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German Pages 359 [363] Year 1991
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament • 2. Reihe Begründet von Joachim Jeremias und Otto Michel Herausgegeben von Martin Hengel und Otfried Hofius
44
Der griechische Begriff des Verzeihens Untersucht am Wortstamm airf/vcb^T] von den ersten Belegen bis zum vierten Jahrhundert n. Chr.
von
Karin Metzler
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich im Wintersemester 1989/90 auf Antrag von Herrn Professor Dr. Walter Burkert als Dissertation angenommen.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Metzler, Karin: Der griechische Begriff des Verzeihens: untersucht am Wortstamm syggnöme von den ersten Belegen bis zum vierten Jahrhundert n. Chr. / von Karin Metzler. - Tübingen: Mohr, 1991. (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament: Reihe 2; 44) Zugl.: Zürich, Univ., Diss., 1989/90 978-3-16-157106-0 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 3-16-145671-8 ISSN 0340-9570 NE: Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament / 02
© 1991 J . C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen reproduziert, auf säurefreies Werkdruckpapier der Papierfabrik Niefern gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden.
Vorwort Ich möchte an dieser Stelle allen meinen Dank aussprechen, die die Entstehung der hier vorliegenden Dissertation gefördert haben. Zuallererst ist an Prof. Konrad Gaiser zu erinnern, der das Thema entdeckt und mir zu näherer UnterBuchung anvertraut, dann meine Arbeit daran bis zu seinem Tod im Mai 1988 betreut hat. In der Tat geht meine Bekanntschaft mit der Fragestellung bis in mein erstes Griechisch-Semester zurück, in dem ich an seinem Proseminar über Xenophons "Kyropädie" teilnahm. Dank gebührt danach Herrn Prof. Walter Burkert, der sich der in vielen Punkten schon festliegenden verwaisten Arbeit angenommen und ihr doch noch wichtige Impulse gegeben hat. Auch die Professoren, die an der Promotion in Zürich beteiligt waren, Heinrich Marti und George E. Dunkel, haben die Arbeit beratend gefördert. Die Dissertation entstand neben meiner Tätigkeit in der Patristischen Arbeitsstelle Bochum der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, wo ich an der Neuedition der dogmatischen Werke des Athanasios von Alexandrien mitwirke. Die Gespräche über mein Thema, die neben dieser Tätigkeit an der Ruhr-Universität Bochum möglich waren, erinnerie ich dankbar: die unentbehrliche Hilfe von Herrn Prof. Alexander Kleinlogel bei der Ausnutzung des Computer-Suchprogramms, das Doktoranden-Colloquium von Herrn Prof. Gerhard Binder und Herrn Prof. Bernd Effe und die Literaturhinweise und das Zuhören meiner Kollegen an der Fakultät für Evangelische Theologie, Frau Renate Bugenhagen und Herrn Dr. Martin Leutzsch (der auch das Druckmanuskript gelesen hat). Ferner gilt mein Dank den Menschen, die die Arbeit aus der Ferne verfolgt haben, insbesondere Herrn Prof. Günter Bader (Zürich), Herrn Prof. Traugott Vogel (Berlin), Herrn Dr. Derk Ohlenroth (Tübingen). Ich freue mich sehr, daB die Arbeit von Herrn Prof. Martin Hengel in eine theologische Reihe aufgenommen wird — war sie doch von Anfang an auf den interdisziplinären Dialog hin angelegt — und daB sie überdies durch das Erscheinen im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) zu ihrem ersten Ausgangspunkt, nach Tübingen, zurückkehrt. Bochum, Februar 1991
Karin Metzler
Inhalt« verzeichiiii A Übergreifende Fragestellungen A I Forschungsbericht A II Sprachliche Aspekte 1. Etymologie 2. Statistische Einsichten 3. Grammatische Konstruktionen A III Das Verhältnis der Bedeutungen "verzeihen" und "erkennen" 1. Die Verbindung zwischen den Bedeutungsfeldern "verzeihen" und "erkennen" 2. ovYYiyvüioxa) im Bedeutungsfeld "erkennen" 3. Spätere Belege für OUYY i Y v WÖXU im Bedeutungsfeld "erkennen" 4. ouYYV(J(iri als Einsicht in die Rolle des anderen A IV Spektrum des Verzeihens 1. Z e i t - lind Rollenaspekte des Verzeihens 2. Eine Episode bei Xenophon 3. Eine Gnome des Pittakos? 4. P a r a l l e l - und Gegenbegriffe A V Die Frage nach einem religiösen Ursprung 1. Verzeihen der Sache nach in der epischen Dichtung 2. Das Gebet der Danae bei Simonides 3. ouyy^wOT in anderen Gebeten B ouYYV(i>t!T] in der Klassischen Zeit B I Rhetorik 1. Das Kriterium der Unfreiwilligkeit 2. Einzelne Motive für und gegen Verzeihen 3. Die Gerichtspraxis und ihre Bewertung 4. QuyYvü(ir] in der theoretischen Rhetorik 5. Die Figur des Verzeihlichen und des Unverzeihlichen 6. ouYYvwtir] und i-Xeoq 7. Captatio benevolentiae und Prunkfigur Exkurs: 7rapaiTEOnai 8. W e i t e r e Aspekte
1 1 15 15 18 20 29 29 32 40 41 47 47 48 54 56 61 61 68 70 75 75 75 83 87 91 103 106 110 116 119
VI B II Tragödie, Komödie, Geschichtsschreibung 1. Tragödie 2. Komödie 3. Herodotos 4. Thukydides B III Philosophie 1. Der Satz des Sokrates 2. Piaton 3. Xenophon 4. Aristoteles Exkurs: ETriEtxrj^ Fortsetzung: Aristoteles 5. Weitere philosophische Tradition B IV Fachwisaenschaftliehe Literatur B V: Zur Frage nach einem spezifisch griechischen Verzeihensbegriff 1. Das Willensproblem 2. Zur Frage eines Kulturvergleichs 3. Der intellektuelle Gehalt des Begriffes 4. Freier/unfreier und guter/böser Wille 5. Die Rolle der Reue 6. Einheit von innerem Vorgang und Konsequenz C Kulturvergleich in der späteren Antike C I Römische Geschichtsschreibung in griechischer Sprache 1. ouYYVÜtxr] als politisches Instrument 2. Juristische Parallelen 3. Rolle der Erziehungstheorien 4. Anwendung von Verzeihenskriterien 5. Die Frage nach einem religiösen Hintergrund C II Verzeihen und Vergeben in jüdischen und christlichen griechischen Texten 1. Biblische Terminologie 2. Alttestamentlicher Vergebungsbegriff 3. Neutestamentlicher Vergebungsbegriff 4. Jüdische Schriftsteller 5. Frühchristliche Schriftsteller 6. Athanasios von Alexandrien und Gregorios von Nyssa 7. Christliche Papyri 8. Zusammenfassung
121 121 128 131 133 139 139 142 152 155 166 172 174 183 189 189 193 195 196 198 199 203 203 203 208 210 215 219 223 224 226 234 250 259 262 275 277
VII C III Griechische Kultur 1. Belege aus Papyri und Inschriften 2. Belege aus verschiedenen Gattungen 3. Plutarchos 4. Libanios Zusammenfassung Literaturverzeichnis Register
279 280 281 288 296 305 307 345
A Übergreifende Fragestellungen
A I Forichungabericht Nicht zufällig verdankt sich die vorliegende Arbeit der Anregung Konrad Gaisers, 1 der 1977 als erster 2 dem griechischen Verzeihen eine eigenständige Abhandlung widmete. Gaiser ging von einer Parallele zwischen zwei voneinander unabhängigen Texten aus, wie schon der Titel seines Aufsatzes zeigt: "Griechisches und christliches Verzeihen: Xenophon, Kyrupädie 3,1,38-40 und Lukas 23,34a". Das Vorgehen ist also ein punktuelles: Es gewinnt seinen Begriff des griechischen Verzeihens aus der detaillierten Interpretation eines einzelnen Textausschnittes und dessen Einbettung in seinen literarischen und zeitgeschichtlichen Kontext. Gaiser hat dabei erfaßt, was griechisches Verzeihen in idealtypischer Form auszeichnet; gleichzeitig setzte er es durch dieses Vorgehen Mißverständnissen aus. Den Xenophon-Beleg gibt Gaiser folgendermaßen wieder: X. Cyr. 3J.40. 3 (Gaiser S. 78:) "In der Kyrupädie Xenophons liest man eine kurze Episode, die davon erzählt, daß Kyros den Armenierktinig und seinen Sohn Tigranes zum Essen einlud und daß sie bei dieser Gelegenheit 1
Die Darstellung in diesem Kapitel ist bewußt ungleichgewichtig: Wichtige Autoren werden nur summarisch zitiert, da später am gegebenen Ort näher auf ihre Thesen eingegangen wird; Konrad Gaisers Aufsatz hingegen wird eingehend paraphrasiert, da er die geeignetste Einfuhrung in das Thema darstellt; wichtig fUr die Problemstellung ist auch der Aufsatz von Ludger Oeing-Hanhoff. 2
Bishop behandelt im Rahmen einer theologischen Magisterarbeit nur die Begriffe äTioXuu, dtpirjui und 3
Allen Zitaten seien folgende Hinweise vorausgeschickt: Auf Primär- und Sekundärliteratur wird generell durch kursiv geschriebene Siglen verwiesen, die im Literaturverzeichnis entschlüsselt werden; dort finden sich auch Angaben zur Zitierweise. - Zitate aus Primärliteratur sind, wo es nicht ausdrücklich anders angegeben ist, von der Verfasserin Ubersetzt; dabei wurden fremde Ubersetzungen verglichen (diese sind nicht eigens im Literaturverzeichnis angegeben). Stellenangaben beziehen sich im Zweifelsfall auf das Vorkommen des Wortstamms
2
A I Forsch ungsberich
t
von einem Weisheitslehrer ( a o < p i o n f e ) des Tigranes sprachen, den der König hatte tuten lassen (3.1,38-40). (38) Als sie wieder auseinandergingen a u s dem Zelt n a c h dem Mahl, f r a g t e Kyros: Sage mir, Tigranes, wo ist jener Mann, der mit u n s auf der Jagd war und den du, wie mir schien, sehr bewundert hast?' "Weißt du nicht', sagte Tigranes, daß m e i n Vater hier ihn getötet hat7 Bei w e l o h e m Unrecht hat er ihn e r g r i f f e n ? Mein Vater sagte, daß der Mann m i c h verderbe (6L0iU1Tu bei Ignatius als ein Synonym zu E7U"[pE7m (Apost. Vät. Ign. Rom. 6.3) betrachtet (da er f ü r NT lCor. 7J6 OUYYwiW als "Erlaubnis" deutet, vgl. C II 3), was man allerdings nicht als strenge Ausschließung der Bedeutung "verzeihen" ansehen muß. "Auch das Wort Nachsicht', ein Äquivalent zu OUYYVU^r]. ist mehrdeutig. Man kann 'Nachsicht' üben mit den verschuldeten Fehlern anderer, man übt auoh Nachsicht ,
6
A I
Forschungsbericht
wenn ein Mensch nicht das leisten kann, was andere von ihm oder er von sich selbst erwarten. So können Eltern Nachsicht' Üben, wenn ihr Kind nicht den Beruf ergreift, den sie selber fUr wünschenswert erachten." Ist schon die b e g r i f f l i c h e Scheidung fraglich, so muß erst recht philologische V o r g e h e n dieser "philologisch-philosophische versuche" (so der U n t e r t i t e l ) in Frage g e s t e l l t werden.
das
Klärungs-
Man wird
die
Möglichkeit nicht unbedingt von der Hand w e i s e n , daß es z w e i g ä n z l i c h getrennte Y e r z e i h e n s - B e g r i f f e gebe und daß m ö g l i c h e r w e i s e in einer K u l tur der eine, in der anderen der andere vorherrsche — daß man aber historisch der griechischen Kultur den einen und der c h r i s t l i c h - m o d e r n e n Kultur den anderen Begriff zuweist, Wenn es umgekehrt gelingt, dieser
Ausführungen
zu
müßte eingehender b e l e g t
die historisch-philologischen
entkräften,
dürften
auch
die
werden.
Beweisstücke philosophischen
Schlußfolgerungen so leicht nicht zu halten sein. Hierfür ist
allerdings
ein mehr als nur paradigmatisches V o r g e h e n erforderlich. D i e Kluft, die Oeing-Hanhoff z w i s c h e n g r i e c h i s c h e m und
christlich-
modernem V e r z e i h e n s b e g r i f f s e h e n will, 4 ' gründet er auf die R o l l e
der
Reue in beiden Kulturen: Oeing-Hanhoff S. 71. "Daß die vorchristliche Antike das eigentliche Verzeihen nicht kannte, ergibt sich auch daraus, daß ihr die Voraussetzung fUr Verzeihen, Reue, METANOIA oder METAMELEIA. nur in pejorativer Bedeutung als unvernünftiger Affekt, als Sinnesänderung eines hin und her schwankenden Menschen bekannt war: FUr die Schlechten und Unvernunftigen ist Sinnesänderung charakteristisch. erklärt Aristoteles. Im Kittel'sohen Wörterbuch heißt es lapidar: Unser Verständnis von Reue war dem klassischen Griechisch fremd. " (S. 71 ).5 Nach diesen Prämissen ist verständlich, daß Oeing-Hanhoff bei seinen "Klärungsversuchen" weiterhin nur den christlich-modernen Verzeihensbegriff zugrundelegt und sich auf neuzeitliche Belege stutzt; seine Ausfuhrungen müssen in diesem Zusammenhang nicht weiterverfolgt werden. Seine Bemühung, den Inhalt des christlichen Glaubens als Philosoph "rational zu verantworten und zu rechtfertigen" (S. 78). läßt eine katholisierende Tendenz nicht verkennen. 6 Daß
sich ouYYvt»>nri
mit
einem
"Ent-schuldigen"
in
Oeing-Hanhoffs
* Gewisse Einschränkungen dieser These räumt Oeing-Hanhoff ein: "(...) Verzeihen ist doch noch anderes und mehr als Verzicht auf SUhne, (...) als Erlassen eines Teils der (...) Strafe, (...) als Begnadigung und Amnestie. Das alles hat es, wenigstens in Ansätzen, in der vorchristlichen Antike zwar schon gegeben" (Oeing-Hanhoff S. 71). 5
Zitiert werden Arist. EN 1166b24 und ThWNT Bd. 4, S. 630. Auch die hier vorgelegte Interpretation der das Thema Verzeihen betreffenden Stellen in den Evangelien, etwa des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, unterscheidet sich deutlich von der Oeing-Hanhoffs, s. C II 3. 6
A I
Forschungsbericht
7
Sinne identifizieren lasse oder daß (lEiaiiEXEia in der griechischen Antike grundsätzlich abgewertet worden sei, ist unzutreffend. Reue spielt eine verschiedene Rolle für den griechischen und christlichen Verzeihensbegriff, 7 aber auch in den frühen christlichen Texten nicht diejenige, die ihr Oeing-Hanhoff zuweist. Daß griechisches Verzeihen in erster Linie eine Einsicht in die vergangenen Tatmotive dessen, der sich verfehlt hat, sei, war allerdings eine Auffassung, die durch Gaisers paradigmatisches Vorgehen nahegelegt wurde. Soweit seien die Positionen der beiden Aufsätze referiert. Auf sachliche Einzelheiten einzugehen, wird im Verfolg dieser Untersuchung G e legenheit sein. An dieser Stelle ist wichtig, daß sich das Bedürfnis nach der hier vorgelegten Arbeit (geradezu auch ihre Methode) aus den drei bisher vorgestellten Positionen ergab. Es sind drei Positionen, da man auch das langjährige Schweigen oder beiläufige Behandeln des Begriffs in der Fachliteratur hinzurechnen muß. Es impliziert die Auffassung, daß das Wort ouyy^w^ii verstanden ist, wenn man es durch "Verzeihung" übersetzt; demnach müßte der Vorgang eine anthropologische Gegebenheit, ein Universale, sein, das man nicht im Rahmen einer Fachwissenschaft, sondern, wenn überhaupt, dann übergreifend, etwa im Rahmen philosophischer Betrachtungen, würdigt. Drei Beispiele aus neuerer Zeit, wie sie freundliche Zeitgenossen und der Zufall jemandem bescheren, der Uber Verzeihen arbeitet: Hannah Arendt stellt das Verzeihen als Gegenmacht gegen die "Unwiderruflichkeit des Getanen" (Arendt S. 229) dem Versprechen als Mittel gegen die Unabsehbarkeit der Taten (Arendt S. 239) gegenüber. Arendt S. 232: "Konnten wir einander nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen wurden, im Guten wie im Bösen: gerade im Handeln wären wir das Opfer unserer selbst, als seien wir der Zauberlehrling, der das erlösende Wort Besen, Besen, sei's gewesen, nicht findet." Simon S. 245. "Die dem Handeln zugrundeliegende Verabsolutierung der eigenen Gewißheit zur Wahrheit wird t einem a n d e r e n e r k e n n e n ' heisst, also das Eingehen in die seelischen Bedingungen seiner Handlung verlangt, wodurch sich eine M e i n u n g mit dem Täter ergeben kann, weshalb man ihn dann entschuldigt (...). So äussert sich in der OUYY^WUT] die fUr u n s massgebende Fähigkeit, vom Äusseren der Tat in das Innere des Täters zu sehen und dadurch Uberhaupt erst zu einer Scheidung der U n r e c h t s h a n d l u n g e n nach der seelischen Seite hin zu gelangen. Fassen wir u n s bestimmter: Von der Schuld, die auf jedem lastet, der getötet hat, gelangt m a n durch Einsicht' zur Ent-Schuldigung dessen, der, ohne zu wollen, getötet hat. Wir sagen a u c h ein Einsehen mit jemand haben ." 13
Adam S. 26 Anm. 23. S. 37 Anm. 69. S. 38 Anm. 74.
A II Sprachliche Aapekte In einem ersten Schritt soll betrachtet werden, was Bich Uber die H e r kunft des Wortstamms von O U Y Y V W U T ) sagen läßt, in welchen Zusammenhängen er verwendet oder nicht verwendet wird und welche Schlüsse sich aus den grammatischen Konstruktionen ziehen lassen.
1. Etymologie Die Wörter ouYYiYvuoxti), ouyyvuuti und ihre Stammverwandten sind bei Homeros und Hesiodos und im Mykenischen nicht belegt. 1 Der früheste gesicherte Beleg findet sich bei Simonides, also im 6./S. Jahrhundert v. Chr. Man ist zunächst geneigt, ouyyiyvugxu als Neubildung des S. Jahrhunderts anzusprechen, die in eine Reihe zu stellen wäre mit den zu dieser Zeit aufkommenden ouv-Komposita wie auYXa^PELVi ou(i7t£v-8'sTv, OUVAXYETV, ouv&x$eo-8M, OUXXU7TE~V, dichterisch ouvaoxaXav, O U Y ~ xativEiv, oufiiroveTv.2 Nach dem Grundsatz "Quod non in verbo, non in mundo" müßte man danach annehmen, daß das Phänomen Verzeihen in homerischer Zeit noch nicht wahrgenommen wurde, jedenfalls nicht im Vorstellungsbereich des Wortes ouYY^ü|ir], allenfalls im Medium anderer Begriffe. 3 Wie der Begriff des Verzeihens im Griechischen gebildet und
1 überprüft wurden folgende Konkordanzen und Indices: Prendergast fUr Horn. Il„ Dunbar Od. fUr Horn. Od, Ludwich fUr Horn. Batr. (die Scholien zur "Odyssee" benutzen das Wort nicht - Sch. Horn. Od. ohne Befund -, wohl aber die zur "Ilias", s. A V 1). Paulson und Tebben fUr Hesiodos. Naoh Frisk s. v. ÇÛV und Cbantraine s. •. ÇÛV ist mykenisch unter kusu zu suchen, nach Dunkel OÛV S. 56 auch unter su- und u-. Eine Entsprechung zu OUYY^nri findet sich bei Morpurgo und in den Index généraux in diesen Bereichen nicht. 2 Belege s. Burkert Mitleidsbegriff S. 58; Tgl. Snell Dichtung S. 4 6 f j die Verbalkomposita mit Oliv- bezeichneten bei Homer noch nicht gemeinsames Tun, auch OC^LOC betone die Addition: "ebenfalls*. Immerhin findet sich oûvoiôoc bereits bei Sappho (PLF Sapph. 26J2). 3
Zur Sache des Verzeihens bei Homeros s. A V 1.
16
A II Sprachliche
Aspekle
u r s p r ü n g l i c h g e d a c h t wurde, m ü ß t e s i c h dann an d e n f r ü h e s t e n a b l e s e n l a s s e n . D e r V e r s u c h , die f r ü h e s t e n B e l e g e z u einer des
Verzeihens"
zu verwenden,
k e i t e n , w i e die U n t e r s u c h u n g
begegnet
aber
Belegen
"Archäologie
erheblichen
Schwierig-
der B e z i e h u n g e n z w i s c h e n d e n
Bedeutung
"verstehen" und "verzeihen" ergibt (A III). T a t s ä c h l i c h l a s s e n s i c h aber g e w i c h t i g e A r g u m e n t e dafür anführen, daß es bereits
im
Indoeuropäischen
ein
ouyyiyvúoxci)
indirekt
weiterlebt.
Wackernagel
gesehen
worden:4
ignoscere
ist nicht,
wie
man
Wort Der
Das
zuerst
für "verzeihen"
Zusammenhang
gab,
ist
Kompositionsvorderglied meinen
möchte,
eine
voraus wie
Insequor,
Instö.5
E x i s t e n z des a l t i n d i s c h e n anu-jñB-,
Diese
Annahme
das z u n ä c h s t
stützt
von
lat.
lateinisch
sich
(seit R i g v e d a )
auf
a n d e r e m "zustimmen,
die
"zustim-
men, z u g e s t e h e n " , dann (seit Mahäbh&rata) "verzeihen" b e d e u t e t . 6 ouy'Yi.'Yvúaxcj b e d e u t e t b e d e u t e t j a unter
in
Jacob
Verneinung,
s o n d e r n e i n e P r ä p o s i t i o n mit der B e d e u t u n g "entlang"; s i e s e t z t *enu
das
von
(Auch
überein-
stimmen".) Diese These läfit sich nach Dunkel (vgl. Anm. 4) so begründen: Gegen die traditionelle Etymologie, die Ableitung von der Verneinung, also *n-gnö, wird Wackernagel S. 1384 angeführt, dafi diese nur in Nominal-, nicht in Verbalkomposita verwendet wird. Die von Walde/Hofmann bevorzugte Ableitung von *en (lat. in) ist phonetisch möglich, aber angesichts der indoeuropäischen Parallelen, die sich durch *ano erklären lassen, keine gute Lösung. Den Einwänden von Walde/ Hofmann (s. v. ignosco) kann man mit folgenden Argumenten begegnen: (l) FUr die "lautlich schwierig" Synkope von -u- hat Wackernagel Ignosco S. 1318 die völlig vergleichbaren Parallelen man(u)cups, -suetus, -tele angeführt, zu ergänzen ist mandare. (2) Walde/Hofmann lehnen *enu fUr Komposita wie Insequor und instö. Institor gegen Wackernagel. Leumann und Schwyzer ab. begründen aber das Ubergehen der ausschlaggebenden Sanskrit-Parallele nicht. (3) Dafi "von einer nach dem ai. Wort anzusetzenden Grundbedeutung zugestehen* (...) in den historischen Belegen von ignosco nichts zu entdecken" ist, liegt daran, dafi wir nur den Endpunkt der Entwicklung Uberliefert bekommen haben, während diese Bedeutung fUr 0UYYlYv(i>0Xb) belegt ist (s. u ) , stellt aber kein Gegenargument dar. (4) Die
* Wackernagel Ignosco S. 1319: "Vielleicht darf geradezu ein urindogermanisches enu-gnözustimmen, verzeihen' angenommen werden. Die Griechen, denen enu ganz abhanden gekommen war, hätten dann die alte Verbindung durch eine andere Zusammensetzung von gnö ersetzt, worin mittelst ouv- der ähnliche Begriff gebracht war." (Mit Verweis auf OUYyiyOülOXü} "zustimmen, zugestehen" bei Herodotos und OUYY^^UI "Zugeständnis" bei Paulus.) Ich danke Herrn Prof. Dunkel, Zürich. fUr Beratung in der Frage des indoeuropäischen Zusammenhangs. 5 Wackernagel Ignosco ignosco s. u^ Ernout/Meillet 6
Wackernagel
S. 1318f^ zur Ablehnung durch Walde/Hof mann s. v. s. v. entscheiden sioh fUr keine der Herleitungen.
Ignosco S. 1317.
A II 1
17
Etymologie
Scheidung zwischen *ano "entlang" und *enu "ohne" ist richtig, aber nicht im geringsten Wackernagels Argument.
beeinträchtigt
Indoeuropäisch wäre für das Präverb wohl *ano anzusetzen, 7 so daB man im Griechischen dtvaYi-Y'uüöxu erwarten müßte, das aber in anderer Bedeutung spezialisiert wurde. Eine gewisse Schwierigkeit bereitet bei diesem Zusammenhang noch das lautliche Verhältnis von *ano zu lat. *enu, nicht jedoch der Ersatz des im Griechischen zu erwartenden ävotYiyvcooxu durch ouyyiyvcjoxcj; es handelt sich dabei um eine lexikalische Erneuerung eines aus dem Indoeuropäischen ererbten Idioms: Im Griechischen wird öfter die Semantik einer indoeuropäisch anzusetzenden idiomatischen Wendung erhalten, aber in anderem phonetischem Material realisiert. 8 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Übereinstimmung dreier indoeuropäischer Sprachen in einem analog gebildeten Wort für "verzeihen" mit der Wurzel *§nO "erkennen". Schon im Indoeuropäischen muB das Kompositum, für das die ursprüngliche Bedeutung "entlang-denken" anzunehmen ist, sowohl die moralische Bedeutung "verzeihen" als auch die mehr kognitive "zustimmen, zugestehen" angenommen haben. Das Substantiv ouYYvwtm kann hingegen eine spätere deverbative Bildung sein, da es ziemlich ausschließlich für Verzeihen gebraucht wird;9 auch Y^uiiT] scheint Ableitung von Y^Y^waxu zu sein. 10 Festzuhalten ist, daB im Indoeuropäischen der Kern des Verzeihensbegriffes positiv gedacht, das Miteinander (ouv-) oder die Entsprechimg ("entlang") betont wird ganz im Gegensatz zum Deutschen, in dem das
7 Wackernagel setzt indoeuropäisch *enu voraus; inzwischen rechnet man eher mit *ano (evt. anu), woraus griechisch ä v a wird durch progressive Assimilation wie in TEHEV05 < » T E ^ a v o g so Dunkel IE conjunctions S. 199, Anm. 124. 8
Beispiele fUr eine solche formale Erneuerung bei Erhaltung der Semantik ("substitutive Kontinuante") sind die Wendungen "die Sonne lange sehen" im Sinne von "leben" und "die Hände erheben" fUr "beten" in der Komposition etwa 'OplaxriQ aus OPEO-ÖTS. vgl. ai. giri-, parrate-stäh. s. Leukart S. 182, oder *[lEXiXl/-LCK > (iEXioötx, vgl. ai. madhu-lih- "Honiglecker", siehe Frisk Bd. 1 s. v. txiXl. Da auch ftlr OUV indoeuropäischer Ursprung anzunehmen ist, kann OUYY I 'Y v( i ) axto diese Erneuerung schon frUh vorgenommen worden sein. 9 10
fUr
Siehe A III 2.
Frisk s. v. Yf-Y^WOXU leitet das Substantiv vom Verb ab; Snell Ausdrucke des Wissens S. 20ff. f u h r t Belege f ü r Y l Y v " o x t d T O n d e r "Uias" an; Y v( » ) t xr l fehle bei Homeros und Hesiodos, sie sei bei Theognis belegt; fUr f u h r t er den Beleg IEG Solon 16 an.
18
A II Sprachliohe
Aspekte
Aufgeben des Anspruchs in rer-zeihen,u die Aufhebung der Beschuldigung in entschuldigen gesehen wird. Dieser Unterschied kann allerdings in der Verwendung der Wörter aufgehoben werden. 2. S t a t i s t i s c h e E i n s i c h t e n Ist nun ein indoeuropäisches Wort "verzeihen" zu erschließen, das in auYYi-fvtioxü) trotz des Ersatzes des Vordergliedes weiterlebt, so wundert es nicht, daß die frühesten Belege für auYYiy\i °K(J vergleichbare Vokabeln aus dem ethisch-psychologischen Bereich finden sich in diesen Veröffentlichungen allerdings nicht.
A II 2 Statistische
Einsichten
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Rhodos, Anacr. f ü r Anakreontische Diohtung, Rümpel Theoer. fUr Theokritos, 1 4 Call, f ü r Kallimachos, Herod fUr die Mimiamben des Herondas. 1 5 Arat. fUr Aratos (Maas fUr die Aratos-Kommentare), BKT V 1 fUr die dort v e r ö f f e n t l i c h t e n epischen und elegischen Fragmente, James fUr die "Halieutika" des Oppianos u n d die "Kynegetika", Peek ftlr die 'Dionysiaka" des Nonnos, Pompella fUr Quintus Smyrnaeus. Triph. fUr Triphiodorus.
Gegen diesen Negativbefund stehen folgende Belege in Versen (ausgenommen Sprechversen in der Tragödie): PMG 543: Simonides 38.27 (13 D.). S. Tr. 1265 (Anapäste). Ar. Eq. 1299 (Iamben). AP 11.389: Lukillios (Epigramm). Supp. Heil. 97320: Poseidippos (Epigramm), Babr. 10317 (Mimiambus), D. L. 4.56 (katalektischer iambischer Tetrameter 1 6 ). Ljrcophron Alexandra 3 (iambische Trimeter), Orac Sib. 4167 (Heiameter), PMasp 97 n 47 [VI] (iambisch/daktylisch).
ouYY'w»>l-'ri steht also nicht in besonders komplizierten Versen. — Heranzuziehen ist auch die Beobachtung, dafl in der Tragödie öuyy^H 7 ) zu einem großen Teil in der Rede von Dienern, des Chores oder in einer Rede zu Dienern oder zum Chor gebraucht -wird: £ Ale. 139. £ Andr. 840 • 955. £ Ba 1039. E. Heracl. 981. E. Hipp. 117 * 615. E Med. 814, £ Ph. 994 - 995, £ Suppl. 251. £ El. 257, 5. Tr. 328 (Herold), evtl. TrGF 4 618: Sophokles (Anrede im Plural).
Man kann also vermuten, daß auYYvcI)(ir) der tragischen Diktion der Haupthelden (auf der hohen, "eigentlich" tragischen Ebene) nicht ganz entspricht. Dies läßt darauf schließen, daß in der gesamten griechischen Literatur der Ausdruck öuyyvuuI bzw. ouyY1Yvuöxu (und mit ihm die Sache des Verzeihens in dieser Ausformung) als "nicht-heroisch", "nicht-poetisch", nicht gehobener Sprache, sondern niedrigerer Sprachschicht zugehörig, "banal", "alltäglich" empfunden wurde. Auch die Prosa zeigt die Tendenz, das Wort eher in den Dienst anderer Zusammenhänge als in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen (s. A i). FUr die späte Überlieferung des Wortes lassen sich zwar auch Dialektgründe erwägen, etwa daß ouyyvcjht) allgemein und oufYiyv&axh) in der Bedeutung "verzeihen" im Ionischen unüblich gewesen seien; dafür fehlt aber die Evidenz. Die These könnte den Negativbefund bei Homeros erklären, dessen Sprache stark ionisch geprägt ist. in seiner Nachfolge dann den in der epischen Dichtung. 14 Die Scholien benutzen zwar einmal (k^loOöS-ai [ir], s. C II 4 und 5.) Im H e b r ä i s c h e n 1 8 und wohl auch im S y r i s c h e n 1 9 wurde, im Gegensatz zum K o p t i s c h e n 2 0 . offenbar nicht zum Lehnwort.
3. Grammatiiche Konstruktionen Was läßt sich für die Bedeutung "verzeihen" aus den grammatischen Konstruktionen erkennen, in denen ouyyvcI)[irj und ouyYi-Yvüoxto gebraucht werden? Auffällig ist zum einen der Reichtum an verschiedenen Kombinationen mit anderen Verben, in denen das Substantiv gebraucht wird: Es läßt sich u. a. mit exu, SiSuni, ve^o), TUY/avu, ei^l, heteotl, ¿¡¡iogj, Xanßävu, Eupiöxo), a h s u , 5io|i0(i verbinden; manche dieser Kombinationen werden ihrerseits von Verben des Bittens abhängig gemacht. Grund für diese Vielzahl ist sicher, daß das Verb o u y y i y ^ o x g ) nicht eindeutig genug auf den Vorgang des Verzeihens hinweist und nun für Aktiv und Passiv Umschreibungen gesucht werden. (Aus dem Bedürfnis der Eindeutigkeit entstand wohl auch das abgeleitete Verb ouyy^u^oveu; ouYY^upi^u dagegen für den eindeutig intellektuellen Vorgang.) Die Kombination mit einem Verb des Bittens beleuchtet das Wechselspiel der Beteiligten in diesen Kombinationen: dessen, der verzeihen soll, und dessen, der etwas begangen hat und jetzt der Verzeihung bedarf. Daß das Wort so vielfaltig näher bestimmt werden kann, zeigt es als "Allerweltswort", deutet vielleicht aber auch darauf hin, daß der Vorgang n a mens ouyyvüuti nicht ganz fest umrissen ist, daß er verschiedenerlei Anknüpfungspunkte bietet. Übrigens werden in der späteren Antike die Kombinationen noch erweitert, wie aus der anschließenden Zusammenstellung erkennbar ist. Zum andern stellt man bei der Sichtung der Konstruktionen fest, daß
17
Blass/Debrunoer/Rehkopf
18
Nach
19
Nach Schall
20
Beleg: Äthan,
§ 2. 2bc • 126. Ib.
Krauss. (der allerdings auf religiöse Fremdwörter spezialisiert ist). ep. fest. 5 8 J 4 ( - Z T N r N O M H o f f e n b a r koptisch gebeugt).
A II 3 Grammatische
Konstruktionen t
21
u( ö}trr|5 l u y x ^ ^ u hat ebenfalls die Person, der verziehen wird, im Subjekt ihren festen Platz, während die Sache fehlen oder im Konditionalsatz hinzutreten kann. Es herrscht also eine festere Konvention darüber, daß der, dem verziehen wird, verschiedenen Verben im Dativ — als beteiligte Person — beigefügt wird, bei anderen das Subjekt bildet, als in der Frage, ob und wie die zu verzeihende Tat angeführt wird. Auch diese Beobachtung spricht dagegen, den Vorgang des V e r zeihens im Griechischen auf ein besonderes Erkennen der begangenen Tat zu beschränken, eine Frage, die sich aus der Verwendung von Gaisers Aufsatz bei Oeing-Hanhoff ergab (s. A i). Allerdings nimmt mit der Zeit die zu verzeihende Sache einen selbständigeren Rang ein. Anders bei ouyylyvüoxcj im Bedeutungsfeld "erkennen" (Belege s. A III 2 und 3): Hier ist die erkannte Sache konstitutiv. Für die Konstruktion ouYYiY v( i )oxu £[iO(UT(p ist ein Objekt als Genitivattribut oder A. c. I. typisch; transitives quyy'-Yv(»)oxu t l , auch im Medium, gehört in der Regel ebenfalls in das Bedeutungsfeld "erkennen". Absoluter Gebrauch ist natürlich bei beiden Bedeutungsfeldern möglich und aus elliptischer Ausdrucksweise zu erklären. Welche Person im Mittelpunkt steht, der Verzeihende oder sein Gegenuber, ist nicht vorgegeben; die Anzahl der Belege, die vom Verzeihenden ausgehen (hauptsächlich "Verzeihung gewähren"), und derer, die sein Gegenuber im Zentrum sehen (hauptsächlich "um Verzeihung bitten" und "Verzeihung erlangen"), ist sogar recht ausgewogen. Die häufige Kombination "darum bitten, Verzeihung zu erhalten" (z. B. oUYY^UlXTjq TUXeTv 7rapatTEOliaL TlVOi) setzt beide Personen in Wechselbeziehung. Die Konstruktion ouYY^Wttrjv EXW kann sogar beides bezeichnen, "Nachsicht haben, verzeihen" und "GrUnde zum Verzeihen auf seiner Seite haben". Mit verzeihen im heutigen Deutsch durften dagegen Dativ- und Akkusativobjekt ausgewogen und gleichberechtigt verwendet werden; die Etymologie spricht hier aber fUr einen Vorrang der Sache (ursprunglich Genitivobjekt; s. Anm. 11).
Die Prävalenz der Person vor der Sache, die guyyvuht) erhält, ist a l lerdings zum Teil wohl auch Konvention, bestimmt also die Grammatik stärker als den Sinn. Es wird zum Beispiel unpersönlich argumentiert, ob
22
A II Spraohliohe
Aspekte
ein bestimmter Tatbestand verzeihbar sei oder nicht (ohne daB auf eine konkrete Handlung Bezug genommen wird); dafür eignen sich das unpersönliche ouyYVÜ[iri eqtlv, auch mit weggelassener Kopula, aber auch die Adjektive o u y y v u ö t ° S und Ar- v 959. Gal. DMG 92 Prorrh.-615 1 v( OUYY Y JOX(J etil TLVl: Greg. Nyss. 2: Eun. 310.45 ou
YYcixa) EL: Hld. 10.23.3 OUYY l Y v( i ,0 ' H T T tl SiSw[ii t i v i (Sache): Lys. 10.30 0UYY'uHlrlu SiSutlt * Inf.: Arist. M M 1201a2 auYT v ( i>U r l' u 5iSw(li u v i u v o g : Plu. 864e, J. BJ 6.391 OUYY v ( » , U r l v 7TOLÉO£IO£Ì TLVl "verzeihen": D. C. 73J7.6 OUYY\>ó>HriV TTOLÉOlJai irpóg Ti (zur Bedeutung s. u. A III 2): Hdt. 2.110 öUYYwi't-'lTU 7TOLÉOHOÌL "Verständnis aufbringen" Ù7lÉp Tivoc;: Lys. 922 0UYYVü>HT]V aiTEOnai Ttapa Tivog Eni Tivi: Aristid. Rh. 62.11 öUYY'uuunv a'iTEonai £15 t i v a : J. AJ 6144 ouYY^utiTiv 7tapaiTEO(iai: Ph. 5.375.3
Seite anMPG des
A II Sprachliche
Aspekte
ouYyvcdtiriv TtcxpaxaXeu, ÖTI: D. C. 77.3.3 auYYV(J(!T]\; TTOIEW (Spezialterminus, s. B I 4): Hermog. auyyvcjiiri:
"der
Verzeihung
oi)YYWi>Hr)S auyyvuijr]:
Seohocl:
bedürfen" D. H. 6.732
"Verzeihung
verdienen"
ouYYV>nr)(; Unpersönliche
Stat. 2.13
Eini: Din. 1.60 Konstruktionen:
0l)YYWJ(ir] EOTl: Lys. 12.79 auYYvti^ri : Arist.
EN l l l ! a 2
OUYYVUHH
21.118
EÖTI T I V I : D.
ouYYVUun Tivi: Hdt. 1.39. CPG Ap.15.83 ouYY^ünr)
Tivi> • Part. Dat.: AP 11.389
ouYYVci)(ir] e o t I t l v i TIV05 (Sache): D. Chr. 2 0 1 pi
OUYY^WUI
- Hp. Min. 372a2
OUYY^WUI Trapdi Tivi u v o q (Sache): Alciphr.
2.19.4
F;UYY\>|_tr] EL: Th. 1.32.5 OUYY^ÜUTI EOll * Inf; E. Med. 814 öUYYVÜliri • Inf.: Lys. 18.19. Arist.
EN 1149b4
< e o u > 7rapä Tivoq: App. Lib. 506 o u y y ^ w ^ i I e o t l TIVI 7tapot u v o g : Alex. Aphr. Febr. 1.6 OUYYVÜHT] EVI Tivi EI: Lib. Prog. 91.2 ouYYVü>|ir] u7rdi:pxEi 7iocpcx Tivi: Hyp. 4.7 OUYYVÜUII Y i V E T a i
Tlvt:
Lib. Deel. 23.79 (abh. von « ¡ ¡ l o u )
ouYYVÜnrj Y ^ E t a i TLVI • Part. Dat.: D. 58.24, Äthan. 0UYYVHn Y i V E T a ^ T ^ 1
MPG 25.3221
Ttvoq: Hdt. 9.58
ouYYVti>l-l^ ¿Tt f - v i : Arist.
EN 1109b32
OUYY v( i ) ^ lr l SiSoTtxi TIVI * Part. Datj Or. Jo. 2.80 ouYT^Hii)V Eini T l v i (Sache): D. H. 8.50.4 0UYYVG)(_l(JV
Eljli TLVOQ (Sache): X.
Cyr. 6.1.37. E. Med. 870 (abh. von
aiTEOtltXl) auYYWJHOW Ei^ii, o i a v : E. Fr. 645 o u y y ' w w h u v Y^Y^OH 0 ":
D-
H-
(abh-
1162
Ton
ä^iou)
GUYY'W'»'^ova i x t i ) x i v a Tivoq: Plu. Agis 31.8 äauYYVCJtiUV:
Lib. Ep. 823.3.3
äouYYVU!i6vr]Toi;: Sch. A Pr.34 , 23 OUYY^U^O^EU avyxvunioveui
Tl VI: J. AJ 11144 T i v l E7ri t i v i : LXX
4Mcc. 5.13
auYY^UHOVEO) OTi: Ath. Deipn. 5.4 avyfVU>\10VEU> T i v l OTL: D. C; Zonaras 9.10.5 QUYY^wtzovEOnai P.: PGnom
63 [II p j
a u Y Y ' v u n o v i x o i ; : Arist. EN 1143a21 0 U Y Y \ " J ( i 6 v i x 6 ? Et[ii Tl v i : Arist. Ath. 16.2 OUYYVWHOVIXOV EL: Arist. EN 1150b8 S i S u i i i t ö c u y Y ^ w h o v l x ö v irpoQ T i v a : Or. Mt. 265.3 äöUYY'WWHOVTjTOQ Stob. 4.23.61: Pseudo-Phintys
23
Diese Wortbildung wird von attizistischem Standpunkt aus abgelehnt:
Ecl. 360 fllr
aSoxitiov,
Handschriften-Familie
Thom.
Mag.
q; S. 129
338.15 E u y y ^ w U O ^ e l v
YVUUHS ä ^ l ö o a i (...). (Ähnlich 3392.)
tö fUr
8e o u Y Y ^ ö v a i Familie
T
xocXXiotov
sinngemäß
ElTTflg. OUYYIYV&OXEIV
gleich); öe
Phryn.
(so S. 121 xal
danach ouy~
A III Daa Verhältiii» der Bedeutungen "verzeihen" und "erkennen" 1. Die Verbindung zwiichen den Bedeutungsfeldern "verzeihen" und "erkennen" Wie in Kapitel A II 1 dargelegt wurde, ist ÖUYYiTv(I)0XU ein vom Indoeuropäischen ererbter Begriff, der schon aus dem Indoeuropäischen die Bedeutung "verzeihen" mitbrachte und nur jahrhundertelang in der Dichtung nicht gebraucht wurde (soweit sich aus dem Erhaltenen schließen läßt). Mit höchster Wahrscheinlichkeit wurde schon der indoeuropäische Begriff in einer Bedeutung gebraucht, die vom Grundwort "erkennen" abgeleitet war, nämlich "übereinstimmen, zugestehen". Läßt sich der Begriff des Verzeihens aus dem Wortbestandteil "erkennen" ableiten? Will man von der Bedeutung "erkennen" eine Brücke schlagen zur Bedeutung "verzeihen", so steht man immer vor der Schwierigkeit, daß das, was der Verzeihende erkennen kann, etwas anderes ist, als was der Schuldige inzwischen (vermutlich) erkannt hat: Dieser muß mehr die Fehlerhaftigkeit seines Handelns einsehen als dessen Rahmenbedingungen, die ihm (in bestimmtem Bewußtheitsgrad) die ganze Zeit über vor Augen standen; der Verzeihende dagegen geht von der Verfehltheit der Handlung aus und dringt — wenn das intellektuelle Moment des Verzeihens betont wird — zu ihren Bedingungen vor. Innerhalb des griechischen Denkens gibt es einen Bezugspunkt, der diese Differenz aufhebt, nämlich das delphische YVÖ-9-I OOCUTOV. Der V e r zeihende erkennt sich selbst als fehlbaren Menschen, der sich, im Gegensatz zu den Göttern, aus mangelndem Uberblick und ungenügender Handlungsfreiheit verfehlen muß; er erkennt, daß der Täter bei seiner V e r fehlung solchen Handlungseinschränkungen unterlag, und verzeiht daher die Tat. Diese Deutung gibt am Ende des hier behandelten Zeitraums Isidoros von Pelusium der Bildung O U Y Y ^ U H I I (s. C II 6) — er ist der erste, der einen den Bezug zum Y V Ö-9-L OOCUTOV ausdrücklich herstellt; doch begleitet dieser Sinn die Geschichte der Verwendung des Begriffs
30
A in Das Verhältnis
der Bedeutungen
"verzeihen"
und
"erkennen"
öuyyvuht). Die Verbindung zum Yvöih oauxov stellt den einzigen greifbaren religiösen Hintergrund des Begriffs ouYyvuiir] dar (Kapitel B V). Sie klingt etwa im ersten hier vorgestellten Beleg, X. 3.1.40, an, wenn betont wird, daß der Armenier "sich menschlich verfehlt" habe (ctv&puTuva ¿[iapxElv), wird in diesem Kapitel aber bereits in einem früheren Beleg begegnen, in einem Demokritos-Fragment. Doch die Erklärung des Isidoros als historische Hypothese zu werten, hindert die Einsicht in die Etymologie des Wortstamms OUYYVÜUTI: Bereits das Indoeuropäische muß moralische und kognitive Bedeutung verbunden haben. Ob es sich dort um zwei verschiedene Bedeutungen handelte oder sie als Nuancen derselben Bedeutung aufgefaßt wurden, läßt sich schwer ermitteln; in Kapitel A II 1 wurde die Grundbedeutung "entlangdenken" vorgeschlagen. Im Griechischen besteht die Möglichkeit, die Frage an der Verwendung im Kontext zu überprüfen, und die Frage muß in unserem Zusammenhang besonders interessieren, da der intellekzur tuelle Gehalt des Verzeihens-Begriffes seit Oeing-HanhofThese Diskussion steht. Wie immer die Doppelbedeutung vom Indoeuropäischen her ererbt war, eine gegenseitige Beeinflussung zwischen den Bedeutungen blieb auch in Klassischer Zeit möglich: Die Bildung des Wortes war durchsichtig; andere Verbalkomposita mit dem Vorderglied ouv- wurden im S. und 4. Jh. v. Chr. verstärkt gebraucht, und insbesondere wird in dieser Zeit auYY l Y v ( » , 0 > c l l ) nicht nur fUr "verzeihen" (und damit zu vereinbarenden Bedeutungen) gebraucht, sondern auch in solchen, die in erster Linie auf den Wortbestandteil -Y(.Y V( * >0XU Bezug nehmen. In diesen Bedeutungen könnte man O U Y Y t - Y ^ a x u fUr ein neues Wort des S. Jahrhunderts v. Chr. halten, wenn nicht die Bedeutung "zustimmen" schon im Altindischen belegt wäre: Einige Belege fUr den Bedeutungsbereich "erkennen" machen den Eindruck des Neuentdeckten, Neugeprägten, des im Medium des n e u e n Wortes entdeckten neuen Phänomens. Auf jeden Fall finden sich beide Verwendungen in der gesamten Antike nebeneinander, auch bei einem und demselben Autor k a n n avyyiyviJOXb) "verzeihen" und - je nach Konstruktion - "erkennen", "sich bewufit werden", "eingestehen", "bekannt sein", "Mitwisser, Mitverschwörer sein" oder "allgemein verstanden" bedeuten. In den f r ü h e n Belegen wird das Verb häufiger in einer solchen intellektuell ausgerichteten Bedeutung verstanden als in der des Verzeihens. DafUr. daß der etymologische Zusammenhang selbst beim Substantiv bewufit blieb, läfit sich Lys. 31.10 (s. B I l) als Zeuge heranziehen: Hier wird ein Wortspiel mit Y ^ U T ) ( h i e r " m i t Absicht") und OUYYW»>HT1(j.ri scheint mir auch fruchtbar für die Erschließung des Bedeutungskerns von ouyyvuixr], da sie neben dem Bewußtsein auch den situativen Standpunkt und die Handlungskonsequenz der Beteiligten berücksichtigt. auYY^UI kann danach den Standpunkt bezeichnen, den jemand gemeinsam mit einem anderen annimmt und von dem aus er sich in seiner Entscheidung leiten läßt. Es gibt Belege, die dieses Verständnis nahelegen. Allerdings ist bei ouYYVü(ir| dann noch die Frage, ob der gemeinsame Standort der Beurteilung und Entscheidung dauerhaft und grundsätzlich oder im Gedankenexperiment, probeweise, höflichkeitshalber eingenommen wird. Bei Thukydides etwa finden sich beide Verwendungsweisen, ebenso in anderen frühen Belegen. Stein S. 32 lehnt die Ubersetzung "Verzeihen" oder "Nachsicht" grundsätzlich ab: "Es handelt sich (...) unter u n s e r e m Betrachtungswinkel u m das Phänomen, daß nicht der Standort des a n d e r e n e i n g e n o m m e n wird. Das Individuum bleibt vielmehr bei seiner eigenen Beurteilung der Lage, gibt aber zu e r k e n n e n , daß er Csic] es sich vorstellen kann, wie der Horizont vom Standpunkt eines a n d e r e n a u s s e h e n könnte. ü b l i c h e r w e i s e verwendete Übersetzungen wie Verzeihung' oder Nachsicht' ergeben in diesem Z u s a m m e n h a n g wenig Sinn (...)." (Vgl. a u c h Stein S. 46.) Damit geht er aber daran vorbei, daß in bestimmten Thukydides-Belegen nicht n u r gedankenweise der Standort eines a n d e r e n a n g e n o m m e n wird, sondern a u c h die Unterlassung von Vergeltung gemeint ist, wie noch dargelegt werden wird (A III 2. B II 4).
2. ouyt i Y vi &ox(i>
i m
Bedeutungsfeld "erkennen"
Für den Wortgebrauch bei Herodotos und in der Tragödie ist es charakte-
A III 2 auyyiyvcjaxü)
im Bedeutungsfeld "erkennen"
33
ristisch, daß öuyyiYvwoxu "erkennen" und ouYYLYvüaxu Etiauxtp "sich bewußt werden" mehrmals in das tragische Ttä&og-^idi&o^-Konzept verwoben ist; dies gilt besonders für S. Ant. 926 und Hdt. 1.45.1 S. Ant. 926. Antigone a m Ende i h r e r letzten Rede: "Was soll ich Arme noch auf die Götter s c h a u e n ? w e n z u m Beistand r u f e n ? da ich ja w i r k l i c h d u r c h Frömmigkeit die Gottlosigkeit erworben habe. Aber w e n n das [daß ich so ausweglos der Strafe der Gottlosigkeit ausgesetzt b i n ] den Göttern r e c h t ist [w.: u n t e r Göttern gut i s t ! so sollte ich Ew.: w i r ] im Leiden w o h l einsehen, daß ich g e f e h l t habe (Tta&OVTE? a v !;uYY\> 0 'lU EV rHiapTTjXÖTE?); w e n n aber diese sich v e r f e h l e n , möge i h n e n nicht m e h r Leid w i d e r f a h r e n , a l s sie w i d e r r e c h t l i c h m i r antun." Antigone begründet in i h r e r letzten Rede noch e i n m a l a u s f u h r l i c h das Begräbnis des Bruders. Nur Kreon k a n n d a r i n e i n e V e r f e h l u n g s e h e n (V. 914); Antigone bleibt bis z u m letzten Vers vom U n r e c h t i h r e r B e s t r a f u n g Uberzeugt ( e x S E x w ^ V. 928). Im W i d e r s p r u c h zu i h r e m gottgemäßen H a n d e l n sieht sie sich mit s c h w e r s t e r S t r a f e belegt. Ehe u n d Kinder sind ihr versagt, o h n e daß die Götter h e l f e n d e i n g e s c h r i t t e n sind: Dies deutet darauf hin. daß Antigone mit i h r e r Frömmigkeit a u c h Gottlosigkeit begangen hat (V. 924f.); w e n n dies der Fall ist, so k a n n sie zwar bisher nicht, aber in dem auf sie w a r t e n d e n Leiden vielleicht ihre V e r f e h l u n g e i n s e h e n , dadurch, daß die Götter selbst i h r e n Tod n i c h t v e r h i n d e r n . Bei i h r e m Abgang läßt Antigone beide Möglichkeiten, ihr eigenes U n r e c h t u n d das der a n d e r e n , u n e n t s c h i e den n e b e n e i n a n d e r stehen. Tatsächlich e r f ü l l e n sich beide Voraussagen: Die Götter v e r h i n d e r n den Tod nicht, u n d Antigones G e g n e r n w i d e r f ä h r t verg l e i c h b a r e s Leid. 2
Auch Hdt. 1.45 bezeichnet OUYY^T^WOXU eine Art von Erkenntnis, die im Leiden die Summe der Vergangenheit zieht: Hdt. 1.45. Adrastos ist von Kroisos vom - u n b e a b s i c h t i g t e n - Brudermord gereinigt worden, tötet aber Atys. den Sohn des Kroisos. a u s V e r s e h e n auf e i n e r Jagd, bei der er dem Atys als Schutz beigegeben war. Kroisos legt ihm diese Tötung nicht z u r Last, da n i c h t Adrastos, sondern ein Gott der U r h e b e r sei. "Kroisos n u n ließ denn s e i n e n Sohn begraben: Adrastos aber, der Sohn des Gordias. Enkel des Midas, der m i t h i n der Mörder s e i n e s e i g e n e n Bruders g e w e s e n war, Mörder aber a u c h dessen, der i h n gereinigt hatte,
1 Im folgenden werden Belege a u s Herodotos, Thukydides, den T r a g i k e r n u n d Aristophanes a u f g e f ü h r t , a u f g r u n d der Fragestellung jedoch n i c h t vollständig: die E r g ä n z u n g f i n d e t sich im Kapitel B IL 2 Dieser K o m m e n t a r stutzt sich auf Patzers D e u t u n g des Stuckes: D e r Sophok l e i s c h e Held m u ß gerade in s e i n e m Streben n a c h Arete schuldig w e r d e n u n d i n s o f e r n s c h e i t e r n ; er b e h a u p t e t aber sein Selbst g e g e n ü b e r e i n e r Welt, die die V e r w i r k l i c h u n g dieser Arete n i c h t zuläßt, dadurch, daß er s e i n e n U n t e r g a n g bewußt h e r b e i f u h r t , u n d in dieser Selbstbehauptung bestätigen u n d r e c h t f e r t i g e n ihn die Götter; im Hinblick darauf k a n n w i e d e r u m n i c h t von S c h e i t e r n gesprochen w e r d e n . Patzer deutet die b e s p r o c h e n e n Verse daher im b e s c h r i e b e n e n Sinn (Patzer S. 9 8 f , ä h n l i c h Class S. 81-83).
34
A III Das Verhältnis
der Bedeutungen
"verzeihen"
und
"erkennen"
erkannte, als es am Grabe still von Menschen geworden war, vor sich selbst, daß er von allen Menschen, von denen er wußte, am schwersten mit Unheil beladen sei ( O U Y - F I V U O X O N E V O C ; Ä V & P U T T U V ETVOU ... ß A P U O U I K P O P U T O C T O G ) , und brachte sich selbst auf dem Grabe als Schlachtopfer dar." Der Satz zeichnet die Selbsterkenntnis des Adrastos nach: Er verfolgt das Leben des Adrastos von seiner Herkunft Uber das durch ihn verursachte Unheil bis zu seiner von allen Menschen ausgesonderten Stellung am stillgewordenen Grabe. O u y Y l Y V ( * ) 0 > ( u zeigt sich hier als Ingressivum zu öÜvoiSa enautip. 3 Die Form des Mediums verstärkt die Konzentration und Geschlossenheit des inneren Dialogs. 4 o u Y Y t - Y v ü a x u s t e l l t s i c h hier a l s das j ä h e E i n b r e c h e n e i n e r
tragischen
Selbsterkenntnis dar. Was SeeI S. 316 zu O U Y Y I Y ^ W O X ü ) im Bedeutungsfeld "erkennen" mit Berufung vor allem auf S. Ant. 926 und Hdt. 1.89 bemerkt, trifft auch den Kern dieser Stelle: "(...) der wesentliche Unterschied [zu OUVOlSa / OUVEi6r)Oig] scheint mir darin zu liegen, daß mit 0 U Y Y l Y v " 0 > < £ t v ( * a s ingressive Umschlagen* eines bisherigen Urteils in ein anderes bezeichnet wird: meist das jähe Zerreißen eines Schleiers von Beschönigung und Selbsttäuschung und das schmerzliche Innewerden einer ganz anderen, fragwürdigeren, durch keine erbaulichen Illusionen mehr verstellten Wirklichkeit, während dem OUVELÖEVOA in höherem Maße eine durative innere Spannung eignet." Bemerkens- und begrüßenswert ist Seels Schlußfolgerung fUr OUYYV(»)tIrl (S. 316 Anm. l): "(...) von hier aus erhält dann OUYYV&W • Verzeihung erst seinen emotionalen Hintergrund." D i e s e t r a g i s c h e S e l b s t e r k e n n t n i s ist ein e i n s a m e r V o r g a n g . Dies läßt sich auch von Kroisos sagen, der einsieht, daß die Orakel aus Delphi richtig waren (Hdt. 1.91: O U V E Y V U ECJUTOU ETVOU xr)v ä i i a p T ä ö a ) . und von Periandros, der sich darüber klar wird, daß er ohne seinen verstoßenen Sohn die Herrschaft nicht aufrechterhalten kann {Hdt. 3.53: OUVEYIVCJOXETO
E(0L>T(J)).
F r e i l i c h kann öuYY'-Y'wwoxo) " e i n s e h e n " , " e r k e n n e n " ohne d e r a r t i g e K o n n o t a t i o n e n b e d e u t e n , u n t e r den frühen B e l e g e n e t w a A r . E q . 4 2 7 Belege
s.
u.).
Charakteristisch
wird j e d o c h
das V e r b
g e b r a u c h t , die d u r c h einen A n s p r u c h von a n d e r e r
für
(spätere
Erkenntnisse
Seite angeregt
werden
o d e r v o r e i n e m o d e r m e h r e r e n a n d e r e n a u s g e s p r o c h e n w e r d e n : In d i e s e m Fall
übersetzt
man
mit
Kompositionsvorderglied
"eingestehen, ouv-
wird
einräumen,
offenbar
auf
bekennen". das
Mit
Gegenüber
dem ver-
w i e s e n , d e s s e n Standpunkt (YVU^T]) e i n g e n o m m e n wird:
3 Vgl. Class S. 83 mit Anm. 194. FUr den Zusammenhang beider Verben sprioht u. a„ daß Sch. Ar. V. 999 ^UVElOO^ai mit wiedergegeben wird.
* So beobachtet von Canorini
S. 76.
* Anmerkung der Verfasserin: Die Bedeutung gressiven Aspekt eines Aorists ersetzen.
kann also Hdt. 1.45
den
in-
A III 2 avyyiyvüaxto
im Bedeutungsfeld
"erkennen"
35
Hdt. 6.9Z. Den Anspruch der Argiver, wegen der Unterstützung des Kleomenes von Aigineten und Sikyoniern je 500 Talente zu erhalten, erkennen die Sikyonier an. da sie ihre Schuld einräumen (oi>YY'u6vTE£ d S l x f j o a i ÜHoXoYTloav), die Aigineten nicht (OUTE 0UVEYlV(i>0X0VT0). Hdt. 4126. Dareios ist das Zurückweichen des SkythenkBnigs ein unverständliches Verhalten (Anrede 6aL(l6vLE H1 u n u p i a g ötHEivcov. Clem. Alez. 2.150.17 "einer der utiupicxq x p e i o o u v .
Weisen
bei
den
Griechen":
öUYYv(i>nr]
Jul. Or. 250c. "(...) weil du den Pittakos lobst, der Triv OUYY^ÜHI'IV T l f i u p t a i ; TrpOUTL'&EL (...)." Lib. Ep. 75.4.4 ohne Zuschreibung an einen anderen Autor: f] OUYYV(i)[iT] Tffe Tincopiac; 'EXXrivixÜTEpov. (Bei Libanios ist 'EXXr)vixoi; ein Lob. 21 ) Als Reflex auf den Pittakosspruch darf diese Verwendung gelten. Die spätere Antike nahm an. Pittakos habe geäußert. Verzeihung sei besser als Bestrafung (oder Rache); yon Diodoros Sikelos, Diogenes Laertios und Stobaios wurde das Bedürfnis nach anekdotischer Einkleidung empfunden, a m zugespitztesten in der Fassung D. S. 9.12.3, Pittakos habe seinem alten Feind Alkaios seine s c h a r f e n Gedichte (die ja tatsächlich bezeugt sind) verziehen und ihn freigelassen. 18 Radikale Bezweiflung durch Fehling (passim), insbesondere D. L. 1.76 ist laut Fehling sicher unecht (S.10 Anm. 3); Fehling S. 9 Anm. 1 werden die Standardwerke a u f g e f ü h r t , die von einer Entstehung des Kanons im sechsten oder f r ü h e n f ü n f t e n Jahrhundert (in der Regel aus mundlichen Quellen) ausgehen; sein eigenes Urteil (S. 8): "Produktion von Geschichte im vierten Jahrhundert". 19
Snell Sieben
Weise SL 20-23, 34f„ 56f.. 62f.
20
Man vergleiche das ÜLTTaXElOV, das Simonides polemisch zitiert: PI. Prt. 339c3-5 (= PMG 542: Simonides 3711 [4 DJ). Auch Alkaios könnte Pittakos bei Gelegenheit polemisch an sein eigenes Wort erinnert haben; als Alkaios-Fragment habe ich den Spruch allerdings nicht gefunden. Zur historischen Auseinandersetzung des Alkaios mit Pittakos siehe PLG Z 24 und D 12 und D. L. 1.81 (vgl. Snell Sieben Weise S. 20-23).
Alkaios
21 Lib. Ep. 823.3.3 gilt es f ü r einen Griechen als besonders wichtig, ä o u Y Y ^ t l u v z u erscheinen.
nicht
56
A IV Spektrum
des
Verzeihens
Wo immer der Spruch als Gnome - also ohne anekdotische Verkleidung angewandt wurde, fiel kein Blick auf die Tat. die verziehen werden konnte, ob sie wohl dieser Verzeihung wUrdig war. Denn daß f ü r den Verzeihung genießenden Täter dies günstiger abläuft als Rache oder Strafe, ist trivial; die Gnome hält die Erkenntnis fest, daB auch fUr den Verzeihenden dies Verzeihen mehr Gewinn bringt als die Vergeltung. Die Fassung, in der OUYYvW|ir] und [isiotvoiod gegenübergestellt werden, erläutert dies, ist aber nur verständlich, wenn die Fassung mit Tl^iupicx vorausgesetzt werden kann: "Es ist besser auf Vergeltung zu verzichten, als diese Handlung später (wenn sie nicht mehr rückgängig zu machen ist) zu bereuen." 2 2 Die Vermeidung späterer Reue - "besser jetzt etwas zu milde als später Gewissensbisse" - ist fUr die volkstumliche Uberlieferung von den sieben Weisen nicht zu pragmatisch gedacht, wenn man etwa an EYYUOt" 7Tnri oftmals in Spannung. Dennoch hat der Vorgang seinen spezifischen Platz im Gerichtsverfahren: Der Zusammenhang mit dem Wort ETUEixrjg bzw. É7n.ELXEioí — ein Wort, das für die ethische Beurteilung, speziell aber auch in der Rechtstheorie verwandt wird — wird noch näher erläutert; es kann auch die Rede davon sein, daß es öixaiov oder qc^lov sei, auyYvúiir] zu gewähren. Manchen Begriffen sieht man ihre juristische Herkunft nicht gleich an. Zum Beispiel ist SiaXXaYr) — neben xaiaXXaYii vor allem in späterer Zeit ein Parallelbegriff — zunächst ein juristischer Begriff. 26 Ein anderer Bereich, dem Parallel- und Gegenbegriffe entnommen sind, ist der der Politik (manche Wörter haben gleichzeitig politische und juristische Bedeutung). In der politischen Sprache haben der Gegenbegriff ^iv7]OLxocxáu und der später gebildete Parallelbegriff txuvTjotia ihren festen Platz. i¿vr}OLxaxáu findet sich als fester Terminus in der Vertragssprache, wird aber auch im privaten Kontext für "grollen, nachtragen" gebraucht. 27 Semantisch schließt an (ivTioixaxáu die Wendung oú (j.rj tivrjoS-ö an, die jedoch speziell im jüdisch-christlichen Bereich verwendet wird, dessen Terminologie in Kapitel C H I vorgestellt wird. ätivTjoxia wird in römischer Zeit gebildet, 28 als die politische Verwendung eine wesentlich größere Bedeutung erhält, was sich auch an neuen (oder ebenfalls häufiger als bisher verwendeten) Begriffen zeigt, z. B. öiaXuu, aÖEia; die politische Amnestie wird auch als "Rettung" verstanden: ACP^U. Auch die Parallelisierung mit dem Verb Í X E T E Ú U weist zum Teil in den politischen Bereich, zum Teil aber auch, und dies wohl ursprünglich, auf das Sakralrecht. 26
Lipsius S. 222f.
27
Zu nvr]Ot.xaxE(i) s. Schmidt D S. 316-318; Waldstein S. 70 LIVT)Olxax£ti) als "Sicherstellung vor Verfolgung", S. 28 Anm. 28, vgl. S. 31 Anm. 59: parallel zu
dtHVT]OTLa. 28
Dazu Kapitel B II 4.
A IV 4 Parallel-
und
Gegenbegriffe
59
Sind G e r i c h t und Politik B e r e i c h e , die o f f e n b a r b e s o n d e r s produktiv M e t a p h e r n f ü r den e t h i s c h e n V o r g a n g des V e r z e i h e n s b i e t e n , so läßt sich u m g e k e h r t auch der Einfluß von der E t h i k auf die Politik f e s t e l l e n . Neigung zu o u y y v ü u 7 ! gehört i m m e r w i e d e r zu positiv b e w e r t e t e n C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n . W e r sie zeigt, den zeichnet Freundlichkeit, Sanftheit aus: Er ist 7tpctoq, fipispog; ihn zeichnet £7UEixEi a x e l - v ä^LOv) stehen wie der ethische Wert des Verhaltens einer handelnden Person. Sch. Horn. II. 13.203c wird etwa fUr den Inhalt von Poseidons E r m a h n u n g OUYY vtJOT ÖV gebraucht: eu Se x a l i?jtl7]S a v Tic; f l ^ i u ö E v ) fUr U n f ä h i g k e i t im Kampf, Sch. Horn. II. 17.27-8 (oUYYVCJaTÖQ) fUr Selbstlob, Sch. Horn. II. 19.126 ( o u y y w * > ° i ° ? ) r u r Achilleus' Schleifen Hektors; Sch. Horn. II. 21.65-66 (öUYYVÜHTJV EXOl) wird Lykaons Flehen gerechtfertigt. Sch. Horn. II. 21.120 (oUYY V U O T Öv) aber a u c h bis zu einem gewissen Grade Achilleus' WUten. Es bleibt allerdings noch ein Gutteil der Belege d a f ü r , daß die Rede einer fiktiven Person als Bitte um oder Gewähren von Verzeihen gedeutet wird. Im Z u s a m m e n h a n g der hier interpretierten Stellen wird fast Uberall einmal der Wortstamm OuyY v ( i ) nr) verwendet: Sch. Horn. II. 9.158b, Sch. Horn. II. 19.91c Sch. Horn. II. 23.589: Sch. Horn. II. 23.605 mit deutlicher Wertung: S e l x v u o l v ütq o x a i o u [iev To nr) ouyy v • Horn. II. 18.356b (p. 504.72) ( o u Y Y ^ ü o X E t v ) bezogen a u f Zeus' Rede an Hera Horn. II. 8.407, wo OÜSe gebraucht wird.
Nach dem durch das göttliche Vorbild und göttliche Gebote geprägten Vorgang des Verzeihens im Homerischen Epos wird man für ouYYVÜ(J.ri im religiösen Kontext, gerade in Gebeten, eine Verwendung erwarten, die nicht — wie in Gaiser s Beispiel — das Augenmerk auf die vergangene Tat richtet, sondern von einem Akt ausgeht, der entweder gänzlich undeterminiert bleibt oder die gegenwärtige Barmherzigkeit und Milde des verzeihenden Gottes betont. Dafür gibt es tatsächlich in den frühen Belegen nicht wenig Beispiele. Aber läßt sich ein religiös bestimmter Begriff von ouYYuünrj erkennen? Läßt sich eine solche Vorbildhaftigkeit des göttlichen Verzeihens — eine religiöse Motivation, wie sie für jüdisch-christliche Texte vielfach bestimmend ist — für auYY^t 17 ! nachweisen? 2. Daa Gebet der Danae bei Simonidea Tatsächlich findet sich der früheste gesicherte Beleg für einem Gebetstext: im Chorlied des Simonides, das die mit ihrem Kind in der Kiste auf dem Meer ausgesetzten Innerhalb der Simonides-Vita ist allerdings eine unbestimmt, möglich etwa zwischen 520 und 476 v. Chr.
ouYYt'Yvwoxü) in Gefühlswelt der Danae schildert. Datierung sehr
PMG 543: Simonides 38.27 (13 D.). 8 Die bei Dionysios von Halikarnassos Uberlieferten Verse schildern zunächst die Situation der Danae (V. 1-7), der Rest besteht in den Worten der Danae. Diese richtet Danae zunächst an den schlafenden Perseus: Sie klagt Uber ihre bedrohte Lage: die Schilderung der
8
Der Text wurde korrigiert nach
Führer.
A V 2 Das Gebet der Danae
bei
Simonides
69
erzbeschlagenen Kiste und der von Meer und Sturm andringenden G e f a h r e n wird abgesetzt von der Gestalt des sorglos s c h l a f e n d e n Kindes (V. 7-20). Der letzte Teil ihrer Worte wendet sich zu Auf f orderungsf ormen; e i n e Art Wiegenlied f ü r das Kind wandelt sich zum Gebet (V. 21-27): "'(...) Ich sage: Schlaf, Kindchen, es s c h l a f e das Meer, es s c h l a f e das u n e r m e ß l i c h e UnglUck. Eine Änderung des Beschlusses möge kommen, Vater Zeus, von dir: w e n n ich aber ein dreistes Wort bete oder außerhalb des Rechtes, v e r z e i h ' mir (aÜYYVtoSK h o l ) ! "
Danaes Bitte um Verzeihung will ein Vergehen, das sie eventuell durch ihre Worte begangen hat, schnell und umfassend zurückziehen, neutralisieren, unwirksam machen; dazu bedient sie sich einer höflichen Formel, die keine Implikation über den erbetenen Vorgang enthält. 9 Diese Auffassung läßt sich einmal aus der privaten Atmosphäre und Innenperspektive der Danae begründen, die im Gedicht vorherrscht. 1 0 Christ hebt hervor, wie sehr Simonides "die ganze Szene aus der heroischen Sphäre herausgehoben" hat: der schlafende kleine Perseus ist "einfach Kind", das "mit den zärtlichen Augen der Mutter gesehen wird" und sich noch nicht als das Götterkind erweist, das seine Mutter später retten wird (Christ). Der Ausschnitt, den der erhaltene Text zeigt, ist betont unheroisch, privat, intim gewählt: "Er zeigt das Wunder nicht als Umschlag und von außen, sondern als einen Zustand von den zunächst B e t r o f f e n e n aus" (Fränkel). Das schließt nicht aus. daß dieser Ausschnitt seine eigene Dramatik hat, indem er die Situation wählt, in der alles unentschieden ist (Bowra): aber dies ist eine Dramatik der Innenperspektive der das Ereignis Erlebenden. Möglicherweise wurde anschließend die Rettung durch die Fischer von Seriphos erzählt (Wilamowitz), der e r h a l t e n e Abschnitt beschränkt sich auf eine Entwicklung in Danaes Worten (Bowra). die nicht von der Erwartung naher Rettung bestimmt ist. - Dionysios von Halikarnassos f u h r t das Gedicht gerade wegen seiner ohne metrische Abteilung nicht von Prosa zu unterscheidenden Diktion an (D. H Comp. 26.233): Auch sie trägt zur Privatheit der Szene bei. Zum einen unterstützt also die zu beobachtende private, u n h e r o i s c h e Atmosphäre die Annahme, daß mit der Bitte um Verzeihung eine menschlich-geläufige Formel verwandt wird. Zum anderen ist der Gedankengang in Danaes Worten zu verfolgen Wilamowitz Deutung ist fUr die Beobachtung hilfreich, gerade weil man bestimmte Implikationen nicht mehr teilen wird: weder seine Ausschmückung, Danae wurde sich am liebsten an die Brust eines h e l d e n h a f t e n Sohnes lehnen, noch die Annahme, mit der Anrede Z e u TTCCTEp steuere sie auf die Schlußfolgerung zu: "rette deinen söhn, du bist es u n s schuldig". Dies setzte voraus, daß der Monolog, den Danae vor dem sie nicht hörenden Säugling spricht, noch Unausgesprochenes enthielte.
9 Dies gegen Cancrini S. 73 Anm. 47. die hier ebenso "comprenderlo" wie "perdonarlo" versteht: dies soll a u c h fUr A Suppl. 215 * 216 gelten, wo aber a u c h eine andere Auffassung näher liegt (s. u.). 10 FUr das Verständnis des Simonides-Fragment w u r d e n benutzt: Christ Wilamowitz S. 144-150, bes. 147-49, Fränkel S. 359-361, Bowra S. 337-40.
S. 34-39,
70
A V Die Frage nach
einem
religiösen
Ursprung
Richtig ist. daß Danaes Worte zweimal den Gedankengang abbrechen und neu ansetzen, und zwar immer dort, wo der Duktus des Gedankens a u r e i n e Konfrontation mit dem Gegenuber hinzielt: Am Anfang ist der "Gegensatz zwischen der unbewußten R u h e des Kindes und dem WUten der Elemente" (Christ) beherrschend, er f u h r t auf den rhetorisch geprägten Höhepunkt (V. 18-20): "Wenn dir aber f u r c h t b a r wäre, was doch f u r c h t b a r ist, liehest du wohl a u c h m e i n e n Worten dein zartes Ohr." Verfolgte sie den Gedanken weiter, so mußte sie wünschen, das Kind müge a u c h Wellen und Sturm hären (eine Vorstellung, die der liebevollen Fürsorge widerspräche), oder gar dem Kind einen Vorwurf aus seiner UngerUhrtheit von den Leiden der Mutter machen. Danaes Worte setzen darum gerade wieder beim Wunsch "Schlaf, Kindchen" ein, den sie in k u h n e r Metaphorik (Wilamowitz) auf Meer und Unglück erweitert, womit sie. n a c h der Verengung des Horizonts auf das Kind, wieder den a n f ä n g l i c h e n ihres g a n z e n Leidens erreicht (V. 7 7TOVOV - V. 22 XOCXOv), n u n aber nicht mehr in r e i n e r Klage, sondern im Gebet um eine Änderung des Geschicks durch Zeus. Doch a u c h dieser Gedanke wurde, weiter verfolgt, auf eine Konfrontation mit Z e u s h i n a u s l a u f e n : Als Urheber von Danaes Geschick ist er fUr sie und seinen Sohn verantwortlich. Im Unterschied zu Wilamowitz' Deutung scheint mir charakteristisch fUr die Danae des Simonides, daß sie diese Schlußfolgerung nicht etwa verschweigt, sondern erst gar nicht denkt: erst dies heißt, mit der a u c h von Wilamowitz festgestellten Demut der Danae Ernst m a c h e n . Danae bittet also nicht um Verzeihung wegen ihres unausgesprochenen Aufbegehrens, sondern a h n t die Konfrontation und löscht darum mit ihrer Bitte o u y y v t ü & l die eventuell ( o i l l V. 25) in ihrem ausgesprochenen Anliegen e n t h a l t e n e Dreistigkeit vorsichtshalber wieder aus.
Im Gedicht des Simonides wird also ouYYi-Y^waxcj) vom zwischenmenschlichen Vorgang her gedacht, obwohl der Gott darum gebeten wird; geläufige Konventionen sind bereits vorausgesetzt. 3. ouYYvt*>H1 in a n d e r e n G e b e t e n Das Wort GUYYHT]V £x E " (•••)• E r begründet dies damit, daß der Verstand der Athener "ganz in den Häuten" (auf Kleons Seite) gesteckt habe. Ar. Nu. 1479. Strepsiades bittet Hermes, ihn nicht ganz zu
vernichten,
12 Während LSJ den Beleg fUr "excuse, pardon* a n f u h r e n , ist offensichtlich hier gerade vom Gott gefordert, sich in die Lage der Sterblichen zu versetzen; die vom Chor mitgemeinte Handlungskonsequenz - Tiapaaiocir] - wird von Danaos ausdrücklich genannt.
72
A V Die Frage nach
einem
sondern seiner Unverschämtheit 7rapavorioavT:o5 ä6oXEOxiqt).
zu
religiösen
Ursprung
verzeihen
(ouyYV(J(ir]V
e'xe
E^oO
Keine Begründung wird in folgenden späteren Belegen f ü r ouyYV(i>tir] mittlberliefert: Men. Fr. 266: 'ASpotCTEia x a l / &EOC OXU&ptdTrE NEtlEOl, OUYYIY'ÜUOXETE (es ist wohl nicht nach Men. Fr. 264 die Begründung gemeint, daß bei einem Opfer den Göttern am wenigsten zugebilligt wird). PCG Bd. 7: Theopompos 60 ist von der öUYY^unr) die Rede, die Eileithyia dafUr hat, daß sie von den Frauen ständig geschlagen wird; vgl. Sch. Theoer. 2.66: Bei Menandros r i e f e n die gebärenden Frauen die Artemis an. sie möge ihnen verzeihen (ct^LOUO&Oil ouYYVWlirji;). daß sie ihre J u n g f r ä u l i c h k e i t verloren haben. Ein spezifischer Verzeihensbegriff nicht
festzustellen.
Aber
auch
für d e n r e l i g i ö s e n B e r e i c h ist
wenn
die
Vorstellung
vom
m e n s c h l i c h e n V o r g a n g auf das g ö t t l i c h e V e r z e i h e n ü b e r t r a g e n w i r d , der
Gedanke
auszeichnen,13
nicht
fern,
daß
sich
gerade
Götter
durch
w i e e s i m G r i e c h i s c h e n der K l a s s i s c h e n
liegt
Verzeihen belegt
ist:
G ö t t l i c h e s A l l w i s s e n , G r o ß m u t , der g r o ß e A b s t a n d z u m S t e r b l i c h e n ,
der
für " H e r a b - l a s s u n g "
keinen großen Aufwand verlangt,
Zeit
also
zwischen-
der
Überfluß
an
n n r ] , die v o m S t e r b l i c h e n k a u m z u m i n d e r n ist, e r l e i c h t e r n d e m
Gotte,
w a s d e n M e n s c h e n e i n i g e s an s e e l i s c h e r K r a f t k o s t e t . G e r a d e der
Haupt-
beleg
für
die
Götter
als
die
schlechthin
Verzeihenden
zielt
be-
z e i c h n e n d e r w e i s e j e d o c h nicht auf g ö t t l i c h e s , s o n d e r n — d u r c h s a r k a s t i s c h e U b e r z e i c h n u n g — auf m e n s c h l i c h e s V e r z e i h e n , das o f f e n b a r d e m S p r e c h e r , auf d e n e i n e B e g r ü n d u n g für d i e s e s g ö t t l i c h e V e r z e i h e n z u t r e f f e n d ü r f t e , v e r w e i g e r t wird. TrGF Euripides 645. Das Fragment stammt aus dem "Polyidos". dessen Handlung von Hyginus fab. 136 wiedergegeben wird. Es paßt recht gut zu der Situation, in der Polyidos den ins Honigfaß g e f a l l e n e n Sohn g e f u n d e n hat geneigt und nun a u c h noch lebendig m a c h e n soll. "Zum Verzeihen (a\jyyvH0aiv w i r ( 1 i n d e r Textausgabe durch
Vgl. das Zitat aus dem G r i m m s c h e n Wörterbuch bei Oeing-Hanhoff mit Anm. 21 auf S. 81: "Was ist göttlicher als Verzeihen".
S. 79
A V 3 ovyf\>ßr] in anderen "indulgentibus potius quam kultisches &(idpTr]tia vor.
concordibus"
73
Gebeten
erläutert; w a h r s c h e i n l i c h
liegt
ein
Weitere Belege ftlr göttliches Verzeihen aus der Klassischen Zeit: Th. 4.98.6. (zitiert in Kapitel B II 4). PI. Phlb. 65e7, PI. Smp. 183b6. X. Mem. 2.2.14. ablehnend PI. Lg. 906dl, PI. Lg. 921a3 (zu diesen Belegen s. B III 2).
Nicht nur, wenn Götter um ouYyvunr) gebeten werden, sondern auch im zwischenmenschlichen Sprechen ist übrigens oft unwahrscheinlich, daß unter auYYvHT] i n B I
der
Klaaiiichen Zeit
Rhetorik
In diesem Kapitel werden Zeugnisse aus (eigenständig überlieferten) Reden und der theoretischen Rhetorik vorgestellt. Im Vordergrund stehen Reden, die vor Gericht gehalten wurden; die meisten Reden der Klassischen Zeit setzen die Situation des Gerichts oder einer agonistischen Entscheidung vor einem gedachten oder tatsächlichen Tribunal voraus. Für politische Reden in Werken der Geschichtsschreibung sei auf das betreffende Kapitel (B Ii) verwiesen; rhetorische Elemente finden sich natürlich auch im Drama (B Ii) und in philosophischer Prosa (B III). Da sich in den einzelnen Belegen verschiedene Aspekte treffen, ist eine Vorstellung in lockerer Anordnung mit Querverweisen nicht zu vermeiden. 1. D a s K r i t e r i u m der U n f r e i w i l l i g k e i t Im Deutschen steht der Begriff des Verzeihens nur in sehr entferntem Zusammenhang mit der Sphäre des Gerichts, so daß der Leser wohl erstaunt ist, diese an vorrangiger Stelle der Untersuchung von ouYYvunn vorgestellt zu finden. Vor Gericht sollen Schuldige verurteilt und im Gesetz vorgesehene Strafen zuerkannt werden; der Unschuldige soll freigesprochen werden, nicht Verzeihung erlangen. Daß ähnliche Argumentationsmuster für mildernde Umstände vor Gericht benutzt werden, wie man sie auch im Alltag verwendet, um sich zu entschuldigen, um Verzeihung zu e r langen, fällt im Deutschen nicht so stark auf, da verschiedene Wörter benutzt werden. Im Griechischen kann auyyvcjuri für beides eintreten, und der Zusammenhang ist tiefer verankert als im Deutschen. Insbesondere verrät ein immer wieder genanntes Kriterium für oi>YYV(i>iir] seine Herkunft aus dem juristischen Bereich: Nach diesem ist
76
B I
Rhetorik
eine Handlung dann verzeihlich, wenn sie "unfreiwillig" (axwv) 1 begangen wurde, also nicht vorsätzlich, nicht aus dem Antrieb, die Schädigung zu bewirken, die daraus entstand; fast gleichbedeutend ist es, wenn die Handlung als verzeihlich gilt, weil sie "in Unwissen" (ev ayvoia, ayvorjoag) begangen wurde. Diese unfreiwilligen und daher verzeihlichen Taten werden vor allem abgegrenzt von den "freiwillig" (EXUV) begangenen, also vorsätzlichen und daher nicht zu verzeihenden, sondern zu b e strafenden Vergehen; es grenzt aber auch ein Bereich von Taten an, die ebenfalls freiwillig sind, aber nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, sondern ihm entsprechen, vielleicht sogar eine Auszeichnung verdienen. auYYvci)(iiri ist also einem Zwischenbereich zugeordnet, dem der Taten, die weder völlig vor dem Gesetz gerechtfertigt werden können noch gänzlich die im Gesetz vorgesehene Bestrafung verdienen; Kriterium dieses von den normalen (gesetzlichen) Bestimmungen ausgegrenzten Bereiches ist die Unfreiwilligkeit. In anderen Zusammenhängen wird diese Dreiteilung wieder begegnen in der Abgrenzung von Lobenswertem, Verzeihlichem und Tadelnswertem; sie bricht eine starre Zweiteilung zwischen Gut und Böse, Unschuldig und Schuldig: Handlung ethisches Urteil
freiwillig Lob
unfreiwillig Verzeihen, Mitleid
freiwillig Tadel
Im juristischen Bereich gibt es für das dreiteilige Schema ein früh zu datierendes Vorbild, die Regelung der Blutgerichtsbarkeit in der Drakoni s c h e n Gesetzgebung (621/20 v. Chr.): 2 Nach dieser werden nämlich Tötungsfälle in Athen vor drei verschiedenen Gerichtshöfen verhandelt, die vorsätzliche Tötung (tpovoQ EX 7tpovoicxq oder ixovoioq) auf dem A r e o pag, die unvorsätzliche (tpövoQ dxoüotoi;) im Palladion, die nicht rechtsw i d r i g e (tiT) Strafmilderung gemeint (z. B. Antipho 4.1.6, s. u.).
OUYYVU[iT] wird erst spät und nur ausnahmsweise in legislativen Texten und juristischen Kommentaren gebraucht (vgl. C III l): OGl 116.3 d l a.l PGnom 63 CD p.l Dig 271.13.7: Modestinus. 5 Im Gesetzestext ist ^f] ix TrpovoiotQ das Äquivalent zu $XUV. s. Stroud S. S Zeile 11 • 17; zum Unterschied in diesem Fall Condanari-Michler S. 59f„ s. a. 48f. Heitsoh S. 16f. wägt das Alter beider Termini ab, Gagarin Homicide S. 31 diskutiert einen Bedeutungsunterschied.
Bit
Das Kriterium
der
79
Unfreiwilligkeit
äxoüaio? mit einer Strafe belegt ist, die zwischen Todesstrafe und Freispruch liegt. Darum werden vielfach ähnliche Argumentationsmuster v e r wendet, wo es um die Gewährung von ouYYvoitf) geht, wie vor Gericht. Die oben angeführte Dreiteilung von lobenswerten, verzeihlichen und tadelnswerten Handlungen entspricht also der Fallunterscheidung in der Blutsgerichtbarkeit: 6 Juristisches Modell Das Urteil heißt Handlung ethisches Urteil
tpovo? SixaioQ nr] - äxovoiov dem Durchschnittsgriechen geläufig und plausibel war; denn vor Gericht kam es darauf an, die hörenden Richter ad hoc zu überzeugen und zu einer konkreten Reaktion zu bewegen; zitierte Maximen mußten vertraut und unbezweifelbar wirken, sonst ließen sie sich nicht erfolgversprechend zur Argumentation im anliegenden Rechtsfall verwenden. Am deutlichsten verwendet Antiphon die Zuordnung; da er nur von änapirnioiTot spricht, deckt seine Definition gerade die beiden Sparten "Verzeihung" und "Tadel" in der aufgeführten Dreiteilung ab. Antipho 5.92. Der Redner warnt die Richter davor, ihn leichtfertig z u m Tode zu verurteilen; in einer eingehend bedachten Angelegenheit sei e i n e Fehlentscheidung nicht n u r ¿ n a p i r i t i a . sondern äW als viel und vieldeutig gebrauchtes Wort der 45
Siehe LSJ sub vocibus.
100
B I
Rhetorik
Alltagssprache eignet sich nicht gut dazu, daß man ihm ein bestimmtes Feld des Bedeutungsbereichs per definitionem zuweist. Im folgenden Text, in dem der Scholiast Sopatros 4 6 im vierten Jahrhundert n. Chr. Hermogenes' Sätze kommentiert, gibt es ein Indiz dafür, daß die Neudefinition von auYyvüiJT) immer wieder durch den alltäglichen Gebrauch angestoßen wurde: "es ist klar, daß Folter ein Grund zur ö u y y ^ w W ist" ~~ offenbar ergaben sich immer wieder Rückfragen: was ist mit dem und dem Fall, gehört der nicht auch zur ouYY^üjir]? Rh. 4.687f.: Sopatros. Scholion zu Hermog. Stat. 6.47. "Man muß wissen, daß sie die OUYYVYY^W wird auf Fälle mit äußerer Veranlassung angewendet, wenn die Instanz, die die Schädigung verursacht, selbst nicht zur Rechenschaft gezogen (vor Gericht gestellt) werden kann, wie z. B. der Sturm bei den Arginusen. 4 9 Besonders daß ouYY^tJiiTi in der griechischen Alltagssprache sowohl auf die Veranlassung durch Affekte wie durch äußeren, selbst nicht zur Rechenschaft ziehbaren Zwang (im Deutschen pflegt man von "höherer Gewalt" zu sprechen) gestützt werden kann, macht den Begriff für die Feineinteilung der Stasislehre wenig brauchbar. (Es sei daran erinnert, daß auch das Gesetz über den 96^0^ dxoüotoq Affekt und äußere V e r anlassung wie Nichterkennen im Krieg nebeneinanderstellt.) Dieses Dilemma hätte gelöst werden können, indem der Begriff avyYvcI>EJt"r) gänzlich gemieden oder als Oberbegriff für die anderen Termini b e nutzt worden wäre. Tatsächlich werden für zwei Theoretiker, Hermagoras minor 50 und Lollianos, einen Vertreter der Zweiten Sophistik, 51 Lösungen bezeugt, die darauf hinzielen. Beim jüngeren Hermagoras scheint nur eine Umkehrung der Reihenfolge vorgenommen zu sein, doch zeigt sich in dieser ein Blickwinkel und Zugriff, der sich von dem der Stasislehre wesentlich unterscheidet: 47
Sie wird verwendet Rh. 4.687f.. auch Rh. 5.173.23ff, vgl. Anaiimenes
48
Hermog.
Stat. 6.47 i S i o v irjc; 4JUX^1W) statt Strafe f ü r diesen! Einer hat sieh, ohne Unrecht zu tun oder sich zu verfehlen, ftlr das allen gut Scheinende zur Verfügung gestellt und - mit allen anderen - die Sache nicht gut durchgebracht: Einen solchen zu schmähen und zu beschimpfen, ist nicht recht (ÖLXOCLOv), sondern man muß ihm sein Mitleid ausdrucken." Verzeihung ist nur dort zu gewähren, wo es zur Zeit der Handlung Uberhaupt einen anderen Standpunkt gab; wo sich der Täter zur Ausfuhrung der allgemeinen Meinung zur Verfügung stellte, sind die Nichttäter von der Tat gar nicht so weit entfernt, daß sie 0UYYv(»)t-111 haben könnten; die "Last" wird im Akt des Mitleids eine gemeinsame (ouv-ax.'9' EO '9' oil - - in philosophischen Belegen wird m e h r f a c h das Stichwort x o i v ö v fallen).
Der Grad der Freiwilligkeit der Handlung und damit der Verantwortlichkeit des Täters unterscheidet sich bei Mitleid und Verzeihen, doch der Übergang ist fließend {Lys. 31.10, B I 1 zitiert, und Isoc. 16.12 wird das Unglück als Begründung für ouYYvü(iri gebraucht); der Kläger tut gut daran, sowohl eXeoq wie ouyy^ww für den Gegner auszuschließen. Er muß allerdings mit der Tatsache fertigwerden, daß die Haltung des Mitleids und Verzeihens dem Richter eher als Verdienst angerechnet wird (diese Bewertung etwa D. 23.42, Din. 1.57 + 59). Demosthenes verwendet dies einmal geschickt, um auf die eXeou ¿xßoXr} hinzuleiten: D. 25.81. "Was bleibt nun , Athener? Was, beim Zeus, allen gemeinsam ist, die miteinander streiten, von eurer aller Natur her, und keiner von denen, Uber die geurteilt wird, bringt dies selbst fUr sich herbei, sondern jeder von euch bringt es von Haus aus mit: Mitleid. Verzeihen, Menschenliebe (eXeov, 0UYYV(i>W. tpiXavS'puTuav). Aber es ist weder heilig noch recht, an diesen diesem Schandbuben Anteil zu gewähren."
Er kann nämlich anführen, daß der Gegner, als er selbst Richter war, ouyY^w^I und IXeo? nicht hat walten lassen; Aristogeiton erwies sich als unrührbar durch den Auftritt von Frauen und Kindern: D. 2S.83. "Welche Verzeihung oder welches Erbarmen haben die Opfer von Sykophanten von dem hier erlangt (xivoq ... OUYYVci)[ir]t»>t-tl'lS - TUXETV). Man muß aber auch die Richter bitten, die Rede wohlwollend zu htfren (...)."
In der kritischen Situation, daß im Publikum Unruhe aufkommt, ist es nicht ratsam, seinem Ärger über den Lärm Luft zu machen, da die Unruhe noch größer werden kann, wenn das Publikum erzürnt wird; klüger ist es, die Schuld auf sich zu nehmen: Die Selbstverkleinerung, die in der Bitte um Verzeihung liegt, daß man sich selbst demütigt, sich mehr Schuld auflädt, als man hat, wird das Publikum besänftigen. Die psychologischen Voraussetzungen sind aus Aristoteles "Rhetorik" abzulesen: Arist. Rh. 1380a28. Man ist sanft gestimmt u. a. "(...) gegen die, die bitten und sich entschuldigen ( T O T Q ÖEOHEVOLC; xotl 7 r o i p a i T O U ( I £ V O L C ; ) ; denn sie sind recht demutig." Demütigen gegenüber, so ist kurz vorher (I380a22ff.) ausgeführt worden, ist man ebenfalls sanft gestimmt: "(...) sie scheinen nämlich einzugestehen, daß sie schwächer sind, und wer das tut, furchtet sich, und wer sich furchtet, achtet niemanden gering: daß aber der Zorn sich legt gegenüber denen, die sich demutigen, zeigen auch die Hunde, die die Sitzenden nicht beißen."
Auch Aristoteles empfiehlt die Captatio benevolentiae, (Arist Rh. 1415a3) "(...) wenn die Rede von etwas Ungewöhnlichem, etwas Ärgerlichem oder etwas von vielen Durchgehechelten ist. so daß man Nachsicht hat (a\iyyvünir\v EXEIV) (...)."
Kritisch ist die Situation aber auch am Beginn einer Rede und an Übergängen von einem Teil der Rede zum anderen, so daß Selbstverkleinerung angeraten scheint (außerdem hat sie wie die Figur des V e r zeihlichen und des Unverzeihlichen den Effekt, daß eine solche Entschuldigung ausführlich begründet werden darf). Weil es ratsam ist, am Anfang einer Rede Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, findet sich in den überlieferten (also im Normalfall sorgfältig ausgearbeiteten) Reden eine Captatio benevolentiae meist im Proömium. In einem allgemeinen Zusammenhang — es geht um gerechte und ungerechte Bitten — verknüpft Anaximenes wie im oben zitierten Fall die Bitte um Nachsicht mit der Bitte um Wohlwollen: Anaximenes Rh. 19.1. "Gerecht ist es nun zu bitten, den Worten aufmerksam und mit Wohlwollen zu folgen, gerecht ist aber auch die Bitte, nach den Gesetzen Hilfen zu geben und mit Unglücksfällen Nachsicht zu Üben (TOTC; Ä T U X I N O I O L ouyYV(Jnr)v EXEIV)." Eine kombinierte Bitte um Nachsicht und Wohlwollen (oUYYVUtlllV IE EXEIV x a l ¡iEt" EÜvoiag dcxpoao'&ai.) findet sich Js. 6.2; untypisch ist hier allerdings, daß nicht genau gesagt wird, wofür Nachsicht erbeten wird; gemeint ist wohl die Tatsache, daß der Sprecher fUr Phanostratos und
B I Rhetorik
112
Chairestratos im Prozeß eintritt (Fürsprecher mußten sich gegen dacht wehren, sie wurden fUr ihren Beistand b e z a h l t ) 5 9 .
den
Ver-
Meist wird deutlich gesagt, wofür Nachsicht erbeten wird: etwa, dafi sich der Inhalt verschiedener Reden überschneidet (Din. 1.2 ouYTvünriv exeiv); bei Isaios finden wir die Entschuldigung wieder, die aus Piatons "Apologie des Sokrates" {PI. Ap. 17d) bekannt ist: Der Redner sei ungeübt im Reden. ls. 10.1. "Wir befinden u n s aber nicht in gleicher Lage, meine Herren. Die einen sind groß im Reden und können sich Torbereiten, so daß sie auch ftlr andere oftmals vor euch Prozesse g e f u h r t haben; ich aber habe keineswegs fUr jemand anderen, aber a u c h nicht einmal fUr mich selbst in einem eigenen Prozeß geredet, so daß ich von euch viel Nachsicht bekommen
(auyyv(I)[iT)5 tuxeTv) muß." Das, wofür der Sprecher um Verzeihung — oder eher Verständnis — bittet, sollte eine Selbstverständlichkeit sein: Verzeihung wird d a f ü r OUYYVÜurji; TUYX® vei - v )-
erbeten, daß
er
daß
der Redner als erster redet (D. 4.1 Kläger den Prozeß anstrengt (D. 40.4
D OUYYVnr)V - 45.83 ebenso, D. 59.1 OUYY"VNRIV ... AITFJOOCI)."
Ahnlich Aristid. Rh. 62.11. Entschuldigungen (7rapaiTrj0E0l XP?ft a 0 f U r den Gebrauch bestimmter Wortfiguren sieht Aristeides ebenfalls vor (Aristid. Rh. 54.14). Gedacht ist offenbar an Fälle wie die folgenden: Aeschin. 1.37. "Ich bitte euch aber, Athener, Nachsicht zu haben (öUYY^Wlirjv [^loi] EX e l v )' wenn ich, gezwungen, Uber Tätigkeiten zu sprechen, die von vornherein nicht gut sind, von diesem aber ausgeführt, mich dazu hinreiben lasse, ein Wort zu gebrauchen, das den Taten des Timarchos ähnlich ist." Aeschin. 2.88. "Könntet ihr mir wohl verzeihen (SoiTJl' a v [_lOl OliyfVU)(JT]v). Athener, wenn ich ihn CKersobleptes] einen Strichjungen (xivouöov) genannt habe, und daß er seinen Körper nicht rein gehalten hat und nicht einmal den Ursprung seiner Stimme, und ich dann zeige, daß der Übrige Teil der Anklage H0£T0£ V. 1079) scheint mir ausgemacht, daß Euripides Medeia zu rechtfertigen sucht und den Mord an ihren Kindern als eine sie selbst mitvernichtende Handlung darstellt, zu der sie als tragische Heldin jedoch ebensowenig eine alternative Handlungsmöglichkeit hat wie Aias oder Antigene. Euripides war damit allerdings weder bei seinen Zeitgenossen sehr erfolgreich - das Stuck siegte nicht - noch vielfach später: Die späteren Bearbeitungen des Stuckes lassen sich als Antworten auf unbeantwortete Fragen nach der Motivation bei Euripides verstehen und somit als Kritik an deren Plausibilität (s. dazu Friedrich).
126
B II Tragödie, Komödie,
Neoptolemos
erträgt
nicht,
Geschichtsschreibung
daB Philoktetes
durch Zwang und
Täu-
schung nach Troia gebracht wird. Eine Entscheidung des Philoktetes, die d e s s e n eigener Rettung zuwiderläuft, könnte aber auch er nicht
akzep-
tieren. ouYYV(I)(ir] bezeichnet hier, w i e es schon in der Rhetorik b e g e g n e t e , die G r e n z e z w i s c h e n d e m noch Tolerablen und dem k e i n e s w e g s
mehr
Akzeptierbaren (sogar der Bereich, d e m Mitleid gilt, wird ausgegrenzt). Ähnlich dient ouyyvij¡ir) zur Bezeichnung der Unbedingtheit des e t h i s c h e n Maßstabs: E. Ph. 994 * 995. Menoikeus hat den Vater getäuscht, der ihn vor dem Opfer fUr die Stadt bewahren wollte, um sich ungestört als Opfer darbringen zu können. "Ihr Frauen, wie gut habe ich dem Vater die Furcht vertrieben, mich mit Diebsworten, um zu bekommen, was ich will: Er will herausschaffen, die Stadt ihres Glucks berauben und mich der Feigheit preisgeben. Und freilich ist es beim alten Mann verzeihlich (öUYY^WT®). meine aber enthält keinen Entschuldigungsgrund (0UYYVUlir|V EX £l ). ein Verräter der Stadt zu werden, die mich geboren hat." Auf die Bindung von ouYY^uuri a n die Rolle des Betroffenen wurde bereits hingewiesen. Interessant ist. dafi der Verrat an der Vaterstadt als unverzeihlich gilt (dies ist zu den im folgenden aufgeführten "Einzelmotiven" zu zählen). Läfit sich auch der S t e l l e n w e r t der GUYY^üiir] innerhalb der
Tragödie
schwer bestimmen, so sind die Begründungsmuster v i e l f a c h die aus
der
Rhetorik bekannten. Gut v e r t r e t e n sind die E i n z e l m o t i v e ,
Tat
die eine
v e r z e i h l i c h machen: Bereits einer der frühesten Belege fuhrt den Zwang als Begründung an: S. Ant. 66: Ismene will die Unterirdischen bitten. Verständnis zu haben (oÜYYW-av tOXElv). daß sie gezwungen ist (ßia^onat,), das Begräbnis zu unterlassen. Zwang liefert auch S. El. 257 10 ( ß i a ... ö.va.yxtr. Pax 668 die Funktion von GUY -
YVÜ^rjv EXE; Ar- v -
1001
wird
so
(^ÜYYVUTE hol) der Hundeprozeß ab-
geschlossen, k u r z vor der Parabase. Z u r Reibungslosigkeit trägt allerdings im "Frieden" das Schuldbekenntnis (f)[iapTOHEV TOtÖt') und die Angabe des "mildernden Umstands" (die sich in weiteren Belegen bei Aristophanes findet: Ar. Nu. 138 • 1479, Ar. V. 1001) bei. Der unkomplizierte Umgang der Komödie mit dem Verzeihen wird gerade durch die (wenigstens teilweise) E r f ü l l u n g des Schemas "Schuldbekenntnis - Bitte um Verzeihung - Begründung mit ehemaliger Handlungsbeeinträchtigung" ermöglicht.
Die Bitte um Verzeihen löst nirgends (allenfalls Aristophanes' "Frieden" ausgenommen) den eigentlichen Knoten der Handlung, dies ist erst in der Neuen Komödie der Fall, in der die Konflikte hauptsächlich privater Natur sind und ein höherer Wert auf die Konsistenz der Charaktere gelegt wird — beim Vorrang der (revueartigen) Handlung vor den Charakteren bei Aristophanes braucht es diese Begründung einer Sinnesänderung nicht. Ein Beispiel für die "Figur des Verzeihlichen und des Unverzeihlichen" gehört nicht zu den rhetorisch geschliffensten: Ar. Th. 418. Anklagerede gegen Euripides: Durch dessen negative Frauengestalten seien die M ä n n e r mifitrauisch geworden. "(...) Ferner versiegeln sie seinetwegen schon die Frauengemächer, sperren u n s mit Riegeln ein und halten sich Molosserdoggen, um die H a u s f r e u n d e a b z u s c h r e c k e n . Und das ist f r e i l i c h noch zu v e r z e i h e n (!;UYY v( » )a '9''): allein, daß wir f r ü h e r selbst den Haushalt verwalteten und heimlich Mehl, Dl und Wein n e h m e n konnten, das ist a u c h nicht m e h r möglich." Der Kritik an Euripides wird die Spitze abgebrochen: Da die Frauen sich in der Behinderung ihrer Genäschigkeit stärker g e t r o f f e n ftlhlen als in der des Ehebruchs, hält sich der Schaden, den er anrichtet, in Grenzen.
B II 2
Komödie
129
Reizvoller ist die Steigerung vom "noch Verzeihlichen", noch nicht so Schlimmen, zum Absurden in folgendem Fragment der Mittleren Komödie: CAF 2.60: Antiphanes 124 (= Ath. Deipn. 10.70). "loh habe früher geglaubt: Wer sagt, man solle ypTtpoi. [dunkle S p r u c h e ] z u m Trank sagen, der schwätzt nur daher, o h n e klar zu reden; und w e n n jemand aufgibt, der Reihe n a c h zu antworten, w a s doch nichts bringt, w e n n man's bringt, mußte ich lachen, w e i l ich dachte, der Mann schwätzt d u m m e s Z e u g (...). Jetzt aber habe ich erkannt, daß ich recht hatte: denn wir z e h n Männer hier bringen e i n e n Festbeitrag, doch keiner trägt die Kosten. G a n z klar bringen wir. w a s nichts bringt, das ist's, und der Y P ^ P 0 ? w i e s in dieselbe Richtung. Und dies läßt s i c h ja wohl n o c h e n t s c h u l d i g e n ( x ä o T l Ol>Y~ a ) Yvut-trjv ' er w a s sie a l l e s fUr Entschuldigungen f a b r i z i e r e n bei der Sache, daß sie doch die Z e c h e nicht bezahlen: g a n z w i e der Philippos! Ja. ich hatte die Sache g e t r o f f e n w i e nur wer, beim Zeus!"
Aus der Alten Komödie wurde ein Gutteil der Belege bereits zitiert, um zu demonstrieren, daß die Bitte um Verzeihung (vor allem die an Götter gerichtete, A V 3) keiner Begründung bedarf. Aus späterer Zeit sind n o c h CAF 3.459: Adespota 281 (oiJYYVU&i HOl a n den Vater gerichtet) und Men. Fr. 693 ('ASpaoTELdi xal &E0t QXU&ptdTIE NEfiEOl, O U Y Y L Y V W O X E T E ) z u n e n n e n . fUr die j e d e n f a l l s k e i n e Begründung mitllberliefert wird.
Dies ändert sich in der Mittleren und Neuen Komödie, die hier im chronologischen Vorgriff gegenübergestellt werden soll. Unter den Standardmotiven ist natürlich die Liebe vertreten: CGFP 257.70: Adespoton. Das Stuck hat n a c h der im Teitapparat a n g e f ü h r t e n M e i n u n g von Sandbach e i n e ä h n l i c h e Handlung w i e der "Dis exapatumenos" des Menandros, daß n ä m l i c h e i n junger Mann fUr den a b w e s e n d e n Freund um dessen Geliebte wirbt, w a s ihm als e i g e n n u t z i g ausgelegt wird. Nikeratos: "Phaidimos, Lieber, du hast die Sache zur u n g l ü c k l i c h e n Seite hin gedeutet: ich m e r k e es n ä m l i c h so z i e m l i c h a u s den < P u n k t e n ) , die du als Verdacht g e g e n m i c h hast: deshalb, w e i l du liebst. Übe ich doch e i n e g e w i s s e Nachsicht (oUYY'VWI-tl'lV ILVOi ... SiSlüHl) m i t obwohl du m i c h verkennst ( ¿ Y v ° ° Ü H E V 0 q ) " Zum Verzeihen gehört also im Normalfall g e g e n s e i t i g e s Erkennen: unabdingbar ist j e d e n f a l l s das "Merken" des Verzeihenden: Hier ist die die i n t e l l e k t u e l l e Komponente deutlich ausgeprägt.
Aber auch andere bereits bekannte Motive des Verzeihens werden angewendet; im folgenden Beleg, der bereits für den Gegensatz zur unverzeihlichen ußpiq angeführt wurde (B I 2), wird Trunkenheit genannt. PCG Bd. 7: Philippides 27. Es spricht ein Vater: "Du kannst nicht sagen: Ich war betrunken, Vater', oder: Ich beging e i n e n Fehler (ri[iapxov)' und w i e frtlher Verzeihung erlangen ( t ÖOTE 7ipÖ(J ö£ f_L£ t [Konjektur CAF 3.309 WC; XÖ TTPÖA&E] 0UYY^ü[IR]C; TU/ETV). D e n n wer
130
B II Tragödie, Komödie.
Geschichtsschreibung
gegen den Schwachen Gewalt anwendet, der mißhandelt (üßpi^Elv), wie es scheint, der macht nicht nur einen Fehler." Armut ist ein Grund zu verzeihen, selbst den mißgönnten E r w e r b von Reichtum: PCG Bd. 7: Timokles 4 (- Ath. Deipn. 8.27). "A: Demosthenes hat 50 Talente. B: Glücklich - wenn er niemandem was abgibt. A: Und Moirolcles hat viel Gold bekommen. B: Ein Schwachkopf, wer's gegeben, glucklich, der's bekommen. A: Auch Demon hat was bekommen und Kallisthenes. B: Sie waren arm, so verzeihe ich's (tüOTE nri: Es wird der Fall konstruiert, daß die Athener OUYYVWOT FUr die Mytilener haben und sie dennoch töten; die Handlungskonsequenz ist also nicht mit der inneren Haltung von OUYYvi»>[lT] mitverstanden. (Die Formulierung vermeidet allerdings, die Distanz zwischen Einstellung und Handlung klar heraustreten zu lassen.) In Kleons Rede hingegen wird auch die fiktive 0UYYv(»>nr) mit praktischer Konsequenz verbunden gedacht und hangt weitgehend davon ab. ob ein fremder Standpunkt geteilt werden kann. Die Begründung fUr diese i;UYYV(ilir] entspricht den aus den Gerichtsreden bekannten Topoi.
Die politische Auseinandersetzung um die Behandlung des besiegten Gegners spiegelt sich mehrfach in der Geschichtsschreibung. Timaios gestaltete bei der Darstellung der Katastrophe der Sizilischen Expedition ein Redepaar um die Schonung der Athener, das ähnliche Positionen wiederholt. Es ist bei Diodoros Sikelos überliefert. 18 D. S. 13.22.4. Der Redner fUr die Schonung, Nikolaos, hebt wie Diodotos den machtpolitischen Nutzen der OUYY^'i't11! hervor: "Was rede ich von Dingen, die geographisch und zeitlich weit entfernt sind? Denn in unserer 16 Nach vielen Konjekturversuchen - siehe Grant - scheint es den Versuch wert, den Uberlieferten Text ohne Veränderung zu verstehen; auch E X 0 ^ 5 ? läßt sich vielleicht halten. 17 18
Dazu genauer Winnington-Ingram
S. 77-79.
Diodoros stutzt sich hier auf Ephoros, der im Referat des Philistos Timaios mitzitiert, siehe dazu FGrffist Teil IIb. Kommentar zu SS6FS1-S6 und Theiler S. 351 Anm. 1. Theiler weist besonders anhand des Reflexes bei Sallustius nach, daß die Reden Ephoros entnommen sein müssen; sie seien frühestens 325 v. Chr. geschrieben ( T h e i l e r S. 353 Anm. 3). - Diodoros sonstige Verwendung von OUYY^&^I wird in Kapitel C I mit der zeitgenössischen römischen Geschichtsschreibung behandelt, auch wenn er fUr die griechische Geschichte von früheren griechischen Autoren abhängig ist; ohnehin sind hier durchgehende Traditionen zu beobachten.
136
B II Tragödie, Komödie,
Geschichtsschreibung
eigenen Stadt ist Gelon vor nicht langer Zeit von einem Privatmann zum Herrscher Uber ganz Sizilien geworden, weil die Städte sich aus freien StUcken in seine Gewalt begeben haben; dazu lud nämlich die Milde (E7ILEixEL0c) des Mannes alle Menschen ein, worin sie die Verzeihung ftlr diejenigen, deren Pläne fehlgeschlagen waren (xriv Eig T0Ü5 rjTUXTlXOTO«; OUYYvWHT)V - corr. Reiske e i Yvd)[iriv - TrpooXaßouoa), unterstützte." Setzte sich Kleon gegen das Argument zu Wehr, die Gegner mllfiten ftlr einen menschlichen Fehler Verzeihung erlangen, so warnt Nikolaos die Sieger davor, sich "tiergleich und menschlichem Unglück gegenüber unerweichlich (ä7rapam^Touq)" zu zeigen. An dieser Stelle ist die Verbindung zum delphischen yvö'&l öOiUTOV deutlich herauszusptlren. D. S. 13.31.3 » 13.32.3. Aus der Rede des Spartaners Gylippos gegen die Schonung der Athener. "Wenn wir aber denen, die Unrecht tun, verzeihen (öUYYvt»'HriV SidOO^lEv). wo es ihnen nicht zukommt, wenn sie die Schuld auf die Ratgeber [vor allem Alkibiades] schieben, werden wir den Schlechten ihre Verteidigung leicht machen. (...) denn es ist nicht gerecht, daß die Feinde, solange sie siegen, das eroberte Volk wie Sklaven behandeln, dal) sie aber, wenn sie besiegt sind. Verzeihung erhalten (öUYYvk>nr)5 TUYX t *^ £tv ). als o b s ' e k e i n Unrecht getan hätten. Und daß sie Rechenschaft ablegen, wird man ihnen erlassen (äepEÖriaovTOa). und sie werden in wohlgesetzter Rede unserer Freundschaft gedenken, solange es ihnen nützlich ist." Die Argumentation wird unterstutzt durch einen Hinweis auf die Vorsätzlichkeit (13.31.5 5 l ' ... 7Tpoaip£atv), auch auf &yx>0lv OUYYV(J(il"]Q TUYX(IT] ein in der Alltagssprache fest eingebürgertes Wort war; diese auYYVuiir) wurde an das Kriterium der Unfreiwilligkeit gebunden und geriet dadurch in die Diskussion um diesen im 5. und 4. Jahrhundert virulenten Begriff; andererseits stand das Wort ÖUYYV6(ITI nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, wohl weil die üblichen Gegenstände der ÖUYY^ÜUI — Taten aus Liebe, Eifersucht, Zorn, Unwissen — vor allem durch Gewohnheit festgelegt waren. Auch in der Philosophie bleibt der Umgang mit dem Wort prekär: auYYvU1 wird nicht recht "philosophiefähig", so wie es nicht "genuin tragisch" wirkt, obgleich es in philosophischen Texten noch häufiger gebraucht wird als in der Tragödie. Wie die Verwendung in der Philosophie zeigt, gab es zwei Ansatzpunkte der Kritik: Unbefriedigend war einerseits, daß im juristischen Bereich die Differenzierung ungenügend ausgebildet war — gerade Piaton und Aristoteles sind Begriffsentwicklungen zuzuschreiben, die die G e setzgebung erst wesentlich später verwirklicht hat: An dieser Stelle wird der Geltungsbereich von ouYY^ünr] noch erweitert. Auf der anderen Seite setzt eine radikale Kritik am Begriff der Unfreiwilligkeit an, durch die auch der Begriff der OUYY^WUT] grundsätzlich suspekt wird. Diese Zielrichtung ist die frühere in der philosophischen Diskussion; sie geht aus vom Satz des Sokrates: "Keiner begeht freiwillig (oder: wissentlich) ein Unrecht." 1 An welches Problem dieser Satz anknüpft, zeigt der Kontext, in dem er etwa im pseudoplatonischen Dialog "Kleitophon" genannt wird (ohne V e r w e n d u n g von OUYYVWW): 2
1
Zur Historizität dieses Ausspruchs siehe Muller
Kurzdialoge
S. 168f.
Andere Formulierungen (vgl. Muller Kurzdialoge S. 169 Anm. 1): PI. Prt. 358, PI. Gorg. 488a, PI. Ap. 25e-26a. PI. Men. 78a. PI. R. 413a • 589c. 2
140
B III
Philosophie
PI. Clit. 407de. Kleitophon gibt k r i t i s c h die M e i n u n g des S o k r a t e s u n d s e i n e r A n h ä n g e r wieder, die den L e u t e n f o l g e n d e s v o r h a l t e n : " U n d ihr sagt, die U n g e r e c h t e n s e i e n n i c h t a u s m a n g e l n d e r E r z i e h u n g (änOiLÖEUOioiv) u n d n i c h t a u s U n w i s s e n h e i t (ot-fvoioiv), s o n d e r n a u s e i g e n e m Antrieb ( E X O V T O C I ; ) u n g e r e c h t , w i e d e r u m a b e r wagt ihr zu sagen, die U n g e r e c h t i g k e i t sei s c h l e c h t und gottverhaßt; w i e k ö n n t e n u n e i n e r w o h l g e r a d e das f r e i w i l l i g (EXWV) w ä h l e n , was so s c h l e c h t ist? W e n n er, sagt ihr. den Begierden e r l i e g t 3 (FJTT(I)V ... ?]). D a n n ist doch dies [wie die U n w i s s e n h e i t ] etwas Unfreiwilliges [xKOVaiOv), w e n n doch das U b e r w i n d e n f r e i w i l l i g (EXOÜClOv) ges c h i e h t ? D a h e r e r f o r d e r t es die Folgerichtigkeit auf j e d e n Fall, daß das U n r e c h t t u n u n f r e i w i l l i g ( d t x o ü a i o v ) ist. und es ist nötig, daß j e d e r m a n n m e h r Sorge als bislang daftlr a u f w e n d e t , sowohl im p r i v a t e n B e r e i c h a l s a u c h im ö f f e n t l i c h e n in allen Städten."
Der hier referierte Sokrates nimmt AnstoB an der allgemeingriechischen Auffassung, nach der es einen Mittelbereich gibt zwischen freiwilligem rechtem Tun und freiwilligem Unrechttun, das unfreiwillige Unrechttun (das ou-fT^u^'n verdient). Diese allgemeine Auffassung macht nicht Ernst damit, daß das Gute tatsächlich gut und damit der gegebene Gegenstand der Wahl (TrpoaipEoiQ, s. B V 4) ist. Man unterscheidet in ihr nach gewissen nicht genau festgelegten Kriterien freiwilliges und unfreiwilliges Unrechttun, ohne zuallererst die Frage zu stellen, wie es zu einer solchen Wahl des Falschen kommen kann und durch welche Erziehung und Staatsverfassung ihr zu steuern ist: Diese laxe Begriffsverwendung führt nach Meinung der Sokratiker gerade zu den unhaltbaren Zuständen der attischen Demokratie. Gegen diese politischen Verhältnisse — die auch im "Kleitophon"-Zitat anklingen — formuliert Sokrates sein Paradox: "Keiner begeht freiwillig Unrecht." Dieser Satz ist insofern ein Paradox, als er nicht direkt in eine Handlungsmaxime umgesetzt werden kann. 4 Es soll nicht die Schlußfolgerung befördert werden, es sei, da alles Unrecht unfreiwillig geschehe, auch alles Unrecht verzeihlich oder unabänderlich. Diese Antwort resignierte gegenüber dem wirklich geschehenden Unrecht, sähe keine Möglichkeit der Besserung durch eine gute Staatsverfassung, keine Möglichkeit, V e r brechen durch Erziehung zu verhüten, hätte jegliches Interesse am sozia3 4
Nach Slings
S. 326.
Daß der Satz als Paradoxon (vom "Socratic paradox" s p r i c h t a u c h Adkins S. 305) f o r m u l i e r t ist, u m d u r c h den W i d e r s p r u c h Prozesse in Gang z u bringen, läßt s i c h a u s dem z i t i e r t e n A u s s c h n i t t n o c h gut ablesen: Aus dem v o r l e t z t e n Satz ließe sich a u c h l e i c h t die F o l g e r u n g ableiten, a l l e s U n r e c h t w e r d e e b e n s o f r e i willig b e g a n g e n w i e g u t e H a n d l u n g e n . Z i e l p u n k t der T h e s e w ä r e in j e d e m Fall die p r i v a t e u n d ö f f e n t l i c h e E r z i e h u n g , die g e g e n die o f f e n s i c h t l i c h e V e r d e r b n i s der Sitten a n k o m m e n k ö n n t e : in j e d e m Fall w ä r e ftlr 0UYY vt »'t lT l u n f r e i w i l l i g b e g a n g e n e r T a t e n w e n i g Platz m e h r .
B III 1 Der Satz des
Sokrates
141
len Miteinander verloren: Es handelte sich um eine Haltung, die dem ethischen Interesse des Sokrates und besonders auch Piatons genau entgegengesetzt wäre. Der hedonistische Gebrauch, der sich vom Satz des Sokrates jedoch machen läßt, wird möglicherweise für eine Gruppierung der Aristippos-Schule, die Anhänger des Hegesiakos von Kyrene, überliefert: D. L. 2. 95. "Sie [die ' H y r i o i a x o l ] sagten, alle Fehler verdienten Verzeihung (eXeyov toc a n a p n i i i a i a ouYY v( i>U r lS T u y x « V E l v ) : d e n n m a n v e r ~ fehle sich nicht freiwillig (exovtcc), sondern von einer gewissen Widerfahrnis gezwungen ( u v i TTCt&El xairjvaYXaoHEVOv)." Diese Nachricht steht ganz isoliert, es wird nicht deutlich, ob hier c*(JO(piri[iaTa (wie bei Aristoteles und Anaiimenes) die "bloßen Fehler" Gegensatz zu wirklichen Verfehlungen gemeint sind und ob der Satz eigenständige These oder als Abmilderung einer rigiden Ablehnung ou'YYViJur] formuliert wurde. Immerhin ist in der Aristippos-Schule ehesten denkbar, daß OUYYVUHr) rundum gerechtfertigt wurde.
mit im als von am
Der Ansatz einer "rundum verzeihenden" Haltung findet sich bei Plotinos; aber auch er mit seinem hauptsächlichen Interesse am Transzendenten verfolgt ihn nicht weiter. Plot. III 2.17.14 • 15. Der Weltplan bewirkt, daß einige die Rolle der Bösen, einige die der Guten spielen. Der Tod ist das Wechseln der Schauspielerrolle. Wie im Drama ergänzen sich die widerstreitenden Elemente zur Einheit, zur Harmonie. "So gibt es nun die Guten und die Bösen, wie es auch die gegensätzlichen beim Berufstänzer gibt, und wir werden auch den einen Teil seiner (Bewegungen) edel, den anderen unedel nennen, und es ist (alles z u s a m m e n 1 richtig so. Freilich gibt es dann keine Bösen mehr. Nun. das Vorhandensein des Bösen wird nicht aufgehoben, nur die Vorstellung;, daß sie es von sich aus sind. Auch wird vielleicht den Bösen verziehen (ouYY^'i'lirj) - wenn nicht der Weltplan auch Verzeihen und Nicht-Verzeihen bewirkt (tÖ i f j g OUYYVti)HT)£); der Weltplan bewirkt aber, daß ' man> nicht einmal zum Verzeihen geneigt (ouYY^'i'!-"^^) gegenüber denen, die so sind." Diese Lösung der Theodizee-Frage entspricht dem Satz des Sokrates. wenn man ihn wörtlich versteht: Alles Unrechttun ist unfreiwillig und somit im Grunde verzeihlich. Aber auch das Tun des Guten und selbst das Verzeihen ist unfreiwillig, da alles sich nach der Regie des Weltplans vollzieht. Der will es, daß das Böse nicht verziehen wird, aus keinem näher begründeten Umstand, als daß dies der Harmonie des Ganzen diene. So kann man wiederum sagen, daß in diesem Modell nichts verziehen werden darf, weil das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse (d. h. zwischen dem. was gut oder böse erscheint) zerstört wurde. Wie man sieht, entzieht sich der Entwurf ethischen Schlußfolgerungen. Das sokratische Erbe ist hier unwirksam geworden.
Für den Sokrates-Schüler Piaton ist ouYYvci)!-ln hingegen immer wieder grundsätzlich suspekt; ihre ethische Wirkung kann nur demoralisierend sein, befestigt die bestehende Ungerechtigkeit; so heißt es in der "Politeia": PI. R 391e5. Begründung, weshalb Dichtern verboten werden soll, Götter-
142
B III
Philosophie
sühnen Frevelhaftes anzudichten: "Und fUrwahr, den Hörenden w ä r e es schädlich; denn jeder wird Nachsicht mit sich haben daftir, daß er schlecht ist (eautcj) 0UYYvnriv x a x i j ) ovti), Uberzeugt, daß auch der Gotter Nahverwandte (...)' dergleichen tun und zu tun pflegten (...)."
Noch radikaler in den "Nomoi": PI. Lg. 731d7. "Von allen Übeln das größte ist den meisten Menschen in den Seelen festgewachsen, wogegen jeder, da er sich selbst gegenüber nachsichtig ist (aÜT(j) OUYYVUHT1V f / u v ) . Uberhaupt keine Abhilfe ersinnt; dies ist aber, was sie nennen: Jeder ist sich selbst der Nächste' und daß es so recht ist. daß es so sein mUsse. In Wahrheit aber entsteht durch die zu große Selbstliebe fUr jeden immer wieder Grund zu allen Verfehlungen."
Die dezidierte Ablehnung von oi>YYvH1 ist jedoch nicht der einzige Anlaß, daß das Wort bei Piaton gebraucht wird. Es wird vielmehr frei für einen vielgestaltigen, oft spielerischen Gebrauch, der im folgenden illustriert werden soll. 2. P l a t o n Im Dialog "Hippias minor" wird Verzeihen direkt mit der Problematik der Freiwilligkeit verknüpft. ouYY^iiri kommt zum ersten Mal dort vor, wo sich das Gespräch seinem eigentlichen Gegenstand zuwendet, ferner am Anfang und am Ende der Gesprächskrise; der zweite "Durchgang" mit seinem offenen Schluß führt nicht wieder auf das Stichwort. PI. Hp. Min. 364dS. Hippias sichert Sokrates großzügigst Nachsicht zu (ouYY^'i't-'lTV t" EXOltll), als dieser um die Gunst bittet. fUr sein schwerfälliges Verstehen nicht verlacht zu werden: Zu Hippias' Beruf gehöre es, f r e u n d l i c h auf Fragen einzugehen. Hippias' Zusicherung von OUYYV!-ir] ¡ s t ebenso floskelhaft wie die Bitte um sie in der Captatio benevolentiae: denn später - in der Gesprächskrise kann er die versprochene Nachsicht nur mUhsam gewähren: Die lange Rede des Sokrates 372b-373a mit der Unterstützung des Eudikos 373b Uberdeckt eine tiefe Verärgerung des Hippias nach seinem Einwand von 372a, wie sein Vorwurf 373b4/5 zeigt: "Sokrates stiftet aber immer Verwirrung mit seinen Worten und benimmt sich, als wenn er auf Beleidigung aus wäre."
Folgender Einwand des Hippias löst die Gesprächskrise aus: PI. Hp. Min. 372a2. "Und wie, Sokrates. d u r f t e n die vorsätzlich (exÖviec;) Unrecht Tuenden und vorsätzlich ( e x o v t e ^ ) Nachstellenden und Übeltäter wohl irgend besser sein als die. die es unfreiwillig tun (tÖV ä x ö v i w v ) , bei denen, wie es scheint, viele GrUnde vorliegen, daß man ihnen verzeiht (oTtir)V denn du sagst doch wiederum, wer u n f r e i w i l l i g ( c t x u v ) Unrecht tue, dem mUsse verziehen werden (ouYYV(i>nr]V ? x E l v ) - "
Friedländer bemerkt dazu: Friedländer II S. 130. "Der Schalk bringt allerdings den Hippias sehr willentlich in Verwirrung. Nur wenn man mit Hippias Bösartigkeit darein sieht, ist sie nicht gewollt, weil sie denn nach Sokrates' Grundsatz gar nicht gewollt sein kann."
Die Verwirrung, die Sokrates stiftet, kann zur besseren Erkenntnis dienen, sie schadet dem nicht, der ihr zeitweise erliegt; derartige V e r wirrung stiftet Sokrates allerdings freiwillig. Sein angebliches unfreiwilliges Schädigen ist in Wirklichkeit freiwilliges Rechttun. Im "Hippias Minor" begegnen bereits mehrere Verwendungsweisen von ouYY^u^r): als Nachsicht für die dem Einzelnen notwendige Sprechweise und Gesprächsführung, die erst das Gespräch ermöglicht — zur Artikulation der landläufigen Bestimmung, unfreiwilliges Schädigen sei zu v e r zeihen, freiwilliges Übeltun nicht — im ironischen Spiel mit diesem land5
Friedlander
II S. 128.
144
B III
Philosophie
läufigen Verständnis, wodurch auf ein vertieftes Verständnis von Wissen und Willen hingewiesen wird. Für die landläufige Verknüpfung von öUYYVutir) und ixüiv/6ixovaiQq läßt sich auch die Lysias-Rede im "Phaidros" anführen: PI. Phdr. 233c4. Der nicht verliebte Liebhaber v e r f a l l e nicht aus k l e i n e n Anlassen in Feindschaft gegen den Umworbenen, sondern gerate bei großen un< n u r langsam in Zorn, verzeihe die ungewollten (ouYY v ( » > t i r l v * suche die bewußt begangenen zu verscheuchen. Das pädagogische Moment der erotischen Beziehung, das in der LysiasRede postuliert wird, entspricht a u c h Piatons Intention, nicht jedoch das konventionelle Dulden der h e r k ö m m l i c h e n Verfehlungen ohne grundsätzlichen Anspruch der Besserung.
Das Wort ouYyvcjtir) wird im Munde des Sokrates in Piatons Dialogen oft zur ironischen Waffe: PI. Euthd. 286el0. Sokrates p r ü f t die Möglichkeit der Ltige: gibt es a u c h f a l s c h e Meinung, Unwissenheit? Euthydemos wendet ein: ""Wie könnte man fordern, was es nicht gibt? Und du willst es fordern?' 'Weil ich dieses Kluge und Stimmige nicht ganz begreife . sagte ich, sondern etwas schwerfällig einsehe. Vielleicht werde ich nun etwas recht Lästiges fragen, aber verzeih ( ö U Y Y i Y v t J Ö X E ) ! s i e h a b e r (•••) " Sokrates' "lästige Frage", ob a u c h niemand im Handeln einen Fehler mache, ermöglicht die Widerlegung der Behauptung, Dionysiodoros könne Lehrer der Tugend sein.
Sokrates' Bitten um Verzeihen können dem kundigen Platon-Leser als Signal dafür gelten, daß Sokrates den anderen "hereinlegen" wird: So. w e n n er verspricht. Euthydemos und Dionysiodoros als Götter a n z u s p r e c h e n und sie ftlr alles bisher Gesagte um Verzeihung zu bitten, falls sie wirklich ä p E i r j lehren könnten {PI Euthd. 273e7 OUYY^ütir)V SeÖ^evoc; exeiv); wenn Sokrates sich mit seiner ungebildeten Art (uttÖ äTTaiSEUoiaQ) ftlr seine "falschen", nämlich zu a u s f u h r l i c h e n , Antworten entschuldigt (PI. Euthd. Z96a4 0 U Y Y L Y v u 0 x E t 1 0 1 ) ~ e r w i r d m i t gutem Grund immer wieder Zusätze zu seinen Antworten m a c h e n . PI. Euthd. 301d4 E E zeigt Sokrates' Bitte um Verzeihung X )- daß e r schon verstanden hat. zu w e l c h e m Zugeständnis ihn sein Gesprächspartner mit seinen Fragen bringen will.
Wie schon in der Gerichtsrhetorik beobachtet, wird eine Entschuldigung gerne genutzt, um die eigene Meinung in besonders deutlicher Form zu artikulieren: Dadurch k a n n Sokrates begründen, w a r u m er die n ä c h s t e Umgebung Athens so wenig kennt (PI. Phdr. 230d3 OUYYiY V U Ö X E U ol )= der Athener in den "Nomoi" entschuldigt sich dafUr, daß in seiner Darstellung die Menschen schlecht abschneiden - w e n n dies tatsächlich u n t e r göttlicher Eingebung geschah, k a n n durch die Bitte u m Verzeihung nicht viel z u r ü c k g e n o m m e n werden (PI. Lg. 804b7 OUYYWdiK tlOl). Die Bitte um Verzeihung dient PI. Prt. 3S4eS der Begründung fUr das a u s f u h r l i c h e Reden: Die Schwierigkeit,
B III 2
Platon
mit dem Begriff der a n d e r e n , n ä m l i c h "den LUsten u n t e r l i e g e n " , z u w e r d e n , stellt e i n e K r i t i k a n diesem S p r a c h g e b r a u c h dar.
145 fertig-
Auch PI. Grg. 4 6 5 e 4 läßt sich mit der Forderung von a u y Y v ( J | - l n K r i t i k a m G e s p r ä c h s p a r t n e r v e r b i n d e n . Sokrates: "Vielleicht f r e i l i c h h a b e ich n u n e t w a s D u m m e s getan, daß ich d i c h n i c h t lange Reden h a l t e n ließ u n d doch selbst m e i n e Rede lang a u s g e s p a n n t habe. Es ist n u n r e c h t , m i r zu v e r z e i h e n (a^LOV ... E^iol OUYTV»ci)lir]V E X E t v ) : a l s i c h n ä m l i c h k u r z redete, v e r s t a n d e s t du m i c h n i c h t u n d k o n n t e s t die Antwort n i c h t g e b r a u c h e n , die ich dir gegeben habe, s o n d e r n v e r l a n g t e s t e i n e b r e i t e r e Darstellung."
Auch die Bitte um ouyYvü^r), die in der Captatio benevolentiae ausgesprochen wird, hat bei sokratischer Verwendung kritische Intention: PI. Ap. 17d4. Sokrates ist n i c h t v e r t r a u t mit der S p r a c h e vor G e r i c h t , da er sein g a n z e s Leben n i c h t vor G e r i c h t stand. "Gerade w i e ihr n u n , w e n n es sich t a t s ä c h l i c h so t r ä f e , daß ich e i n Fremder wäre, doch w o h l n a c h s i c h t i g mit m i r w ä r e t ( o u v E Y i y v u o x H T E ... a v h o l ) , w e n n ich in j e n e r S p r a c h e u n d der Art redete, in d e n e n ich erzogen wäre, so bitte ich e u c h d e n n a u c h dies zu Recht ( S i x a i o v ) . w i e m i r j e d e n f a l l s s c h e i n t , daß ihr die Art des A u s d r u c k s beiseite laßt (...), a b e r g e n a u dies b e t r a c h t e t u n d d a r a u f a c h t e t , ob ich G e r e c h t e s sage oder n i c h t (...)."
Die Machart dieser Captatio benevolentiae weist durchaus Vertrautes auf. Der Sprecher kann durch sie günstige Momente herausstellen, etwa daß er noch nie in seinem Leben vor Gericht stand (vgl. Is. 10.1 in B I .7). Mit der Bitte um Nachsicht ist gleichzeitig ein größerer Anspruch verbunden: daß die Apologie des Sokrates durch ihren Wahrheitsgehalt ausgleicht, was ihr an rednerischem Schmuck (angeblich) abgeht. Insofern erinnert sie an die Prunkfigur (s. B I 7). T a t s ä c h l i c h k a n n von e i n e r S e l b s t v e r k l e i n e r u n g , Selbstdemtltigung des S p r e c h e r s nicht die Rede sein, impliziert doch die Bitte u m A u f m e r k s a m k e i t flir den W a h r h e i t s g e h a l t der Rede, daß auf diesen n o r m a l e r w e i s e w e d e r Redner noch Z u h ö r e r Wert legen. Der Bildbereich, a u s dem das G l e i c h n i s g e n o m m e n ist. ist ftlr diesen v e r d e c k t e n Vorwurf höchst beredt: Mit der S p r a c h e der W a h r h e i t ist Sokrates e i n Fremder in s e i n e r e i g e n e n Stadt; m a n v e r s t e h t ihn nicht, so wie er u m g e k e h r t sich selbst a u s den Augen verliert, w e n n s e i n e Ankläger von i h m s p r e c h e n (17a).
Nach Meinung des Autors ist nicht Sokrates in der falschen Sprache aufgezogen worden, sondern seine Mitwelt hat versäumt, sich von ihm in der Sprache der Wahrheit erziehen zu lassen. Hätte sie lieber "mit ihm gemeinsam Erkenntnis gewonnen"! — vielleicht will hier ö u y y i Y v ü o x g ) nach seiner Wortbildung verstanden sein. Festzuhalten ist, wie deutlich bei dieser ironischen Verwendung die Ungleichgewichtigkeit der Rollen hervortritt, die bei Verzeihen gegeben ist: Der Verzeihende ist an sich der Überlegene; wenn derjenige, der um Verzeihen bittet, gerade dadurch seinen höheren Anspruch durchsetzen kann, wirkt seine Überlegenheit umso größer. In einer Reihe von Belegen
146
B III
Philosophie
signalisiert ouYYVb)(ir] einerseits die Überlegenheit des Sokrates (und seiner Gesprächspartner); diese wird andererseits von einem gewissen Bedauern für die in der Erkenntnis nicht so weit Fortgeschrittenen begleitet, das bald eher ironisch-kritisch, bald tatsächlich mitleidig wirkt. Der Gegensatz zwischen dem Philosophen und "den Vielen" (vgl. Voigtländer, speziell zur Herablassung von auYYtYV(i>axEiv S. 384) wird befestigt. PI. R. 426d7. Es geht hier um das Treiben der f a l s c h e n Staatsmänner, die dem Volke nach dem Munde reden und handeln. Adeimantos will die Bürger, die sich so leiten lassen, nicht loben. Sokrates d a r a u f h i n : "Wie aber diejenigen. die solchen Staaten dienen wollen und dazu i h r e n Dienst anbieten? Bewunderst du sie nicht ftlr ihre Tapferkeit und Bereitschaft? - Gewiß, sagte er. außer diejenigen, die von ihnen getäuscht sind u n d glauben, der Wahrheit n a c h Politiker zu sein, weil sie von der großen Menge gelobt werden. - Wie kannst du das sagen? Siehst du den M ä n n e r n , sagte ich. das nicht n a c h (oü 0UYYt.Y v ( i ) 0 X £ l -S) ? Oder glaubst du. es sei e i n e m M a n n e möglich, der nicht zu messen versteht, w e n n viele a n d e r e sagen, er sei vier Ellen groß, daß er dies von sich selbst nicht glaubt? - Nein, sagte er, das nicht." Die DoppelbOdigkeit dieser Nachsicht wird dadurch verstärkt, daß das im Bildbereich verwendete Wort TETpdt7tr)XUg. w i e die Parallele Ar. Ra. 1014 ausweist, schon die Konnotation von "aufrecht, gediegen" hat, auf die der Vergleich zielt (ähnlich dem Wort lETpaywoq, PI. Prt. 339b2: Simonides). Gerade in diesem Beleg ist das Freiwilligkeitsproblem nicht schwer zu entdecken: In e i n e m solchen Staat haben die Staatsmänner keine a n d e r e Wahl, als dem Volk nach dem Munde zu reden und zu handeln. Andererseits muß ein Staat nicht in solcher Verfassung sein, und w e r hindert den Politiker wirklich, seinen eigenen Maßstab a n sich zu legen? PI. R. 537e7. Es geht hier um die Auswahl der Auserwählten. "Siehst du nicht, sagte ioh, das jetzt entstehende Übel ftlr die Dialektik, wie groß es wird? - Welches, f r a g t e er. - Mit Gesetzwidrigkeit wohl, sagte ich, ist sie ang e f ü l l t . - Ja, freilich, sagte er. - Glaubst du n u n nicht, daß sie etwas Wunderliches (•9-aunaOTdv) erleben, und hast du nicht Nachsicht ftlr sie (oder: kannst du es ihnen nicht n a c h f ü h l e n , vgl. unten: XOtl Ol) OUYY1-Y^ÖXEli;)?" Dies wird durch das Gleiohnis vom untergeschobenen Kind erläutert. Das Argument wird PI. R. 539a6 ( a U Y Y ' ^ U T S a ^ i o v ) wieder a u f g e n o m m e n . PI. Lg. 966c5. B e s c h a f f e n h e i t der Wächter. "Gehört nicht zum Schönsten. Uber die Götter Bescheid zu wissen - w a s wir mit Eifer erörtert haben: wie sie sind und Uber wie große Macht sie o f f e n b a r gebieten - . soweit es möglich ist, daß der M e n s c h dies erkennt, und es zwar der großen Menge im Staat zu v e r z e i h e n (OUYYIYVUOXSIV), daß sie n u r der Stimme der Gesetze nachfolgt, den am Wächteramt Teilhabenden aber nicht einmal zu Ubergeben ist, w e n n einer nicht alle M u h e darein setzt, den g a n z e n Glauben zu erfassen, den es Uber Gotter gibt?" - Ä h n l i c h e Distanz zur großen Menge wird Arist. Protr. B 103 ausgedruckt (s. u.). PI. Phdr. 269bS. Sokrates hat a n der Parallele des Arztes, Musikers usw. angedeutet, daß die Rhetoriker nichts weiter l e h r e n als Vorkenntnisse: er malt aus, wie Adrastos und Perikles auf e i n e n solchen Anspruch, w i e ihn
147
B m 2 PJa ton
die Rhetoriklehrer erheben, reagieren wurden, nioht mit einem ungezogenen Wort wie Sokrates und Phaidros. sondern: "'Phaidros und Sokrates, m a n darf nicht zllrnen, sondern muA verzeihen (oü xpr) X a ^ 6 7 t 0 i i V E l v - äXXHTIQ
sich
auf
die
ÖETTCXI, besondere
Schwierigkeit seines Gegenstandes beruft. Sokrates
gewährt
das
Verlangte
ohne
weiteres,
ironisiert
typischen Redenbeginn dadurch, daß er auch Hermokrates Nachsicht
zusichert
OUYY v ( Jt"Ta) : ferner
(I08bl
Dieser
TTapaiTrjoETai.
solle
dadurch, daß er
einen
den
anderen
Redner
108b3
wissen
läßt,
U7tapxoÜori5
fUr
seine
dieser
eine
(worum
Captatio zu
benevolentiae
bitten
aber
doch
aütip
Rede
werde
finden;
besonderer
Sei^OEI ... 7ratl7ToXXr]q;), da die
Erwartungen des Publikums durch das Vorausgegangene Da
diesen
im voraus
Ü5
Anfang
Nachsicht bedürfen (I08b5 T?jg
aber
schon
um
eine
darstellt), wird sie ad absurdum
das
bittet,
was
Höflichkeitsgeste
hochgespannt
seien.
selbstverständlich dem
Hörer
ist
gegenüber
gefuhrt, wenn die scheinhafte Voraussetzung,
es müsse darum gebeten werden, vom Zuhörer bestätigt wird. Innerhalb der philosophischen D e b a t t e redet Sokrates u n b e s c h w e r t
von
o\JYYvl>'t-llrl: PI. R 472a2. "Ganz plötzlich, sagte ich, hast du gleichsam einen auf
meine
Rede gemacht
und verzeihst
mir
nicht
(oü
Uberfall
OUYY 1 Y^WOXEiq),
wenn ich zögere." Im philosophischen Gespräch Verzeihung
ferner
findet sich solch unbefangenes Reden
von
PI. Phlb. 23el. PI. R. 472a2 • 5, PI. Sph. 241e7, PI.
Tht.
197a7. Bei diesem nicht p r o b l e m a t i s i e r t e n G e b r a u c h kann man an H ö f l i c h k e i t s f o r m e n denken und mit " V e r z e i h e n " oder " N a c h s i c h t " ü b e r s e t z e n ; mal
liegt
die
Übersetzung
D a s intellektuelle
"Nachfühlen,
Moment
vom
näher.
Parallelisierung
zeigt: es
laut
Alkibiades wie denen, die von einer Schlange gebissen sind: "'(...) Man
sagt,
PI.
Den
manch-
Verständnis"
w i r d w a h r g e n o m m e n , w i e die
von YVuoonEvot.1; und o u y y ^ u o o h e v o i ^ Smp. 218al.
Mitgefühl,
Liebeswahnsinn
daß jemand, dem dies widerfahren sprechen einzige
wolle, außer sich
darauf
zu
geht
sei, darüber, w i e es gewesen
denen, die
verstehen
Geschlagenen
gebissen
und verzeihen
wurden
sei,
sind, da
nicht
diese
(YVü)00(iEV0t^
OUYY^UOOHEVOl^), wenn q EIOLV ouyYVÜ^OVEQ
«EI
-8-EOI
TOTC;
TÖV
oivd-piimuiv
dötxoii;
xal
äSixouoiv
-
streng zurückgewiesen: Das wäre, als ob Hunde sich von Wölfen Anteil am Geraubten geben ließen. PI. Lg. 921a3 wird die negative Auswirkung dieses Glaubens, ¿>q o'ixeXov avyyv&fiova. sTvat &EOV (vgl. TrGF Euripides 645. oben zitiert), auf die Handwerker ausgemalt. Dem
steht
zweimal
zurückgehenden6
das u n b e k ü m m e r t e
Meinung
gegenüber,
die
Zitat Götter
der
auf
Hes.
verziehen
Fr.
Meineid
124 in
Liebesdingen. PI Phlb. 65c7 wird dies von Protarchos immerhin damit begründet, daß "die Lllste wie Kinder auch nicht den allergeringsten Verstand besitzen", PI. Smp. 183b6 wird es von Pausanias angeführt. Bei den starken V o t e n g e g e n ouYY'U'i>Url ist
es
a u f f ä l l i g , daß d e n n o c h
denen, die unter den B e s t i m m u n g e n der "Nomoi" s t e h e n , in v e r s c h i e d e n e r Hinsicht ouYY^ünr] abverlangt wird. PI. Lg. 925e8 * 926al. Im Zusammenhang der Erbbestimmungen. "Es sei freilich ftlr den Gesetzgeber und den Gesetzesempfänger fast wie ein gemeinsamer Vorspruch gesagt, der die, die unter die Bestimmungen fallen, bittet, f ü r den Gesetzgeber Verständnis zu haben (ouYY^(JHr]V ÖEÖHEVOV E/Etv), daß der, der sich um das Allgemeine kllmmert, wohl niemals auch die einzelnen unglücklichen Konstellationen in seinen Regelungen berücksichtigen könnte, Verständnis (auYY vl »'Un) wiederum auch ftlr die von
6
Dover
(X7t0ivi(i0v.
Symposium
zu
PI. Smp. 183b5-7; Hesiodos
nennt
dort
den
öpxov
150
B m
Philosophie
der Gesetzgebung Betroffenen, dafi sie aus begreiflichen Gründen die Anordnungen des Gesetzgebers manohmal nieht einhalten können, die er ohne Kenntnis (ir] vor allem an das denkt, was Menschen als Gemeinsamkeit verbindet (vor allem Arist. Rh. 1384b3; auch Arist. EN 1149b4 xoivai, s. u.). Gegenbegriff zum Natürlichen und darum Verzeihlichen ist — Belege
160
B III
Philosophie
dafür begegneten schon in anderen Gattungen — auch in diesem Handlungsmodell das "Verwundernswerte": Arist. EN 1150b8. "Wer versagt, wo die meisten widerstehen, ist w e i c h l i c h und verwöhnt; so a u c h bei der Enthaltsamkeit: Nicht ist es verwunderlich, w e n n einer von starken und Überwältigenden Begierden oder Schmerzen besiegt wird, sondern es ist verzeihlich ( o U Y Y v u U o v t ) ( Ö v ) , w e n n er sich entgegenstemmt, so wie der Philoktetes des Theodektes. der von der Viper gestochen war. oder der Kerkyon in der Alope des Karkinos, auch wie diejenigen, die versuchen, unbändiges Gelächter zu u n t e r d r u c k e n , und dabei herausplatzen, wie es dem Xenophantos passierte; sondern w e n n einer unterliegt und sich nicht b e h e r r s c h e n kann, wo die meisten Widerstand leisten können, - a l l e r d i n g s ' nicht wegen einer Erbanlage oder durch eine Krankheit, wie im skythischen Königsgeschlecht die Schwächlichkeit angelegt ist und wie das weibliche Geschlecht im Vergleich zum m ä n n l i c h e n veranlagt ist."
Zu den "natürlichen" Antrieben gehört der auch Arist. EE 1225a21 genannte Zorn — als Einzelmotiv zur Verzeihung bereits gut bekannt. Arist. EN 1149b4. "Derjenige, der von ungezügeltem Zorn ist, steht n ä m l i c h irgendwie unter der Macht der Vernunft, der von Begierde nicht einmal unter der des Verstandes. Noch dazu kann es eher v e r z i e h e n werden (notXXov öUYYv(i>tiri), den n a t u r l i c h e n Antrieben zu folgen, und zwar der Art von Begierden, wie sie allen gemeinsam sind und soweit sie gemeinsam sind; der Zorn und die Entrüstung entsprechen m e h r der Natur als die Begierden n a c h dem Ubermaß und dem nicht Notwendigen. wie zum Beispiel der sich verteidigte, der den Vater zu schlagen pflegte: Auch der ja den seinen', sagte er, und jener den vor ihm . und zeigte auf seinen k l e i n e n Sohn mit den Worten: Und dieser wird mich schlagen, w e n n er ein e r w a c h s e n e r Mann ist; denn das liegt bei u n s in der Familie. " Es folgt ein weiteres groteskes Beispiel. Daß man seinen eigenen Vater schlägt, ist f ü r Griechen kein XOLVOV, sondern gehört eher zum "Ubermaß und nicht Notwendigen"; i n n e r h a l b der Familie, in der das Schlagen "Erbanlage" ist, wird die Abnormität jedoch relativiert; a u f g r u n d der f a m i l i ä r e n Gemeinsamkeit k a n n der solchermaßen Verklagte auf mildernde Umstände plädieren. 1 2 Auch in einem zweiten Beispiel - "nur bis zur Schwelle schleifen" - wird sowohl das Normalmaß Uberschritten als auch e i n e groteske n e u e Normalität e i n g e f ü h r t , die wiederum Verzeihung begründen kann: Nach dem Grundsatz, daß der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen sei, wird hier a u c h der Maßstab fUr die Natürlichkeit des Zorns im sozialen Kontext festgelegt. Dort, wo Aristoteles das Ubermaß des Zorns bespricht, m e r k t er an, daß die Neigung zur Rache "menschlicher" sei (Arist. EN 1126a30). Doch diejenigen. die zum Ubermaß des Zorns neigen, f a l l e n sich selbst und ihren M i t m e n s c h e n zur Last, weil sie sich nicht ohne Rache oder B e s t r a f u n g versöhnen (SiaXXaTTOHEVOl 1126a28. vgl. 1126a20 5uö8l.aXuTOl). Dagegen gibt es die Haltung der Freundlichkeit (7rp(!(OTr]^), die zwischen Zorn und 12
S. Dirlmeier
EN z. St.
B m 4
161
Aristoteles
Zornesmangel liegt, aber mehr der Zornlosigkeit zuneigt; denn der Freundliche ist nicht auf Rache oder Strafe aus. sondern neigt zum Verzeihen: QU yäp Tiiiupixdi; 6 Ttpaog, otXXöt ¡iaXXov auYYWJiJ-Owxos (1126a3). Er verzeiht also gerade Iceinen Fehler, der ihm mit dem anderen gemeinsam wäre (gegen Arist. Rh. 1384b3). Aristoteles ermöglicht also durch seine differenzierte Bestimmung der Freiwilligkeit
eine positive Einordnung
der
auyYvunr).
Besonders
hohen
Stellenwert erlangt diese durch ihre Bindung an das e t u e i x e q , die gleichzeitig den juristischen Bezug deutlich hervortreten läßt. Arist. EN 1143al9 • 21 * 22 » 23. "Das sogenannte Verständnis (yvclinr)), von dem wir ausgehen, wenn wir sagen. Leute seien nachsichtig (ouYYVUHOva^) oder hatten Verständnis (Yv(i>[ir)v), besteht in der Fähigkeit, sich in der richtigen Weise fUr das Billige zu entscheiden (f) TOU E7UElXoijq EOll xpiacq dp&rj). Ein Indiz (or)[l£Tov) dafür ist: Von demjenigen, der billig urteilt, sagen wir. er sei in besonderem M a l e zur Nachsicht geneigt ( t o v YH°vixov), und es ist billig, in einigen Dingen Verständnis zu haben ( e x e i - v — OlfYYVtoiIT)v). D i e N a c h s i c h t (ouYyvÜ^iri) aber ist die richtige Einsicht, die sich fUr das Billige entscheidet ( y v ( J H T ) EOtl xpLTixr] TOU E7TLEIX0UHT1. x a i ' f)v auYY v tlovag ... H a n d l u n g e n ist n ä m l i c h von v o r n h e r e i n von dieser B e s c h a f f e n h e i t . "
Grund zur Ablehnung des E T U E I X E Q wie der auYY'^W i s t immer wieder der Widerspruch zum Begriff der Gerechtigkeit. Vor Gericht werden die Richter beschworen, durch ouYYVUtir) nicht das Gesetz zu beeinträchtigen. Piaton hat strikt geurteilt, E 7 I I E I X E Q und ouYY vu t i °v seien Verletzungen des Vollkommenen und Genauen gegen das richtige Gesetz (PL Lg. 757el). Dem steht die Anwendung im Alltag und die Hochschätzung des E7UELxrjQ (wie auch des ovyyviniiöv) gegenüber. Wenn Aristoteles dem E7UELXEI; nun einen Platz als "bessere Gerechtigkeit" sichert, so beruft er sich dabei auf die Lücken des Gesetzes:
i n s o f e r n , als es Uber die Billigkeit h i n a u s a n g e m e s s e n e s V e r h a l t e n , A n s t ä n d i g k e i t ( a u c h "anständig" w i r d fUr E7tlEtXE£ v e r w e n d e t ) a l l g e m e i n b e z e i c h n e t ; a l l e r d i n g s w ä r e m a n s e h r v e r w u n d e r t , der F a i r n e ß die G e r e c h t i g k e i t a l s G e g e n s a t z g e g e n ü b e r g e s t e l l t zu s e h e n . 18
Vgl. TÖv x o i v ö v E7riliEXou(iEVoq PL Lg. 925 (Stelle oben zitiert).
164
B III
Philosophie
Arist. EN 1137b26. "Wenn der G e s e t z g e b e r n u n e i n e B e s t i m m u n g a l l g e m e i n f o r m u l i e r t , es g e s c h i e h t a b e r e t w a s abseits davon (¿Tri TOLJTOU), w a s dem A l l g e m e i n e n w i d e r s p r i c h t , d a n n ist es richtig, w o der G e s e t z g e b e r e t w a s a u s läßt u n d e i n e n Fehler m a c h t e , i n d e m er g e n e r e l l sprach, das F e h l e n d e z u v e r bessern, w a s a u c h der G e s e t z g e b e r selbst gesagt hätte, w ä r e er dort dabeig e w e s e n . u n d als G e s e t z e r l a s s e n hätte, w e n n er es g e w u ß t hätte. D a h e r ist (i(üv); d e n n d i e Billigkeit (löi yotp £7IIEIX^)tir) verbunden) EXEOQ. Aristoteles differenziert auch hier seinen Begriff von Unfreiwilligkeit in Auseinandersetzung mit dem Satz des Sokrates. Arist. EN Ulla2. "Es ist nun jeder Schlechte unwissend Uber das, was zu tun und was zu lassen ist, und durch diesen Fehler werden Menschen ungerecht und Uberhaupt schlecht. Der Begriff des Unfreiwilligen soll aber nicht benutzt werden, wenn einer das Zuträgliche nicht kennt; denn die Unwissenheit bei der Entscheidung (7Tp0ai.pE0El) ist nicht Ursache fUr die Unfreiwilligkeit, sondern fUr die Schlechtigkeit H1 eingegangen werden. Bei Aristoteles selbst ist die Bedeutung "billig" ein Spezialfall. In der "Nikomachischen Ethik" benutzt Aristoteles das Wort meist in der Bedeutung "anständig" als Synonym zu "gut" (ähnlich auch OTTOuSaiO^), ETtlElXEia entsprechend fUr "das Gute"; an (XYtx&OQ scheint E7UEixr)^ jedoch nicht ganz heranzureichen (Arist. EN 1128b21 • 27 • 29 • 30 • 33. Arist. EN 1152al7).
Albrecht Dihle geht auf den Begriff in seiner Monographie über die "Goldene Regel" im Zusammenhang der "Graduellen Überwindung des Vergeltungsdenkens" ein. Er weist auf die frühe Verwendung als Beiwort zu "Vergeltung" hin: Horn. II. 12.382 etueixe' citio!.ßr)v, hier noch ohne jeden Aspekt der Billigkeit; er nimmt an, daß die "Erweichung und Modifizierung des starren Vergeltungsprinzips sich gerade daraus ergibt, daß man gerechte, angemessene und d. h. die besonderen Umstände berücksichtigende Vergeltung im Einzelfall üben will". 1 9 Darin sieht er eine Entwicklung aristokratischer Ethik: Dihle Goldene Regel S. 46. "Während das Augenmerk in der älteren Zeit gerade darauf liegt, daß die den Adligen auszeichnende Tl^r) keine 19 Dihle Goldene Regel S. 46ff„ hier 47. Vgl. auch Schmidt Bd. 1 S. 318 zur Vermittlung des Begriffes zwischen Norm und Normabweichung: "Von uns wird anständig', von den Griechen E7UELxr]Q sowohl derjenige genannt, der dem punktlich nachlebt was die geltende Sitte erheischt, als derjenige, dessen sittliches G e f ü h l so sicher und fein ist, dass er. gewissermaassen [sie] aus dem Geiste der anerkannten Forderungen heraus f r e i schaffend, besonders Anderen gegenüber auch da das Richtigste und Beste trifft, wo ein minder a u f m e r k s a m e s oder selbstloses Verhalten keiner Verpflichtung entgegen sein wurde."
B III Exkurs:
167
¿KiElxrjq
Minderung e r f a h r e und jede versuchte oder vollzogene Beeinträchtigung mit schneller und vollständiger Vergeltung bereinigt werde, liegt hier der Akzent auf der Überlegenheit des 'hochgemuten' Mannes, der durch irgendeine Kränkung nicht gefährdet werden kann (...). Von dieser Position aus f u h r t der Weg zum ä v r j p ETTIEIXI^Q, öTtouSotiog, aotpÖQ der spätklassischen und hellenistischen Zeit, der die Norm seines Handelns in sich trägt und auf die Belohnung durch seine Umwelt nicht mehr angewiesen ist."
Seit Mitte des S. Jahrhunderts sei E7UEixrj5 "ein zentraler Begriff urbaner Ethik"; von da an sei er bei Dichtern, Historikern, Rednern und Philosophen häufig verwendet, "um sowohl einen Vorgang als auch das Wesen einer Person positiv zu kennzeichnen". 20 Als Vorläufer der E7UE(,xEq-Verwendung Arist. EN 1137 betrachtet Dihle Hdt. 3.53.4 und eine Stelle aus dem "Epitaphios" des Gorgias. Hdt. 3.53.4. Periandros schickt seine Tochter zu seinem jüngeren Sohn, damit diese ihn zur Übernahme der Herrschaft bewege. "Bruder, willst du, daß die Herrschaft an andere fällt und das Haus des Vaters lieber zerstört wird, als daß du selbst kommst und beide Ubernimmst? Komm nach Hause, höre auf, dich selbst zu bestrafen! Ehrliebe ist ein unheilvoller Besitz: versuche nicht, Übel durch Übel zu heilen. Viele ziehen das eher Billige dem (ausschließlich) Gerechten vor (TTOXXOI T Ö V ö i x a i u v i a E 7 U E L X E OTEPOC TrpOTl&Elot). Und viele haben schon das mutterliche Erbteil gesucht und dabei das väterliche verschleudert. Alleinherrschaft ist eine gefährliche Angelegenheit, viele streben nach ihr; aber ist schon Greis und hochbetagt: Laß! anderen nicht die Guter, die dir zustehen."*
Die Geschichte des Zerwürfnisses zwischen Periandros und seinem Sohn ist geprägt von archaisch wirkender Unbeugsamkeit und Starre des Ehrbegriffes; sie ist eine der Geschichten, in denen es für Verzeihen keinen Raum gibt (s. o. B II 3). Der Nebenfigur wird jedoch gleich ein Bündel begütigender Sätze in den Mund gelegt, die der waltenden Tragik entgegenwirken könnten; diese entsprechen der zeitgenössischen Perspektive des Herodotos. Vorsokr. 82B6: Gorgias. Epitaphios. Daß die Gefallenen von göttlicher Arete waren und mit den Menschen nur die Sterblichkeit teilten, begründet Gorgias so: "(...) oftmals zogen sie ja die milde Billigkeit dem schroffen Recht vor (7roXXä HEV 6f] l ö u p a o v E 7 U E I X E 5 TOU otü-8'dSouQ Sixcxiou TTpOXpiVOVTEC;). oftmals auch der peinlichen Genauigkeit des Gesetzes die Richtigkeit der Redeweise, denn dies hielten sie fUr das gottlichste und allgemeinste ( x o i v o x a i o v ) Gesetz, das Notwendige im notwendigen Augenblick zu sagen oder zu verschweigen, zu tun oder zu lassen (...)." Bei Gorgias ist wie bei Aristoteles das allgemeine Gesetz dasjenige, das zur Anwendung des (dem Spezialfall gerecht werdenden) ETTIEIXE^ a u f fordert. 20 Dihle Goldene Regel S. 46f. Aus Klassischer Zeit werden Sophokles (s. u. TrGF 4 770), Thukydides und Isokrates angeführt.
Belege
bei
168
B III
Philosophie
Entscheidend ist die Entgegensetzung von etuelxe^ und Sixaiov. Rudolf Hirzel behandelt das £7uelx£YYV(»)HT1S TUYX« VELV -
Wenn Aristoteles eine Verbindung zwischen £7uei.xe5 und Guy^vunr) zieht, so steht er damit nicht allein. Zu erinnern ist an PL Lg. 757el (E7TLELXEQ und O U Y Y v ü ) ^ o v werden zusammen abgewertet, s. o. B III 2), D. 21.90 (Parallelisierung von OUYY^H 1 ^ xöyoq und ETUElXEia, s. o. B I 2 zitiert, Th. 3.44.2 (Argumentation gegen ouYYVÜnr) und E7UELXEia. s. o. B II 4); Th. 3.40.3 rtlcken eXeoq und E7TCELXELCX zusammen; Th. 1.76.4 wird die maßvolle Ausübung der Herrschaft mit ETTLELXE^ bezeichnet, ähnlich Th. 4.19.2 ein Uber Erwarten maßvoller Friedensschluß (öiaXÜEO&ai, Ttpöq TO E7UEIXEI;, ¡;uvaXX(XY?i' verbunden mit idt ^Expia).
Wenn ETUELXEta auch im Zusammenhang eines Privatprozesses gebraucht werden kann, so ist doch noch häufiger (wie an den genannten Stellen bei Thukydides) die politische Amnestie gemeint. Dies gewinnt besondere Bedeutung dort, wo die beiden Wörter unter den Einfluß des römischen Denkens geraten. Hier wird E7T(.ELXEl0i als Ubersetzung fUr dementia gebraucht: Caesar erhält einen Tempel zusammen mit der 'ETTlElXEia (App. BC 2.443; Caesars Milde wird auch App. BC 2.602 mit E7UEixEl0C bezeichnet). FUr politische Amnestie werden E7UELXEL0f und aUYY^(i>t-"1 nebeneinander gebraucht: D. C. 41.63.4, D. C. 45.21.1 (beidemale dazu tpiXav&pU7tia). D. C. 57.12, D. C. 66.8.6. D. S. 11.26.1. D. S. 13.22.4, D. S. 17.76.2. D. S. 19.86.3, J. AJ 19.334. Diese E7TLELXEL0t ist ausgesprochen eine Tugend des Herrschers und des militärischen Siegers (ohne OUYYW»>[ir) auch Plb. 5.10.1 - mit (piXav&ptdTUOt - , D. S. 1.54.2. D. S. 1.60.4. NT Act. 24.4, NT IPt. 2.18, vgl. fUr einen Bischof NT lTm. 3.3. Aristeas 290, Äthan. 141.16 * 14220: apol. sec^ Constantinus an die Alexandriner, Äthan. 145.7: apol. secj Alexandros von Thessalonike an Athanasios. Äthan. MPG 25.612.33 - mit |iaxpo8-U|lia - , als Titel f] of) ETTtELXElOi Äthan. 238.9 • 16: de synj Schreiben der Synode von Rimini an Constantius). Der Unterschied besteht darin, daß ¿71LELXEL0C die Charakter-
172
B III
Philosophie
e i g e n s c h a f t ist, die den konkreten Akt der t e i v — Ä^toug eTvcxi), die etwas dergleichen unfreiwillig ((xxouoiw^) tun, weil die Strafe nicht fUr die vollzogene Tat festgelegt ist. sondern fUr die Art der Handlung; dies wird niemand sonst, aber auch sie selbst nicht. fUr unrechtmäßig halten. Und doch, warum sind im Vergleich zu denen, die sich aus Unwissen ( 5 t ' ayvOLOtv) verfehlen oder aufgrund von Gewalt (ßiqc). wohl diejenigen weniger der Verzeihung wert (aUYY v( JtI7]Q S^lOt), die zwar wissen, was sie tun. aber in sich nicht die Möglichkeit haben, etwas anderes zu tun. als was sie tun, da ihre Verhältnisse so sind, wie sie auf jeden Fall und notwendig fUr sie beschaffen sein mtlssen, weil [nach Meinung der Gegner] ihre Natur von dieser Art ist und weil jedes nach seiner ihm eigenen Natur handelt gemäß Schicksal, so wie das Schwere, wenn man es in der Hohe losläßt, nach unten fallen und das, was um sich wirbelt, wenn es losgelassen wird, von seinem Platz geschleudert werden muß?" Entsprechend begründet er die Ansicht, daß Strafen nur fUr die sinnvoll sind, die sich vergehen, wo sie Möglichkeit der Entscheidung haben, damit, daß in den anderen Fällen alle Menschen Verzeihung gewähren [Alex. Aphr. Fat. 190.4 öUYYV(i>tiT]v SiSovtei;, 190.7 ouyyvq>UT]S < a £ i o i > , 190.12 ouy~ Die YVQ)^ir]V 5o~ev. 190.17 0UVEYiY V U Ö X 0 V Gegner, die gleichzeitig die Gültigkeit von Schicksal und Gut-BOse postulieren, werden freilich einer ironischen OUYYVÜnr) gewürdigt (Alez. Aphr. Fat. 20722 OUYY^k>°XElV a ü t o u ; a^tov). da sie sich xoer' d v c t Y ^ n ^ Widerspruche verwickeln. Auch im nicht Aleiandros von Aphrodisias selbst zugesprochenen 3 3 4. Buch der 'HS-lxdc TtpoßXruioaa wird die OUYY^ÜUI. die f ü r unfreiwillige Taten gewährt wird, als Indiz ( t i a p i u p E l , TTtOTlQ) dafttr verwendet, daß auch der. der in eine schlechte Sljlg gerät, am Anfang noch wußte, daß die schlechten Handlungen nicht gut und nützlich seien (Alex Aphr. Quaest. 130.5 - 6 • 9 ) 3 4
Auch bei Theophrastos scheint oi>yyvÜ!-it] ihren gerechtfertigten Platz im menschlichen Miteinander zu haben; genaue Vergleiche lassen sich nicht anstellen, da die Gattungen nicht vergleichbar sind: Für Theophrastos ist ouYYVü)(-tT) nur in den "Charakteren" überliefert; hier erscheint mangelnde oder falsch gebrauchte ouyy^w^H als unangenehmer Charakterzug.
33
RE Bd. I (2) Sp. 1454 nennt Schriften.
nur Buch I bei den echten
selbständigen
34 Der Gedanke, daß man hekusisch in otyMOlOL gerät, indem man ein liederliches Leben f u h r t , stammt von Aristoteles, Kraus S. S8f.
176
B III
Philosophie
Thphr. C h a r . 15.6. Z u m a ü & a ö r i ^ . dem a u s Selbstbezogenheit s c h r o f f e n M e n s o h e n . 3 5 g e h ö r t es, daß e r n i c h t v e r z e i h t ( ? X E L V öUYYVU^rjv), w e n n m a n i h n u n a b s i c h t l i c h (äxoiiaLUQ) b e s c h m u t z t , stößt oder a u f den Fuß tritt. Thphr. C h a r . 12. "Die ElpaiVEtoc d u r f t e w o h l - u m sie im U m r i ß zu e r f a s s e n - e i n e V e r s t e l l u n g h i n z u m S c h l e c h t e r e n in W o r t e n u n d T a t e n sein, der E i p u v a b e r so g e a r t e t , daß e r bereit ist, z u s e i n e n F e i n d e n h i n z u g e h e n u n d zu s p r e c h e n , statt sie z u m e i d e n (oi) ¡ILOETv). u n d A n w e s e n d e lobt, d e n e n e r h e i m l i c h n a c h g e s t e l l t hat, u n d mit d i e s e n t r a u e r t , w e n n sie im P r o z e ß v e r l o r e n h a b e n , u n d d e n e n sein V e r s t ä n d n i s versichert ( a u Y Y v ( i ) W u — die Uber i h n S c h l e c h t e s sagen, u n d f ü r das, w a s g e g e n i h n gesagt wird." (In der Epitome: x o d GUYY'vtdlll'l? dt^iouv TOU? x a x Ö £ a ü i ö v XEYOVTag.) Im b e r ü h m t e n C h a r a k t e r b i l d ( U b e r s e t z u n g u n d D e u t u n g im A n s c h l u ß a n Gaiser Rcz. Steinmetz S. 27f.) v e r w u n d e r t z u n ä c h s t , daß V e r z e i h e n a l s n e g a tive H a l t u n g e r s c h e i n t . A l l e r d i n g s sind a m A n f a n g m e h r e r e EinzelzUge u n eindeutig; erst in der Z u s a m m e n s c h a u ergibt s i c h i h r e G e m e i n s a m k e i t : D e r E i p u v will s i c h n i c h t f e s t l e g e n , geht V e r a n t w o r t u n g a u s dem W e g u n d n i m m t dafUr in K a u f , daß e r e i n e n u n a n g e n e h m e n E i n d r u c k m a c h t . So, w i e m a n b e i m e r s t e n H ä r e n d e n k e n k ö n n t e , er sei v i e l l e i c h t g e w i n n s u c h t i g . jed e n f a l l s h e u c h l e r i s c h u n d i n t r i g a n t , da e r f r e u n d l i c h m i t s e i n e n Prozeßgegn e r n spricht, so k b n n t e m a n den Satz mit 0UYY^Ü(i7] a u c h im S i n n e e i n e r S c h r o f f h e i t v e r s t e h e n : W e r d e n d e m ELpwv V o r w u r f e a n d e r e r ( P l u r a l f o r m e n ! ) h i n t e r b r a c h t , g e b e er i h n e n r e c h t ("ich bin g a n z i h r e r Meinung"). T a t s ä c h l i c h g e h t s e i n e S c h r o f f h e i t a b e r n u r so weit, daß er sich n i c h t z u m G e g e n s t a n d der V o r w u r f e ä u ß e r t ; er w i r d s i c h n i c h t so weit f e s t l e g e n , daß er d a z u Stell u n g n i m m t , s o n d e r n "nimmt es n i c h t Übel", w a s m a n Uber ihn redet, u n d r e a g i e r t damit anders, a l s sein G e g e n u b e r es e r w a r t e t e : D a s m a c h t dieses V e r z e i h e n u n a n g e n e h m . - Das Bild des E i p u v r i c h t e t sich n i c h t a n Sokrates a u s (Thphr. C h a r . Bd. 2 S. 42, vgl. Gaiser Rcz. Steinmetz S. 27.Anm. 3).
In der epikureischen Schule muß generell ein Klima der Nachsicht geherrscht haben; man benutzte die Redensart E X E T U 5 E OUYY\"»>!-IR)V xal TOUTO. 36 Wir lernen die Stellungnahme des Epikuros zu verschiedenen Themen kennen, darunter dem des Generationenkonflikts und dem der Sklavenbehandlung (dazu siehe auch C III 3). den
E p i k u r o s ( E p i c u r . C6] C« Sent. Vat.] 62) verlangt, a n d e r s a l s Piaton. von K i n d e r n n u r d a n n , i h r e Eltern bei Z o r n u m V e r z e i h u n g z u bitten
(7TAPAITETO&AI
OUYYVUTJTLS
TUXETV), w e n n
es
sich
um
die
Pflicht
(XÖ
SEOV) h a n d e l t . 35
Das Wort aÜfWcSri^ e r s c h e i n t n i c h t von u n g e f ä h r in diesem Z u s a m m e n hang: Vorsokr. 82B6: Gorgias, Epitaphios (oben z i t i e r t ) w i r d es im G e g e n s a t z zu ETUlEtxrji; v e r w e n d e t ; PI. Plt. 2 9 4 c l v e r g l e i c h t das G e s e t z m i t e i n e m s e l b s t h e r r l i c h e n M e n s c h e n - aÜ&dtSr)«; - . der " n i e m a n d e n t u n läßt, w a s g e g e n s e i n e e i g e n e O r d n u n g geht, u n d k e i n e n e i n e R ü c k f r a g e s t e l l e n läßt, a u c h w e n n j e m a n d e m e t w a s Besseres e i n f ä l l t , das g e g e n das Wort steht, das er selbst e r l a s s e n hat*. 36
D i e s f o l g e r t Westman Adversus Colotem cap. 20.
S. 194 a u s der Z i t a t f o r m e l &)nr]V otLTETCoD'&ai). Der Epikureer Philodemos hatte Nachsicht dafür, daß sich Speusippos durch ausschweifenden Lebenswandel seine Krankheit zugezogen hatte (Phld. Acad. Ind. 6.38a CeTxe Ta apS-pa St*] a gUYY^ßUEV 7rapaXu&EVTa). In der Ablehnung von ouyyvcjht] und im ironischen Gebrauch Platonische Tradition von den Stoikern
fortgesetzt. Die Ablehnung
wird wird
mit noch größerer Rigorosität ausgesprochen; w i e bei Sokrates wohl aus der Einsicht, daß das Böse durch keine Verzeihung aufhört, b ö s e zu sein. SVF III 162.35 • 36 • 38: Zenon und andere Stoiker. "Sie sagen aber, daß nicht einmal ^ir]V EXElv): (denn es liege auf derselben Linie, zu verzeihen (oUYYVUHT)V IE EXElv)> und zu glauben, der, der das Vergehen begangen habe, habe sich nicht gegen sich selbst vergangen, da jeder sich durch seine eigene Schlechtigkeit verfehle; deshalb mlisse man auch sagen, man dtlrfe denen, die sich verfehlen, nicht verzeihen (ouYYvt»>[l]r)V EXElv). Und sie sagen, der gute Mensch sei nicht milde (E7CIEIX?]), denn wer milde sei, sei Bitten zugänglich (TtapaiiriTlXÖv), wo es um eine gerechte Bestrafung gehe, und es liege auf derselben Linie, milde zu sein, zu argwöhnen, die vom Gesetz angeordneten Strafen seien zu hart für die Unrechttuenden, und zu glauben, der Gesetzgeber verteile die Strafen gegen die Rechtmäßigkeit (d^iav)." SVF III 163.3 (• D. L. 7.123): Zenon. "Und sie seien nicht barmherzig (EXErjllovaq) und verziehen niemendem ([ir]V ... EXElv): denn sie verzichteten nicht auf die vom Gesetz auferlegten Strafen, da gerade das Nachgeben (7iapiEV0£L) und das Mitleid (eXeo^) und selbst die Billigkeit 37 ( E 7 n . E L X E l . o c ) eine Schwäche der Seele gegenüber Bestrafungen (xoXäastQ) sei, die sich als Freundlichkeit (xpTlOTOTTJTOi) ausgebe; und man dürfe nicht glauben, daß die Bestrafungen zu hart seien." Vgl. auch SVF III 110J2ff.: Seneca. Betrachtet
man die T e x t e genauer, sieht
man, daß nicht
ouYYvwur)
schlechthin abgelehnt wird, sondern nur ouYY^ü(J.r] vor Gericht, und zwar unter Berufung auf die Gültigkeit
des G e s e t z e s , 3 8
wie
dies schon
bei
Piaton begegnete und punktuell in der Gerichtsrhetorik. Im persönlichen Umgang dagegen schätzte die Stoa die Eigenschaft ouyy^u^lovlxöq; bei Epiktetos geschieht das unter direkter Berufung auf Sokrates: Epict. 2.22.36. Wer einen Freund will, muß zuerst in sich die Meinungen
37
Nach Konjektur v. Arnim: äöuvoc[iia.
38
So auch Bonhöffer
S. 103-05.
178
B III
Philosophie
ausmerzen, die die Freundschaft zerstören können. "Und so wird er zuerst sich selbst nicht schmähen, nicht bekämpfen, nicht wankelmutig sein, nicht sich selbst foltern; dann wird er auch einem anderen, der ihm ä h n l i c h ist. sich ganz als er s e l b s t 3 9 zeigen, dem, der ihm nicht ähnlich ist. gegenüber aber freundlich, sanft, nachsichtig (ÄVEXH.XOQ. Trpqioi;. ... ?i|lEpoÜaxu), die allerdings einfältig sei. (Zur philologischen Problematik auch Gal. 9.892J0: de dieb. decr. II. wo eingeräumt wird, daß der Versuch, ein Problem durch den Zusatz einer Bezeichnung zu lösen, "verständlich" - OUYY^wöTÖv - ist, insgesamt den Auslegern jedoch vorgeworfen wird, sie suchten das Klare unklar zu machen: das Wort ^Eli