelegenheiten quasi von außen herangetragen würden. Die Einsicht in die Pluralität als menschlicher Grundbedingtheit und der Freiheit als dem »Sinn von Politik« gehen vielmehr auf die ursprüngliche Situiertheit der Menschen als im Plural existierender Wesen und der mit dieser Pluralität einhergehenden Erfahrung der Konstituierung von Wirklichkeit zurück. Sie sind als solche an menschliche Praxis überhaupt gebunden – und damit keineswegs »von der Wirklichkeit unbelehrbar.« (EU 966) Kristeva hat diesen Grundgedanken von Arendts Zugriff auf die philosophische Tradition auf eine prägnante Formel gebracht: »Sie möchte den Himmel der Philosophie bewahren, nicht damit er von einem unnennbaren, preziösen oder gar tendentiell tyrannischen Solipsismus verfinstert wird; sondern um den Dialog des Denkens im politischen Raum selbst zu beleben, wo das Denken sich als die Fähigkeit entfaltet, zwischen gut und böse zu unterscheiden.« 188
Ein solcher Zugriff auf die philosophische Tradition, welcher unter dem Blickwinkel einer von Pluralität und Freiheit geprägten politischen Praxis geordnet ist, kann mit Recht politische Hermeneutik genannt werden, denn hier wird »das Politische […] der spezifische Modus des Verstehens von Wirklichkeit, der sich in dieser Praxis aktualisiert.« 189 Auch für Bildungsprozesse kommt den Momenten der Pluralität und der Freiheit daher orientierende Funktion zu. Wir werden diese Methodik im letzten Kapitel des Hauptteils weiter an Arendts Auseinandersetzung mit Gemeinsinn und Urteilskraft aufzuweisen haben, denn eine solche politische Hermeneutik entlehnt ihr Verfahren letztlich eben der politischen Urteilskraft, zu welcher sie zugleich den methodischen Zugang bildet. Auch die Urteilskraft kann »die Prinzipien, Maximen und Regeln nicht sich selbst, sondern dem Handeln der Menschen in der Welt entnehmen. Sie muß daher den Bereich dieses Handelns vom Handeln selbst her rekonstruieren.« 190 GeKristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 246. Sigwart, Hans-Jörg: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt. Würzburg 2012, 475. 190 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 35. 188 189
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Freiheit und Pluralität – Arendts Kritik an Kants Ethik
meinsinn und Urteilskraft werden in ihrer politischen Bedeutung in eben der Art und Weise hermeneutisch erschlossen, welche durch sie selbst ermöglicht wird. Im letzten Teil dieser Arbeit wird sich also die Einheit von Gegenstand und Methode erweisen, welche sich mit Arendts Rezeption von Kants Begriff der Urteilskraft verbindet.
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3. Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
3.1. Welt und Gemeinsinn »Der, welcher sich an diesen Probierstein gar nicht kehrt, sondern es sich in den Kopf setzt, den Privatsinn, ohne, oder selbst wider den Gemeinsinn, schon für gültig anzuerkennen, ist einem Gedankenspiel hingegeben, wobei er nicht in einer mit anderen gemeinsamen Welt, sondern (wie im Traum) in seiner eigenen Welt sich sieht, verfährt und urteilt.« (Kant, Anthropologie, BA 152)
3.1.1. Exkurs: Gemeinsinn – Karriere eines Begriffs Das deutsche Wort Gemeinsinn ist ein Begriff der Übersetzungsgeschichte des lateinischen Terminus »sensus communis« und als solcher hält er seit dem 17. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum Einzug in die philosophische Terminologie. Gleichwohl reicht die Beschäftigung mit dem seither als »Gemeinsinn«, »gemeiner« oder »gesunder Menschenverstand« oder auch »Menschensinn« bezeichneten Vermögen der Sache nach weit hinter diese Zeit und auch hinter die Entstehung des lateinischen Terminus selbst zurück. 1 Worin diese »Sache« allerdings besteht, erweist sich schon deshalb als einigermaßen unklar, weil die Vorstellungen von Charakter und systematischem Ort des Gemeinsinns als recht uneinheitlich gelten können. Ähnlich vielgestaltig wie die Bezeichnungen sind nämlich die Vorstellungen davon, welche Fähigkeiten diesem Vermögen zugeschrieben werden sollten. So vermerkt das Eisler-Lexikon von 1904 denn auch eher summarisch: »Gemeinsinn (koinê aisthêsis, sen1 Vgl. Maydell, Alexander v. und Wiehl, Reiner: Gemeinsinn. In: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Stuttgart 1974, Bd. 3, 243– 245.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
sus communis, common sense) bedeutet bald die Wahrnehmung des den verschiedenen Sinnen Gemeinsamen, bald den ›inneren Sinn‹ (s. d.), bald den gesunden Menschenverstand, bald den sozialen Sinn, das Gefühl der Solidarität und den Willen zur Unterordnung unter das gesellschaftliche Ganze, den Gemeingeist (als ›esprit de corps‹)« 2 – und versammelt damit offensichtlich sehr unterschiedliche Phänomene unter einem Begriff. Auch Heinz Kleger kommt im Archiv für Begriffsgeschichte zu einem ähnlichen Befund von Vielgestaltigkeit: »Wir treffen dabei in der Tiefendimension der Weltorientierung auf sensus communis als Sinneinheit, wir treffen sodann in Politik und Politischer Philosophie – immer und immer wieder – auf Gemeinsinn und Bürgersinn sowie in der Moral und der Erkenntnistheorie auf Klugheit und gesunden Menschenverstand.« 3
Es ist hier nicht der Ort, diese sehr weit verzweigte Begriffsgeschichte im Überblick nachzuzeichnen, dennoch erscheint es mit Blick auf unseren Gegenstand durchaus sinnvoll, mindestens zwei Bedeutungskomponenten des Gemeinsinns voneinander zu unterscheiden und anhand einiger zentraler Stationen in ihrer Entwicklung zu skizzieren. 4 Artikel »Gemeinsinn«. In: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin 1927, Bd. 1, 500–501, 500. 3 Kleger, Heinz: Common sense als Argument. Zu einem Schlüsselbegriff der Weltorientierung und politischen Philosophie (1. Teil). In: Archiv für Begriffsgeschichte 30/1986/87, 192–225, 192. 4 Unsere Darstellung erhebt daher nicht nur keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sie folgt in ihrer Anlage von Anfang an der eingeschränkten Intention, die Verschiedenartigkeit der bei Arendt zusammengefassten Vermögen deutlich machen zu wollen. Hier sind sicher andere Einteilungen möglich und in anderen Kontexten sowie der Sache nach auch andere Systematisierungen naheliegend. Für einen weiteren Überblick über das Begriffsfeld »Gemeinsinn« bzw. »sensus communis« und die angrenzenden Vermögen wird darum an dieser Stelle neben dem oben bereits genannten Artikel zum Gemeinsinn im Historischen Wörterbuch verwiesen auf: Albersmeyer-Bingen, Helga: Common Sense. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie. Berlin 1986; Gadamer, Wahrheit und Methode, 24–35; Kleger, Heinz: Common sense als Argument. Zu einem Schlüsselbegriff der Weltorientierung und politischen Philosophie (2. Teil). In: Archiv für Begriffsgeschichte 33/1990, 22–59; Nehring, Kritik des Common Sense; Pust, Helga: Common Sense bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Europäische Schlüsselwörter. Bd. II, Kurzmonographien I, 92–140; Tiffany, Monika Katharina: Der Begriff des sensus communis in Kants Kritik der Urteilskraft. Eine historische und systematische Analyse. Zürich 2002; Wanninger, Thomas: Bildung und Gemeinsinn. Ein Beitrag zur Pädagogik der Urteilskraft aus der Philosophie des sensus communis, Regensburg 1998; sowie der von Leinkauf, Dewender, von der 2
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Welt und Gemeinsinn
Zum einen ist für den Gemeinsinn eine psychologisch-erkenntnistheoretische Bedeutung nachweisbar, welche auf ein aristotelischthomistisches Erbe zurückschauen kann. Seinen Ausgang nimmt diese Bedeutungskomponente des Begriffs in Aristoteles’ Auseinandersetzung mit der sinnlichen Wahrnehmung in seinem Werk Über die Seele 5 . Aristoteles zufolge ist unsere sinnliche Wahrnehmung auf fünf verschiedene Sinne verteilt und »jeder dieser Sinne urteilt über die ihm eigenen Objekte und täuscht sich hierüber nicht, daß es z. B. Farbe oder Ton ist« (de an 418 a). So ist sich etwa der »Gesichtssinn«, also das Sehvermögen, jederzeit darüber im Klaren, was eine (sichtbare) Farbe ist und würde niemals einen (nicht sichtbaren) Geruch für eine solche halten; das Gehör würde auch niemals eine (ihm nicht zugängliche) Farbe mit den nur ihm zugänglichen Tönen verwechseln können. Sinnestäuschungen sind in dieser Perspektive also ausgeschlossen; sie können folglich immer nur die diesen Akzidenzien zugrunde liegenden Träger betreffen. Die fünf Sinne sind spezialisiert und ihr Einsatzbereich ist recht klar umrissen. Der Gemeinsinn aber kann nun kein Sinn wie diese beschriebenen Vermögen sinnlicher Wahrnehmung sein, denn »daß es außer den fünf Sinnen – ich verstehe unter diesen Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn – keinen anderen gibt,« (de an 424 b) daran lässt Aristoteles keinen Zweifel. Nun gibt es neben Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmacksrichtungen und ertastbaren Beschaffenheiten aber auch noch Qualitäten, die zwar der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind, aber nicht durch spezifische, eigens auf sie spezialisierten Sinne wahrgenommen werden können wie »Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt, Größe. Solche Objekte sind nämlich keinem einzelnen Sinn eigentümlich, sondern allen gemeinsam; denn eine Bewegung ist sowohl durch den Tastsinn, als auch durch das Gesicht wahrnehmbar.« (de an 418a) Aristoteles geht darum davon aus, dass es für solche Objekte eine gemeinsame Wahrnehmung, κοινὴ αἴσθησις, gibt: »Für die gemeinsamen Objekte haben wir bereits einen gemeinsamen Sinn […]. Es gibt also für sie nicht einen spezifisch eigenen Sinn.« (de an 425 a, Lühe, Grünepütt und Riebold verfasste Artikel zum Sensus communis im Historischen Wörterbuch der Philosophie, 622–675. 5 Aristoteles: Über die Seele. Hrsg. v. Horst Seidl. Hamburg 1995. Im Folgenden zitiert als de an.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Hervorh. R. T.) Die Wahrnehmung der Bewegung eines Gegenstandes z. B. kann ebenso gesehen wie ertastet werden, ist also über zwei verschiedene, (anderweitig) spezialisierte Sinne zugänglich und liefert damit Informationen über zwei voneinander weitgehend unabhängige Informationskanäle, welche zu einer dann eben gemeinsamen Wahrnehmung verbunden werden müssen, damit die Wahrnehmung überhaupt dem gleichen Objekt zugeordnet werden kann. Die aristotelische koinê aisthêsis erweist sich damit als das Vermögen, verschiedenen Sinnen zugängliche Wahrnehmungsobjekte zusammenzufassen und zu verdichten: »Sinn stiftet hier die Einheit zwischen Verschiedenem und Ungleichem. Indem er [der Gemeinsinn, R. T.] alle Elemente durchläuft, artikuliert er Gegenstände, Prozesse und Organe in einer Identität.« 6 In diesem Verständnis eines Einheit stiftenden Vermögens wird die koinê aisthêsis von Thomas von Aquin aufgenommen, welcher den Gemeinsinn in der Folge als zentrale Instanz der sinnlichen Wahrnehmung begreift: »Denn das höhere Vermögen oder die höhere Fertigkeit erfaßt den Gegenstand unter einem allgemeineren Gesichtspunkt. So ist der Gegenstand des Gemeinsinnes das Sinnenfällige überhaupt, das das Sichtbare und Hörbare unter sich begreift. Daher erstreckt sich der Gemeinsinn, wiewohl er ein einziges Vermögen darstellt, auf alle Gegenstände der fünf Einzelsinne.« 7
Auf diese Weise ist aus der aristotelischen gemeinsamen Wahrnehmung (κοινὴ αἴσθησις) verschiedenartiger Qualitäten bei Thomas von Aquin ein eigenständiger Sinn, eben der Gemeinsinn geworden, welcher generell die verschiedenen Tätigkeiten der fünf äußeren Sinne vereinigt – eine Interpretation, von der zurecht bemerkt worden ist, dass sie weit über die aristotelische Intention hinausgehen dürfte. 8 Bei Thomas von Aquin wird der sensus communis also zum Gegenbegriff zu den »sensus particulares, die nur das ihnen jeweils Eigentümliche erfassen« und steht »in der Hierarchie der menschKleger, Common sense als Argument (2), 23. Thomas von Aquin: Summa theologica, Teil I, Frage 1, Artikel 3, ad 2. 8 So bemerkt Wolfgang Welsch mit Blick auf die von ihm als »Gemeinsinns-Aristoteliker« bezeichneten Denker Thomas von Aquin und Franz Brentano: »Somit ergibt sich insgesamt, daß der Terminus ›koine aisthesis‹, auf den sich die Übersetzungswörter ›sensus communis‹ und ›common sense‹ berufen, in Wahrheit gar nicht existiert. Man hat hier eine Auffassung in die Texte hineingelesen, die in ihnen absolut nicht niedergelegt ist und deren Beweggründe nicht von Aristoteles her genommen sind.« Welsch, Wolfgang: Aisthesis. Stuttgart 1977, 358. 6 7
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Welt und Gemeinsinn
lichen Fähigkeiten« 9 über diesen. Er wird damit zu einer Art übergeordneter Instanz der Sinneswahrnehmung, welche für die menschliche Fähigkeit zu differenzierter Wahrnehmung von zentraler Bedeutung ist: »Der innere Sinn wird Gemeinsinn genannt, nicht weil er Gattung, sondern weil er gemeinsame Wurzel und Grund der äußeren Sinne ist. […] Deshalb muß das Unterscheidungsurteil dem Gemeinsinn angehören, zu dem alle Wahrnehmungen der Sinne wie zum gemeinsamen Endpunkt hingebracht werden, von dem auch die Tätigkeiten der Sinne erfaßt werden […].« 10
Ähnliche Weiterentwicklungen des sensus communis zu einer Theorie der inneren Sinne sind auch schon bei Avicenna und auch bei Albertus Magnus nachweisbar. 11 Der sensus communis geht in dieser Bedeutung über eine Vermittlung der arabischen Philosophie des frühen Mittelalters in die Philosophie der Hochscholastik ein und findet sich auch in den Werken von Duns Scotus wieder. In diesem aristotelisch-scholastisch dominierten Sinnbezirk des Gemeinsinnsbegriffes wird er stets als das zentrale Organ der Sinneswahrnehmung verstanden; 12 als solches ist er ein intra-subjektives Vermögen, welches verschiedene, innerhalb des Einzelnen vorfindliche Kompetenzen bündeln hilft. 13 Von diesem intra-subjektiven, psychologisch-erkenntnistheoretischen Bedeutungs- und Rezeptionsstrang des Gemeinsinns kann und muss ein zweites Verständnis mit gesellschaftlich-ethischer Funktion unterschieden werden, welches seinen Ausgang ebenfalls in der aristotelischen Philosophie nimmt und von dort über die Stoa und die römische Philosophie vermittelt, letztlich auch zu der mit Pust, Common Sense, 96. Aquin, Thomas von: Summa theologica, Teil I, Frage 78, Artikel 4, ad 1/2. 11 Vgl. Leinkauf, Sensus communis (Antike), 621; Nehring, Kritik des Common Sense, 32. 12 Vgl. Pust, Common Sense, 95 f. Zu dieser Verdichung der ursprünglichen, aristotelischen »gemeinsamen Wahrnehmung« auf einen eigenständigen Gemeinsinn passt das mittelalterliche Verständnis dieses Vermögens, wonach es sich nicht nur um einen erkenntnistheoretisch-psychologischen Begriff, sondern auch um einen Begriff der mittelalterlichen Medizin handelt, dessen genaue Lokalisierung im menschlichen Körper breit erörtert wird. Dieses Verständnis des Gemeinsinns als einem quasi materialisierten physischen Organ verliert sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Vgl. Pust, Common Sense, 95 ff., 105. 13 Kohler, Georg: Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie. (§§ 39–42) In: Höffe, Otfried: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Berlin 2008, 137–150, 143. 9
10
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Ciceros Namen verbundenen Begriffsbildung des sensus communis führt. 14 Wie Kleger sehr zu Recht anführt, muss eine Verbindung zwischen der aristotelischen koinê aisthêsis und Ciceros sensus communis wohl als Äquivokation interpretiert werden; hier lässt sich der Sache nach bestenfalls eine recht »formale Analogie konstruieren: Beide richten sich auf die Koine.« 15 Da auf diese Weise nicht verschiedene Kompetenzen innerhalb des Menschen gebündelt werden, sondern eine Verbindung zwischen verschiedenen Individuen in den Blick gerät, wird der Gemeinsinn hier von einem intra-subjektiven zu einem inter-subjektiven Vermögen. 16 Dieses auf die menschliche Praxis gerichtete Verständnis des Gemeinsinns nimmt seinen Ausgang jedoch nicht wie die erkenntnistheoretische koinê aisthêsis in der aristotelischen Seelenlehre, sondern wird in der Literatur zumeist auf den Phronesis-Begriff der Nikomachischen Ethik zurückgeführt: »Wer PHRONESIS besitzt, äußert seine Klugheit im lebenspraktischen Handeln, und damit ist er […] ein Mensch mit Gemeinsinn.« 17 Dabei wird vor allem die Eigenschaft der Phronesis relevant, dass sie weder theoretische Erkenntnis (epistêmê) noch auf eine bloße Fertigkeit (technê) zu reduzieren ist: 18 Für die theoretische Erkenntnis gibt es kein So-oder-anders, während die Phronesis am Prozess des Beratschlagens orientiert ist und damit ein Moment des Kontingenten aufweist. Im Gegensatz zu den auf das Herstellen (poiêsis) bezogenen Kunstfertigkeiten (technê) ist die Klugkeit zudem auf das menschliche Handeln (praxis) bezogen. 19 Nachdem die Phronesis weder theoretische Erkenntnis noch technê sein kann, folgert Aristoteles: »so wird also die Klugheit weder Wissenschaft noch Kunst sein […]. Es bleibt also nur, daß sie ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten sei mit Bezug auf das, was für den Menschen gut oder schlecht ist. Das
Vgl. Maydell/Wiehl, Gemeinsinn, 244. Kleger, Common sense als Argument (2), 25. 16 Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 143. 17 Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 11. 18 Vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 41 f.; Gadamer, Wahrheit und Methode, 27. 19 Vgl. Ebert, Theodor: Pronêsis. Anmerkungen zu einem Begriff der aristotelischen Ethik (VI 5, 8–13). in: Höffe, Otfried (Hrsg.): Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Berlin 1995, 165–185, 166. 14 15
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Welt und Gemeinsinn
Hervorbringen hat sein Ziel außerhalb seiner selbst, das Handeln nicht. Denn das gute Handeln ist selbst ein Ziel.« (Eth. Nic. 1140B 1–8, Hervorh. R. T.)
Der Bezug zwischen diesem aristotelischen Phronesis-Begriff und dem sensus communis wird bei Cicero besonders in der Rhetorik hergestellt. Cicero hat dem sensus communis keine eigene Schrift gewidmet; der Begriff ist für ihn in besonderem Maße als Richtschnur des politischen Redners von Bedeutung. Cicero führt dazu aus, in der politischen Rede solle niemals »gegen die Gewohnheit des allgemeinen Empfindens [a consuitudine communis sensus] verstoßen« 20 werden: »Meiner Meinung nach muß der Redner alles das beherrschen, was mit dem normalen Leben, mit der Politik und unserer Gesellschaft, dem allgemeinen menschlichen Empfinden [in sensu hominis communi], der Natur und der Gesittung des Menschen in Beziehung steht«. (de oratore II, 68)
Er verfolgt damit einen Politikbegriff, bei dem es ganz wesentlich darum geht, auf dem Wege der Beredsamkeit Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen. Dabei erweist sich die Rhetorik als in starkem Maße an die Philosophie und der Rhetor an die prudentia gebunden. 21 Wer in der Öffentlichkeit sprechen und überzeugen will,
Cicero, Marcus Tullius: De oratore/Über den Redner. Übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin. Stuttgart 1976, Buch I, im Folgenden zitiert als de oratore, hier 12. 21 Vgl. Kleger, Common sense als Argument (2), 27 f.; Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 27. Die starke Verbindung zwischen sensus communis und griechischer phronesis, wie Kleger sie aus Ciceros »Von den Pflichten« ableitet, beruht allerdings wohl auf einem Zitationsfehler. Bei Cicero heißt es in der von Kleger angegebenen Stelle: »principesque omnium virtutum illa sapientia, quam σοφιαν Graeci vocant, prudentiam enim, quam Graeci φρονησιν, aliam quandam intellegimus, quae est rerum expetendarum fugiendarumque […].« Dies wird bei Merklin nachvollziehbarerweise übersetzt mit: »Als wichtigste von allen Tugenden besteht die Weisheit, die die Griechen ›sophia‹ nennen – denn unter Klugheit, die bei den Griechen ›phronesis‹ heißt, verstehen wir etwas ganz anderes, was in der Kenntnis der Dinge besteht, die wir erstreben und meiden müssen«. Cicero, Marcus Tullius: Von den Pflichten. Übersetzt von Harald Merklin. Frankfurt a. M. und Leipzig 1991, Buch I, 153. Kleger hingegen zitiert die Stelle anders: »Principesque omnium virtutum illa sapientia, quam Graeci ›phronesis‹ dicunt, aliam quandam intellegimus, quae est rerum expetendarum fugiendarumque scientia: …« und stellt damit einen Bezug zur Phronesis her, der bei Cicero hier so offensichtlich gar nicht bestanden hatte, da dieser der sophia an dieser Stelle deutlich den Vorzug gibt. Das herangezogene Cicero-Zitat eignet sich damit in Wirklichkeit gar nicht als Beleg für die Verbindung von sensus communis und prudentia. 20
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
»muss aus dem Kreis der eigenen Borniertheit heraustreten, sich auf einen allgemeinen Standpunkt stellen und die Zuhörer mittels […] einer moralischen, gemeinschaftsorientierten Einstellung zu überzeugen suchen. Dazu gehört die Fähigkeit, die unterschiedlichsten Standpunkte einzunehmen, denn das Auditorium besteht nicht aus Gleichgesinnten« 22 .
Für Gadamer liegt in dem hier bereits aufscheinenden humanistischen Ideal der eloquentia deshalb »keineswegs nur ein rhetorisches Ideal. Es meint auch das Sagen des Richtigen, des Wahren, nicht nur: die Kunst der Rede, die Kunst, etwas gut zu sagen.« 23 Spätestens mit Cicero erhält der Gemeinsinn also auch eine normative, moralischpolitische Dimension, da die Beredsamkeit in seiner Ethik eine zentrale Rolle bei der Vermittlung recht- und pflichtmäßigen Handelns spielt. 24 In der Folge steht der sensus communis bei Cicero zudem für eine Opposition, welche für seine Geschichte in vielerlei Hinsicht bestimmend sein wird, nämlich für den Gegensatz »zwischen dem Schulgelehrten und dem Weisen«, der »seine sachliche Grundlage in dem Begriffsgegensatz von sophia und phronesis besitzt.« 25 Viele Vertreter von Humanismus und Reformation, denen der sensus communis ein durchaus geläufiger Terminus war, bezogen den Begriff zudem in die scholastische Opposition von lumen naturale und lumen supranaturale ein, wobei er als »›weltliche‹ Verstandeskraft dem übernatürlichen Licht des Glaubens gegenübergestellt« 26 wurde. Für den Gemeinsinn wurde also schon früh charakteristisch, dass er als dem Übernatürlichen, Übersinnlichen entgegengesetzt und damit
Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 55. Tiffany versteht Ciceros Vermögen des sensus communis daher ganz ausdrücklich als eine Form politischer Urteilskraft, die sie zudem in die Nähe der kantischen erweiterten Denkungsart, welche das Urteil Anderer im eigenen Urteil mit berücksichtigt, rückt. Vgl. ebd., 56 f. 23 Gadamer, Wahrheit und Methode, 25. 24 Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 32; Albersmeyer-Bingen, Common Sense, 42 ff. 25 Gadamer, Wahrheit und Methode, 25. Nehring bemerkt zu dem Verhältnis von common sense und Philosophie in der Philosophiegeschichte denn auch recht zutreffend: »Im Ganzen wird das Verhältnis von Common Sense und Philosophie (bzw. Wissenschaft) in der Begriffsgeschichte vor allem als Gegensatzpaar betrachtet. Die Bewertung des Begriffskomplexes ›Common Sense‹ durch die Philosophie – und durch die Wissenschaft überhaupt – kennzeichnet aber ein beständiger Wechsel von Distanzierung und Rehabilitierung.« Nehring, Kritik des Common Sense, 44 f. 26 Pust, Common Sense, 98. 22
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Welt und Gemeinsinn
eher als ein Vermögen verstanden wurde, welches der Weltorientierung dienen sollte. Ein solcher, humanistisch-republikanischer Sinn des sensuscommunis-Begriffs wird in der Neuzeit nicht zuletzt über das Werk Giambattista Vicos tradiert, auch wenn dessen Wirkung auf die Philosophie seiner Zeit nicht überschätzt werden darf. 27 Indem er in seinem Werk sowohl an den aristotelischen Phronesis-Begriff als auch an Ciceros rhetorische Tradition anschließt, macht er ein Verständnis des sensus communis stark, welches sich gegen das moderne, cartesisch-kritische Wissenschaftsverständnis richtet. Für den Kontext dieser Arbeit ist hier nicht zuletzt von Interesse, dass dies für Vico besonders für den Bereich von Bildung und Erziehung von Bedeutung ist. Dabei wird der sensus communis als ein Vermögen in Stellung gebracht, welches nicht auf das Wahre, sondern auf das Wahrscheinliche gerichtet ist und zugleich fungiert als ein »Sinn, der Gemeinsamkeit stiftet.« 28 Anknüpfend an die aristotelische Tradition wird hier praktisches gegen theoretisches Wissen, das Sehen des Konkreten gegen ein Wissen aus allgemeinen Prinzipien betont. Vico beklagt am deterministischen Wissenschaftsideal seiner Zeit einen Mangel an gemeinschaftlichem Sinn und das »Ungenügen des theoretischen Vernunftgebrauchs auf dem Gebiet der alltäglichen Praxis«. 29 Eine als episteme auf überzeitliche Wahrheiten zielende Wissenschaft muss Vico zufolge den besonderen Charakter menschlicher Handlungen und ihrer Geschichte ganz grundsätzlich verfehlen. Offensichtlich gegen das im Cartesianismus vorherrschende wissenschaftliche Paradigma der Mathematik konstatiert er, dass sich »die Handlungen der Menschen nicht nach dem geradlinigen Lineal des Verstandes, der starr ist, messen [lassen]. […] Und darin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Wissenschaft und KlugVgl. Kleger, Common sense als Argument (2), 31; Nehring, Kritik des Common Sense, 32; Gadamer, Wahrheit und Methode, 29. Albersmeyer-Bingen macht für die mäßige Rezeption Vicos den Umstand verantwortlich, dass dessen Bestreben einer Erneuerung der Wissenschaft aus antikem Geist stark konservative und restaurative Züge trug und der geistesgeschichtlichen wie gesellschaftlichen Lage seiner Zeit nicht angemessen gewesen sei. (Albersmeyer-Bingen, Common sense, 77) Bei Arendt freilich ist eine Vico-Rezeption gerade unter Bezugnahme auf eine bei ihm anzutreffende Unterscheidung von Natur- und Geschichtswissenschaften immer wieder nachweisbar. (Vgl. z. B. VA 380, Rev. 67.) 28 Gadamer, Wahrheit und Methode, 26, vgl. ebd., 25 ff. 29 Nehring, Kritik des Common Sense, 35. 27
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
heit« 30 . Die Suche nach Wahrheiten ist in der Sphäre des Handelns nicht am Platz, vielmehr sind es hier Wahrscheinlichkeiten, die Orientierung bieten: »Gerade weil das Wahrscheinliche einen weitaus geringeren Anspruch auf Gültigkeit erhebt als das Wahre, ist es in der Praxis von größerer Gewißheit, zumal es sich oft unmittelbar an den Ergebnissen des Handelns bewährt oder scheitert.« 31 Ausgehend von diesen Grundannahmen werden bei Vico Strukturelemente des sensus communis expliziert und systematisiert, welche schon bei Cicero angelegt gewesen waren. 32 Als Gegeninstanz zum Urteil des Verstandes bezieht sich der Gemeinsinn auf den Willen des Menschen und wird als »spontanes praktisches Prinzip« und »allgemeiner Sinn für das Rechte […] nicht nur Quelle des Naturrechts, sondern zum Prinzip sozialer Tugend überhaupt«; er »begründet den gesamten Bereich des praktischen Wissens, der Rhetorik, Politik und Moral, aber auch der Künste« 33 . Vico erweist sich damit als einer »der herausragenden Verfechter des Sensus communis in der Bedeutung des sozialen Gemeinsinns.« 34 Für unseren Zusammenhang ist hier besonders hervorzuheben, dass schon in Vicos Verständnis des sensus communis »das Urteil des Einzelnen mit dem Urteil der Allgemeinheit zusammengeschlossen« und dadurch die »Wichtigkeit der Bildung des ›senso commune‹ als des Prinzips der lebensweltlichen Orientierung« 35 betont wird. Der Gemeinsinn ist also wichtig, um das eigene Urteil mit den Urteilen Anderer in Abgleich zu bringen und sich mit der eigenen Position im Kontext der Meinungen verorten zu können. Vicos Begriff verbindet damit den Anspruch einer in einem sehr weiten Sinne als praktisches Vermögen und Entscheidungsprinzip gedachten Instanz mit der Fähigkeit zur Orientierung und Verortung des eigenen Selbst in einer plural strukturierten Lebenswelt. Um dies gewährleisten zu können, bedarf der Gemeinsinn einer spezifischen Bildung, welche in Opposition zum cartesischen Wissenschaftsideal gedacht wird. Vicos Kritik am naturwissenschaftlichen Paradigma mag in der Retrospektive sehr weitsichtig erscheinen – bescherte ihm zu seinen 30 Vico, Gian Battista: Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung. Hrsg. v. Fritz Schalk. Bad Godesberg 1947, 61. 31 Vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 73. 32 Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 29. 33 Von der Lühe, Sensus communis, 644. 34 Nehring, Kritik des Common Sense, 35. 35 von der Lühe, Sensus communis, 644.
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Lebzeiten jedoch auch das Schicksal, von seinen Zeitgenossen in nicht in angemessener Weise rezipiert zu werden. 36 Ein Autor, der in ähnlicher Weise das antike Erbe des sensus communis aufnahm und dessen Denken in dieser Hinsicht starke Parallelen zu Vico aufweist, war Shaftesbury. Allerdings gewann er dabei in weit höherem Maße Einfluss auf Philosophie und Literatur als Vico. 37 Anknüpfend an das römisch-humanistische Konzept des sensus communis versteht Shaftesbury den Begriff noch stärker als Vico im Sinne einer »affektive[n] Neigung zur Geselligkeit und zu Pflichten der Gesellschaft gegenüber« 38 , womit er diesen, nicht zuletzt im Verständnis als moral sense, zu einer »allumfassenden sozialen und moralischen Tugend« 39 weiterentwickelt. In seiner bekannten Definition bezieht sich Shaftesburys auf den römischen Satirendichter Juvenal; der sensus communis soll im Anschluss an diesen verstanden werden als »Gefühl für das allgemeine Wohl, für das gemeinsame Interesse, Liebe für das gemeine Wesen oder die Gesellschaft, natürliches Wohlwollen, Menschenliebe, Dienstgeflissenheit, oder die Art der Gefälligkeit bedeuten, die aus dem Gefühl der gemeinschaftlichen Rechts der Menschheit, aus der natürlichen Gleichheit erwächst, die sich unter Geschöpfen einer Gattung findet.« 40
An dieser Stelle wird deutlich, dass Shaftesbury den sensus communis nicht als eng spezialisiertes, sondern als extrem breit angelegtes menschliches Vermögen versteht. Die Shaftesbury-Literatur konzentriert sich vielfach auf die Begriffe common sense und moral sense und ihr Verhältnis, so dass das viel weiter gefasste und von diesen Begriffen zu unterscheidende, römisch fundierte Konzept eines sensus communis oft aus dem Blick gerät. 41 Albersmeyer-Bingen zufolge Vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 73. Vgl. Walzel, Oskar Franz: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 1/1909, 416–437; Weiser, Christian Friedrich: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben. Leipzig, Berlin 1916. 38 von der Lühe, Sensus communis, 644. 39 Nehring, Kritik des Common Sense, 35, ebenso vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 77 ff. 40 Shaftesbury, Anthony Ashley Earl of: Sensus Communis. Ein Versuch über die Freiheit des Witzes und der Laune, III, 1. In einem Brief an einen Freund. In: Ders: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays. Hrsg. v. Karl-Heinz Schwabe. München 1990, 321–379, 350 ff. 41 Vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 79 f. 36 37
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
enthält der Begriffsgehalt des umfassenderen lateinischen Terminus in der Philosophie Shaftesburys sowohl common sense als auch moral sense, wobei der common sense im moral sense gründet und als »dessen sichtbarer Ausdruck in allen praktischen Lebensbereichen« 42 verstanden werden kann. Auch der moral sense für sich geht in seiner Zuständigkeit bereits weit über den Bereich hinaus, der in einem modernen Sinne als moralphilosophisch verstanden werden könnte – was sich nicht zuletzt etymologisch erklärt. Schon mit Blick auf das englische Adjektiv »moral« und seinen Gebrauch zur Zeit Shaftesburys erscheint es als verfehlt, es einfach mit »sittlich« oder gar mit »moralisch« übersetzen zu wollen. »Moral« gehörte hier als Adjektiv weniger zum Substantiv »morality« als vielmehr zu »mind« und kann daher in seiner Bedeutung besser mit »mental« wiedergegeben werden; es handelt sich nicht im strengen Sinne um einen ethischen, sondern vielmehr auch um einen ästhetischen Begriff, der die gesamte Gemütsverfassung berührt. 43 Ethik und Ästhetik bestimmen sich bei Shaftesbury auch deshalb wechselseitig, weil Shaftesbury die Welt von einer allumfassenden Harmonie durchwaltet sieht. Der moral sense ist der Sinn für eben diese Harmonie und damit sittliche Anlage und ästhetisches Prinzip zugleich. 44 Insofern bezeichnet der sensus communis »eine umfassende Urteilskraft, die Rationalität und Gefühl, politische und moralische Verantwortlichkeit in sich einschließt« 45 und in dem die antike, bei Shaftesbury neuplatonisch gefärbte Vorstellung der Einheit des Wahren, Schönen und Guten wieder aufscheint. Ernst Vollrath gilt Shaftesburys Werk darum als »ein letzter Versuch, die auseinanderfallenden Glieder von Mensch und Welt, Geschmack und Handeln zusammenzuhalten«, in dem er »versucht, Handeln und freudige Lust, Tugend und Schönheit, Moral und Ästhetik zu verbinden.« 46 Für die Entwicklung dieses Beurteilungsvermögens ist nach Shaftesbury in nicht unwesentlichem Maße das beispielgebende Umfeld entscheidend; Urteilskraft und Geselligkeit stehen hier in einem recht direkten Zu-
Albersmeyer-Bingen, Common sense, 79. Vgl. Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, 109 ff. 44 Vgl. Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert, 425 ff. 45 Albersmeyer-Bingen, Common sense, 80. 46 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 108 f. 42 43
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sammenhang. 47 Dieser Aspekt des Gemeinsinns wird sowohl bei Kant als auch in der arendtschen Adaption von Bedeutung sein. 48 Einer der originellen Aspekte von Shaftesburys Konzept ist die zentrale Rolle, welche er dem Humor im Beurteilungsprozess zuschreibt. Unter erneutem Rückgriff auf die Antike schreibt er: »Ein alter Weiser behauptete, der Scherz sei die einzige Probe der Ernsthaftigkeit und die Ernsthaftigkeit des Scherzes. Denn eine Sache, die keinen Scherz vertrüge, sei verdächtig; und ein Scherz, der keine ernsthafte Untersuchung vertrüge, sei gewiß ein falscher Witz.« 49 Ernsthaftigkeit und Spott gehören um der Sacherkenntnis willen zusammen, wobei dem Scherz die Funktion zufällt, die Schwachstellen eines Arguments aufzudecken und möglicherweise Entscheidendes zu bemerken, was auf andere Weise unbekannt geblieben wäre. 50 Vgl. Shaftesbury, Sensus Communis, III, 2, 357 ff.; Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 58. 48 Vollrath geht daher sogar so weit, Shaftesburys common sense-Begriff – diesen sehr stark durch die Brille des Arendtian lesend – im Werk des Briten die Rolle als »das Vermögen zur Teilhabe an der Welt« zuzuweisen. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 110. »Der politische Charakter des Common Sense steht außer Frage; er ist auf die von allen Menschen geteilte Anlage eines jeden zur Anteilnahme an der gemeinsamen Welt bezogen, und meint einen gemeinsamen Sinn für die Welt, eine von allen geteilte Meinung über die Welt.« (Ebd., 111) 49 Shaftesbury, Sensus Communis, I, 5, 332. 50 Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 58; vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 35. Das Lachen ist auch gerade mit Blick auf unsere Referenzautoren Kant und Arendt in vielerlei Hinsicht durchaus interessant. Kant bezieht sich in diesem Punkt sogar ganz explizit auf Shaftesbury (MS AB X), weshalb nicht nur Birgit Recki hier Verbindungslinien zwischen Shaftesbury und Kant gesehen hat. (Vgl. Recki, Birgit: So lachen wir. Wie Immanuel Kant Leib und Seele zusammenhält. In: Franke, Ursula (Hrsg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Hamburg 2000, 178–187, 179 ff.) Es kann damit eine bisher nicht weiter untersuchte Parallele zum Denken Arendts festgestellt werden, welche das Lachen bekanntlich ebenfalls als kritische Instanz verstand. In diesem Sinne gab sie im Gaus-Interview zu ihrer Reaktion auf das Polizeiverhör Eichmanns an: »Und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut!« Arendt wollte damit zu verstehen geben, was für ein »Hanswurst« Eichmann gewesen sei – womit sie das Lachen als Gemütsäußerung offenkundig mit einer angemessenen Beurteilung eines auf Banalität gründenden Bösen verband. Das Lachen wird auch hier zu einer Instanz der Kritik, welches das zu Verurteilende der ihm angemessenen Lächerlichkeit preisgibt und vor allem die notendige Distanz zum Urteilen schafft. Vgl. GG 64 f. Hier gilt also, was sie auch in Macht und Gewalt über die Autorität schreibt: Dasjenige, »was sie am sichersten unterminiert, ist das Lachen.« (MG 46 f.) Das Lachen gehört für Arendt also gewissermaßen zum sonstigen methodischen Instrumentarium dazu, da »insbesondere durch Verachtung und Lachen de47
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Auch wenn zwischen Shaftesburys Begriff des sensus communis und dem zu seinen Lebzeiten in England gesellschaftlich üblichen Common-Sense-Denken deutliche Unterschiede zu verzeichnen sind, 51 kann die Betonung von Spott und Humor durchaus in Verbindung zu dem »anti-intellektuelle[n] Moment« gesehen werden, welches Helga Pust im Denken vieler englischer Autoren dieser Zeit nachgewiesen hat. »Es scheint natürlich, daß common sense zum Hauptträger dieser Auffassung werden sollte.« 52 Die dem Gemeinsinnsbegriff an vielen Stellen immanente, kritische Haltung gegenüber der weltenthobenen Sphäre akademischer Gelehrsamkeit war bereits bei Cicero angeklungen und als solche bei Vico verstärkt worden. Auch Shaftesbury nimmt diese Dimension des sensus communis-Begriffs auf und verbindet mit diesem eine recht deutliche Philosophiekritik, die sich konkret auf die mangelnde Orientierungsfähigkeit abstrakt-philosophischen Denkens richtet: »Die Wahrheit ist, nach den Begriffen, die man sich gegenwärtig in der Welt von der Moral macht, kann die Tugend wenig von der Philosophie oder von irgend einigen tiefen Spekulationen ernten. Es ist überhaupt das beste, sich fest an das allgemeine Menschengefühl [Common Sense] zu halten und nicht weiter zu gehen.« 53
Ausgehend von Shaftesbury und anderen wird der common sense auf gesellschaftlicher Ebene als eine Art »typisch englische« Tugend zum konstruiert werden kann – andere wohlbekannte Arendtsche Waffen.« Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 295. 51 Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 152 ff. Tiffany vermutet, dass sich Shaftesbury den inflationären Gebrauch des Common-Sense-Begriffs im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert bewusst zu Nutze machte, um einen stärker an dessen humanistischer Tradition orientierten Begriffsgehalt zu transportieren. 52 Vgl. Pust, Common Sense, 119. Die in englischer Publizistik dieser Zeit geläufige Unterscheidung zwischen einem mit common sense begabten Mann und einem sogenannten pedant, welcher als nur über Buchwissen verfügender learned idiot die krankhafte, lächerliche Sonderform des Fachgelehrten oder Wissenschaftlers darstellt, zeigt in vielerlei Hinsicht Analogien sowohl zu Kants Unterscheidung von Welt- und Schulbegriff der Philosophie als auch zu Arendts Unterscheidung zwischen Autoren und Kommentatoren. Beide Gegenüberstellungen wollen ja in durchaus nicht unähnlicher Weise die Wichtigkeit einer Weltbezogenheit von Denken und Wissen betonen. Wir können auf diesen Aspekt an dieser Stelle nicht noch weiter nachgehen, da eine solche Untersuchung uns doch recht weit von unserem eigentlichen Gegenstand entfernen würde und verweisen daher auf die Darstellung bei Pust, Common Sense, 120 ff. 53 Shaftesbury, Sensus Communis, IV, 1, 369 f. (engl.: »[…] ’tis best to stick to Common Sense an go no further.« zit. bei Pust, Common Sense, 119.
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charakteristischen Merkmal und Erziehungsideal eines Gentleman. Als solches erlebt der Begriff im 18. Jahrhundert eine Hochphase als Konzept in Literatur, Erziehung und Gesellschaft. 54 Unverkennbar ist auch der Einfluss auf die englische wie deutsche Philosophie in Aufklärung und Romantik – auch wenn die genauen Rezeptionswege bisweilen nicht eindeutig nachvollziehbar sind. »Daß Shaftesbury zu den wichtigsten Lehrern des 18. Jahrhunderts zählt, ist längst bekannt. […] Shaftesbury ist schon vor der ersten Hälfte des Jahrhunderts derart selbstverständlich geworden, daß seine Lehren weiterwirkten, ohne daß man des Lehrers sich bewusst war.« 55 Deutlich ist hier freilich, dass Shaftesburys Denken über die von ihm wesentlich beeinflusste »schottische Moralphilosophie« des moral sense bei Hutcheson und Adam Smith wie die spätere Common Sense-Philosophie reidscher Prägung große Wirkung ausübte. 56 Als für unseren Zusammenhang wichtigster Rezipient der englischen moral-sense-Philosophie auf dem Kontinent kann wohl der Königsberger Immanuel Kant gelten, in dessen frühester Ethik Hutcheson und die englische Aufklärung insgesamt deutliche Spuren hinterließen. 57 Insbesondere Shaftesbury darf hier als wirksamer beShaftesbury repräsentiert in dieser Perspektive die »Blütezeit des englischen common sense« als einer englischen Denk- und Lebensweise seiner Zeit. Pust spricht von der »hohen Zeit des Common sense« ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts, wobei sie für den starken Einfluss auf die Gentlemanerziehung nicht zuletzt die Vorbereitung durch Lockes pädagogische Schrift Some Thoughts Concerning Education von 1693 eine zentrale Rolle zuschreibt. Vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 80 ff.; Pust, Common Sense, 113 ff., 125. 55 Vgl. Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert, 416, 419. 56 Vgl. Albersmeyer-Bingen, Common sense, 82 ff.; Nehring, Kritik des Common Sense, 35 ff.; Von der Lühe, Sensus communis, 644 ff. 57 Henrich zufolge markierte die Beschäftigung mit moralischen Gefühlen, wie sie in der Moralphilosophie schottischer Prägung eine breite Diskussion fand, für Kant »den Grundbegriff und das Grundproblem der Ethik.« Vgl. Henrich, Dieter: Hutcheson und Kant. In: Kant-Studien 49/1957/58, 49–69, 54. Henrich zeigt hier auf eindrucksvolle Weise (am Beispiel der Moralphilosophie Hutchesons), dass die Philosophie Kants von modernen Interpreten vielfach in einer Eigenständigkeit wahrgenommen wird, welche eine Würdigung der zeitgenössischen Schriften, die Kant vielfach als Folie gedient hätten, unberechtigterweise unterschlägt. Shaftesburys großer Einfluss auf Herder, Wieland, aber auch auf Goethe und Schiller wird dargestellt bei Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert, welcher auch noch einmal betont, »wie stark sich trotz aller Gegensätze Kant mit ihm berührt.« Ebd., 424. 54
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griffsgeschichtlicher Hintergrund von Kants Begriff des Gemeinsinns gelten. 58 Reids Common-Sense Denken hingegen fand seinen prominentesten Nachhall weniger auf dem europäischen Kontinent, als vielmehr in den sich formierenden Vereinigten Staaten von Amerika. Über Thomas Paines Anfang 1776 anonym veröffentlichtes Pamphlet Common Sense, welches für die politische Diskussion der Amerikaner stark meinungsbildend wirkte und bis heute wirkt, wurde schottisch geprägtes Common-Sense-Denken nicht nur in die politische Praxis übertragen, sondern schrieb sich auch in die Gründungsurkunde der USA, die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli des gleichen Jahres mit ein. 59 Wir werden diesen Pfad der Begriffsgeschichte an dieser Stelle jedoch nicht weiterverfolgen und uns – unserem zentralen Anliegen gemäß – Kants Behandlung des Vermögens Gemeinsinn zuwenden.
3.1.2 Kants Aufnahme des sensus communis- Begriffes 3.1.2.1. Abgrenzung und Untergliederung des Begriffsfeldes sensus communis Kant gilt als Philosoph, dessen Philosophie von einem so starken Vernunftbegriff geprägt wird, dass Ernst Tugendhat in diesem Zusammenhang nicht umsonst einmal von einer »Vernunft fettgedruckt« 60 gesprochen hat. Umso mehr überrascht es in gewisser Weise, dass Kants Werk auch alle Bedeutungsfacetten dessen reflektiert, was als common sense beschrieben werden kann. Zwar findet der englische Terminus bei ihm keine Verwendung; stattdessen findet er im Bedeutungsfeld common sense unterschiedlichste Begrifflichkeiten, die er allerdings nur in wenigen Fällen wirklich konsequent durchhält. 61 Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 142. Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 40. An einer Stelle ihres Revolutionsbuches bezieht sie sich direkt auf Thomas Paines Schrift Common Sense (vgl. Rev 299); ähnlich im Denktagebuch (DTB 437, Nr. 27) Arendt hat Paine insgesamt in ihrem Revolutionsbuch und auch andernorts (vgl. z. B. KdE 257) vielfach rezipiert. 60 Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt 4 1997, 45. 61 Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 46; 61. Nehring unterscheidet vier »Grundtypen« des common sense. Vergleicht man die in seinem Buch vorfindliche Aufstellung der in Kants Werk für diese Grundtypen verwendeten Begriffe, so wird 58 59
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Arendts Rezeption des kantischen Gemeinsinns beschränkt sich schwerpunktmäßig auf die Darstellung dessen, was Kant selbst unter dem lateinischen Terminus sensus communis fasst und was im Rahmen seiner dritten Kritik als Bedingung menschlicher Urteilsfähigkeit verstanden wird. 62 Das im Rahmen seiner Geschmackslehre explizierte Vermögen wird dabei unterschieden von anderen Gemütskräften, welche innerhalb des kantischen Werks zwar Erwähnung finden, denen aber kein systematisch wichtiger Ort im transzendentalen System Kants zukommt. Wo Kant die Begriffe Verstand und Vernunft mit dem Attribut »gemein« oder »gesund« versieht, von »allgemeiner« oder »natürlicher Menschenvernunft« oder »gemeinem Menschensinn« schreibt, versteht er darunter offenbar bestenfalls Vorformen der für ihn systematisch relevanten Begriffe Vernunft und Verstand, wobei hier durchaus große Unterschiede zwischen vorkritischer Phase, theoretischer und praktischer Philosophie zu vermerken sind. 63 Was den vorkritischen Kant angeht, so hatten wir bereits erwähnt, dass dieser seine ersten Ausführungen zur Ethik unter starkem Einfluss der englischen moral-sense-Philosophie verfasste und von dieser auch in späterer Zeit durchaus wichtige Einflüsse erhielt. 64 man feststellen, dass die allermeisten mehrfach auftauchen und damit ganz offensichtlich für sehr verschiedene Vermögen und Phänomene Verwendung finden. Beinahe jeder Begriff taucht einmal als Bezeichnung für jede der vier von Nehring unterschiedenen Bedeutungen auf, was den Sinn solcher begrifflichen Unterscheidungen natürlich stark unterläuft. Diesem Problem kann hier freilich nicht ausreichend Platz geboten werden. Nehring ist der Auffassung, dass in Kants Werk alle Bedeutungsfelder dessen, was philosophiegeschichtlich als common sense verstanden werden, reflektiert werden. Da in seiner Arbeit eine so umfang- wie detailreiche Darstellung der dabei relevant werdenden Begrifflichkeiten geleistet worden ist, können wir uns im Rahmen dieser Darstellung davon entlasten und verweisen in diesem Zusammenhang auf die genannte Schrift. 62 Vgl. Felten, Gundula: Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils. München 2004, 132 f. 63 Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 220. Auch Gadamer versteht unter Kants »gesunde[m] Verstand« eine »Vorstufe des ausgebildeten und aufgeklärten Verstandes«. Gadamer, Wahrheit und Methode, 39. 64 So hat z. B. Dieter Henrich schon früh darauf hingewiesen, dass Kants frühe Ethik sicher nicht als krasses Gegenteil seiner reifen Moralphilosophie anzusehen ist. Er sieht sowohl die Grundlegung als auch die Metaphysik der Sitten auf einen Plan zurückgehen, welchen Kant bereits in den sechziger Jahren gefasst haben soll. So ist er der Ansicht, der Grundgedanke Kants moralphilosophischer Bemühungen sei letztlich seit Mitte der sechziger Jahre mehr oder minder gleich geblieben und datiert auch die erste Formulierung des kategorischen Imperativs auf 1765. Vgl. Henrich, Hut-
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Kant denkt den Menschen bis in die 1770er Jahre in praktischer Perspektive viel stärker von seiner sinnlichen Seite her als in seiner kritischen Philosophie; auch sieht er in seinen frühen Schriften eine noch weit stärkere Affinität zwischen dem gefühlsmäßigen Zugang zum Moralischen auf der einen und zum Schönen und Erhabenen auf der anderen Seite. 65 Mit der kritischen Wende von 1781 ändert sich dies radikal. Zwar ist die Sinnlichkeit des Menschen auch in der Kritik der reinen Vernunft als eine von zwei »Grundquellen des Gemüts« (KrV B 74/A 50) für die Genese von Erkenntnissen systematisch durchaus von Bedeutung, aber die Verbindung von Ethik und Ästhetik wird hier gelöst, womit die bei Shaftesbury noch wirksame antike Vorstellung von der Einheit des Guten, Wahren und Schönen endgültig zerbricht. Mit Blick auf die Ethik wird der Mensch vom kritischen Kant in weit höherem Maße auf seine Vernünftigkeit festgelegt, als dies in dessen vorkritischem Denken der Fall gewesen war. Die Ästhetik verschwindet hier sogar zunächst ganz aus dem Bereich der für Kant philosophisch relevanten Gegenstände (Vgl. KrV B 35, Anm.). Es geht an der Sache durchaus nicht ganz vorbei, wenn Hepfer die Grundtendenz des Werkes etwas abschätzig mit »je apriorischer, desto besser« 66 beschreibt. Die Wende von 1781 wird damit nicht zuletzt eine Wende gegen das Denken englischer Sensualisten und common-sense-Theoretiker; »für das Vermögen des gemeinen Verstandes im Bereich der theoretischen Philosophie hat Kant nicht viel mehr als ein mitleidiges Lächeln cheson und Kant, 64 ff.; Henrich, Dieter: Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion. Kant-Studien 54/1963, 404–431, 404 ff.; sowie Schmucker, Josef: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen. Meisenheim 1961. 65 Die mit Blick auf diesen Gegenstandsbereich wohl wichtigste vorkritische Schrift Kants sind wohl die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764, welche nicht nur erkennen lassen, dass Kant in seiner vorkritischen Phase eine »moralsensualistische« Position vertrat, wie Birgit Recki bemerkt, sondern welche zudem belegt, dass Kant in dieser frühen Phase noch einen sehr engen Bezug zwischen Ethik und Ästhetik annimmt, welche nach seiner kritischen Wende in dieser Form nicht mehr zu konstatieren ist. Vgl. Kant, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des schönen und Erhabenen. In: Weischedel, Wilhelm: Werkausgabe, Bd. II. Frankfurt a. M. 1968, sowie besonders Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischen Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt a. M. 2001, 13. 66 Hepfer, Karl: »… der Stein der Weisen«: Motivation und Maximen. In: Gerhardt, Volker u. a. (Hrsg.): Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. III: Sek VI–X. Berlin, New York 2001, 220–229, 223.
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übrig.« 67 Reid und Beattie werden in den Prolegomena offen für ihr mangelndes Verständnis der Philosophie Humes verspottet und der »gemeine Menschenverstand« der Common-Sense-Denker als mögliche Instanz der theoretischen Philosophie in diesem Zuge gleich mit abgeräumt (vgl. Prol. 10): »Die Gegner des berühmten Mannes hätten aber, um der Aufgabe Gnüge zu tun, sehr tief in die Natur der Vernunft, sofern sie bloß mit reinem Denken beschäftigt ist, hineindringen müssen, welches ihnen ungelegen war. Sie erfanden daher ein bequemeres Mittel, ohne alle Einsicht trotzig zu tun, nämlich, die Berufung auf den g e m e i n e n M e n s c h e n v e r s t a n d . […] Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen […] sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen, und es mit ihm aushalten kann. So lange aber noch ein kleiner Rest Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Nothülfe zu ergreifen. Und, beim Lichte besehen, ist diese Appellation nichts anders, als eine Berufung auf das Urteil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph errötet, der populäre Winzling aber triumphiert und trotzig tut.« (Prol. A 11 f.)
Die Kritik ist sehr offensichtlich gegen jede Form von Philosophie gerichtet, welche den common sense als Grundlage theoretischer Philosophie begreifen will und beschränkt jegliche Berufung auf einen solchen auf den vorwissenschaftlichen Bereich. Common-Sense-Philosophie ist damit Popularphilosophie – und keine Wissenschaft. Etwas differenzierter gerät die Bewertung des gemeinen Verstandes mit Blick auf die praktische Philosophie in der Grundlegung, wo dieser insofern zumindest als Ausgangspunkt ethischen Denkens eine Rolle zu spielen scheint, als er die Bedingung und das Fundament dafür bildet, einen »Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten« (GMS BA 25) zu bewerkstelligen. 68 Der Weg, den die Argumentation der Grundlegung beschreitet, nimmt seinen Ausgang ja offensichtlich von einer Art sittlichem common sense und will den gedanklichen Weg von diesem hin zur Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 221; vgl. ebd., 221 ff. Auch wenn Nehring – entsprechend der Stoßrichtung seiner Untersuchung – geltend macht, der common sense sei für Kant auch in der ersten Kritik als Bezugspunkt unverzichtbar, so ist er, was dessen Rolle im Zusammenhang der Metaphysik angeht, kaum optimistischer als Tiffany und sieht Kant als »scharfen Kritiker des Common Sense«. Nehring, Kritik des Common Sense, 183. 68 Vgl. Maydell, und Wiehl, Gemeinsinn, 245; Nehring, Kritik des Common Sense, 73. 67
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philosophischen Ethik, zu einer Metaphysik der Sitten und zur Kritik der reinen praktischen Vernunft aufzeigen. (Vgl. GMS 23 ff.) Auch in der zweiten Kritik ist er »Ausgangs- und Bezugspunkt der Untersuchung« 69 : Hier wie in der Grundlegung auch wird im Verlauf der Argumentation immer wieder angeführt, dass auch der »gemeinste und ungeübteste Verstand« (KpV A 64) problemlos dem Sittengesetz gemäß zu urteilen vermag, weil es »in der gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl, als der im höchsten Maße spekulativen« (GMS BA 34) anzutreffen sei und darum »selbst des gemeinsten Menschen Sache sein werde.« (GMS AB 21). Hier soll offenbar ein Beleg dafür geliefert werden, dass die von Kant zugrunde gelegten Forderungen der praktischen Vernunft auch jedem vernunftbegabten Wesen zugänglich sind. »Der Common Sense fungiert dabei als Bürge für die Existenz des moralischen Gesetzes als eines Prinzips, das in jeder Vernunft enthalten ist und jedermann gebietet.« 70 An einer späteren Stelle der Grundlegung wird dies ganz augenscheinlich. Kant argumentiert hier für die Möglichkeit des kategorischen Imperativs als der Formulierung eines synthetischen Satzes a priori, welche auf der »Idee der Freiheit« und dem Selbstverständnis als »Gliede einer intelligiblen Welt« aufbaut. Da im kantischen System letztlich erst diese Mitgliedschaft die Autonomie des Willens denkbar macht (GMS BA 111 f.), ist es kaum übertrieben zu behaupten, dass hier mit der Freiheitsidee und dem durch sie möglichen Selbstverständnis des Menschen als eines freien, autonomiefähigen Wesens die zentralen Kernbestände kantischer Ethik verhandelt werden und mit der Möglichkeit des kategorischen Imperativs ebenfalls Wesentliches auf dem Spiel steht. Umso mehr muss der Beleg überraschen, den Kant an dieser Stelle anführt: »Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion. Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft z u b r a u c h e n g e w o h n t ist, der nicht, wenn man ihm B e i s p i e l e der Redlichkeit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vorteilen und Gemächlichkeit verbunden) vorlegt, nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte.« (GMS BA 112, Hervorh. R. T.)
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Nehring, Kritik des Common Sense, 134; Vgl. 132 ff. Nehring, Kritik des Common Sense, 133.
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Wohlgemerkt ist es der »praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft«, der von Kant hier zur Bestätigung einer Deduktion herangezogen wird. »Mehr als irgendein anderer Philosoph seiner Zeit achtete er das normale moralische Bewusstsein der ›gemeinen Menschenvernunft‹.« 71 Dabei baut er sein System nicht auf einem common oder moral sense auf – aber die Vorstellung einer durch Alltagserfahrung geschulten moralischen Intuition, mit der für die Plausibilität seiner moralphilosophischen Systematik geworben wird, ist in den moralischen Grundlegungsschriften in latenter Form geradezu omnipräsent. 72 »Auch in dieser Hinsicht bestätigt sich, daß sich in Kants Denken transzendentaler Idealismus und empiristischer Realismus verbinden.« 73 Und so geht es in der eben zitierten Passage denn auch offenkundig nicht um die Vernunft, deren Besitz den Menschen zum Glied im Reich der Zwecke macht, sondern um eine, welche sich in der Sinnenwelt auszukennen scheint: Die im Zitat genannte »gemeine Menschenvernunft« ist eine, die durch ihren Gebrauch in der Lage ist, Beispiele einzuschätzen. Eine, die Erfahrung hat. Kant bewegt sich hier offenbar nicht im rationalen Teil der Ethik, der Moral, für den er immer wieder betont, es sei »nicht aus der Acht zu lassen, daß es durch kein Beispiel, mithin empirisch auszumachen sei, ob es überall irgend einen dergleichen Imperativ« (GMS BA 48), nämlich den kategorischen, gebe. Wo Kant den Alltagsverstand oder eben die »gemeine Menschenvernunft« als Belege bemüht, ist er offenkundig mit den empirischen Aspekten der Ethik befasst, welche er in der Grundlegung auch als »praktische Anthropologie« bezeichnet (GMS BA VI). 74 Für diese nämlich ist der Bezug zu konkreter Erfahrung konstitutiv, wie Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, 219 f. Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 135 ff., 150 ff. Dieser Zug der Argumentation in der Grundlegung wird in der zweiten Kritik wieder aufgenommen, wenn Kant mit Bezug auf die Frage, »was denn die reine Sittlichkeit« behauptet, diese sei »in der gemeinen Menschenvernunft […] durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschieden.« (KpV A 277) 73 Recki, So lachen wir, 187. 74 »Auf solche Weise entspringt die Idee einer zwiefachen Metaphysik, einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten. Die Physik wird also ihren empirischen, aber auch einen rationalen Teil haben; die Ethik gleichfalls; wiewohl hier der empirische Teil besonders praktische Anthropologie, der rationale aber eigentlich Moral heißen könnte.« (GMS, BA VI) Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 139. 71 72
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wir auch der Anthropologie entnehmen können: »Der gesunde Verstand kann […] seine Vorzüglichkeit nur in Ansehung eines Gegenstandes der Erfahrung beweisen« (Anthr. BA 24) – und offenbar spielt für Kant in diesem Zusammenhang auch der sensus communis-Begriff eine Rolle: »Um die Menschen nach ihrem Erkenntnisvermögen (dem Verstande überhaupt) zu beurteilen, teilt man sie in diejenigen ein, denen Gemeinsinn (sensus communis), der freilich nicht gemein (sensus vulgaris) ist, zugestanden werden muß, und in Leute von Wissenschaft. Die erstern sind der Regeln Kundige in Fällen der Anwendung (in concreto), die andern für sich selbst und vor ihrer Anwendung.« (Anthr. BA 23)
Wo konkretes, kluges Handeln gefragt ist, geht es um die Anwendung von Regeln eines Typus, den Kant, eben weil er sich »auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel« (GMS BA VII) nennen kann – bei dem er sich aber sogleich auch zu dem Hinweis genötigt sieht, dass eine solche den Ansprüchen einer sich als Wissenschaft verstehenden Metaphysik der Sitten keinesfalls genügt. 75 Wer zu einer solchen Form klugen Tätigseins fähig ist, muss gleichwohl mit einem Gemeinsinn begabt sein, den Kant keinesfalls als »gemein« im Sinne von »vulgär« qualifiziert wissen will – weshalb er den sensus communis begrifflich vom sensus vulgaris abhebt. 76 Dieses Vermögen ist es, welches den »gesunden Menschenverstand« ausmacht, Wir bewegen uns – da es um Klugheitsregeln geht – nicht auf der Ebene moralischer Gesetzgebung, sondern auf der Ebene der »Ratschläge der Klugheit«, bei denen Kant wenig Zweifel daran lässt, dass es sich bei solchen nicht um kategorisch gebietende Imperative handeln kann, da eine »Vorschrift der Klugheit, noch immer hypothetisch« (GMS BA 43) ist. Klugheitsregeln gehören also dem insgesamt sehr breiten Feld der hypothetischen Imperative an, welches in seiner allgemein-poietischen Struktur als Zweck-Mittel-Relation prinzipiell vom Bereich alltäglicher, zur Lebenserleichterung dienender Faustregeln bis hin zu komplexen naturwissenschaftlich-technischen Verfahrensanweisungen reichen kann. Der Bereich philosophischer Moralbegründung ist damit auch kein Feld, in welchem dem common sense eine konstitutive Rolle zukäme. Dafür ist er zu verführbar und das Ergebnis seiner Tätigkeit zudem von historisch-kulturell bedingten Zufälligkeiten bestimmt. Moralische Verbindlichkeit kann in letzter Konsequenz nicht auf immer ein sinnliches und in der Folge immer kontingentes Fundament gestellt werden. (Vgl. KpV 67 f.) Nehring geht bei common sense und Moralphilosophie dennoch von einem Verhältnis gegenseitigen Angewiesenseins aus: Die Moralphilosophie kann am moralischen common sense anknüpfen, muss diesen jedoch übersteigen. Das Ergebnis kann über Bildungsprozesse wieder auf den moralischen common sense zurückwirken. Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 136 ff., 151. 76 Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 145. 75
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den Kant »gewöhnlich nur als praktisches Erkenntnisvermögen betrachtet« (Anthr. BA 23). Er spielt hier gleichermaßen auf Descartes’ bon sens wie auch auf die humanistische Tradition des sensus communis an, wenn er schreibt, der Gemeinsinn werde in der Regel »als eine Fundgrube in den Tiefen des Gemüts verborgener Schätze vor [ge]stellt, auch bisweilen sein […] Ausspruch als Orakel (den Genius des Sokrates) für zuverlässiger erklärt, als alles, was studierte Wissenschaft immer zu Markte bringen würde.« (Anthr. BA 23) Die Opposition zum schulmäßig gebildeten Verstand war auch für Descartes ein Charakteristikum des bon sens 77 gewesen und wir hatten gesehen, dass der Gegensatz zu wissenschaftlicher Gelehrsamkeit in der humanistischen wie in der Folge auch der englischen Tradition des Begriffs immer wieder eine Rolle gespielt hatte. Ohne Zweifel hält Kant den sensus communis »in empirischpraktischer Rücksicht« (Anthr BA 24), also in lebenspraktischer Perspektive, für sehr nützlich – doch in der dritten Kritik führt der sensus communis den Menschen weit über das Feld nützlicher, erfahrungsgestützter Klugheitsregeln hinaus. Mit dem im Rahmen seiner Ästhetik formulierten Begriff des Gemeinsinns will Kant sich sowohl gegen die englische Vorstellung des common sense als eines empirisch-induktiv gewonnenen, historisch-kulturell aber kontingenten Durchschnitts intellektueller Fähigkeiten ebenso abgrenzen wie vom sensus communis der humanistischen Tradition. 78 Dazu nimmt er eine Unterscheidung in sensus communis logicus und sensus communis aestheticus vor, wobei zweiterer die eigentliche Neuerung der dritten Kritik bildet. Wo Kants Terminologie im Begriffsfeld common sense/sensus communis schon früh sehr vielseitige Ausprägungen annimmt und damit zu einer gewissen Uneindeutigkeit führt, ist er beim Einsatz des deutschen Wortes Gemeinsinn ungleich zögerlicher: Dieser taucht als Begriff innerhalb des eigenen Systems erstmalig in der dritten Kritik und ausschließlich in der Bedeutung als sensus communis der einen oder anderen Bedeutung auf. 79 Während der Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 67 ff. Felten, Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils, 127. So wenig einheitlich die Kants Terminologie mit Bezug auf eine(n) gemeine (n)/gesunde(n)/allgemeine(n) Verstand bzw. Vernunft erscheinen mag, so lässt sich doch sagen, dass die Begrifflichkeit des Gemeinsinns ebenso wie die Unterscheidung eines sensus communis aestheticus von einem sensus communis logicus erstmals in der dritten Kritik auftaucht. Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 62 f. 79 Vgl. Nehring, Kritik des Common Sense, 62. 77 78
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sensus communis logicus den »gesunden« oder »gemeinen« Menschenverstand bezeichnet, wie er von uns in seiner Funktion als »Bürge« 80 in der ethischen Argumentation Kants beschrieben worden ist, so meint der sensus communis aestheticus den Gemeinsinn qua Geschmack: 81 »Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den gemeinen Menschenverstand durch sensus communis logicus, bezeichnen.« (KU B 160, FN) Der sensus communis aestheticus bildet damit dasjenige Vermögen, mit dem Kant nicht nur über die Begriffsgeschichte des sensus communis deutlich hinausgeht, sondern auch den klassischerweise als common sense zu bezeichnenden Bereich definitiv verlässt und das von zentraler Bedeutung für seine Untersuchung ästhetischer Urteile sein wird. 82 3.1.2.2. Gemeinsinn und ästhetisches Urteil Worin besteht nun diese Bedeutung? Seine Relevanz für das kantische System der Transzendentalphilosophie gewinnt der Gemeinsinn – und dieser Begriff taucht darum auch erstmalig in der Kritik der Urteilskraft auf – weil Kant eine wichtige Modifikation seines Hauptwerkes vornimmt: Mit dem Vorhaben, Urteile über das Schöne und Erhabene einer philosophischen Kritik zu unterziehen, welche sich in sein philosophisches System integrieren lässt, unternimmt Kant eine Revision von Positionen, die er seit 1781 vertreten hatte – galten ihm doch beide Gegenstandsbereiche weder nach der ersten noch nach der zweiten Kritik als theoriefähig, da sie weder nach Natur- noch nach Freiheitsgesetzen sinnvoll integrierbar schienen. 83 In diesem Zusammenhang muss Kant eine Möglichkeit ästhetischer Beurteilung finden, welche über die Artikulation rein sinnlich fundierter und damit subjektiv-kontingenter Zustimmung hinausgeht, ohne dabei die Form eines Erkenntnisurteils erlangen zu könNehring, Kritik des Common Sense, 133. Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 143. 82 Gadamer weist darauf hin, dass der von Kant in der dritten Kritik neu eingeführte Begriff des sensus communis (und wir setzen hier als Präzisierung hinzu: in seiner Bedeutung als Gemeinsinn bzw. sensus communis aestheticus) seine moralphilosophische Bedeutung, welche er in der schottischen Tradition wie beim humanistischen Vorbild gehabt hatte, grundsätzlich einbüßt: »Der grundlegende moralische Sinn dieses Begriffs hat bei ihm keinen systematischen Ort mehr.« Gadamer, Wahrheit und Methode, 38. 83 Höffe, Otfried: Einführung in Kants Kritik der Urteilskraft. In: Ders., Kritik der Urteilskraft, 1–21, 11 ff. 80 81
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nen. So können Urteile über das Schöne keine Erkenntnisurteile sein, »weil sich das Prädikat der Schönheit nicht mit dem Begriffe des Objekts, in seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet, verknüpft« (KU B 24). Schönheit ist keine Prädikation eines Objekts, die in einem Erkenntnisurteil zugänglich ist, denn schön ist, was »ohne Begriff allgemein gefällt« (KU B 32); »dazu läßt man sich sein Urteil durch keine Gründe oder Grundsätze beschwatzen.« (KU B 25) Schönheit lässt sich nicht als Prädikat eines gegebenen Gegenstandes erkennen, ist aber gleichwohl keine beliebige Zuschreibung. Kant trennt hier scharf zwischen dem Schönen und dem bloß Angenehmen, von dem in der zweiten Kritik auch bereits das Moralische abgesetzt worden war. (vgl. KpV A 199) 84 Will ich – wie in Kants Beispiel – eine Rose als schön beurteilen, so kann ich hierfür jedoch (anders als beim Moralischen) keine begrifflich fixierte, gesetzliche Grundlage angeben. Dass die Rose als schön beurteilt werden kann, geht im Grad der Allgemeinheit wie der Notwendigkeit aber auch deutlich über die bloße Feststellung hinaus, dass die Rose – mir persönlich – angenehm ist, denn dies wäre »zwar auch ein ästhetisches und einzelnes, aber kein Geschmacks, sondern ein Sinnenurteil.« (KU B 24) Damit bewegt sich das Geschmacksurteil gewissermaßen auf der Grenze zwischen dem logischen Urteil und dem ästhetischen Urteil in der ursprünglichen kantischen Verwendung des Begriffs als Sinnenurteil. 85 Diese Zwischenposition zwischen apriorischer Verankerung der Untersuchung und empirisch-sinnlicher Seite des Geschmacksurteils wird die Darstellung in der gesamten dritten Kritik als ein prägender Zug begleiten. Nun stellt sich hier freilich die Frage, was für eine Art der Allgemeinheit das sein soll, welche nicht durch objektive Gesetzmäßigkeit zu fassen ist. Kant wählt als eine Art Mittelweg zwischen der objektiven Allgemeinheit eines logischen Urteils und der subjektiven Beliebigkeit eines Sinnenurteils die Konstruktion einer subjektiven Allgemeinheit, welche damit zum »Schlüsselproblem« 86 der Kant zufolge bedeutet »Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.« (KpV A 199) 85 Vgl. Kulenkampff, Jens: Kants Logik des ästhetischen Urteils. Frankfurt a. M. 1978, 110; vgl. Vgl. Wenzel, Christian Helmut: Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils bei Kant. Berlin/New York 2000, 155 ff. 86 Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 1 ff. 84
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kantischen Ästhetik wird: Wir haben es beim Geschmacksurteil der Quantität nach also mit dem Urteil eines Einzelnen zu tun, dessen Notwendigkeit nicht in gesetzlich-zwingender Art und Weise dargetan werden kann und das darum zwar nicht notwendig von jedermann geteilt werden muss, von dem aber Grund zu der Annahme besteht, dass es über den Status einer bloßen Privatmeinung hinausgeht: »Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun), es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an.« (KU B 26) Der Charakter logisch zwingender Notwendigkeit, wie wir ihn in der Auseinandersetzung auch mit der kantischen Ethik kennengelernt hatten, ist im Bereich der Beurteilung des Schönen nicht in der gleichen Weise charakteristisch. Mit der Logik des Ansinnens hält ein strukturell intersubjektiv-kommunikatives Moment Einzug in die Urteilsstruktur. Ein Urteil über das Schöne lässt sich dem Mitmenschen nicht aufzwingen, sondern nur ansinnen; es ist mitteilbar, und so »ist es die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütsszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche, als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils, demselben zum Grunde« (KU B 27) liegt. Ob bzw. dass mir etwas angenehm ist, lässt sich zwar sprachlich artikulieren, ich habe aber keine Grundlage dafür anzunehmen, dass diese Einschätzung von meinem Gegenüber – geschweige denn allgemein – geteilt oder als nachvollziehbar empfunden wird. Wie kommt Kant nun darauf, dass dies beim Geschmacksurteil anders sein könnte? Die allgemeine Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils steht auf einer Grundlage, welche im Unterschied zu derjenigen des Sinnenurteils über kontingente, bloße Sinnlichkeit hinausgeht. Es wird hier eine »gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt« bezogen. Die Gemütsvermögen der Einbildungskraft und des Verstandes befinden sich beim Geschmacksurteil »im freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt.« (KU B 28) Dabei entsteht eine Art Lustgefühl, eine ästhetische Stimmung, welche auf der »Harmonie der Erkenntnisvermögen« (KU B 29) beruht, die sich im besagten freien Spiel äußert. Da »durch die ästhetische Stimmung und in ihr ein unmittelbares Verhältnis des jeweilig gegebenen Einzelinhalts des Bewußtseins zur Allheit der Gemütskräfte hergestellt wird«, welche wir jedem unterstellen dürfen, haben wir Grund zu der Annahme, dass unser Urteil auch einem jeden mitteilbar ist. »Mit dieser Empfindung aber gelangen wir gleichsam erst 302 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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in den vollen Besitz der Subjektivität selbst.« 87 Was das angeht, ist das Geschmacksurteil dem Erkenntnisurteil weitaus ähnlicher als dem Sinnenurteil: Beide können Mitteilbarkeit beanspruchen, weil für ihr Zustandekommen ein Zusammenwirken von Vermögen angenommen wird, welche für die Subjektivität eines Jeden konstitutiv sind, nämlich Einbildungskraft und Verstand. 88 Der Unterschied zwischen beiden besteht freilich darin, dass der Verstand beim Erkenntnisurteil nicht nur mitwirkt, sondern die gesamte Urteilsstruktur dominiert – während Kant beim Geschmacksurteil von einem harmonisch-spielerischen Zusammenwirken ausgeht und die sinnliche Seite des Urteils damit stärker betont. 89 Die zugrunde gelegte Subjektivität des Menschen, wie sie in Kants Transzendentalphilosophie der ersten Kritik einer eingehenden Untersuchung unterzogen worden ist, bildet letztlich auch den Grund dafür, dass wir von einer allgemeinen Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils ausgehen dürfen. Die Mitteilbarkeit stellt also das Kriterium dafür dar, dass über das Geschmacksurteil Intersubjektivität gestiftet werden kann, und dieses Kriterium ist offensichtlich ein in sich dialogisch verfasstes. 90 Was das angeht, darf die Fähigkeit zum Geschmacksurteil von seiner auf Mitteilung hin angelegten Struktur her auch im kantischen Denken als eminent weltbezogen gelten; nicht zuletzt ließe es sich ja niemals ohne den sinnlich-kontingenten Anlass der Wahrnehmung eines Weltgegenstandes hervorrufen. 91 Kant geht hier nicht nur davon aus, dass
Cassirer, Ernst: Kants Leben und Lehre. Berlin 1921, 339. Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 186 ff., 189. 89 Vgl. Felten, Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils, 129. 90 Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 188. 91 Wieland, Wolfgang: Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001, 290. Der hier konstatierte Weltbezug ist, dies sei hier noch einmal betont, lediglich strukturell angelegt, er besteht nicht notwendigerweise de facto. Ungeachtet unserer Feststellung zur strukturellen Beschaffenheit des Geschmacksurteils bleibt es also mit Blick auf Kants Denken ohne Frage zutreffend, wenn Brumlik schreibt: »Die Möglichkeit einer sinnlich exemplarischen Erkenntnis, wie sie noch von Vico im Gegenzug zum cartesischen Methodenideal entwickelt worden war, wird hier aus ihrem Weltbezug herausgenommen.« Schließlich ist das Geschmacksurteil für Kant in letzter Konsequenz nur von den Erkenntnisbedingungen des Subjekts, nämlich von dessen Begabung mit Verstand und Einbildungskraft, abhängig. Brumlik, Micha: Gemeinsinn und Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1977, 112. 87 88
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»jedes erkennende Subjekt immer schon auf eine Außenwelt bezogen ist; vielmehr ist jedes erkennende Subjekt immer schon auf seinesgleichen eingestellt. […] Jedes Selbstbewusstsein ist ursprünglich auf die Außenwelt gerichtet und notwendig auf Mitteilung angelegt. Mit anderen Worten: Reflexion vollzieht sich im Modus öffentlicher Kommunikation.« 92
Trotz seiner dialogisch-kommunikativ angelegten Struktur ist für Kant jedoch letztlich nicht relevant, ob das mit dem Geschmacksurteil verbundene Lustgefühl auch faktisch irgendjemandem mitgeteilt wird, entscheidend ist vielmehr, »ob ihm die dispositionelle Eigenschaft der Mitteilbarkeit zukommt.« 93 Kant will sich hier ausdrücklich nicht auf einen (von ihm gleichwohl unterstellten) »natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit« berufen, um das Geschmacksurteil »empirisch und psychologisch« (KU B 29 f.) zu fundieren, »sondern dessen Gültigkeit transzendental und a priori – unabhängig von aller Erfahrung, aber doch innerhalb des Bereiches einer möglichen Erfahrung – aufzeigen.« 94 Nachdem er das Geschmacksurteil in §§ 6–9 unter dem Aspekt der Quantität betrachtet hat, soll es in §§ 18–22 seiner Modalität nach bestimmt werden. 95 Er stellt sich hier also die Frage, mit welchem Grad an Notwendigkeit ästhetische Urteile Gültigkeit für sich beanspruchen sollen. »Diese Notwendigkeit nun ist von besonderer Art: nicht theoretische objektive Notwendigkeit, […] auch nicht eine praktische«, denn es wird weder a priori erkannt noch ein apriorisches Sittengesetz zu Grunde gelegt. »Sondern sie kann als Notwendigkeit, die in einem ästhetischen Urteile gedacht wird, nur exemplarisch genannt werden […].« (KU B 62) Die Rolle von Beispielen für die Urteilskraft hatte Kant bereits in der ersten Kritik herausgestellt: »Dieses ist auch der einige und große Nutzen der Beispiele: daß sie die Urteilskraft schärfen.« (KrV A 134 / B 173) In der dritten Kritik jedoch wächst der Exemplarizität eine Rolle zu, welche ihr mit Blick auf das Erkenntnisurteil nicht zu eigen geweGerhardt, Immanuel Kant, 274. Wieland, Urteil und Gefühl, 287. 94 Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 190. 95 Es ist dabei durchaus umstritten, in welchem Verhältnis diese beiden Abschnitte zueinander stehen und ob die Einführung des Gemeinsinnbegriffs Kants transzendentalphilosophisches Unternehmen durch das vierte Moment Gefahr läuft, in die Empirie abzugleiten. Wir können diesem Gedanken hier nicht den gebührenden Platz einräumen. Vgl. daher Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 198. 92 93
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sen war. Das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem verändert sich im reflektierenden Urteil über das Schöne dergestalt, dass dem Einzelnen die Rolle zukommt, »Muster, d. i. exemplarisch [zu] sein« (KU B 182), womit es für den Urteilsprozess selbst in weit höherem Maße zu einer konstitutiven Größe wird, weil es mehr ist als »ein bloßer Fall des Allgemeinen« 96 : »Der Begriff des Exemplarischen bezeichnet ein Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, in dem ein Einzelnes als Einzelnes für ein Allgemeines steht. Eben dadurch wird das, was sonst nur ein Beispiel abgibt, zu etwas beispielhaftem; es ist nicht nötig, andere Beispiele heranzuziehen, eines genügt.« 97
Im Zuge der Darlegung der exemplarischen Notwendigkeit und der Erörterung der Frage, warum dem Geschmacksurteil eine solche zukommt, gerät nun auch der Gemeinsinn in die Diskussion und wird im Folgenden als Bedingung der Möglichkeit solcher Urteile herausgestellt. Kant geht hier zunächst von der Auffassung aus, dass die Annahme einer exemplarischen Gültigkeit der Geschmacksurteile nur unter Berufung auf einen Gemeinsinn denkbar ist. 98 Die Logik des Ansinnens erfordert gewissermaßen einen Anknüpfungspunkt in der menschlichen Sinnlichkeit. So ist es auch zu verstehen, dass die dem Geschmacksurteil unterstellte, subjektive Notwendigkeit als bedingt (KU § 19) gelten muss – und als die Bedingung dafür, dass diese Unterstellung zutreffend ist, fungiert der Gemeinsinn. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich dieses Bild noch etwas ausdifferenzieren. Eingeführt wird der Begriff in § 20. Kant stellt hier fest, es könne bei einem Urteil, das als notwendig vorgestellt werde – auch wenn kein objektives Prinzip nach dem Vorbild der Erkenntnisurteile angenommen werden dürfe – nicht einfach »ohne alles Prinzip« vorgegangen werden, wie dies beim Sinnenurteil der Fall ist. Seine Lösung besteht wieder in einem Mittelweg, nämlich in der Annahme eines subjektiven Prinzips, welches gefühlsmäßig und nicht begrifflich verfasst ist, aber gleichwohl Allgemeinheit verbürgt. »Ein solches Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 193; vgl. ebd., 192 ff. Vgl. ebd., 197: »Der Gemeinsinn ist das Prinzip, wonach gefühlsmäßige und einzelne Urteile allgemeine und notwendige Gültigkeit beanspruchen können.« 97 Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung. Frankfurt a. M. 1996, 427. 98 Vgl. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 98 f. 96
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Prinzip aber könnte nur als ein Gemeinsinn angesehen werden, welcher vom gemeinen Verstande […] wesentlich unterschieden ist. […] Also nur unter der Voraussetzung, daß es einen Gemeinsinn gebe […] kann das Geschmacksurteil gefällt werden.« (KU B 64 f.) Gemeinsinn und Geschmacksurteil sind für Kant offenbar aufeinander bezogen; der Gemeinsinn wird offenbar als seine notwendige Voraussetzung gedacht. »Denkbar wäre dieses Urteil also, wenn es das merkwürdige Organ eines ›Gemeinsinns‹ gäbe als ein subjektives Gefühl, das fühlt, wie jedermann fühlt.« 99 Beurteile ich etwas als schön, so ist dieses Urteil ein Beispiel für die Aktivität eines Gefühls, dessen Möglichkeit auf dem Gemeinsinn beruht. Dieser ist in dem Sinne gemein, dass seine Möglichkeit bei jedermann angenommen werden kann: »Ein Geschmacksurteil aufzustellen stellt zugleich die Behauptung dar, dieses sei ein Beispiel, ein Fall eines gemeinschaftlichen Gefühls, und eben deshalb gültig […]. Geschmack haben heißt, Beispiele eines solchen Gemeinsinns zu geben und dadurch dessen Existenz zu beweisen.« 100
Um das freie Spiel der Gemütskräfte Einbildungskraft und Verstand in Gang zu setzen, durch welches das ästhetische Urteil konstituiert wird, bedarf es der besagten »Stimmung«, in welche diese zuvor – in Absicht auf Erkenntnis – versetzt werden müssen. Diese Stimmung wiederum kann Kant zufolge »nicht anders als durch das Gefühl« erzeugt werden, weil Begriffe für das ästhetische Urteil ja keine Rolle spielen sollen. Da dennoch beides intersubjektiv vermittelbar sein muss, damit die allgemeine Mitteilbarkeit des ästhetischen Urteils gewährleistet ist, gelangt Kant zu der Annahme, dass »die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefühls aber einen Gemeinsinn voraussetzt: so wird dieser mit Grunde angenommen werden können, und zwar ohne sich desfalls auf psychologische Beobachtungen zu fußen, sondern als die notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit unserer Erkenntnis, welche in jeder Logik und jedem Prinzip der Erkenntnisse, das nicht skeptisch ist, vorausgesetzt werden.« (KU B 66)
Der Gemeinsinn steht also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lustempfindung, welche durch ein harmonisches Spiel der Gemütskräfte Einbildungskraft und Verstand empfunden wird und kann aufgrund dieser Genese bei jedermann antizipiert werden. (Vgl. KU
99 100
Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 98. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 99.
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§ 35) 101 Diese Lustempfindung ist nicht – wie Kant es sonst annimmt – rein subjektiv und kontingent. In der ästhetischen Lust haben wir den seltenen Fall eines Gefühls, welches das Individuum nicht durch die individuelle Zufälligkeit von Gefühlen auf seine Eigenschaft als Einzelnes zurückwirft – und damit vereinzelt –, sondern im Gegenteil Gemeinschaft stiftet. Der Gemeinsinn wird daher auch »nicht als Privatgefühl, sondern als ein gemeinschaftliches zum Grunde« gelegt. Dabei darf nicht auf Erfahrung rekurriert werden, »denn er will zu Urteilen berechtigen, die ein Sollen enthalten: er sagt nicht, daß jedermann mit unserm Urteil übereinstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle.« (KU B 67) Im ästhetischen Urteil geht es also nicht um Hypothesen oder Prognosen, sondern um die Formulierung einer Norm. Das Geschmacksurteil beruft sich beim Gemeinsinn also nicht, wie besonders in der für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts durchaus einflussreichen, englischen Tradition des common sense, »auf einen faktischen erhobenen Durchschnittsstandard, sondern wird mit der unmittelbaren Sicherheit der eigenen und mit dem Appell an die Gefühlsüberzeugung der anderen ausgesprochen.« 102 Nun ist die Vorstellung, dass ein Gefühl als Norm eines Urteilsprozesses fungiert, freilich einigermaßen ungewöhnlich, erklärt sich jedoch durch Kants Verständnis einer das Geschmacksurteil bedingenden »allgemeine[n] Stimme«, die »nur eine Idee« ist. (KU B 26) Gleiches gilt nämlich für den Gemeinsinn, auch er wird von Kant ausdrücklich als Idee eingeführt: 103 »Also ist der Gemeinsinn, […] weswegen ich ihm exemplarische Gültigkeit beilege, eine bloße idealische Norm« (KU B 67). Die Erfüllung der Bedingungen, die das freie Spiel der Gemütskräfte veranlassen, stellt eine Art Ideal dar, dessen Grundlage bei jedem unterstellt werden darf und aufgrund dessen die exemplarische Notwendigkeit des Urteils angenommen werden kann. 104 Freilich ist diese Rede von einer Idee hier insofern etwas irreführend, als der Gemeinsinn »genau besehen dem Analogon einer Idee in der Sphäre der Sinnlichkeit vergleichbar« 105 ist, weil er »nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe« (KU B 64) operiert und damit nicht die in der ersten Kritik im Rahmen der transzendentalen DiaVgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 185 ff. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 99. 103 Vgl. Felten, Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils, 127 ff. 104 Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 196, 199. 105 Wieland, Urteil und Gefühl, 271, vgl. 271 ff. 101 102
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lektik formulierten Kriterien einer Idee erfüllt. Es lässt sich also »allenfalls in analogem Sinn von einer Idee sprechen.« 106 Diese liefert für Kant ein Erklärungsmodell, welches die Koexistenz des Anlasses mit dem im Geschmacksurteil erhobenen, apriorischen Anspruch auf Geltung verständlich machen soll. 107 Da die Gültigkeit solcher Urteile über exemplarische Gegenstände aber nicht nur behauptet werden und der Gemeinsinn keine bloß postulierte Gegebenheit sein soll, so muss für Kant beides im System der Vernunftkritik verortet und an gesicherte Untersuchungen angebunden werden. Offenbar ist er der Auffassung, dies im Rahmen der Betrachtung der Modalität als dem vierten Moment des Geschmacksurteils (§§ 18–22) nicht in zureichendem Maße vorgenommen zu haben, weshalb er im Folgenden (§ 38) noch eine Deduktion der Geschmacksurteile vorlegt. Seine Strategie kann dahingehend beschrieben werden, dass Kant auch hier – nicht zuletzt wohl in Abgrenzung zu früheren Theoretikern des common sense – »gerade nicht von vornherein einen sensus communis an[nimmt], sondern […] umgekehrt [verfährt]« 108 : Er argumentiert nicht ausgehend von etwas Sinnlichem hin zu etwas Allgemeinem, sondern von etwas allgemein Anzunehmendem hin zu dessen Wirkung auf die Sinnlichkeit. »Anders als die Sinne enthalten Einbildungskraft und Verstand, so Kant, nichts Privates, sondern sind bei allen vernünftigen Wesen auf dieselbe Weise tätig und das Zusammenspiel beider ist ein intersubjektiver […] Vorgang.« 109 Das inter-subjektive Vermögen des Gemeinsinns also wird nicht postuliert, sondern aus einem intra-subjektiven Verhältnis von Gemütskräften (Einbildungskraft und Verstand) abgeleitet, deren Intersubjektivität verbürgende Qualität schon deshalb gegeben ist, weil sie für das menschliche Gemüt und Erkenntnisvermögen überhaupt konstitutiv sind. Die Deduktion behauptet also eigentlich nur, »daß wir berechtigt sind, dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft allgemein bei jedem Menschen vorauszusetzen« (KU B 152) – und dass wir über die zum Geschmacksurteil notwendigen Gemütsvermögen verfügen, konnte auf der Grundlage der kantischen Transzendentalphilosophie ohnehin als ge-
106 107 108 109
Wieland, Urteil und Gefühl, 272. Vgl. Wieland, Urteil und Gefühl, 284. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 144. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 187.
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sichert gelten. 110 Dies gilt nicht nur für die Vermögen selbst, sondern auch für die im ästhetischen Urteil über das Schöne empfundene Lust: »Wenn aber der Urteilende das Spiel der beiden, nicht mit Empirischem befaßten Vermögen auf lustbetonte Weise empfindet, kommt nicht nur dem Spiel, sondern auch dieser Empfindung der Status des Apriorischen zu.« 111 Jens Kulenkampff hat bereits 1978 herausgearbeitet, dass es sich bei dieser sogenannten Deduktion eigentlich weniger um eine Deduktion als vielmehr um eine zweite Analytik handelt. 112 Dem ist sicher insofern zuzustimmen, als Kant schon in § 21 davon ausgegangen war, dass wir unter dem sensus communis »aber keinen äußern Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unsrer Erkenntniskräfte, verstehen« sollen. Die »Deduktion« liefert der Analytik gegenüber also wenig substanziell Neues. 113 Da unser Interesse aber weniger die Architektonik der dritten Kritik als vielmehr die Beschaffenheit des Gemeinsinns betrifft, bleibt für uns an dieser Stelle vor allem der hier von Kant gewählte, stark beschreibende, quasi-phänomenologische Charakter seiner »entdeckenden Analyse« 114 hervorzuheben, welche die innere Struktur des Geschmacksurteils in den Blick nimmt: Während das Erkenntnisurteil vom Prozess, durch den es zustande kam, analytisch getrennt werden kann, ist das Geschmacksurteil »allein im Prozess des Urteilens existent« 115 . Es besteht nicht in dem bloß logischen Verhältnis der Prädikation eines Objektes, sondern kann mit dem beschriebenen Spiel eher als ein im Individuum sich vollziehendes Geschehen ver-
Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 144. Wieland, Urteil und Gefühl, 262, vgl. 260. 112 Vgl. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 107. Inwieweit wir es hier mit einer Deduktion zu tun haben, die allen Ansprüchen dieses Begriffs gerecht wird, kann als in der Kantforschung immer noch einigermaßen umstritten gelten. Wolfgang Wieland zufolge verwendet Kant den Terminus hier jedoch in dem bereits aus der ersten Kritik vertrauten, juristischen Sinne des Nachweises, dass eine Forderung rechtens erhoben wird, sieht in Kants Deduktion der dritten Kritik aber auch eher eine »Skizze dessen, was man von einer vollgültigen Deduktion erwarten darf.« Wieland, Urteil und Gefühl, 260, vgl. 258 ff. 113 Vgl. Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 178 f. Auch Wenzel stellt die Gedankengänge beider Teile in der Folge recht weitgehend parallel dar und weist auf die Ähnlichkeiten von Kants Argumentation an beiden Stellen hin. 114 Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 107. 115 Wieland, Urteil und Gefühl, 266. 110 111
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standen werden und lässt sich daher auch am ehesten »in Verlaufskategorien beschreiben« 116 : »Reflektieren bedeutet wesentlich ein Aufsuchen, ein Unterwegssein zum Allgemeinen und ist als solches nie ganz abgeschlossen, denn das oberste Allgemeine ist auf keine Stufe der Verallgemeinerung je erreicht. […] Die reflektierende Urteilskraft muss als etwas Dynamisches aufgefasst werden, da die Reflexion nie an ihr Ende gebracht werden kann.« 117
Der kantische Gemeinsinn ist mit der inneren Beschaffenheit dieser Form des Urteils untrennbar verflochten. Der sensus communis wird also »durch das Geschmacksurteil [erklärt]« 118 . Kant nimmt diesen Begriff aus der ethisch-ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts auf und fügt ihn in Form einer »alternativen Beschreibung« 119 in die interne Struktur des Geschmacksurteils in den Zusammenhang seiner dritten Kritik ein, wobei – von der anderen Seite aus betrachtet – die Struktur des Geschmacksurteils die kantische Explikation dessen darstellt, was in der Perspektive kritischer Philosophie unter dem in seinem Jahrhundert das ästhetische Denken maßgeblich prägenden Begriff des sensus communis verstanden werden konnte. Kants Ästhetik schließt an dieser Stelle also nicht an die Begriffsgeschichte des sensus communis an, sondern er erklärt vor dem Hintergrund seiner eigenen Theorie des Geschmacksurteils, was man unter einem solchen eigentlich zu verstehen habe. 120 Der Begriff wird »expressly introduced by Kant to resolve a problem that he took himself to be the first to have fully recognized.« 121 Mit Blick auf Kants Philosophie des sensus communis im Rahmen seiner Ästhetik lässt sich darum durchaus sagen, dass »er die Tradition seinem eigenen Entwurf integriert« 122 – und nicht andersherum sich in die Tradition stellt. 123 Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 109. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 168 f. 118 Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 178. 119 Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 102. 120 Vgl. Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 5, 179 ff. 121 Allison, Henry E.: Kant’s Theory of Taste. A Reading of the Critique of Aesthetic Judgment. Camebridge 2001, 155. 122 Kohler, Georg: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Berlin/New York 1980, 258. 123 Auch Josef Früchtl zufolge ist es Kants Intention, den Begriff des Gemeinsinns in kritischer Haltung zum Verständnis seiner Zeitgenossen gegenüber »von populistischen und intuitionistischen Mißdeutungen zu reinigen und den rationalen Gehalt herauszupräparieren.« Früchtl stellt zudem heraus, dass Kant seiner Rolle als »Alleszermalmer« hier insofern gerecht wird, als diese Klarstellung in Sachen Gemeinsinn 116 117
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Im so verstandenen Geschmacksurteil werden die im einzelnen Menschen vorfindlichen Gemütskräfte der Einbildungskraft und des Verstandes in ein harmonisch-spielerisches Verhältnis gebracht und dem Menschen auf diesem Wege eine Lustempfindung bereitet, welche ihn nicht auf seine Subjektivität zurückwirft, sondern im Gegenteil Gemeinschaft stiftet. Auch wenn Kant sicher den in der römischstoischen Tradition wurzelnden Aspekt eines allen Menschen gemeinsamen Sinnes gegenüber dem aristotelisch-scholastischen Verständnis eines alle fünf Sinne zusammenfassenden Vermögens betont, so lässt sich mit Blick auf diesen größeren Zusammenhang doch sagen, dass Kants Gemeinsinnsbegriff die Traditionen eines intra-subjektiven und eines inter-subjektiven Verständnisses dieses Vermögens zusammenführt, da es gerade das intrasubjektive Verhältnis ist, welches die Intersubjektivität stiftende Gefühlsregung auslöst. 124 3.1.2.3. Das Gefühl für die Gemeinschaft Wir hatten gesehen, dass Kant viel daran liegt, den Gemeinsinn im Rahmen seiner transzendentalphilosophischen Grundannahmen an die Erkenntnisbedingungen des Subjekts geknüpft zu konzipieren. Diese Besinnung auf das Selbst erweist sich beim sensus communis letztlich als der Umweg, welcher über das einzelne Subjekt schließlich hin zur Gemeinschaft führt: »Das Subjekt beugt sich auf sich selbst zurück, geht, der Gewissenserforschung vergleichbar, in sich und auf diesem Umweg zu den anderen.« 125 Auch Volker Gerhardt hat darauf hingewiesen, dass diese intersubjektive Perspektive des Gemeinsinns das Individuum ins Verhältnis zu der von ihm mitkonstituierten Welt setzt: »Der sensus communis aesteticus ist der Sinn eines ganz auf sich zurückgehenden Individuums, das eben darin seine Einheit mit
diesen zugleich praktisch aus der ästhetischen Diskussion tilgen wird: »Das Ergebnis seiner Neuinterpretation ist, philosophiegeschichtlich gesehen, allerdings frappierend. In dem Augenblick, in dem der Begriff des Gemeinsinns semantisch geklärt wird, verliert er seine philosophische und ästhetische Bedeutung.« Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, 424. 124 Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 144. Wenzel macht demgegenüber Kants stärkere Akzentuierung des gemeinschaftsstiftenden Aspekts stark. Vgl. Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 178. 125 Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, 447.
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sich und seiner Welt erfährt.« 126 In der Konsequenz langt Kant mit dem Gemeinsinn also bei der Konzeption eines Vermögens an, welches sich als eminent gemeinschaftsstiftend erweist, denn dieser »befähigt den Menschen, ein gemeinschaftliches Gefühl zu empfinden, das zugleich ein Gefühl für die Gemeinschaftlichkeit ist.« 127 Dieser Gemeinschaftsbezug des Geschmacksurteiles als einer »Manifestation des sensus communis« 128 wird in der Kritik der Urteilskraft besonders in § 41 sowie in auch der Anthropologie herausgestellt. Wie wir gesehen hatten, ist das Geschmacksurteil – was die Bedingungen seiner Möglichkeit angeht – von empirischen, gesellschaftlich psychologischen Faktoren zwar unabhängig, weil es in der menschlichen Subjektivität verwurzelt bleibt. Es kann darum prinzipiell auch dann in Anspruch genommen werden, wenn der Mensch sich nicht in einer Kommunikationssituation befindet. »Dennoch pflegt er dieses Vermögen faktisch nur in Anspruch zu nehmen, wenn die Bedingungen für eine solche Kommunikation gegeben sind.« 129 In der dritten Kritik formuliert Kant diesen Umstand folgendermaßen: »Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft; und, wenn man den Trieb zur Gesellschaft als dem Menschen natürlich, die Tauglichkeit aber und den Hang dazu, d. i. die Geselligkeit, zur Erfordernis des Menschen, als für die Gesellschaft bestimmten Geschöpfs, also als zur Humanität gehörige Eigenschaft einräumt: so kann es nicht fehlen, daß man nicht auch den Geschmack als ein Beurteilungsvermögen alles dessen, wodurch man sogar sein Gefühl jedem andern mitteilen kann, mithin als Beförderungsmittel dessen, was eines jeden natürliche Neigung verlangt, ansehen sollte.« (KU B 162 f.)
Diese Erläuterungen über ein »empirisches Interesse am Schönen« gehen durchaus über anekdotische Betrachtungen beobachtbarer Zufälligkeiten hinaus, auch wenn Kants bunte, etwas zusammengewürfelte Auswahl an Beispielen nur bedingt dazu angetan ist, dies wirksam zu unterstreichen: Hüttenbewohner auf einsamen Inseln, Kriegsbemalung bei Irokesen und Kariben sowie indianischer Federschmuck werden dabei zur Illustration herangezogen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Schöne hier nicht nur in einer sozialpsychologischen Perspektive mit einem »Trieb zur Gesellschaft« verknüpft wird, sondern darüber hinaus auch »die Tauglichkeit und der 126 127 128 129
Gerhardt, Immanuel Kant, 276. Wieland, Urteil und Gefühl, 284. Wieland, Urteil und Gefühl, 284. Wieland, Urteil und Gefühl, 285.
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Hang« des Menschen, in Gesellschaft zu leben, behauptet wird. Dieses von Kant mit dem Begriff der »Geselligkeit« 130 belegte Charakteristikum des Menschen ist in mehreren Perspektiven interessant, welche hier nur kurz und skizzenartig zusammengetragen werden können. (1) Zum Einen ist Kants Aussage, es handle sich bei der Geselligkeit um einen »Hang« insofern nicht bloß eine Beschreibung kontingenter psychologischer Tatsachen, als die Annahme eines solchen ganz offensichtlich eine anthropologische Aussage von größerer Tragweite impliziert. So hatten wir den Begriff des Hangs bereits im Kontext eines als universell angenommenen Hangs zum Bösen kennengelernt und auch an vielen anderen Stellen von Kants Werk scheint ein Hang nicht einfach eine zufällige Laune darzustellen, sondern eine fester im Menschen verankerte Eigenschaft. Ein Hang hat innerhalb der kantischen Philosophie im Allgemeinen die deutlich zu bemerkende Tendenz, das Feld auf empirischen Wege fundierbarer Anthropologie entschieden zu überschreiten; 131 einen solchen an130 Der Begriff der Geselligkeit wird sich im späten 18. Jahrhundert zusehends vom Begriff der Gesellschaft trennen. Kants Überlegungen der dritten Kritik üben neben Schiller in diesem Zusammenhang besonders Wirkung auf Schleiermacher aus, welchem es in seinem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« von 1799 nicht nur in einer Schillers Denken ähnelnden Weise um eine Ästhetisierung der Lebensverhältnisse ging, sondern der darüber hinaus auch den kommunikativen Aspekt der Geselligkeit besonders in den Blick nahm. (Vgl. Pott, Hans-Georg: Kurze Geschichte der europäischen Kultur. Paderborn 2005, 73 ff.) In Schleiermachers Schrift heißt es einleitend: »Freie und durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert.« (Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Ders: Werke, hrsg. v. Braun, Otto und Bauer, Johannes. Aalen 1967, Bd. 2, 1–31, 3.) Schleiermacher stützt sich hier ebenfalls in nicht unwesentlichem Maße auf Kants Anthropologie. Wir können diese Diskussion nicht in angemessener Breite nachverfolgen, es sei jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Geselligkeit in Kants Denken eine wichtige Rolle spielte, wie auch Norbert Hinske herausgearbeitet hat. (Hinske, Norbert: Kants »höchstes moralisch-physisches Gut«. Essen und allgemeine Menschenvernunft. In: Gerteis, Klaus (Hrsg.): Alltag in der Zeit der Aufklärung. Hamburg 1991, 49–58.) Dieser Aspekt seines Denkens wurde, wie hier an Schleiermacher gezeigt werden kann, schon von Zeitgenossen aufgenommen. Auch Hannah Arendt wird an Kants Formulierungen zur menschlichen Geselligkeit anschließen, wie wir noch sehen werden. 131 So lernen wir beispielsweise in der ersten Kritik, »daß die menschliche Vernunft dabei einen natürlichen Hang habe« (KrV B 670 / A 642), das Feld empirischer Erkenntnis überschreiten zu wollen: »Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen.« (KrV B 825 / A 797) Die
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zunehmen kommt in unserem Zusammenhang daher einer generalisierbaren Aussage über die Natur des Menschen gleich. (2) Die Geselligkeit war zudem auch im Rahmen von Kants Geschichtsphilosophie aufgetaucht, wo Kant mit seiner berühmten Formel der »ungeselligen Geselligkeit« (IGwA A 392) 132 des Menschen eine zwar antagonistische, aber darum nicht mit weniger universellem Anspruch auftretende anthropologische Aussage macht. (3) Die Sozialität des Menschen hat offenbar etwas mit dessen Menschsein selbst zu tun. Schon in Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 133 spricht Kant von der Geselligkeit »als dem größten Zwecke der menschlichen Bestimmung« (MAM A 3) – und dies ist eine Aussage, die über den Status der bloßen Beschreibung zufälliger Tatsachen ebenfalls weit hinausreicht. Diese Tragweite des Geselligkeitsbegriffes wird an der oben zitierten Stelle aus der dritten Kritik durch die Art und Weise deutlich, wie Geselligkeit und Humanität von Kant in Beziehung gesetzt werden. So gilt ihm die Geselligkeit »als zur Humanität gehörige Eigenschaft« (KU B 162 f.). Dies überrascht im Rahmen der kantischen Terminologie freilich insofern nicht, als für ihn »Humanität einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können, bedeutet.« (KU B 262) Humanität wird von Kant also ganz maßgeblich als Zwischenmenschlichkeit verstanden und beruht damit auf gesellschaftlichem Umgang von Menschen miteinander, denn »nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein«. Aufklärungsschrift gibt Auskunft darüber, dass die Natur im Menschen insofern die Grundlage des Aufklärungsprozesses gelegt habe, als in diesem ein »Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt« (Aufklärung A 493) worden sei. Hier werden offensichtlich Aussagen getroffen, welche über einen bloß empirischen Nachweis kaum einzulösen sind. In der zweiten Kritik wird auch die »Selbstliebe« als »Hang« (KpV A 131 ff.) klassifiziert; allerdings hatten wir hier bereits darauf hingewiesen, dass dies im Rahmen der praktischen Philosophie in Verbindung zum »Hang zum Bösen« (REL A 18 / B 20) verstanden werden muss. (Vgl. hierzu Kap. C.1.1.3. dieser Arbeit.) In der Kritik der Urteilskraft wird ein »Hang« in einer Fußnote als »eine anthropologischteleologische Frage« (KU B XXIV, FN) eingeschätzt, womit der Bereich bloßer Empirie ebenfalls deutlich überschritten ist. 132 Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Ders: Werkausgabe Bd. XI, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, 31–50; im Folgenden zitiert als IGwA. 133 Kant, Immanuel: Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte. In: Ders: Werkausgabe Bd. XI, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, 84–102; in Folgenden zit. als MAM.
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Dies markiert für Kant den »Anfang der Zivilisierung« (KU B 163, Hervorh. R. T.), welche im Rahmen seiner Pädagogik die dritthöchste von vier Stufen der Erziehung und Bildung darstellt, wo sie ebenfalls mit dem Geschmack in Verbindung gebracht wird. (vgl. Päd. A 22 f.) 134 Da es zur Entwicklung von Humanität des gesellschaftlichen, zivilisierenden Umgangs von Menschen miteinander bedarf – ist ein »feiner Mensch« (s. o.) doch einer, »welcher seine Lust andern mitzuteilen geneigt und geschickt ist« (KU B 163) –, scheint Pluralität offenbar eine ganz zentrale Grundbedingung von Humanität zu darzustellen. Diesen wechselseitigen Bedingungszusammenhang von Pluralität, Humanität und Mitteilbarkeit hatte Kant schon in § 29 der Kritik der Urteilskraft mit dem Geschmacksurteil in Verbindung gebracht: »Wenn also das Geschmacksurteil nicht für e g o i s t i s c h , sondern seiner innern Natur nach, d. i. um sein selbst, nicht um der Beispiele willen, die andere von ihrem Geschmack geben, notwendig als p l u r a l i s t i s c h gelten muß, wenn man es als ein solches würdigt, welches zugleich verlangen darf, daß jedermann ihm beipflichten soll: so muß ihm irgend ein (es sei objektives oder subjektives) Prinzip a priori zum Grunde liegen, zu welchem man durch Aufspähung empirischer Gesetze der Gemütsveränderungen niemals gelangen kann: weil diese nur zu erkennen geben, wie geurteilt wird, nicht aber gebieten, wie geurteilt werden soll« (KU B 130).
Im Rahmen der kantischen Ästhetik muss das Geschmacksurteil also immer vor einem systematischen Hintergrund gesehen werden, der Vernunftkritik und Subjektbezug ins Zentrum stellen will. Ausgehend von diesem soll dann jedoch in der Folge über die Gemeinsamkeit der Bedingungen dieses Urteils ein deutlicher Gemeinschaftsbezug denkbar gemacht werden. Umgekehrt heißt dies also letztlich immer auch, dass das Geschmacksurteil zwar philosophisch 134 Kant, Immanuel: Über Pädagogik. In: Ders: Werkausgabe Bd. XII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, 693–762. in Folgenden zit. als Päd. Die Schrift über Pädagogik ist als Beleg für Kants philosophische Position eine etwas ambivalente Grundlage, weil es durchaus fraglich ist, ob Kant hier auf ein an der Königsberger Albertina obligatorisches Skript zurückgriff und in welchem Umfang es sich um einen selbständigen Text handelt. Die »Zivilisierung« bildet als dritte Stufe des Erziehungsprozesses die Vorstufe zur »Moralisierung« (Päd. 23) des Menschen, wobei hier kein direkter Übergang zwischen den beiden Stufen angenommen wird und vor dem Hintergrund der kantischen Philosophie insgesamt davon ausgegangen werden muss, dass es sich bei einem solchen Übergang um einen qualitativen Sprung handelt.
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im (einzelnen) Subjekt verankert ist, von der in diesem liegenden Gemeinsamkeit zwischen den Subjekten ausgehend de facto aber immer mit menschlicher Pluralität verbunden ist. 135 Dieser systematische Ort zwischen Subjekt- und Gemeinschaftsbezug wird auch und besonders in den »Maximen« deutlich, welche dem plötzlich wieder als »gemeinen Menschenverstand« (KU § 40, B 158) bezeichneten Vermögen zugeschrieben werden. 3.1.2.4. Der »gemeine Menschenverstand« und seine Maximen Betrachten wir die Argumentation des berühmten § 40 von Anfang an: »Man gibt oft der Urteilskraft, wenn nicht sowohl ihre Reflexion als vielmehr bloß das Resultat derselben bemerklich ist, den Namen eines Sinnes, und redet von einem Wahrheitssinne, von einem Sinne für Anständigkeit, Gerechtigkeit u. s. w.« (KU B 155). Hier scheint Kant offenbar auf die breite Tradition von sensus communis und common sense Bezug nehmen zu wollen, ist aber ebenso offensichtlich auch der Auffassung, dass »man« es sich mit der Rede von einem gemeinen Sinn »oft« zu einfach macht; 136 – »ob man zwar weiß«, dass Gegenstände wie »Wahrheit, Schicklichkeit, Schönheit oder Gerechtigkeit« uns auf rein sinnlichem Wege und ohne Bezugnahme auf höhere Erkenntnisvermögen kaum auf eine Weise verhandelt werden können, welche »zu einem Ausspruche allgemeiner Regeln« berechtigen würde. Hierzu hat ein Sinn in der eigentlichen Bedeutung des Wortes »nicht die mindeste Fähigkeit« (KU B 156). Will man von einem solchen gemeinen Sinn sprechen, welcher nicht bloß »das vulgare, was man allenthalben antrifft, […] welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist« (KU B 157), so kann damit nicht bloß die Ausstattung mit einem »gesunde [n] Menschenverstand« im Sinne von einem »bloß gesunden (noch nicht kultivierten) Verstand« gemeint sein. 137 Damit würde dem ge135 Volker Gerhardt hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass der von Hegel in die Welt gesetzte und seitdem oft wiederholte (z. B. bei Gadamer, Wahrheit und Methode, 47) Vorwurf einer »Subjektivierung« der Ästhetik »ins Abseits« führt. Gerhardt, Immanuel Kant, 276, vgl. 265. 136 Vgl. Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 179. 137 Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 145. Kants Formulierung legt nahe, dass er hier nicht von dem oben als ethischem common sense beschriebenen Vermögen spricht, sondern schlicht das bei einem gesunden Menschen hierfür
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sunden Verstand Kants Auffassung zufolge eine unangemessene Ehre zuteil, welche für den Gemeinsinn jedoch eine eher »kränkende Ehre« darstellt. Der Begriff des Gemeinsinns kann also nicht einfach den gemeinen Menschenverstand bezeichnen. Was man unter einem dem Begriff gerecht werdenden Gemeinsinn zu verstehen hat, lässt sich für Kant eben nur vor dem Hintergrund der von ihm entwickelten Lehre des Geschmacksurteils begreifen: »Unter dem sensus c o m m u n i s aber muß man die Idee eines g e m e i n s c h a f t l i c h e n Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde.« (KU B 157)
Hier wird offensichtlich nicht nur der Gemeinsinn »durch das Geschmacksurteil [erklärt]« 138 , sondern dieses gleichzeitig an die Gemeinschaft der Menschheit als einer universalen Idee zurückgebunden und dadurch deutlich gemacht, warum es sich hier nicht um eine bloß private Einschätzung handeln kann: Es ist die »gesamte Menschenvernunft« – hier verstanden im weiteren Sinne des Begriffs Vernunft, welcher die Gesamtheit der oberen im Unterschied zu den unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögen meint 139 –, an die das einzelne Urteil gehalten werden soll; diese garantiert in letzter Konsequenz die Mitteilbarkeit des Urteils. zugrunde zu legende Potential gemeint ist. Wir hatten oben bereits darauf hingewiesen, dass Kant hier in seiner Terminologie nicht allzu eindeutig ist und es daher immer wieder zu Überschneidungen kommt. Vgl. Nehring, Kritik des Common sense, 61. Dass hier nicht der sensus communis aestheticus gemeint sein kann, welcher im Rahmen der Ethik – wir hatten dies oben erläutert – immer wieder als »Basis und Bürge« (ebd., 134) zur Plausibilisierung der Argumentation herangezogen wird, erhellt schon daraus, dass unter diesem durchaus der eine Form kultivierten Verstandes vorgestellt werden muss, da er – wie wir ebenfalls bereits oben sahen – mit Beispielen umzugehen gewohnt sein muss. (GMS BA 112) Vgl. dazu Kap. C.3.2.1. Das hebt den durch Erfahrung geschulten sensus communis aestheticus in gewisser Weise vom bloß vorhandenen (wenngleich gesunden) Potential zu einem solchen ab und rückt ihn gleichzeitig näher an den sensus communis aestheticus heran, welcher ebenfalls »Voraussetzungen in der Bildungsgeschichte des Menschen« hat. Gerhardt, Immanuel Kant, 265. 138 Wenzel, Subjektive Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils, 178. 139 Vgl. Höffe, Immanuel Kant, 71 f.; vgl. Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 117 f.
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Wenngleich Kant hier kein tatsächlicher kommunizierender Abgleich mit den Urteilen anderer vorschwebt – schließlich soll das eigene, einzelne »Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile« (KU B 157, Hervorh. R. T.) gehalten werden –, impliziert seine Formulierung an dieser Stelle doch eine starke Betonung der intersubjektiven Reziprozität, welche den Urteilenden durch die allen gemeinsamen Erkenntnisvermögen zuteil wird. Die Wechselseitigkeit im Verhältnis der Urteilenden soll letztlich dadurch zu Wege gebracht werden, dass man »sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen zufälliger Weise anhängen, abstrahiert« (ebd.). Ein möglichst hoher Grad an Allgemeinheit wird hier folglich dadurch gewährleistet, dass jeder Urteilende von individuell-kontingenten Bedingungen, also allem, »was in dem Vorstellungszustande Materie, d. i. Empfindung ist« soweit als möglich abstrahiert und nur die »formalen Eigentümlichkeiten« des Urteilsprozesses in den Blick nimmt (ebd.). Es soll damit von subjektiven Perspektiven abgesehen werden, um das Urteil von partikularen Interessen möglichst frei zu halten. Dieses offensichtlich am Paradigma von Kommunikation und Dialog gewonnene »reflexive Verfahren zur Herstellung von Interesselosigkeit« 140 ist es also, das Kant mit seiner Forderung nach allgemeiner Kommunikabilität des Geschmacksurteils im Blick hat. Kant ist sich durchaus im Klaren, dass dieses hier recht komplex konstruierte Verfahren, welches er die »Operation der Reflexion« nennt, etwas »künstlich« anmuten mag, um es einen »gemeinen Sinn« zu nennen; dies liege jedoch allein an der abstrakten Formulierungsweise, denn »an sich ist nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu abstrahieren, wenn man ein Urteil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll.« (KU B 159) Es erscheint zunächst etwas rätselhaft, dass Kant im Folgenden – nachdem er zuvor ausführlichst die Besonderheit eines tatsächlich und mit Recht so bezeichneten sensus communis betont hat – plötzlich wieder von einem »gemeinen Menschenverstand« spricht, dessen »Maximen« nun im Folgenden erläutert werden sollen. Micha Brumlik erklärt Kants Vorgehen recht schlicht: »Er versucht, den sensus communis aestheticus durch den sensus communis logicus zu illustrieren.« 141 Auch hier würde also wieder die von Nehring ins Spiel 140 141
Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 116; vgl. ebd. Brumlik, Micha: Gemeinsinn und Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1977, 108.
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gebrachte und oben bereits erläuterte Funktion des gemeinen Menschenverstandes als illustrierender und plausibilisierender »Bürge« 142 für die eigentliche Argumentation eine Rolle spielen. Damit wird an dieser Stelle offenbar deutlich, dass es sich bei Kants Kapitelüberschrift »Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis« (KU B 156; Hervorh. R. T.) um »keine rhetorische Vorsichtsmaßnahme vor einer façon de parler« handelt, sondern um eine Bezeichnung, die durchaus wörtlich zu nehmen ist: »Es gibt weitere Arten« 143 ; und diese können hier sogar herangezogen werden, um Grundsätzliches zum Thema sensus communis zu erhellen. Wenngleich Kants Vorgehen in § 40 damit noch nicht erschöpfend erklärt sein dürfte, ist es möglich, dass Brumlik hier durchaus einen Grundzug der Argumentation trifft. So weist Kant selbst darauf hin, dass die von ihm darum auch als »Episode« (KU B 160) bezeichneten Passagen zum gemeinen Menschenverstand »zwar nicht hierher [gehören], als Teile der Geschmackskritik«; reklamiert aber ebenso, dass sie »aber doch zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen [können]« (KU B 158). Die etwas irritierende Episode stellt also eine Art Einschub inmitten der Erläuterung des Geschmacks, (des sensus communis aestheticus) dar, welche den gemeinen Menschenverstand (den sensus communis logicus), explizieren will – wir dürfen Kants Ankündigung daher wohl mit Recht so verstehen, dass die Erläuterung so grundsätzlich ausfallen wird, dass es hier mindestens auch etwas über den Geschmack zu lernen gibt. Wie gesagt hat die Episode die »Maximen des gemeinen Menschenverstandes« zum Gegenstand. »Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.« (KU B 158) Auch wenn die Maximen hier in einer anderen Reihenfolge eingeführt werden, als die Erscheinung von Kants Hauptwerken antizipieren ließe, lässt sich schnell erkennen, dass jeder der Maximen eines der drei Vermögen zugeordnet ist, welche den drei Kritiken ihre Gegenstände liefern. »Man kann sagen: Die erste dieser Maximen ist die Maxime des Verstandes, die zweite der Urteilskraft, die dritte der Vernunft.« (KU B 160)
142 143
Nehring, Kritik des Common sense, 134. Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 117.
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Wir wenden uns den drei Maximen dennoch in der von Kant hier vorgegebenen Reihenfolge zu. (1) Die Maxime der »vorurteilfreien« Denkungsart, des Selbstdenkens, enthält »nicht weniger als die normative Pragmatik unserer Vernunft, also ein Stück Aufklärungstheorie.« 144 Dieses Programm expliziert Kant vor der Negativfolie des »Aberglaubens«, welcher als größtmögliches »Vorurteil« dem tragischen Irrtum erliegt, sich den Menschen als ein Wesen zu denken, welches andere als selbstgegebene Gesetze als »wesentliches Gesetz zum Grunde legt« (KU B 158). Denkbar wären hier religiöse Vorstellungen, welche den dem eigenen Erkenntnisvermögen entstammenden Regeln, die bekanntlich »der Verstand […] der Natur […] vor[schreibt]« (Prol. A 113), als vorrangig gedacht würden. Damit geriete die Vernunft in eine Heteronomie, ihre Rolle würde gegenüber dem als vorrangig verstandenen religiösen Wissen passiven Charakter annehmen – und damit entstünde ein Bild des Denkens, welches dem Kern von Kants berühmtem Aufklärungsparadigma diametral widersprechen würde. »Befreiung vom Aberglauben heißt Aufklärung«, welche die Vernunft folglich aus Heteronomie und Passivität herauszuführen hat. Die erste der drei Maximen kann daher auch als »Maxime einer niemals passiven Vernunft« (KU B 158) bezeichnet werden. Dieses Aufklärungsprogramm kann sich jedoch – wenn es nicht nur im Sinne eines philosophischen Expertenwissens Einzug in universitäre Elfenbeintürme halten will – nicht mit seiner transzendentalphilosophischen Begründung zufrieden geben, sondern es muss der wissenschaftlich-philosophischen Kritik spontaner Vernunfterkenntnis eine common-sense-Einsicht entsprechen, wenn ein Zeitalter der Aufklärung nicht bloß eine rein denkbare Vision bleiben soll. 145 Ohne einen sensus communis logicus, der den Geist dieses Aufklärungsprogramms atmet, muss Aufklärung im wahrsten Sinne des Wortes Utopie bleiben, weshalb Kant es an dieser Stelle konsequenterweise als Maxime des gemeinen Menschenverstandes einführt. (2) Da die erste Maxime als Selbstdenken ihren Akzent offensichtlich stärker auf das Selbst als auf die Gemeinschaft legt, liegt hier für den gemeinen Menschenverstand eine gewisse »Gefahr von Monologizität« 146 . Dieser soll offensichtlich mit der zweiten Maxime be144 145 146
Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 145. Vgl. Brumlik, Gemeinsinn und Urteilskraft, 112 f. Brumlik, Gemeinsinn und Urteilskraft, 113.
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gegnet werden, indem das Denken für menschliche Pluralität geöffnet wird. Auch hier beginnt Kants Explikation ex negativo. Die zweite Maxime der »erweiterten […] Denkungsart« (KU B 158) stellt sich gegen eigensinnige Beschränktheit des Denkens; und so ist es hier das Attribut »eingeschränkt« bzw. »borniert, das Gegenteil von erweitert« (KU B 159), gegen die die Maxime sich stellt. Es ist wohl keine kühne These festzustellen, dass die für die zweite Maxime gewählte Negativfolie der Borniertheit mit Blick auf Kants Gesamtwerk weit weniger Relevanz besitzt als die berühmte Opposition der Aufklärung zum Aberglauben. Fündig werden wir ein weiteres Mal in der Anthropologie, welche erläutert, was es bedeutet, ein »beschränkter Kopf (borniert)« (Anthr. BA 22) zu sein. 147 Wie wir hier erfahren, richtet sich der gemeine Menschenverstand mit seiner zweiten Maxime nicht nur gegen den eigensinnig-monologischen, sondern auch gegen eine uns bereits bekannte, spezifische Art des Eigensinns, welche nur allzu gern mit wissenschaftlichem Expertentum einhergeht: »Man kann ein vaster Gelehrter (Maschine zur Unterweisung anderer, wie man selbst unterwiesen worden) und, in Ansehung des vernünftigen Gebrauchs seines historischen Wissens, dabei doch sehr borniert sein.« (Anthr. BA 22) 148 An dieser Stelle knüpft Kant offensichtlich ein weiteres Mal an 147 Auch Arendt hat die Anthropologie mit Blick auf den sensus communis intensiv rezipiert. Vgl. z. B. Arendt, DTB, 601 ff.; U 86; u. a.) 148 Wie Kant uns verrät, ist unter den Menschen, denen der sensus communis abgeht, »der Pedant, er mag übrigens Gelehrter oder Soldat, oder gar Hofmann sein […] unter diesen im Grunde noch der erträglichste«. (Anthr. BA 22) Dass der sensus communis in diesem Sinne immer in einer vor- und außerwissenschaftlichen Sphäre verbleibt und und nur auf der Ebene von Klugheit und Nützlichkeit, nicht aber als Intersubjektivität stiftendes Vermögen anerkannt wird, lässt sich schon daran erkennen, dass Kant auch in der Anthropologie einen Unterschied annimmt zwischen »Menschen […], denen G e m e i n s i n n (sensus communis) […] zugestanden werden muß, und in Leute von W i s s e n s c h a f t .« (Anthr. BA 23) Es ist wohl nicht allzu gewagt, Kants Vorstellung des bornierten Gelehrten mit der von ihm problematisierten »Philosophie […] nach dem S c h u l b e g r i f f e « in Verbindung zu bringen, für die zuallererst ein »zureichender Vorrat von Vernunfterkenntnissen« charakteristisch ist. Dieser wird die Vorstellung einer Philosophie nach dem »Weltbegriffe« entgegensetzt: »Nach dem W e l t b e g r i f f e ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft.« (Kant, Immanuel: Logik. In: Ders.: Werkausgabe Bd. XII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968, 417–582, hier 446/ A 23. Im Folgenden zitiert als Logik) Nur als solche »kann man sie auch e i n e W i s s e n s c h a f t v o n d e r h ö c h s t e n M a x i m e d e s G e b r a u c h s u n s r e r Ve r n u n f t n e n n e n «. (Logik A 24 f.) (Vgl. Fußnote 842)
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die in der hohen Zeit der common-sense-Philosophie übliche, antiintellektualistische Tradition des Gemeinsinnsdenkens an, wenn er mit der Pedanterie ein Phänomen kritisiert, das in der englischen Tradition als gängiges Gegenstück zum »man of common sense« 149 galt. Auch letzterer zeichnete sich weniger durch eine außergewöhnliche Begabung aus als vielmehr durch die von ihm eingenommene Haltung. Ähnliches führt uns auch Kants zweite Maxime des gemeinen Menschenverstandes vor Augen: »Allein hier ist nicht die Rede vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der D e n k u n g s a r t , einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht, dennoch einen Mann von e r w e i t e r t e r D e n k u n g s a r t anzeigt«. (KU B 159)
Die Beschränktheit, welche Kant mit dem Begriff der Borniertheit bezeichnet hatte, scheint also nicht in erster Linie in einem Mangel geistiger Fähigkeiten zu liegen. Der Beschränkte ist nicht eigentlich dumm; was Kant hier problematisiert, betrifft eher den Gebrauch derjenigen Fähigkeiten, welche einem jeden – »so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht« (ebd.) – zu eigen sein müssten. Über diesen rechten Gebrauch der eigenen Kapazitäten lässt sich in der Episode des § 40 nun lernen, dass es »einen Mann v o n e r w e i t e r t e r D e n k u n g s a r t anzeigt, wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wo zwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen, und aus einem a l l g e m e i n e n S t a n d p u n k t e (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.« (Ebd.)
Ganz analog zum oben genannten »man of common sense« führt Kant das Gemeinte an einem »Mann von erweiterter Denkungsart« ein, an welchem das Anliegen der zweiten Maxime expliziert wird. Da 149 Pust, Common Sense, 121; vgl. ebd., 120 ff. Pust zufolge zeigte sich in dieser Phase eine weitverbreitete »Antipathie gegen die P e d a n t e r i e . Nach Auffassung des 18. Jahrhundert besitzen die pedants zwar ein umfangreiches Buchwissen, sind aber im Grunde doch nur learned idiots und geradezu umso verachtenswerter, je mehr sie wissen. Denn diese unliebsamen Zeitgenossen sind men of deep learning without common sense. […] Außer dieser krankhaften und immer lächerlichen Form des Gelehrten, dem pedant, kontrastiert der man of common sense auch mit dem W i s s e n s c h a f t l e r im allgemeinen oder aber dem F a c h g e l e h r t e n .« (Ebd.) Etwas von dieser anti-intellektualistischen britischen Tradition aus der Hochzeit des common sense lebt möglicherweise in Kants Philosophie nach dem Weltbegriffe fort – nur in einer Art gewissermaßen kritisch weiterentwickelten Form. (Vgl. Fußnote 841)
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er ganz offensichtlich einen inneren Zusammenhang der drei Maximen unterstellt, kann man unter der zweiten wohl mit Recht eine Art Handlungsanweisung verstehen, wie man sich die in der ersten Maxime geforderte Befreiung von Vorurteilen vorzustellen hat. 150 Die »Operation der Reflexion« (KU B 157) nimmt hier recht konkrete Züge an. Sollte also noch ein Zweifel bestanden haben, dass Kants Vernunftkonzeption ein emminent kommunikatives Element aufweist, so wird dieser mit der zweiten Maxime des gemeinen Menschenverstands wohl endgültig ausgeräumt. 151 Das Verfahren der erweiterten Denkungsart scheint Kant wichtig genug gewesen zu sein, um es in der Anthropologie in sehr ähnlicher Formulierung wieder aufzunehmen. Hier wird der »Gemeinsinn (sensus communis)« als etwas eingeführt, dessen Verlust als das »einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit« gelten könne. Der Abgleich des eigenen Urteils mit Anderen ist auch in dieser Perspektive von eminenter Wichtigkeit: »Denn es ist ein subjektivnotwendiger Probierstein der Richtigkeit unserer Urteile überhaupt und also auch der Richtigkeit unseres Verstandes: daß wir diesen auch an den Verstand anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isolieren […].« (Anthr. BA 151) Das der dritten Kritik entstammende Verfahren der sich im Abgleich mit den Urteilen anderer erweiternden Denkungsart hält Kant darum auch in der Anthropologie noch für »das größte und brauchbarste Mittel, unsere eigene Gedanken zu berichtigen, welches dadurch geschieht, daß wir sie öffentlich aufstellen, um zu sehen, ob sie auch mit anderer ihrem Verstande zusammenpassen.« (Anthr. BA 152) (3) Die dritte Maxime fordert konsequente Denkungsart ein und ist der Vernunft zugeordnet, und zwar mit einer praktischen Konnotation. 152 Konsequenz bedeutet hier Ausnahmslosigkeit und die Forderung nach Übereinstimmung mit sich selbst – wie sie schon Kants Pflichtbegriff mit sich gebracht hatte. In den Maximen des gemeinen Menschenverstandes werden Vgl. Brumlik, Gemeinsinn und Urteilskraft, 113. Vgl. Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 115 ff. Wie groß die Rolle von Geselligkeit und dialogischem Austausch für Kants Denken war (und wie sehr sich dieses durch den Tod seines besten Freudes und ständigem Gesprächspartner Green veränderte), macht Manfred Kühn in seiner großartigen Biographie zu Kant sehr anschaulich. Vgl. Kühn, Manfred: Kant. Eine Biographie. München 2003, z. B. 372 ff., 385 ff. 152 Vgl. Brumlik, Gemeinsinn und Urteilskraft, 114 f. 150 151
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
»die drei Positionen des Denkens kontinuierlich ineinander überführt« 153 : Das individuelle Selbst (1) bildet den Ausgangspunkt, welcher mit den Anderen (2) der Welt konfrontiert und zusammen mit diesen unter dem Anspruch schlüssiger Sachlichkeit (3) gestellt wird. Die Operationalisierung des Reflektierens erhält von Kant in der zweiten Maxime zudem eine merklich kommunikative, auf menschliche Pluralität hin ausgelegte Signatur: »Zugleich wird an dieser Reflexion der kommunikative Charakter im gesamten Leistungskontext vernünftiger Subjektivität erkennbar. In uns sind wir immer schon über uns hinaus: […] Kant schildert die wichtigsten Leistungen der Vernunft als kommunikativ. […] Wir können daraufhin behaupten, daß die Vernunft […] intern kommunikativ, ja: dialogisch konzipiert ist.« 154
Nachdem Kant uns nun ausführlich die drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes erläutert hat, scheint die Darstellung wieder zu brechen; es folgt die nachstehende, auf den ersten Blick einigermaßen rätselhafte Passage, welche den Bezug zum Geschmacksurteil erneut in Frage zu stellen scheint: »Ich nehme den durch diese Episode verlassenen Faden wieder auf, und sage: daß der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urteilskraft eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne« (KU B 160)
Wozu die Episode, wenn Kant nun ohnehin wieder zum Geschmack zurückkehren will? Warum sollen wir etwas über den – zu Recht und minutiös vom sensus communis aestheticus unterschiedenen – sensus communis logicus erfahren, wenn Kant nach dieser Darstellung dann doch wieder zum eigentlichen Geschäft der dritten Kritik zurückkehrt und sich dem Geschmack zuwendet? Die »Episode« ist doch wohl nicht einfach ein Irrtum oder eine Sackgasse gewesen? Wie Birgit Recki anmerkt, ist hier zu beachten, dass die Stelle »in den erweiterten Rahmen der Vernunftkritik« 155 insgesamt gehört; nicht umsonst ordnet Kant die Maximen den drei oberen Erkenntnisvermögen zu. Deren Bedeutung geht damit notwendigerweise über den Bereich des gemeinen Menschenverstandes hinaus; wie wir bereits gesehen hatten, wird die Urteilskraft von ihm ganz explizit mit 153 154 155
Gerhardt, Immanuel Kant, 275; vgl. ebd. Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 119 f. Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 117 f.
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der zweiten Maxime in Verbindung gebracht. Möglicherweise ging es Kant darum zu zeigen, dass das Begriffsfeld des sensus communis weit über das Feld des Geschmacks hinaus von Bedeutung ist. Hier bestätigt sich also ein weiteres mal der schon in § 22 aufgekommene Verdacht, dass die Relevanz des Gemeinsinns gewissermaßen auf Felder außerhalb der Ästhetik abstrahlt. 156 Volker Gerhardt hat unter Hinweis auf eine durch die Maximen konstituierte Verbindung im »Dreieck von Ich, Gemeinschaft und Welt« immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass es »keiner zusätzlichen Beweisführung [bedarf], um zu zeigen, dass nicht nur Theorie und Wissenschaft, sondern auch Recht und Politik nur unter dem Anspruch dieser drei Maximen möglich sind.« 157 Gadamers Vorwurf, Kant habe den Gemeinsinn entpolitisiert und auf die Ästhetik des Schönen beschränkt, trifft also bei genauer Betrachtung der Kritik der Urteilskraft nur bedingt zu; vielmehr verhält sich Kant einerseits zu einer Diskussion der Zeit und hatte in der dritten Kritik, wie wir noch ansprechen werden, ein systematisches Problem zu lösen, bei welchem die Diskussion des Geschmacksurteils über das Schöne eine wichtige Rolle spielte. 158 Der Gemeinsinn wurde bei Kant also nicht eigentlich beschränkt, sondern vielmehr unter einer Perspektive thematisiert, welche auf die Ästhetik des Schönen gerichtete Akzentsetzungen mit sich brachte – ohne dass Kant die weiteren Perspektiven einfach entgangen wären. 159 Dass diese Per-
156 Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 197. So schreibt Kant schon in § 22 vom »Gemeinsinn, von dessen Urteil ich mein Geschmacksurteil hier als ein Beispiel angebe« (KU B 67). Das Geschmacksurteil ist also ein Bespiel von einem Urteil des Gemeinsinns – und wo ein Beispiel ist, da mag es noch andere geben. Tiffany folgert daher schon mit Blick auf § 22, dass »der Gemeinsinn als der übergeordnete Begriff mehr umfasst als nur das Geschmacksurteil.« (Ebd.) 157 Gerhardt, Immanuel Kant, 275. 158 Gadamer, Wahrheit und Methode, 32. 159 Auch Vollraths Vorwurf: »Kant übersieht einfach den politischen Charakter der erweiterten Denkungsart,« sich in dieser Form also eigentlich als nicht zutreffend. (Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 153.) Kant selbst bemerkt ja schon zu den Maximen des gesunden Menschenverstandes, »dass diese zwar nicht hieher [gehören], als Teile der Geschmackskritik« (KU B 158). Der politische Charakter der erweiterten Denkungsart ist also in der dritten Kritik schlicht nicht das zentrale Thema – und dies ist mit »übersehen« oder »entpolitisieren« offensichtlich nicht gleichbedeutend. An anderer Stelle wird Vollrath selbst feststellen, dass seine Wahrnehmung mit Blick auf Kants Werk nicht durchzuhalten ist. (vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 158.)
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spektiven im Bereich von Politik und Öffentlichkeit liegen, ist – oft unter Verweis auf Hannah Arendt – auch in der Kant-Forschung durchaus gesehen worden. 160 Schließlich hatte sich die mit der zweiten Maxime einhergehende Tendenz ins Öffentliche ja auch bei Kant bereits in der Anthropologie angedeutet, wo er fordert, man solle zur Berichtigung der eigenen Gedanken diese »öffentlich aufstellen« (Anthr. BA 152). Dass gerade die zweite, auf die menschliche Pluralität verweisende Maxime des gemeinen Menschenverstandes einen politischen Subtext beinhaltet, betont z. B. Birgit Recki, wenn sie mit Blick auf die erweiterte Denkungsart schreibt: »Das Selbstgespräch ist nur die Privatisierung des kommunikativen Vollzugs, den die Sprache immer in der Reflexion auf die anderen darstellt. […] Die allgemeine Mitteilbarkeit begründet den öffentlichen Charakter, auf den Kant schon in der Erkenntnis, mehr noch im philosophischen Geschäft der Aufklärung und schließlich in der auf den Menschenrechten gegründeten legitimen politischen Verfassung größten Wert legt.« 161
Auch Ernst Vollrath hatte darum in deutlicher Anlehnung an Arendts Perspektive konstatiert: »Diese Maxime ist folglich politischer Art.« 162 Die politischen Implikationen von Kants dritter Kritik liegen damit also eigentlich auf der Hand. Gerade der Gemeinsinn bildet den Hintergrund einer politischen, weil auf Menschen als pluralem Gemeinschaftsphänomen reflektierenden Sicht: »Er ist ein uns ganz ergreifendes Weltgefühl.« 163 Damit öffnet er den Blick auf einen Begriff der Welt, für den in Hannah Arendts Sicht die menschliche Pluralität nicht nur charakteristisch, sondern sogar konstitutiv ist.
Exemplarisch werden hier genannt: Ferrara, Alessandro: Judgment and Exemplary Validity. A Critical Reconstruction of Hannah Arendt’s Interpretation of Kant. In: Rodi, Frithjof (Hrsg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003, 159–184; Gerhardt, Volker: Mensch und Politik. Anthropologie und politische Philosophie bei Hannah Arendt. In: DZPhil, Sonderband 16, 215–228; Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 146; Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 115, MakKreel, Einbildungskraft und Interpretation, 16. 161 Recki, ›An der Stelle [je]des andern denken‹, 120. 162 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 153. 163 Gerhardt, Immanuel Kant, 275. 160
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3.1.3. Hannah Arendt und die Welt des Gemeinsinns Den Gemeinsinn als Weltsinn zu verstehen, trifft sich durchaus mit der Sicht der Dinge, wie wir sie im arendtschen Denken wiederfinden können. Zur Begriffsklärung schreibt sie in Kultur und Politik: »Wir mißverstehen heute zumeist diese Fähigkeit als gesunden Menschenverstand, der einmal auch in Deutschland ›Gemeinsinn‹ hieß, sich also ursprünglich mit jenem ›common sense‹ oder ›sens commun‹, den die Franzosen ›le bon sense‹ schlechthin nennen, deckte und man auch einfach Weltsinn nennen könnte.« (KuP 299, kursiv R. T.)
Wir erfahren hier also, dass auch Arendt den Gemeinsinn als »Weltsinn« versteht und zudem vom gesunden Menschenverstand abgegrenzt wissen will, der mit Begriffen wie »common sense«, »sens commun« und »le bon sense« weitgehend als deckungsgleich angesehen wird. Da wir dieses französische Erbe des sensus-communis-Begriffs in unserer Darstellung weiträumig umschifft haben – spielt es doch weder bei Kant noch bei Arendt als Bezugspunkt eine allzu große Rolle – so drängt sich für unseren Zusammenhang zunächst (1) die Frage nach dem Zusammenhang von Welt und Gemeinsinn auf. Diese steht – wie wir (2) sehen werden – mit der Frage der terminologischen Abgrenzung zum Teil in recht direktem Zusammenhang. Wir werden diese beiden Probleme in den nun folgenden beiden Teilkapiteln beleuchten. 3.1.3.1. Der Gemeinsinn und die Wirklichkeit der öffentlichen Welt Wenden wir uns also noch einmal dem Zusammenhang von (öffentlicher) Welt und Gemeinsinn zu, wie wir ihn im Kontext des Problems der Orientierungsbedürftigkeit des Menschen bereits angesprochen hatten. Für Arendts Konzept des Gemeinsinns und seinen Zusammenhang mit ihrem Begriff der Welt ist zuallererst entscheidend, dass sie die »Welt als Erscheinung« versteht: »Die Welt […] enthält viele Gegenstände, […] und alle haben sie dies gemeinsam, daß sie […] gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt, gerochen werden sollen von empfindenden Wesen mit den entsprechenden Sinnesorganen. […] In dieser Welt, in die wir aus dem Nirgends eintreten, ist Sein und Erscheinen dasselbe.« (D 29)
Das bedeutet freilich nicht, dass Arendt erkenntnistheoretisch gesprochen einem naiven Realismus anhängen würde, für den Sein 327 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
und Erscheinen in dem Sinne einfach gleichbedeutend wäre, dass Wahrnehmung keiner weiteren Kritik bedürfte. Vielmehr ist der Arendts Werk durchziehende »Vorrang der Erscheinung« als etwas zu deuten, »was als Grundansatz Arendt der Phänomenologie zweifellos sehr nahe bringt« 164 . Dabei gilt ihr der Zusammenhang zwischen sinnlich Gegebenem und Wirklichkeit als durchaus problematisch. So liefert die sinnliche Wahrnehmung für sich genommen lediglich Einzelinformationen, welche das Subjekt über fünf voneinander getrennte Sinne affizieren und deren Zusammenhang zunächst einmal in Frage steht. Hier muss mindestens bemerkt werden, dass der Zusammenhang zwischen den Wahrnehmungen der fünf spezialisierten Sinne nicht selbst Gegenstand der Sinne sein kann, sondern auf einem Wege gestiftet werden muss, welcher nicht selbst sinnliche Wahrnehmung ist. Das Problem war bei Thomas in ähnlicher Weise aufgetaucht und wird von Arendt aufgenommen. (vgl. D 123) Um eine Welt, für die es ganz wesentlich ist, zu erscheinen, auch im Zusammenhang wahrnehmen zu können, bedarf es darum im einzelnen Menschen einer Instanz, welche diesen Zusammenhang herstellt – und dies ist für Arendt der Gemeinsinn: »Die Wirklichkeit dessen, was ich wahrnehme, wird durch einen welthaften Zusammenhang gewährleistet, zu dem einerseits andere gehören, die wie ich wahrnehmen, und andererseits das Zusammenspiel meiner fünf Sinne. Seit Thomas von Aquin spricht man vom ›Gemeinsinn‹ [common sense], dem sensus communis [sensus communis], einer Art sechstem Sinn, der notwendig ist, um meine fünf Sinne zusammenzuhalten und zu gewährleisten, daß es derselbe Gegenstand ist, den ich sehe, taste, schmecke, rieche und höre […]. Ebendieser Sinn, ein geheimnisvoller ›sechster Sinn‹, weil er keinen Ort in
164 Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit, 82; vgl. ebd., 82 ff. Diese Einschätzung kann man in der Arendt-Literatur immer wieder begegnen und sie ist in dem von Bajohr und anderen vorgetragenen, reduzierten Verständnis von Phänomenologie auch nicht ohne Überzeugungskraft. Es muss hier jedoch immer die Einschränkung mitgedacht werden, dass Arendt mit der Phänomenologie im Sinne der mit Husserl einsetzenden philosophischen Schule nur wenig verbindet; so schreibt sie selbst z. B. in Das Denken in einer Passage zum Gemeinsinn: »Bei Husserl war die Aussetzung (epochē) dieses Gefühls die methodologische Grundlage seiner Phänomenologie.« (D 62) Wie wir sehen werden, ist dies mit der arendtschen Methodologie völlig unvereinbar. Ernst Vollrath hatte seinen gerade mit Blick auf die Phänomenalität politischen Handelns an Arendt anknüpfenden Ansatz betreffend von einer »geschichtlichen Phänomenologie des Politischen« gesprochen und zu dieser konstatiert: »Sein phänomenologischer Charakter ist vom Schulbegriff der Phänomenologie abzuheben.« Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 21.
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einem Körperorgan hat, fügt die Wahrnehmungen meiner rein privaten fünf Sinne […] in eine gemeinsame Welt ein […].« (D 59) 165
Arendt legt als Vermögen des Gemeinsinns also genau die Adaption der aristotelischen koinê aisthêsis zugrunde, die wir schon bei Thomas von Aquin kennengelernt hatten. Es kann ihr hier zu Gute gehalten werden, dass sie sowohl Aristoteles als auch Thomas gut genug kennt, um sich nicht wie Andere auf den Weg einer »GemeinsinnsAristoteliker[in]« 166 zu verlaufen und den Gemeinsinn schon bei Aristoteles zu verorten. Der Gemeinsinn wird von ihr also zuallererst als ein Vermögen gefasst, welches die fünf verschiedenen Sinnen entstammenden Einzelwahrnehmungen in einer einheitlichen Wahrnehmung bündelt; Gehörtes, Gesehenes, Gefühltes, Gerochenes und Geschmecktes im ersten Schritt für den Einzelnen zu einer Welt zusammenfügt. Wir hatten dies oben als das intra-subjektive 167 Verständnis des Gemeinsinns bezeichnet, weil sich die vereinheitlichende Leistung des Vermögens hier innerhalb des Einzelnen zuträgt. Wenngleich ohne ein solches Vermögen unmöglich wäre, eine zusammenhängende »Welt als Erscheinung« anzunehmen, sondern jedem Einzelsinn gewissermaßen eine eigene Welt erschiene, beschränkt sich Arendts Begriff des Gemeinsinns keineswegs darauf, die einheitsstiftende Instanz für die sinnliche Wahrnehmung zu sein. Als solche vermag er nämlich nur die Welterfahrung des Einzelnen zu gewährleisten, und der »privaten Welterfahrung des Einzelnen [kommt] eine immense Unsicherheit zu. Sie ist durch nichts als die eigene Erfahrung gewährleistet und damit fragil, weil die Erscheinungen zu täuschen pflegen und sich im Wortsinne mit der eigenen Person wandeln.« 168 Der zentrale Punkt beim Gemeinsinn ist für Arendt darum vielmehr, dass er den Zugang zu einer Welt denkbar macht, »an der auch die anderen teilhaben. Die Subjektivität des Es-erscheint-mir wird dadurch behoben, daß der gleiche Gegenstand auch anderen erscheint, 165 Da Hermann Vetters Übersetzung vom Leben des Geistes bei der hier verhandelten Terminologie recht willkürlich und uneinheitlich verfährt, wird bei den in unserem Zusammenhang relevanten Begrifflichkeiten in diesem Kapitel stets die Begrifflichkeit der englischen Originalausgabe in eckigen Klammern hinzugesetzt. (Vgl. FN 869) Zugrunde gelegt wird die einbändige Ausgabe bei Hartcourt: Arendt, Hannah: The Life of the Mind. New York 1978. 166 Welsch, Aisthesis, 358. 167 Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 143. 168 Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit, 91.
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wenn auch vielleicht auf andere Weise. […] Zwar erscheint jeder einzelne Gegenstand jedem Individuum in einer anderen Perspektive, doch der Kontext, in dem er erscheint, ist für die ganze Art der gleiche.« (D 59)
Eine Welt wird zur Welt nicht dadurch, dass sie einem Einzelnen als verbundener Zusammenhang von Einzelwahrnehmungen erscheint, denn »kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich allein; jedes Seiende soll von jemandem wahrgenommen werden. Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.« (D 29) Für das, was Arendt unter Welt versteht, ist bedarf es einer Pluralität von Wahrnehmenden, welchen eine gemeinsame Welt erscheint. Der Gemeinsinn löst im arendtschen Verständnis also in doppelter Perspektive die Partikularität sinnlicher Wahrnehmung zu Gunsten eines Weltzusammenhangs auf: »Nichts ist partikularer als sinnliche Erfahrung. Wir können ihr nur trauen, weil sich zu unseren fünf Sinnen ein sechster gesellt, der im Unterschied zu der Partikularität der andern, uns allen gemeinsam ist: ›common sense‹. […] Gerade in die Welt der Objekte führen uns unsere Sinne, aber als Einzelne, als Partikulare. Die Sinne indizieren eine Welt der Objekte, sie indizieren keine Menschenwelt. Was uns mit anderen Menschen verbindet, was indiziert, dass wir mit anderen Menschen sind, ist unser ›common sense‹, der als solcher unser eigentlich politischer Sinn ist.« (DTB 335)
Nicht nur die partikularen Sinnesdaten einer Pluralität spezialisierter Einzelsinne werden also vom Gemeinsinn in eine einheitliche Wahrnehmung überführt, sondern er garantiert auch den Zusammenhang der Wahrnehmungen einer die Welt konstituierenden Pluralität von Menschen. »Denn nur ihm verdanken wir, daß unsere privaten und ›subjektiven‹ fünf Sinne und ihre Sinnesdaten in eine nicht subjektive, ›objektiv‹- gemeinsame Welt eingepasst sind, die wir mit anderen teilen und beurteilen können.« (KuP 299) Diese Welt erscheint in der Folge dem Einzelnen als Zusammenhang seiner verschiedenen Sinneswahrnehmungen und den Vielen als gemeinsame Welt. Arendts Begriff des Gemeinsinns ist damit sowohl intra- als auch intersubjektiv gedacht, wobei der Akzent für sie sicher auf der intersubjektiven Leistung liegt. Die intra-subjektive Grundlage – der Gemeinsinn als ein Vermögen, welches die unterschiedlichen Perspektiven verschiedenartiger Sinne, die »nicht ineinander übersetzbar sind« (D 123) – dient ihr gewissermaßen als Modell für die Zusammenführung der verschiedenen Perspektiven einer Pluralität von 330 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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Menschen. Damit wächst seine Bedeutung über den Bereich der Wahrnehmungstheorie hinaus und er wird zum zentralen politischen Vermögen des Menschen. »Dies ist die politische Bedeutung des ›common sense‹ : Der Sinn, mit dem ich das Gemeinsame wahrnehme« (DTB 317). So erweist er sich zudem als unser eigentlicher Zugang zu dem, was Arendt unter Wirklichkeit versteht: »Das einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, daß sie uns allen gemeinsam ist, und der Gemeinsinn steht so hoch an Rang und Ansehen in der Hierarchie politischer Qualitäten, weil er derjenige Sinn ist, der unsere fünf anderen Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektiv Gemeinsames und darum eben Wirkliches fügt.« (VA 264 f.)
Die Wirklichkeit der Welt beruht auf der menschlichen Pluralität und ist damit etwas, das gewissermaßen intersubjektiv konstituiert wird. Erst in diesem durch die Pluralität der Welt verbürgten Sinne »führt doch die Erscheinung als solche einen ganz primären Stempel des Wirklichseins bei sich.« (D 59) Der Gemeinsinn dient uns als »der Wirklichkeitssinn, mit dem wir uns in der Welt orientieren.« (VA 265) In diesem doppelten Verständnis als intra- und intersubjektives Vermögen ist er das, »was Humboldt den Sinn für die Wirklichkeit nennt, und zwar sowohl der Sinn, durch den wir Wirklichkeit qua Wirkliches erfassen, als derjenige, durch den wir uns im Wirklichen orientieren.« (DTB 595) 169 Mit Blick auf unser Bild der Wirklichkeit verbürgt die in der Öffentlichkeit vorfindliche Pluralität verschiedener Perspektiven eine Stabilität, welche die fragile Wahrnehmung des Einzelnen nicht hätte gewährleisten können. 170 »Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.« (D 72)
Wirklichkeit ist für Arendt darum stets von einer Pluralität von Menschen abhängig und verbindet sich zudem mit ihrem doppelt bestimmten Begriff von Öffentlichkeit: 169 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. In: Ders: Werke, hrsg. v. Flitner, Andreas und Giel, Klaus, Darmstadt 1960, 585–606, 589. 170 Vgl. Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit, 91.
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»Das Wort ›öffentlich‹ […] bedeutet erstens, daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. […] Der Begriff des Öffentlichen bezeichnet zweitens die Welt selbst, insofern sie das Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist […]. Der öffentliche Raum wie die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen […].« (VA 62, 65 f.)
Dass die Welt eine Erscheinung ist, ist also nicht in erster Linie als eine erkenntnistheoretische Aussage gemeint, sondert es qualifiziert den Zusammenhang der Welt vielmehr als einen eminent politischen. Der Welt wie der Öffentlichkeit ist es charakteristisch, Menschen zu versammeln und in dem Sinne Wirklichkeit zu stiften, dass sie das öffentlich Erscheinende jedermann zugänglich machen. 171 »Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unser selbst«, nämlich der »Wirklichkeit der Welt und der in ihr erscheinenden Menschen« (VA 63). Wirklichkeit ist damit dasjenige, was mit Anderen öffentlich geteilt wird; oder, in den knapperen Worten des Denktagebuches: »Realität selbst entsteht erst im ›common‹.« (DTB 360) 172 Nur plurale Öffentlichkeit garantiert einen vitalen Kontakt zu gleichberechtigten Anderen und zeigt sich auf diese Weise wehrhaft gegen totalitäre Tendenzen. »Defizitär ist beim ideologisch Gläubigen die gemeinsinnfähige Urteilskraft, woraus sich für das menschliche Zusammenleben schädliche Wirklichkeitsverluste ergeben. Der common sense
171 »Öffentlichkeit kann in diesem Sinne als ein Mechanismus verstanden werden, der durch die sich in ihr aktualisierende Pluralität der Menschen sich reziprok zwischen ihnen rückkoppelt, und der im Spiel der mannigfaltigen Perspektiven der ansonsten flüchtig erscheinenden Welt eine gewisse Stabilität zukommen lässt.« Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit, 91. 172 Dies bedeutet freilich keineswegs, dass alles Private nicht zur Wirklichkeit gehören würde. So versteht Arendt z. B. das »Eigentum« als »ein weltliches Phänomen« und damit als »den Teil der gemeinsamen Welt […], der uns privat zu eigen ist.« Auch »Enteignung« stelle darum eine Form der »Weltentfremdung« dar. (VA 324) Der Bereich der wirklichen Welt ist folglich größer als der Bereich des öffentlich Erscheinenden. Auch das Private ist wirklich – aber nicht politisch. Politische Bedeutung kommt der Wirklichkeit der Welt nur als einer öffentlichen zu, weshalb es so aussieht, als würden die Begriffe Wirklichkeit und Öffentlichkeit von Arendt schlicht synonym verwendet. Dies ist freilich nicht der Fall.
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hält nicht nur den Wirklichkeitskontakt aufrecht, er repräsentiert den Wirklichkeitssinn« 173 . Dass hier ein elementarer Zusammenhang mit Arendts Lehre des Urteilens besteht, auf welche wir im Rahmen dieser Untersuchung bereits immer wieder hingewiesen haben und auf welche im letzten Teilkapitel noch ausführlicher Bezug genommen werden soll, zeigt sich in ihrer Vorlesung zu Kants Kritik der Urteilskraft, wo sie schreibt: »Man urteilt immer als ein Mitglied einer Gemeinschaft, geleitet von seinem gemeinschaftlichen Sinn, seinem sensus communis. Doch letztlich ist man Mitglied einer Weltgemeinschaft durch die einfache Tatsache, ein Mensch zu sein; das ist unsere ›weltbürgerliche Existenz‹.« (U 100) Der Gemeinsinn ist also der Realitätssinn für die Weltgemeinschaft der in ihr lebenden Menschen und damit der Orientierungssinn des Weltbürgers. 3.1.3.2. Gemeinsinn und gesunder Menschenverstand Mit Blick auf die Begriffsgeschichte des Gemeinsinns ist Arendts Ansatz offensichtlich vor allem integrativ und schließt die aristotelischthomistische Tradition des Begriffs ebenso ein wie die aristotelischrömische, an den Begriff der phronesis anknüpfende Tradition des Gemeinsinns als eines weltorientierenden Vermögens. (vgl. KuP 299) Dabei werden durchaus verschiedene Begrifflichkeiten verwendet; so verwendet Arendt die Begriffe Gemeinsinn, sensus communis und (besonders, aber nicht nur in ihren englischen Schriften und Aufzeichnungen) common sense weitgehend synonym. 174 Da Arendt Kleger, Common Sense als Argument (1. Teil), 196. So ist denn auch die von Dag Javier Opstaele vorgenommene Unterscheidung der Begriffe common sense/Gemeinsinn (als ein »sinnlich-rezeptives« Vermögen) auf der einen und sensus communis (als ein »geistig rezeptives Vermögen«) auf der anderen Seite eine zwar mögliche analytische Unterscheidung – damit aber auch eine, die von ihm eher in heuristischer Absicht von außen an Arendts Werk herangetragen wird, als dass Arendt sie selbst vorgenommen hätte. So bemerkt auch Opstaele selbst, dass beide Begriffe »in Arendts Konzeption eng zusammengedacht werden, obwohl sie gleichzeitig auch strikt voneinander zu unterscheiden sind, auch wenn die Autorin die Unterscheidung nicht immer konsequent einhält.« (Opstaele, Politik, Geist und Kritik, 143 ff.) Auch wir hatten uns im Kontext der Begriffsgeschichte dieser analytischen Trennung bedient und im Anschluss an Kohler und Wenzel von einem intrasubjektiven und einem inter-subjektiven Verständnis des Gemeinsinns gesprochen. Es kann hier durchaus die Frage gestellt werden, ob Arendt eine solche Trennung überhaupt vorgesehen hatte; dies ist m. E. nicht der Fall. Arendt denkt vielmehr beide 173 174
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sich bei ihrem Gemeinsinnsbegriff in vielerlei Hinsicht an Kant orientiert, ist es nicht verwunderlich, dass auch sie beim Gebrauch der in diesem Begriffsfeld verwendeten Terminologie nicht in jeder Hinsicht trennscharf vorgeht. Auch wenn sich manche »Unklarheiten« 175 , die sich beim Abgleich von Früh- und Spätwerk auch in diesem Punkt ergeben, durch teilweise recht willkürliche Übersetzungen erklären, bleiben hier terminologische Unstimmigkeiten. 176 Aspekte als in einem Begriff vereint und schließt damit einmal mehr an die lange Begriffsgeschichte des Gemeinsinns an. Damit zeigt sich hier erneut ihre Rezeptionsmethode, welche Positionen der Philosophiegeschichte wie in einem kommunikativen Raum (»living-room«) vereint und in der gleichen Weise in einem grundlegenden Verständnis des Phänomens zusammenfügt, wie der Gemeinsinn die fünf privaten Sinne in eine gemeinsame Weltwahrnehmung fügt. So gesehen, erleben wir am Beispiel des Gemeinsinns gewissermaßen eine von Arendt vorgeführte, performative Einheit von Gegenstand und Methode. 175 Vgl. Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit, 86. 176 Arendts Denktagebuch enthält neben der oben als Beleg angeführten Passage auch eine Stelle, welche die im Folgenden vertretene Unterscheidung in Frage stellt, da sie hier Gemeinsinn und gesunden Menschenverstand synonym zu verstehen scheint: »Der gesunde Menschenverstand ›räsoniert‹, weil er anders gar nicht die partikularen Sinnesdaten in die gemeinsame Welt einordnen könnte. Dieser ›Gemeinsinn‹ arbeitet dauernd mit Arbeitshypothesen, die dazu dienen, das Partikulare zu kontrollieren in Bezug auf seine ›Allgemeingültigkeit‹. Die Hypothese greift selbstverständlich ein, wo die Sinne im Stich lassen: Ich bin kurzsichtig, was ich sehe, halte ich für einen Baum, ich gehe näher, es ist in der Tat ein Baum. ›The hypothesis works.‹ Bei Lukretius ganz deutlich, wie dieses Aussetzen der Sinne zum Räsonieren führt: Ich spüre den Wind (sehe ihn aber nicht, nur bewegte Gegenstände), also muss es Leere geben. Der gesunde Menschenverstand kann gar keine andere Wahrheit kennen als Bestätigung von Arbeitshypothesen.« (DTB 477) Anzumerken ist, dass der Terminus »Gemeinsinn« von Arendt in Klammern gesetzt wird – wohl um anzudeuten, dass die Bezeichnung an dieser Stelle durchaus unangemessen erscheint. Ein »Gemeinsinn«, welcher sich damit befasst, Hypothesen zu überprüfen und das Partikulare zu »kontrollieren«, ist im Verständnis der Vita activa bereits ein »verlorener« Gemeinsinn, wie wir im folgenden Abschnitt zeigen werden. Auch im Leben des Geistes sind immer wieder Stellen greifbar, an denen die Begriffe synonym verwendet zu werden scheinen. Offensichtlich handelt es sich hierbei jedoch um eine zu beklagende Ungenauigkeit der Übersetzung Herman Vetters. So lesen wir verschiedentlich von »gemeinem Verstand« (z. B. S. 34, 86, 88, 176) an anderen Stellen jedoch vom »Gemeinsinn« (S. 36, 59, 61, 86, obwohl im englischen Original in allen Fällen »common sense« steht. Auf S. 86 finden sich diese beiden verschiedenen Übersetzungen des Begriffs sogar auf der gleichen Seite (!). Thomas wird angemessenerweise mit »Gemeinsinn« wiedergegeben (59 f.); auf S. 34 wird common sense jedoch als »gemeiner Verstand« übersetzt, obwohl direkt auf Cicero Bezug genommen wird und damit auf einen Autor, der für die Tradition des sensus communis-Begriffs prägend ist wie nur wenige andere. Der Grund dieser Ungleichbehandlung bleibt im Dunkeln. Ansatz-
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Welt und Gemeinsinn
Um jedoch die Bedeutung des Gemeinsinnsbegriffs für Arendts Werk einsehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass sie den Begriff in ihrem ersten Hauptwerk Vita activa vor allem in einem Kontext bemüht, welcher sich mit dem Verlust dieses Vermögens und den sich daraus ergebenden Problemen widmet. (vgl. VA 355 ff.) In dieser Perspektive erweist sich die Unterscheidung zwischen Gemeinsinn und gesundem Menschenverstand als wichtige Weichenstellung, welche den besagten Verlust des Gemeinsinns erst verständlich zu machen in der Lage ist. 177 Dieser Verlust hat Entsprechungen in der Philosophiegeschichte, welche sich für Arendt vor allem mit den Namen Hobbes und Hegel verbinden. Wenngleich dies erst 1958 in Vita activa ausführlich Gegenstand einer ausführlichen, veröffentlichten Untersuchung wird, scheinen diese Gedanken bereits um 1954 über Eintragungen in ihrem Denktagebuch Vorbereitung zu finden, in welches sie im Februar schreibt: »Als der ›common sense‹ in die Hände der Philosophen fiel, haben sie ihn seines Sinnes-charakters beraubt und absurd gemacht. Das grösste Beispiel dafür ist Hobbes. Erst hier wird der ›common sense‹ unabhängig vom Sinnlich-erfahrbar-Gegebenen und verwandelt sich in eine Logik, ein Rechnen mit Konsequenzen, das alles Reale zerstört.« (DTB 469)
Offenbar geht von der Philosophie eine Gefahr für den Gemeinsinn aus – was uns nicht allzu sehr verwundert, da wir auf Arendts Kritik an der Weltabgewandtheit der Philosophie ja bereits verschiedentlich hingewiesen hatten. Ronald Beiner hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die Opposition zwischen phronesis und sophia, welche im Verlauf unserer Untersuchung bereits verschiedentlich als anweise lässt sich die Intention unterstellen, insofern terminologisch zu differenzieren, als »Gemeinsinn« als Übersetzung con »common sense«, »gemeiner Verstand« im Unterschied dazu als Übersetzung von »common sense reasoning« (z. B. S. 63, 66, 89) verwendet wird. Aber auch diese Unterscheidung wird bei der Übersetzung nicht durchgehalten (vgl. z. B. S. 65 und 123, wo »common sense« mit »gemeiner Verstand« übersetzt wird, ohne im Original mit dem Zusatz »understanding« verbunden gewesen zu sein). Die Differenzierung erschiene vor dem Hintergrund der Üblichkeit, »understanding« mit »Verstand« wiederzugeben verständlich, muss aber vor dem Hintergrund des jeweiligen Kontextes als inhaltlich wenig plausibel bewertet werden. Die Übersetzung ist an dieser Stelle folglich als unzureichend anzusehen und erschwert eine angemessene Interpretation in diesem Punkt ganz erheblich. 177 Diese Unterscheidung wird in Opstaeles Auseinandersetzung vernachlässigt, weil er an dieser Stelle weder Vita activa zur Interpretation heranzieht noch die problematische Übersetzung von Das Denken reflektiert. Vgl. Opstaele, Politik, Geist und Kritik, 144.
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tiintellektualistische, gegen weltlos-scholastische Gelehrsamkeit gerichtete Tendenz in der Begriffsgeschichte des Gemeinsinns angeklungen war, auch »ein durchgängiges Thema in Arendts Werk [ist].« 178 Nun wird an dieser Stelle aber nicht nur wiederholt Arendts antiintellektualistische Ader (»Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an.« GG 58) greifbar, sondern es geht hier um einen systematischen Punkt, den sie ein weiteres Mal in einer ihrer philosophiegeschichtlichen Erzählungen zur Darstellung bringt. Was hatten die Philosophen mit dem Gemeinsinn angestellt? Arendt notiert es folgendermaßen in ihr Denktagebuch: »›Common sense‹ und gesunder Menschenverstand: Hobbes führt ihn in die Philosophie ein, indem er alle vergangene Philosophie für absurd erklärt. Er ist mit Hegel ganz einig; nur sträubt er sich gegen die ›verkehrte Welt‹. Damit hört der ›common sense‹ auf ein Sinn zu sein, und wird ganz zur ›Vernunft‹ erhoben. Als solcher erst ist er der ›gemeine Verstand‹. Bei Hobbes funktioniert er in doppelter Weise: 1. Als logisches Folgern, das jeder richtig machen kann und bei dem alle zu gleichen Resultaten kommen müssen. […] 2. Als psychologische Selbsterfahrung, wobei vorausgesetzt ist, dass ich mich selbst so kennen kann wie alle Anderen. Das ›Kenne-dich-selbst‹ soll nun meinen: Nimm dich selbst zum Beobachtungsgegenstand, und du kennst alle, denn alle sind gleich in sich selbst«. (DTB 468)
Der narrative Charakter ihres Denkens ist in diesen Passagen mit Händen zu greifen; was passierte, als der Gemeinsinn den Philosophen »in die Hände fiel«, wird von Arendt hier am Beispiel von Hobbes und Hegel verdeutlicht. Die Begriffsgeschichte des Gemeinsinns tritt uns – und diese Form hatte in Vita activa bereits in ähnlicher Weise die Darstellung bestimmt – in Form einer großen Narration entgegen, in der die Begriffe und Perspektiven sprachlich wie die Akteure einer Erzählung beschrieben und angeordnet werden. An dieser Stelle der Geschichte nehmen die Geschehnisse für den verfolgten Begriff eine entscheidende Wendung: Durch seine Adaption 178 Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen. In: Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München 1985, 115–197, 134. Allerdings verkennt auch Beiner Arendts Unterscheidung zwischen Gemeinsinn und gesundem Menschenverstand und von der »Verteidigung des gesunden Menschenverstandes«, welche »ein durchgängiges Thema in Arendts Werk« gewesen sei. Wir werden im Folgenden sehen, dass im Sinne dieses Werkes vielmehr der Gemeinsinn gegen den gesunden Menschenverstand hätte verteidigt werden müssen. Der Kontext des Zitats macht jedoch deutlich, dass es sich bei Beiner – wie bei vielen anderen – um eine rein terminologische, keine inhaltliche Verwechselung handelt.
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als philosophischer Begriff büßte der Gemeinsinn seinen Charakter als sinnlich-weltliches Vermögen ein und wurde damit in ein intellektuelles, vernunftähnliches Vermögen transformiert. Als solches vereinheitlichte er die Menschen insofern, als er ihre individuelle Verschiedenheit im Urteil in logisches Schlussfolgern überführte und die Reflexion auf das eigene, individuelle Selbst in eine Selbstbeobachtung in der dritten Person verwandelt wurde. Das Ergebnis der Geschichte liegt auf der Hand: Jeder zieht die gleichen logischen Schlüsse und jeder versteht sich selbst als menschliches Exemplar der allgemeinen Gattung Mensch. Es ist hier nicht der Ort, um der Frage nachzugehen, inwiefern Arendt Hobbes und Hegel mit ihrer Diagnose Unrecht tut oder nicht. 179 Warum mit der Transformation des Gemeinsinns in den gesunden Menschenverstand aber eine solche Vereinheitlichung einherging, wie Arendt sie hier geltend macht, liegt jedoch auf der Hand: »Die erste Weise des gesunden Menschenverstandes ist typisch modern und subjektivistisch; die zweite aber ist typisch ›philosophisch‹ – das, was aus dem ›common sense‹ in den Händen des Philosophen wird. Nun gibt es wieder keine Pluralität, keine δóξαι und keine Verwirrung. Alle Menschen sind eigentlich nur ein Mensch, und wenn wir diesen Einen im Leviathan konstruiert haben, sind wir Gott gleich. In der Tat haben wir die Schöpfung Gottes, der den Menschen in der Pluralität schuf, rückgängig gemacht.« (DTB 468)
Die Transformation des Gemeinsinns in einen folgernden gesunden Menschenverstand führte zu einer für die Neuzeit charakteristischen Transformation zu Gunsten einer Rationalisierung am Paradigma der Logik: »Hobbes verwandelte den ›common sense‹ in logisches Schlussfolgern – ›reckoning with consequences‹ –, und Hegel verwandelte mittels der Dialektik die spekulative Vernunft in dialektisch-schlies-
179 Auch wenn dies in mancherlei Hinsicht zu vermuten ist, kann die vorliegende Arbeit auf dieses Problem nur am Rande hinweisen. Da auch in der Perspektive der Kant-Forschung viele von Arendts Adaptionen als fraglich gelten, weil sie nicht Kantimmanent sind, verwundert es nicht, dass Ähnliches auch für andere Autoren zu beobachten ist – macht diese Methode der transformierenden Aufnahme doch gerade den Ansatzpunkt dieser Arbeit aus. Um weiterhin die Ernsthaftigkeit der unserer Auseinandersetzung sowohl mit der rezipierten Position (in unserem Falle Kant) wie der rezipierenden Position (Arendt) gewährleisten zu können, soll es im Rahmen dieser Arbeit dabei bleiben, Arendts Rezeption der philosophischen Tradition am Beispiel ihrer Lektüre Kants zu untersuchen. Für alles Weitere wird hier darum nur auf Arendts Denktagebuch und die hier in Anspruch genommenen Referenzstellen bei Hobbes und Hegel verwiesen. (DTB 1050)
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sendes Prozess-denken.« (DTB 473) Arendts Kritik an diesem Vorgehen gleicht in vielerlei Hinsicht Vicos Kritik am cartesischen Wissenschaftsideal seiner Zeit (und in Vita activa wird Arendt ja Cartesianismus und Verlust des Gemeinsinns miteinander in Verbindung bringen). Das »typisch« philosophische Ergebnis sieht sie darin, dass der Mensch sich da, wo er nur als ein Exemplar der Gattung verstanden wird, wieder als Einzelnes einem Allgemeinen untergeordnet wird und die Differenzen zwischen den Menschen, Individualität und Abweichung in Meinungen, zugunsten eines wissenschaftlich vereinheitlichen Bildes »des« Menschen verschwinden. Der sich ankündigende Verlust des Gemeinsinnes geht offenkundig mit einem Verlust des Bewusstseins für Pluralität in den menschlichen Angelegenheiten einher. Die Gefahr von »Weltverlust« liegt hier auf der Hand, denn mit dem Gemeinsinn steht auch die Zugänglichkeit der Welt als einer gemeinsam sinnlich erfahrbaren auf dem Spiel: »Der Verlust der Sichtbarkeit dieses Bereiches gehört zu seinem Schwund, weil er durch Sichtbarkeit (Phänomenalität) bestimmt ist.« 180 3.1.3.3. Der Verlust des Gemeinsinns Dieser Verlust des Gemeinsinns ist jedoch nicht primär ein philosophisches Problem, sondern ein generelles Merkmal der Moderne, ja, der Neuzeit insgesamt. Wir waren dieser Problematik bereits im Rahmen unserer Überlegungen zum gerissenen Ariadnefaden begegnet. Die Relevanz des Problems liegt darin, dass mit der Funktionstüchtigkeit unseres Gemeinsinns unser Weltverhältnis insgesamt auf dem Spiel steht. »Jeder Krise in der Welt scheint eine Krise des Gemeinsinns zu entsprechen.« 181 Ein Beispiel für ein solches Phänomen war uns bereits mit der Krise der Erziehung begegnet (vgl. Kap. B.1.1.), welche Arendt für die USA der 1950er Jahre konstatierte und die für sie eine Erscheinungsweise der Krise bedeutete, welche Neuzeit und Moderne in weit grundsätzlicher Weise erfasst hatte. Ihr Ursprung lag für Arendt auch hier in einem Mangel an »Gemeinsinn, durch den wir in eine uns allen gemeinsame Welt eingepasst sind und mit dessen Hilfe wir uns in ihr bewegen.« Ein »Schwund« dieses Vermögens ist Arendt zufolge »das sicherste Anzeichen der modernen 180 181
Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 23. Reist, Praxis der Freiheit, 283.
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Krise. In jeder Krise geht ein Stück Welt, etwas, was uns allen gemeinsam ist, zugrunde.« (KdE 260) Wo liegen nun die Ursprünge dieser »modernen Krise«, welche eine allen gemeinsame Welt stückweise verschwinden zu lassen scheint? Die Beantwortung dieser Frage führt in Arendts Argumentation bis an den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zurück. Neben der Entdeckung Amerikas und der Reformation bildet für Arendt überraschenderweise die Entdeckung des Teleskops eines der drei wesentlich den Begrinn der Neuzeit markierenden Ereignisse (vgl. VA 318) 182 . Dabei ist ihr durchaus klar, dass die beiden ersteren Ereignisse sich auf Leben und Denken der Menschen weit direkter und in prägenderer Weise ausgewirkt haben dürften als die Erfindung einer weiteren technischen Neuerung, an denen an der Schwelle zur Neuzeit wahrlich kein Mangel herrschte und deren Relevanz zumeist auf die Welt der Gelehrten beschränkt blieb. »Aber diese Gelehrtengesellschaft hat doch in mancher Hinsicht die radikale Änderung der modernen Denkungsart vorweggenommen, die als solche erst in unserem Jahrhundert zu einer politisch nachweisbaren Realität sich entwickelte.« (VA 345 f.) Das Teleskop kommt hier also nicht nur als eine technische Neuerung in Betracht, sondern es bildet eher eine Art Chiffre für ein typisch neuzeitliches Weltverhältnis. Das gemeinte Verhältnis wird maßgeblich geprägt vom Verständnis moderer Naturwissenschaft und damit zum ersten von der Tätigkeit des Messens, welches den Zugang des Menschen zur Welt von technischem Gerät abhängig machte und dieses zugleich zwischen Mensch und Welt schob. So sei es für das Messen charakteristisch, dass man »eine Entfernung zwischen sich und das zu Messende legen muß.« Damit leitete der neuzeitliche Blick auf die Welt etwas Zweites ein, was im Ereignis der Erfindung des Teleskops in besonderer Weise sinnfällig wird: Die »Entfernung des Menschen von der Erde«. Dies geschah, indem sich 182 Für die Periodisierung, welche in der Geschichtswissenschaft bekanntlich ein durchaus umstrittenes Problem bildet, werden von Hannah Arendt in Vita activa im Wesentlichen vier große historische Ereignisse akzentuiert. So wird der Beginn der Neuzeit für sie ganz wesentlich durch die besagten »drei große[n] Ereignisse« markiert, welche »an der Schwelle der Neuzeit [stehen] und […] die Physiognomie ihrer Jahrhunderte [bestimmen]: Die Entdeckung Amerikas […]; die Reformation und […] schließlich die Erfindung des Teleskops […]. Diese Ereignisse bezeichnen den Beginn der Neuzeit, aber nicht der modernen Welt, die vielmehr erst nach der Französischen Revolution anhebt.« (VA 318)
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dem Menschen der Blick für einen Bereich außerhalb dieser Welt erschloss und damit gewissermaßen eine Außenperspektive auf die Welt eröffnet wurde – was Arendt zufolge eine »Entfremdung des Menschen von seiner unmittelbaren irdischen Behausung« (VA 321) nach sich zog. Es war damit eine Dynamik angestoßen, von der sie in Vita activa zeigt, dass hier eine spezifische Form von Entfremdungsprozess einsetzt. »Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit.« (VA 325) Die bei Arendt gemeinte Entfremdung unterscheidet sich also grundsätzlich von der im Anschluss an Marx klassisch gewordenen Verwendung dieses Begriffes, weil sie an der mit dem modernen Wissenschaftsideal einhergehenden Subjektivierung des menschlichen Weltverhältnisses ansetzt: »Das Naturbild der modernen Physik, dessen Anfänge man bis auf Gallilei zurückverfolgen kann und das dadurch entstand, daß das Vermögen des menschlichen Sinnesapparats, Wirklichkeit zu vermitteln, in Frage gestellt wurde, zeigt uns schließlich ein Universum, von dem wir nicht mehr wissen, als daß es unsere Meßinstrumente affiziert; und das, was wir von unseren Apparaten ablesen können, sagt über die wirklichen Eigenschaften […] nicht mehr aus, als eine Telephonnummer von dem aussagt, der sich meldet, wenn wir sie wählen.« (VA 333)
Die Naturwissenschaft macht dem Menschen die Welt also eigentlich nicht zugänglich, sie entfernt ihn vielmehr von und aus dieser. »Die Weltliebe der Renaissance gerade war das erste Opfer, das der Triumphzug der neuen Wissenschaft forderte.« (VA 336) Der technisch vermittelte, naturwissenschaftliche Zugriff auf die Welt entfernte den Menschen von dieser und reduzierte den menschlichen Zugriff auf die Welt auf quantifizierbare Daten – was Arendt als Entfremdung des sich zuvor als in-der-Welt-seiender »Weltbewohner« 183 begreifenden Menschen von der Welt versteht. Sie sieht hier das »archimedische Verlangen« am Werk, »einen Punkt außerhalb der Erde zu wissen, von dem aus man die Welt aus den Angeln heben könnte« (VA 334). Damit dieser »archimedische Punkt kein leerer Traum« (VA 341) blieb, bedurfte es Arendt zufolge aber nicht nur der sich neu entwickelnden modernen Naturwissenschaft, sondern auch eines gewissermaßen kongenialen philosophischen Denkens, dessen Grundlegung Arendt Descartes zuschreibt. »Es wäre in der Tat absurd, sich 183
Breier, Hannah Arendt, 64 ff.
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nicht klar zu machen, wie übergenau die neuzeitliche Weltentfremdung zusammenstimmt mit den neuzeitlichen subjektivistischen Strömungen der Philosophie« (VA 346); und hier liegt die große philosophiegeschichtliche Weichenstellung, welche im Cartesianismus ihren Anfang nimmt. »Die Philosophie der Neuzeit fängt an mit Descartes’ Satz: De omnibus dubitandum est.« (VA 348) Durch sie ist Arendt zufolge »der Zweifel an die Stelle des ϑαυμάζειν getreten, also jenes Staunen über jegliches, das ist, wie es ist […].« (VA 348) An die Stelle dieses für Platon und Aristoteles noch des Kern des Philosophierens markierendes Staunens setzte Descartes nun »zwei Alpträume«: Im einen wird »die Wirklichkeit der Außenwelt wie des Menschen selbst bezweifelt […]. Der andere betrifft die menschliche Existenz überhaupt.« (VA 352) Dies hatte in Arendts wieder stark narrative Züge tragender Darstellung massive Konsequenzen, deren Rolle sich nicht nur als »für die gesamte Entwicklung der neuzeitlichen Ethik und Moral entscheidend« (VA 352) erweisen sollte. Vielmehr reichen ihre Ausläufer Arendt zufolge weit über den Bereich der Philosophie hinaus und haben durch ihre Verbindung mit dem Paradigma naturwissenschaftlichen Denkens für das Weltverhältnis bis heute prägende Wirkungen entfaltet »die in gewisser Weise die Neuzeit niemals mehr losgelassen haben« (VA 352). Diese Folgen des cartesischen Zweifels werden auch bei Cassirer in einer Weise beschrieben, welche das in Vita activa herausgestellte Problem der Weltentfremdung gut fokussiert: »Der Zweifel isoliert das denkende Subjekt, um es kraft dieser Isolierung zu befreien. Diese Befreiung kann nicht gelingen, solange das Subjekt sich noch einer fertig-gegebenen Welt gegenübersieht, mag diese nun als physische oder als geistige Welt verstanden werden. Wir alle werden in eine solche Welt hineingeboren und wachsen in ihr auf – und je weiter wir in unserer Entwicklung fortschreiten, um so enger und unzerreißbarer wird das Band, das uns an sie kettet. Aber einmal im Leben muß Jeder, der nach echtem und wahrhaftem Wissen vom Universum strebt, sich von diesem Zwang lösen. Er muß die Ordnung des Kosmos in seinem eigenen Geist aufbauen, wenn er sie mit diesem Geist durchdringen, wenn er sie wahrhaft verstehen will. Für diese Selbstbefreiung ist der Zweifel das unerläßliche, das einzige Mittel. Er zerstört die Welt der Sinne und er negiert die geschichtliche Tradition. Er hebt die Geltung der Natur wie die der Kultur auf. […] Er wirft das denkende Ich auf sich selbst zurück und er läßt ihm nichts übrig als seine eigene Selbstgewißheit. Damit hat er es zu völliger Einsamkeit verurteilt und gleichsam in eine Wüste gebannt. Aber in dieser Vereinsamung werden ihm nun auch erst all
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die Kräfte deutlich und verfügbar, die ihm wirklich zugehören, die lediglich aus ihm selbst stammen.« 184
Während bei Cassirer die Anerkennung eines befreienden, emanzipativen Zuges die Darstellung des cartesischen Zweifels noch deutlich begleitet, stellt Arendt in noch stärkerem Maße die bei Descartes angelegte, durch den Zweifel eingeleitete Entfernung des Subjekts von der es umgebenden Welt heraus, welches die Verbindung zu dieser und aller kulturellen Tradition zerstört und den Einzelnen dazu veranlasst, aus den eigenen Verstandesstrukturen heraus eine »neue« Welt aufzubauen. »Die kartesische Methode der Argumentation beruht durchaus ›auf der unausgesprochenen Voraussetzung, daß der Verstand nur das erkennen kann, was er selbst hervorgebracht hat und in gewissem Sinne in sich selbst zurückhält‹.« (VA 358 f.) 185 Auf diese Weise wird der Einzelne jedoch von seiner Verbindung zur Welt abgeschnitten und auf seine eigene Subjektivität zurückgeworfen, was Cassirer wie Arendt als Isolierung und Vereinsamung begreifen. Diese Entwicklung stellt das Selbst- und Weltverhältnis des neuzeitlichen Menschen ganz offensichtlich auf den Kopf, da dieser sich nun nicht mehr mittels des Gemeinsinns in einer allen Menschen gemeinsamen Welt gehalten sieht, sondern zu einer Existenz in der Wüste des Solipsismus verdammt ist. Auf diese Weise jedoch geht eine gemeinsame Welt verloren: »Absonderung«, so heißt es schon in Elemente und Ursprünge, »zerstört dieses tertium comparationis des Menschseins.« (EU 343) 186 184 Cassirer, Ernst: Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung. Hamburg 1995, 26 f. 185 Arendt zitiert hier Whitehead, Alfred North: The Concept of nature, Cambridge 2004, 32: »The whole notion is partly based on the implicit assumption that the mind can only know that which it has itself produced and retains in some sense within itself«. 186 Zit. nach Heuer/Von der Lühe, Dichterisch Denken«, 267. In den Elementen wird dieser Gedanke von seiner extremsten Ausprägung her gedacht; nämlich der dem Menschen unter den Bedingungen einer herrschenden Ideologie drohenden »Verlassenheit«. Diese bedeutet nicht nur einen Ausschluss des Menschen aus der gemeinsamen Welt, sondern denkt die Vereinzelung so weit radikalisiert, als dass auch das stumme Zwiegespräch des Zwei-in-Einem verunmöglicht wird, weil der Mensch abgeschnitten ist »auch von dem Selbst, das zugleich jedermann in der Einsamkeit sein kann. So sind sie unfähig, die eigene, von den anderen bestätigte Existenz mit sich selbst aufrecht zu erhalten.« (EU 977) Der im ideologischen Denken auftretende, strukturell logisch-deduzierende Zwang zerstört nicht nur äußere, sondern auch innere Pluralität und damit Welt und Selbst: »Das einzige, was in der Verlassenheit als
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Der Punkt, auf den sich der Einzelne stellte, um sich der Welt zu bemächtigen und der ihn gleichzeitig unwiederbringlich von dieser entfernte, wurde von Descartes damit gleichsam aus dem Weltall, wo er von Archimedes verortet worden war, in die innere Selbstreflexion des Menschen verlegt. Mit der Subjektivierung des Weltverhältnisses, die Descartes mit seiner Methode radikalen Zweifelns einleitete, war also verbunden, »daß er den archimedischen Punkt in den Menschen selbst verlegte, nämlich in die Verstandes- und Bewußtseinsstruktur […]. Damit wählte er als seinen Bezugspunkt die Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens selbst, das, an sich weltlos, sich Wirklichkeit und Gewißheit im Rahmen mathematischer Formeln verschafft, die es selbst hervorbringt.« (VA 361)
Cassirer bringt den Zweifel des Descartes in ähnlicher Weise mit dem archimedischen Punkt in Verbindung: »Er kann daher bisweilen nicht nur das ›Cogito‹, sondern geradezu das ›Dubito‹ als den Archimedischen Punkt des Wissens erklären.« 187 Arendt ist der Überzeugung, dass diese Verschiebungen in Wissenschaft und Philosophie die Reichweite einer Diskussion im Elfenbeinturm weit übersteigen und sich nachhaltig auf das menschliche Denken der Neuzeit insgesamt auswirkten. »Die menschliche Denkungsart änderte sich im Verlauf von wenigen Jahren oder Jahrzehnten so radikal, möchte man meinen, wie die menschliche Welt im Verlauf von Jahrhunderten.« (VA 345) Diese Bewegung hat Arendt mit im Blick, wenn sie davon schreibt, der Gemeinsinn sei in der Neuzeit verlorengegangen und von einem »gesunden Menschenverstand« abgelöst worden, welcher sich ganz maßgeblich am Paradigma moderner Naturwissenschaft orientiert. Die nach diesem Prozess zurückgebliebene »Welt« wird nicht mehr aus der Pluralität gestiftet und in der Intersubjektivität erfahren, sondern aus den Verstandesbedingungen des Subjekts heraus konstituiert: »Sie ist in der Tat, wie Whitehead meint, ›das Resultat des auf dem Rückzug befindlichen Gemeinsinns‹. Denn dieser Gemeinsinn, der ursprünglich der Sinn ist, durch den alle anderen Sinne, die von sich aus subjektiv und privat sind, in eine gemeinsame Welt gefügt und auf eine Mitwelt zugeschnitten werden, der also das Vermögen ist, durch das die Gemeinsamkeit der Welt sich
scheinbar unantastbar sicher verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tautologie des Satzes: zwei mal zwei ist vier.« (EU 977 f.) 187 Cassirer, Ernst: Descartes, 29.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
dem Menschen so erschließt, wie ihre Sichtbarkeit sich ihm durch das Sehvermögen erschließt, dieser Gemeinsinn gerade wurde jetzt als gesunder Menschenverstand zu einem inneren Vermögen ohne allen Weltbezug.« (VA 359)
Die Ablösung des weltorientierenden Gemeinsinns durch einen in den Solipsismus führenden gesunden Menschenverstand ist also letztlich ein Prozess des Weltverlustes, denn »was die Menschen des gesunden Menschenverstands miteinander gemein haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur« (VA 359). Auf diese Art und Weise büßte der Mensch den Orientierungsrahmen einer intersubjektiv konstituierten Welt ein zugunsten einer »Wissenschaft, deren einziger Gegenstand die Struktur des menschlichen Verstandes ist.« (VA 339) Descartes’ Philosophie ist dabei in ganz anderer Weise an der Mathematik geschult, als dies noch bei Platon der Fall gewesen war. (vgl. VA 337 ff.) Platon hatte die Mathematik als eine Art Propädeutik der philosophischen Dialektik verstanden und ihr im Kanon der Wissenschaften daher ebenfalls eine ganz ausgezeichnete Position zugewiesen. In der Folge des cartesischen Denkens jedoch wird der Weltzugang des Menschen in einer »moderne[n] reductio scientiae an mathematicam« (VA 341) auf dasjenige reduziert, was mittels der Verstandesstruktur des Menschen beschreibbar ist. »Mit Descartes’ analytischer Geometrie […] gelang es der Mathematik, all das, was der Mensch nicht ist, auf Formeln zu reduzieren und in Symbole zu übersetzen, die den Strukturen entsprechen, die der Mensch in seinem Verstand vorfindet.« (VA 339) Damit war der Phänomencharakter alles Weltlichen als ein Zusammenhang, welcher durch gemeinsame und doch perspektivische Pluralität verbürgende Wahrnehmung konstituiert worden war, dahin: »Das uralte Anliegen, die ›Phänomene zu retten‹ […] bestand von nun an darin, daß sie auf eine mathematisch erfaßbare Ordnung reduziert wurden, und diese mathematische Operation […] verfolgt […] den Zweck, die Sinnesdaten auf die dem menschlichen Verstand innewohnenden Verhältnisse und Maßstäbe zu reduzieren […]. […] Diese mathematischen Formeln und Symbole […] werden überhaupt nur dadurch gewonnen, daß dies innere Auge, genau wie das physische Sehvermögen, sich vor der phänomenal gegebenen Welt schließt und alle Phänomene vermöge der Kraft der Entfernung auf Zahlenverhältnisse reduziert.« (VA 340)
Das Weltverhältnis des Menschen der Neuzeit ist also eines, das im Wesentlichen auf das reduziert wurde, was mittels mathematischer 344 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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Symbole darstellbar ist. Arendt stellt hierzu unter Bezugnahme auf Heisenberg fest, dass auf diese Weise von einer Wirklichkeit dessen, womit wir als Menschen konfrontiert sind, gar nicht mehr gesprochen werden kann, denn »anstatt der Natur oder dem Universum begegnen ›wir gewissermaßen immer nur uns selbst‹.« (VA 333, Anm. zu Heisenberg ebd.) Die »Wirklichkeit« ist eine einsame geworden und das neuzeitliche Paradigma der Naturwissenschaft ist es, das im Verbund mit seinem philosophischen Pendant, der cartesischen Philosophie, diesen Vorgang eingeleitet hat: »Die moderne Wissenschaft […] kann […] sich nun in einer ›Welt‹ bewegen, die genau dem entspricht, was ein weltloser Verstand in sich selbst vorfindet.« (VA 361) Dabei ist ihr die Schlüssigkeit des vorfindlichen Zusammenhangs im gleichen Maße garantiert, in dem ihr die Welt verlorengegangen ist. 3.1.3.4. Gemeinsinn, Verstand und Denken Es ist kaum notwendig, hier eigens herauszustellen, dass Arendt den cartesischen Ansatz aufgrund seiner Konsequenzen für hochproblematisch hält. 188 In unserer Perspektive interessant ist dabei vor allem, dass sie bei ihrer Kritik wieder auf ganz verschiedene, zum Teil recht unterschiedliche Richtungen philosophischen Denkens zurückgreift, ohne allerdings eine davon wirklich konsequent fortzusetzen; ihr »perlentauchender«, Fragmente der Tradition neu anordnender Ansatz wird also in ihrer Ablehnung des Cartesianismus erneut sichtbar. So knüpft sie einerseits an die Tradition des Gemeinsinnsbegriffes an, welche sich ja z. B. bei Vico und vielen anderen ebenfalls ganz wesentlich in der Opposition zum Cartesianismus entwickelt hatte. Daneben (und nicht ohne Spannung zu dieser Traditionslinie) ist ihr Grundansatz im oben angesprochenen, reduzierten Sinne insofern durchaus phänomenologisch, als sie ja mit Blick auf ihren Begriff der Welt konstatiert hatte, dass »Sein und Erscheinen dasselbe« (D 29) seien. Beide Züge ihres Denkens teilen sich ihren Descartes-kritischen, an weltlicher Wirklichkeit orientierten Grundton; ihre phänomenologische Auffassung der Welt erweist sich als mit dem cartesischen cogito
188 Zur einer an Arendt orientierten Kritik am cartesianisch geprägten, »kritischen« Wissenschaftsbegriff der Neuzeit und dessen Spannung zur Sphäre der Politik und des Handelns vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 32 ff.
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nicht kompatibel. Arendt schreibt hierzu im Denken: »Descartes’ ›cogito me cogitare‹ ist einfach deshalb nicht schlüssig, weil diese res cogitans überhaupt nicht erscheint, wenn sich ihre cogitationes nicht in gesprochener oder geschriebener Sprache äußern, die bereits auf Hörer und Leser hin orientiert ist und sie voraussetzt.« (D 30) In Arendts Denken trifft sich nicht nur die von den common-senseTheoretikern bekannte Kritik an weltenthobener Gelehrsamkeit mit der phänomenologischen Grundeinsicht, dass es ein Ich-denke eigentlich immer nur als ein Ich-denke-etwas geben kann, sondern die in der Subjektivität verbleibende Intentionalität der Phänomenologie husserlscher Prägung wird zudem für die menschliche Pluralität geöffnet und damit um einen genuin politischen Bedeutungsaspekt ergänzt. (vgl. D 55) Bei Arendt ist ein Denkakt nicht nur in für die Phänomenologie typischer Art und Weise auf ein ihm zugehöriges Korrelat bezogen, sondern seine Bedeutung für die Wirklichkeit der Welt wird zudem an die Bedingung gebunden, dass er öffentlich und damit für den sprachlich-intersubjektiven Weltzusammenhang wirksam wird. Zu diesem Pluralität verbürgenden Zusammenhang steht das cartesische cogito in einem unaufhebbaren Widerspruch: »Der Solipsismus […] war schon der hartnäckigste und vielleicht der verderblichste Trugschluß der Philosophie, noch ehe er bei Descartes den Rang theoretischer und existentieller Folgerichtigkeit erlangte.« (D 56) Da Arendt zur Formulierung ihrer eigenen Position im Problemfeld des cogitare immer wieder an Kant anschließt, sollen die in diesem Zusammenhang voneinander zu unterscheidenden menschlichen Vermögen noch einmal in ihrem Verhältnis zum Gemeinsinn betrachtet werden, um im Folgenden dann Rolle und systematischen Ort des Urteilens angemessen einordnen zu können. Hierzu ist besonders das achte Kapitel im ersten, Das Denken thematisierenden Band vom Leben des Geistes von Bedeutung, was mit »Wissenschaft und gemeiner Verstand; Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft; Wahrheit und Sinn« (D 62) Aufschluss im besagten Problembereich zu bieten verspricht. Das Kapitel erweist sich allerdings nicht nur wegen der vielfach ungenauen Übersetzung als problematisch, sondern enthält auch im englischen Originaltext durchaus Gedankengänge, die mit anderen Teilen des Werkes – etwa der Vita activa – schwer in Einklang zu bringen sind; bisweilen scheint der Text mehr Fragen aufzuwerfen als er klärt. Doch erinnern wir uns: »Die Vernunft als praktisches Vermögen 346 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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hat es nicht mit der Erkenntnis von Gegenständen zu tun, sondern« sie ist vielmehr ein »Vermögen der Sinngebung.« 189 Die genannte kantische Unterscheidung von Verstand und Vernunft war im Rahmen unserer Darstellung zur kantischen Ethik von Bedeutung gewesen und hatte auch zuvor bereits eine Rolle gespielt, um Arendts Position als eine in einem schwachen Sinne hermeneutische, auf Sinn gerichtete Position der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gegenüberzustellen. Wir werden an dieser Stelle zudem zu klären haben, wie diese auf Kant zurückgeführte Unterscheidung sich zum im vorliegenden Kapitel in den Blick genommenen Vermögen eines Gemeinsinns verhält. Das Ziel der auf den Verstand zurückgehenden Erkenntnis ist im Rahmen dieser Gegenüberstellung die Produktion von Wissen, welches – sobald es vorliegt – zu einer zur Welt gehörigen Gegebenheit wird. Im Unterschied dazu ist das von Kant Vernunft genannte Denkvermögen Arendt zufolge gänzlich anders beschaffen; sie bezieht sich hier auf eine Stelle der ersten Kritik Kants: »Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstandesbegriffe zum Verstehen (der Wahrnehmungen).« (KrV B 367) Ihre Folgerung erscheint mit Blick auf die im kantischen Original gebrauchte Terminologie alles andere als naheliegend: »Der Verstand möchte fassen, was den Sinnen gegeben ist, doch die Vernunft möchte dessen Sinn [meaning] verstehen.« (D 66) 190 Wie besonders Julia Kristevas Darstellung erhellt, geht es Arendt im Kern um die Polarisierung des Paradigmas moderner Naturwissenschaft, welches mit dem Verstand in Verbindung gebracht wird auf der einen und einer genuin menschlichen, auf Sinnverstehen gerichteten Denkleistung auf der anderen Seite: »Die Autorin hält an der Kantischen Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft fest: einerseits Erkenntnisvermögen oder Wissen und Wahrheit; andererseits Vernunft oder Denken und Sinn. […] Das Denken […] wirkt als ein Schutz gegen den unendlichen Marsch in Richtung des wissenschaftlichen ›Fortschritts‹, dieser ›Folge von Wahrheiten‹ und ist dabei selbstzerstörend, da es unendlich in Frage stellt, wesentlich befragend ist
189 Horkheimer, Max: Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 87 f., 90. 190 Arendt bemerkt, sie befinde sich hier auf einem Pfad der Kant-Interpretation, die sie nur mit Eric Weil teile. Vgl. D 217 f. Genauer bezieht sie sich auf Weil, Eric: Problèmes Kantiens. Paris 1970.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Der Verstand ist von dieser Welt der Notwendigkeiten, nicht aber der der Freiheit; das Denken ist dagegen nichts anderes als ›ein Sinnstreben‹, eine unerschöpfliche Quelle unbeantwortbarer Fragen.« 191
Arendts Zuordnung mag auf den ersten Blick an Diltheys viel zitierte Unterscheidung zwischen dem Erklären als naturwissenschaftlichem und dem Verstehen als geisteswissenschaftlichem Paradigma erinnern – doch dies erweist sich schon auf den zweiten Blick nicht als der Gedanke, um den es hier geht. So versteht sie ihre Unterscheidung von Wahrheit und Sinn als »notwendige Konsequenz von Kants zentraler Unterscheidung von Verstand und Vernunft. Freilich ging Kant selbst dieser speziellen Konsequenz seines Gedankens nie weiter nach; ja, man kann in der ganzen Philosophiegeschichte keine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden völlig verschiedenartigen Funktionen finden.« (D 67)
Da Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaft von 1910 ihr sicherlich bekannt gewesen ist – hatte ihr Lehrer Heidegger sich doch ausführlich damit beschäftigt – muss der Fokus also auf etwas anderem liegen. Nun sind Arendts Ausführungen zur kantischen Unterscheidung von Vernunft und Verstand ganz offenkundig unterschiedlich naheliegend. Deutlich ist, dass der Verstand als ein Vermögen gefasst wird, welches in Auseinandersetzung mit der sinnlichen Wahrnehmung zur Produktion von Erkenntnissen beiträgt. Die Verstandestätigkeit gilt ihr darum als ein Bereich, in dem von Wahrheit gesprochen werden kann; genauer gesagt: von Tatsachenwahrheiten im leibnizschen Sinne. (Vgl. D 68 f.) Dies gilt für die Tätigkeit der Vernunft nicht in gleichem Maße; sie zielt nicht auf Wahrheit, sondern auf die »Umkreisung des Sinnes.« 192 Dieses Verständnis der beiden Begriffe hat weitreichende Konsequenzen, die Arendt mit Blick auf die leibnizsche Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten folgendermaßen erläutert: »Anders gesagt, es gibt keine anderen und höheren Wahrheiten als Tatsachenwahrheiten: alle wissenschaftlichen Wahrheiten sind Tatsachenwahrheiten, auch die, die aus reiner Gehirntätigkeit entspringen und in einer besonders geschaffenen Zeichensprache ausgedrückt werden; und nur Tatsachenwahr-
Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 298. Jonas, Hans: Handeln, Erkennen, Denken. Zu Hannah Arendts philosophischem Werk. In: Reif, Hannah Arendt, 353–372, 364. 191 192
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heiten sind wissenschaftlich verifizierbar. So ist die Aussage ›Ein Dreieck lacht‹ nicht unwahr, sondern sinnlos, während der ontologische Gottesbeweis, wie er sich bei Anselm von Canterbury findet, nicht wahr, aber höchst sinnträchtig ist. Erwartet man nun vom Denken Wahrheit, so zeigt das, daß das Bedürfnis zum Denken mit dem Erkenntnisdrang verwechselt wird. Dieser kann und muß sich des Denkens bedienen, doch dabei ist er nie er selbst, sondern Diener eines völlig anderen Unterfangens.« (D 70)
Der Verstand ermöglicht Erkenntnis, welche nur dann als solche gelten darf, wenn sie wahr ist. Die Vernunft führt nicht zur Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern verbindet sich mit Sinnverstehen. Wenngleich die erkenntnisermöglichende Funktion des Verstandes durchaus als kantische Vorstellung durchgehen mag, so kann die Verbindung von Vernunft und Sinnverstehen – Arendt spricht im englischen Originaltext von meaning – kaum in gleicher Weise als Gedanke des Königsbergers gelten. Es erscheint in diesem Zusammenhang durchaus nicht unzutreffend, wenn Hans Jonas schreibt, dass Arendt »Kants berühmter Unterscheidung von Vernunft und Verstand eine überraschend neue Deutung gibt.« 193 Hier wird also wieder ein Fragment aufgenommen, aus seinem systematische Kontext gelöst und in etwas Anderes, möglicherweise Eigenes ver-lernt (Vgl. Kap. C.1.3.2.). Worum es Arendt dabei geht, wird leider zum Teil von ihrer eigenen Darstellung, zum Teil aber auch von der deutschen Übersetzung verstellt, welche an verschiedenen Stellen mal mit »gemeiner Verstand«, mal mit »Gemeinsinn« übersetzt, wo das englische Original »common sense« vorgibt. Wie wir gesehen hatten, läuft dies besonders ihrem Gedanken aus Vita activa deutlich zuwider. Viele Stellen erscheinen vor diesem Hintergrund rätselhaft; so lesen wir z. B. von »dem Gemeinsinn [common sense] und seiner Fortsetzung, die bei Kant Verstand heißt.« (D 69) War es in Vita activa nicht gerade eines der Probleme von Neuzeit und Moderne gewesen, dass der pluralistisch-weltbezogene Gemeinsinn in der Folge einer mit dem Cartesianismus verbundenen Subjektivierung zu Gunsten einer naturwissenschaftlich geprägten Verstandestätigkeit verloren gegangen war? In welchem Verhältnis steht also das Kapitel 8 aus dem Spätwerk Das Denken zu Arendts großer Erzählung neuzeitlicher Geistesentwicklung in Vita activa? Hier ist an den Umstand zu erinnern, dass sich das Spätwerk der 193
Jonas, Handeln, Erkennen, Denken, 364.
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vita contemplativa zuwendet und damit letztlich ein Gegenstück zu ihrer Untersuchung des tätigen Lebens bildet. Geht es in Vita activa gewissermaßen um eine Erzählung der Moderne, werden in Das Leben des Geistes die menschlichen Vermögen aus der Perspektive des denkenden, wollenden und urteilenden Ich behandelt. 194 Kurz: Mit Blick auf die vita contemplativa verändert sich der Charakter von Arendts Erzählung, da die Perspektive sich verschiebt. Wie wir noch sehen werden, ist mit dieser Verschiebung aber nicht eigentlich ein Bruch in Arendts Werk verbunden. 195 Vielmehr findet der Gedanke, dass der Einzelne nur im Rahmen einer Pluralität Identität annimmt, hier sein zugehöriges Pendant: dass nämlich eine Pluralität denkender Einzelner bedarf, um sich konstituieren zu können. Dem Begriff des Gemeinsinns als eines Vermögens, den Menschen zur pluralen Wirklichkeit der Welt in Beziehung zu setzen, kommt im Denken daher – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle zu. Er findet hier meist nur in der Bedeutung des intrasubjektiven Vermögens Erwähnung, das als der »sechste Sinn« dazu dient, »uns in die Welt der Erscheinungen einzufügen und in der von unseren fünf Sinnen gelieferten Welt heimisch werden zu lassen.« (D 68) Die im vollen Sinne politische, inter-subjektive Bedeutung des Gemeinsinns steht hier – im Unterschied zur Vita activa – einfach weniger im Fokus. 196 Der »common sense« des englischen Originals wird hier im Wesentlichen als das Vermögen des (einzelnen) Menschen verstanden, sich überhaupt auf die Welt als Erscheinung zu beziehen. 194 »Nunmehr, 1973, geht es um die Berührung zwischen der ›sinnlichen Welt‹ und dem ›Wind des Denkens‹, um eine Erfahrung des Lebens als Denken, des Denkens als Leben.« Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 315. 195 Auch in dieser Arbeit wird also die die Arendt-Forschung lange prägende These von Ronald Beiner, dass es zwei verschiedene, unvereinbare Lehren der Urteilskraft gebe, als überholt angesehen: Eine im Frühwerk als Fähigkeit des politisch Handelnden und eine im Spätwerk aus der Perspektive des Zuschauers. (vgl. Kap. C. 3.2.2.2.) So wenig wie es zwei Begriffe der Urteilskraft gibt, so wenig zerfällt Arendts Werk hier oder anderswo in unvereinbare Teile; Ihre Untersuchungen zu vita activa und vita contemplativa müssen vielmehr als komplementär verstanden werden. 196 Wie Ernst Vollrath betont, wird das Politische durch Phänomenalität UND Pluralität und Opinialität charakterisiert. (Vgl. Vollrath, Ernst: Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung. Würzburg 2003, 217.) In Abschnitt 8 des Denkens treten bei an den Stellen, an denen der Begriff common sense Verwendung findet, Pluralität und Opinialität zugunsten der Phänomenalität stark in den Hintergrund.
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Wie wir bereits bemerkt hatten, muss sich die Wahrnehmung des Einzelnen dabei als extrem fragil erweisen; eine Versicherung der gemeinsamen Wirklichkeit sollte für Arendt ja auch darum in der Pluralität der Perspektiven gefunden werden. 197 Zu dieser vormodern geprägten, plural-»gemeinsinnlichen« Konstitution von Wirklichkeit bildet die Naturwissenschaft – sosehr Arendt betont, dass es sich dabei nicht eigentlich um einen Weltzugang handelt – gewissermaßen eine Alternative. Verstand meint im Rahmen dieser Perspektive wesentlich wissenschaftlichen Verstand: Wenn der common sense »ständig Sinnestäuschungen auflöst«, indem er Halt in der perspektivischen Pluralität einer gemeinsamen Welt sucht, kommt ihm eine Funktion der Vergewisserung zu, bei der »ganz wie in der Wissenschaft Fehler beseitigt werden.« (D 63) Arendt geht es letztlich darum, zu zeigen, dass diese »Alternative« für sich nicht trägt, weil sie aus ihrer solipsistischen Perspektive allein keinen Zugang zur Wirklichkeit der Welt verbürgt: »Wie weit auch ihre Theorien [die der Wissenschaftler] die Alltagserfahrung und den gemeinen Verstand [common-sense experience and common-sense reasoning] hinter sich lassen, sie müssen letzten Endes wieder auf irgendeine Form davon zurückkommen, sonst verliert der Untersuchungsgegenstand jeden Wirklichkeitsbezug.« (D 66)
Diese Passage bildet zu den Ausführungen zum Verlust des Gemeinsinns in Vita activa gewissermaßen eine Art reprise: Der Solipsismus, in dem der Einzelne auf seine Subjektivität zurückgeworfen wird, bildet eine ausausweichliche Konsequenz des Cartesianismus – auch der naturwissenschaftliche Verstand kantischer Prägung schafft jedoch keinen Wirklichkeitsbezug, der sich vom alltäglichen Wirklichkeitsbezug des Gemeinsinns (common-sense experience) als unabhängig verstehen könnte. In der Welt des Gemeinsinns liegt ursprünglich schon das »Grundziel der Wissenschaft – die Welt, wie sie den Sinnen gegeben ist, zu sehen und zu erkennen – und ihr Wahrheitsbegriff leitet sich von der Alltagserfahrung her.« (D 67) In diesem Sinne mag Wissenschaft als mathematisierende und daher »ungeheuer verfeinerte Verlängerung« (D 63) und »Fortsetzung« (D 69) der Alltagserfahrung (common-sense experience) verstanden werden – eine von
197
Vgl. Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit, 91.
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dieser unabhängige Beziehung zur Wirklichkeit liefert der wissenschaftliche Verstand jedoch nicht. Da Das Denken sich neben »science and common sense« 198 , auch »Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft« (D 62) als Gegenstand vorgenommen hatte, stellt sich die Frage, wie sich diese zu der bis hier dargestellten Relation von wissenschaftlichem Verstand und common sense verhält. Kristeva weist darauf hin, dass Arendts Ausführungen zu diesem Punkt die Schwierigkeit erkennen lassen, sich einerseits »explizit als Dialog mit Was ist Denken? von Heidegger« verstehen, andererseits jedoch in einem Englisch verfasst sind, welches zu diesem Gegenstand nicht nur ohnehin recht schwierig passt, sondern auch ihre nie geleugnete »Distanz zu dieser Sprache« erkennen lässt. 199 Arendt fasst »die wichtigsten Eigenschaften der Denktätigkeit« zusammen und nennt dabei die folgenden vier Charakteristika: »Rückzug von der Alltagswelt der Erscheinungen, selbstzerstörerische Tendenz bezüglich ihrer eigenen Ergebnisse, Reflexivität und das sie begleitende Bewußtsein reiner Tätigkeit sowie die merkwürdige Tatsache, daß man von den Vermögen seines Geistes nur so lange weiß, wie die Tätigkeit dauert.« (D 94)
Angesichts dieser Bestimmung des Denkens als einer rein reflexiven, wenig konstruktiven und weitgehend weltenthobenen Tätigkeit stellt sich immer dringlicher die Frage, wie es nun eigentlich mit dem Verhältnis von Gemeinsinn und Denken steht. Waren nicht beide Vermögen an verschiedenen Stellen Ihres Werkes mit dem Verstehen in Verbindung gebracht worden? (Vgl. D 66 ff., VuP 121) 200 Arendt wendet sich hier zunächst gegen ein naheliegendes Missverständnis: »Es liegt nun sehr nahe, diesen ›inneren Sinn‹, der keinen physischen Ort hat, mit dem Denkvermögen gleichzusetzen, denn zu den Hauptkennzeichen des Denkens eines erscheinenden Wesens gehört seine Unsichtbarkeit. Daraus schließt Peirce, daß ›die Wirklichkeit eine Beziehung zum menschlichen Denken hat‹, wobei er übersieht, daß nicht nur das Denken unsichtbar ist, sondern sich auch mit Unsichtbarem beschäftigt, mit Dingen, die den Sinnen nicht gegenwärtig sind […].« (D 60)
Arendt, The Life of the Mind, 53 ff. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 293. Das Verhältnis zwischen Arendts deutschem und englischem Schreiben findet auch eine eingehende Betrachtung bei Hahn, Hannah Arendt, 83 ff. 200 Vgl. Schubbe, Politische Windungen des Verstehens, 158; Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 201 ff. 198 199
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Diese Annahme Peirces führe aber nur in »die alte Cartesische Täuschung in modernem Gewande«, da die Wirklichkeit dem Denken im Gegensatz zum wirklichkeitserschließenden Gemeinsinn nicht zugänglich sei: »Gerade die Wirklichkeit, wie sie dem Gemeinsinn in ihrem schlechthinnigen Da-Sein gegeben ist, bleibt dem Denken auf immer unzugänglich« (D 61). Dieser Befund begründet sich für Arendt dadurch, dass das Denken eigentlich niemals im Kontakt zur aktuellen Wirklichkeit steht, sondern sich immer im Rückzug von dieser ereignet und dadurch dem wirklichen Geschehen zudem zeitlich notwendigerweise nachfolgt. In diesem Zusammenhang wird die Einbildungskraft als geistiges Vermögen eingeführt, welches es dem denkenden Ich ermöglicht, Repräsentationen der abwesenden Gegenstände der Wirklichkeit zu schaffen, über die sich dann schließlich nachdenken lässt. Denken ist immer nur mittels solcher Repräsentationen der Wirklichkeit möglich, nie am sinnlichen Gegenstand selbst: »Zum Denken gehört immer das Erinnern; jedes Denken ist, genau genommen, Nach-Denken.« (D 84) Alles Denken beschäftigt sich also mit Entsinnlichungen dessen, was den Sinnen einmal gegeben war und in der Vorstellung nun gewissermaßen zur Wiederholung gelangt. Dies gilt für alle Denkvorgänge mit Bezug zur Sinnlichkeit und damit für alles Denken mit Ausnahme des rein logischen, da dieses als einziges Denken »alle Verbindungen mit der lebendigen Erfahrung eindeutig abgebrochen« (D 92) hat. Sinnliches ist dem Denken niemals als Sinnliches zugänglich, da das Denken den Bereich alles Sinnlichen transzendiert. Anders als der weltorientierte und weltorientierende Gemeinsinn bewegt sich das Denken immer »außer der Ordnung« (D 84) 201 . Die vom Denkenden eingenommene Position des Zuschauers befindet sich außerhalb des Spiels, außerhalb des Schauspiels der Welt. 202 Denken vollzieht sich in einem »Nirgendwo« (D 193), das nicht nur »dem Gemeinsinn äußerlich« ist, sondern auch die Chronologie der Weltvorgänge verlässt und daher »ebenfalls außerhalb der Zeit« steht und darin dem »nunc stans« der Mystiker ähnelt. 203 Alles Sinnliche muss erst auf eine dem Denken bekömmliche 201 Arendt bezieht sich hier explizit auf Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 1953, 10. 202 Vgl. Campillo, Neus: Denken. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller, Arendt Handbuch, 274–276, 275. 203 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 304.
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Weise »zubereitet« werden, um diesem zugänglich zu werden. Diese »Entsinnlichung durch das Denken« 204 geht auch jeder »einfachen Erzählung von Geschehnissen, ob sie nun mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht, […] voraus.« (D 92) Im Gegensatz zum Gemeinsinn, den Arendt ja verstanden hatte als den »Wirklichkeitssinn, mit dem wir uns in der Welt orientieren« (VA 265); hat »das Denken, das alles, dessen es habhaft wird, dem Zweifel unterwirft, […] keine solche natürliche, unkomplizierte Beziehung zur Wirklichkeit.« (D 61) Um den Prozess des Denkens in der bereits angesprochenen Art und Weise als das »stumme Zwiegespräch« (D 184) verstehen zu können, muss nämlich nicht nur mindestens implizit zwischen mir und mir selbst unterschieden werden. Das denkende Ich weist nicht nur als »ursprüngliche Dualität« eine intern verlaufende Trennungslinie auf, sondern »dieses denkende Ich trennt sich auch von der Wirklichkeit.« 205 Während der Gemeinsinn das Wirkliche »fixiert und vereinheitlicht« und dabei das Gefühl für die Wirklichkeit als eine »stumme Empfindung […], die durch die Welt meiner Nächsten, die wie ich fühlen, garantiert wird«, überhaupt erst hervorbringt, löst »die Tatsache des Denkens selbst […] das Wirklichkeitsgefühl auf.« 206 Im Denken wird die Verbindung zur Wirklichkeit, welche der Gemeinsinn wesentlich herzustellen imstande ist, also zeitweilig unterbrochen: »Doch das Denken kann jenes Gefühl der Wirklichkeit weder beweisen noch aufheben, das aus dem sechsten Sinn entspringt […]; wenn sich das Denken von der Welt der Erscheinungen zurückzieht, so zieht es sich auch vom sinnlich Gegebenen und damit auch vom Gefühl der Wirklichkeit zurück, das aus dem Gemeinsinn kommt.« (D 62)
Das Denken entfernt uns also von der Wirklichkeit der Welt. Da dies auch für Arendts eigenes Leben immer den Charakter eines Zufluchtsortes und damit eine große Bedeutung gehabt hat, lässt sich die Beschäftigung mit der »denkerische[n] Weltflucht« 207 bis in ihre Habilitation zurückverfolgen. Zwar ist das Denken eine Form des Weltverlustes, jedoch ist diese nur vorübergehend und bildet zudem notwendigerweise einen festen Bestandteil menschlichen Daseins:
204 205 206 207
Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 301. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 299. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 300. Heuer, Citizen, 98; vgl. ebd.
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»Das Denken begleitet das Leben und ist selbst die entmaterialisierte Quintessenz des Lebendigseins.« (D 190) Hierin liegt einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen Denkvermögen und Verstand: Denken will und kann den Gemeinsinn nicht ersetzen, wie Arendt es für die über ihren angestammten Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis hinaus kolonialisierende Verstandestätigkeit beschreibt. Wo wir unseren Weltzugang durch logisch-poietische Ordnungsmuster dominieren lassen, droht uns die Welt insgesamt verloren zu gehen. Was Arendt unter Denken versteht, erweist sich im Vergleich dazu jedoch als viel ursprünglicher mit der menschlichen Existenz verbunden; ein Leben ohne poiesis ist mühsam – ein Leben ohne Denken ist zwar möglich, aber nicht menschlich: »es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht lebendig. Menschen die nicht denken, sind wie Schlafwandler.« (D 190) Zudem gehört es zum Denken, dass es den im Gemeinsinn gegebenen Weltzugang nicht auf eine Weise modifiziert, bis es ihn schließlich ersetzt, sondern diesen bloß unterbricht. Die Unterbrechung der durch den Gemeinsinn erzeugten Verbindung zur Welt wird für Denkprozesse nur auf Zeit suspendiert, nicht grundsätzlich in Frage gestellt: »Mit anderen Worten, der Verlust des Gemeinsinns ist weder die Schwäche noch die Stärke von Kants ›Denkern von Gewerbe‹ ; er tritt bei jedem ein, der überhaupt über etwas nachdenkt; nur ist es bei professionellen Denkern häufiger der Fall. […] Und der Grund dafür, […] daß alle ›Denker‹, professionelle wie Laien, den Verlust des Wirklichkeitsgefühls so leicht überstehen, liegt darin, daß das denkende Ich nur zeitweise hervortritt: jeder Denker, sei er auch noch so bedeutend, bleibt ›ein Mensch wie jeder andere‹ (Platon)«. (D 62)
Es wäre daher falsch, »anzunehmen, Arendt distanziere sich in diesen Bemerkungen von der Vorwegnahme des Todes, insofern sie die Tatsache des Denkens selbst bildet.« 208 Vielmehr kämpfte sie in ihrem Spätwerk »um ein Bild, wie sich der Geist aus der Welt zurückziehen kann, ohne sie zu mißachten oder erniedrigen.« 209 Das Denken ist eine zum menschlichen Dasein gehörige und unverzichtbare Tätigkeit; wir hatten die Gedankenlosigkeit ja auch als ins banale Böse mündendes Problem kennengelernt. Wichtig ist ihr jedoch, die »Konflikthaftigkeit der Denkerfahrung« hervorzuheben: »Für Arendt geht 208 209
Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 301. Young-Bruehl, Hannah Arendt, 598.
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es nicht darum, den unverzichtbaren Rückzug von der Welt […] zu leugnen, sondern die Sorge offenzuhalten, diese zu erreichen.« 210 Doch wie kann das Denken für die Welt relevant werden, wenn es grundsätzlich nur im Rückzug zu dieser gegeben ist? In der von Arendt ausgeführten Art und Weise scheint für das Denken doch eher die Weltabwendung charakterisch zu sein, als dass eine von ihm ausgehende Wirkung in der Wirklichkeit zu erwarten wäre. Wie kann eine Verbindung zwischen der menschlichen Innerlichkeit von Denken und Wollen vorgestellt werden, welche für ein Handeln in der Welt Bedeutung gewinnen kann? Dass sich das Denken überhaupt zur Pluralität der Welt hin öffnen lässt, liegt daran, dass es durch seine dialogische Struktur, in welcher der Mensch »mit sich selber umgeht« (D 184), intern bereits auf eine Weise strukturiert ist, welche mit dem »Zwei-in-einem« (D 184) die Keimzelle der Pluralität in sich enthält. Zudem ist ein Handeln, das nicht gedankenlos sein will, letztlich darauf angewiesen, in der Welt einen denkenden Menschen zu repräsentieren. Wie diese Öffnung des Denkens für die Welt möglich ist, zeigt Arendts Lehre der Urteilskraft: »Zentral für diese ist die wechselseitige Abhängigkeit des Denkens und Willens einerseits, des politischen Urteilens und Handelns andererseits. Die politische Urteilskraft bildet die Mitte zwischen beiden; durch sie erscheint das Vermögen des Denkens und des Willens in der Welt.« 211 3.1.3.5. Geselligkeit, Gemeinsinn und Urteilskraft Wenn die Urteilskraft in Arendts Werk zum Vermögen des Gemeinsinns in einem engen Zusammenhang gesehen wird, so wird auch hierin eine unmittelbare Nähe zu Kant sichtbar, der die reflektierende Urteilskraft ja gerade als die Explikation dessen verstand, worauf die Tradition eines ästhetisch urteilenden Gemeinsinnes vor dem Hintergrund kritischer Philosophie hatte hinauslaufen müssen. Es verwundert also nicht, dass die Bezugnahme auf das Vermögen des Gemeinsinns im Rahmen ihrer posthum veröffentlichen Vorlesungen über Das Urteilen immer wieder durchzieht. Der Text liefert uns die wohl genausten Hinweise darauf, welche Gedanken sie ihrer Trilogie über
210 211
Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 302. Meints, Politische Urteilskraft als ›eine Art von sensus communis‹, 192.
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Das Leben des Geistes nach den beiden Bänden über Das Denken und Das Wollen noch hätte hinzufügen wollen. Sie knüpft dabei an Kants Begriff der Geselligkeit an, den wir oben ebenfalls bereits gestreift hatten. Geselligkeit, so Arendt, bezeichne die »Tatsache, daß kein Mensch alleine leben kann« (U 21). Der Geselligkeitsbegriff markiert damit eine wichtige Verbindungsstelle zwischen Kants Werk und Arendts wesentlich auf dem Begriff der Pluralität aufbauender Anthropologie. Für ihr Spätwerk ist dabei von besonderer Bedeutung, dass diese Orientierung an menschlicher Pluralität nicht nur für das menschliche Handeln als »conditio per quam« (VA 17) eine Rolle spielt, sondern auch im Bereich der vita contemplativa relevant ist. Bezugspunkt sind hier abermals Kants Reflexionen: »Gute Gesellschaft«, heiße es dort, sei »für den Denkenden unentbehrlich.« (U 201, FN 17) 212 Die Frage der »Geselligkeit« und der »guten Gesellschaft« bildet Arendt zufolge eine »Schlüsselfrage« von Kants Werk, welche sich von seinen vorkritischen Schriften bis ins Spätwerk – womit sie insbesondere Kants dritte Kritik meint – hineinziehe. Den Gegenstand dieses ihr so teuren Buches bestimmt sie wie folgt: »Mit anderen Worten, die Themen der Kritik der Urteilskraft: das Besondere, sei es eine Tatsache der Natur oder ein Ereignis der Geschichte; die Urteilskraft als das Vermögen des menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen zu befassen; die Geselligkeit des Menschen als Bedingung des Funktionierens dieses Vermögens; d. h. die Einsicht, daß die Menschen von ihren Mitmenschen abhängig sind, […] gerade wegen ihrer geistigen Fähigkeiten«. (U 26)
Hier wird nicht nur deutlich, dass Arendt die Bedeutung des Geselligkeitsaspektes für Kants dritte Kritik sicher etwas überschätzt, sondern zudem auch, worin die mit ihrer Interpretation einhergehende Akzentverschiebung gegenüber dem kantischen Referenzwerk besteht. 213 In Nr. 763 der Reflexionen zur Anthropologie ist der Kontext zwar ursprünglich etwas weniger »politisch« als Arendts weitere Schlussfolgerungen, aber in der Tat lesen wir hier: »Alles schmekt und bekommt besser in guter Gesellschaft. Das ganze Leben erweitert sich in derselben. Sie ist vor den Denkenden Unentbehrlich.« (H 763) 213 Wie wir bereits gesehen hatten, wollte Kant sich in der Kritik der Urteilskraft ausdrücklich nicht auf einen »natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit« berufen, um das Geschmacksurteil »empirisch und psychologisch« (KU B 29 f.) zu fundieren, »sondern dessen Gültigkeit transzendental und a priori – unabhängig von aller Erfahrung, aber doch innerhalb des Bereiches einer möglichen Erfahrung – aufzeigen.« (Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 190.) Die zentrale Bedeutung, wel212
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Während Kant die Urteilskraft in allererster Linie an die Erkenntniskräfte des Subjekts gebunden hatte, will Arendt das Urteilen in weit stärkerem Maße an die menschliche Pluralität gekoppelt verstehen. Dass die Kritik der Urteilskraft diese Interpretation zulässt, begründet dabei ihre Zustimmung zu diesem Werk – ebenso wie die Unmöglichkeit einer solchen Interpretation zu ihrer Ablehnung von Kants Ethik geführt hatte. Arendt war dabei sehr wohl klar, wie wenig diese die Pluralität fokussierende Sicht auf den bzw. die Menschen mit Kants Philosophie insgesamt deckungsgleich ist. Wie die vierte ihrer Vorlesungen über die Urteilskraft zeigt, liegt für sie hier nur eine von mehreren anthropologischen Perspektiven von Kants Werk: »Wir haben nun drei sehr verschiedene Konzepte oder Perspektiven, unter denen wir die menschlichen Angelegenheiten betrachten können: Wir haben die Menschengattung und ihren Fortschritt; wir haben den Menschen als moralisches Wesen und Zweck an sich selbst; und wir haben die Menschen in der Mehrzahl, die eigentlich im Zentrum unserer Betrachtungen stehen und deren wahrer ›Zweck‹, wie ich bereits erwähnte, die Geselligkeit ist. Die Unterscheidung dieser drei Perspektiven ist eine notwendige Vorraussetzung für das Verständnis von Kant. Wann immer er vom Menschen spricht, muß man wissen, ob er von der Menschengattung, dem moralischen Wesen, dem vernünftigen Lebewesen, das auch in andern Regionen des Universums existieren mag, oder von den Menschen als den wirklichen Bewohnern dieser Erde spricht.« (U 40 f.)
Während die erste Perspektive der Menschengattung vor allem dem zweiten Teil der dritten Kritik zugrunde liegen sollte, hatten wir den Menschen als moralisches Wesen in Kants ethischen Schriften thematisiert gefunden; Arendt kritisiert diese Perspektive und die damit verbundene »Sphäre der intelligiblen Wesen« als ein »Geisterreich«. Ihr Interesse gilt freilich der dritten Perspektive, welche sie dem ersten Teil der dritten Kritik, der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zuordnet. »Im Unterschied zur Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Praktischen Vernunft beschäftige sich Kant in der dritten Kritik mit der empirischen Welt: den Menschen im Plural, deren Zweck die Geselligkeit sei.« 214 Diese Perspektive fasste sie in ihren Vorlesungsnotizen mit folgenden zentralen Aspekten zusammen:
che Arendt dem Geselligkeitsaspekt in der dritten Kritik zumisst, erweist sich also einmal mehr als Teil ihres spezifischen Zugriffs auf Kants Werk. 214 Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 86.
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Welt und Gemeinsinn
»Menschen = Erdenbewohner, in Gemeinschaft lebend, mit Gemeinsinn, sensus communis, einem gemeinschaftlichen Sinn ausgestattet; nicht autonom, selbst zum Denken die Gemeinschaft benötigend« (U 41). Für Arendts Kant-Rezeption ist also ein anthropologisches Denken wegweisend, welche die Geselligkeit nicht als Ziel, sondern als »Urgrund […] des Menschseins« versteht: d. h. wir finden, daß Geselligkeit das eigentliche Wesen der Menschen ist, soweit diese eben von dieser Welt sind.« (U 98) Und für diese Form des Menschseins gelten ihr Urteilskraft und Gemeinsinn als zentrale Charakteristika. Geselligkeit, Gemeinsinn und Urteilskraft sind für Arendt offenbar noch etwas enger mit einander verkoppelt, als das Original von Kants dritter Kritik dies vorgezeichnet hatte. So scheint »der Gemeinsinn, das Vermögen des Urteilens zwischen Richtig und Falsch« (U 86) an vielen Stellen mit der Urteilskraft weitgehend synonym verwendet zu werden. Daher widmen sich Arendts Vorlesungen über das Urteilen auch im Kern dem § 40 von Kants dritter Kritik und damit gerade derjenigen Passage, die sich mit dem sensus communis befasst. Arendt ist hier jedoch überraschenderweise der Meinung, aus § 40 eine »klare Unterscheidung« zwischen »dem, was üblicherweise Gemeinsinn genannt wird, und dem sensus communis« (U 96) herauslesen zu können. 215 Richtig ist an ihrer Interpretation dieser Stelle, dass Kant hier – wir hatten dies in unserer Darstellung zu Kants dritter Kritik und dem § 40 oben bereits herausgestellt – mit dem 215 Wir hatten oben bereits in Frage gestellt, ob diese Unterscheidung über diese Stelle hinaus von Relevanz für ihren Begriff des Gemeinsinns ist. Wir müssen hier auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die posthum herausgegebenen Vorlesungen nie den Status von für die Veröffentlichung bestimmten Texten erreicht haben. An der zitierten Stelle soll mit der Unterscheidung von sensus communis und Gemeinsinn »die Wirkung der … Reflexion aufs Gemüt« vom »Beurteilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl […] allgemein mitteilbar macht« unterschieden werden. Dabei bleibt allerdings unklar, welche Zuordnung zu den besagten Termini ihr vorschwebt und zudem auch fraglich, inwieweit dies in dieser Form eine kantische Unterscheidung ist. Zu Beginn der nächsten Vorlesung wird Arendt bereits behaupten, es sei eine »spezifisch Kantische Prägung« dass Gemeinsinn, gemeinschaftlicher Sinn und sensus communis gleichzusetzen seien. Hier kann auch ein wohlwollender Interpret nicht an Inkonsistenzen ihrer Kantdeutung vorbeisehen. Auch fragt es sich nicht zuletzt: Was wird denn »üblicherweise Gemeinsinn genannt«? Wie wir gesehen hatten, kann von derartigen Üblichkeiten mit Blick auf die wechselhafte Geschichte dieses Begriffs eigentlich keine Rede sein. (Alle Zitate U 96, vgl. ebd.)
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
sensus communis aestheticus eine gegenüber seinen früheren Werken neue Form von Reflexivität einführt. Wie wir bereits bemerkten, interessiert Arendt zuallererst der intersubjektive Zug dieses Vermögens: »Indem Kant aber nun den lateinischen Begriff gebraucht, deutet er an, daß er hier etwas anderes meint: einen Sondersinn, der uns in eine Gemeinschaft einfügt […]. Er ist das Vermögen, durch das die Menschen von den Tieren und den Göttern unterschieden sind. Die eigentliche Humanität des Menschen ist es, die sich in diesem Sinn manifestiert. Der sensus communis ist der spezifisch menschliche Sinn, weil die Kommunikation, d. h. Die Sprache, von ihm anhängt. Um unsere Bedürfnisse zur Kenntnis zu bringen, um Furcht, Freude etc. auszudrücken, würden wir die Sprache nicht brauchen.« (U 94)
Der Pluralitätsaspekt des sensus communis wird dadurch ein spezifisch menschlicher, dass er an Mitteilbarkeit und Sprache gebunden ist. Wie wir gesehen hatten, war diese enge Verbindung von »Humanität« und »Mitteilbarkeit« auch Teil von Kants Überlegungen gewesen. In der Folge legt Arendt nun unter Bezugnahme auf § 40 dar, dass der sensus communis das menschliche Beurteilungsvermögen ist, durch welches wir in der Reflexion auf die Gedanken und Urteile Anderer Rücksicht zu nehmen im Stande sind. Wir werden diese Darstellung nicht in Gänze mitverfolgen, da wir weite Teile des § 40 ja bereits oben bei der Interpretation des kantischen Referenzwerkes kennengelernt hatten. Arendt stellt hier besonders die folgenden Aspekte heraus: Dadurch, dass man sein Urteil an anderer (nicht wirkliche, sondern mögliche) Urteile hält – an die »gesamte Menschenvernunft« – wird es möglich, seine subjektiven Privatbedingungen sowie den Einfluss von Reiz und Rührung zu überwinden. Wer sich an den drei Maximen des gesunden Menschenverstandes – und dabei besonders an der zweiten Maxime, dem »An der Stelle jedes anderen Denken« – orientiert und damit die erweiterte Denkungsart praktiziert, ist auf dem besten Wege zu dem »allgemeinen Standpunkt«, um den es Arendt geht. (U 95) Wir hatten alle diese Aspekte bereits bei unserer Betrachtung des kantischen sensus communis-Begriffes angeführt. Arendts zentraler Gedanke besteht dabei freilich darin, die besagte Passage aus ihrem ursprünglich der Beurteilung des Schönen gewidmeten Kontext zu lösen und den genuin politischen Zug darin herauszukehren. »Arendt entdeckt also gerade dort das Politische bei Kant, wo Kant nicht davon 360 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Welt und Gemeinsinn
spricht.« 216 Mit der kantischen Maxime der erweiterten Denkungsart stellt sie ein dialogisches Strukturmoment ins Zentrum ihrer Überlegungen zu Gemeinsinn und Urteilskraft; ihr Begriff des sensus communis »erreicht durch den imaginären Dialog eine gewisse Transparenz.« 217 Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass diese Interpretation des § 40 das Herzstück sowohl ihrer Urteilslehre als auch ihrer Kantinterpretation überhaupt bildet. Zieht sich der zentrale Gedanke einer politischen Interpretation von Kants dritter Kritik zwar bereits seit den späten 50er Jahren durch Arendts Schriften, so findet er in den Kant-Vorlesungen der 70er Jahre seine am weitesten ausgearbeitete Form. Die Begriffe Gemeinsinn und Urteilskraft stehen dabei vielfach durchaus gleichberechtigt im Zentrum der Darstellung: »Dieser sensus communis ist das, an was das Urteil in jedem von uns appelliert, und es ist dieser mögliche Appell, der den Urteilen ihre spezifische Gültigkeit gibt.« (U 96) Wenn unser Urteilen an den Gemeinsinn appelliert, so muss dieser also offenkundig vorhanden sein, bevor eine wechselseitige Erweiterung unserer Denkungsart durch den Abgleich unserer öffentlich geäußerten Gedanken möglich wird. Waltraud Meints geht darum davon aus, dass der Gemeinsinn »für Arendt die Bedingung der Möglichkeit von politischen Urteilen« bildet und darum von einer »doppelte[n] Bestimmung des Gemeinsinns« gesprochen werden kann: »Einerseits garantiert der Gemeinsinn eine von uns allen gemeinsame Welt (sic!), andererseits ist der Gemeinsinn die Bedingung der Möglichkeit über Ereignisse zu urteilen.« 218 Bei differenzierterer Betrachtung sind Gemeinsinn und Urteilskraft also nicht einfach das Gleiche, sondern unser Urteilen wird erst auf der Grundlage und vor dem Hintergrund eines Gemeinsinnes möglich, der sich durch seinen Gebrauch erst bildet und im selben Maße weiterentwickelt, in dem sich unsere Denkungsart erweitert. »Einerseits wird der Gemeinsinn bei Kant vorausgesetzt, andererseits wird er durch die Urteile, die die Menschen fällen, erschlossen.« 219 In Arendts politischer Wendung bedeutet dies, dass
216 217 218 219
Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 85. Kleger, Common sense als Argument (1. Teil), 207. Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 86 f. Meints, Die gleichberechtigten Anderen, 87.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
»eine ›Erweiterung der Denkungsart‹ durch den gemeinschaftlichen Sinn conditio sine qua non eines richtigen Urteils ist; unser gemeinschaftlicher Sinn macht es möglich, unsere Denkungsart zu erweitern. Negativ ausgedrückt meint dies, daß man fähig ist, von den privaten Bedingungen und Umständen abzusehen, […] uns von ihnen zu befreien und jene relative Unparteilichkeit zu erlangen, die die spezifische Tugend des Urteils ist.« (U 97)
Die Erweiterung der Denkungsart führt also zu der politisch offenkundig bedeutsamen Tugend der Unparteilichkeit, welche sich im Urteil erweist. Solche Unparteilichkeit, so Arendt, habe Kant gemeint, wenn er von »Uninteressiertheit« 220 gesprochen habe und für diese gelte: »Mitteilbarkeit ist einmal wieder der Prüfstein.« (U 97) Immer wieder stellt Arendt die auf Geselligkeit und Pluraltät verweisenden Züge der dritten Kritik, besonders der §§ 40/41 heraus und betont: »Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft« (KU § 41). Was Kant für das Schöne herausgearbeitet habe, will Arendt für eine Theorie des Urteilens überhaupt fruchtbar machen, welche sie in politischer Perspektive gewendet sehen will. Urteilen ist letztlich das genuin politische unter den geistigen Vermögen, weil es über die im reflektierenden Urteil strukturell als Kriterium verankerte Mitteilbarkeit genau die Pluralität realisiert, welche Arendt als zentrales Grundcharakteristikum des Politischen gilt. Dies ist der Grund, warum sie mit Blick auf die ihr sonst so politikfeindlich geltenden Philosophen betont: »Kant ist ausgenommen.« (GG 47) Kant sei es als einzigem gelungen, diese politische, über den Begriff der Mitteilbarkeit Pluralität berücksichtigende Grundstruktur aufzudecken – wenngleich es ihm auch selbst noch nicht gelang, diese in eine politische Theorie zu überführen: »Kant betont, daß zumindest eine unserer geistigen Fähigkeiten, die Fähigkeit des Urteilens, die Existenz anderer Menschen voraussetzt. Und diese geistige Fähigkeit ist nicht bloß das, was wir mit dem Begriff ›Urteil‹ benennen; damit verknüpft ist vielmehr die Vorstellung, daß Gefühle und ›Empfindungen nur so viel wert gehalten werden, als sie sich allgemein mitteilen lassen‹, d. h. Sozusagen unser ganzer Seelenapparat ist mit dem Urteil verknüpft. Mitteilbarkeit hängt offensichtlich von der erweiterten Denkungsart ab […]. Indem man […] sein uninteressiertes Wohlgefallen mitteilt, erzählt man von seinen Vorlieben und wählt sich seinen Umgang.« (U98 f.)
220 Wir gehen hier davon aus, dass Arendt mit dem der Uninteressiertheit auf die Interesselosigkeit anspielt, welche in der Kritik der Urteilskraft das mit dem Geschmacksurteil verbundene Wohlwollen kennzeichnet. (Vgl. KU, § 2)
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
Arendt versucht in ihren Vorlesungen immer wieder, Zusamenhänge zwischen der dritten Kritik und Kants eigentlicher politischer Philosophie herzuestellen – z. B. wenn sie betont, dass »sich die Kritik der Urteilskraft mühelos mit Kants Überlegungen über eine vereinte, in ewigem Frieden lebende Menschheit« (U 99) verbinde. Dennoch muss Arendt klar gewesen sein, in welchem Maße sie auch Kants Denken demontierte, wenn sie die »Perle« der Urteilskraft aus dem Kontext des kantischen Systems herauslöste und politisch interpretierte. Um das Ausmaß dieser Demontage noch einmal deutlich werden zu lassen, wollen wir uns noch ein letztes Mal Kant zuwenden und die Rolle zumindest skizzieren, welche seine eigene Philosophie dem Vermögen der Urteilskraft gegeben hatte.
3.2. Vom ästhetischen zum politischen Urteil 3.2.1. Urteils- und Einbildungskraft in der Philosophie Immanuel Kants Die Darstellung von Kants Philosophie folgt in dieser Arbeit der Intention, Arendts Rezeption von Kants Werk herausarbeiten zu können und muss sich dabei auf die Aspekte von Kants Denken beschränken, die zur Erreichung dieses Zieles erforderlich sind. Dies ist ganz besonders mit Blick auf Kants Urteilskraft zu beachten. Zwar gilt die Kritik der Urteilskraft immer noch vielen Interpreten als die am wenigsten erforschte der drei Kritiken, dennoch lässt sich der Umstand kaum übersehen, dass hier eine Beschränkung notwendig ist, um die Untersuchung nicht ins Uferlose wachsen zu lassen. Der Umfang der Literatur – auch zur dritten Kritik – lässt sich kaum anders denn als mathematisch-erhaben beurteilen. Es war im Rahmen dieser Arbeit schon verschiedentlich bemerkt worden, dass Arendts Lesart von Kants Kritik der Urteilskraft und dabei besonders des § 40 das Zentrum ihrer Kant-Rezeption bildet; wir hatten im vorangegangenen Teilkapitel darum bereits in größerem Umfang auf die entsprechenden Passagen dieses Werkes Bezug genommen, um Kants Aufnahme des sensus communis–Begriffes zu erläutern. Hier liegt nicht nur der Akzent unserer Untersuchung, sondern auch Arendts Blick auf die dritte Kritik fokussiert in hohem Maße Kants Ausführungen zum Gemeinsinn im § 40. Dass Kants Thematisierung des Gemeinsinns im Kontext einer Untersuchung 363 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
zu den Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Geschmacksurteile erfolgt, war dabei ebenso angedeutet geworden wie der Punkt, dass Kant mit seiner dritten Kritik eine wichtige systematische Lücke schließt. Da Arendt sich zwar ganz wesentlich, nicht jedoch ausschließlich auf die Paragraphen zum sensus communis (§ 40 f.) bezieht, wollen wir nun noch einen Schritt zurücktreten und noch einige grundlegende Überlegungen zur Einschätzung des systematischen Orts der dritten Kritik im kantischen System als Ganzem anstellen, welche helfen sollen, die Beschäftigung mit dem Gemeinsinn einzuordnen und abzurunden. Dabei werden wir zunächst die Architektonik der drei Kritiken selbst kurz skizzieren, um dann das Vermögen der Urteilskraft in seiner doppelten Gestalt als bestimmende und reflektierende Urteilskraft selbst darin zu verorten. Nachdem sich diese Unterscheidung im Rahmen dieser Arbeit bereits verschiedentlich angekündigt hatte, ist nun der Punkt der Untersuchung gekommen, diese Ankündigung über eine kurze Darstellung einzulösen. Neben der vielbesprochenen Urteilskraft wird Arendt auch dem Vermögen der Einbildungskraft, für die ihr ebenfalls Kant als Referenzautor gilt, eine wichtige Rolle zuweisen. 221 Da diese aber in der Arendt-Forschung weit weniger thematisiert wird, soll auch die Bedeutung dieses Vermögens für das kantische Werk hier zumindest angedeutet werden. 3.2.1.1. Die Urteilskraft als Mittelglied im Projekt der Vernunftkritik In Kants 1781 erschienener Kritik der reinen Vernunft ist das Gesamtprojekt, das er mit seiner Vernunftkritik anstrebte, in ganz klaren Worten angekündigt: »Die Gesetzgebung der menschlichen Ver221 Ein Ansatz, der sich direkt auf Arendts Deutung der dritten Kritik bezieht, Kants dritte Kritik unter besonderer Akzentuierung des Vermögens der Einbildungskraft ebenfalls für einen verstehenden Zugang zur Welt fruchtbar machen will und daher auch ganz explizit als hermeneutische Position auftritt, ist der Ansatz von Rudolf Makkreel: »Insbesondere kann an dem Hervortreten ihrer interpretierenden Funktionen in der Kritik der Urteilskraft gezeigt werden, daß die Einbildungskraft zur Interpretation der Erfahrung ebensogut beiträgt wie zu ihrer Konstitution. […] Hier zeigt sich die Einbildungskraft in Verbindung mit reflektierender Urteilskraft das Vermögen zu etwas, was ich ›reflektierende Interpretation‹ unserer Welt nennen möchte.« Und diese »reflektierende Interpretation ist hermeneutisch«. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 13, 145. Er beruft sich dabei auf Arendts Texte zu Kants politischer Philosophie; vgl. ebd., 16, FN 1.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
nunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besondern, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System.« (KrV A 840/B 868) Hier ist offensichtlich ein geschlossenes philosophisches System intendiert, welches auf dem Wege der Vernunftkritik »zuletzt« erreicht werden soll. Dieser Zielpunkt von Kants kritischer Philosophie kam auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die 1785 auf die erste Kritik folgte und eine zweite bereits Kritik ankündigte, zur Formulierung: »Teils erfodere ich zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß.« (GMS BA XIV)
Die 1788 folgende Kritik der praktischen Vernunft brachte – wiewohl als »Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft« (KpV A 3) angekündigt – ebenfalls nicht den intendierten Abschluss seiner kritischen Philosophie. Kants Plan war es ganz offensichtlich, die um die Bedingungen der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis bemühte erste Kritik und seine das Praktischwerden von Vernunft erschließende und mit dem Gedanken einer Freiheit als Autonomie ausformulierende zweite Kritik nicht unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen, sondern das Projekt der Vernunftkritik zu einem Abschluss zu bringen, mit dem zugleich die Einheit der Vernunft gewährleistet sein würde. Dieses Anliegen war mit dem Abschnitt über den Primat der praktischen Vernunft in der zweiten Kritik aber keineswegs auf dem Wege einer Entscheidung bereits erledigt worden, weshalb die Behandlung dieses Problems auch über die zweite Kritik hinausgreifen musste. 222 Dass Kant (auch) seine dritte, die Kritik der Urteilskraft von 1790, als Vollendung seiner kritischen Philosophie verstand, geht aus der Vorrede des Werkes eindeutig hervor: »Hiemit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft.« (KU AB X) Das Werk hat damit ganz offenkundig »systemschließenden Charakter.« 223 Dieser systematische Anspruch wird besonders in der ersten Einleitung deutlich, in welcher Kant sein Vorgehen als eine »enzyklopädische Einleitung«
222 223
Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft 167. Höffe, Immanuel Kant, 261.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
beschreibt. Eine solche setze nämlich »nicht etwa eine verwandte und zu der sich neu ankündigenden vorbereitende Lehre, sondern die Idee eines Systems voraus, welches durch jene allererst vollständig wird.« (KU EF 57) 224 Und hier sollte offenbar nichts Neues angekündigt, sondern Geleistetes zu Ende gebracht und zu diesem Zweck zunächst resümiert werden. 225 Angesichts seiner expliziten Erklärungen muss es darum erstaunen, dass »die offenkundige Absicht Kants, mit diesem Werk die von den beiden vorangegangenen Kritiken aufgeworfene Frage nach der Einheit der in sich differenzierten Vernunft zu beantworten, bis heute nur selten wirklich ernst genommen« 226 worden ist. Zumeist wird es als grundlegende Schrift für den Bereich der philosophischen Ästhetik im Sinne einer Theorie der Kunst gelesen. 227 Dies ist insofern nur bedingt angemessen, als die Beschäftigung mit dem Kunstschönen hier eine durchaus nur nachgeordnete Rolle spielt – erklärt sich jedoch nicht zuletzt durch eine stark über Schiller und Goethe vermittelte Überlieferung des Werkes, die ihren Zugang zu Kant wesentlich auf diesem Wege fanden. 228 Angesichts des Umstandes, dass Kant bei der Abfassung der Kritik der Urteilskraft wohl eher Gesichtspunkte wie »architektonische Ordnung« und »äußere systematische Gliederung« seines Werkes 224 Belegstellen der ersten Fassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft werden hier angegeben mit KU EF und der Seitenzahl der Weischedel-Ausgabe. 225 An gleicher Stelle stellt Kant in der ihm eigenen, unnachahmlichen Form der Unbescheidenheit mit Blick auf seinen Anspruch eines geschlossenen philosophischen Systems heraus: »Da nun ein solches nicht durch Aufraffen und Zusammenlesen des Mannigfaltigen, welches man auf dem Wege der Nachforschung gefunden hat, sondern nur alsdann, wenn man die subjektiven oder objektiven Quellen einer gewissen Art von Erkenntnissen vollständig anzugeben im Stande ist, durch den formalen Begriff eines Ganzen, der zugleich das Prinzip einer vollständigen Einteilung a priori in sich enthält, möglich ist, so kann man leicht begreifen, woher enzyklopädische Einleitungen, so nützlich sie auch wären, doch so wenig gewöhnlich sind.« (KU EF 57) 226 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 167. 227 Bis heute gibt es durchaus verschiedene Forschungsmeinungen darüber, wie das Verhältnis zwischen dem in den Einleitungen der Kritik der Urteilskraft formulierten Anliegen systematischer Einheit einerseits und den konkreten im Werk verhandelten Themengebieten der Beurteilung des Schönen und Erhabenen und der Naturteleologie andererseits zu bewerten ist. Vgl. Bojanowski, Jochen: Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie (Einleitung I–V). In: Höffe, Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, 23–39, 24 ff. 228 Vgl. Cassirer, Kants Leben und Lehre, 290 ff.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
vor Augen gehabt haben dürfte, muss »muß ihre geschichtliche Wirkung fast wie ein Wunder erscheinen.« 229 Auch Heidegger beklagte daher noch 1961, Kants dritte Kritik habe »bislang nur aufgrund von Mißverständnissen gewirkt« 230 . Führen wir uns die Tragweite von dem mit diesem Spätwerk Kants in Angriff genommenen Projekt darum noch einmal in Grundzügen vor Augen. Beide Einleitungen beginnen zunächst damit, das Gelände der bisherigen Vernunftkritik zu skizzieren. In der Einleitung zur zweiten Auflage heißt es dazu: »Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe, und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend. Die Philosophie teilt sich nun auch, diesem gemäß, in die theoretische und die praktische.« (KU AB XVII) Dieser Einteilung der Philosophie entsprechend erscheint die Einteilung der beiden ersten Kritiken zunächst einmal nicht weniger als folgerichtig. Die theoretische Philosophie erfasst die Bedingungen, unter denen es dem Menschen möglich ist, mittels seines Verstandes zu einer Erkenntnis der Natur zu gelangen. Dazu werden die apriorischen Grundlagen möglicher Erfahrung in den Blick genommen, welche den gesetzlich geordneten Naturzusammenhang, auf den allein sich alle empirische Erkenntnis beziehen kann, erst denkbar werden lassen. Wir hatten oben bereits darauf hingewiesen: »der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.« (Prol. A 113) Erst auf dieser verstandesmäßig konstituierten Grundlage wird Erfahrungserkenntnis überhaupt möglich. Die Kritik der praktischen Vernunft steht daraufhin vor der Aufgabe, zu klären, wie Freiheit vor dem Hintergrund eines geschlossenen, gesetzlich beschreibbaren Naturzusammenhangs eigentlich denkbar sein soll. Mit dem Problem, dass sich Freiheit in eben dem Bereich ereignen muss, dessen geschlossener gesetzlicher Zusammenhang in der ersten Kritik begründet worden war, hatte sich Kant bereits in der zweiten Antinomie auseinandergesetzt. In der Grundlegung und der zweiten Kritik wird nun der Gedanke einer Freiheit als Autonomie entfaltet; wir hatten im vorigen Kapitel bereits Grundzüge dieser Konzeption dargestellt. Als die selbstgegebene Gesetzmäßigkeit, nach der sich die dabei Freiheit ereignet, stellt Kant hier das Sittengesetz der praktischen Vernunft vor. 229 230
Cassirer, Kants Leben und Lehre, 289 ff. Heidegger, Martin: Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, 127.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
In der dritten Kritik konstatiert er nun mit Blick auf die vorangegangenen beiden Teile: »Verstand und Vernunft haben also zwei verschiedene Gesetzgebungen auf einem und demselben Boden der Erfahrung, ohne daß eine der anderen Eintrag tun darf.« (KU AB XVIII) Das Ergebnis der beiden Kritiken ist damit aber letztlich, dass sich mit der verstandesbasierten Naturgesetzmäßigkeit und der vernunftgegebenen Sittengesetzgebung zwei Ordnungssysteme gegenüber stehen, die sich aufgrund ihrer Inkommensurabilität als schwer miteinander vermittelbar erweisen. Als zentrales Problem der dritten Kritik kristallisiert sich in der Folge »die Frage nach dem ›Übergang‹ von der Transzendentalphilosophie zur Physik – und damit die Brücke zwischen Freiheit und Natur« 231 heraus, und dies wird in den beiden Einleitungen auch sehr deutlich exponiert: »Der Verstand ist a priori gesetzgebend für die Natur als Objekt der Sinne, zu einem theoretischen Erkenntnis derselben in einer möglichen Erfahrung. Die Vernunft ist a priori gesetzgebend für die Freiheit und ihre eigene Kausalität, als das Übersinnliche in dem Subjekte, zu einem unbedingt-praktischen Erkenntnis. Das Gebiet des Naturbegriffs, unter der einen, und das des Freiheitsbegriffs, unter der anderen Gesetzgebung, sind gegen allen wechselseitigen Einfluß, den sie für sich (ein jedes nach seinen Grundgesetzen) auf einander haben könnten, durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen.« (KU B LIVf., Hervorh. R. T.)
Diese von Kant beschriebene »große Kluft« ist eines der großen systematischen Probleme der kantischen Philosophie insgesamt. Die gesuchte Einheit der Vernunft ist gerade nach der Ausformulierung der Ethik und ihrer Grundlegung im Prinzip der Autonomie mehr gefährdet denn je, da die Gesetzgebung durch die praktische Vernunft mit ihrem Anspruch, den durch sie bestimmten Willen im Bereich der Erfahrungswelt als Ursache wirksam werden zu lassen, offensichtlich mit der durch den Verstand beschreibbaren, naturgesetzlichen Ordnung des Naturzusammenhanges konkurriert. Da die konfligierenden Ordnungen beide intelligiblen Ursprungs sind, ergibt sich eine Art Riss, der durch quer durch die Vernünftigkeit des Men231
Gerhardt, Immanuel Kant, 336.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
schen selbst hindurchgeht. Denn problematischerweise impliziert dies »nicht nur die Spaltung der Persönlichkeit in ein erkennendes und ein wollendes Wesen, einen Schnitt durch die Vernunft, der die zwei isolierten ›Kräfte‹ : Wille und Erkenntnis anstelle der scheinbar ursprünglichen Einheit setzt. Sondern die Anerkennung bedeutet gleichzeitig die Trennung der Welt im Sinne eines Erkenntnisobjektes von der Welt als dem Objekte unserer sinnvollen Tätigkeit, einer natürlichen Welt, von einer Welt der Freiheit. Die Tragweite dieser Scheidung ist kaum zu ermessen.« 232
Kant war klar, dass der Überbrückung dieses Hiatus gerade für seine praktische Philosophie große Bedeutung zukam: »Beide Bereiche: Natur und Freiheit, sinnliche (phänomenale) und moralische (intelligible) Welt, dürfen nicht unverbunden nebeneinander stehen; denn der Freiheit ist es aufgegeben, sich in der Sinnenwelt darzustellen.« 233 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Ethik und der Transzendentalphilosophie als Ganzer bildet dabei das zentrale Problem, welches Kants Streben nach systematischer Klarheit ganz maßgeblich motivierte. 234 Das Problem der Einheit der Vernunft verbindet sich also zudem mit einem Problem der Einheit der Welt, welche mittels der beiden Vermögen zugänglich ist, denn wie wir sahen, geht diese Gefahr einer unvermittelbaren Gegenüberstellung einer Welt der Natur und einer Welt der Freiheit einher mit der Unterscheidung von Verstand und Vernunft: »Die ursprüngliche Scheidung, die der Kantischen Philosophie zugrunde liegt, hat es also mit sich gebracht, daß die Funktion der sinnvollen Gestaltung der 232 Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 85. 233 Höffe, Immanuel Kant, 260. 234 Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 81. Auch Hutter unterstellt darum ein im Kern praktisches Interesse an der Behebung dieses systematischen Problems. Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft 170. Kant war überaus deutlich, dass seine Konzeption ethischen Sollens darauf aufbaute, dass eine Vermittlung zwischen dem intelligiblen Bereich und dem Bereich der Natur sich als denkmöglich erweisen würde: »Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so daß von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so s o l l doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen«. (KU AB XIX)
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Welt als Attribut eines Einzelvermögens auf die eine Seite kam und die Wirklichkeit als Produkt eines anderen Einzelvermögens zusammenfiel mit den Konstruktionen einer mechanistischen Naturwissenschaft.« 235
Um dieses Problem einer Lösung zuzuführen, entwickelt nun die dritte Kritik eine Lehre der »Urteilskraft, welche beider Vermögen ihren Zusammenhang vermittelt«. (KU EF 15) »Damit ist die systematische Aufgabe der Kritik der Urteilskraft bezeichnet: sie soll die Urteilskraft als das eigentliche Vermögen dieses Übergangs von der Natur zur Freiheit untersuchen. Es ist also zu erwarten, daß sich die hier vorab entworfene Struktur des urteilenden Übergangs in der Vermögensstruktur der Urteilskraft wiederfinden lassen wird.« 236
Dass diese Vermittlungsleistung das zentrale Motiv für die Abfassung der Kritik der Urteilskraft bildet, daran kann kaum ein Zweifel bestehen; die beiden Einleitungen sprechen diesbezüglich eine eindeutige Sprache. 237 Die Urteilskraft soll »zwischen dem Verstande und der Vernunft ein Mittelglied« (KU AB V) bilden, welches die systematischen Probleme löst, ohne die bisherige Architektonik der Vernunftkritik einer allzu grundlegenden Revision unterziehen zu müssen. »Die Urteilskraft selbst stellt sich ihrer ersten Begriffsbestimmung nach als eine Vermittlung dar, die zwischen die theoretische und die praktische Vernunft treten und beide miteinander zu einer neuen Einheit verknüpfen will. Natur und Freiheit, Sein und Sollen müssen zwar dem Grundgedanken der kritischen Lehre nach geschieden bleiben« 238 , 235 Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 90. 236 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 173. 237 Es kann und soll an dieser Stelle nur der systematische Anspruch skizziert werden, der sich mit der Kritik der Urteilskraft verband. Inwiefern diese Intention zu einem erfolgreichen Ergebnis geführt werden konnte und ob die Kritik der Urteilskraft ihr Anliegen damit einlösen konnte, daran sind in der Kantforschung immer wieder Zweifel angemeldet worden. (Vgl. z. B. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 145, Bartuschat, WoLfgang: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1972, 167.) Wir können dieser Frage im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht den Raum geben, den es erfordern würde, um hier eine solide untermauerte Position zu beziehen. Auch können wir uns mit der Explikation von Kants dem Werk zugrunde liegendem Anspruch bescheiden, da es uns insgesamt darum gehen wird, zu zeigen, in welchem Ausmaß Arendt Kants Werk demontierte, als sie die Urteilskraft aus ihrem systematischen Kontext herauslöste. 238 Cassirer, Kants Leben und Lehre, 290.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
an dem Projekt eines die Einheit der Vernunft gewährleistenden Systems aber sollte festgehalten werden. Dabei brachte es die Kritik der Urteilskraft zwar durchaus mit sich, dass Kant verschiedene Positionen der ersten beiden Kritiken räumen musste. 239 Die »interne Vernunftspannung« zwischen Verstand und Vernunft sollte jedoch durchaus erhalten bleiben, denn das Ganze der kantischen Transzendentalphilosophie »lebt […] nur in der Überbrückung dieser Differenz.« Auch Kants mindestens perspektivische Modifikation seines Naturbegriffs in der dritten Kritik sollte die beschriebene Spannung nicht gänzlich auflösen, wohl aber vermittelbar machen. 240 »In der gesuchten Einheit der Vernunft […] muß der Widerstreit zwischen dem theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch eine neue Form finden, ohne daß damit das zentrale Spannungsmoment als solches verloren ginge.« 241 Mit der dritten Kritik wird die Architektur der menschlichen Erkenntnisvermögen von Kant erst voll entfaltet. Am Ende dieses Prozesses steht ein Ergebnis, welches einen geordneten, in sich stimmigen Charakter aufweist: Jeder »Gemütskraft«, also jedem unteren Erkenntnisvermögen kann nun ein oberes Erkenntnisvermögen zugeordnet werden. Das System der drei Kritiken ruht damit auf einem psychologischen Fundament auf, das sich an der zu seiner Zeit herrschenden dogmatischen Psychologia rationalis Wolffs orientiert. 242 Die unteren Erkenntnisvermögen bilden dabei weniger einen irrationalen Gegensatz der oberen Erkenntnisvermögen als vielmehr deren »vorrationale Naturbasis« 243 ; daher herrscht auch »zwischen beiden kein Rangstreit« (Anthr. BA 115). In der dritten Kritik ordnet Kant sie einander folgendermaßen zu: »Also kommen, so fern vom Erkenntnisvermögen nach Prinzipien die Rede ist, folgende obere neben den Gemütskräften überhaupt zu stehen:
Vgl. Höffe, Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 13 ff. Die systematischen Revisionen an Vorstellungen der ersten zwei Kritiken betrafen insgesamt weniger seine Vorstellung des Bereichs der Freiheit als vielmehr seinem Blick auf die Natur. Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft 169; Höffe, Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 15 ff. 241 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 169. 242 Vgl. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, 83. 243 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 172. 239 240
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Erkenntnisvermögen – – – – – – Verstand Gefühl der Lust und Unlust – – – – Urteilskraft Begehrungsvermögen – – – – – Vernunft Es findet sich, daß Verstand eigentümliche Prinzipien a priori für das Erkenntnisvermögen, Urteilskraft nur für das Gefühl der Lust und Unlust, Vernunft aber bloß fürs Begehrungsvermögen enthalte.« (KU EF 60 f.)
Die Symmetrie dieser stimmig wirkenden Ordnung einer dreigliedrigen Binnendifferenzierung verdeckt, dass der Prozess hin zu dieser ein konsequenter Revisionsprozess ist: Während Kant in der ersten Kritik nur ein oberes Erkenntnisvermögen in seiner vollen Bedeutung gekannt und das praktische Begehrungsvermögen dort noch nicht für nicht transzendentalphilosophiefähig gehalten hatte, wird diese Position in der zweiten Kritik ebenso geräumt wie erst die dritte Kritik einen transzendentalphilosophischen Zugang zu Lust und Unlust entdeckt. 244 »Beide Entdeckungen sind jedoch in den jeweils früheren Kritiken nicht vorgesehen, so daß sie das System der transzendentalen Grundvermögen schrittweise erweitern und umformen müssen.« 245 Wie jedoch soll nun die Einheit der Vernunft und das Auseinanderfallen einer Welt der Natur und einer Welt der Freiheit gerade dadurch behoben werden, dass ein weiteres Vermögen in die Transzendentalphilosophie eingeführt wird? Wird hier nicht der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben? An dieser Stelle muss man sich klar machen, dass »die Philosophie, als doktrinales System der Erkenntnis der Natur sowohl als Freiheit, hiedurch nun keinen neuen Teil [bekommt].« (KU EF 18) Die Urteilskraft ist ein Vermögen, »das keiner Doktrin, sondern bloß einer Kritik fähig ist« (KU EF 57). Doktrinale Philosophie meint eine »gegenstandsorientierte […] Philosophie, die einen bestimmten Sachbereich (Natur bzw. Sitten) konstituiert« 246 und dies ist bei einer Kritik des Vermögens der Urteilskraft nicht der Fall, weil dieses 244 »Daher ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft. Denn alles Praktische, sofern es Triebfedern enthält, bezieht sich auf Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören.« (KrV B 29) Die Moralphilosophie im Sinne der zweiten Kritik ist hier also noch ebenso von einer transzendentalphilosophischen Untersuchung ausgeschlossen wie ein Urteil über das Schöne oder Erhabene. Beide Perspektiven erschließt Kant erst sukzessive mit seinen folgenden Kritiken für die Transzendentalphilosophie. 245 Hutter, Das Interesse der Vernunft, 171. 246 Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 15.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
»von so besonderer Art ist, daß es für sich gar kein Erkenntnis (weder theoretisches noch praktisches) hervorbringt und, unerachtet ihres Prinzips a priori dennoch keinen Teil zur Transzendentalphilosophie, als objektiver Lehre, liefert, sondern nur den Verband zweier anderer obern Erkenntnisvermögen (des Verstandes und der Vernunft ausmacht)«. (KU EF 57)
Die Urteilskraft eröffnet dem Anspruch der Einleitung nach keinen eigenen neuen Gegenstandsbereich, sondern sie bewerkstelligt als »Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft« (KU AB XXII) einen »Übergang von reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete des Freiheitsbegriffs, bewirken werde, als sie im logischen Gebrauche den Übergang vom Verstande zur Vernunft möglich macht« (KU AB XXIVf.), der schließlich »beide Teile verknüpft« (KU EF 62) und so theoretische und praktische Philosophie miteinander verbindet. Wenngleich sie sich dabei am Begriff der Zweckmäßigkeit orientiert und damit »doch ein ihr eigenes Prinzip« hat, entspricht diesem Vermögen weder »eine eigene Gesetzgebung« noch ein spezifisches »Feld der Gegenstände als sein Gebiet« (KU AB XXIIf.). Ein Gebiet zu haben, hieße, in diesem die Hoheit der Gesetzgebung zu besitzen – gerade dies wird jedoch für die Urteilskraft nicht in Anspruch genommen. 247 Da es Kant nicht darum geht, das Problem konkurrierender Ordnungssysteme noch zu verschärfen, gilt für die Urteilskraft, dass »ihre Prinzipien in einem System der reinen Philosophie keinen besonderen Teil zwischen der theoretischen und praktischen ausmachen dürfen, sondern im Notfalle jedem von beiden gelegentlich angeschlossen werden können.« (KU AB VI) Dabei stellt sich die Urteilskraft auch nicht eigentlich als ein weiteres, separates Vermögen dar, was dem Riss durch die menschliche Vernünftigkeit ja auch eher einen weiteren hinzufügen würde und damit ebenfalls keine Lösung für das anvisierte Problem wäre: »Denn in der Urteilskraft werden Verstand und Einbildungskraft im Verhältnisse gegen einander betrachtet, und dieses kann zwar erstlich objektiv, als zum Erkenntnis gehörig, in Betracht gezogen werden (wie in dem transzendentalen Schematism der Urteilskraft geschah); aber man kann eben dieses Verhältnis zweier Erkenntnisvermögen doch auch bloß subjektiv betrachten, so fern eins das andere in eben derselben Vorstellung befördert oder hindert
247 Vgl. Bojanowski, Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie, 29 ff.
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und dadurch den Gemütszustand affiziert und also ein Verhältnis, welches empfindbar ist«. (KU EF 36)
Es geht also in der dritten Kritik in der Tat nicht darum – wie Schiller irrtümlicherweise annahm – die Zwischenposition des Menschen zwischen einem Reich der Natur und einem Reich sittlicher Gesetze dadurch noch weiter zu verkomplizieren, dass sich dieser darüber hinaus noch in »einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins« 248 zurechtfinden muss. Diese Vorstellung führt am Gedanken der dritten Kritik nicht nur vorbei, sie löst das anvisierte Problem auch nicht, da sie nur in den »neuen Gegensatz« von »Schein und Wirklichkeit« 249 führen würde und damit »nur zu einem tieferen und von vornherein unlösbaren Dualismus.« 250 Das beschriebene Hiatus-Problem würde nicht gelöst, sondern im Gegenteil nur ein neues geschaffen. Das Phänomen der Urteilskraft besteht vielmehr, wir hatten dies im Kapitel zum Gemeinsinn bereits angedeutet, darin, dass Einbildungskraft und Verstand zueinander in ein Verhältnis gebracht werden, welches ein Urteil freisetzt. Dass dies in zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen geschehen kann, war im Rahmen dieser Arbeit schon verschiedentlich angeklungen und soll mit Blick auf die systematische Relevanz dieser Unterscheidung im nächsten Abschnitt darum noch einmal im systematischen Kontext dargestellt werden. 3.2.1.2. Verfahrensweisen der Urteilskraft Wenngleich Kant in der ersten Kritik wesentlich den theoretischen Vernunftgebrauch untersucht, so ist es freilich nicht so, dass der Begriff der Urteilskraft hier noch keine Untersuchung gefunden hätte. Eines der zentralen Lehrstücke, die »Analytik der Grundsätze« trägt den Untertitel einer »Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft«. Allerdings gebraucht er den Begriff des Urteils hier noch in einem viel engeren Sinne als in der dritten Kritik; es stellt sich unausweichlich die Frage, in welchem Verhältnis die Betrachtungen zur Urteilskraft in erster und dritter Kritik zueinander stehen.
248 Schiller Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 27. Brief. In: Ders.: Theoretische Schriften. Frankfurt a. M. 2008, 673. 249 Gadamer, Wahrheit und Methode, 88. 250 Hutter, Das Interesse der Vernunft 168.
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Es wird sich zeigen, dass in der ersten Kritik von einer eigenständigen Tätigkeit der Urteilskraft noch nicht die Rede sein kann; sie operiert hier vielmehr unter der Oberherrschaft eines alles Urteilen klar dominierenden Verstandes: »Wenn der Verstand als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (causa datae legis) stehe, oder nicht.« (KrV B 171 A 132) Die hier eingeführte Urteilskraft präsentiert sich als ein Vermögen, das weitgehend ohne eigene Ausstattung Material bearbeitet, das ihm von der reinen Anschauung und dem reinen Verstand zugeführt wird. 251 Von einer »reinen Urteilskraft« spricht Kant in der ersten Kritik nie; eine Urteilskraft, die rein im Sinne von »a priori gesetzgebend« wäre, wird er erstmals in seiner letzten Kritik erwähnen (KU B XXVI/A XXIV). Während er den Verstand von vornherein als ein eigenständiges Vermögen der Subjektivität begreift, das »einer Ausrüstung und Belehrung durch Regeln« fähig ist, ist die Urteilskraft der ersten Kritik nur »ein besonderes Talent«, das »gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.« (KrV B172/A132) Die Passagen der ersten Kritik, welche die Urteilskraft betreffen, stehen wesentlich unter der Leitfrage, »wie r e i n e Ve r s t a n d e s b e g r i f f e auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können.« (KrV B 177/A 138) Die Rolle der Urteilskraft ist dabei eine zwar wichtige, obliegt es ihr doch auch hier schon, eine grundlegende Spaltung menschlicher Subjektivität – hier in erkenntnistheoretischer Perspektive – zu überbrücken. Jedoch operiert sie in einer Art und Weise, die der Anschauung und dem Verstand insofern nachgeordnet ist, als ihr »die Aufgabe zukommt, Elemente aus beiden Stämmen der Subjektivität subsumierend zu verbinden, um auf diese Weise allererst die Bedingungen zu setzen, unter denen sich Gegenstände objektiv erkennen lassen.« 252 Dies ist freilich keine unbedeutende Rolle, denn »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV B 75/A 51) Ohne eine Vermittlung zwischen Anschauung und Verstand, zwischen Besonderem und Allgemeinem, ist Erkenntnis ja letztlich gar nicht denkbar. Dennoch lässt sich sagen, dass die Urteilskraft in der Kritik der reinen Vernunft insofern nur vom Verstand her gedacht ist, als sie das sinnlich Gegebene stets auf ein vom Verstand 251 252
Vgl. Wieland, Urteil und Gefühl, 132 f. Wieland, Urteil und Gefühl, 139.
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vorgegebenes Allgemeines bezieht. 253 Da dieses Allgemeine im Zentrum des Interesses steht, kommt hier eigentlich weder das Besondere als Besonderes zu seinem Recht noch leistet die Urteilskraft einen eigenen, konstitutiven Beitrag; es bleibt hier bei den »zwei Grundquellen des Gemüts« (KrV B 74/A 50) und damit bei einer »Zweistämmetheorie der Subjektivität« 254 , in der die Urteilskraft keinen gleichberechtigten Stamm bildet. »Die Urteilskraft subsumiert unter die allgemeinen Bedingungen des reinen Verstandes und ist dabei in ihrem Tun an diesem als dem sie leitenden ausgerichtet.« 255 Mit Blick auf die Vermittlungsleistung, welche die Urteilskraft in der ersten Kritik zwischen Verstand und Sinnlichkeit leisten soll, konstatiert Bartuschat darum: »Die Urteilskraft, wenn sie das In-Beziehung-treten ermöglichen soll, müßte also anders gedacht werden, als es in der transzendentalen Analytik geschieht. Sie müßte so gedacht werden, daß sie sich nicht auf eine Allgemeinheit bezieht, die ihr schon vorgegeben ist.« 256 Damit ist ein Anspruch für die Urteilskraft formuliert, den sie in der transzendentalen Analytik noch nicht einzulösen vermag. In der zweiten Kritik stellt sich das Problem der Urteilskraft schon deshalb etwas anders dar, als die allgemeine Gesetzmäßigkeit des Verstandes den Erkenntnisprozess zwar maßgeblich bestimmt hatte, aber stets auf ein dem Denken in der Anschauung gegebenes Sinnliches verwiesen blieb. Dies ist für das Sittengesetz der praktischen Vernunft nicht der Fall; seine Allgemeingültigkeit wird als von aller Sinnlichkeit völlig unabhängig gedacht. 257 So gesehen rückt
253 Vgl. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 24 f. Bartuschat zeigt, dass das in der KrV verhandelte Vermittlungsproblem dadurch letztlich nicht befriedigend gelöst wird: »Unsere Erörterung wollte deutlich machen, daß die […] Problematik einer Vermittlung in sich heterogener Prinzipien in der Berufung auf die Kraft des kategorialen Verstandes nicht hinreichend gelöst wird und daß deshalb die Urteilskraft als ein eigenes, Vermittlung leistendes Vermögen nicht in der Hintergrund gedrängt werden darf. Die Urteilskraft, wie sie in der K.d.r.V. abgehandelt wird, ist freilich ganz und gar vom Verstand her gesehen; aber gerade diese Unterwerfung läßt das zentrale Problem der Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand ungelöst und verlangt nach einer andersartigen Thematisierung der Urteilskraft, als sie hier geschieht.« (Ebd., 35 f.) 254 Wieland, Urteil und Gefühl, 139. 255 Vgl. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 26. 256 Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 37. 257 Vgl. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 54.
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die Rolle der Urteilskraft in der praktischen Sphäre aber nur noch etwas weiter weg von der sinnlich gegebenen Wirklichkeit der Welt. In Bezug auf das Verhältnis zu dem hier relevanten, allgemeine Gesetzmäßigkeit konstituierenden Vermögen – in der praktischen Philosophie nicht der Verstand, sondern die praktische Vernunft – erweist sich ihre Situation jedoch als ähnlich nachrangig. Die Urteilskraft verfährt hier in einer Art und Weise, welche sich jederzeit als »unter den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft« stehend begreift. (KpV A 122) Sie ist erforderlich, um zu entscheiden, »ob nun eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel [der praktischen Vernunft, R. T.] stehe, oder nicht« (KpV 119) Hier geht es also um die Relation von allgemeinem Gesetz und konkretem Einzelfall, wie wir es im Rahmen des Kapitels zur kantischen Ethik bereits dargestellt hatten. Durch die praktische Urteilskraft wird »dasjenige, was in der Regel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt« (KpV 119). Dabei hat sie jedoch stets eine dem Handlungsvollzug nachträgliche Funktion: »Nicht kraft von ihr veranstalteter Erwägungen vermag jemand so zu handeln, daß dieses Handeln sittlich wird. […] Praktische Urteilskraft ist sie nicht, weil sie selber praktisch wäre, sondern weil sie Formen des Handelns beurteilen will.« Um dies zu können, muss sie »schon durch die praktische Vernunft bestimmt sein […]. Sie ist kein eigenes Vermögen gegenüber der Vernunft.« 258 Während die Urteilskraft also beim Zustandekommen eines Erkenntnisurteils, um das es beim theoretischen Vernunftgebrauch ja immerhin ganz maßgeblich geht, noch eine wichtige, wenngleich nicht ganz eigenständige Rolle spielte, so ist sie im Praktischen zwar Instanz zur Beurteilung – am Zustandekommen des Handelns aber insgesamt weit weniger beteiligt als beim Zustandekommen von Erkenntnis. Bei aller Unterschiedlichkeit in der Thematisierung der Urteilskraft in den beiden ersten Kritiken lässt sich also festhalten, dass es sich jeweils um ein Vermögen der Vermittlung zwischen einem Allgemeinem und einem Besonderen handelt, wobei sie sich dem im jeweiligen Bereich (Natur bzw. Freiheit und Handeln) die allgemeine Gesetzmäßigkeit konstituierenden Vermögen gegenüber deutlich als die nachrangige Instanz erweist. Dies wird in der dritten Kritik nun deutlich gesehen. So konsta258 Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 69, 72; vgl. ebd.
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tiert Kant auch in der Einleitung mit Blick auf seine theoretische Philosophie, dass das Urteil als Erkenntnisurteil nicht auf eine als selbstständiges Vermögen darzustellende Urteilskraft zurückgeht: »das objektive Urteil wird vielmehr immer nur durch den Verstand gefällt« (KU EF 36); wir hatten gesehen, dass sich Ähnliches umso mehr von der praktischen Urteilskraft sagen ließe. An dieser Unselbstständigkeit der Urteilskraft soll sich in der dritten Kritik nun ganz maßgeblich etwas ändern; Kant beabsichtigt hier darum, »die Unterscheidung zum Grunde zu legen, daß nicht die bestimmende, sondern bloß die reflektierende Urteilskraft eigene Prinzipien a priori habe; daß die erstere nur schematisch, unter Gesetzen eines andern Vermögens (des Verstandes), die zweite aber allein technisch (nach eigenen Gesetzen), verfahre«. (KU EF 64)
Dass Kant den Begriff des Technischen wählt, um die prinzipielle Eigenständigkeit der neu eingeführten reflektierenden Urteilskraft zu bezeichnen, ist insofern freilich etwas missverständlich, als sich hier unweigerlich die Gedankenverbindung zu den »technischen Regeln« ergibt, als welche hypothetische Imperative in der Grundlegung auch bezeichnet worden waren. 259 An dieser Stelle geht es aber vielmehr darum, die Zweckmäßigkeit als das der reklektierenden Urteilskraft a priori aneignende Prinzip von dem bloß Mechanischen abzugrenzen, welches die Natur als Gegenstand objektiver Erkenntnisurteile auszeichnet (KU EF 30 f.); technisch meint hier also künstlich im Gegensatz zu natürlich. Beurteilen wir die Gegenstände der Natur unter dem »(zwar nur subjektive[n]) Prinzip« (KU EF 66) der Zweckmäßigkeit, so wird ihnen in diesem Urteil etwas zugeschrieben, das »nicht gleichsam bloß mechanisch, wie Instrument, unter der Leitung des Verstandes und der Sinne, sondern künstlich« (KU EF 26) ist. Aufgrund der Missverständlichkeit des Begriffs verschwindet die Benennung als technisch in der folgenden Fassung aus der Einleitung (er Es erscheint einigermaßen rätselhaft, warum es Kant ein solches Anliegen ist, seine Darstellung der hypothetischen Imperative der Grundlegung in der Kritik der Urteilskraft dahingehend zu »verbessern«, dass er die »Imperative der Geschicklichkeit […] t e c h n i s c h , d. i. Imperativen der Kunst« (KU EF 14, FN) hätte nennen sollen. Dabei übersieht er, dass dies weniger eine Verbesserung ist als vielmehr eine Wiederholung des Begriffs, den er in Wirklichkeit auch in der Grundlegung bereits verwendet hatte. »Man könnte die ersteren Imperative auch t e c h n i s c h (zur Kunst gehörig) […] nennen.« (Vgl. GMS BA 44) Wohl aus diesem Grunde verschwindet die Anmerkung in der zweiten Einleitung ebenso wie die Charakterisierung der reflektierenden Urteilskraft als technisch. 259
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taucht dann nur noch im Kontext der Kritik der teleologischen Urteilskraft auf). Wichtig ist jedoch weiterhin die Zuschreibung prinzipieller Eigenständigkeit, welche für die Urteilskraft im Rahmen der dritten Kritik charakteristisch bleiben wird. Erst durch diesen Schritt der dritten Kritik kann Kant die Urteilskraft im vollen Sinne unter die Erkenntnisvermögen »als obere, d. i. als solche, die eine Autonomie enthalten […]« (KU B LVI), rechnen: Während sie als bestimmende Urteilskraft in der ersten Kritik unter der Leitung des Verstandes rein »schematisch« verfahren war, kann sie sich als reflektierende Urteilskraft in der dritten Kritik in dem Sinne als »technisch« verstehen, dass sie »nach eigenen Gesetzen« verfährt und in eben diesem Sinne autonom ist. Nur als solche kann sie als »reine Urteilskraft« (KU B XXVI/A XXIV) und damit als ein eigenständiges oberes Erkenntnisvermögen verstanden und darum Gegenstand einer eigenen transzendentalphilosophischen Kritik werden. 260 Allen Formen der Urteilskraft ist gemeinsam, dass sie eine Vermittlung zwischen Einzelnem und Besonderem leisten – und auch dieses Grundcharakteristikum wird in der dritten Kritik deutlich betont: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.« (KU B XXV/A XXIII) Das Neue der reflektierenden Urteilskraft wird in beiden Einleitungen im Kontrast zur bereits bekannten bestimmenden Urteilskraft herausgestellt. Wir hatten gesehen, dass diese insofern schematisch verfährt, als sie nach der Gesetzgebung anderer Vermögen verfährt und ebendarum ist sie, was eine solche angeht, nie selbstständig sondern stets abhängig: »Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können.« (KU B XXVI/A XXIV)
Sie kann nur als »ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vorstellung zu bestimmen, angesehen werden.« (KU EF 24) Ihre Fähigkeit beschränkt sich darauf, dass sie dann, wenn »das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben [ist], […] das Besondere darunter subsumiert, (auch, wenn sie, als transzendentale Urteilskraft, a priori die Bedingungen angibt, 260
Vgl. Hutter, Das Interesse der Vernunft, 173.
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welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann)«. (KU B XXVI/AXXIV) Sie hat es damit aber nicht nur »nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken«, sondern sie findet sich vielmehr in der Verlegenheit, dass sie die Gesetzmäßigkeit, nach der zu urteilen ist, stets »anderwärts hernehmen« (KU B XXVII/ AXXV) muss. »Die bestimmende Urteilskraft erweist sich damit selbst als bestimmt« 261 – und zwar durch den Verstand, welcher die Gesetzmäßigkeit nicht nur der Natur vorschreibt, sondern auch der Urteilskraft. Anders stellt sich die Situation dar, wenn dieses Allgemeine nicht durch ein anderes transzendentales Vermögen diktiert wird; hier ergibt sich für die Urteilskraft zunächst einmal die Situation, dass sie gewissermaßen auf sich selbst gestellt ist. Kant stellt diesen Umstand zunächst dar, als ob er eine Statusminderung mit sich brächte: »Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß r e f l e k t i e r e n d .« (KU BXXVI/A XXIV) Bei genauerer Betrachtung erweist sich das »bloß« allerdings als Finte; die reflektierende Urteilskraft kann sich vielmehr als eine befreite, autonom agierende verstehen, da sie (als reflektierende, nicht mehr bloß bestimmende) die Rolle des Erfüllungsgehilfen für normative Vorgaben anderer Vermögen offenkundig abgestreift hat. An dieser Stelle müssen wir uns jedoch daran zurückerinnern, dass es Kant darum gegangen war, die inkommensurablen Gesetzgebungen zweier Bereiche, Natur und Freiheit, zu vermitteln – und nicht anstrebte, diesen Konflikt durch eine dritte Gesetzgebung und einen dritten Bereich, in welchem diese sich als herrschend versteht, noch zu erweitern. Kant präzisiert an dieser Stelle darum, dass man bei der Urteilskraft nicht eigentlich von Autonomie, sondern vielmehr von »H e a u t o n o m i e « sprechen müsse, da diese »lediglich ihr selbst das Gesetz gibt« (KU EF 39) – und keinen neuen Bereich eröffnet. Wenn Kant seine Neuentdeckung der dritten Kritik »als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu reflektieren« (KU EF 24) beschreibt, so scheint dies der Rolle desselben wenig gerecht zu werden – zumal da auch Kant selbst sich recht eingehend dem diesem Vermögen eigentümlichen Reflektieren widmet: 261
Hutter, Das Interesse der Vernunft, 174.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
»Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt.« (KU EF 24)
Wir haben es also nicht nur mit dem Vermögen der Beurteilung im eigentlichen Wortsinne zu tun. Das Reflektieren wird auch als intrasubjektiver Abgleichsprozess bestimmt, in dem Vorstellungen und Begriffe überein gebracht werden sollen. Es lässt sich hierin ohne große Mühe das »das harmonische Spiel der beiden Erkenntnisvermögen der Urteilskraft, Einbildungskraft und Verstand« (KU EF 38) wiedererkennen, welches uns aus der Beschäftigung mit dem Gemeinsinn in § 20 bereits vertraut ist und das für das reflektierende Urteil über das Schöne charakteristisch war. Dieses Spiel ist gewissermaßen der systematische Ort der Vermittlungsleistung, welche mit der dritten Kritik angestrebt wird und die Einheit der Vernunft gewährleisten soll. An dieser Stelle wird deutlich, dass nicht nur theoretische und praktische Vernunft, sondern auch Intellektualität und Sinnlichkeit überhaupt neu zueinander ins Verhältnis gesetzt werden sollen, da sich die Vermittlung hier konkret zwischen dem intellektuellen Vermögen des Verstandes und dem Sinnliches repräsentierenden Vermögen der Einbildungskraft im Prozess des Urteilens ereignet. »Diese Einheit ist nur in der Unverbindlichkeit des Spiels, das seine eigene, andere Verbindlichkeit hat durch Regel und Idee, die unendlich in der Darstellung zur Geltung kommen.« 262 Da die reflektierende Urteilskraft »die Obliegenheit hat«, dabei »von dem Besondern in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen« (KU B XXVII/AXXV) ist zudem der mit Blick auf die erste Kritik beklagte Mangel behoben, dass das Einzelne beim Urteilen nur als Exemplar, »als Besonderes überhaupt« 263 und damit als Spezialfall eines Allgemeinen von Interesse ist, während ihm als Einzelnes selbst keine Bedeutung zugemessen werden kann. Wir hatten auf diesen Zug der dritten Kritik, in dem das Einzelne in dem Sinne als exemplarisch versteht, dass ein Allgemeines als auf dieses Einzelne zurückführbar verstanden wird, bereits im Zusammenhang unserer Erörterungen zum Gemeinsinn hingewiesen. Jaspers, Karl: Die großen Philosophen. Erster Band. München 1957, 504. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 26; vgl. ebd., 24 ff. 262 263
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Da wir den systematischen Anspruch der dritten Kritik im Allgemeinen und die dabei auf die reflektierende Urteilskraft entfallende Relevanz im Besonderen nun in unserer knappen Skizze herausgestellt haben, wenden wir uns in einem letzten Kant betreffenden Schritt dem Vermögen zu, welches dabei zwar Erwähnung, aber noch keine eigene Untersuchung gefunden hat: der Einbildungskraft. 3.2.1.3. Einbildungs- und Urteilskraft: Vom Untertan zum Mitspieler Die Einbildungskraft ist ein weiteres Vermögen, das Kant aus der Tradition übernimmt, wenngleich die zugrundeliegende Begriffsgeschichte hier nicht ganz so verzweigt ist wie diejenige des Gemeinsinns. 264 Er greift dabei vielmehr auch hier schwerpunktmäßig auf die Metaphysica Baumgartens zurück, der sein Werk bereits die wiederum an Wolff orientierte Einteilung in oberes und unteres Erkenntnisvermögen verdankt. Ähnlich wie beim Gemeinsinn haben wir es mit einem Vermögen zu tun, in dem sich psychologische und erkenntnistheoretische Perspektiven vermischen und dessen Betrachtung auch in Kants Philosophie grundsätzlich von beiden Polen her gedacht werden muss. 265 Kant scheint das Vermögen bereits früh in seiner vorkritischen 264 Zur Begriffsgeschichte der Einbildungskraft vgl. Trede, Johann Heinrich: Einbildung, Einbildungskraft. In: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972. Bd. 2, 346–348. Neben der bis auf Aristoteles zurückreichenden Begriffsgeschichte ist mit Blick auf Kant im Unterschied zum Gemeinsinn besonders auf die weitere Wirkungsgeschichte hinzuweisen, welche seine Ausprägung des Begriffs entfalten sollte. Neben den Vertretern des Deutschen Idealismus ist es besonders Heidegger, der die Bedeutung der Einbildungskraft für das kantische Gesamtwerk herausstreicht und sie als zentralen Teil von dessen Transzendentalphilosophie versteht. Vgl. Hierzu Düsing, Klaus: Schema und Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft. In: Kreimendahl, Lothar (Hrsg.): Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 47–71, 47 ff. sowie Wunsch, Matthias: Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant. Berlin 2007, 18 ff. Das Buch von Wunsch kann zudem als die wohl detaillierteste Untersuchung zur Einbildungskraft bei Kant in den letzten Jahren gelten; allerdings legt sie den Fokus dabei sehr eindeutig auf die erste Kritik. 265 Schmidt, Raymund: Kants Lehre von der Einbildungskraft. Mit besonderer Rücksicht auf die Kr. d. Urteilskraft. In: Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik, 4/1924, H. 1/2, 1–41, 4 ff. Hermann Mörchen stellt hier die Frage, inwieweit Kants »Psychologie der Einbildungskraft« in der Anthropologie überhaupt als Psychologie bezeichnet werden kann, da es doch gerade offenkundig Kants zentrales An-
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
Phase, nämlich in der 1760er Jahren entdeckt zu haben. 266 Innerhalb des berühmten Schematismus-Kapitels der ersten Kritik ist es dann freilich in allererster Linie die Rolle beim Zustandekommen erkenntnistheoretischer Urteile, welche bei der Kritik der Einbildungskraft im Mittelpunkt steht. 267 In der Erkenntnistheorie wird »die Einbildungskraft von Kant gewissermaßen zum Träger und Motor des gesamten transzendentalen Prozesses der ›Weltkomposition‹ gemacht« 268 . Dabei lassen sich besonders zwei für unseren Zusammenhang wichtige Punkte akzentuieren, ohne dabei den Anspruch erheben zu wollen, Kants Konzeption des Begriffs damit vollends gerecht werden zu können. Zum ersten hat die Einbildungskraft eine synthetische Funktion, welche mit Blick auf die Mannigfaltigkeit des der Sinnlichkeit erscheinenden Materials von großer Bedeutung ist. Da die den Sinnen gegebene Datenfülle dem Menschen ohne weitere Strukturierung völlig unzugänglich wäre, steigt »die Einbildungskraft zum Range eines Weltschlüssels auf« 269 , weil hier offenkundig eine ordnende Verknüpfung notwendig ist, damit Erfahrung überhaupt denkbar wird. Wie wir bereits gesehen hatten, befindet sich die Einbildungskraft dabei in Kooperation mit dem Begriffsvermögen, dem Verstand: »Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zubringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet.« (KrV B 103/A 78)
Die Synthetisierungsfunktion ist insofern »blind«, als sie nicht begrifflich verfährt wie der Verstand. liegen gewesen sei, seine Transzendentalphilosophie von der Psychologie abzugrenzen. Vgl. Mörchen, Hermann: Die Einbildungskraft bei Kant. Tübingen 1970, 2 ff. 266 Lohmar, Dieter: Wahrnehmung als Zusammenspiel von Schematisierung und figürlicher Synthesis. Überlegungen zur Leistung der Einbildungskraft bei Kant. In: Tijdschrift voor Filosofie, 55/1993, 100–129, 108 ff. 267 Zum Schematismus-Kapitel und weitergehender Forschungsliteratur zu diesem vgl. Detel, Wolfgang: Zur Funktion des Schematismuskapitels in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. In: Kant-Studien 69/1978, 17–45. Der Text enthält eine ausführliche Forschungsübersicht bis Mitte der 1970er Jahre. 268 Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 9. 269 Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 20.
383 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
Dennoch ist die durch die Einbildungskraft vorgenommene »Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung […] a priori möglich und notwendig« und darüber hinaus gilt sie Kant ebenso wie die rein intellektuelle Synthetisierungsleistung des Verstandes als »transzendental, nicht bloß weil sie [also beide, R. T.] selbst a priori vorgehen, sondern auch die Möglichkeit anderer Erkenntnis a priori gründen.« (KrV B 151) Ohne Einbildungskraft würde uns alles sinnlich Gegebene erscheinen wie »regellose Haufen« 270 und bekäme nicht die Form, in der es vom oberen Erkenntnisvermögen des Verstandes in erkenntnistheoretischer Perspektive weiterverarbeitet werden könnte. Schließlich können »wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen […], ohne es vorher selbst verbunden zu haben« (KrV B 130). Insofern ist sie gewissermaßen noch vorrational und gehört daher prinzipiell »der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierenden Anschauung geben kann, zur S i n n l i c h k e i t ; so fern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen« (KrV B 151 f.).
Es kann im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, den Charakter der Einbildungskraft, der an der zitierten Stelle eine offenkundig paradoxe Binnenstruktur zwischen empirischem und apriorischem Charakter aufweist, vollständig auseinanderzusetzen und die mit dem Vermögen verbundenen systematischen Probleme aufzulösen. Für unseren Zusammenhang ist hier in allererster Linie entscheidend, dass wir es mit einem Vermögen zu tun haben, welches insofern ganz wesentlich der Sinnlichkeit zuzuordnen ist, »weil sie das Mannigfaltige nur so verbindet, wie es in der Anschauung erscheint« (KrV A 124) und damit auf alles in der Anschauung Gegebene eine anschaulich zusammenfassende Funktion ausübt. Die Einbildungskraft spielt damit eine wichtige Rolle dafür, dass eine Erscheinungswelt überhaupt denkbar wird, weil die Sinnesorgane selbst ohne die Einbildungskraft gar nicht in der Lage wären, sich ein Bild von dieser zu machen. »Die Sinnlichkeit steht ohne sie da ohne die Fähigkeit, selbständig einen Eindruck festzuhalten […]; ihr bleibt die bloße Re270
Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 22.
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
zeptivität eines Spiegels, an welchem kein Bild haftet.« 271 Ohne diese synthetisierende Kraft der Einbildungskraft ließe sich die Sinnlichkeit kaum als eine der »Grundquellen des Gemüts« (KrV B 74/A 50) bezeichnen, aus der in Kooperation mit dem Verstand schließlich Erkennisse entspringen. Die Fähigkeit, ein solches Bild konstituieren und im eigenen Selbst festhalten zu können, markiert die Ein-Bildung, welche dem Mensch erst durch das Vermögen der Einbildungskraft möglich wird. Verstehen wir sie als eine solche Fähigkeit, so gibt dies auch den Blick frei für das Charakteristikum, welches zum zweiten in unserem Kontext von Interesse ist. »Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.« (KrV B 151) Die Einbildungskraft hat also repräsentative Funktion in dem Sinne, dass es dem Menschen durch sie allererst möglich wird, sich etwas präsent zu machen, das aktuell nicht zugegen ist. Kant unterscheidet zwischen produktiver und reproduktiver Einbildungskraft: Die Synthesis der letzteren ist »lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen« und trägt daher »zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts bei«; sie gehört daher »nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie«. Demgegenüber ist die produktive Einbildungskraft Teil menschlicher Spontaneität (KrV B 152) 272 und damit dasjenige Vermögen, um das es in transzendentalphilosophischer Perspektive schwerpunktmäßig geht. Was dieses spontane Vermögen zu produzieren imstande ist, sind jedoch nicht eigentlich Bilder, sondern Schemate. Diese lassen sich verstehen als »Konstruktionsvorschrift« oder »Regel zur Herstellung eines Bildes« 273 und sind mit den Bildern selbst daher nicht zu verwechseln: »Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden.« (B 179/A 140) Bilder zielen stets nur auf einzelne Anschauungen und als empirische Produkte der produktiven Einbildungskraft werden sie letztlich 271 272 273
Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 25. Vgl. Lohmar, Wahrnehmung als Zusammenspiel, 107. Lohmar, Wahrnehmung als Zusammenspiel, 100.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
erst möglich auf Grundlage der Schemate, welche weniger konkret ausgestaltet sind als einzelne Bilder. Durch das Schema »werden Anschauungen begrifflich gemacht bzw. Begriffe veranschaulicht.« 274 Es hat eher den Charakter einer »anschauliche[n] Vorstellung einer variablen, schwebenden Zeichnung, einer in den Einzelheiten offenen Skizze, die auf viele Einzelanwendungen, die sie erfüllen, anwendbar ist« 275 . Kant beschreibt sie darum auch als »Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori« (KrV B 181/A 142). Die Synthetisierungsleistung der Einbildungskraft ist dabei eigentlich eine »doppelte Synthesis«, welche »darin besteht, den Begriff zum Bild und das Bild zum Begriff zu machen.« 276 Schemate stellen insofern einen erkenntnistheoretisch extrem wichtigen Zwischenschritt dar, als sich die sinnlichen Anschauungen den reinen Verstandesbegriffen gegenüber als zu »ungleichartig« erweisen, um sie ohne weiteres unter diese subsumieren zu können. (KrV B 176/A 137) Dabei ist es zunächst wichtig, Schemate empirischer Begriffe (z. B. dem Begriff des »Hundes«), mathematischer Begriffe (wie dem des »Dreiecks)« und transzendentale Schemate zu unterscheiden, um die es Kant letztendlich geht. 277 Diese letzteren beziehen sich nicht auf empirisch gewonnene oder einer mathematischen Darstellung fähige Begriffe wie den Begriff des Hundes bzw. des Dreiecks, sondern auf die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien und damit auf Form und Möglichkeit unserer Anschauungen selbst. Ein solches transzendentales Schema kann »in gar kein Bild gebracht werden« (KrV B 181/A 142); es kann nicht »durch anschauliche Bilder einzelner Dreiecke bzw. einzelner Hunde exemplifiziert werden« 278 , wie seine empirischen oder mathematischen Pendants. Damit jedoch scheint die Verbindung zwischen den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und den zu erkennenden Gegenständen der Sinnlichkeit in Frage zu stehen. Für Kant ist darum »klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich macht. Diese vermittelnde VorstelHöffe, Immanuel Kant, 111. Düsing, Schema und Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, 53. 276 Feger, Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg 1995, 105. 277 Vgl. Düsing, Schema und Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, 53 ff. 278 Düsing, Schema und Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, 55. 274 275
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Vom ästhetischen zum politischen Urteil
lung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits i n t e l l e k t u e l l , andererseits s i n n l i c h sein. Eine solche ist das t r a n s z e n d e n t a l e S c h e m a .« (KrV B 177/A 138)
Es ist hier leicht zu erkennen, dass Kant auch mit den Schematen der Einbildungskraft wieder auf der Suche nach Verbindungsstücken ist, welche die sein Werk durchziehende Kluft zwischen Sinnlichem und Intellektuellem zu überbrücken imstande sind. Dabei rückt die Einbildungskraft allerdings bisweilen so nah an die Grenze zur Intellektualität des Menschen heran, dass die Abgrenzung zum Verstand unscharf wird; unterschieden bleiben beide jedoch insofern, als der Verstand jederzeit bewusst verfährt, während die Tätigkeit der Einbildungskraft weitgehend unbewußt vonstatten geht (vgl. KrV B 103/ A 78). »Indem so die Einbildungskraft den Sinn etwas anschauen läßt und das heißt etwas in der Differenz zu anderem und damit auf einer Ebene des Unterscheidenkönnens, bezeugt sie den Einfluß des Verstandes auf den Sinn. Er ist es, der die Synthesis mit Bewußtsein begleitet und darin die Bedingung hergibt, unter der ein Mannigfaltiges zu einem etwas synthetisiert werden kann, das sich von anderem unterscheidet und darin ein bestimmtes ist.« 279
Dass der Verstand die Einbildungskraft in der ersten Kritik insgesamt stark dominiert, wird deutlich, wo Kant die Tätigkeit der Einbildungskraft als »den Kategorien gemäß« und die Einbildungskraft selbst sogar als »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit« (KrV B 152) beschreibt. Der Verstand wirkt der Einbindungskraft gegenüber in seiner Eigenschaft als ein »Vermögen der Regeln« (KrV B 171/A 132) und »gibt ihr gewissermaßen den Ton an.« 280 Kant rückt die Einbildungskraft hier sehr nah an den Verstand heran: »Es ist eine und dieselbe Spontaneität, welche dort, unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt.« (KrV B 163, FN) Die Tätigkeiten beider wirken in der menschlichen Subjektivität aufeinander ein und greifen ergänzend ineinander. 281 279 Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 31, Hervorh. R. T.; vgl. ebd., 31 ff. 280 Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 25; vgl. ebd., 26 ff. 281 »Es ist ein- und dieselbe Seele, die einmal »unbewußt« den Kategorien gemäß Einheit stiftet im Chaos des Gegebenen (und dann Einbildungskraft genannt wird), das andere mal »bewußt« Begriffe und Erscheinungen anwendet und sie kategorial
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Der Einbildungskraft ist es zu verdanken, dass uns eine Erscheinungswelt, welche der Verstand (nachträglich) begrifflich ordnen kann, als solche in der Anschauung überhaupt zugänglich ist. Sie fungiert damit als »Komponistin alles dessen, was wir empfinden und fühlen« und leistet so einen wesentlichen Beitrag zur »Komposition dieser Welt […], die unseren Sinnen ewig chaotisch und unserem Verstande ewig unzugänglich bliebe« 282 , wo wir auf die synthetisierende und repräsentierende Funktion der Einbildungskraft verzichten müssten. Daher spricht Kant auch von einem »notwendigen Ingrediens der Wahrnehmung« (KrV A 120, FN). Erst durch die ihr zu verdankenden Schemate und Bilder kann die Urteilskraft »ihre Aufgabe erfüllen und die Begriffe mit dem jeweils gegebenen Anschauungsmaterial fallgerecht zusammenbringen« 283 . Nur so kann sie überhaupt ihrer zentralen Funktion gerecht werden als das »Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.« (KrV B 171/A 132) Wenngleich die Rolle der Einbildungskraft in der ersten Kritik also keineswegs gering zu schätzen ist, so erweist sie sich in dem subsumierenden Vorgang theoretischer Urteile insgesamt als klar vom Verstand her dominiert. »Sie ist eine selbständige Instanz, die bewirkt, daß nichts wirklich ist, ohne eingebildet zu sein, bleibt aber in dieser Funktionsweise auf den Verstand verwiesen, ohne den sie nicht konstitutiv wirksam werden kann.« 284 Dieses Verhältnis ändert sich im Rahmen der dritten Kritik ganz maßgeblich, wo das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand im reflektierenden Urteil in der Wendung vom »freien Spiel unsrer Erkenntniskräfte« (KU B 65 f.) gefasst wird. Sie »[darf] als die eine Komponente des Geschmacksurteils […] nicht, wie es im Erkenntnisurteil der theoretischen Philosophie geschieht, vom Verstand her gedacht sein.« 285 Die beiden Vermögen befinden sich in der dritten Kritik nun in »einem verknüpft (und dann Verstand genannt wird) durch beide hindurch wirkt die Spontaneität des Ich.« Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 27. 282 Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 5, 27 f. 283 Höffe, Immanuel Kant, 111. 284 Feger, Die Macht der Einbildungskraft, 102. 285 Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 99. »Ihr Zusammentreffen mit dem Verstand als dem Vermögen der Begriffe und damit der zu leistenden Einheit mannigfaltiger Vorstellungen hat so zu geschehen, daß dabei nicht die Einbildungskraft unter das Vermögen des Verstandes subsumiert wird.« (Ebd.)
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Verhältnis der Schwebe, einer Differenz ohne Widerspruch« 286 ; sie »sind einander also zugleich subordiniert und koordiniert, d. h. sie stehen in Wechselwirkung« 287 . Das Handlungsfeld der Einbildungskraft wird durch die Konstruktionsweise der reflektierenden Urteile gewissermaßen aus der Hegemonie eines die Regeln diktierenden Verstandes befreit, wodurch sie eine Entwicklung vom untertänigen Befehlsempfänger hin zum gleichberechtigten Mitspieler erlebt. Dieses Spiel, in dem »also die Bildproduktion des inneren Sinns unablässig in ein verständiges Begreifen übergeht, das sogleich wieder von einer produktiven Phantasie abgelöst wird, dessen der Verstand sich erneut annimmt usw. usf.«, kommt nicht dadurch zu einem Abschluss, dass in diesem Spiel einer von beiden gewinnt. »Im Mitund Gegeneinander der intellektuellen Kräfte kommt es nicht zu einem allgemein mitteilbaren Resultat; das gäbe es nur in der Form des Begriffs.« 288 Die freie Interaktion führt für Kant nur zu einem Gefühl, das anderen angesonnen werden kann. Der Vorgang des Spielens ist damit nicht von einem ihn abschließenden Endpunkt her gedacht, sondern realisiert eine potentiell unabschließbare, intrasubjektive Interaktion; »eine freie und unbestimmt-zweckmäßige Unterhaltung der Gemütskräfte« (KU B 71, Hervorh. R. T.), die »nicht geleitet wird von etwas, das schon bekannt [ist]« und darum auch nicht »darauf abgestellt ist, etwas Intendiertes nun auch realisieren zu wollen« 289 . Die in der dritten Kritik sich verändernde, tendenziell befreite Rolle der Einbildungskraft wird besonders deutlich in der Definition des Geschmacks als »ein Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes in Beziehung auf die freie Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft«. Kant geht es freilich im Rahmen seines systematischen Anliegens darum, auch hier eine »Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit« (KU B 69) aufzuweisen. Wieder wird deutlich, dass der Einbildungskraft für Kant im systematischen Ganzen eine »Mittlerrolle« zukommt; auch sie wird auf das Anliegen hin konzipiert, ein »Mittelglied« zu finden, »das einen Übergang zwischen Sinnlichkeit und Verstand ermöglicht, ohne deren Grenze zu verwischen« 290 .
286 287 288 289 290
Feger, Die Macht der Einbildungskraft, 113. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 13. Brief, 601, FN. Gerhardt, Immanuel Kant, 270. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, 99. Feger, Die Macht der Einbildungskraft, 100 f.
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Zwar ist die Freiheit der Einbildungskraft keine absolute, sondern »im Sinne der relativen Freiheit von den Bindungen der bestimmten begrifflichen Erkenntnis« 291 zu verstehen. Die Einbildungskraft hat nicht vollkommen »freies Spiel (wie im Dichten)« (KU B 69) weil das Spiel der Gemütskräfte stets unter der Bedingung steht, »daß der Verstand dabei keinen Anstoß leide« (KU B 71); grundsätzlich bleibt es also dabei: »Der Verstand allein gibt das Gesetz.« (KU B 69) Dass in der dritten Kritik dennoch ein so »grundlegender Wechsel im Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand« 292 zu beobachten ist, liegt an der grundsätzlich veränderten Betrachtungsrichtung des Buches, welche in viel höherem Maße vom Einzelnen zum Besonderen hin verläuft als in den ersten beiden Kritiken. Kant spricht hier von der »Regelmäßigkeit, die zum Begriff von einem Gegenstande führt« – wobei der Akzent jedoch nicht mehr darauf liegt, dass der Verstand dem zu erkennenden Gegenstand die Regeln vorschreibt (vgl. Prol. A 113), sondern hier ist »der Verstand der Einbildungskraft und nicht diese jenem zu Diensten« (KU B 71). Diese in der dritten Kritik gewandelte Blickrichtung »ist maßgebend für die Differenz von reflektierender und bestimmender Urteilskraft, zeigt aber zugleich (in der doppelten Synthesis der Einbildungskraft) die grundlegende Verknüpfung und Verwiesenheit beider Arten der Reflexion auf.« 293 In Kants Verständnis stellt die Kritik der Urteilskraft also eher eine Ergänzung seines kritischen Werkes dar, welche sicher nicht darauf hin angelegt ist, mit diesem insgesamt zu brechen. Wie wir schon an verschiedenen Stellen beobachten konnten, sind mit dem Fortschreiten seines Werkes immer wieder verschiedene Revisionen verbunden, etwa da, wo er Möglichkeiten der transzendentalphilosophischen Reflexion entdeckt, die er in der jeweils vorangegangenen Kritik nicht gesehen hatte. Klar ist jedoch auch: Alle diese Revisionen und Veränderungen zielen auf die Klar- und Vollständigkeit dieses Systems im Ganzen – keinesfalls auf die Substitution der ersten beiden Kritiken durch die dritte. Auch das reflektierende Urteil will das bestimmende vorbereiten und ergänzen, nicht aber die bekannte Binnenstruktur praktischer oder gar theoretischer Urteile ersetzen. Am Ende der dritten Kritik steht also eigentlich eine neu gewonnene Ein291 292 293
Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 34. Feger, Die Macht der Einbildungskraft, 114. Feger, Die Macht der Einbildungskraft, 114.
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heit des kantischen Systems der Vernunftkritik. Es wird sich zeigen, dass Arendts Rezeption diese Einheit gerade wieder aufbrechen und in Frage stellen wird.
3.2.2. Urteilskraft als politisches Vermögen Arendts Begriff der Urteilskraft hatte unsere Darstellung bereits von Anfang an begleitet. Dass die systematische Auseinandersetzung mit ihm nun ans Ende unserer Ausführungen gestellt werden soll, entspricht letztlich Arendts eigener Vorgehensweise: Immer wieder wird das Urteilen als politisches Vermögen in Anspruch genommen; die Ausarbeitung jedoch hatte als dritter Band nach Das Denken und Das Wollen den Schlussstein ihrer Ausführungen zur vita contemplativa, zum Leben des Geistes bilden sollen. Da Arendt über der Abfassung verstarb, muss sich der Kommentator hier einerseits auf Bemerkungen innerhalb kleinerer Veröffentlichungen stützen und andererseits auf Material zurückgreifen, das unveröffentlicht blieb – wie die besagten Vorlesungen zu Kants politischer Philosophie und die Eintragungen ihres Denktagebuches. Wir hatten bereits angedeutet, dass wir uns mit Arendts Aufnahme des kantischen Begriffs der Urteilskraft als dem wesentlich politischen Vermögen des Menschen an einem Punkt befinden, der ohne Zweifel auch als die eigentliche Pointe ihres Denkens beschrieben werden kann. Diese ist inzwischen vielfach und mit durchaus unterschiedlichen Akzentsetzungen interpretiert worden. Albrecht Wellmer zufolge besteht sie darin, dass sich praktische Vernunft als moralische Urteilskraft äußert. 294 Es ist bereits bemerkt geworden, dass dies eigentlich nicht den Kern dessen trifft, was Arendt mit ihrer Interpretation von Kants dritter Kritik betreibt. 295 Arendt ging es in ihrer Exposition der reflektierenden Urteilskraft als einem politischen Vermögen nicht in erster Linie um im engeren Sinne moralphilosophische Perspektiven; diese sind zum größten Teil erst später an ihr Werk herangetragen worden. 296 Das Anliegen, welches Arendt mit ihrer Lehre vom Urteil verfolgte, war sicher ein weit gewaltigeres, wie be294 295 296
Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Frankfurt a. M. 1999, 137. Meints, Politische Urteilskraft als ›eine Art von sensus communis‹, 182 f. Vgl. z. B. Benhabib, Seyla: Urteilskraft und die moralischen Grundlagen der Poli-
391 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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sonders das Werk Ernst Vollraths, der diesem Gegenstand mit zahlreichen Schriften einen nicht unwesentlichen Teil seines Œuvres gewidmet hat, eindrucksvoll dokumentiert. »Was das verstehende Urteil zu bewirken vermag, ist die Einfügung der Menschen in ihre Zugehörigkeit zur Welt als einer gemeinsamen, die die Bedingung für ihr Dasein auf der Erde ist […]«. 297 Diese Aufgabe ist nicht nur sehr vielschichtig, sondern in ihren verschiedenen Aspekten auch von vielen Arendt-Kommentatoren bereits mit unterschiedlicher Intention bearbeitet worden. So ist auch die Literatur zu Arendts Begriff der Urteilskraft inzwischen so umfangreich, dass an dieser Stelle weder der Versuch unternommen werden soll, diese in Gänze aufzuarbeiten, noch Arendts Lehre der Urteilskraft in allen ihren Facetten nachzuzeichnen. Dies ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch intendiert; zudem kann hier auf die große Zahl einschlägiger Veröffentlichungen verwiesen werden. 298 Da von Arendts Rezeption von Kants Kritik der Urteilskraft im Rahmen unserer Untersuchung immer wieder die Rede gewesen ist und wesentliche Aspekte ihrer Urteilslehre bereits im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit ihrem Begriff des Gemeinsinns Darstellung gefunden haben, wollen wir uns mit Blick auf den Gegenstand unserer Arbeit in diesem letzten Teil auf vier Aspekte ihrer Gedanken zum Urteilsbegriff beschränken, die uns in bildungsphilosophischer Absicht in besonderer Weise wichtig erscheinen. Die ersten beiden sind eher formaler Natur: (1) Unsere Arbeit widmet sich nicht in erster Linie dem Gegenstand, sondern legt ihren Akzent auf die Art und Weise der Rezeption, die in Arendts Kant-Lektüre zu Tage tritt. Das kantische »Original« der reflektierenden Urteilskraft entstammte einem Kontext, der sich mit Gegenständen befasst, welche gemeinhin der philosophischen Ästhetik zugeordnet werden. Wir werden darum zunächst den Weg zu beleuchten versuchen, den der Begriff der Urteilskraft austik im Werk Hannah Arendts. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 41/1987, 541–547; von Redecker, Gravitation zum Guten, u. a. 297 Vollrath, Ernst: Hannah Arendt und die Methode politischen Denkens. In: Reif, Hannah Arendt, 59–84, 80. 298 Vgl. z. B. Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft. Lüneburg 1999; Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt; Spiegel, Irina: Die Urteilskraft bei Hannah Arendt. Berlin 2011; Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft; u. v. m.
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gehend von Arendts frühen Aufsatz Kultur und Politik von 1958 nimmt, um von einem Vermögen zur Beurteilung des Schönen zu einem, zu dem politischen Vermögen zu werden. (2) In der Folge wird der systematische Ort dieses Vermögens noch ein wenig genauer zu bestimmen sein. Hier hat es in der Arendt-Forschung immer wieder divergente Einschätzungen darüber gegeben, wo das Urteilen in einem vita activa und vita contemplativa trennenden, zwischen Handelndem und Zuschauer unterscheidendem Werk anzusiedeln ist. »Politisches Handeln und politische Urteilskraft verweisen beide aufeinander. Sie sind daher auch nur in ihrem wechselweisen Bezug aufeinander aufzuklären.« 299 Wo das Urteilen so eng mit dem Handeln in Verbindung gebracht wird, da erscheint es als Teil, mindestens als wichtiges Komplement der vita activa, des tätigen Lebens. Dennoch plante Arendt ihre Untersuchung der Urteilskraft im Rahmen eines Werkes über Das Leben des Geistes – und damit über die vita contemplativa. Das Problem ist von Ronald Beiner schon früh formuliert worden: »Einerseits ist sie versucht, das Urteil in die vita activa zu integrieren […]. Andererseits will sie die kontemplative und uninteressierte Dimension des Urteils.« 300 Da sich im Rahmen unserer Überlegungen die Fähigkeit des Urteilens als ein zentraler Aspekt bei der Betrachtung von Bildungsprozessen abzeichnet, kann an diesem Punkt nicht vorbeigegangen werden. In ebendieser Perspektive erscheinen zudem besonders zwei inhaltliche Aspekte ihres Urteilsbegriffs zentral: (3) Urteilen erweist sich in Arendts Denken als ein Vermögen des differenzierten und differenzierenden Umgangs mit weltlicher Wirklichkeit. Als solches stellt es ein zentrales Anliegen in politischphilosophischen Bildungsprozessen dar und muss darum in dieser Bedeutung als Differenzierungsvermögen genauer ausgewiesen werden. (4) Dazu wollen wir noch die Beziehung zwischen Urteils- und Einbildungskraft in Arendts Denken thematisieren, da dieser Aspekt zwar ebenfalls an Kant anschließt und zudem bildungsphilosophisch interessant, in der Arendt-Forschung aber bislang eher ein Randaspekt geblieben ist.
299 300
Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 19. Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 177.
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3.2.2.1. Kultur und Politik Einer der frühesten Texte, in dem Kants dritte Kritik von Arendt aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in den Kontext politischer Urteilsbildung gestellt wird, ist ihr Aufsatz über Freiheit und Politik von 1951; er markiert für unsere Arbeit daher eine sicher nicht zu unterschätzende Richtungsentscheidung, die hier mit Blick auf ihre Kant-Rezeption vorgenommen wird. Wir hatten uns diesem Text bereits im Rahmen der Untersuchung von Arendts Freiheits- und Handlungsbegriff zugewendet; die Kritik der Urteilskraft war hier der Kritik der praktischen Vernunft gegenüber erstmals als die politische unter Kants Kritiken stark gemacht worden: »Daß der erste Teil der Kritik der Urteilskraft eigentlich eine Philosophie der Politik ist, ist in der Kant-Literatur nur selten bemerkt worden«. Das genuin Politische bestand für sie in der »erweiterten Denkungsart«, welche sie hier erstmals als »die politische par excellence« bezeichnet, »weil wir durch sie die Möglichkeit haben, ›an der Stelle jedes anderen zu denken‹.« (FuP 216) Schon ihre Kritik an Kants Ethik hatte gezeigt, dass Arendt sich hier auf die Suche nach einem an Öffentlichkeit und Pluralität anschlussfähigen Freiheitsbegriff begeben hatte und in der dritten Kritik fündig geworden war. Diesen Gedanken nimmt Kultur und Politik in vertiefender Form wieder auf. Der Text wurde zunächst 1958 als Vortrag in München gehalten und damit im Veröffentlichungsjahr von The Human condition, der amerikanischen Originalausgabe von Arendts zwei Jahre später in Deutschland als Vita activa oder Vom tätigen Leben veröffentlichen frühen (politischen) Hauptwerk. Es überrascht daher keineswegs, dass die Thematisierung des Phänomens Kultur einerseits vor dem Hintergrund der in Vita activa erarbeiteten Lehre der drei menschlichen Tätigkeitsweisen – Arbeiten, Herstellen und Handeln – geschieht und andererseits – schon angesichts des Vortragsortes – bemüht ist, ein allzu affirmatives Verständnis des Kultur- wie des Bildungsbegriffs von vornherein auszuschließen. In der vorsichtigen, distanzierten Haltung gegenüber den deutschen Begriffen Kultur und Bildung schwingt viel von Arendts ambivalenter Haltung gegenüber einer Geistesgeschichte mit, welche sie einerseits als Heimat empfindet – die aber nicht in der Lage gewesen war, dem Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts etwas Wirksames entgegen zu setzen. Wie sich zeigt, geht es ihr nicht zuletzt um Bedeutung und 394 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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Eigengesetzlichkeit des Kulturellen, deren Schutz ihr ein Anliegen ist. 301 Arendt geht aus vom Begriff des »Bildungsphilisters« 302 , welcher das Kulturelle dadurch gefährdet habe, dass er es als »Kulturwert« instrumentalisierte, um sich auf diese Weise eine höhere gesellschaftliche Position zu sichern. Auf diese Weise sei die Kultur einer »Entwertung in gesellschaftlichen Werten« (KuP 277 f.) ausgesetzt worden. Neben dieser nicht neuen Problematik sei im 20. Jahrhundert jedoch eine weitere Gefährdung des Kulturellen zu bemerken, welche Arendt mit dem Aufkommen der Massengesellschaft in Verbindung bringt. Wenn sie hier Kulturgegenstände von Konsumgütern deutlich abzugrenzen bestrebt ist, so steht diese Unterscheidung auf dem Fundament der in Vita activa vorgestellten Tätigkeitslehre. 303 Das Charakteristikum der Konsumgüter ist es nämlich, dass sie dem Lebensprozess mit seinem »Stoffwechsel, der sich von Dingen nährt, indem er sie verzehrt« (KuP 279) inhärent und damit Teil des zirkulär angelegten Lebensprozesses sind, der von der gradlinig verlaufenden und zielorientierten Struktur des Herstellensprozesses unterschieden werden muss. Strukturell entstammen Kulturgüter also der Sphäre des lebenserhaltenden Arbeitens, während Arendt Kulturgüter wie Kunstwerke als das Paradigma dessen ansieht, was in Herstellungsprozessen intendiert wird. Damit entsprechen Konsumgüter und Kulturgüter beide für sich genommen einer Sphäre ganz eigener Art, wobei beide Sphären nicht gegeneinander abgewogen oder unterschiedlich bewertet, wohl aber strikt begrifflich getrennt werden müssen. Wo dies nicht geschieht, wo Kultur- zu Konsumgütern werden, wird Kultur zerstört. Arendts Ausführungen erinnern in vieler301 Diese Perspektive erklärt sich natürlich auch durch den konkreten Anlass des Vortrags, den »Kulturkritikerkongress« anlässlich der 800-Jahr-Feier der Stadt München. Wenngleich englischsprachige Vorarbeiten vorgelegen haben dürften, wurde der Text in seiner endgültigen Fassung auf deutsch ausgearbeitet und später wiederum ins Englische übersetzt – im Vergleich zur etwa zeitgleichen Human condition bzw. Vita avtiva also genau in umgekehrter Richtung. Der Vortrag basiert auf dem weit kürzeren, einen Monat vorher in New York gehaltenen Referat »Society and Culture« und wurde anschließen im 1958er Dezember-Heft des Merkur veröffentlicht. Vgl. Ludz, Ursula: Anhang zu: Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 417 f. 302 Arendt bezieht sich hier nicht auf Nietzsche, sondern auf Brentano, Clemens: Der Philister vor, in und nach der Geschichte: Scherzhafte Abhandlung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt a. M. 1852. Bd. 5, 371–446. 303 Vgl. Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 131.
395 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
lei Hinsicht an die Kritik der Kulturindustrie bei Horkheimer und Adorno: »Bemächtigt sich die Vergnügungsgüterindustrie aber der Kulturgüter – und das ist genau das, was in der Massenkultur geschieht –, so erhebt sich die große Gefahr, daß der Lebensprozess der Gesellschaft, der wie alle Lebensprozesse prinzipiell alles in den biologischen Kreislauf seines Stoffwechsels einbezieht, was ihm nur überhaupt geboten wird, die Kulturgüter im wahrsten Sinne des Wortes zu verzehren beginnt.« (KuP 279)
Kulturgüter sind nicht darauf angelegt, dem Lebensprozess als nährendes Material zugeführt zu werden, sondern sind als einzigartige Einzelne dafür erschaffen, als viele Lebensspannen überdauernde Weltausstattung zu dienen. Dies gilt insbesondere für die Produkte der Kunst, welche Arendt innerhalb der Kulturgegenstände von Gebrauchsgegenständen durchaus unterscheidet (vgl. KuP 288). Diesen beiden gegenüber jedoch sind zum Konsum bestimmte Güter niemals in diesem Sinne einzigartig oder dauerhaft konstituiert; sie entstammen dem zirkulären Lebensprozess, in den sie durch ihren Verzehr auch wieder eingehen. Werden Kulturgüter in diesen Prozess hineingezogen, so geht dieser weiter – ein Stück Weltausstattung geht jedoch unwiederbringlich verloren: »Kultur ist ein Weltphänomen, und Vergnügen ist ein Lebensphänomen. […] Das Leben […] kann […] zu den Dingen der Welt greifen, sich an ihnen vergreifen und sie verzehren. Es wird dann die Welt- oder Kulturdinge so zubereiten, daß sie konsumierfähig werden, daß heißt, sie wird sie so behandeln, als seien sie Naturdinge […]. Den Naturdingen kann dies Verzehrtwerden nichts anhaben […]. Aber die Dinge der Welt […] erneuern sich nicht von selbst. Sie verschwinden einfach, wenn das Leben sich ihrer bemächtigt und sie zu seinem Vergnügen verzehrt.« (KuP 280)
Neben die »Entwertung der Kulturgüter im Bildungsphilistertum« (KuP 277) tritt also der »Kulturschwund in der Massengesellschaft«: »Auf jeden Fall ist es das Phänomen der Gesellschaft, der guten Gesellschaft nicht weniger als der Massengesellschaft, das Kultur bedroht.« (KuP 281) Die Sphäre des Kulturellen, die sich der Tätigkeit des Herstellens verdankt, muss aber nicht nur gegen die Sphäre des lebenserhaltenden Arbeitens abgegrenzt werden, sondern sie unterscheidet sich auch in vielerlei Hinsicht vom politischen Raum als der Sphäre des Handelns – und um dieses Verhältnis geht es dem Text im Kern. Arendt konstatiert hier ein gegenseitiges Misstrauen und die 396 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Vom ästhetischen zum politischen Urteil
Tendenz beider Bereiche, den jeweils anderen im eigenen Sinne instrumentalisieren zu wollen; einen »Konflikt zwischen Kultur und Politik – den Streit darum, wer den Vorrang haben soll, der Herstellende oder der Handelnde« (KuP 287). Auch hier wird offensichtlich das zentrale Thema der Vita activa aufgenommen – die Kritik an der die Neuzeit charakterisierenden Tendenz, Handeln durch Herstellen ersetzen zu wollen. Diese Dichotomie wird hier also an den Begriffen Kultur und Politik nachvollzogen. Da wir auf die für Arendts Werk grundlegende Abgrenzung des handelnden vom herstellenden Tätigsein in der Vita activa im Rahmen dieser Arbeit bereits verschiedentlich eingegangen waren, wollen wir dieser Unterscheidung hier nicht allzu viel Platz einräumen. Interessant ist an dieser Stelle unserer Untersuchung vielmehr, wo sich dieser Streit um die Hegemonie zwischen Kultur und Politik zuträgt – nämlich in der Öffentlichkeit: »Wir wollen festhalten, daß der Konflikt zwischen Kultur und Politik sich in der Öffentlichkeit abspielt und daß es in ihm darum geht, ob die öffentliche, uns allen gemeinsame Welt von den Maßstäben derer bestimmt werden soll, die sie errichtet haben, also von dem Menschen, insofern er Homo faber ist – oder ob in ihr das maßgebend werden soll, was sich in den Angelegenheiten der Menschen untereinander direkt bekundet und als Taten, Worte, Ereignisse weltlich manifestiert.« (FuP 286 f.)
Politisches wie Kulturelles haben also gemein, dass sie nicht wie die nackte Reproduktion des Lebens im rein Privaten verbleiben, sondern dass es ihnen wesensmäßig zukommt, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und hier liegt – bei allen strukturellen Unterschieden zwischen beiden Sphären – ihr verbindendes Moment. Wenngleich diese Tendenz zum öffentlichen Erscheinen den Kunstwerken als den idealtypischen Kulturgegenständen überhaupt sicher in höherem Maße zukommt als den »Gebrauchsobjekten«, so ist doch allen hergestellten Produkten menschlicher Natur gemeinsam, dass sie auf eine gewisse Dauerhaftigkeit hin angelegt sind und sich insofern von den besagten Konsumgütern unterscheiden, »deren Lebensdauer in der Welt kaum die Zeit überdauert, die notwendig war, sie zuzubereiten« (KuP 289). Offensichtlich stehen die Produkte herstellender Tätigkeiten als Kulturgegenstände in einem anderen Verhältnis zur Welt als die Konsumgüter. Hier wird deutlich, dass Arendt bei ihrer Verwendung des Begriffs »Welt« nicht immer explizit zwischen den verschiedenen Hinsichten unterscheidet, zwischen denen hier eigentlich differenziert werden muss, die bei Arendt aber gerade in diesem Text immer 397 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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wieder ineinander fließen. 304 Wo das Handeln eine Welt der Intersubjektivität konstituiert – und in dieser Hinsicht hatten wir den Begriff im Rahmen dieser Arbeit bisher verwendet – resultiert aus herstellendem Tätigsein eine Dingwelt; der Dauerhaftigkeit der Kulturgegenstände verdanken wir die Welt in diesem Sinne einer geschaffenen Welt. Nur in dieser Hinsicht lässt sich von Kunstwerken sagen, sie seien die »weltlichsten aller Dinge« (KuP 289). Diese Hinsicht ist allerdings weitgehend unpolitisch, wenngleich zwischen beiden Bereichen Interdependenzen bestehen, die mit der Flüchtigkeit von »Ereignissen, Taten, Worten« als den wichtigsten »Produkten des Handelns« (KuP 289) zu tun haben. So ergibt sich die Situation, dass politisches Handeln seinen Bestand allein, unabhängig von einer hergestellten Dingwelt der Kulturgüter, nicht zu sichern und aufrecht zu erhalten vermag; dazu ist sie zu flüchtig. »Die Sorge um den Bestand der Welt lastet vor allem natürlich auf dem Menschen, sofern er nicht nur ein herstellendes, sondern ein politisches Wesen ist. Als solches muß er sich auf das Herstellen verlassen können, damit es der Flüchtigkeit des Handelns und Sprechens wie der Vergänglichkeit des sterblichen Lebens eine Bleibe sichert, die es überdauern kann. Die Politik bedarf also der Kultur und das Handeln bedarf des Herstellens um der Beständigkeit willen« (KuP 296).
Überraschenderweise wird dieses Verhältnis keineswegs als ein einseitiges gedacht; Arendt versteht es vielmehr als eine Form gegenseitiger Abhängigkeit: »Kultur und Politik sind also aufeinander angewiesen, und sie haben gemeinsam, daß sie Phänomene der öffentlichen Welt sind.« (KuP 297) An dieser Stelle tritt setzt nun Arendts Gedanke an, Kant für eine Theorie politischen Urteilens in Anspruch nehmen zu wollen: »Kultur und Politik sind Phänomene der öffentlichen Welt.« 305 Was gleichermaßen in der Öffentlichkeit erscheint, wird auch in vergleichbarer Weise beurteilt. Dieses Charakteristikum des öffentlichen Erscheinens bildet für ästhetische wie politische Erscheinungen eine Gemeinsamkeit, welche ihre Beurteilung an die Pluralität der diese Öffentlichkeit konstituierenden Personen bindet. »Das Urteil, wie Kant sagt, gilt ›für jeden Urteilenden überhaupt‹, das heißt aber, es gilt nicht für Leute, die sich am Urteilen nicht beteiligen und in der 304 Vgl. Jaeggi, Rahel: Welt/Weltentfremdung. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller: Arendt Handbuch, 333 f. 305 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 70.
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Öffentlichkeit, in der die beurteilten Gegenstände erscheinen, nicht präsent sind.« (KuP 299) Die einer Öffentlichkeit erscheinenden Kulturgegenstände – und Werke der Kunst gelten Arendt hier als Paradigma derselben – werden von der Öffentlichkeit beurteilt, der sie erscheinen. Solche ästhetischen Urteile weisen damit eine Struktur auf, die ganz grundsätzlich intersubjektiv ist. Kunst ist in diesem Sinne eine Weltangelegenheit; die Verständigung über Kunst kann weder im Sinne eines Erkenntnisurteils gedacht werden noch ist sie eine rein subjektiv-private Angelegenheit. Sie kann daher für Arendt nicht die Angelegenheit eines Einzelnen sein. Hier liegt eine Gemeinsamkeit des Urteilens über Kunst und Politik, die auch Ernst Vollrath immer wieder herausgestellt hat: »Die öffentlich vollzogene Diskussion im gesunden Urteil über Kunst und Politik ist nicht die bloße Ausdehnung und Veräußerung des Selbstgesprächs. Dieses ist eher die allein (nicht einsam!) vollziehbare Wiederholung der öffentlichen Debatte, die die Möglichkeit zur Veröffentlichung auch dann bereithält, wenn das öffentliche Gespräch verschwunden ist durch den Schwund der öffentlichen Sphäre (des public). […] In der anerkennenden Anteilnahme an den anderen in einer gemeinsamen Welt ist das Allgemeine bei einem jeden ebenso anwesend, wie in der takt- und geschmackvollen Beurteilung sich ein jeder als Einzelner zur Allgemeinheit der möglichen Teilhabe aller erhebt. Im Politischen wie im Ästhetischen findet eine Existentielle, nicht konstruierte Versöhnung zwischen Einzelnem und Allgemeinem statt: sie sind beide welthafte Phänomene, auf die das Urteil des Geschmacks im Gemeinsinn sich bezieht.« 306
Arendt geht daher davon aus, dass das von Kant entdeckte reflektierende Urteil als Mittelweg zwischen objektivem Erkenntnisurteil und rein privatem Sinnenurteil »vielleicht die Grundfähigkeit ist, die den Menschen erst ermöglicht, sich im öffentlich-politischen Raum, in der gemeinsamen Welt zu orientieren« (KuP 299). An dieser Stelle könnte aus der Perspektive der Kantphilologie natürlich sogleich bemerkt werden, dass Urteile über das Kunstschöne in Kants Kritik der Urteilskraft nur einen Randaspekt bilden, 306 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 112. Vollrath stellt bzgl. dieses Gedankens der Parallelisierung von Urteilen über Kunst und Politik deutlich die Nähe zum Denken Shaftesburys heraus: »Im Geschmacksbegriff Shaftesburys als einem Gemeinsinn sind Person und Welt als unterschiedene aufeinander bezogen. […] Nie wieder ist der Bezug von Ästhetik und Politik als so zentral für die Konstitution der Urteilskraft und ihrer Sphäre dargestellt worden, wie im Denken Shaftesburys.« Ebd., 112 f.
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da es hier angesichts des systematischen Anliegens des Werkes schwerpunktmäßig das Naturschöne ist, welches im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Ästhetische Urteile im Sinne der reflektierenden Urteilskraft sind mit Urteilen über Kunst und Kulturgegenstände bei Kant keineswegs so selbstverständlich gleichzusetzen, wie es in Arendts Darstellung erscheinen mag. Dennoch sieht Arendt gerade hier die Gelegenheit für den Übergang zum politischen Urteil – auch wenn ihr bewusst ist, dass dieser Gedanke einer weiteren Ausarbeitung bedarf: »Immerhin dürfte in dieser Kürze evident sein, daß hier das spezifisch kulturelle Verhalten des Menschen als eine im ausgezeichneten Sinne politische Tätigkeit verstanden wird. Im Geschmacks- und politischen Urteil wird etwas entschieden,« (KuP 300) das nicht im wissenschaftlichen Sinne objektiv zu entscheiden ist, sondern seinen Ort der Beurteilung an der Öffentlichkeit hat. Da wir es mit einem Urteil zu tun haben, das nur angesonnen werden kann, bleibt hier zudem ein Moment der Freiheit; die Struktur des Spiels gewährt dem Urteilenden einen Spielraum, welcher in der bestimmenden Struktur des Erkenntnisurteils keinen Platz hat. Arendt folgert: »Das Geschmacksurteil hat mit dem politischen Urteil ferner gemeinsam, daß es niemanden zwingen und […] nichts zwingend beweisen kann.« (KuP 300) In der gemeinsamen Art und Weise der Beurteilung von Politischem und Kulturellen scheint für Arendt ein vermittelndes Moment auf, in dem sich sogar eine Harmonisierung der sonst sehr strikt voneinander getrennten Tätigkeiten des Handelns und des Herstellens andeutet: »Als urteilende Tätigkeit bringt der Geschmack Kultur und Politik, die sich ohnehin den Raum des Öffentlichen teilen, zusammen und gleicht die Spannung zwischen ihnen aus, die aus dem inneren Konflikt kommt, in den die Tätigkeiten des Herstellens und des Handelns immer wieder gegeneinander geraten.« (KuP 302)
Diese Analogisierung von Politischem und Kulturellem hat freilich ganz eng gezogene Grenzen und bezieht sich ausschließlich auf eine Ähnlichkeit in der Art des reflektierenden Urteilens über beide Bereiche, denn »Homo faber hat keineswegs zu der Öffentlichkeit die gleiche selbstverständliche Beziehung« (KuP 297) wie der handelnde Mensch; Politik ist wesensmäßig handelnde Tätigkeit – keine »Staatskunst«. So bedeutet die besagte Vermittlung kein Verwischen von Grenzen zwischen den Bereichen und den ihnen entsprechenden Tä400 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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tigkeiten des Handelns und Herstellens. Die Urteilskraft gilt Arendt hier offensichtlich als Vermögen, Phänomene gerade durch eine Differenzierung in das ihnen zukommende Verhältnis zu setzen und dieses in mitteilbarer Form zu artikulieren. Die Fähigkeit reflektierenden Urteilens wird damit nicht nur zum Garanten eines gelingenden Lebens in der Sphäre des Politischen, bei dem dieses nicht den Kategorien des Herstellens unterworfen wird, sondern spielt auch dort eine wichtige Rolle, wo es um die Eigenständigkeit des Kulturellen geht. Fehlte die Kraft zum differenzierten und damit auch differenzierenden Urteil, so könnte keiner der beiden Bereiche auf seine Eigenständigkeit reflektieren, geschweige denn diese aufrechterhalten. Daher ist auch »das Verkümmern der Urteilskraft […] die Vorbedingung für die Vergesellschaftung und Entwertung der Kultur« (ebd.). Dass über Kulturelles und Politisches in ähnlicher Weise öffentlich und reflektierend geurteilt werden soll, bedeutet ergo weder eine Vermischung beider Bereiche, noch gar eine Ästhetisierung des Politischen. Eine solche Vermischung beider Sphären wurde 1940 von Walter Benjamin in seinem Essay über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit als von den Nationalsozialisten betriebene, tendenziell totalitäre Konsequenz aus der modernen Massengesellschaft problematisiert: »Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. […] Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.« 307 Der Topos ist auch in jüngerer Vergangenheit noch von Autoren sehr verschiedener Couleur wie Paul de Man oder auch Terry Eagleton, oft mit Blick auf Schillers Kant-Rezeption und seine Konzeption eines ästhetischen Staates in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen erörtert worden. 308 Wir können diese Debatte an dieser Stelle nicht in angemessener Weise ausbreiten; klar ist aber, dass es vor diesem Hintergrund nicht als völlig unproblematisch erscheinen kann, die Beurteilung von Kultur und Politik miteinander in Verbindung zu bringen. Arendt geht hier durchaus sehr weit, wenn sie schreibt, dass »der Geschmack die politische Tätigkeit ist, durch die Kultur wahrhaft humanisiert wird.« (KuP 302) 307 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2007, 48 ff. 308 Vgl. Jay, Martin: Hannah Arendt und die ›Ideologie des Ästhetischen‹. Oder: Die Ästhetisierung des Politischen. In: Kemper, Peter (Hrsg.): Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt. Frankfurt a. M. 1993, 119–141, 125 ff.
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Aus unserer bisherigen Untersuchung müsste jedoch bereits hinreichend klar geworden sein, dass es Arendt nicht um einen sich als Künstler verstehenden Politiker geht, nach dessen Willen die Angelegenheiten in der Sphäre des Politischen geordnet werden sollen; schon ihre insgesamt kritische Haltung gegenüber dem Willensphänomen als einem in der politischen Sphäre angewandten Vermögen zeigt dies recht deutlich. Arendt betreibt »keine Ästhetisierung der Politik im Sinne simpler Übertragungen, sondern fragt, welche strukturellen Analogien zwischen dem ästhetischen und dem politischen Urteil bestehen. Der systematische Hintergrund für diese Strukturanalogie des ästhetischen und politischen Urteils besteht darin, dass Arendt politisches Handeln nicht als Zwecke, sondern als Erscheinungen im öffentlichen Raum versteht.« 309
Ihre politische Aufnahme von Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft erliegt daher nicht einem »törichten Irrglauben an den ›Politiker als Künstler‹« 310 . Der Raum des Politischen muss ihrer Auffassung nach von einer Überwältigung durch vermeintlich übergeordnete ästhetische Kategorien verschont bleiben. Dies ist ja gerade der Grund, warum der Modus des Urteilens bei Arendt im Sinne der gemeinsinnsbasierten erweiterten Denkungsart stets Pluralität gewährleisten soll, statt sich an einem alles formenden ästhetischen Ideal auszurichten. Arendt zeigt hier also nicht nur, »daß nicht jede Variante der Ästhetisierung des Politischen unweigerlich zu dem gleichen furchbaren Ergebnis führen muß« 311 , wie Martin Jay meint. Bei Licht betrachtet gibt es eine solche Ästhetisierung des Politischen in Arendts Werk letztlich nicht, da wie in der bei Arendt rezipierten Grabrede des Perikles bei Thukydides gilt: »wir lieben das Schöne innerhalb der Grenzen des politischen Urteils« 312 . Das Ästhetische erlangt für Arendt also sicher keinerlei Hegemonie über das Politische, oder, wie sie selbst es ausdrückt: Der Ästhet ist »ahnungslos um die Erfordernisse des Politischen« (FuP 282).
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 69. Jay, Hannah Arendt und die ›Ideologie des Ästhetischen‹, 134. 311 Jay, Hannah Arendt und die ›Ideologie des Ästhetischen‹, 135. Jay bringt Arendt hier mit Lyotards Aufnahme des Erhabenen in Verbindung. 312 Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 132; Hervorh. R. T. 309 310
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3.2.2.2. Vita activa und vita contemplativa Arendts Theorie des Urteils erfährt ihre ausführlichste Behandlung in einem Text, den sie weder selbst veröffentlicht noch für eine Veröffentlichung überhaupt vorgesehen hatte. Es handelt sich um eine Vorlesung über »Kants politische Philosophie«, welche sie in den Jahren 1964–1970 in verschiedenen Varianten an der Universität Chicago und der New School of Social Research in New York gehalten hat und die in der 1970 entstandenen Fassung von Roland Beiner unter dem Titel Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie herausgegeben worden ist. Wir haben es also nicht mit einem ausformulierten Werk zu tun und der vorläufige Charakter ist den Texten durchaus anzumerken. In wichtigen Grundgedanken bleiben sich die Vorlesungsmanuskripte jedoch sehr ähnlich, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass hier für Arendts spätes Denken durchaus zentrale Gedanken eine Formulierung gefunden haben – denen ihre endgültige Fassung allerdings durch Arendts Tod 1975 verwehrt blieb. Diese von Beiner in seinem Herausgeber-Essay mitgelieferte Interpretationshypothese ist in der Arendt-Forschung bis heute nicht ernsthaft bestritten. 313 Wir sprechen hier bewusst von Arendts spätem Denken, da zwischen den Schriften der 1950er Jahre – Freiheit und Politik, Vita activa, Kultur und Politik und Was ist Politik? – durchaus deutliche Akzentverschiebungen zu den Schriften der 1970er Jahre – besonders zum Leben des Geistes – zu bemerken sind. Wir hatten auf diesen Umstand bereits im Zusammenhang des Verhältnisses von Gemeinsinn und Denken hingewiesen und konstatiert, dass Arendt sich in ihrem Spätwerk stärker der vita contemplativa zuwandte und ihrem Werk damit eine weitere Perspektive hinzufügte. Auch Ronald Beiner hat dies in seinem Essay zu den besagten Vorlesungen gerade mit Blick auf diese sehr deutlich herausgestellt: »Das Interesse verlagert sich vom repräsentativen Denken der erweiterten Denkungsart der politisch Handelnden auf die Zuschauerschaft und das rückwärts gerichtete Urteil der Historiker und Geschichtenerzähler.« 314 Wenngleich diese Akzentverschiebung schon mit Blick auf die Wahl des Gegenstandes und die Absichtsbekundung in der Einleitung zum Leben des Geistes (vgl. D 17 ff.) greifbar ist, geht Beiner sicher etwas 313 314
Vgl. Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 115. Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 118.
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weit mit seiner Behauptung, dass bei Arendt offensichtlich »zwei Theorien des Urteiles« 315 zu finden seien. Diese Unterscheidung einer praktisch orientierten Urteilskraft von einer Urteilskraft als einem Teil der vita contemplativa bei der frühen bzw. der späten Arendt hat die Arendt-Forschung besonders in den 1990er Jahren ganz maßgeblich geprägt. Richard Bernstein zufolge stehen die beiden Auffassungen vom Urteil sogar in »flagrant contradiction« 316 . Auch Ernst Vollrath legt eine solche Deutung in einem seiner späteren Texte nahe, wenn er konstatiert, Arendts Theorie des Urteilens hätte sich zunächst an der politischen Praxis orientiert und in konkreten politischen Entscheidungssituationen manifestiert, während Arendts Denken später eine Art kontemplative Wende genommen habe, um sich der theoretischen Aufgabe des historischen Berichtens und Erzählens zu widmen. 317 Damit geht er nicht so weit wie Bernstein, stützt aber im Grundsatz Beiners These von den zwei Theorien des Urteils. Diese Vorstellung von zwei verschiedenen, unvermittelt nebeneinander stehenden Lehren der Urteilskraft kann vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der Arendt-Interpretation jedoch heute als überholt angesehen werden. 318 Ihr ist inzwischen von so vielen Arendt-Forschern widersprochen worden, dass auch die These eines Bruchs zwischen (politischem) Früh- und (philosophischem) Spätwerk nicht haltbar erscheint. 319 Wir wollen uns darum hier der Auffassung anschließen, dass die Beiner-These heute nicht mehr haltbar ist und eher auf eine Perspektiv- und Akzentverschiebung hinweist, als dass sie geeignet wäre, ein Konstatieren zweier voneinander zu unterscheidender Urteilskräfte oder gar eines Bruchs im Werk insgesamt rechtfertigen zu können. Zwar ist es offenkundig so, dass Arendt das in ihren frühen Schriften in Anspruch genommene Vermögen zunächst voraussetzt und sich erst in den 70er Jahren an die Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 118. Bernstein, Richard: Judging – the Actor and the Spectator. In: ders.: Philosophical Profiles. Cambridge 1986, 221–237, 221. 317 Vgl. Vollrath, Ernst: Hannah Arendts ›Kritik der politischen Urteilskraft‹. In: Kemper, Die Zukunft des Politischen, 34–54. 318 Vgl. z. B. Benhabib, Hannah Arendt, 202, Trawny, Verstehen und Urteilen, 271. 319 Vgl. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 16 f. Meints hat die entsprechende Diskussion hier so weit aufgearbeitet, dass wir uns im Rahmen unserer Arbeit vom vollständigen Referat der in den Einzelpublikationen vertretenen Positionen entlasten und auf die besagte Studie verweisen. 315 316
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Ausformulierung begibt – dennoch kommt hier genau dasjenige Vermögen zur Untersuchung, welches in den frühen Schriften gemeint gewesen war. Die Auffassung von den zwei unvereinbaren Urteilskräften verkennt einerseits die Komplexität des Urteils und missversteht damit andererseits auch den Zusammenhang von Denken und Urteilen, wie wir ihn bereits im Kapitel über das Böse angedeutet hatten. Von einem gewissen Wert ist Beiners These dennoch in heuristischer Perspektive, erlaubt sie uns doch, einen ordnenden Zugang zu Arendts vielschichtigem Urteilsbegriff zu finden. Denn in der Tat akzentuieren Arendts frühe Schriften die Urteilskraft im Kontext politischer (Entscheidungs-) Handlungen. 320 Die Urteilskraft wird insbesondere da thematisiert, wo ein politischer Handlungs- und Freiheitsbegriff herausgestellt werden soll und es die kantischen Vorlagen der reflektierenden Urteilskraft und der erweiterten Denkungsart ermöglichen, ein intersubjektives Verständnis von Handeln zu formulieren, welches zudem nicht unter dem Diktat eines vorgegebenen Vernunftgesetzes steht und in beiden Hinsichten Freiheit gewährleistet. Die reflektierende Urteilskraft urteilt in dem Sinne frei, dass sie sich nicht wie das bestimmende Urteil nur als Erfüllungsgehilfe einer vorgegebenen praktischen Gesetzmäßigkeit versteht, sondern ihr Urteil aus einem freien Reflexionsprozess heraus schöpft. Der Gedanke der erweiterten Denkungsart bindet dieses Urteil an die freiheitlich-politische Grundbedingung menschlicher Pluralität. Als ein solches praktisches Vermögen dominiert die Urteilskraft Arendts Denken bis in die 1960er Jahre hinein; auch das Eichmannbuch thematisiert ja die Unfähigkeit und den Unwillen zu urteilen als einen Ausweis politischer Unfreiheit. 321 Praktizierte Urteilskraft, welche im Handeln zum Ausdruck kommt, wird dagegen zum performativen Aufweis politischer Freiheit: »Diejenigen, die urteilten, urteilten frei; sie hielten sich an keine Regel, um sie unter Einzelfälle zu subsumieren, sie entschieden vielmehr für jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es allgemeine Regeln für ihn nicht gäbe.« (Eichmann 65) Urteilskraft offenbart sich in diesem Sinne als das Zentralvermögen politischen Lebens und Handelns überhaupt; und wie sich zeigen wird, sind die von Beiner isolierten Perspektiven des Akteurs
320 321
Vgl. Trawny, Verstehen und Urteilen, 272 ff. Vgl. Trawny, Verstehen und Urteilen, 276.
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und des Zuschauers in diesem Vermögen durchaus als miteinander verbunden gedacht. In Arendts späten Texten allerdings erscheint das Urteilen tatsächlich zunächst weniger als ein Teil des politischen Handlungsprozesses, sondern vielmehr als eine Form historischer Kontemplation. Ihr Anliegen der 1970er Jahre geht dahin, das Urteilen als eine dem politischen Handlungszusammenhang enthobene Zuschauerperspektive zu thematisieren, welche es erlaubt, einen Sinn zu entdecken, »den die Handelnden nicht kannten.« (U 74) Um auf diese Weise die in die Geschichte eingehenden Geschichten überschauen zu können, muss sich der Mensch selbst aus den Geschichten zurückziehen und die Haltung »interesselosen Wohlgefallens« einnehmen. Diese Interesselosigkeit gegenüber den Erscheinungen des Lebens verbürgt nämlich die Unparteilichkeit, zu der ein Handelnder nicht in der Lage wäre. 322 »Also ist der Rückzug aus der direkten Beteiligung auf einen Standpunkt außerhalb des Spiels eine conditio sine qua non allen Urteils.« (U 75) Urteilen und Handeln scheinen sich auf diese Weise aber geradezu auszuschließen; Beiners These wirkt vor diesem Hintergrund also auf den ersten Blick wie eine nur allzu plausible Interpretationshypothese. Dies gilt umso mehr, als Arendt ihre Untersuchungen mit einem Pythagoras-Zitat garniert, welchem zufolge die »Besten« nicht einfach im Spiel des Lebens verschwinden, sondern sich stets auf den Zuschauerrängen aufhalten (vgl. U 75). Wo das Urteilen in den 1950er Jahren noch eine konstitutive Funktion innerhalb des Weltzusammenhangs gehabt zu haben schien, soll es nun offenbar nur da möglich sein, wo dieser verlassen wird. Arendts Meinung bezüglich des zu präferierenden Standpunktes scheint sich vom weltlich-politischen Raum menschlich-pluraler Interaktion hin in die kontemplative Position des mit Abstand Reflektierenden verlagert zu haben: Blick von Nirgendwo statt Standpunktnehmen in der Welt. Dass dies nicht Arendts Anliegen ist, hatte Vollrath jedoch selbst in seiner Rekonstruktion der politischen Urteilskraft von 1977 bereits einleuchtend herausgestellt: »Der Standort des Handelnden ist diese mit anderen gemeinsame Welt, die auch der Standort des gemäß der Maxime Urteilenden ist. Dieser Standort kommt dem Handelnden zu, weil der Urteilende sie ihm im Urteil zuspricht oder zusprechen kann. Das Handeln geschieht so, als ob sein Standort die mit 322
Vgl. Trawny, Verstehen und Urteilen, 280.
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anderen gemeinsame Welt ist. […] Es ist sogar möglich, daß der Handelnde selbst dieser Urteilende ist, aber nicht als Handelnder. […] Die Maxime der politischen Urteilskraft, ›sich (in der Mitteilung mit anderen) in die Stelle jedes anderen zu denken‹, ist die Maxime eines Handelns, so mit anderen zusammen zu handeln, daß die Stellung eines jeden anderen – die Welt – mein eigener Standort ist. Die Idee der formalen politischen Zweckmäßigkeit in Urteil und Handlung enthält nichts anderes.« 323
Wie es nie darum gegangen war, Theorie und Praxis gegeneinander auszuspielen, so verbinden sich im Urteil die beiden Perspektiven des Handelnden und des Zuschauers vielmehr miteinander. Es ist also keineswegs so, dass »das Urteil sich also in der Spannung zwischen der vita activa und der vita contemplativa [verfängt]« 324 , wie Beiner meint. Der von Arendt im Urteilen beschriebene »Zusammenstoß von Zuschauer und Handelndem« (U 80) würde falsch aufgefasst, wenn man aus der scheinbaren Ambivalenz des Urteils schließen wollte, dass Arendt die praktische Bedeutung des Denkens grundsätzlich bestritten hätte; die Rede vom Zusammenstoß ist nicht Arendts letztes Wort über das Verhältnis von Denken und Handeln. 325 Zwar ist das in kontemplativem Abstand von der Welt sich zutragende Denken nur mittelbar von politischer Bedeutung, aber wäre es von diesem gänzlich abgeschnitten, wäre es sinnlos, Eichmanns Gedankenlosigkeit derart graviernde Folgen zuzusprechen, wie Arendt es tut. Daher spricht sie nur kurz später ebenso von der »Vereinigung von Akteur und Zuschauer« (U 99); »der ›Zuschauer‹ ist nicht eine andere Person, sondern einfach ein anderer Modus, sich zur gemeinsamen Welt zu verhalten oder in ihr zu sein.« 326 Wie Stefanie Rosenmüller gezeigt hat, ist es in Das Urteilen immer wieder die Figur des Richters, an welcher das Zusammentreffen beider Perspektiven veranschaulicht wird. 327 Die Urteilskraft ist für Arendt gerade dasjenige Vermögen, welches sich nicht in der Spannung zwischen Handeln und Denken verVollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 165 f., Hervorh. R. T. Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 177. 325 Vgl. Trawny, Verstehen und Urteilen, 282. 326 Zerilli, Linda M. G.: »Wir fühlen unsere Freiheit« – Einbildungskraft und Urteil im Denken Hannah Arendts. www.republicart.net, 06/2004, 1–7, 5. 327 Vgl. Rosenmüller, Stefanie: Treffen sich Akteur und Zuschauer? Zur Rolle des Richters in Hannah Arendts Urteilstheorie. In: HannahArendt.net. Zeitschrift für politisches Denken. 1/2005, Bd. 1, 1–14, 9. Sh. http://www.hannaharendt.net/index. php/han/article/viewFile/83/131 323 324
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fängt, sondern gerade aus dieser Spannung heraus lebt. Ohne eine solche bedürfte es der Urteilskraft ja gar nicht; schließlich »gilt für das Urteilen, das Nebenprodukt der befreienden Wirkung des Denkens, daß es Denken verwirklicht und in einer Welt der Erscheinungen, in welcher ich niemals allein und immer zu beschäftigt bin, um denken zu können, manifest macht.« (ZDM 155) Der an sich ergebnislose und unabschließbare, dialogische Prozess des Denkens erhält im Urteil den Punkt, an dem es seinen mitteilbaren Ausruck findet und in die Welt tritt. »Urteilskraft […] erwächst aus der befreienden Wirkung des Denkens und verwirklicht dieses in der Welt.« 328 Auch für Arendts Denken bleibt also charakteristisch, dass der Urteilskraft eine Art Mittlerrolle zukommt. Sie »realisiert das Denken, bringt es in einer Erscheinungswelt zur Geltung« (D 192), der das Denken selbst nicht angehört, da es sich nur in Abgeschiedenheit von dieser vollziehen kann. Damit wird im Urteil eine Verbindung zwischen der Pluralität der Welt und ihrer Keimzelle, der »Zweisamkeit« des inneren Dialogs meiner mit mir selbst, geschaffen. Erst durch die Fähigkeit des Urteilens wird erklärlich, wie der innere Dialog des Denkens mit seiner stets »außer der Ordnung« (D 193) sich zutragenden Prozesshaftigkeit für die Ordnung der Erscheinungswelt, von der es sich zurückgezogen hatte, überhaupt von Bedeutung sein kann. Das Urteilen schafft hier die notwendige Verbindung und entlässt damit das Denken in die Welt: »Das Urteil setzt das Denken frei, insofern es die Fähigkeit ist, durch die sich das Denken ausdrückt.« 329 Insofern schließt die Rolle des Zuschauers nicht vom Handeln ab; »dieser Betrachter kann der Handelnde nach Vollendung der Handlung selbst sein« 330 . Offensichtlich gehört es für Arendt schlicht zu seinen gegebenen Möglichkeiten, »dass der Mensch sich sowohl teilnehmend als auch beobachtend zur Welt verhält. Diese beiden Beziehungsarten stehen jedoch nicht in einem dichotomen Verhältnis zueinander, sondern sie vollziehen sich gleichursprünglich« 331 . Dabei sind Handeln und Urteilen insofern aufeinander verwiesen, als das Handeln eines dieses orientierenden Urteils bedarf wie das Urteilen Falkenhagen, Die Macht der Unterscheidung, 200. Campillo, Neus: Denken. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller: Arendt Handbuch, 274–276, 276. 330 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 168. 331 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 89. 328 329
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der in der Interaktion gegebenen Pluralität anderer Menschen. Ein solches Verhältnis ginge einem ausschließlich in der Rolle des kontemplativen Zuschauers verharrenden Urteilenden ab: »Der öffentliche Bereich wird durch die Kritiker und Zuschauer konstituiert, nicht durch die Akteure oder die schöpferisch Tätigen. Und dieser Kritiker und Zuschauer befindet sich in jedem Akteur und Hersteller; ohne dieses kritische, urteilende Vermögen wäre der Handelnde oder Schaffende so losgelöst vom Zuschauer, daß er nicht einmal wahrgenommen würde.« (U 85)
Dass dieses Wechselspiel für Arendt von großer Bedeutung ist, kann keineswegs erst für ihr spätes Denken festgestellt werden; vielmehr liegt in der für das Politische charakteristischen Verwiesenheit von Akteur und Zuschauer eben der Grund, aus dem Arendt bereits in Vita activa das Theater als »die politische Kunst par excellence« hervorhob als »die einzige Kunstgattung, deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet.« (VA 233 f.) 332 Es ist offensichtlich, dass Arendt durch ihr gesamtes Werk hindurch von einer wechselseitigen Verwiesenheit beider Perspektiven ausgeht. Ebenso offenkundig ist jedoch, dass beide Perspektiven – weltliche Interaktion und kontemplativer Rückzug – nicht gleichzeitig zu haben sind, sondern nur nacheinander. Es bedarf daher eines einigenden Bandes, welches das aus der Perspektive des Zuschauenden gefällte Urteil mit der Perspektive des in der Welt erscheinenden Handelnden, in welcher sich das Urteil manifestiert, in Beziehung setzt – andernfalls bliebe tatsächlich beides unverbunden. Der »Tote Punkt« (W 207) zwischen innerlicher und weltlicher Perspektive soll bei Arendt, wie Peter Trawny es unter Bezugnahme auf Höffe und Benhabib herausgestellt hat, durch eine narrative Perspektive überbrückt werden. Wieder ist es also die Erzählung, die hier als sinnstiftendes Band nicht nur eine geschlossene Identität gewährleistet, sondern auch die Brücke zwischen vita activa und vita contemplativa bildet: »Hannah Arendts letztes Philosophieren schwankt nicht zwischen Kontemplation und Aktion. Vielmehr geht es ihr darum, in der Kontemplation die Möglichkeit einer ethischen Hermeneutik zu konturieren. Die Theoria erhält darum eine ethische Sprache. Sie wird zur Theoria der Dichter, d. h. der Erzähler. Ihr Verstehen schlägt unmittelbar in ein Erzählen um. Das spezifisch 332 Julia Kristeva verfolgt diesen Zug von Arendts Denken bis in ihre Habilitation über Rahel Varnhagen, in der ein »Theater des Denkens« entworfen werde. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 91. Vgl. dazu auch Knott, Verlernen, 91.
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ethische Element dieses gleichsam erzählenden Verstehens ist das Urteilen. Nach Arendt erzählt nur derjenige, der urteilt. […] So kristallisiert sich zuletzt in der Dichtung paradigmatisch für das politische Denken eine Hermeneutik des »verstehenden Herzens«, deren politisch-ethischer Charakter unverkennbar ist.« 333
Auch hier kommt also die zentrale Bedeutung der Narrativität für Arendts Werk noch einmal deutlich zum Ausdruck. »In der Erzählung und nicht in der Sprache an sich […] verwirklicht sich das wesentlich politische Denken […]; die Erzählung ist das unmittelbarste mitgeteilte Handeln und in diesem Sinne das ursprünglichst Politische.« Und so ist es auch die Narration, die »fähig ist, die Spannung zwischen bios theoretikos und bios politikos aufrecht zu erhalten.« 334 In der narrativen Konstitution der Person verbinden sich kontemplative und praktische Perspektive zum Ganzen einer Person; zur Persönlichkeit wird man also nur im lebendigen Verhältnis beider Perspektiven. Arendt selbst hat die ethische Dimension, welche in ihrer Lehre der Urteilskraft begründet liegt, in ihrem Denktagebuch als »Ethik der Macht« (DTB 818) angedeutet. 335 Dabei verweist ihr Begriff der Macht – wir erinnern uns – stets auf einen intersubjektiven, nicht im Individuum allein wurzelnden Handlungszusammenhang, in welchem Macht als horizontal-gemeinschaftliches Potential gestiftet wird. Der intersubjektiv konstituierte Weltzusammenhang stellte sich stets als der Raum dar, in dem die weltlich zutage tretenden Handlungen der agierenden Personen als erzählbare (Lebens-)Geschichten gleichsam die Fäden bilden, welche einander treffen und kreuzen und so zum »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA 222) verwoben werden. »Die Zuschauer ›vollenden‹ die Geschichte; und dies dank dem Denken, das nach dem Handeln kommt: eine Vollendung, die sich vermittels der Erinnerung erfüllt, ohne die es ganz einfach nichts zu erzählen gibt.« 336 Hier lag der persönlichkeitsbildende Aspekt von Arendts Lehre des Handelns; die Bildung der Persönlichkeit hing für Arendt ganz entscheidend davon ab, dass der Mensch sich den Anderen in der Welt zeigt. Trawny, Verstehen und Urteilen, 288, vgl. 271; vgl. Höffe, Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt; sowie Benhabib, Hannah Arendt, 202. 334 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 144 f., 160. 335 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 187–239. 336 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 123. 333
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Arendts spätes Denken demonstriert nun, dass hier über die Urteilskraft eine Verbindung zwischen weltlichem Handeln und innerlicher Kontemplation besteht, welche in diese Perspektive der der Welt erscheinenden Person mit eingeht. »Entscheidend ist, dass Arendt die Enthüllung der Person nicht nur an das Miteinander bindet, sondern dass die Person als Handelnder und Sprechender aus der Person des Zuschauers betrachtet wird.« 337 Auch in Arendts Denken soll die Urteilskraft also Einheit gewährleisten – und zwar die Einheit der Person: »Die Urteilskraft zeigt sich darin, dass die Person, indem sie über die Welt urteilt, zugleich, enthüllt, wer sie ist. Welt- und Selbstverhältnis fallen im Urteilen zusammen.« 338 3.2.2.3. Urteilskraft als Unterschiede-machen Die Lehre politischer Urteilskraft, wie Arendt sie auf Grundlage des kantischen Begriffs des reflektierenden Urteils herausarbeitet, ist perspektivenreich und vielschichtig. Eine dieser Perspektiven, die mit Blick auf unser primär bildungsphilosophisches Erkenntnisinteresse eine wichtige Rolle spielt, klingt ebenso wie die plurale Struktur des reflektierenden Urteils in Kants dritter Kritik bereits recht deutlich an, erreicht aber erst in Arendts Werk die Form, in der sie für eine Theorie philosophisch-politischer Bildung ihre volle Bedeutung gewinnen kann. Erst von hier aus können der Zusammenhang der Kant-Rezeption Arendts im Ganzen und ihre Methode des Zugriffs auf die philosophische Tradition insgesamt verständlich werden. In der ersten Einleitung zu seiner dritten Kritik hatte Kant mit Blick auf die hier neu entworfene reflektierende Urteilskraft geschrieben: »Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt.« (KU EF 24)
Auch wenn Arendt sich nicht direkt auf sie bezieht, werden in dieser kurzen Passage gleich zwei wichtige Aspekte der reflektierenden Urteilskraft berührt, die den Blick freigeben auf Arendts Lehre vom Urteil. Hier gehen wir mit Arendt freilich abermals – wir hatten bereits
337 338
Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 235. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 236.
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verschiedentlich darauf hingewiesen – weit über die Perspektive einer Kant-Philologie hinaus. So lassen sich an der besagten Textstelle eben besonders zwei systematische Punkte aufweisen, welche Kants reflektierende Urteilskraft für Arendts Denken anschlussfähig machten und uns ihren Weg vom ästhetischen zum politischen Urteil illuminieren helfen. (1) Die reflektierende Urteilskraft impliziert eine Fähigkeit des Abgleichs zwischen Partikularem, Verschiedenem. Schon Kant spricht ihr offenbar (mindestens auch) die Aufgabe und Fähigkeit zu, »Vorstellungen […] mit andern […] zu vergleichen« (KU EF 24). Damit stehen nicht Identifikation oder Subsumption im Mittelpunkt, sondern ein Umgang mit den phänomenalen Besonderheiten der Welt, welche für eine begriffliche Durchdringung erschlossen werden sollen, ohne dass diese Erschließung zu einer Reduktion der besagten weltlichen Phänomene auf ihren Gehalt innerhalb einer Ordnung bereits zugrunde gelegter Begrifflichkeiten reduziert würde. Saavedra bezeichnet diese Funktion der Urteilskraft als »die Anerkennung und Erforschung der phänomenologischen Differenz in der Welt« 339 . Wir hatten dies schon beobachten können, als Arendt das politische Urteilen in Was ist Politik? von wissenschaftlich-subsumierenden Verfahren bestimmender Urteile abgrenzte: »Dies Urteilen, das maßstabslos ist, kann sich auf nichts berufen als die Evidenz des Geurteilten selbst, und es hat keine anderen Voraussetzungen als die menschliche Fähigkeit der Urteilskraft, die mit der Fähigkeit zu unterscheiden sehr viel mehr zu tun hat als mit der Fähigkeit zu ordnen oder zu subsumieren.« (WiP 20, Hervorh. R. T.)
Politisches Urteilen ist für Arendt eine aktive Auseinandersetzung mit den in der Wirklichkeit der Welt erscheinenden Phänomenen und strukturiert diese nicht intellektualistisch mittels einer vorgegebenen Ordnung, sondern zielt vielmehr darauf ab, beim Urteilen von der phänomenalen Wirklichkeit auszugehen und durch Vergleich und Unterscheidung innerhalb von dieser zu Differenzierungen zu gelangen, welche in der Welt Orientierung zu bieten imstande sind. Diese Orientierung schafft die politische Urteilskraft also nicht da339 Saavedra, Marco Estrada: Eine Hermeneutik des Präzedenzlosen. Die Urteilskraft und die historische Imagination. In: Neumann, Bernd; Mahrd, Helgard und Frank, Martin (Hrsg.): ›The Angel of History ist looking back‹ Hannah Arendts Werk unter politischen, ästhetischem und historischem Aspekt. Würzburg 2001, 45– 74, 46.
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durch, dass sie die Welt einer Ordnung unterwirft, sondern indem sie aus dieser heraus Differenzierungen schafft; sie erweist sich damit als orientierungsgebendes Differenzierungsvermögen, als das Vermögen, Unterschiede zu machen. 340 Arendt spricht daher auch von einem »Vermögen des Urteilens und Unterscheidens« (U 86). Dass Menschen über eine solche, weitgehend voraussetzungslose Fähigkeit zum eigenständigen Unterscheiden verfügen, ist für Arendt gewissermaßen eine anthropologische Grundannahme, die auch auf ihrem Gedanken der Natalität als der Anfänglichkeit des Menschen beruht. »Weil Menschen selbst Anfangende sind, verfügen sie auch über genügend Ursprung in sich, um unabhängig und ohne vorgegebene Regeln zu urteilen.« 341 Ihr Denktagebuch lässt diesen Zusammenhang sehr deutlich erkennen: Nur unter der Voraussetzung des Menschen als einem initium »wird aus der Wahlfähigkeit das Urteilsvermögen: ›to tell right from wrong‹, das Unterscheidungsvermögen. […] Da die Urteilskraft auf Andere reflektiert, ist nur der ›böse‹ Mensch, der nicht urteilt, den Unterschied nicht kennt, zu allem fähig.« (DTB 767 f.) Urteilskraft wird hier also ganz wesentlich als ein Vermögen exponiert, aus dem Kontext weltlicher Pluralität heraus Unterschiede machen zu können. »Unter all den Fähigkeiten und Vermögen der Vernunft und des Menschen ist nun die Urteilskraft allein kein identifizierendes, sondern ein unterscheidendes, ein kritisches Vermögen. […] Genau diese unterscheidende Kraft macht die Urteilskraft zum politischen Geschäft tauglich« 342 . Gleichwohl zeigt sich dabei, dass das Urteil insofern mit dem 340 Dieser Gedanke wird am ausführlichsten entfaltet und ins Zentrum der Untersuchung zu Arendt gestellt bei Falkenhagen, Die Macht der Unterscheidung. 341 Falkenhagen, Die Macht der Unterscheidung, 11. 342 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 50 f. Wenn wir die Urteilskraft als ein kritisches Vermögen kennzeichnen, so ist damit eigentlich bereits nichts anderes gesagt, als dass es sich um ein Vermögen der Unterscheidung handelt; leitet sich das Wort Kritik – ebenso wie das Wort Krise – doch vom griechischen Verb krineín ab, welches nichts anderes bedeutet als trennen oder unterscheiden. Konrad Paul Liessmann hat darauf hingewiesen, dass besonders in Krisensituationen – in denen sich etwas entscheidet – es gerade demjenigen »an Urteilskraft; anders formuliert: an Unterscheidungskraft« mangelt, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt und die relevanten Unterscheidungen nicht zu treffen in der Lage ist. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Wien 2012, 9, vgl. ebd., 8 ff. Wie sehr diese kritische Tätigkeit des Urteilens als Unterschiede-Machen mit Arendts eigener Tätigkeit als Autorin korrespondierte, hat ihre Biographin Young-Bruehl herausgestellt: »Sie war eine Kritikerin im ursprünglichen Sinne des griechischen Wortes κριτής (sic!), eine Sachverständige oder Interpretin,
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Denken verbunden ist, als es gerade in diesem Punkt auf dessen Unterscheidungskraft durchaus verwiesen bleibt. Auch für den Denkprozess ist die Fähigkeit des Unterscheidens von konstitutiver Bedeutung: »Der Prozess der Klärung, der im Denkprozess vor sich geht, erfolgt durch Unterscheidung.« (DTB 772) Waren die über die Sinnlichkeit zugänglichen und für den sich im Denken ereignenden Rückzug von der Welt entsinnlichten Vorstellungen zunächst dem Denkprozess als der »Operation der Reflexion« (U 92) zugeführt worden, so werden die in dieser entworfenen Unterscheidungen im Urteil wieder auf die auf die Welt zurückgewendet. Damit wird nun auch klar, wie das ansonsten weltabgewandte Denken einen Beitrag zum Verstehen leisten könnte. Im Unterschied zum Erkenntnisurteil oder zum moralischen Urteil kantischer Prägung erweist sich das politische Urteil, welches sich in dieser Weise reflektierend um die Phänomene der politischen Sphäre bemüht, als eines, welches Arendt zufolge nicht in erster Linie die Phänomene unter Begriffe bringt, sondern in Auseinandersetzung mit der phänomenalen Wirklichkeit der Welt zu Begriffen gelangt, die dieser adäquat sind. Was die Charakteristik des Urteils als einem Vermögen der Unterscheidung angeht, so lässt dieser Zug der Urteilslehre Arendts neben dem kantischen Zug ihres Denkens ganz wesentlich Orientierung an Aristoteles hervortreten, für den die Dihairesis eine ganz wesentliche Komponente des Urteilens bildete. 343 Wir haben es hier mit einem kategorialen Aspekt von Arendts Denken zu tun, welcher sich eng mit dem hermeneutischen Aspruch ihres Werkes verbindet. Auch eine Spur dieses Aspektes verbirgt sich in der oben zitierten Passage der dritten Kritik und verbindet sich mit dem zweiten, bildungsphilosophisch ganz wesentlichen Punkt ihrer Urteilslehre: (2) Der im reflektierenden Urteil implizierte Abgleich ist ein wechselseitiger Prozess zwischen Vorstellungen und Begriffen, zwischen der Phänomenalität der Welt und den intellektuellen Vermögen des Menschen. Schon bei Kant sollen die »gegebenen Vorstellungen« sollen nicht nur untereinander verglichen, sondern in »in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff« (KU EF 24) gebracht werden. Arendt formuliert dieses Anliegen am prägnantesten in die Unterscheidungen treffen, Dinge klarstellen, Bedeutungen geben konnte.« Young-Bruehl, Leben, Werk und Zeit, 643. 343 Vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 50 f.
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ihrem Text über Macht und Gewalt – ebenfalls eine solche Differenzierung, die wir auf die Urteilskraft als Kunst der Unterscheidung zurückführen dürfen: »Es spricht, scheint mir, gegen den gegenwärtigen Stand der politischen Wissenschaft, daß unsere Fachsprache nicht unterscheidet zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt – die sich doch alle auf ganz bestimmte, durchaus verschiedene Phänomene beziehen und kaum existieren würden, wenn sie das nicht täten.« (MG 44)
Die präzise Unterscheidung von Begrifflichkeiten der politisch-zwischenmenschlichen Sphäre wird hier in ihrer Bedeutung akzentuiert; Angemessenheit und sprachliche Genauigkeit mit Blick auf die begrifflich zu fassenden Phänomene eingefordert. An anderer Stelle spricht sie in diesem Zusammenhang auch von »Schlüsselwörtern der politischen Sprache, als da sind Freiheit und Gerechtigkeit, Autorität und Vernunft, Verantwortung und Tugend, Macht und Ruhm« (ZVZ 18). Die Kunst des Unterscheidens realisiert damit performativ eine begrifflich-kategoriale Perspektive, welche für das hermeneutische Grundmotiv ihres Werkes von elementarer Bedeutung ist: »Ihre Begriffe dienen dem Verstehen des Wesentlichen, das sich in den verschiedenen Phänomenen offenbart und sie voneinander unterscheidet.« 344 Wir hatten bereits auf die Nähe zwischen Verstehens- und Urteilsprozessen verwiesen; das Verstehen ist ein Prozess mit Weltbezug (vgl. Kap. B 2.2.), und diesen Weltbezug stellt ganz maßgeblich die Urteilskraft her. Daher ist die mangelnde begriffliche Differenzierungsfähigkeit aber auch nicht nur ein sprachliches Problem, sondern ein Problem in der Funktionsweise der Urteilskraft – und damit für das Verhältnis zur weltlichen Wirklichkeit insgesamt. Die in begrifflichen Gegenüberstellungen wie den genannten liegenden Differenzierungen lassen sich nur als Leistungen der Urteilskraft verstehen und sind konstitutiv für unser Weltverhältnis überhaupt; der Verlust eines differenzierten Gebrauchs von Begriffen wäre also ebenfalls ein Symptom des Welt- und Wirklichkeitsverlustes, gegen den Arendt sich in ihrem Werk stellt: »Sie [die Begriffe, R. T.] synonym zu gebrauchen, zeigt nicht nur, daß man das, was die Sprache eigentlich sagt, nicht mehr hören kann, was schlimm genug wäre; der Unfähigkeit, Unterschiede zu hören, entspricht die Unfähig344
Falkenhagen, Die Macht der Unterscheidung, 11.
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keit, die Wirklichkeiten zu sehen und zu erfassen, auf die die Worte ursprünglich hinweisen.« (MG 44)
Wie stark diese begrifflichen Fragen sich mit dem Problem unseres Traditionsverhältnisses verbinden, wird in vielen ihrer Aufsätze deutlich, welche sie in ihren Übungen im politischen Denken auch als auch als »Übungen zu Begriffen« (ZVZ 157) vorstellt. Falkenhagen hat herausgearbeitet, »dass die Begriffe und Unterscheidungen, die Arendt in ihrer Analyse des Urteilsvermögens entwickelt, unmittelbar auf die Erfahrung und Analyse der totalen Herrschaft und den Traditionsbruch, der in dieser neuen Herrschaftsform zutage getreten ist, antworten.« 345 Da dieser Bruch unser Traditionsverhältnis massiv erschüttert hat, sah Arendt unsere Selbstverständlichkeit im Umgang mit diesem schwer beeintächtigt und die Tradition schien nur noch in einer fragmentarischen Form für einen Zugriff bereit zu stehen. (Vgl. Kap. B.2.2.) Unser Urteilsvermögen steht hier somit vor der doppelten Aufgabe, sowohl einen begrifflich differenzierten Umgang mit der Wirklichkeit der Welt und den sich in dieser zutragenden Ereignisse und vorfindlichen Phänomene zu gewährleisten, als auch über »die Vergangenheit […] zu Gericht« (D 212) zu sitzen und die Tradition daraufhin zu befragen, worin ihr Beitrag zum Umgang mit dieser Wirklichkeit bestehen kann. Wie sich diese Wirklichkeit der Welt entwickelt, ist einigermaßen unabsehbar, weil der weltliche Zusammenhang ganz maßgeblich durch Handeln gestiftet wird und dieses auf der menschlichen Fähigkeit des spontanen Anfangens beruht: »Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das Unendlich Unwahrscheinliche« (VA 216). Jeglicher Traditionsbezug muss daher im »Bewußtsein einer präzedenzlosen Gegenwart« 346 erfolgen. Es steckt auf diese Weise stets »ein Element des Experimentellen in der kritischen Interpretation der Vergangenheit« (ZVZ 18), denn welche Traditionsfragmente für die Gegenwart von Bedeutung sein können, ist ebenso unabsehbar wie das den weltlichen Zusammenhang konstituierende Handeln. Hier wird verständlich, was Mary McCarthy meinte, als sie Arendt als »conservationist« beFalkenhagen, Die Macht der Unterscheidung, 197. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt. In: Joas, Hans und Vogt, Peter (Hrsg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks. Frankfurt a. M. 2011, 171–204, 200. 345 346
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schrieb: »she did not believe in throwing anything away that once had been thought. A use may be found for it. […] In her own way she was an enthusiastic recycler.« 347 Es zeigt sich also, dass auch die Tätigkeit des Perlentauchers selbst eine ist, die Urteilsfähigkeit erfordert, da sie den auswählenden Umgang mit Bruchstücken der Vergangenheit miteinschließt und die Urteilskraft »unser Vermögen [ist], mit der Vergangenheit umzugehen.« (D 212) Wir haben diese gleichzeitig hermeneutische und begrifflich-kategoriale Perspektive, welche mit Arendts Urteilslehre als einer Kunst des Unterscheidens einhergeht, bereits an vielen Stellen unserer Untersuchung berührt. Dieses Charakteristikum ihres Denkens verbindet sie in mancherlei Hinsicht mit demjenigen Kosellecks; »beide entwickelten metahistorisch-anthropologische Kategorien, die diesen Traditionsbruch perspektivieren und zugleich überbrücken sollten.« 348 Für Arendt bleibt es hier stets die Urteilskraft, aufgrund derer wir in der Lage sind, im Abgleich mit der Wirklichkeit der Welt Begrifflichkeiten daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie der Wirklichkeit der Welt gerecht zu werden in der Lage sind und sie ansonsten in der Weise »verlernen«, wie wir es in Kap. C1 für den Begriff des Bösen herausgearbeitet haben. Was Urteilskraft und Gemeinsinn als letzten Schritt unserer Untersuchung von Arendts Kant-Rezeption angeht, so zeigt sich hier wieder die Einheit von Gegenstand und Methode: Urteilskraft und Gemeinsinn gehören einerseits zu den »Perlen«, welche die perlentauchende Arendt aus der Tiefe der Brightmann, Carol: Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Between Friends. The corresponence of Hannah Arendt and Mary McCarthy. New York 1995, XVI; Zit. nach McCarthy, Mary: Saying Good-Bye to Hannah, Occasional Prose (1985), 37 f.; dt. Ausgabe v. Brightmann, Carol. (Hrsg.): Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975, 7– 39, 19: »Hannah war eine Konservatorin; sie gehörte nicht zu denen, die etwas, was einmal gedacht worden war, wegwerfen. Man könnte vielleicht noch eine Verwendung dafür finden«. 348 Hoffmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, 188. In seinem Text Historik und Hermeneutik formuliert Koselleck das mit Arendt geteilte Anliegen in der ihm eigenen prägnanten, inhaltlich Arendt aber sehr nahe kommenden Weise. Er schreibt hier es gehe ihm »um kategoriale Bestimmungen, die auf Seinsweisen zielen, die zwar sprachlich vermittelt werden müssen, aber der Sache nach nicht in sprachlicher Vermittlung aufgehen, sondern auch etwas Eigenständiges sind. Es handelt sich also um Kategorien, die auf eine Seinsweise möglicher Geschichte zielen, die so etwas wie Verstehen und begreifen erst provozieren.« Koselleck, Reinhart: Historik und Hermeneutik. In: Ders.: Zeitschichten. Frankfurt a. M. 2000, 97–118, 112. 347
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Tradition fischt und sind andererseits gleichzeitig das Instrument, mittels dessen der Vorgang des Perlentauchens überhaupt erst möglich wird. 349 In dieser Perspektive ist es folglich keineswegs übertrieben zu sagen, dass Arendt »erst durch eine produktive Neuaneignung der kantischen Philosophie zu ihrer eigenen Theorieproduktion gelangt. […] Mit dem sensus communis ist es […] möglich, sich sowohl auf als auch gegen die Tradition zu beziehen.« 350 Arendts Hermeneutik ist eine, die sich in ihrem Kern Kants dritter Kritik verdankt und gleichzeitig auf diese gerichtet ist. 351 Unser Denken und Urteilen ist Arendt zufolge insofern ein versammelnder Prozess, da wir uns im auf das Verstehen weltlicher Wirklichkeit gerichteten Urteilen ins Verhältnis setzen zu einer Pluralität anderer Positionen und ihrer begrifflichen Strukturierungen der Wirklichkeit. Wir hatten diesen Zug in Arendts Werk bereits im Begriff des living-rooms oder Wohnzimmers gefasst, in welchem die Positionen der Tradition mit einer gegenwärtigen, plural konstituierten Wirklichkeit ins Gespräch gebracht werden. Hierzu bedarf es offensichtlich der »Möglichkeit, qua Vorstellungskraft die Positionen aller anderen zu vergegenwärtigen«, da die Gegenwart von Positionen der Vergangenheit ansonsten nicht gegeben ist, diese aber in den aktuellen Prozess der Wirklichkeitsbewältigung miteinbezogen werden sollen. Dieser Prozess ist in zweifacher Perspektive plural gedacht, da er einerseits die Pluralität der Welt miteinbezieht und sich zudem für offen zeigt für verschiedenste Positionen. Dieser Zusammenhang wird sehr treffend in der Formulierung einer »Hermeneutik des Wir« 352 gefasst. Um eine solche Re-Aktualisierung von Positionen der VerganVgl. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 34. Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 39, 60. 351 Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass Arendt damit sicher nicht die Einzige ist, welche Kants dritte Kritik für einen verstehenden Zugang zur Welt fruchtbar machen will. So macht es sich Rudolf Makkreel ebenfalls – wenngleich in von Arendt deutlich zu unterscheidender Argumentationsrichtung – ganz explizit zum Projekt seines Buches und vieler vorbereitender Aufsätze, »die hermeneutischen Implikationen der Philosophie Kants zu entwickeln« und versteht diese als »orientierend für das menschliche Subjekt in der Welt.« Dass die reflektierende Urteilskraft sich für hermeneutisches Denken als anschlussfähig erweist, liegt Makkreel zufolge nicht zuletzt daran, dass das »Prinzip reflektierender Urteilskraft […] gegenüber den besonderen Gehalten der Erfahrung anpassungsfähig« ist. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 14, 198. 352 Sigwart, Politische Hermeneutik, 477. 349 350
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genheit denkbar zu machen, greift Arendt auch auf ein Vermögen zurück, welches sie dafür ebenfalls aus der Tradition schöpfen, aber in erheblichem Umfang modifizieren, also in einen neuen Begriff verlernen muss: Das Vermögen der Einbildungskraft. »Für Arendt ist es ganz offenkundig, dass alles Denken aus Erfahrungen und Begegnungen mit anderen entsteht, die qua Einbildungskraft zu Gegenständen des inneren Dialogs werden.« 353 Was dies für unser Welt- und Traditionsverhältnis bedeutet, soll nun in einem letzten Schritt erläutert werden. 3.2.2.4. Einbildungskraft und repräsentatives Denken Arendt bringt das Urteil in ihren späten Texten der 70er Jahre sehr eng mit der innerlichen Tätigkeit des Denkens in Verbindung, und dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Beiners These von der kontemplativen Wende der Urteilskraft in Arendts Spätwerk recht lange Zeit unwidersprochen blieb. 354 Der These von den zwei verschiedenen Urteilskräften scheint zudem die Tatsache in die Hände zu spielen, dass Arendt in ihren Kant-Vorlesungen innerhalb der Urteilskraft »zwei geistige Operationen« unterscheidet, nämlich die »Operation der Einbildung« und die »Operation der Reflexion«. Dennoch bleibt die These von den beiden, unvereinbaren Lehren der Urteilskraft ein Missverständnis; wenden wir uns der entsprechenden Textstelle darum noch einmal zu: »Da ist die Operation der Einbildung: Man beurteilt Gegenstände, die nicht länger gegenwärtig, sondern aus der unmittelbaren Sinneswahrnehmung entfernt sind […]. Wenn man sich etwas repräsentiert, das abwesend ist, schließt man gewissermaßen jene Sinne, durch die einem Gegenstände in ihrer Gegenständlichkeit gegeben werden. […] Diese Operation der Einbildung bereitet den Gegenstand für die ›Operation der Reflexion‹ zu. Und diese Operation, nämlich die Operation der Reflexion, ist die eigentliche Tätigkeit des EtwasBeurteilens.« (U 92)
Falkenhagen, Die Macht der Unterscheidung, 200, 201. Zumindest nutzt Beiner gerade die Überlegungen über das repräsentative Denken, um das Urteilen vom Handeln abzusetzen. Vgl. Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 140. Wir hatten oben bereits erläutert, warum wir Beiners Position an dieser Stelle nicht teilen wollen. Zwar unterscheidet Arendt die Handelnden auf der einen Seite analytisch von den Zuschauern und Kritikern auf der anderen. Ebenso schreibt sie aber: »Un dieser Kritiker und Zuschauer befindet sich in jedem Akteur.« (U 85) 353 354
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Der »eigentlichen Tätigkeit des Etwas-Beurteilens« haben wir uns im vorliegenden Kapitel bereits aus verschiedenen Perspektiven gewidmet, weshalb wir nun hier noch dem dieser vorgeschalteten Prozess etwas Aufmerksamkeit widmen. Die Operation der Einbildung bereitet Gegenstände der Welt in einer Weise auf, die für die innerliche Operation Reflexion »verdaulich« ist; bei ersterer kommt die Einbildungskraft ins Spiel des Urteilsprozesses. Sie fungiert damit als eine für diesen Prozess wichtige, notwendige Instanz der Entsinnlichung, ohne welche die Welt der Reflexion gar nicht zugänglich wäre. Arendt erläutert diesen Vorgang im Denken in recht ähnlicher Art und Weise: »Die Einbildungskraft, die einen sichtbaren Gegenstand in ein unsichtbares Vorstellungsbild verwandelt, das im Geiste gespeichert werden kann, ist also die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß der Geist brauchbare Gegenstände geliefert bekommt; doch diese entstehen erst, wenn der Geist aktiv und vorsätzlich erinnert […]; dabei lernt der Geist mit abwesenden Gegenständen umzugehen und bereitet sich darauf vor, ›weiter zu gehen‹ in Richtung auf das Verstehen von Gegenständen, die immer abwesend sind und nicht erinnert werden können, weil sie der Sinneserfahrung nie gegenwärtig waren.« (D 83)
Auch hier wird deutlich: Der Einbildungskraft kommt offensichtlich die Aufgabe zu, die Gegenstände der Erfahrung soweit zu entsinnlichen, dass sie einer geistigen Reflexion überhaupt erst unterzogen werden können; wir hatten diesen Zusammenhang bereits erläutert, als wir das Verhältnis von Denken und Gemeinsinn thematisiert hatten. (Kap. 3.1.3.4.) Dass diese Überlegungen aus dem Leben des Geistes für Arendt nicht nur rein erkenntnistheoretischer Natur, sondern auch für politische Kontexte von Bedeutung sind und ebensolchen entwachsen, zeigt sich, wenn man auch einige ihrer früheren Texte hinzuzieht, welche die Einbildungskraft ebenfalls thematisieren und deren Überlegungen Arendt hier klarerweise voraussetzt. Diese politische Bedeutung der Einbildungskraft hatte Arendt bereits in ihrem Text über Wahrheit und Politik deutlich herausgestellt und ihre Seminaraufzeichnungen belegen, dass die Einbildungskraft in dieser Perspektive auch in ihren Veranstaltungen über Kants dritte Kritik eine wichtige Rolle gespielt hat: »Die Einbildungskraft, sagt Kant, ist das Vermögen, das gegenwärtig zu machen, was abwesend ist, das Vermögen der Repräsentation.« 355 Die Einbildungs355
Arendt, Hannah: Die Einbildungskraft. In: Dies., Das Urteilen, 104–111, im Fol-
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kraft ist damit das Vermögen, dass es uns ermöglicht, repräsentativ zu denken in dem Sinne, dass wir uns die Position anderer vergegenwärtigen – und damit eine zentrale Voraussetzung für die »erweiterte Denkungsart«, die uns im Urteil auf die Pluralität der Welt reflektieren lässt. 356 Arendt wählt in ihrer Vorlesung Basic Moral Propositions das Beispiel eines Slumbewohners, dessen Position nicht die eigene ist und mir daher nicht präsent, aber vermittels der Einbildungskraft für die eigene Reflexion innerlich re-präsentiert, also ein-gebildet werden kann: »Nehmen wir an, ich schaue auf ein bestimmtes Wohnhaus in einem Slum und nehme in diesem Gebäude die allgemeine Vorstellung wahr, die es nicht direkt sichtbar macht: die Vorstellung von Armut und Elend. Ich komme zu dieser Vorstellung, indem ich mir vergegenwärtige, wie ich mich fühlte, wenn ich dort leben müßte, das heißt, ich versuche an der Stelle eines Slum-Bewohners zu denken. Das Urteil, das ich fälle, wird keineswegs notwendigerweise dasselbe sein wie das der dort Lebenden, welche gegenüber ihrer Lebenssituation mit der Zeit durch Hoffnungslosigkeit stumpf geworden sein mögen, doch wird es ein hervorragendes Beispiel für mein weiteres Urteil in diesen Angelegenheiten werden.« (B 142)
Die mit dem repräsentativen Denken angestrebte Allgemeinheit verlangt es, Standpunkte Anderer mitzuberücksichtigen, die mir nicht automatisch präsent sind und dies auch nicht sein können. Damit ist nicht gemeint, Urteile anderer zu antizipieren, um sie dann zu übernehmen. Am Beispiel des Slumbewohners wird deutlich, dass es nicht einmal um die tatsächliche Position geht, die ein Anderer einnimmt, – dieser könnte ja wie im Beispiel durch die Rahmenbedingungen seines Lebens »stumpf« geworden, möglicherweise dauerhaft betrunken oder aus anderen Gründen nicht oder nur eingeschränkt urteilsfähig sein – sondern nur eine mögliche, aber von meiner verschiedene Position innerhalb der Welt. Wir erinnern uns: Auch Kants erweiterter Denkungsart ging es um »nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile« (KU B 157). Um sich diese zu vergegenwärtigen, wie es in politischer Perspektive geboten erscheint, bedarf es der Einbildungskraft als dem Vermögen, sich die besagten, nicht gegenwärtigen Positionen und Urteile zu vergegenwärtigen; sich das Abwesengenden zitiert als E. Eine vergleichbare Definition, für die Arendt Kants Anthropologie in Anspruch nimmt, findet sich im Denken, wo sie die Einbildungskraft definiert als das »Vermögen des Geistes, das Abwesende zu vergegenwärtigen« (D 82). 356 Beiner, Hannah Arendt über das Urteilen, 136 ff.
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de präsent zu machen, es zu repräsentieren. Arendt macht das Vermögen der Einbildungskraft damit zu einer Zentralinstanz aller politischen Meinungsbildung; politisches Denken bedeutet für sie Denken vor dem Hintergrund der Pluralität: »Politisches Denken ist repräsentativ in dem Sinne, daß das Denken anderer immer mit präsent ist. Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere. […] Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir von diesem Standort aus eine Meinung zu bilden.« (WuP 342)
Offensichtlich geht es Arendt hier nicht um eine sentimentale Form mitleidenden Einfühlens, wie das Beispiel des Slumbewohners es möglicherweise hatte vermuten lassen. Offensichtlich grenzt sie sich hier von Burkes Begriff der Sympathie ab, welche von diesem zwar auch als »Stellvertretung« gekennzeichnet wird, aber wesentlich auf Gefühl beruht. 357 Derartiges ist nicht Arendts Punkt; sie hat vielmehr eine Form des Fremdverstehens und In-Beziehung-Setzens im Blick, welches die eigene Position mitprägt und so zum Teil im Ganzen des eigenen Urteils wird. 358 Wir können hier die Vorstellung des Gemeinsinns als einem inter-subjektiven Vermögen mitgedacht finden, welche wir aus der Begriffsgeschichte dieses Vermögens oben herausgearbeitet hatten: 357 Burke, Edmund: Vom Erhabenen und Schönen. Hamburg 1989, 78: »Auf die erste dieser Leidenschaften ist es zurückzuführen, daß wir an den Angelegenheiten der anderen Anteil nehmen […]. Denn die Sympathie muß als eine Art von Stellvertretung angesehen werden, vermöge derer wir uns an die Stelle eines andern Menschen gesetzt sehen und in vieler Hinsicht ebenso affiziert werden, wie er affiziert wird.« Wenngleich die Formulierungen Burke stark an die von Arendt aufgenommene Formulierung des An-der-Stelle-jedes-Anderen-Denkens erinnern, beruht die Sympathie bei Burke als Leidenschaft offensichtlich auf Gefühl. Eine gefühlsmäßige Fundierung der Intersubjektivität wird bei Arendt explizit abgelehnt. 358 Wieder ist Makkreel zu erwähnen, der herausstellt, dass in dieser Möglichkeit, Teil und Ganzes in Relation zu setzen, eine eminent hermeneutische Perspektive der dritten Kritik liegt: »Das Prinzip reflektierender Urteilskraft ist gegenüber den besonderen Gehalten der Erfahrung anpassungsfähig und artikuliert Ordnung durch die wechselseitige Anpassung von Teilen und Ganzen.« Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 198.
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»Je mehr solche Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht – das die Griechen φρονησις (phronesis), die Lateiner ›prudentia‹ und das Deutsch des 18. Jahrhunderts Gemeinsinn nannten – und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.« (WuP 342)
Dieser Prozess der Meinungsbildung ist ganz wesentlich ein hermeneutischer, auf das Verstehen gerichteter Prozess, »der seinem jeweiligen Gegenstand gleichsam nachjagt und ihn ins freie zwingt, damit er sich von allen Seiten, in all seinen möglichen Aspekten zeige und so für das Verstehen transparent werde.« (WuP 343) Aus dem Gesagten erhellt, dass die Einbildungskraft von eminenter hermeneutischer Relevanz ist, da alle Perspektiven, welche in den Reflexionsprozess mit einbezogen werden sollen, mit repräsentiert werden müssen, um miteinander abgeglichen und zueinander ins Verhältnis gesetzt zu werden. Dazu ist es laut Arendt erforderlich, »daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen« (U 61). 359 Ohne das Vermögen, Abwesendes – seien es Positionen mir bekannter Anderer, seien es Positionen der philosophischen Tradition – gegenwärtig zu machen, wären Meinungs- und Urteilsbildung im beschriebenen Sinne gar nicht möglich. Da wir uns zu den gleichberechtigten Anderen in der Welt gleichermaßen urteilend in Relation setzen wie zu den Positionen der philosophischen Tradition, lässt sich in der Tat sagen, dass »Arendts Perspektive auf die Kritik der Urteilskraft von Kant sowohl Ausgangspunkt ihres Denkens im Schatten des Traditionsbruchs als auch Quelle für ihre Philosophie des Politischen ist.« 360 Dies ist gerade charakteristisch für Hannah Arendts Verständnis der Rolle der Philosophie für die Welt und das Politische: Die Philosophie kann uns beim Verstehen der Welt durchaus helfen, aber wo wir einen Philosophen in Perspektive auf die menschlichen Angelegenheiten hören und ihn für unser Anliegen der Weltsorge zu Rate ziehen, wird »seine Wahrheit eine Meinung unter Meinungen« (PuP 385), welche in den Prozess der Meinungs- und Urteilsbildung miteinfließt. Das heißt es eben, die Welt mit »von der Philosophie un359 Arendt zieht hier eine Verbindung zu Kants Besuchsrecht in der Friedensschrift; vgl. ZeF BA 40. 360 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 34.
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getrübten Augen« (GG 47) zu sehen: Die Philosophie ist nicht Lieferant übergeordneter Wahrheiten, welche die Sphäre menschlicher Angelegenheiten ornden; vielmehr wird sie im »Wohnzimmer« 361 des arendtschen Dialogs mit Welt und Tradition zum gleichberechtigen Gesprächspartner neben anderen. Die Einbildungskraft spielt also bei der »Besetzung« dieses Wohnzimmers eine entscheidende Rolle, insofern sie die Perspektiven der hier versammelten Gesellen für den reflektierenden Abgleich bereitzustellen hat; die in Arendts Urteilsbegriff mitgedachten Perspektiven der Zuschauer produzieren jedoch »keine Urteile, die dann als Prinzipen für das Handeln oder für andere Urteile gelten können, sie schaffen einen Raum, in dem die Gegenstände des politischen Urteilens, die Handelnden und Handlungen selbst, erscheinen können und verändert damit unseren Sinn dafür, was in die gemeinsame Welt gehört.« 362
Diese durch die Einbildungskraft mögliche Repräsentation von Positionen der Wirklichkeit erweitert unser Denken auch strukturell; schon Kant spricht in seiner Auseinandersetzung mit dem Geniebegriff davon, dass eine »Vorstellung der Einbildungskraft […] viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann.« (KU B 193 f.) Derartige, von Kant »ästhetische Ideen« genannte Vorstellungen, können nun dazu führen, dass sich ein »Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hierbei schöpferisch und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung« (KU B 194). Wie Zerilli herausgearbeitet hat, wird von Arendt auch dieser Gedanke aus der Systematik der kantischen Transzendentalphilosophie befreit; die »Begriffe verändernde Tätigkeit der Einbildungskraft ist nicht auf das Genie beschränkt« 363 und ermöglicht im Rahmen von Arendts Denken, dass Begriffe in aktiver Auseinandersetzung mit der Welt »schöpferisch« erweitert, verändert und transformiert werden, wo das »Präzedenzlose des Phänomens« 364 sie mit der Wirklichkeit der Welt konfrontiert. Ebendiesen Vorgang hatten wir im Rahmen dieser Arbeit in Anlehnung an Marie-Luise Knott als Verlernen beYoung-Bruehl, Hannah Arendt als Geschichtenerzählerin, 320; vgl. hierzu Kap. B.2.2. dieser Arbeit. 362 Zerilli, »Wir fühlen unsere Freiheit«, 5. 363 Zerilli, »Wir fühlen unsere Freiheit«, 6. 364 Saavedra, Eine Hermeneutik des Präzedenzlosen, 49. 361
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zeichnet. 365 Auch Saavedra rechnet die »Bildung von Begriffen« zu den kognitiven Funktionen von Urteils- und Einbildungskraft. 366 Die Einbildungskraft ist damit von zentraler Bedeutung dafür, dass wir uns nicht nur in den Überlieferungszusammenhang der Tradition hineinstellen können, sondern ermöglicht erst eine Erweiterung des Denkens, welche im Dialog mit der Tradition über das Fundament der Überlieferung hinauszugehen vermag. Arendt hielt das Vermögen der Einbildungskraft für »die vielleicht größte Entdeckung, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft gemacht hat.« (E 106) Diese Emphase für die Einbildungskraft der ersten Kritik ist möglicherweise mehr der Verehrung für ihren Lehrer Heidegger 367 geschuldet als der Sache nach begründet, denn Arendt hatte freilich nicht in erster Linie die erkenntnistheoretische Funktion des Vermögens oder seine Bedeutung für Kants Metaphysik vor Augen; vielmehr ging es ihr um die exemplarische Aneignung von Perspektiven auf die Welt: »Das gleiche Vermögen, die Einbildungskraft, das die Schemata für die Erkenntnis liefert, verschafft auch die Beispiele für die Urteilskraft.« (E 106) Hier wird erneut der für die Sphäre des Politischen relevante Unterschied sichtbar, den wir bereits herausgearbeitet sichtbar: Beim Urteilen geht es nicht um eine Wahrheit beanspruchende Erkenntnis, sondern um die exemplarische Gültigkeit reflektierender Urteile; »Wer urteilt, denkt in Beispielen – kasuistisch –, und seine Maßstäbe sind beispielhaft – Vorbilder.« (DTB 680) Auch wenn Arendt sich mit der Einbildungskraft der ersten Kritik auseinandersetzt, interessierte sie sich letztendlich für die Rolle des Vermögens innerhalb von Kants dritter Kritik, und hier – so Arendt – »[gesteht] Kant […] den BeiZum »Verlernen« bei Hannah Arendt vgl. Knott, Verlernen und Hahn, Hannah Arendt, 20, sowie Kap. C.1.3.2. dieser Arbeit. 366 Saavedra, Eine Hermeneutik des Präzedenzlosen, 46. 367 Heidegger hatte die Einbildungskraft 1929 in Kant und das Problem der Metaphysik thematisiert und damit zu einer Zeit, als Arendt Marburg zwar bereits verlassen hatte, die Beziehung aber auch noch ungetrübt war von Heideggers politischen Abwegen. Wir dürfen daher antizipieren, dass Arendt die Werke Heideggers 1929 noch begierig rezipierte. Auch wenn Arendts Lesart von Kants Einbildungskraft den zeitlichen Aspekt des Vermögens weit weniger betont als Heidegger dies tat, so atmet ihr Verständnis von der Einbildungskraft als einem zentralen welterschließenden Vermögen dennoch in mancherlei Hinsicht den Geist des Lehrers. Wir werden diesen Aspekt im Rahmen dieser Arbeit jedoch aus Platzgründen nicht in angemessener Form berücksichtigen können. Vgl. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a. M. 1951, 127 ff. 365
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spielen bei den Urteilen die gleiche Rolle zu, die die Schemata genannten Anschauungen für die Erfahrung und Erkenntnis haben.« (E 110) Die Einbildungskraft liefert uns aber nicht nur die als exemplarisch gedachten Perspektiven der Welt, sondern damit auch die Möglichkeit, im Abgleich über die Tradition hinauszugehen: »Anders gesagt, eröffnet uns das Beispiel, das die Einbildungskraft liefert, die Möglichkeit, reflektierend zu urteilen und dadurch die Beziehung zu dem Besonderen des menschlichen Handelns anders zu gestalten, als die Tradition es uns gelehrt hat.« 368 Sie ist damit ein Moment der Freiheit, welches unseren Traditionsbezug in gleicher Weise bestimmt wie unsere zwischenmenschlichen Bezüge (vgl. FuP 216). Diesen auf die Tradition zielenden Gedanken stellt Arendt als Sinnspitze ihrer Beschäftigung mit der Einbildungskraft ans Ende ihrer unterrichtlichen Vorüberlegungen zur Einbildungskraft: »Die Gültigkeit dieses Beispiels wird auf diejenigen beschränkt bleiben, die die besondere Erfahrung ›Napoleon‹ besitzen, entweder als Zeitzeugen oder als Erben dieser besonderen historischen Tradition. Die meisten Begriffe in den historischen und politischen Wissenschaften sind von dieser Art; sie haben ihren Ursprung in einem besonderen historischen Vorfall, und wir gehen hin und machen diesen dann ›exemplarisch‹ – um in dem Besonderen zu sehen, was für mehr als einen Fall gültig ist.« (E 111)
Dass auch Arendt selbst diese Form der Weltorientierung als ein hermeneutisches Unternehmen versteht, macht sie – wenngleich in einer etwas missverständlichen Terminologie – in ihrem Text über Verstehen und Politik deutlich, welcher für den Verstehensprozess einen als »circulus vitiosus« benannten, der Sache nach aber hermeneutischen Zirkel aus »vorgängigem Verstehen« und »wahrem Verstehen« annahm. Damit formulierte sie hier, auch wenn sie den Text selbst für
Zerilli, Linda M. G.: Urteilen/Einbildungskraft. In: Heuer/Heiter/Rosenmüller: Arendt Handbuch, 323–325, 325. Ob Arendt hier die Rolle der produktiven Einbildungskraft tatsächlich unterschätzt, wie Zerilli moniert, soll hier nicht entschieden werden. Vgl. Zerilli, »Wir fühlen unsere Freiheit«, 3. Feststeht, dass Arendt meinte, für die beschriebene Form eines sich selbst in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt erweiternden Denkens sei die reproduktive Einbildungskraft ausreichend und tatsächlich führte sie auch die produktive auf die reproduktive Einbildungskraft zurück, was – wie wir gezeigt hatten – abermals eine Interpretation ist, welche sich von Kants transzendentalphilosophischem Vorbild merklich entfernt (Vgl. D 92, E 105). 368
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unfertig hielt und ihn daher nicht wieder veröffentlichte, einen Gedanken, der auch in ihrem Spätwerk noch greifbar ist (vgl. D 66): »Wahres Verstehen ermüdet nicht beim unendlichen Dialog und Zirkelschluß, weil es darauf vertraut, daß die Einbildungskraft zumindest einen Schein des immer furchteinflößenden Lichts der Wahrheit wahrnimmt. […] Allein die Einbildungskraft befähigt uns, Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen, das, was zu nahe ist, in eine gewisse Distanz zu rücken, so daß wir es ohne vorgefaßte Meinung und Vorturteil sehen und verstehen können. […] Ohne diese Art von Einbildungskraft, die tatsächlich Verstehen ist, wären wir nicht in der Lage, uns in der Welt zu orientieren. Sie ist der einzige innere Kompaß, den wir haben.« (VuP 126 f.)
3.3. Bildungsphilosophische Erträge 3.3.1. Methodische Perspektiven Im hier vorliegenden dritten Teil unserer Untersuchung von Arendts Kant-Rezeption werden in methodischer Hinsicht z. T. ähnliche Ansatzpunkte deutlich, wie wir sie in den bereits vorangegangenen Kapiteln herausgestellt hatten; allerdings werden sie durch weitere, zentrale Aspekte ergänzt und dadurch zum Teil erst in ihrem vollen Sinngehalt verständlich. Wir können die methodischen Aspekte von Arendts Kant-Rezeption am Ende nun auf vier zentrale Gesichtspunkte bringen: Ihr Vorgehen ist (1) selektiv, (2) versammelnd/multiperspektivisch, (3) exemplarisch, (4) wirklichkeitsadaptiv. (1) Betrachteten wir Arendts Rezeption von Kants dritter Kritik, ihre Aufnahme von Gemeinsinn und Urteilskraft, aus der Perspektive einer strengen, kommentarischen Kant-Philologie, so stellte sich schnell die Frage, ob ihre Lesart der Kritik der Urteilskraft nicht im Wesentlichen ein Missverständnis ist. Mit einem solchen haben wir es Schleiermacher zufolge zu tun, »wenn das Ganze nicht näher (richtig) aufgefaßt ist, z. B. wenn ich für Hauptgedanken nehme, was nur Nebengedanke ist« 369 – oder umgekehrt. Und freilich kann man es für eine Verwechslung von Haupt- und Nebengedanken der dritten Kritik halten, wenn ihr Anspruch der Vollendung eines transzendentalphilosophischen Systems sehr weitgehend ignoriert wird zugunsten der Akzentuierung des Gedankens der erweiterten Denkungsart 369
Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 98.
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und einer von der Vorherrschaft des Verstandes befreiten Einbildungskraft. Arendts Zugriff auf das Werk ist daher bisweilen als einseitig gekennzeichnet worden. 370 Dies ist freilich ein in vielerlei Hinsicht berechtigter Vorwurf. Am offensichtlichsten ist Arendts stark selektiver Zugriff auf die dritte Kritik mit Blick auf den von ihr sehr stark akzentuierten Aspekt der Geselligkeit. Sicher »interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft« (KU B 162); Kant stellt dies in § 41 sehr deutlich heraus, Arendt nimmt dies auf (vgl. U 98) und der Paragraph findet eine eingehende Untersuchung – allerdings unterschlägt sie dabei, dass der besagte Abschnitt eben nur vom »empirischen Interesse am Schönen« handelt, und da ist es in der Tat so, dass das Schöne besonders unter Bedingungen der Geselligkeit von Interesse ist. Nicht berücksichtigt wird von Arendt, dass es Kant in der dritten Kritik um etwas ganz anderes geht; der das »intellektuelle Interesse am Schönen« thematisierende, folgende § 42 findet im Urteilen und auch sonst in ihrem Werk keine Behandlung, obwohl man klar sehen muss, dass hier mit Blick auf den systematischen Anspruch des Werkes zentralere Gedanken formuliert werden. Auch die Akzentuierung der zweiten Maxime des gemeinen Menschenverstandes, die »erweiterte Denkungsart«, die es nahelegt, an »der Stelle jedes andern [zu] denken«, ist freilich nur eine von drei Maximen, die den Menschen »im Plural« (U 24) behandelt, während es die beiden anderen ohne Zweifel eher mit dem Menschen zu tun haben als mit den Menschen. Handelt es sich hier also um eine Verwechselung von Haupt- und Nebengedanken, um ein Missverständnis in Schleiermachers Sinne und damit um das Gegenteil von dem die Hermeneutik umtreibenden Verstehen? Keineswegs. Wir hatten den Aspekt des selektiven Zugriffs auf die Tradition im Allgemeinen und Kant im Besonderen bereits im Anschluss an Arendts Kritik an Kants Ethik thematisiert, wo dieses Problem sich in weit höherem Maße stellte. Auch hier werden von Arendt einzelne Aspekte aus dem Gesamtkontext des kantischen Systems herausgebrochen: den Gedanke einer Freiheit im kosmologischen Verstande nimmt sie von Kant auf, während sie seinen Willensbegriff und den Gedanken des Kategorischen Imperativs klar ablehnt. Wir hatten uns mit dem grundlegenden Problem eines selektiven »Vergessens« im Zugriff auf die Tradition bereits auseinandergesetzt (vgl. Kap. 2.3.2.). Dabei war deutlich geworden, dass Arendts Fokus 370
Vgl. Kohler, Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen, 146.
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bei diesem Prozess, in dem »Perlen« aus der Tiefe der Tradition ausgewählt und herausgebrochen werden, an der Anschlussfähigkeit an einen mit der Grundbedingung der Pluralität kompatiblen Begriff der Freiheit orientiert ist. Die perlentauchende Arendt ist auf der Suche nach Begriffen, welche ihrem Verständnis des Politischen gerecht zu werden imstande sind und »im Mittelpunkt der Politik steht immer die Sorge um die Welt und nicht um den Menschen« (WiP 24). Es ist daher nur bedingt richtig, wenn Waltraud Meints schreibt: »Das Bemerkenswerte an ihrer Traditionsrezeption im Allgemeinen und ihrer Kantrezeption im Besonderen ist, dass sie ›weder in einem im Vorhinein vorgezeichneten Aspekt‹ rezipiert, noch nach dem ›Aschenputtelprinzip‹ verfährt und nach Gutdünken auswählt und verwirft.« 371 Arendts vorgezeichneter Aspekt, das ihre Rezeption leitende Kriterium war stets die Sorge um eine von Freiheit in Pluralität geprägte Welt, um deren Zerbrechlichkeit sie nur allzu gut wusste. 372 So war sie in dieser Perspektive denn auch keineswegs zimperlich, wenn es darum ging, Elemente aus Kants Projekt der Vernunftkritik aus dessen transzendentalphilosophischem System herauszubrechen und in den Kontext ihrer politischen Theorie zu stellen. Sie zögert nicht, den Gesamtzusammenhang von Kants Philosophie zu negieren und die reflektierende Urteilskraft aus dessen systematischer Architektonik zu lösen, womit sie das systematische Gebäude als solches weitgehend demontiert – obwohl mit der Unterscheidung von Verstand und Vernunft sogar zwei Pfeiler von Kants systematischer Architektonik erhalten wurden, die nicht nur zentral sind, sondern die Struktur des Gesamtgebäudes maßgeblich bestimmt, ja, dieses erst notwendig gemacht hatten. Demontage und Destruktion sind dabei sicher als Anleihen an das Werk Heideggers zu begreifen, dessen Denken für ihren Zugang zur philosophischen Tradition bis in ihre späten Schriften greifbar bleibt: »Ihr ›Leben des Geistes‹ wird darin bestehen, ihre ›Dekonstruktion‹ der Metaphysik durchzuführen, aber auch der ›neuen Welt‹ zu übermitteln. […] Das 371 Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt, 61; Meints zitiert Arendt, WiA 161. 372 Zum Begriff des »Amor mundi« vgl. Gantschow, Alexander: Von der Selbstsorge zur Sorge um die Welt – Hannah Arendts Umwendung existenzphilosophischen Denkens. In: Breier, Karl-Heinz und Gantschow, Alexander: Politische Existenz und republikanische Ordnung. Zum Staatsverständnis von Hannah Arendt. Baden-Baden 2012, 95–115, 109 ff.
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Denken der ›kontinentalen Philosophie‹ stellt sich in der Fremdsprache wie ein sorgfältiger schulischer Kommentar dar […], während sich ein unermüdliches, beunruhigendes, lebendiges Selbstgespräch der Autorin dem Dialog mit den Texten der Vergangenheit überlagert.«
Auch Kristeva reflektiert an dieser Stelle Arendts stark transformierenden Umgang mit der Tradition. »Die Autorin klärt, faßt zusammen, verknüpft, hebt hervor, wendet ein, gibt eine andere Richtung, paßt an, ohne zu verraten, aber auch ohne Furcht vor Verkürzungen und Überstürzungen.« 373 Dass der Gemeinsinn in diesem hermeneutischen Projekt schon in seiner bei Kant vorfindlichen Form eine zentrale Funktion zukommt, hat auch Rudolf Makkreel in seinem Werk über die hermeneutische Relevanz der dritten Kritik – in dem er sich explizit auf Arendt bezieht – herausgestellt: »Als Teil einer kritischen Hermeneutik sucht eine Theorie des Gemeisinns die begriffliche Klärung der Bedingungen nicht nur der Berufung auf Tradition, sondern auch der ebenso notwendigen Berufung gegen eine Tradition, die in Gadamers Theorie vernachlässigt wird.« 374 (2) Als umso wichtiger erweist sich der Gemeinsinn noch für den versammelnden Aspekt von Arendts hermeneutischem Ansatz, welcher mit ihrem Denken untrennbar verbunden ist und konstitutiv dafür, dieses als politisches Denken kennzeichnen zu können. Dieser Aspekt erweist sich, wie unser Exkurs zum Begriff des Gemeinsinns ergeben hatte, seit den Anfängen seiner Begriffsgeschichte als wichtiges Charakteristikum des Vermögens: Schon Thomas von Aquins Lesart der aristotelischen κοινὴ αἴσθησις wies diesen Aspekt insofern auf, als hier die Perspektiven verschiedener Sinne zu einer gemeinsamen Wahrnehmung versammelt werden sollten. Dieses Strukturmoment der Versammlung verschiedener Perspektiven zieht sich – entweder in intra- oder in inter-subjektiver Ausprägung – durch die Geschichte des Begriffs. Neben die eher erkenntnistheoretische, durch Zusammenführung der Informationen distinkter Sinnesvermögen eine einheitliche Wahrnehmung der Welt garantierende Funktion des Gemeinsinns tritt spätestens bei Cicero ein sensus communis, welcher den Rhetor in politischer Perspektive die Perspektiven Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 295, 293. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 203. Allerdings will Makkreel sich auch in Bezug auf »letzte Fragen der Wahrheit« orientieren – was für das arendtsche Denken sicher nur bedingt anschlussfähig ist. 373 374
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der Zuhörer zusammenführen hilft und so entdecken lässt, was – in einem Begriff des 17./18. Jahrhunderts – common sense ist. Es war bereits bemerkt worden, dass Arendt im Gemeinsinn beide Perspektiven mitdenkt, ohne hier klar zwischen dem zu unterscheiden, was unter Rückgriff auf Kohler und Wenzel in heuristischer Perspektive als intra- und intersubjektiv analytisch getrennt hatten. Hierin können wir durchaus den zentralen Kerngedanken von Arendts Kant-Rezeption sehen. Arendt bleibt ihrer Abneigung gegen Methodenreflexionen treu, wenn sie den Vorgang der Zusammenführung beider Gedanken vollzieht, ohne ihn weiter zu thematisieren; dennoch wird hier gewissermaßen die performative Einheit von Gegenstand und Methode von Hannah Arendts Kant-Rezeption sichtbar: Die perspektivenvereinigende Kraft des Gemeinsinns wird auf die in der philosophischen Tradition vorfindlichen Verständnisse des Gemeinsinnsbegriffes selbst angewendet. Arendts Denken erweist sich einmal mehr als eine Art kommunikativer Raum (»living room«, Wohnzimmer), in dem die verschiedenen Perspektiven der Tradition zu einem Gespräch zusammengeführt, versammelt werden. Hannah Arendt führt hier vor, dass man nicht nur von der griechisch-römischen Antike, sondern gleichzeitig von der angelsächsischen Tradition des Gemeinsinnsbegriffes lernen kann. 375 Dabei erweist sich der Gemeinsinn sowohl als das ermöglichende Vermögen dieses Perspektiven versammelnden Gespräches als auch dessen Gesprächsgegenstand. So gelangt Arendt zu einem Begriff des Gemeinsinnes, dessen Funktionsweise sowohl darin besteht, in intra-subjektiver Perspektive die fünf privaten Sinne in eine gemeinsame Wahrnehmung der als Erscheinung gekennzeichneten Welt zu überführen, als auch diese Wahrnehmung der Welt in inter-subjektiver Perspektive einer dialogischen Vermittlung mit gleichberechtigten Anderen der Welt wie der Geschichte zugänglich zu machen. Gemeinsinn ist die Grundbedingung solcher Mitteilbarkeit – und ohne diese ist eine gemeinsame Welt nicht denkbar. Er ermöglicht damit erst diejenige Multiperspektivität, welche für Arendts Begriff der Welt konstitutiv ist. (3) Die durch den Gemeinsinn mögliche Geistesaktivität kann insofern auch als exemplarisches Denken beschrieben werden, als der durch diesen mögliche Zugang zu weltlicher Wirklichkeit – um den es wohl jeder Bildung gehen muss – stets am Einzelnen, am 375
Kleger, Common sense als Argument (1), 193.
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Exemplar ansetzt und dieses als gleichberechtigten Teil der Wirklichkeit ernst nimmt. Dieser Gedanke war bereits als einer der innovativen Züge von Kants dritter Kritik herausgestellt worden und ist bis heute von ungebrochener Aktualität. Exemplarisches Vorgehen »zeigt am individuellen Beispiel, was daran begrifflich belastbar und insofern allgemein gültig ist. Das Einzelne ist der Ausgangspunkt allen Denkens […]. Im Exemplarischen erhält das Individuelle einen universellen Rang […]. Das Exemplarische verpflichtet uns auf die Individualität des Ausgangspunkts; zugleich ist es auf den Vergleich und die Gemeinschaft mit Anderen und Anderem angelegt.« 376
Die exemplarische Art zu denken entspricht damit Arendts Annahme der Pluralität als der zentralen Grundbedingung menschlichen Daseins: Der Einzelne bildet innerhalb der plural konstituierten Welt eine Perspektive, welche auf die Welt als das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten ebenso bezogen ist wie dieses auf ihn; er wird nicht darauf reduziert, der Spezialfall eines Allgemeinen zu sein, sondern konstituiert die Welt ebenso wie diese seine Bildung zur in der Welt erscheinenden Person ermöglicht und prägt. Pluralität bedeutet Vielheit in Verschiedenheit; und Hannah Arendt ging es in ihrer Rezeption von Kants dritter Kritik ganz maßgeblich um eine Art des Denkens, welche jedes Einzelne in seiner Individualität ernst nimmt, ohne es unter ein Allgemeines zu subsumieren. Dieses exemplarische Denken kann nun, wie wir sahen, auch auf Tradition und Geschichte gewendet werden, ohne einzelne Punkte, Werke oder Geschehnisse der Vergangenheit im Ganzen einer Geschichte aufgehen zu lassen. 377 Da dieses durch Gemeinsinn und Urteilskraft mögliche Verstehen von Gegenwart und Vergangenheit in Arendts Denken mit dem Strukturmoment der Pluralität so fest verbunden ist, hatten wir auch von einer politischen Hermeneutik gesprochen; und diese Charakterisierung können wir nun, nachdem wir den versammelnden und exemplarischen Aspekt ihres Denkens noch einmal heraus gestellt haben, nur bekräftigen. (4) Wenn wir als vierten Punkt die Behauptung aufgestellt hatten, Arendts Denken sei wirklichkeitsadaptiv, so ist hiermit gemeint, dass der Zweck der Versammlung in Arendts denkerisch-diskursivem »living-room« sich nicht auf die Versammlung von Begriffen und Positionen der Tradition beschränkt, sondern deren aktiver Konfron376 377
Gerhardt, Exemplarisches Denken, 16 ff. Vgl. Saavedra, Eine Hermeneutik des Präzedenzlosen, 46 ff.
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tation mit der weltlichen Wirklichkeit dient. Arendt war keine Museumswärterin für Begriffe der philosophischen Tradition, diese sollten vielmehr im Gespräch flüssig gehalten werden, um das phänomenal Neue, Präzedenzlose der weltlichen Wirklichkeit nicht zu verfehlen. Dieses Neue sollte in einem fortwährenden, intersubjektiven Ringen immer aufs Neue zur Sprache gebracht werden. Der späte Gadamer hatte diesen Aspekt begrifflichen Verstehens klar vor Augen, als er schrieb: »Zusammenfassend würde ich sagen, das eigentliche Mißverständnis bei der Frage der Sprachlichkeit unseres Verstehens ist ein Mißverständnis über Sprache, als ob Sprache ein Bestand von Worten und Sätzen, von Begriffen, Ansichten und Meinungen wäre. […] Nicht ihre ausgearbeitete Konventionalität, nicht die Last der Vorschematisierungen, mit denen wir überschüttet werden, ist Sprache, sondern die generative und kreative Kraft, solches Ganze immer wieder zu verflüssigen.« 378
Die begrifflich-kategoriale Dimension ist kein feststehendes Gerüst, denn jeder Begriff ist für Arendt nur ein »gefrorener Gedanke, den das Denken auftauen muß« (D 171) – und dies in aktiver Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt. Hierin besteht wohl eine der wichtigsten Funktionen der Urteilskraft; sie »belebt die Sprache und läßt sie wieder ertönen, damit die Welt uns in ihrer Vielfalt und in ihren vielen Gesichtern erscheint.« 379 Die Urteilskraft ist damit das Vermögen, das uns den Zugang zur Welt eröffnet und uns diese kategorial erschließen hilft – und beides kann wohl mit Recht als zentrales Anliegen von Bildungsprozessen verstanden werden.
3.3.2. Bildungstheoretische Überlegungen Bildung ist von Jörn Rüsen einmal treffend als der Vorgang beschrieben worden, in dem das geisteswissenschaftlich erzeugte Orientierungswissen in lebenspraktische Vollzüge solcher Orientierung umgesetzt wird. 380 Ein Ziel unserer Untersuchung hatte darum in der philosophischen Reflexion darauf bestanden, wie solche Orientierung 378 Gadamer, Hans-Georg: Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970). in: Ders.: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1993, 198–206, 206, Hervorh. R. T. 379 Saavedra, Eine Hermeneutik des Präzedenzlosen, 65. 380 Vgl. Rüsen, Orientierung, Bildung, Globalisierung, 400.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
zu begreifen ist. Dass schon Kants Überlegungen zum »gemeinen Menschenverstand« uns hier Anhaltspunkte bieten, ist unverkennbar. Volker Gerhardt zufolge bilden dessen Maximen einen kohärenten Zusammenhang: Das individuelle Selbst (1) bildet den Ausgangspunkt, welcher mit den Anderen (2) der Welt konfrontiert und zusammen mit diesen unter dem Anspruch schlüssiger Sachlichkeit (3) gestellt wird. In den Maximen des gemeinen Menschenverstandes werden diese »drei Positionen des Denkens kontinuierlich ineinander überführt« 381 . Es scheint überdeutlich zu sein, dass diese Art und Weise, Subjekt, Andere und Gegenstand aufeinander zu beziehen, bildungstheoretische Implikationen mit Blick darauf enthält, wie Weltorientierung vor dem Hintergrund kantischer Transzendentalphilosophie zu verstehen ist. »Wie zuvor nahegelegt wurde, ist der sensus communis eine Weise der Orientierung, die sich in jedem von uns finden muß. Seinen transzendentalen Status gegeben, erlaubt uns der sensus communis, dem, was gemeinschaftlich geglaubt wird, entweder zuzustimmen oder nicht zuzustimmen.« 382 Im besonderem Maße bildungsphilosophisch relevant erscheint in dieser Perspektive vor allem die zweite Maxime der erweiterten Denkungsart, da sie den Blick für eine von Pluralität geprägte Welt öffnet; Kant sprach bei dieser auch von der Maxime der Urteilskraft (im Unterschied zu den Maximen des Verstandes und der Vernunft). Die im Geschmacksurteil in Anspruch genommene, reflektierende Urteilskraft stellt Kants originäre Leistung der dritten Kritik dar, welche Arendt dazu veranlasste, sich mit dem Werk zu beschäftigen. Nun enthält schon die kantische Ausprägung des reflektierenden Geschmacksurteils bildungstheoretisch relevante Perspektiven, denn »Geschmack ist, anders als die bloße Fähigkeit zu ästhetischen Urteilen überhaupt, nicht angeboren, sondern muss in der Begegnung mit empirischen Objekten und in der Auseinandersetzung mit anderen ästhetisch urteilenden Subjekten ausgebildet werden. […] Geschmack ist nicht angeboren, während die Fähigkeit, ästhetische Urteile zu fällen, angeboren ist.« 383
Offenbar bedarf es reflektierter Prozesse der Einübung dessen, was Kant hier als Fähigkeit reflektierenden Urteilens einführt. Aus der inneren Struktur des Urteils erhellt jedoch auch, dass solche Prozesse nicht in einem technischen Sinne operationalisierbar sein können. 381 382 383
Gerhardt, Immanuel Kant, 275; vgl. ebd. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 208. Vgl. Tiffany, Der Begriff des sensus communis, 177.
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Bildungsphilosophische Erträge
Genau wie eine sich erweiternde Denkungsart von jeglicher sentimental assoziierten Empathie oder psychologisch greifbaren Form der Einfühlung klar unterschieden werden muss, »fällt das Thema ›Bildung und Gemeinsinn‹ ganz aus einer psychologistischen Sicht des Lernens heraus, womit die Entfaltung eines allgemeinen Urteilsvermögens in keinen Lehrplan ›eingearbeitet‹ oder im Unterricht operationalisiert werden kann und wohl auch nicht die Zustimmung einer sog. praxisorientierten Pädagogik gewinnen dürfte, die unter Praxisorientierung das Bereitstellen von mehr oder weniger geeigneten Maßnahmen im Lehr-LernProzess versteht […]; es gilt also vor allem das Verstehen zu fördern, mit Hilfe dessen es dem geübten Mitdenker gelingen kann, Lösungen aufgrund des jedem gegebenen Gemeinsinns aufzuspüren.« 384
Lückenlose Operationalisierung von Bildungsprozessen anzustreben, ist in vielerlei Hinsicht schlicht ein Kategorienfehler, und unsere Untersuchung hat gezeigt, dass dies besonders da gelten muss, wo Konstrukte wie eine operationalisierbare und womöglich empirischer Überprüfung zugängliche Urteilskompetenz angestrebt würde. 385 Gerade der Kompetenzbegriff ist extrem disparat und fasst sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Aktivitäten wenig sachgerecht zusammen. 386 Er suggeriert dadurch an dieser Stelle, dass Urteilsfähigkeit sich auf ähnliche Weise operationalisieren lässt wie der Umgang mit einem Beamer (Medienkompetenz) oder die Durchführung einer Gruppenarbeit (Sozialkompetenz). Zudem scheint es demjenigen, der nach Kompetenzen ruft, bisweilen eigentlich nicht Kompetenz zu gehen, »sondern schlicht um Performanz«. 387 Das in Bildungsprozessen intendierte Verstehen wird dabei allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach verfehlt, denn wie wir sahen, ist ein großer Teil des Urteilsprozesses oder seiner notwendigen Voraussetzungen gar nicht sichtbar. So ereignet sich das Denken im Rückzug von der Welt und auch was Arendt als Operation der Reflexion beschreibt, ist lässt sich nicht als Kompetenz verstehen, deren Erwerb empirisch nachweisbar wäre. Wo sich ein Bildungssystem in sinnvoller Weise als Schutzraum Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 11. Vgl. Steenblock, Was ist Philosophiedidaktik?, 24. 386 Vgl. Gruschka, Verstehen lehren, 60 ff. Gruschka verweist auf »unfreiwillig komische« Auswüchse der Tendenz, altbekannte Fähigkeiten als Kompetenzen zu formulieren, wie z. B. »Hochspringkompetenz und Korrenspondenzbriefschreibekompetenz« (ebd., 65, 16). 387 Gruschka, Verstehen lehren, 61. 384 385
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
verstehen will, da bleibt es dabei, dass es gut beraten ist, lebendige Räume der Didaktik in dem Sinne zu schaffen, dass Raum zum Denken gegeben wird und eben nicht auf lückenlose Verfahrensrationalität zu setzen, sondern vielmehr Raum zum gemeinsamen Räsonieren zu geben. Bildungsprozesse als Prozesse der Meinungs-und Urteilsbildung sind dabei offensichtlich so anzulegen, dass beide im Urteilen relevanten Perspektiven mitgedacht sind: diejenige des sprechend in Erscheinung Tretenden und diejenige des in kontemplativen Rückzug Reflektierenden. 388 Nur auf diese Weise erfüllt sich im Übrigen möglicherweise auch (oder zumindest eher) Comenius’ Versprechen seiner Großen Didaktik von 1657, nämlich dass der Lehrer weniger lehren muss und Schüler dennoch mehr lernen. Hannah Arendts politisches Denken für die Bildungsphilosophie auszuwerten, beinhaltet hier in allererster Linie eine Perspektive auf die Chance, die es mit sich bringt, den Gedanken der Pluralität im Bildungsgeschehen ernst zu nehmen. »Die Gemeinschaft ist unverzichtbar, um auf diesem Weg der Bildung eines allgemeinen Urteils voranzukommen.« 389 Das Verstehen, welches von hieraus anzustreben ist, ist ein in zweifacher Perspektive für Pluralität geöffnetes: Für die Perspektiven der Welt, welche im arendtschen »living-room« versammelt werden, und für andere Perspektiven der Welt; es ist daher auch von einer »Hermeneutik des Wir« gesprochen worden, in der für den Interpretationprozess gilt, dass »die Gesamtheit der an ihm beteiligten Individuen in gewisser Weise selbst die Stelle des Interpreten einnehmen.« 390 Eine solche »Orientierung erlaubt uns, unseren eigenen Standpunkt auf eine weitere Perspektive zu beziehen, die indirekt gegeben ist.« 391 Bildung und Urteilsbildung sind ein Geschehen, welches von Hannah Arendt her vom Subjekt weitgehend abgekoppelt und im von Pluralität gekennzeichneten Zusammenhang der Welt gesehen 388 Vgl. Rosenmüller, Treffen sich Akteur und Zuschauer?, 13 f. Was Rosenmüller ausbuchstabiert, nämlich das Zusammenspiel von »Akteursurteil« und »Zuschauerurteil« (ebd.) für die konkrete Situation des Richters, wäre in dieser Form mit Blick auf den Bildungskontext sicher auch noch eine eigene Ausarbeitung wert, konnte innerhalb der Konzeption der vorliegenden Arbeit aber in dieser Form nicht realisiert werden. 389 Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 11. 390 Sigwart, Politische Hermeneutik, 477. 391 Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 203.
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Bildungsphilosophische Erträge
werden muss, ohne dass die Person als Bezugspunkt von Bildung und Urteil dabei verlorenginge: »Überdies: Auch wenn ich Andere beim Urteilen berücksichtige, heißt das nicht, daß ich in meinem Urteil mit dem ihren übereinstimme. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht Stimmen ab, um zu dem zu kommen, was ich für richtig halte. Aber mein Urteil ist auch nicht mehr in dem Sinne subjektiv, daß ich zu meinen Schlußfolgerungen nur komme, indem ich mich selbst berücksichtige.« (B 142)
Das Eigene wird nicht durch die Position anderer ersetzt oder überformt, sondern durch diese erweitert und erschließt die Welt umso mehr, je weiter dieser Erweiterungsprozess fortschreitet. Die Welt bleibt damit stets der Rahmen dessen, was wir Orientierung nennen (vgl. Kap. B.2.1.4.). Wanninger hat herausgestellt, dass in diesem Punkt der Weltgebundenheit gerade normativer Fragen durchaus eine Nähe zum kommunitaristischen Denken Michael Walzers besteht, wenn dieser schreibt: »Erst wenn die Diskussionen eine gewisse Kontinuität annehmen und sich das wechselseitige Verstehen allmählich verdichtet, erhalten wir so etwas wie eine moralische Kultur – eine Kultur, in der das moralische Urteilen und Beurteilen, die Kriterien für die Güte von Personen und Dingen detaillierte Gestalt annehmen.« 392
Für Fragen im Bereich des Orientierungswissens hatte sich uns in der von dieser Arbeit beleuchteten Perspektive auf die Bedingungen politischen Verstehens eine in doppelter Richtung plural konstituierte Hermeneutik erschlossen. Aufgrund der Unabsehbarkeit dessen, was sich aus der freien Interaktion der hier beteiligten Akteure ergeben mag, gilt für diese Form gemeinsinn-basierter Orientierung sehr weitgehend: »Es gibt keine objektive Regel dafür!« 393 Dieser Charakter plural strukturierter und daher bisweilen unabsehbarer Praxis, den Bildungsprozesse mit politischen Meinungsbildungsprozessen teilen, spricht – wie schon beim Politischen – bei der Reflexion dieser Prozesse für einen methodischen Zugang, der sich nicht zu sehr an den Standards der Natur-, Neuro- oder empirischen Sozialwissenschaften orientiert. Denn wie für politische Prozesse gilt auch hier, dass eine reduktionistische Behandlung im Sinne empirisch vorgehender Wissenschaften das in den Bereichen inter392 393
Walzer, Michael: Kritik und Gemeinsinn, Frankfurt a. M. 1993, 35. Wanninger, Bildung und Gemeinsinn, 15.
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
subjektiver Interaktionsprozesse ruhende Potential letztlich nicht zu greifen vermag: »Da der ›kritische‹ Wissenschaftsbegriff der Neuzeit darin begründet ist, daß Gewißheit in der Erzeugung und Produktion des Gegenstandes der Erkenntnis gefunden werden kann, wird Erkenntnis zum poietisch-herstellenden Verfahren und vermag gemäß der Einsicht in die eigene Struktur als ›Handeln‹ nur noch zuzulassen und anzuerkennen, was von der Art der eigenen Aktivität ist.« 394
Von dieser Tendenz des neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsparadigmas zeigen sich heute auch weite Teile der sogenannten »Bildungswissenschaften« ergriffen und uns bleibt kaum mehr, als ihnen die Argumente von Vico bis Arendt entgegenzuhalten und zu konstatieren, dass es sich um einen Übergriff in eine wesensmäßig anders konstituierte Sphäre handelte, Bereiche plural verfasster menschlicher Interaktion nach empirisch verifizierbaren Verfahrensweisen gestalten zu wollen. Hier endet empirische Wissenschaft; mehr noch: »Die Verwendung von Wissenschaft im politischen Bereich dispensiert nicht vom Gebrauch der Urteilskraft, sie fordert ihn vielmehr heraus.« 395 Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass empirische-quantitative Wissenschaften innerhalb der Bildungswissenschaften gar keinen legitimen Platz hätten, »aber als Mittel zu einem Zweck; dieser ergibt sich aus einer Entscheidung darüber, was sich zu wissen lohnt, und diese Entscheidung kann keine wissenschaftliche sein.« (D 63) Das Geschäft der Didaktik bleibt damit eines, das auf der Fähigkeit reflektierenden Urteilens ruht – und nicht durch die Methoden quantitativ-empirischer Wissenschaften ersetzt werden kann. Diese Einsicht bezieht auch Arendt durchaus auf den Bildungsbereich, wenn sie die »technische Struktur des Schulsystems« beklagt und als Folge des verlorenen Gemeinsinns interpretiert. (vgl. KdE 260 f.) Von Arendt her gedacht schließt die Alternative an einer Vorstellung vom Leben des Geistes an, welches diesen als einen mittels seiner Einbildungskraft weitgehend frei agierenden Geist begreift. Als Vermögen der Bildkonstitution ist die Einbildungskraft offenkundig von direkter Bedeutung für die Orientierung, welche wir als wesentliches Anliegen von Bildungsprozessen bereits herausgearbeitet hatten (vgl. Kap. B.2.1.): 394 395
Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 32. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 44.
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Bildungsphilosophische Erträge
»Die eigentümliche, von der Zeitlichkeit (genetisch) motivierte Verräumlichung der Orientierung, von der wir hier sprachen, drückt sich auch in dem vielfältig verwendeten Begriff des ›Bilde‹ aus. ›Sich orientieren‹, ›orientiert sein‹ heißt auch, ›sich ein Bild machen‹ können und ›ein Bild abgeben‹. Bild sollte dabei nicht einfach als ›Abbild‹ verstanden werden, sondern eher als Konstitution der Wirklichkeit, wie sie sich in der Orientierung einstellt.« 396
Gerade Kants Begriff der Einbildungskraft ist dabei natürlich auch vor dieser Arbeit schon als eine zentrale, »›bildende‹ Kraft« 397 des Menschen in Anspruch genommen worden. 398 Die Einbildungskraft ermöglicht uns eine innere Repräsentation dessen, woran wir wachsen können – und nichts anderes geschieht wohl in Prozessen der Bildung. In dem, was sich unsere Einbildungskraft erschließt, sind wir im Rahmen reflektierender Urteile frei – von der Empirie wie der Tradition. »Wir ›sind‹ nicht geschichtlich, sondern haben Erinnerung« (DTB 290); und diese Erinnerung ist ein aktiver Prozess, kein passives In-einem-Überlieferungszusammenhang-Stehen. Dass für Arendt die aktive Gestaltung dieser Erinnerung mittels der eigenen, freien Einbildungskraft für die Bildung von immenser Bedeutung war, belegen die Vorbereitungsnotizen ihrer eigenen Veranstaltungen. 399 Arendt selbst sagte Studierenden gegenüber mit Blick auf ihr Seminar, sie »hätte diesen Kurs Übungen in Einbildungskraft nennen können – Das einzige Ziel ist es, Erfahrungen wiederzugewinnen.« (PE 217) Erst durch die von der Einbildungskraft ermöglichten Vorstellungen von anderen Perspektiven der Welt wird verstehendes Urteilen möglich – das war der Gedanke, der Arendts eigene VeranstaltunOrth, Orientierung über Orientierung, 41. Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft, 7. 398 In einer stark von Genot und Hartmut Böhmes Sicht auf Kant geprägten Perspektive für die Pädagogik vgl. Holzapfel, Günther: Leib, Einbildungskraft, Bildung. Nordwestpassagen zwischen Leib, Emotion, und Kognition in der Pädagogik. Bad Heilbrunn 2002; sowie mit Blick auf neuere Diskussionen in der Philosophie und mit Blick auf die Problematik des Fremdverstehens eines Anderen vgl. Mayer, Ralf: Die Abgründe der Einbildungskraft als Bildungskraft. XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11.–15. September 2011, LMU München; http://epub.ub.uni-muenchen.de/ 12445/1/Abgruende-der-Einbildungskraft_Open-Access-LMU.pdf 399 Vgl. Arendt, Hannah: Politische Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Seminarnotizen 1955 und 1968. in: Heuer/von der Lühe, Dichterisch denken, 213–223, im Folgenden zitiert als PE; sowie dazu Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 204 ff. 396 397
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Gemeinsinn und Urteilskraft als politische Vermögen
gen prägte und der auch für sie selbst offenkundig eminent bildungstheoretische Relevanz besaß. So rief sie ihren Studierenden 1955 zu: »Sie sollten sich vorstellen, wie die Welt von dem anderen Standpunkt aussieht, wo sich diese Menschen befinden.« (PE 215) Dazu passte, dass sie als Seminarliteratur wenig theoretische, politologische Literatur vorgab, sondern im Wesentlichen Biographien, Erinnerungen und Literatur. 400 Die Lektion, die ihre Studierenden lernen sollten, war die, dass es zum Verstehen nicht reicht, die Perspektiven der Welt zu benennen. Um einen Sinn in den Ereignissen der Welt sehen zu können, erschien ihr vielmehr notwendig, diese als Geschichte erzählen zu können – auch aus der Perspektive des Anderen. Dies gehörte für sie zu den »Übungen zu Begriffen« (ZvZ 157), welche die eigenen Kategorien an der Welt schärfen sollten – und zu der Fähigkeit repräsentativen Denkens, von der sie annahm, dass sie »wie alle tätige Erfahrung, nur durch die Praxis, durch Übungen erworben werden« (ZvZ 17) kann. Arendts eigenes »Bildungskonzept« ist damit einerseits narrativ geprägt und andererseits begrifflich-kategorial; beide Aspekte sind ineinander verschränkt und ermöglichen einander gegenseitig. »Arendt ging es nicht darum, eine metaphysische Natur des Menschen zu bestimmen; sie wollte Kategorien finden, die Möglichkeitsstrukturen des Politischen offenlegen – das, was Koselleck die Bedingungen menschlicher Geschichten nennt.« 401 Auch dieser narrative Zug von Arendts Hermeneutik entbehrt nicht einer pluralen Charakteristik; vielmehr denkt Arendt auch die Narration vor dem Hintergrund des menschlichen Bezugsgewebes, in das jede Handlung einen neuen Faden schlägt; auch die Narration ist damit »im Plural deklinierbar«. Es handelt sich also nie nur um die Erzählung eines Einzelnen, sondern diejenige einer »community of memory« und damit um eine »chorale Erzählung« 402 . Verstehen, Narration und Urteilen bleiben für Arendt innerhalb der von Pluralität gekennzeichneten Struktur eines am Vorbild des Politischen gewonnenen, lebendigen Erfahrungsraumes stets aneinander gebunden – und dieses Modell lebendiger Erfahrung ist es wohl, was wir aus bildungsphilosophischer Perspektive von Hannah Arendt lernen können:
Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 199. Hoffmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, 193. 402 Saavedra, Eine Hermeneutik des Präzedenzlosen, 52. 400 401
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Bildungsphilosophische Erträge
»Verstehen und Urteilen kann nicht abstrakt mit Benennungen, sondern nur konkret mithilfe der Verbildlichung stattfinden. Die eigenen Erfahrungen oder die Erfahrungen anderer zu erzählen, setzt diese Fähigkeit der Einbildung voraus. Wenn nun Eichmann, wie Arendt es ausdrückte, sich ›niemals vorgestellt [hat], was er eigentlich anstellte‹, so fehlte ihm nicht nur die Vorstellungskraft, sondern er hatte auch die Fähigkeit des Erzählens verloren.« 403
Erst in der Narration erreichen wir also den vollen Sinn dessen, was es heißt, »an der Stelle jedes anderen denken« (KU B 158) zu können.
403
Heuer, Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen, 204.
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D. Das Wagnis der Bildung
Bildung ist der Versuch, in der auf Pluralität gründenden Interaktion von Menschen und Gegenständen zu einer Klärung dessen zu gelangen, wer wir sein werden. Das Ergebnis dieser Interaktion ist vor dem Eintritt in dieses handelnde Geschehen nicht vorwegzunehmen oder zu berechnen. Bildung ist ein Wagnis. Kein Fortschritt könnte an diesem Befund etwas ändern. Dieses Bildungsgeschehen ist auch nicht durch alternative, technische Verfahren oder Methoden zu beschleunigen oder in seinem Verhältnis von aufgewendeter Zeit und Ertrag zu optimieren; das Ergebnis eines solchen Versuches liefe immer nur auf eine Simulation desjenigen Geschehens hinaus, um das es eigentlich geht. Wir stellen fest: Bildung verträgt sich ganz grundsätzlich nicht mit dem Gedanken der Effizienz, er ist ihr wesensmäßig fremd. Denn Effizienz ist keine Kategorie des Handelns, sondern des Herstellens, und ihrer inneren Logik nach ganz wesentlich eine Idee »der Neuzeit, mit ihrem anfänglichen Interesse an greifbarer Produktivität und nachweisbaren Profiten und ihrer späten Leidenschaft für reibungsloses Funktionieren« (VA 278 f.). Es gehörte zu Arendts Kritik an der Neuzeit, dass diese die Tendenz habe, wo es nur möglich erscheint, »Handeln durch Herstellen zu ersetzen« (VA 278). Diese Tendenz geht Arendt zufolge Hand in Hand mit dem Siegeszug eines auch die Sozialwissenschaften erreichenden, empirischen Paradigmas von Wissenschaftlichkeit. »Als Handeln wird nur noch zugelassen, was dem Charakter […] berechnend-konstruierenden Wissens entspricht, d. h. das herstellende Tun« 1 . Und dieses den empirischen Naturwissenschaften entstammende Paradigma wirkt damit als ein Reduktionismus auf die Phänomenalität des Politischen. Ein Methodenstreit der politischen und historischen Wissenschaften? Eher eine Zeitdiagnose, welche die Ak1
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Das Wagnis der Bildung
tualität von Arendts Denken allerdings offen zutage treten lässt – und es besteht Grund zu der Annahme, dass die von Arendt diagnostizierte Entwicklung auch die gegenwärtige Reflexion auf Unterrichts- und Bildungsprozesse inzwischen recht weitgehend prägt. So wurde in Reaktion auf einen Vortrag zu einem Thema philosophischer Bildung von einer Vertreterin der Fachdidaktik des Schulfaches Pädagogik (!) vor nicht allzu langer Zeit 2 folgende Frage gestellt: Wie es denn sein könne, dass der Referent so stark am Bildungsbegriff festhalte? – Bildung sei doch schließlich etwas, was über den Bereich des mittels empirischer Methoden Greifbaren weit hinausgehe – und damit zugleich aus dem Bereich dessen, was heute noch sinnvollerweise unter Didaktik verstanden werden könne, herausfalle. Obwohl wie eine Verteidigung des klassischen Bildungsbegriffs gegen eine Instrumentalisierung durch die Didaktik vorgetragen, wird dieser hier doch de facto auf ein unverdientes Altenteil geschickt – was letztlich nur symptomatisch ist für eben die Entwicklung, welche Arendt in ihrer großen Erzählung der Neuzeit beklagt: Handeln wird auf Herstellen reduziert, indem eine quantitativ strukturierte Methodik den Bereich des Zulässigen auf dasjenige beschränkt, was dem eigenen methodischen Paradigma entspricht. Auch die »Vorstellung von Bildungsstandards legt nahe, dass die Schule ihren Output (›Kompetenzen‹) so produziert wie eine Fabrik ihre Produkte.« 3 Was Arendt für den Bereich des Politischen kritisierte, ist jedoch auch für unseren Problembereich eine fatale Entwicklung, denn BilDie besagte Veranstaltung war eine Vortragsreihe verschiedener Fachdidaktiker geisteswissenschaftlich geprägter Unterrichtsfächer und anderer Bildungsforscher, welche im Jahr 2010 von Volker Steenblock und Marko Demantkowsky an der RuhrUniversität Bochum veranstaltet wurde. Der Name der Fragestellerin soll hier ungenannt bleiben, da nur auf eine persönliche Mitschrift des Verfassers zurückgegriffen werden kann und die Diskussionsbeiträge unveröffentlicht blieben. Der Vortrag, welcher zu der Äußerung herausforderte, war der Beitrag von Ekkehard Martens. Die Hoffnung der Veranstalter, die Fachdidaktiken der »kulturwissenschaftlichen« Fächer zu einer »Schicksalsgemeinschaft« zusammenzuschweißen, ging an dieser Stelle offensichtlich nicht recht auf. Steenblock, Volker und Demantkowsky, Marko: Ein Gespräch der »Fachdidaktiken« – wozu? Zur Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Selbstdeutung und Fremdkonzept. Die Didaktiken der kulturwissenschaftlichen Fächer im Gespräch. Bochum, Freiburg 2011, 9–18, 10. Der Band versammelt alle Vorträge der Reihe. 3 Ladenthin, Volker: Das Verhältnis von Religion und Pädagogik in der Praxis. In: Groß, Engelbert (Hrsg.): Erziehungswissenschaft, Religion und Religionspädagogik (Forum Theologie und Pädagogik). Münster, 2004, 125–152, 134. 2
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Das Wagnis der Bildung
dung ist ein praktischer, kein poietischer Prozess. 4 Bildung »[wird] nicht in der Weise der technischen Abzweckung hergestellt« 5 . Wo diese Einsicht in Vergessenheit gerät und das dem Bildungsprozess aneignende Moment von Freiheit in Pluralität verlorengeht, können wir eine Tendenz diagnostizieren, welche Ernst Vollrath – aufbauend auf Arendts Gedanken zum Verlust des Gemeinsinns – als Folge eines nach einem naturwissenschaftlichen Paradigma überformten Politikverständnis kritisierte: »Die Frage ist heute, ob sie [die Menschen, R. T.] gemäß den Bedingungen unseres Zeitalters dann noch als Menschen diese Welt bewohnen oder nur noch als technisch sich selbst dressierende Lebewesen.« 6 Was können wir aber, neben dieser so noch etwas grundsätzlichen Zurückweisung der Anwendung poietischer Kategorien auf den praktischen Prozess der Bildung aus unserer Untersuchung nun konkret für die Gestaltung von Bildungsprozessen ableiten? Schlicht ableiten in einem logischen Sinne können wir freilich gar nichts, da dies von seiner inneren Logik her ebenfalls schnell in eine Spannung zu einem freiheitlich gedachten Bildungsgeschehen geraten müsste. In Arendts Begriffen müsste ein solches Vorgehen damit gerade auf das hinauslaufen, was sie als ideologisch ablehnt. Auch Bildung hat sich im Rahmen unserer Arbeit ja gerade als etwas herausgestellt, was nicht als ein begrifflich feststehendes Allgemeines existiert, dem der Einzelne nur mehr oder weniger stark entspricht. Es gibt vielmehr eine Pluralität sich bildender – und das heißt wesentlich: in diesem Geschehen zu Personen werdender – Menschen, welche durch ihre Intention des Sich-Bildens aufeinander und auf die Tradition verwiesen sind. Wie wir gesehen hatten, ist dieses Geschehen ganz wesentlich ein Versuch, sich in der Welt zu orientieren. Solche Orientierung kann unter den Bedingungen der Spätmoderne und nach dem Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts nicht mehr ganz selbstverständlich unter Rückgriff auf eine allgemeine, abstrakte Idee des Menschen oder eine wie auch immer geartete, alles überwölbende Meta-Erzählung bewerkstelligt werden. Hannah Arendts Mahnung bestand hier gerade in dem Hinweis darauf, dass unser Traditionsbezug unter diesen Bedingungen stark gefährdet ist. »Die Dringlichkeit, eigene theoretische Kategorien des Politischen zu 4 5 6
Vgl. Schweidler, Bildung als Chance, 52. Gadamer, Wahrheit und Methode, 17. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 23.
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entwickeln, ergab sich für Arendt aus den geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts selbst.« 7 Begriffe und Maßstäbe der Tradition waren durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts so weitgehend unbrauchbar geworden, dass es war, »als ob uns alle Kategorien des Denkens und Maßstäbe des Urteilens gleichsam unter der Hand explodierten, sobald wir sie hier anwenden wollen.« 8 Der prominenteste Fall einer solchen Explosion war wohl der der Tradition entlehnte Begriff des radikal Bösen, dessen Bedeutung Arendt in der Anwendung auf die Verbrechen Adolf Eichmanns durch die Finger rann – und damit vielleicht vielmehr implodierte und in sich zusammenfiel: Arendts sie selbst und viele Andere befremdende Entdeckung war es, dass das größte bisher dagewesene Böse gar nicht radikal war in dem Sinne, dass es tief in der Persönlichkeit des Verbrechers wurzelte, sondern vielmehr in dem Sinne banal, dass die Oberflächlichkeit des Betreffenden eine tiefe Verwurzelung in dessen Person und Denken aufgrund mangelnder Tiefe von dessen Persönlichkeit (ein »Hanswurst«!) gar nicht zuließ. 9 Dieser Gedanke wurde für Arendt zum zentralen weltlichen Ausgangspunkt, um der Unangemessenheit von Begriffen der Tradition auch in philosophischer Perspektive weiter auf den Grund zu gehen. (Vgl. D 13) Gleichzeitig scheint eine Welt-Orientierung ganz ohne eine Bezugnahme auf die Tradition schwer darstellbar zu sein. Es bedarf daher einer neuen Vorstellung davon, in welchem Verhältnis zueinander Orientierung und Traditionsbezug heute gedacht werden können; und dieses Verhältnis – so hatten wir von Hannah Arendt her gezeigt – kann nur aus dem pluralen Weltzusammenhang selbst heraus verstanden werden. Die Metapher des Auf-den-Grund-Gehens trifft dabei schon sehr direkt die Form des Traditionszugriffes, den Arendt in Auseinandersetzung mit Walter Benjamin ausbuchstabierte: Da Vergangenheit und Tradition für Arendt nur noch in gebrochener, fragmentierter Form vorlagen, musste es die Aufgabe des die Tradition befragenden Hoffmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, 199. 8 Arendt, Hannah: Die Menschen und der Terror. In: Meints, Waltraud und Klinger, Katherine (Hrsg.): Politik und Verantwortung – Zur Aktualität von Hannah Arendt. Hannover 2004, 53–63, 58. 9 »Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, dass dieser Mann kein Ungeheuer war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, daß man es mit einem Hanswurst zu tun hatte.« Eichmann 132. 7
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Das Wagnis der Bildung
Perlentauchers sein, auf den Grund der Tradition zu tauchen, um dort Perlen und Bruchstücke der Tradition aus dem überkommenen Überlieferungszusammenhang zu brechen, diese an die Oberfläche der erscheinenden Wirklichkeit zu bringen und so in Auseinandersetzung mit dieser »neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen« (WB 62) zu lassen. Arendts viel kritisierter Begriff der Banalität des Bösen stellte das Ergebnis eines Lernprozesses dar, in welchem ein Begriff der Tradition zwar als Fragment aufgenommen, in Abgleich und Auseinandersetzung mit der lebendigen Wirklichkeit der Welt aber in eine am weltlichen Phänomen orientierte Neubildung umgelernt wurde; es war auch vom Verlernen eines Begriffs in einen anderen die Rede gewesen. 10 Die Banalität des Bösen ist dabei nur der bekannteste Fall eines solchen Kristallisationsprozesses; der Gedanke des Perlentauchens kann als durchgängiges Strukturelement von Arendts Methode des Zugriffs auf die Tradition gelten. Er ist damit eine Metapher für die von Arendt intendierte »›Übung‹ im Denken […], deren Hauptaufgabe es ist, […] jene ›Perlen‹ der vergangenen Erfahrungen mit ihren sedimentierten und verborgenen Bedeutungsgeschichten zu bergen, um aus ihnen eine Geschichte herauszulesen, die dem künftigen Denken Orientierung geben kann.« 11 Dieser sinnstiftende Wechselbezug von Welt und Tradition ist hier als ein hermeneutischer Zusammenhang gekennzeichnet worden. Pluralität und Freiheit, als konstitutive Momente des Weltzusammenhanges, werden zu regulativen Interpretamenten eines Traditionsbezuges, welcher eben diesen freiheitlich-pluralen Weltzusammenhang zu erhalten anstrebt; Arendt nannte diese Intention amor mundi, Liebe zur Welt. Wenn wir gezeigt hatten, dass Arendt die Momente der Freiheit und der Pluralität in ihrem Traditionsbezug und ihrer Kant-Rezeption stets bereits mitdenkt und diese als eine Art Fokus für Auswahl und Transformation von Bruchstücken der Tradition fungieren, so handelt es sich dabei nicht um allgemeine Begriffe, aus denen Schlussfolgerungen für unser Welt- oder Traditionsverhältnis schlicht logisch abgeleitet würden. Freiheit und Pluralität »sind keine abstrakten moralischen Maßstäbe, sondern entspringen aus konkreten Erfahrungen und werden gewonnen im Miteinander der Menschen, 10 11
Knott, Verlernen, 61 ff. Benhabib, Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, 156.
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dem ›Erscheinungsraum‹ des Politischen.« 12 Freiheit und Pluralität entsprechen also vielmehr der grundlegenden politischen Erfahrung gerade derjenigen menschlichen Praxis, in welcher der Orientierungsprozess des Bildungsgeschehens seinem Wesen nach selbst besteht. Wir hatten diese Art des Welt- und Traditionsbezuges darum auch als politische Hermeneutik charakterisiert. Dass ein Traditionsverhältnis, welches auch als »Verfahren des historischen Zitats« 13 bezeichnet worden ist, Auslassungen mit sich bringt und der Zugriff auf die Positionen der Tradition immer nur fragmentarisch und nicht in dem Sinne systematisch erfolgt, dass etwa die Rolle einzelner Begriffe und Gedanken innerhalb des kantischen Systems weiter Beachtung finden würde, liegt in der Natur der Sache begründet, oder besser: im Wesen des Erinnerns. Unser kurzer Seitenblick auf Ricœur hatte gezeigt, dass Erinnern stets mit Vergessen einhergeht, ja, ohne dieses letztlich gar nicht denkbar wäre. Arendts Methode des Zugriffs auf die philosophische Tradition ist hier besonders aus zwei Gründen am Beispiel ihrer Kant-Rezeption herausgearbeitet worden. Der erste war schon zu Beginn der Untersuchung offensichtlich gewesen: Aufgrund der »ununterbrochenen Anwesenheit des kantischen Denkens im Werk Hannah Arendts« 14 erschien Kant sogleich als ein Denker, an dem Arendts Methode politischer Hermeneutik Anwendung gefunden haben musste. Darüber hinaus hat unsere Untersuchung aber ergeben, dass die Aufnahme kantischer Gedanken und Begriffe auch für die Konstitution der Rezeptionsmethode, welche auf sein Werk Anwendung findet, von ganz wesentlicher Bedeutung ist. Das zentrale, in sich bereits politisch verfasste Vermögen des Menschen ist dabei der Gemeinsinn, der sensus communis, als der in sich bereits plural strukturierte Sinn für die Gemeinschaft: »Der Gemeinsinn kann die Urteilskraft des Individuums auf die umfassendere Perspektive der Gemeinschaft orientieren und liefert so die Grundlage für das, was Kant eine erweiterte Denkungsart nennt.« 15 Die Erweiterung der Denkungsart unter Einbeziehung der möglichen und wirklichen Urteile Anderer ist dabei Hoffmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, 196. 13 Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, 19. 14 Trawny, Verstehen und Urteilen, 269. 15 Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 201. 12
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imstande – und hier liegt die Pointe des Gemeinsinns als dem Zentralvermögen politischer Hermeneutik – sowohl die lebendigen Perpektiven Anderer in der gegenwärtigen Welt zu berücksichtigen als auch die Perspektiven der Tradition. »Das hermeneutische Ideal, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat, kann auch als ein Fall erweiterter Denkungsart verstanden werden, der sich ebenfalls auf den Gemeinsinn stützt. Dieses Ideal […] wurde bereits von Kant formuliert in seiner Erörterung der Ideen bei Plato in der Kritik der reinen Vernunft.« 16
Dieser Gedanke wird nun auf Kants dritte Kritik selbst zurückgewendet, indem diese als Kants eigentliche politische Philosophie verstanden wird – und damit Arendts Auffassung nach besser, als Kant selbst es tat. Zudem wird das konstitutive Charakteristikum des Gemeinsinns – die Versammlung verschiedener Perspektiven, wie sie in der gesamten Begriffsgeschichte des sensus communis in verschiedenen Spielarten greifbar und damit das tertium comparationis der vielfältigen Ausprägungen des Begriffs ist – auf den Gemeinsinn selbst angewendet, indem die in der Tradition vorfindliche Pluralität begrifflicher Ausprägungen in Arendts Begriff des Gemeinsinns versammelt werden und dieser so eine charakteristische Ausprägung – Begriffsbildung – findet. Kants Gedanke der erweiterten Denkungsart wird damit zur konstitutiven Denkfigur des ganz Arendt-spezifischen hermeneutischen Zirkels innerhalb ihrer politischen Hermeneutik. Er öffnet den Reichtum der Tradition mit ihren mannigfaltigen Positionen und Perspektiven für die Pluralität der Welt. Der Gemeinsinn und das Prinzip der sich erweiternden Denkungsart sind dabei der systematische Ort, an dem die Perspektiven der Tradition und der Welt versammelt und zu einem Urteil gebündelt werden. Die einzelnen Perspektiven verlieren vor dem Hintergrund eines solchen Denkens den Makel des Einzelnen, des bloßen Exemplars und werden stattdessen als konstitutive Elemente eines erst durch sie zu erschließenden, allgemeinen Standpunktes zu einem Besonderen, das darum als Exemplarisches verstanden werden kann. Dass wir in der Lage sind, diese exemplarischen Positionen und Weltperspektiven Anderer miteinander ins Gespräch zu bringen, obwohl diese zum größten Teil nicht physisch zugegen und die Positio16
Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 205.
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nen daher nicht (alle) im tatsächlichen Gespräch gegenwärtig sein können, liegt an der besonderen Fähigkeit des Menschen, solches Abwesende zu vergegenwärtigen. Besonders wichtig ist dies mit Blick auf den Traditionsbezug, besteht unsere Aufgabe hier doch gerade darin, die Vertreter der philosophischen Tradition als Dialogpartner zurückzugewinnen. 17 Dieses Vermögen, möglichen und wirklichen Perspektiven der Gegenwart wie der Vergangenheit eine Präsenz zu verschaffen, welche ihnen möglicherweise de facto nicht zukäme, sah Arendt in der Einbildungskraft als dem Vermögen der Repräsentation dessen, was ohnedies nicht präsent wäre. Durch diese Repräsentation mannigfaltiger Perspektiven schafft uns die Einbildungskraft einen Raum lebendiger dialogischer Interaktion, der unter Rückgriff auf Knott und Jaspers als »living-room« gekennzeichnet worden war – als das »Wohnzimmer«, in dem ein dialogisches Traditionsverhältnis zu gelebter Praxis werden kann. Dass dieses Bild das Potential birgt, zum »Leitbild« 18 eines das Politische ernst nehmenden Bildungsbegriffs zu werden, ist kaum von der Hand zu weisen. Bildung von Hannah Arendt her zu denken muss bedeuten, die Rezeption von Philosophiegeschichte nicht zu einem Vorgang verdinglichender Rezeption verkommen zu lassen, sondern als einen »lebendigen Raum«, ein »Laboratorium des politischen Denkens« 19 . Wenn man allerdings versucht, dem arendtschen Gedanken der Pluralität auf dem Wege nachkommen zu wollen, dass man aus dieser auf verschiedenen methodischen Ebenen unterschiedliche Sozialformen abzuleiten versucht, wird man damit das bildungsphilosophische Potential von Arendts Werk kaum ausschöpfen. 20 Freiheit in Pluralität bedeutet für den Bildungsbegriff mehr als Gruppenarbeit und Podiumsdiskussionen. Doch wo genau liegen nun diese Potentiale? »Dies ist unsere Welt.« (KE 270) – so wurde in Arendts Erziehungsaufsatz die Kernbotschaft dessen formuliert, was Erziehung zu sein habe. Dies reicht als für Bildungskontexte sinnvoll zu übernehmendes Traditionsver-
17 18 19 20
Vgl. Schnädelbach, Morbus hermeneuticus, 284. Vgl. Breier, Leitbilder der Freiheit, 83 ff. Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 89, vgl. ebd., 94 f. Vgl. Oeftering, Das Politische als Kern der politischen Bildung, 221 ff.
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hältnis freilich nicht aus und steht auch in einer deutlichen Spannung zu Arendts sonstigem Werk. Denn Arendt ging es nie darum, die Tradition »so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen.« (WB 62) Der exponierte hermeneutische Gedanke, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, darf auch mit Blick auf Bildungsprozesse als sinnvolle regulative Idee ernst genommen werden. Dass Arendts Gedanken zum Bildungskontext viel weiter gingen, als der frühe Erziehungstext nahelegt, lässt sich schon daran erkennen, dass auch einige ihrer wichtigsten politischen Schriften – Freiheit und Politik und Was ist Politik? – im weiteren Sinne didaktischen Kontexten entstammen. Wie eine Bildung zur Freiheit genauer aussehen könnte – dazu hat sich Arendt freilich nie konkreter geäußert. Für unseren bildungsphilosophischen Kontext ist hier von Interesse, dass Arendt Freiheit im Kontext von Urteilsprozessen »als ein Prädikat der Einbildungskraft« verstanden wissen will und sie betont, dass »die Einbildungskraft […] aufs Engste mit jener ›erweiterten Denkungsart‹ zusammen [hängt], welche die politische par excellence ist.« (FuP 216) In der Einbildungskraft liegt damit offensichtlich eine wichtige Quelle unserer Freiheit – für unser Denken, Urteilen und Handeln. Arendt riet ihren Studenten gerade mit Blick auf die Entwicklung ihrer Einbildungskraft, die eigene Aufmerksamkeit von politischen oder gar philosophischen Theorien auf stärker narrativ geprägte Literatur zu verschieben: »Wir wollen mit direkten Erfahrungen konfrontiert werden« (PE 217). Dies kann uns mit Blick auf den philosophischen Anspruch unserer Untersuchung stutzig machen – oder uns daran erinnern, dass es auch mit Blick auf eine spätere begriffliche Durchdringung gerade didaktisch seinen Wert haben kann, sich zunächst ein konkretes, anschauliches Bild davon zu machen, wie sich Dinge in ihrer weltlichen Phänomenalität verhalten. Arendts Seminarnotizen zeugen hier jedenfalls davon, dass sie Anschaulichem nicht nur illustrativen oder anekdotischen Wert beimaß, sondern hier gerade einen notwendigen Zugang zum Begrifflichen und Allgemeinen sah. So schreibt sie in ihren Vorlesungsnotizen über das Zusammenspiel von Einbildungskraft und erweiterter Denkungsart und ihr eigenes, wesentlich auf biographisches Material gestütztes Veranstaltungskonzept:
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»Das ist nicht Empathie: Es wird nicht von einem erwartet so zu fühlen, wie sie gefühlt haben, sondern sich durch das Kennenlernen ihrer ›Gefühle‹, ›Denken‹ etc., vorzustellen, wie man selber gefühlt, gedacht, etc. hätte. Man denkt seine eigenen Gedanken, aber an der Stelle von jemand anderem. Nur wenn man seine eigenen Gedanken denkt, kann man eigentlich erfahren, wenn auch auf eine vermittelte Weise, repräsentierend. Diese Art der Einbildungskraft zu üben, ist die Bedingung des Urteilens« (PE 218)
Die Einbildungskraft ermöglicht es uns, einen unvoreingenommenen, »von der Philosophie ungetrübten« (GG 47) Blick einzunehmen, der nicht durch vorgefertigte begriffliche Ordnungen geleitet wird. Hannah Arendt sah darin ein Moment der Freiheit, die im Urteil zum Ausdruck gebracht kann. Wenn sie es offenbar für wichtig hält, »diese Art der Einbildungskraft zu üben« (PE 218), so dürfen wir hierin durchaus die bildungsphilosophische Perspektive einer Bildung zur Freiheit vermuten, die Arendt selbst nie ausformulierte. Da es Beispiele sind, welche die Einbildungskraft zur Repräsentation bringt, liegt hier auch eine Begründungsmöglichkeit für eine Form exemplarischen Lernens, das mehr sein will als die notgedrungene Konsequenz aus der banalen Tatsache, dass man der schieren Stofffülle in der Praxis der Lehre oft nur durch selektierende Auswahl nachzukommen imstande ist und sich daher berechtigt sieht, den berühmt-berüchtigten »Mut zur Lücke!« zu propagieren. Dies alles hat mit exemplarischem Denken und Lernen wenig zu tun. Vielmehr lässt sich am Beispiel ein Allgemeines begreifen, was als Allgemeines gar nicht zugänglich gewesen wäre: »Exemplarisch kommt von ›eximere‹ : etwas Besonderes herausgreifen. […] Dieses Exemplar ist und bleibt ein Besonderes, das gerade in seiner Besonderheit die Allgemeinheit, die sonst nicht definiert werden konnte, enthüllt. Mut ist wie Achilles« (U 102). Hier liegt von Arendt aus die Pointe exemplarischen Denkens, Urteilens – und Lernens; und dieses exemplarische Prinzip ist mit der Funktionsweise der reflektierenden Urteilskraft fest verwoben. Auch von hieraus bleibt der begrifflich-kategoriale Aspekt ihres Gemeinsinnsbegriffes didaktisch relevant: Die welterschließende Qualität der Fähigkeit, eigene und fremde Begrifflichkeiten in Abgleich mit exemplarischen Perspektiven der erlebten Wirklichkeit zu bringen und damit in einen – möglicherweise gemeinsamen – Prozess des Ringens um einen treffenden begrifflichen Zugang zur Welt einzutreten, ist ohne Frage ebenfalls eine fruchtbare didaktische Leitvorstellung. Auch liegen in Arendts Lehre der Begriffsbildung sicher 452 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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weitere Potentiale, welche helfen können, den kategorialen Aspekt des Bildungsdenkens weiter auszuformulieren. 21 Ohne Frage: Bildungsprozesse sind praktische Prozesse, aber sie sind nicht die politische Öffentlichkeit (vgl. KE 269); hier liegt eine Grenze der strukturellen Analogie zwischen tatsächlich politischem Handeln und der Praxis des sich Bildens, die wir in heuristischer Perspektive bemüht hatten. Doch wo es um die Bildung von Personen geht, bleibt von Hannah Arendt her der Gedanke wichtig, dass das Wer-einer-ist als eine Frage gelten kann, deren Beantwortung an das zwischenmenschliche Erscheinen von Personen gebunden ist; Bildung ist kein individuellsolipsistischer Prozess, der sich ausschließlich im Inneren einer Person vollzieht und dort zu einem Bildungsstatus führt, welcher bei Bedarf öffentlich demonstriert werden kann – während er ansonsten in der Innerlichkeit verbleibt. Nur wo Pluralität als Verschiedenheit sichtbar wird, können der Einzelne wie alle anderen erfahren, wer dieser Eine ist und wer sie selbst sind. Dieser Zug an Arendts Handlungsbegriff ist nicht auf die politische Öffentlichkeit, die »Arena der Weltlichkeit« 22 zu beschränken, er ist vielmehr in jeder freien menschlichen Interaktion erfahrbar. »Wo immer Menschen zusammen sind, ganz egal in welcher Größenordnung, […] bildet sich Öffentlichkeit.« (GG 71) Aus alledem scheint sich für Bildungsprozesse vor allem eine Einsicht zu ergeben: Wir müssen Bildung Raum geben. Raum geben für Übung und Gebrauch unserer Einbildungskraft, für konkrete Erfahrung und Austausch; Raum für Interaktion, Streit und Diskussion; Raum für gemeinsame Interpretation und Gegenrede. In der bildungsphilosophischen Übersetzung impliziert Arendts politische Hermeneutik die Forderung nach einem lebendigen Raum für Bildung und Didaktik. Ihr »Laboratorium des politischen Denkens« 23 wird so zur Forderung nach Bildungsräumen, die von einer offenen Form der Intersubjektivität ebenso geprägt sind wie von dem ernstDa in der begrifflich-kategorialen Perspektive Parallelen zum Denken Kosellecks liegen, wäre hier noch weiter zu prüfen, inwieweit dieses Potential beider Denker Gegenstand didaktischer Transformationen in Rohbecks Sinne werden kann. 22 Reichenbach, Roland: Die Arena der Weltlichkeit: Hannah Arendt als Pädagogin des Öffentlichen. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 77/2001, 201–219. 23 Kristeva, Das weibliche Genie Hannah Arendt, 89, vgl. ebd., 94 f. 21
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haften Versuch, sich aus der Pluralität von Welt und Tradition heraus einen Zugang zur Wirklichkeit der Welt zu schaffen. Und dies impliziert wiederum die Forderung, Bildung nicht von ihrem Ende, sondern vom Charakter ihres Geschehens her zu denken. Wir erneuern an dieser Stelle unsere Einschätzung, dass es schwer sein dürfte, den Gesamtzusammenhang eines solchen Bildungsverständnis in spezialisierten Kompetenzen abzubilden. Nur in einem solchen, von Pluralität geprägten Handlungszusammenhang, im Zusammensein von Menschen, wird es uns gelingen, den formulierten Bildungsanspruch einzulösen oder mindestens vorzubereiten: Zur Klärung dessen gelangen, wer wir sein werden, denn dies offenbaren Menschen nur »handelnd und sprechend« und »niemand weiß, wen er eigentlich offenbart, wenn er im Sprechen und Handeln sich selbst unwillkürlich mitoffenbart.« (VA 219 f.) Arendts performativ eingebrachte Konzeption eines lebendigen Traditionsbezuges zeigt in ihrer hermeneutischen Struktur, dass sich dieses Gespräch nicht permanent ins ganz grelle Licht politischer Öffentlichkeit stellen muss, um ein bildendes zu sein und bleiben zu können. Damit sollen Aufgabe und Rolle des Lehrenden nicht zum Verschwinden gebracht werden: Der Lehrende muss ein Angebot machen, und in der reflektierten Konzeption dieses Angebots liegt seine Verantwortung, die nicht im Begriff der »Moderation« zu kaschieren oder an die ihm überantwortete Lerngruppe zu delegieren ist. Aber praktische Prozesse lassen sich eben nur anstoßen, möglicherweise nahelegen, nicht aber lassen sie sich erzeugen, herstellen, oder gar erzwingen. Damit das Angebot in Bildung umzusetzen ist, muss der sich Bildende eben auch sich bilden; er muss selbst aktiv, muss zum initium seiner eigenen Bildung werden. Durch keine methodische Technik der Welt kann er von Anderen gebildet werden. Diese »reflexive und selbstreferentielle Struktur« des Bildungsgeschehens bleibt freilich auch vor dem Hintergrund von dessen pluraler Struktur stets erhalten; »sie gelingt nur im Prozess des Sich-Bildens« 24 . Vor dem Hintergrund unseres Anliegens nach Orientierung kann dieses »sich« jedoch nicht ausschließlich auf das Selbst referieren, vielmehr muss es gleichzeitig als ein uns auf das wir im hermeneutischen Prozess der Bildung als einem plural verfasstem Geschehen verweisen, bei dem die Pluralität der beteiligten Individuen nicht 24
Schnädelbach, Bemerkungen über Philosophie und Bildung, 60.
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nur im hermeneutischen Prozess an die Stelle des Interpreten, sondern auch ebenso des Bildungsprozesses rückt. 25 Bildung wird so für eine plurale Perspektive geöffnet und löst sich aus ihrer Fixierung auf das Subjekt. Dafür müssen die sich Bildenden das gemachte Gesprächsangebot wahrnehmen – genauso aber als gleichberechtigte Andere im gemeinsamen Bildungsgeschehen verstanden werden. Die »Aufschluß-gebende Qualität des Sprechens und Handelns […] kommt […] nur da ins Spiel, wo Menschen miteinander, und weder für- noch gegeneinander, sprechen und agieren.« (VA 220) Gemeinsames Handeln erzeugt Fäden im Gewebe menschlicher Bezüge – Lebensgeschichten, in denen Personen als solche kenntlich werden: »Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar. […] Jemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt und erlitten, aber niemand hat sie ersonnen.« (VA 226 f.) Da sich in diesem Verständnis von Narrativität die Struktur der Bildung der Person kristallisiert, wie wir sie von Arendt her verstehen können, liegt hier ein weiteres Desiderat bildungsphilosophischer Überlegungen zu Hannah Arendts Denken, das unsere Untersuchung zutage gefördert hat. Bis jedoch alle Fäden zu Ende gesponnen sind, ist das Ergebnis des hier beschriebenen Bildungsgeschehens offen, unabsehbar, eben: ein Wagnis. Hier macht schon Arendts früher Erziehungstext deutlich, dass ihr nicht nur das Wagnis der Öffentlichkeit, sondern auch dieses Wagnis der Bildung bewusst war; denn »in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder […] sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten.« (KE 276)
25
Vgl. Sigwart, Politische Hermeneutik, 477.
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Siglenverzeichnis
Hannah Arendt: AuJ Aufklärung und Judenfrage B Über das Böse BWH Briefwechsel Arendt – Heidegger BWJ Briefwechsel Arendt – Jaspers BWS Briefwechsel Arendt – Scholem D Vom Leben des Geistes I: Das Denken DTB Denktagebuch E Die Einbildungskraft Eichmann Eichmann in Jerusalem EU Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft FuP Freiheit und Politik GG Fernsehgespräch mit Günter Gaus GPN Geschichte und Politik in der Neuzeit KE Die Krise der Erziehung KuP Kultur und Politik LR Little Rock OS Organisierte Schuld PE Politische Erfahrungen im 20. Jahrhundert (Seminarnotizen) PuP Philosophie und Politik RuF Revolution und Freiheit Toronto Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto 1972 TuN Tradition und die Neuzeit U Das Urteilen VA Vita activa VuP Verstehen und Politik W Vom Leben des Geistes II: Das Wollen WB Walter Benjamin WiA Was ist Autorität? WiP Was ist Politik? WuP Wahrheit und Politik ZDM Über den Zusammenhang zwischen Denken und Moral ZVZ Vorwort. Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft
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Siglenverzeichnis Immanuel Kant: Aufklärung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten IGwA Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht KpV Kritik der praktischen Vernunft KrV Kritik der reinen Vernunft KU Kritik der Urteilskraft KU EF Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft MAM Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte MS Die Metaphysik der Sitten N Reflexionen aus dem Nachlass Päd. Über Pädagogik Prol. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können REL Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft SiDo Was heißt: Sich im Denken orientieren? ZeF Zum ewigen Frieden Sonstige: de an de oratore WuM
Aristoteles: Über die Seele Cicero: De oratore/Über den Redner Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode
458 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 50–51, 89–91, 100, 103, 106, 189, 396 Archimedes, archimedisch 113, 340, 343 Aristoteles, aristotelisch 14, 17, 24, 56, 58, 73, 83, 92, 119, 122, 174, 186, 241, 246, 255, 279–283, 285, 311, 329, 333, 341, 382, 414, 430 Augustin 26, 222–225, 228, 247, 255 Benjamin, Walter 143–145, 148, 268, 401, 446 Brecht, Bert 274 Burke, Edmund 66, 233, 257, 422 Cassirer, Ernst 110, 303, 341–343, 366–367, 370 Cicero, Marcus Tullius 57, 281–286, 290, 334, 430 Descartes, René, cartesisch 97, 129, 235, 286, 299, 303, 338, 340–346, 353 Dilthey, Wilhelm 348 Duns Scotus, Johannes 148, 244, 255, 281 Eichmann, Adolf 154, 172–173, 177, 189, 194, 229–230, 240, 289, 407, 441, 446 Foucault, Michel 103 Gadamer, Hans-Georg 122–123, 125– 128, 130, 133, 141, 146, 150, 271–
272, 278, 282, 284–285, 293, 300, 316, 325, 374, 430, 433, 445 Goethe, Johann Wolfgang von 65, 155, 291, 366 Habermas, Jürgen 99, 102–103, 189, 234, 258 Hegel, G. F. W. 138, 141, 316, 335– 337 Heidegger, Martin 103, 110, 125, 127, 129, 131, 140–141, 143, 148–149, 151, 176, 189, 231, 245, 255, 348, 352–353, 367, 382, 425, 429 Hitler, Adolf 230, 239 Hobbes, Thomas 50, 138, 141, 254, 335–337 Humboldt, Wilhelm von 38–39, 71, 103, 331 Jaspers, Karl 21, 52, 69, 110, 148, 171–172, 177, 255, 269, 381, 450 Kafka, Franz 144, 148, 151 Koselleck, Reinhart 416–417, 440, 453 Leibniz, Gottfried Wilhelm 348 Machiavelli, Niccolò 115, 138, 140 Martens, Ekkehard 84, 86–89, 91, 95, 97–98, 120–122, 124, 128, 146, 444 Marx, Karl 115, 129–130, 138, 140– 141, 340 McCarthy, Mary 171, 416–417, 464 Montesquieu, Charles de 138, 141, 219–220, 245, 249–250
481 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Personenregister Nietzsche, Friedrich 129–130, 139, 148, 151, 181–182, 187, 271–272 Pascal, Blaise 83 Peirce, Charles Sanders 353 Platon, platonisch 11, 22, 58, 70, 79, 83, 87, 92–93, 105, 115, 139, 149, 173–174, 231–233, 235, 244, 341, 344, 355 Ricœur, Paul 152–154, 172, 256, 260– 261, 266–267, 269–273, 448 Rohbeck, Johannes 16, 84–85, 119, 123–124, 453 Rousseau, Jean-Jacques 11, 27, 36, 42, 53, 98, 138, 141, 206, 235, 254 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper 287–291, 294, 399 Simmel, Georg 243 Sokrates, sokratisch 22, 51, 61, 70, 87, 92–98, 101, 115, 122, 149, 174, 176, 178–179, 181, 191–192, 238, 299 Spaemann, Robert 65
Stalin, Josef 239–240 Steenblock, Volker 11, 84, 86, 92–93, 95, 97, 103, 106–108, 119–125, 147, 150, 190–191, 262–263, 267, 435, 444 Sutor, Bernhard 39, 43, 45–48, 55–56, 61–63, 66, 68, 71–72, 75–78 Thomas von Aquin 280–281, 328– 329, 430 Varnhagen, Rahel 149, 269, 409 Vico, Giambattista 138, 285–287, 290, 303, 338, 345, 438 Voegelin, Eric 151 Vollrath, Ernst 59–61, 64, 76–77, 79, 116–117, 145, 233–234, 257, 260, 275, 288–289, 325–326, 328, 338, 345, 350, 392–393, 399, 404, 406– 408, 413–414, 438, 443, 445, 448 Walzer, Michael 437 Weber, Max 258–260
482 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Sachregister
amor mundi 140, 447 Anfang 26–27, 39, 57, 70, 75, 80, 94, 222–223, 225, 227, 240, 248, 251, 262, 314–315, 341 Arbeiten 225–227, 394 Aufklärung 35, 42, 96–105, 153, 235, 263, 291, 320–321, 326 Autorität 22, 25, 31, 33–34, 46, 60, 76–77, 128, 130, 143, 233, 254, 258, 289, 415 Banalität, banal 52, 54, 82, 153–154, 171–173, 177, 180, 182, 187–188, 193–194, 241, 270, 289, 355, 446– 447, 452 Beispiel 32, 78–79, 81–82, 99, 110, 130, 140, 165–166, 170, 175, 185– 187, 193–194, 232, 238, 240, 269– 270, 291, 296–297, 301, 304–306, 312, 315, 317, 325, 334–338, 421– 422, 425–426, 432, 448, 452 Bildung 11–12, 17, 20, 23–24, 35–39, 42–43, 55, 61–62, 65, 70–72, 84, 90, 96, 101, 103, 107, 119, 121, 187– 188, 190–191, 264–265, 267–268, 285–286, 315, 385, 394, 410, 425, 431–433, 435–437, 439, 443–445, 450–455 –, kategoriale 68, 70–71 –, philosophische 17, 21–22, 84, 106, 121, 124, 189–190, 262, 266, 268, 444 –, politische 12–13, 17–18, 21–25, 31, 33, 35–38, 40–49, 51–55, 59–63, 65–70, 72–73, 75–78, 80–84, 86–
87, 95–96, 106–107, 109, 118–119, 153, 188, 191, 263, 273, 411 Bildungsphilosophie 96, 106, 436 Böse 18, 52, 137, 152–156, 158–173, 175–177, 179–180, 182, 184, 186– 189, 191, 193–194, 196, 219, 240– 242, 249, 270, 289, 313–314, 355, 405, 417, 446–447 Christentum 246–247 common sense 278, 280, 284, 287– 293, 295, 299–300, 307–308, 316, 322, 327–328, 330–337, 349–352, 431 conditio 58, 117, 250, 257, 357, 362, 406 Denken 14–15, 18, 21–22, 24–25, 31, 34, 37–38, 48–49, 51, 57, 59, 63–64, 68, 71, 76–79, 81–82, 85, 90, 95–96, 98–100, 104–106, 108–112, 114, 116–117, 120–121, 129–130, 133– 138, 140–141, 144, 147–148, 150– 151, 154, 169, 173–176, 178–179, 181, 184–187, 189–192, 194–196, 208, 218, 225–229, 231–235, 237– 242, 244–247, 249, 252, 255, 260, 263–265, 268–270, 273–275, 287, 290, 292, 294–295, 297, 303, 310, 314, 320–321, 323–324, 327, 336, 339–350, 352–357, 359–360, 363, 376, 391, 399, 403, 405, 407–412, 414, 417–420, 422, 424–426, 429– 436, 446–448, 451–453 –, christliches 225 –, exemplarisches 82, 431, 449, 452
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Sachregister –, kategoriales 17 –, kritisches 50–51, 108 –, ohne Geländer 17, 24, 38, 48, 53– 55, 189 –, politisches 13–14, 17, 23, 38, 62– 66, 68, 71, 76–78, 80, 82, 95, 130– 131, 138, 188, 221, 416, 422, 436, 450 –, repräsentatives 403, 419, 421, 440 Dialog 61, 70, 87, 94, 146–147, 174– 175, 192, 244–245, 275, 318, 352, 361, 408, 419, 424–425, 427, 430 –, -partner 125, 147, 450 Didaktik 12, 16, 24, 33, 35, 38, 40–41, 70, 82, 84, 86–91, 94–97, 100–101, 105, 123–124, 128, 146, 150, 190, 192–193, 263, 436, 438, 444, 453
223, 225–229, 234, 240, 243, 245– 246, 248–258, 261–264, 274–275, 287, 296, 348, 365, 367–372, 377, 380, 390, 400, 405, 415, 426, 428– 429, 445, 447–448, 450–452 –, philosophische 250 –, politische 250–251, 256 –, Willens- 245–246, 249–252, 254, 264 Freundschaft 132, 172, 186
Einbildungskraft 149, 184, 227, 247, 302–303, 306, 308, 311, 326, 353, 363–364, 373–374, 381–390, 393, 419–428, 438–439, 450–453 Erzählung 104–105, 142, 151, 194, 224, 241, 266, 271, 273–274, 336, 349–350, 354, 409–410, 440, 444– 445 Erziehung 11, 23, 25–29, 31–38, 40, 46–47, 51, 53, 84–85, 187, 206, 220–221, 285, 291, 315, 338, 401, 450, 455 Ethik 18, 41, 51, 55–56, 68, 154–155, 181–182, 192, 195–201, 204–205, 208–211, 218–221, 228–230, 235– 237, 242–244, 246, 254–255, 261, 263, 267–268, 282, 284, 288, 291, 293–294, 296–297, 302, 317, 341, 347, 358, 368–369, 377, 394, 410, 428, 468 Exemplar, exemplarisch 33, 78–79, 82, 89, 152, 192–194, 303–305, 307–308, 337–338, 381, 425–427, 432, 449, 452
Gedankenlosigkeit 49 Gedankenlosigkeit, gedankenlos 52, 54, 143, 149, 177, 180, 186, 188– 189, 355–356, 407 Geisteswissenschaften, geisteswissenschaftlich 33, 40, 348, 433, 444 Gemeinsinn 18–20, 53, 59, 102, 118– 119, 129, 184–185, 275–282, 284, 286, 289, 292–293, 298–300, 305– 312, 317, 321, 323, 325–331, 333– 338, 342–347, 349–356, 359, 361, 363–364, 374, 381–382, 392, 399, 403, 417, 420, 422–423, 427, 430– 432, 435, 438, 445, 448–449 Geschichte/-n 23, 35–36, 42, 58, 121, 131, 143, 152, 175, 194, 222, 239, 242, 245, 262, 266–267, 270, 272, 284–285, 313, 336–337, 357, 359, 406, 410, 416–417, 430–432, 440, 447 Geschichtenerzähler 270, 403 Geschichtsphilosophie 314 Geselligkeit 185, 287–288, 304, 312– 314, 323, 356–359, 362, 428 Gesellschaft, gesellschaftlich 25, 28– 30, 32, 34, 36, 42, 48, 50–51, 66, 76, 84, 90, 99, 175, 179, 184–186, 189– 190, 221, 230, 237, 269, 283, 287, 291, 312–314, 357, 362, 396, 428 Gewalt 27, 76, 89, 115, 208, 233, 236, 242, 253, 258–261, 415
Freiheit 17, 23, 27, 33, 42, 52, 55, 57– 58, 75–77, 79, 98, 100, 115–116, 144, 146, 154–159, 161–164, 166– 168, 181, 196–197, 209–218, 220–
Handeln, praxis 20, 22, 24, 26–27, 31–33, 36, 39–41, 45, 49, 55–58, 60–63, 65–68, 73, 75, 78, 80, 85–86, 89–91, 93–95, 106–107, 109, 119,
484 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Sachregister 130, 135–136, 156–158, 167, 176, 178–179, 181, 185, 198, 203, 208, 211, 215, 221–224, 226–228, 230, 232, 234–235, 238, 240–241, 244, 246, 249–258, 260, 262, 264–266, 273, 275, 282–283, 285–286, 288, 292, 298, 356–357, 377, 393–394, 397–398, 402, 404–408, 410–411, 416, 424, 437–438, 440, 443–444, 448, 450–455 Hermeneutik 15, 18, 60, 120–127, 131–133, 147, 150, 409–410, 418, 428, 430, 436–437, 440, 449 –, politische 16, 153, 268, 275, 432, 448–449, 453 Herrschaft 31, 130, 232–233, 257, 270, 273, 416 Herstellen, poiesis 47, 57, 60, 136, 176, 185, 205, 225–227, 257–258, 282, 394, 397–398, 443–444, 454 Ideologie 63, 85, 239, 242, 273, 342 Imperativ, kategorischer 156, 179, 183, 200–203, 232, 237, 261 Kategorie, kategorial 24, 27, 59, 65, 68, 71–81, 101, 106, 119, 131, 237, 239, 241–242, 275, 376, 386–387, 401–402, 414–415, 417, 433, 440, 443, 445–446, 452–453 Kompetenz 13, 53, 66–67, 107, 190– 191, 281–282, 435, 444, 454 Kritik 18, 23, 26, 29–31, 39, 47, 50– 51, 60, 70–71, 77, 81, 90, 93, 98– 101, 103–104, 139–140, 151, 154, 169–170, 181–182, 184, 192, 195– 197, 199, 206, 210–212, 214, 218, 229–232, 235, 237–238, 242–244, 246, 249, 262–263, 267, 269, 281, 286, 289, 293, 295–296, 299–300, 309, 320, 328, 335, 338, 345–347, 357–359, 361–362, 364–365, 372, 379, 383, 394, 396–397, 411, 413, 418, 420, 427–428, 432, 443 Kultur 36, 103, 124, 262, 313, 327, 341, 394–398, 400–401, 437
Leben 11, 26, 31–32, 58, 66, 76, 82, 93–94, 119, 133–134, 139, 148–149, 154, 170, 173–174, 181, 186, 194, 222–224, 226–227, 237, 245, 248, 257, 261, 266–267, 270, 283, 334, 339, 341, 350, 354–355, 357, 396, 429, 438 Lernen 18, 35, 40, 62–64, 89, 452 Liebe 136, 140, 145, 287, 447 living-room, Wohnzimmer 148, 334, 418, 424, 431–432, 436, 450 Logik, logisch 62–63, 73, 88, 111– 112, 129, 141, 145, 158, 202, 206, 237–246, 248, 268, 301–302, 305– 306, 309, 335–337, 342, 353, 355, 373, 443, 445, 447 Macht 76–77, 103, 142, 178, 180, 187, 234, 248, 250, 252, 254–255, 258– 262, 265, 268, 273, 410, 415 Meinung 31, 50, 54, 58, 60, 63–64, 95, 106, 112, 117, 136, 149, 151, 171–172, 192, 200, 233, 283, 286, 289, 338, 359, 422–423, 427, 433 Menschenrecht 46 Menschenrechte 98, 326 menschliche Angelegenheiten 22, 57, 60, 63, 75, 79, 83, 91–93, 105, 114– 115, 117, 135–136, 180, 185, 231– 234, 236, 241–242, 244, 253–254, 256–257, 259–260, 266, 273, 275, 338, 358, 410, 423–424, 432 Metaphysik 129, 131, 158, 170, 293, 296–298, 425, 429 Moral 39, 41–42, 53, 101, 129, 154, 159, 173, 178, 188, 192, 209, 218– 219, 234, 237, 249, 254–255, 268, 278, 286, 288, 290, 297, 341, 421 moral sense 287–288, 291, 293, 297 Narration 269, 336, 410, 440–441 Narrativität, narrativ 151–152, 194– 195, 224, 266–267, 269–271, 273, 336, 341, 409–410, 440, 455 Natalität 26, 31, 58, 223, 225–226, 249, 413
485 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Sachregister Naturwissenschaft 59–60, 107, 109, 339–340, 343, 345, 347, 351, 370 Oberflächlichkeit 137, 177, 446 Öffentlichkeit 26, 28–32, 56–58, 66, 74, 92, 117, 150, 153, 224, 252, 255– 256, 262, 265–266, 283, 326, 328– 329, 331–332, 351, 394, 397–400, 453–455 Orientierung, sich orientieren 17, 22–24, 38, 40–41, 43, 45, 53, 60, 68–69, 83, 105–107, 109–121, 134, 138–140, 147, 189, 239, 263, 268, 273–274, 286, 357, 412, 414, 433– 434, 436–439, 445–447, 454 Perlentaucher 144, 417, 447 Person, Persönlichkeit 46–47, 65, 89, 92, 133, 154, 160, 173–176, 180, 189–191, 194–195, 200, 204, 243, 259–260, 264–267, 272, 329, 337, 369, 399, 407, 410–411, 432, 437, 446, 453, 455 Philosophiedidaktik 12–13, 16–18, 21–24, 40, 69, 83–89, 94, 96–97, 106–107, 109, 119, 122–125, 146 Philosophiegeschichte 11, 81, 122, 151, 192, 245, 284, 334–335, 348, 450 Pluralität 17, 53, 58, 61, 65–66, 87– 88, 91, 94, 104–106, 115–118, 136, 147, 151, 179, 191, 196, 201, 204, 236, 238, 243–244, 248–255, 257, 260–261, 264–265, 267–268, 274– 275, 315–316, 321, 324, 326, 330– 332, 337–338, 342–344, 346, 350– 351, 356–358, 362, 394, 398, 402, 405, 408–409, 413, 418, 421–422, 429, 432, 434, 436, 440, 443, 445, 447–450, 453–454 Politik 14, 17, 21–22, 24–34, 36, 42, 49, 52, 55–63, 67, 73–77, 81, 83–84, 88–89, 91–94, 101, 109, 136, 147, 171, 218, 220–222, 232–234, 242, 254, 262, 265, 274–275, 278, 283, 286, 325–327, 345, 394, 397–402, 412, 429
Privates, Privatheit 25–26, 31–32, 57, 221, 308, 397 Repräsentation 76, 271, 353, 420, 424, 439, 450, 452 Revolution 98, 142, 262–263, 270, 339 sensus communis 117–118, 206, 277– 278, 280–288, 290, 292–293, 298– 300, 308–312, 316–321, 323–325, 328, 333–334, 359–361, 363–364, 418, 430, 434, 448–449 Sinnlichkeit 157–158, 160–161, 167, 202, 204, 212, 225, 294, 302, 305, 307–308, 353, 376–377, 381, 383– 387, 389, 414 Souveränität 76, 229, 245, 252–254, 257, 259, 264 Spontaneität 158–159, 207, 213, 216, 218, 225–229, 243, 248–251, 253, 256, 384–385, 387–388 Subjekt 71, 78, 87, 90–91, 110–111, 116, 146, 150, 156–157, 164, 167, 204, 248, 263–266, 268, 304, 311, 316, 328, 341, 418, 434, 436, 455 subsumieren 51, 123, 183, 235–237, 241–242, 375, 386, 388, 405, 412, 432 Subsumption 88, 205, 235–236, 412 Totalitarismus 23, 51–52, 80, 130– 131, 135, 177, 194, 219–220, 222, 237, 263 Tradition 11, 13–14, 16–18, 22–24, 33–34, 36, 40, 51, 56, 58, 80, 87, 94, 105, 108, 120–121, 123, 125, 127– 132, 138, 141–151, 153, 170–171, 188, 192–193, 219–221, 224, 226, 244, 250, 252, 267, 269–270, 272– 275, 285, 290, 299–300, 307, 310– 311, 316, 322, 333–334, 337, 341– 342, 345, 356, 382, 411, 416, 418– 419, 423–426, 428–433, 439, 445– 451, 454 Traditionsbruch 18, 21–22, 34, 80, 128, 130, 132, 137–138, 142–144,
486 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Sachregister 148, 188, 219, 272, 394, 416–417, 423, 445 Transformation 16, 24, 120, 123, 149, 228, 337, 447 Urteilen 14–15, 66, 79, 81–82, 100, 102, 113, 117–118, 141, 148, 154, 181–182, 184–187, 189, 191–192, 206, 234, 236, 245, 255, 268, 286, 289, 307, 309, 318, 323, 333, 346, 356, 358–359, 361–362, 375, 381, 391, 393, 398–400, 402, 404–406, 408, 410–414, 418–419, 424–426, 428, 434, 436–437, 439–441, 446, 451–452 Urteilskraft 18, 20, 53–54, 78, 95, 117–118, 146, 182–186, 189, 191, 193, 202–203, 234–236, 238, 240– 242, 244, 268, 275–277, 288, 304, 308, 316, 319, 324, 326, 332, 350, 356–359, 361, 363–364, 370, 372– 382, 388, 391–393, 399, 401, 404– 405, 407–408, 410–413, 415, 417– 419, 425, 427, 432–434, 438, 448 –, bestimmende 182–183, 206, 379– 380, 390 –, politische 68, 275, 284, 325, 361, 391, 393, 406, 411–412 –, reflektierende 183, 192, 206, 310, 356, 364, 378–382, 390–392, 400– 401, 405, 411–412, 418, 422, 429, 434, 438, 452 Verantwortung 33, 55, 62, 77, 91, 156, 224, 237, 268, 415, 454 Vergessen 268–272, 448 Verlernen 18, 79, 134, 192–194, 246, 270, 349, 424–425, 447 Vernunft 52, 77, 86, 99–100, 102– 103, 111–113, 116–117, 153, 155, 157–158, 161, 167, 170, 181–182, 196–197, 200, 202–205, 207–208, 211–212, 214–217, 227–230, 233– 235, 237, 243–244, 249, 252, 254– 255, 261, 263–264, 268, 282, 292– 297, 299, 313, 317, 319–321, 323– 324, 336–337, 346–349, 352, 358,
365–373, 376–377, 381, 391, 413, 415, 424, 429, 434 Verstehen 36, 52, 63–65, 68, 72, 76, 79–81, 120, 122–127, 131–138, 140–141, 145, 150, 193, 269, 275, 347–348, 352, 385, 409–410, 414– 415, 417–418, 420, 423, 426–428, 432–433, 435–437, 440–441 Verzeihen 134, 193, 261 vita activa 25, 93–94, 128, 154, 171, 199, 223, 226, 265, 334–336, 338– 341, 346, 349–351, 393–395, 397, 403, 407, 409 vita contemplativa 93–94, 154, 191, 350, 357, 391, 393, 403–404, 407, 409 Wahrheit 54, 59, 93, 109, 113, 144, 146, 181, 228, 233–234, 238, 242, 246, 290, 316, 334, 346–349, 423, 425, 427, 430 Welt 17–18, 23, 27–36, 52, 57–60, 64–65, 68–69, 71–72, 77, 79–80, 83, 91, 98, 101, 107–109, 114–120, 125, 127, 129–131, 133–137, 139–142, 145–147, 149–151, 158–159, 164, 167–168, 171, 173–177, 188–190, 206–207, 213, 216, 221–224, 226– 227, 230–233, 235, 238–242, 244– 245, 247–248, 251, 254, 256–257, 260–261, 264–268, 273–275, 277, 288–290, 296, 311–312, 316, 324– 332, 334, 336, 338–348, 350–351, 353–356, 358, 361, 364, 369–370, 372, 377, 388, 392, 396–399, 406– 427, 429–437, 439–440, 445–450, 452, 454–455 –, -entfremdung 332, 340–341 –, -orientierung 18, 110, 115, 239, 278, 285, 426, 434 –, -verlust 188, 338, 344, 354 Wille 132–133, 155–159, 167, 170, 175, 181–182, 191, 198, 200, 203, 210–211, 214–215, 217, 230, 243, 245–249, 251, 255–257, 259, 261, 263, 278, 286, 368–369, 402
487 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .
Sachregister Willkür 157–163, 166, 168, 174, 207– 208, 210–212, 225 Wirklichkeit 22, 51, 55, 58–59, 64, 72, 75, 77–80, 85, 88, 99, 108, 116–118, 132, 134–138, 141–142, 149, 151, 154, 156, 159, 164, 169–170, 193– 194, 203, 221, 227, 232–233, 235– 236, 238–242, 251, 253, 256–257,
260, 265, 273, 275, 327–328, 331– 332, 340–341, 343, 345–346, 350– 354, 356, 370, 374, 377–378, 393, 412, 414–418, 424, 426, 431–433, 439, 447, 452, 454 Wollen 15, 81, 134, 154, 181, 206, 211, 229–230, 245–247, 249, 251– 252, 254, 270, 356–357, 391
488 https://doi.org/10.5771/9783495808153 .