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German Pages 383 Year 1978
Die Repräsentation organisierter Interessen
Von
Joseph H. Kaiser Zweite unveränderte Auflage
Duncker & Humblot . Berlin
J O S E P H H. K A I S E R
Die Repräsentation organisierter Interessen
Die Repräsentation organisierter Interessen
Von
Dr. Joseph H. Kaiser Professor der Rechte an der Universität Freiburg i. Br.
Zweite, unveränderte Auflage
DUNCKER
& HUMBLOT / BERLIN
Unveränderter Nachdruck der 1956 erschienenen 1. Auflage Alle Rechte vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei fotokop — Wilhelm weihert KG, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 428 04298 0
Vorwort zur Zweiten Auflage
Die hiermit erneut aufgelegte Arbeit war seit 15 Jahrein vergriffen. Die alsbald und gelegentlich wiederholte freundliche Aufforderung des Verlegers, zu einer zweiten Auflage Hand zu bieten, bestärkte mich in der Absicht einer gründlichen Neubearbeitung. Jedoch trat das Vorhaben hinter anderen Aufgaben zurück, die sich i m Auswärtigen Amt, m i t dem Lehrstuhl in Freiburg, an ausländischen Fakultäten, auch i n der Bearbeitung praktischer öffentlichrechtlicher und völkerrechtlicher Fälle stellten; auch schob sich mit dem Forschungsprojekt „Planung" wiederum eine neue Materie in den Vordergrund. Habent sua fata libelli. Die Schrift wurde in ihren Anfängen betreut durch meinen verehrten Doktorvater Adolf J. Merkl, dessen Nachfolger das Projekt jedoch nicht förderte, und eine Mehrheit der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen lehnte 1952 einen darauf gestützten Habilitationsantrag ab, gegen die Stimme der Großen i n der Fakultät, darunter Hans Dölle und Konrad Zweigert. Hans Dölle hatte dem Habilitanden geraten, die durch ein Studium an der Michigan Law School i n A n n Arbor unterbrochene Referendarausbildung nicht wieder aufzunehmen, sondern nach dem Zeitverlust durch Kriegsdienst und zeitweise Führung des elterlichen Unternehmens unmittelbar die Habilitation anzusteuern, während Eduard Kern befürchtete, der Verfasser würde sich ohne Assessor nicht gut ernähren können, wohl wissend, daß ich von meinem Vater in dem kargen Hochsauerland gelernt hatte, Kartoffeln anzubauen, Bäume zu pflanzen, Pferde zu züchten und Wildbret zu erlegen. Die Arbeit hat nach dem Kriege die Verbände in die deutsche staatsrechtliche Literatur eingeführt. Ulrich Scheuner hat m i t seinem stets wachen Sinn für neue Themen den Verfasser noch i m Herbst 1952, unmittelbar vor A n t r i t t einer einjährigen Lehrstuhlvertretung an Ohio State University, Columbus, Ohio, aufgefordert, die Arbeit zur Habilitation an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn vorzulegen, die mich i m Februar 1954 damit und mit der Antrittsvorlesung „Der politische Streik"* habilitiert hat.
2
Vorwort zur Zweiten Auflage
Ich bleibe meinem verehrten Lehrer Ulrich Scheuner und den Kollegen der Fakultät i n Bonn zu stetem Dank verpflichtet, ebenso auch dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Prof. Dr. Johannes Broermann, der die Arbeit ebenso wie vorher die Dissertation „Die politische Klausel der Konkordate" (1949), und später die Bonner Antrittsvorlesung in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Sind Stellung und Funktion der Verbände mit Repräsentation zutreffend umschrieben worden? Mein verehrter Lehrer Carl Schmitt, dem ich für viele hilfreiche Gespräche Dank schulde, wandte sich gegen den Titel der Schrift: nur die nationale Einheit, nicht der Pluralismus, sei der Repräsentation fähig. Heute erscheint mir zweifelhaft, ob Repräsentation noch eine zureichende Umschreibimg darstellt. Darum kann ich die gegenwärtige Verfassungslage m i t den Gewerkschaften und i n einigem Abstand auch den anderen Verbandsmächten nicht vollständig unter dem Titel der Repräsentation aufarbeiten. Dies ist darum auch nicht der Platz einer Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur, deren Autoren — wenn man einmal von den Verwertern und den Herstellern juristischer Trivialliteratur mit häufig nichtsdestoweniger hohem Anspruch absieht — ein Recht darauf haben. Einem Vorwort kommt es nach Hegel jedoch nur zu, „äußerlich und subjektiv" den Standpunkt der Schrift (und des Autors: immerhin auch „subjektiv") zu fixieren, wovon ich mich schon bei der ersten Auflage (S. 1) habe leiten lassen. Die Sache selbst, Stellung und Funktion der organisierten Interessen, bleibt die Verfassungsfrage dieses Jahrhunderts. Rittergut Hoppecke, 15. September 1978 Joseph H. Kaiser
* 2. Aufl., Berlin 1959, in deren Vorwort festgestellt werden konnte, daß sich die ordnende und stabilisierende Rolle der Interessenverbände inzwischen auch in einigen staatsrechtlichen Betrachtungen zögernd auszudrücken begann und die verbreitete Verbandsphobie und die literarisch gepflegte chronique scandaleuse der Verbandsherrschaft, mit der zunächst Politologen Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, in ihren Schatten geriet.
Inhalt
Einleitung Die
Organisation
der
Interessen
9
Begriff und Bedeutung der Organisation 9 — Organisation als Kategorie des technisch-ökonomischen Denkens 9 — Organisationsmotive 13 — Nachteile und Gefahren 14 — Disponiertheit des modernen Menschen für die Organisation 17 — Organisation als Mittel der Politik 18 — Das Gewicht der Mitgliederzahl 21 — Die Vielzahl organisierter Interessen 22 — Rechtsform der Organisationen 23 — Abgrenzung 24 — gegenüber den politischen Parteien 26 — gegenüber nur-wirtschaftlichen und nur-kulturellen Vereinigungen 26 — Organisierte Interessen im europäischkontinentalen und i m atlantischen System 28
Erster Teil Historische
Leitbilder
und Strukturtypen
Die Unterdrückung der alten Stände und Korporationen durch die Ideen Rousseaus und der Französischen Revolution 1. Der Syndikalismus
30
31 35
Anfänge der Arbeiterbewegung in England und Frankreich 35 — Trennung von Kapital und Arbeit als Ursache 37 — Gliederung nach Berufen oder Industriezweigen 38 — Aufstieg in England 39 — I n Deutschland 40 — I n Frankreich 44 — Die Frage Siéyès' nach dem Wesen des Dritten Standes und Proudhons nach dem Wesen des Eigentums 45 — Der Syndikalismus „hors de la politique" 47 „hors de l'argent" 48 — Der Generalstreik 49 — Anarcho-Syndikalismus 51 — Widerstreben gegen die Einfügung in das herrschende politische System 51 2. Die ständisch-korporative Idee Funktionale Gesellschaftsauffassung 55 — Stand und Klasse 55 — Die Standesehre 57 — Aktualität der ständisch-korporativen Idee 58 — Ständische Gliederung und Korporationsoktroy 59 — Korporationen als intermediäre Ordnungselemente 63
54
4
Inhalt 3. Pressure Groups in USA
66
Begriff und Entwicklungsbedingungen 66 — Pressure Groups und Parteien 71 — Pressure Groups und Kongreß 72 — Das Lobbying 73 — Weitere Einflußmethoden 76 — Geheime Gesellschaften 79 — Balance widerstreitender Interessen als Ergebnis von „pressure politics" 81 Zweiter Teil Aktuelle
Beispiele
organisierter
Interessen
1. Die Gewerkschaften
83 83
Abwendimg vom Syndikalismus und Einordnung in Gesellschaft und Staat 84 — Auflösung der proletarischen Klassenlage 85 — Expansion des Mitglieder- und Aufgabenkreises 86 — Die Forderung nach Mitbestimmung in Wirtschaft und Politik 88 — „Nationalisierung" der ursprünglich internationalen Arbeiterbewegung 93 — Die alten Ziele sind erreicht 94 — Die alte Legitimationsgrundlage ist entfallen 94 — Machtkrise der Gewerkschaften 96 2. Arbeitgeberverbände, Industrie und Gewerbe
96
Konzentration und Konkurrenz 97 — Die deutschen Unternehmerverbände 99 — Information, Rationalisierung und Werbung 101 — Verbandspolitik und -disziplin 102 — Kapital und Arbeit 106 — Arbeitgeberverbände 107 — Zentralisierung 108 — Spitzenverbände 110 3. Die Bauern
112
Irrationale Gegebenheiten 112 — Landwirtschaft, Industrie und Gewerkschaften 114 — Marktordnung 117 — Mittelstandsblock 119 Religiöse und weltanschauliche Interessen
122
Repräsentative Funktionen der Kirchen im Nachkriegsdeutschland 122 — I n Norwegen 127 — Auf dem Balkan 127 — I n Zypern 128 — I n England 128 — Kirchliche Interessen 129 — Die indirekte Gewalt 133 — Die Katholische Aktion 138 — Die protestantischen Kirchen 141 — Mohammedanische und jüdische Organisationen 148 — Würdigung 149 5. Der öffentliche Dienst „Spoil-System" 151 — Arbeitnehmerinteressen im öffentlichen Dienst 153 — Die Unterscheidung zwischen Hoheitsverwaltung und wirtschaftlich-fiskalischer Staatstätigkeit 155 — Gewerkschaften i m
151
Inhalt englischen und französischen öffentlichen Dienst 156 — Das Problem des Streiks in der Hoheitsverwaltung 161 — Personalvertretungen 163 6. Steuerzahler und Verbraucher
164
Konsum und Steuerzahlen als verwandte Funktionen i m staatlichen Funktionsmechanismus 164 — Schwierigkeiten der Organisation der Konsumenten- und Steuerzahlerinteressen 165 — Wahrnehmung dieser Interessen durch andere Organisationen 166 — Der französische „tripartisme" 168 — Verbrauchergremien in England 170 — Steuerzahler- und Verbraucherorganisation in USA 173 — I n Deutschland 177
Dritter Teil Die
Adressaten nehmung
der
organisierten
Interessenwahr-
1. Die Sozialpartner und andere Interessengruppen
181 181
I. Die Partnerschaft und das Aufeinanderangewiesensein der einzelnen Gruppen 181 — Aufforderung der deutschen Gewerkschaften an die Besatzungsmächte, Arbeitgeberverbände zuzulassen 185 — Die Vereinbarung der Sozialpartner vom 15.11.1918 187 — Tarifverträge 188 — I I . Das gegenseitige Interesse der Sozialpartner an ihrer Selbständigkeit 193 — Der Kampf u m das Mitbestimmungsrecht in Deutschland 194 — Kooperation und Ablehnimg staatlicher Einmischung 196 — I I I . Der Arbeitskampf 200 — I V . Neutralität und Parität 204 2. Die öffentliche Meinung
211
I. Die öffentliche Meinung — eine Vierte Gewalt? 212 — I I . Einfluß der Interessengruppen auf die öffentliche Meinung 213 — I I I . Begriff der öffentlichen Meinung 218 — IV. Organisierte Interessen als Träger der öffentlichen Meinung 224 — V. Organisationen im Lichte der öffentlichen Meinung 225 — a) Öffentlichkeit als Medium der Machtausübimg 226 — b) Unterstützung durch die Öffentlichkeit 228 — c) Wettstreit der Interessen 228 — V I . U m eine unabhängige öffentliche Meinung 229 3. Die politischen Parteien I. Die Unterscheidung von Parteien und Pressure Groups 234 — Die Parteien als Träger der staatlichen Herrschaft 234 — Illustriert durch ihre Haltung zur Pressefreiheit 239 — Interesse und Werbung 239 — Politische Verantwortung als Kriterium der Unter-
232
6
Inhalt Scheidung von Parteien und Pressure Groups 241 — I I . Das Verhältnis von Parteien und Interessengruppen 247 — Die Entwicklung von Pressure Groups zu Parteien 252 — Die Fortbildung der Klassengesellschaft in die nach Interessen gegliederte Gesellschaft 254 4. Das Parlament
255
Lobby 257 — Der politische Streik 259 — Registrierung der Lobbyists in USA 262 — Extrakonstitutionelle Motoren der Gesetzgebung 266 5. Regierung und Verwaltung
267
I. Einwirkung von außen 269 — Mobilisierung des SachVerstandes 270 — Interessendruck und Kompromiß 272 — I I . Einwirkung von innen 273 — Verankerung organisierter Interessen in Staatsämtern 274 — „Boards" in USA und England 275 — Der Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn 280 — I I I . Konsultative Mitwirkung der Interessengruppen 283 — I n Deutschland 284 — I n England 288 6. Die Justiz
292
I. Besondere und Verbandsgerichtsbarkeit 294 — I I . Die politische Funktion der amerikanischen Justiz 300 — Darum Adressat organisierter Interessenwahmehmung 301 —- Die europäische Justiz ist, solange und soweit sie „en quelque façon nulle" ist, nicht Adressat organisierter Interessenwahrnehmung 304
Vierter Teil Organisierte sentation
Interessenwahrnehmung
als
Reprä308
Staat und Gesellschaft 308 — Keine unterschiedslose Übertragung fremder Vorstellungen und Begriffe 3J0 — Kontinentale und maritime Elemente in der okzidentalen Staatenstruktur und Staatslehre 311 1. Pluralistische Diagnosen und Konstruktionen
313
Werner Weber 314 — Carl Schmitt 314 — Der angelsächsische Pluralismus 316 — Harold Laski 316 — Schutz des Individuums vor der Macht intermediärer Oligarchien nur durch den Staat 319 2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen I. „Pressure Politics" verglichen mit der Ständeordnung des Mittelalters 321 — I I . Ständisch-korporative Realisationen der Gegenwart 324 — Portugal 324 — Spanien 329 — Exkurs: Jugoslawien 333
320
Inhalt 3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
338
Die Dialektik von Staat und Gesellschaft 338 — Die Gliederung der Gesellschaft nach Interessen 339 — Der Begriff des Interesses in der deutschen Jurisprudenz 339 — Integration der politischen Einheit durch die Parteien oder plebiszitär 347 — Der einzelne Staatsbürger als Garant der politischen Einheit 347 — Organisierte Interessenwahrnehmung nur innerhalb der staatlichen Grundordnung 348 — Zweite oder Dritte Kammer (Wirtschaftsrat) als Repräsentativorgan der Interessen? 349 — Organisierte Interessenwahrnehmung als „représentation de fait" 354 — Repräsentation und Öffentlichkeit 355 ff. — Demonstration 356 — Zentralisierung 358 — Staatsbürgerliche Gleichheit und soziale Ungleichheit 360 — Ehre, Tugend, Interesse 363 Personenregister
365
Sachregister
373
Einleitung: Die Organisation der Interessen Es gibt Archetypen menschlicher Bewußtseinsinhalte, -die auf dem Grunde alles politischen Lebens wirksam sind. Dazu zählen die E h r e , die T u g e n d und das I n t e r e s s e . Aus ihnen entbinden sich geschichtsbewegende Kräfte und Mächte, aufbauende und niederreißende, haltende und beschleunigende. Interesse ist so ein ursprüngliches politisches Element, bei allem Wechsel seiner Gegenstände und Richtungen eine fast unzerstörbare Substanz; i n einer Zeit vielbeklagten und i n Richtung auf den N u l l punkt des Nihilismus treibenden nationalen und okzidentalen Substanzverlusts darum ein Faktor, der unserer vornehmsten wissenschaftlichen wie praktisch-volkspädagogischen Bemühungen wert ist. Die A k t i v i t ä t harmonierender und noch häufiger sich widersprechender und unter Umständen sich (bekämpfender Interessen erscheint zudem als ein hervorstechendes Merkmal unserer politischen Daseinsform. Politische Interessen, u m es zu wiederholen, hat es immer gegeben und sie waren zu allen Zeiten wirksam. Aber ihre Tätigkeit vollzog sich i n anderen Formen und i n geringerer Intensität. Die für die Gegenwart charakteristische essenorganisation.
Form ist die
Inter-
Organisation stellt sich hier dar als etwas sehr Modernes und ein typisches Produkt des Maschinenzeitalters. Der Begriff hat kaum mehr etwas gemeinsam m i t den Vorstellungen, die vor einem halben Jahrhundert noch die sog. organische Staatslehre Otto v. Gierkes mit diesem Wort verband. Sie liebte es, sich der Ursprünge dieses Wortes, Organe und Organismus eines lebenden Körpers, zu erinnern und bediente sich gern der Analogien aus dem Bereich der belebten Natur: „organisierte Gemeinschaften" wie Gemeinden, Körperschaften und auf höchster Stufe, diese i n sich begreifend, der Staat sind für Gierke „soziale Ganze leiblich-geistiger N a t u r " 1 . Was i m Gegensatz zu dieser Auffassung an den m o d e r n e n , hier gemeinten Organisationen zu1 Otto v. Gierke , Das Wesen der menschlichen Verbände, Berliner Rektoratsrede 1902, Berlin 1902, S. 22.
10
Die Organisation der Interessen
erst ins Auge springt, ist eine hochentwickelte technische Apparatur m i t Bürohäusern, Karteien und Aktenschränken, Telefonsystemen und Fernschreibern, Hollerithmaschinen und einem gegliederten, disziplinierten Funktionärsstab. Dieser Apparat „erfaßt" eine Masse von Menschen, kontrolliert, formt und führt sie, registriert und rubriziert ihre jeweils für belangvoll erachteten individuellen Äußerungen, dient ihren kollektiven Manifestationen und lebt von ihren Beiträgen. Dieses alles geschieht mit nie gekannter Präzision und Exaktheit, m i t einem unheimlichen Grad von Wirksamkeit, „efficiency". Es soll gewiß nicht geleugnet werden, daß i n und hinter diesen Mechanismen und Gehäusen wirkliches Leben pulsiert: hinter den frühen anarchistischen und sozialistischen Zirkeln und Organisationen das Proletariat, hinter den Gewerkschaften eine Arbeiterklasse oder ein Arbeiterstand, hinter den Agrarverbänden das Bauerntum und in der Kirche Christi mystischer Leib. Aber vor unseren Augen haben w i r jene nüchternen Fassaden vielgeschossiger Bürohäuser, die die Wärme mittelalterlicher Kathedralen und Palazzi nicht kennen; und wenn w i r in unserer täglichen Beanspruchung durch jenen minutiösen Apparat, oder besser durch eine Vielzahl solcher Apparate, auf sie eines jener vier mythischen Bilder für anwendbar halten, unter denen Thomas Hobbes die Organisation des Staates beschrieb, dann ist es nicht der sterbliche Gott, noch der große Mensch, noch der Seedrache Leviathan, sondern die unwiderstehliche Maschine, unter deren B i l d w i r uns das Wirken jener Organisationsapparaturen vorzustellen vermögen. Diese in ihren Ausmäßen und Leistungen oft überwältigenden Aggregate technischer Hilfsmittel, gepaart mit dem Geist und der K r a f t von Sekretären und Funktionären, haben ihre eigene Schwerkraft und arbeiten nach eigenen Gesetzen, sie sind Gegenstand einer besonderen Wissenschaft der sog. O r g a n i s a t i o n s l e h r e und einer umfangreichen Literatur 2 . Man glaubt sogar i n manchem, was 2 Die erste systematische, bei aller Anlehnung an ältere Organisationsformen in ihrer Blickrichtung der „Gesamtbewegung des heutigen Organisationsphänomens" zugewandte Arbeit entstammt der Feder des Juristen Franz Klein, Das Organisationswesen der Gegenwart, Berlin 1913. Jüngere Studien, bei denen die volks- und betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkte überwiegen, verdanken w i r Rolf Erdmann, Grundlagen einer Organisationslehre, Leipzig 1921 (eine Programmschrift) und Otto R. Schnutenhaus, A l l gemeine Organisationslehre, Berlin 1951. Werner Sombart hat dem Gegenstand das zweite Kapitel seines Buches, Die Ordnung des Wirtschaftslebens, Berlin 1925, S. 34 ff., gewidmet. Das umfangreiche Werk von A. Bogdanow, Allgemeine Organisationslehre: Tektologie, 2 Bde., Berlin 1926, ist für die
Die Organisation der Interessen Martin
Heidegger,
Spengler
Karl
Jaspers,
José Ortega
eine d e m Geist dieser Organisationen kennen.
y Gasset
und
Oswald
z u m T h e m a der Technik u n d der Maschine geäußert haben3, Denn
jene
Organisationen,
verwandte Philosophie zu typische
Geschöpfe
dieses
erMa-
s c h i n e n z e i t a l t e r s , s i n d selbst T e c h n i k u n d M a s c h i n e i n e i n e m das W e s e n des M e n s c h e n b e s o n d e r s n a h b e r ü h r e n d e n u n d a n g r e i f e n d e n S o j u n g diese E r s c h e i n u n g s f o r m e n
alt u n d allgemein sind Phänomen u n d Begriff ö f f e n t l i c h e n L e b e n d e r V ö l k e r . R o b e r t Michels ten Buch
„Zur
Sinn.
d e r O r g a n i s a t i o n a u c h s i n d , so der Organisation
im
hat i n seinem berühm-
S o z i o l o g i e des P a r t e i w e s e n s " 4 das K a p i t e l ü b e r
die
Notwendigkeit der Organisation m i t der Feststellung eingeleitet: Ohne Fragestellung der vorliegenden Arbeit unergiebig, da der Begriff grenzenlos ausgeweitet und namentlich die „Organisation" der organischen und anorganischen Natur abgehandelt wird. Die große Darstellung von G. Leener, Traité des Principes généraux de l'Organisation, Bruxelles 1945, zeichnet sich vor allem durch Systematik und umfassenden Gesichtskreis aus, in den Gesellschaft, Wirtschaft, Staatsverwaltung und Militärorganisation einbezogen sind. Von besonderem Wert ist die jüngste Studie: Franz Eulenburg, Das Geheimnis der Organisation, Ein Versuch über Arten und Formen, Bedingungen und Voraussetzungen, Zwecke, Folgen und Grenzen der Organisation, aus dem Nachlaß hrsg. von Georg Jahn, Berlin 1952, die auch eine ausführliche Übersicht über die Literatur enthält. Vgl. auch die gut belegte Übersicht von Florian Znaniecki, Social Organisation and Institutions. in dem Sammelwerk Twentieth Century Sociology, ed. by Georges Gurvitch and W i l b e r t Moore, N e w York (The Philosophical Library) 1945, S. 172—217. Schließlich muß auch Ferdinand Tönnies genannt werden, der, wenn auch nicht ausdrücklich, unter dem berühmten Gegensatzpaar ebenfalls Probleme der Organisation behandelt hat: Gemeinschaft und Gesellschaft, 6. Aufl., Leipzig 1921. s Ich habe hier nur die modernsten und bekanntesten Vertreter einer in dieser Zeit weit verbreiteten Grundstimmung genannt. I h r e Formulierungen gewinnen aber erst die rechte Tiefenresonanz aus dem geistesgeschichtlichen R a u m der in Wirklichkeit schon über hundert Jahre alten kultur- und geschichtsphilosophischen Diagnose des Prozesses zunehmender Technisierung, Demokratisierung und Zentralisierung. Die industrielle E n t wicklung der Vereinigten Staaten von Amerika hat schon Friedrich List beeindruckt und optimistisch gestimmt (vgl. Carl Brinkmann, Friedrich List, Berlin und München 1949, S. 120 f. und 130 ff.). Seitdem Alexis de Tocqueville 1855 sein großes W e r k "De la Démocratie en Amérique" schrieb, und vor allem nach 1848 gewinnt das aus der E r fahrung steigender Industrialisierung und Technisierung sich bildende Zeitbild immer mehr pessimistische Züge. Die entscheidenden geschichtlichen Kategorien von Donoso Cortés, Jakob Burckhardt , Ernst Troeltsch , M a x Weber und der ganzen „ K r i t i k der Zeit" — das ist der Titel von Walter Rathenaus Buch aus dem Jahre 1910 — „gehen sämtlich auf jene Diagnose einer sich zentralisierenden, industrialisierenden und mechanisierenden Menschheit zurück, deren Endzustand der restlos durchorganisierte Betrieb und eine ebenso restlos durchorganisierte Bürokratie sein wird" (Carl Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation, Vier Aufsätze, Köln 1950, S. 91; dort, S. 87 ff., ein imposanter Aufriß dieser Diagnose). 4 Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, 2. Aufl., Leipzig 1925, S. 31.
12
Die Organisation der Interessen
Organisation sei Demokratie nicht denkbar, sie erst gebe der Masse Konsistenz und sei das einzige M i t t e l zur Erzeugimg eines Gesamtwillens. Walther Burckhardt geht noch weit darüber hinaus. Er läßt sein Werk „Die Organisation der Rechtsgemeinschaft" 5 i n der These gipfeln: Keine Rechtsnorm habe Geltung ohne eine hinter ihr stehende Organisation, und überall, wo Organisation sei, da sei auch Recht 6 . Dem liegt ein abstrakter, normativer Organisationsbegriff zugrunde. Er versteht unter Organisation „eine besondere A r t rechtlicher Normen und, i n noch engerer Bedeutung, die durch Menschen gehandhabten derartigen Normen, oder die nach diesen Normen handelnden Menschen, gewissermaßen die Verkörperung dieser Normen", und ihre spezifische Wirkung ist die juristische Persönlichkeit 7 . Interessenorganisationen, wie sie hier gemeint und dargestellt werden, sind eine k o n k r e t e s o z i a l e R e a l i t ä t , ein geschichtsbewegender Faktor sowohl wie ein aktuelles Problem der gegenwärtigen Politik. I h r Begriff w i r d nicht aus normativen, rechtslogischen Überlegungen gewonnen, sondern aus einer e i n f a c h e n , soziologischen und juristischen Befundnahme. Was i h r Erscheinungsbild nahelegt, das w i r d bestätigt durch alle Vorstellungen und Bilder, Analogien und Assoziationen, die hier mit dem Terminus „Organisation" wachgerufen werden: Die Ursprünge der Interessenorganisationen liegen, historisch wie geographisch, an dem Wendepunkt des Übergangs aus dem natürlichen ins technische Milieu. Der Begriff Organisation ist i n dieser Zusammensetzung nicht von biologischen oder sonstigen „organischen" Gedankenbildern bestimmt, sondern empfängt von Anfang an seinen entscheidenden Sinngehalt aus der Vorstellungswelt der Industrie und den Kategorien des von i h r bestimmten wirtschaftlichen Denkens 8 . 5 Untersuchungen über die Eigenart des Privatrechts, des Staatsrechts und des Völkerrechts, Basel 1927. 6 a.a.O., S. 19, 123. 7 a.a.O., S. 123, 327. 8 I n diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich die überragende Bedeutung des Organisationsproblems in der gesamten Wirtschaft, vor allem in der Herstellung von Massenartikeln, bewußt zu machen. Peter F. Drucker hat an dem Beispiel der über alles Erwarten raschen und erfolgreichen Umstellung der amerikanischen Industrie von der Friedens- auf Kriegsproduktion in den Jahren 1942 und 1943 eindrucksvoll dargestellt, daß Organisation die eigentliche Grundlage der modernen Industrie ist: Organisation von Arbeitskraft, mechanischen Vorgängen und Abläufen und an letzter Stelle von Rohmaterial (Concept of the Corporation, New York [John Day], 1946, S. 22 ff. und 213). Durch die Literatur über Organisation und Organisationen zieht sich wie ein roter Faden die Feststellung, daß die unorganisierte Existenz des Ein-
Die Organisation der Interessen D i e erste systematische D a r s t e l l u n g des Organisationswesens, eben a n g e f ü h r t e A r b e i t v o n F r a n z Klein
die
aus d e m J a h r e 1943, ist d a f ü r
e i n überzeugendes B e i s p i e l . N a t ü r l i c h l e i t e t a u c h Klein
bei der aka-
demischen B e h a n d l u n g des O r g a n i s a t i o n s w e s e n s 9 O r g a n i s a t i o n zunächst aus d e m biologisch großen Einfluß
verstandenen
Organbegriff
naturwissenschaftlicher
ab u n d
Konzeptionen
auf
räumt
den
Soziologie
u n d J u r i s p r u d e n z des 19. J a h r h u n d e r t s a u s d r ü c k l i c h e i n 1 0 . U m so e r s t a u n l i c h e r i s t es, w e n n e r i n s e i n e r w e i t s i c h t i g e n S t u d i e d i e M o t i v e f ü r d i e B i l d u n g v o n O r g a n i s a t i o n e n 1 1 i n ausgesprochen m o d e r n e n ö k o nomischen Tatbeständen
findet
und ihre Wirkungen
mit
Hilfe
von
K a t e g o r i e n d e r technischen W i r t s c h a f t b e s c h r e i b t 1 2 . U n t e r d e n B e w e g gründen
figuriert
a n erster Stelle d i e durch Organisierung v o n M e n -
schen u n d M i t t e l n e r h o f f t e K r a f t s t e i g e r u n g :
Interessentörde-
zelnen fast unmöglich geworden ist. Vgl. statt anderer Schnutenhaus, A l l gemeine Organisationslehre, S. 15 f.; Robert S. Lynd in seinem Vorwort zu Robert A. Brady , Business as a System of Power, New York (Columbia University Press) 1947, S. X I ; Pasdermadjian, Le Gouvernement des grandes Organisations, Paris 1947, S. V I I I , wo er auch Herbert Spencer zitiert: „Socially as well as individually, organization is indispensable to growth. Beyond a certain point, there cannot be further growth without further organization." Auch dem Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre von Gustav Schmoller, Neudruck der 2. Aufl., München-Leipzig 1923, namentlich seinen Ausführungen über die „gesellschaftliche Verflechtung der Volkswirtschaft", liegt ein Organisationsbegriff zugrunde, der von der Erfahrungen mit der industriellen Technik geprägt ist (S. 230 ff.). Herbert A. Simon hat in einem beachtlichen Beitrag „Comments on the Theory of Organizations" (American Political Science Review, 46, 1952, S. 1130 ff.) den Bègriff der Organisation m i t Recht so gefaßt, daß er „business firms, governmental administrative agencies, and voluntary associations" einschließt, aber sowohl die „primary groups" (man darf darunter wohl elementare Gruppierungen wie Familie und Clan verstehen) wie die umfassendsten Gebilde (Staaten, Wirtschaftssysteme) ausschließt. Aus dem so von Simon abgegrenzten Feld bearbeitet die vorliegende Untersuchung die p o l i t i s c h e n E i n f l u ß u n d D r u c k ausübenden Organisationen. 9 Das Buch ist aus Vorlesungen über das Organisationswesen entstanden, die i m Wintersemester 1912/13 an der Universität Wien gehalten wurden. 10 Es ist bemerkenswert, daß Otto R. Schnutenhaus in seiner Allgemeinen Organisationslehre, 1951, statt dessen auf das griechische δ'ργαν ον -Werkzeug zurückgreift. I n scharfem Gegensatz zur organischen Auffassung ist die Organisation für ihn eine formale Erscheinung, ein über die Biosphäre geworfener Mantel, der hüllt, verdeckt „und die Glieder der Träger bindet", ein Gebilde, das einen störungsfreien, übersichtsmaximalen Wirkzusammenhang zu sichern bestimmt ist (a.a.O., S. 19 und 20). 11 Gemeint sind, entsprechend dem Titel seines Buches, Organisationen der Gegenwart. Klein hat den Versuch gemacht, den Organisationsbegriff auch auf antike und mittelalterliche Vereinigungen (collegium, societas bzw. Zünfte, Gilden usw.) anzuwenden. Die Eigenart des modernen Organisationswesens und der spezifisch technisch-rationelle Begriffsinhalt lassen diesen Versuch als wenig geglückt erscheinen. 12 Dazu vgl. auch Eulenburg, a.a.O., S. 62 ff.
14
Die Organisation der Interessen
rung „durch die Vereinigung von Einzelkräften zu einer unwiderstehlichen Macht", auch als dynamischer Gesichtspunkt bezeichnet; Beispiele sind die Organisierung geistiger Kräfte und Erkenntnisse (wie i n den wissenschaftlichen Mammutgesellschaften), technischer Erfahrung und Experimente, die Anhäufung von K a p i t a l und Geld, Sammlung politischer Kräfte, von Wählern und Wählergruppen usw. 1 8 . Je enger der Zusammenschluß ist, u m so größer ist die daraus resultierende Macht und die Neigung, sie politisch einzusetzen 14 . Als weitere Motive werden angeführt die A r b e i t s t e i l u n g (als Beispiele nennt Klein u.a. die Gliederung der Industrie i n Verbände der verschiedensten A r t und — er sagt: „ähnlich" — der Sozialdemokratie i n politische Vereine, Konsumvereine, Bildungsvereine, Geselligkeitsvereine, Jugendbünde usw.), ferner die K o n k u r r e n z m ü d i g k e i t (beispielsweise der Industrie — darum Kartellbildung — und der Arbeiter — darum Gründung von Gewerkschaften —); ferner nennt Klein G e w i n n s t r e b e n und W i r t s c h a f t l i c h k e i t als Organisationsmotive und faßt darunter auch das Streben nach Rationalisierung und Einsparung, wie es sich selbst i n der Organisation von Geselligkeits- und Unterhaltungsvereinen und anderen nicht auf Gew i n n abzielenden Vereinigungen zeigt; außerdem ist es das V e r h ä l t n i s z u d e n M a s s e n , d. h. das Verlangen nach Sanktion durch die Menge und die daraus resultierende Notwendigkeit der Propaganda, die Absicht zu popularisieren, denen durch Organisation der eigenen M i t t e l und Möglichkeiten gedient werden soll 1 5 . Die N a c h t e i l e und G e f a h r e n des Organisationswesens, vor allem der modernen Mammutorganisationen, hätte Klein m i t ähnlicher Anschaulichkeit nur darstellen können, wenn i h m die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zur Verfügung gestanden hätten. Der Konflikt 13
a.a.O., S. 87 ff. M. E. Dimock, American Government in Action, 2. Aufl., New York (Rinehart) 1947, S. 314. 16 Vgl. Klein, a.a.O.,, S. 90 bis 102. Zur Beschreibung ihrer W i r k u n g findet er folgende Formulierungen: „Das Eigene an der Organisation, ihr tiefstes Wesen ist die Fähigkeit zu potenzieren. Vermöge ihrer haben die Organisationen die Wirkung, alle Faktoren der Zeit in Quantität, Intensität und Dynamik zu steigern: das Maß der modernen Errungenschaften und ihres Nutzens, die Wertschätzung der Eigeninteressen und den Kampf um sie, die ethischen, geistigen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Spaltungen und mittels dessen zugleich die Bewegungen in allen Zweigen des Lebens wie den Rhythmus der Entwicklung. . . . Dieses Betonen und Beschleunigen gesellschaftlicher Prozesse ist der Beruf der Organisation oder doch ihre Verrichtung... sie ist neutral wie eine Wasser-, Dampf- oder elektrische Kraft" (a.a.O., S. 285 f.). 14
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zwischen weitsichtiger Politik und der Befriedigung von Tagesbedürfnissen ist gewiß alt, aber i n den arbeitsteiligen und schwerüberschaubaren Massenorganisationen unserer Zeit ist er um ein Vielfaches intensiviert. Dazu trägt vor allem das S p e z i a l i s t e n t u m der Funktionäre bei, ohne das die komplizierte Organisationsverwaltung nicht denkbar ist. — Der sich immer noch verstärkende Zug zur Spezialisierung birgt gleichzeitig ein schweres F ü h r u n g s - und N a c h w u c h s p r o b l e m . Der Aufstieg auf der Funktionärsleiter gelingt in der Regel nicht ohne ein außerordentliches Maß erfolgreicher Spezialisierung. Andererseits fordern gerade die leitenden Stellungen Persönlichkeiten m i t einer umfassenden und beherrschenden Kenntnis der gesamten Organisation wie ihrer Bedürfnisse, Interessen und Funktionen in der Gesamtgesellschaft. Die arbeitsteilige Struktur der großen Verbände steht der Ausbildung und der Beförderung solcher Persönlichkeiten aber geradezu i m Wege, und man wundert sich deshalb nicht, wenn Big Business i n USA seine Wirtschaftsführer nicht selten aus dem Small Business h o l t 1 6 und andererseits die Präsidenten der Vereinigten Staaten hohe politische Ämter gern an die Leiter großer Wirtschaftsunternehmen vergeben. Weitere Nachteile, die das tägliche Leben besser illustriert, als es i n dem hier gebotenen Rahmen geschehen könnte, seien noch kurz beim Namen genannt: Organisationen tendieren zu b ü r o k r a t i s c h e r V e r s t e i n e r u n g , zur Isolierung der führenden Elite in einem elfenbeinernen Turm, zur Überschätzung der inneren Disziplin, die in den mittleren und unteren Rängen des Furiktionärkorps leicht jede gesunde Initiative erstickt und an ihre Stelle Routine, Furchtsamkeit und S c h e u v o r V e r a n t w o r t u n g treten läßt. Das ist nicht selten die Folge a u t o k r a t i s c h e n G e b a r e n s an der Spitze, wo eine schmale, exklusive und mitunter oligarchische Gruppe eifersüchtig ihre Positionen ausbaut und verteidigt und die jünigere Funktionärsgeneration daran hindert, beizeiten i n Führung und Verantwortung 16 Peter F. Drucker, Concept of the Corporation, S. 31 und 125 ff. Drucker sieht darin mit Recht einen Notbehelf und schlägt die Einrichtung von besonderen Ausbildungsposten vor, die dem jungen Nachwuchs Gelegenheit zum Erwerb umfassender Erfahrungen und die Möglichkeit frühzeitiger Bewährung in einer leitenden Funktion auf niedriger Betriebsebene geben. Die Aufgabe der Nachwuchsschulung ist für ein Wirtschaftsunternehmen von der gleichen Bedeutung wie für eine A r m e e , nur daß diese in Friedenszeiten sich fast ausschließlich dem militärischen Training widmen kann, wogegen in der Wirtschaft die Auslese der führenden Eliten in der Regel ein Begleiteffekt der Produktion und des Güteraustausches ist (S. 36).
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hineinzuwachsen. Sinnwidrige Anreicherung m i t Funktionen und W u c h e r u n g s t e n d e n z e n können auch unabhängig vom Generationenproblem wirksam sein. Schließlich kann sich der ganze Funktionärsapparat — und zwar einschließlich der untersten Grade, wie oft übersehen w i r d 1 7 — so weit ablösen und verselbständigen, daß nicht nur für den einzelnen Funktionär sein persönlicher Nutzen zur Richtschnur seines Handelns wird, sondern die gesamte A k t i v i t ä t des Apparates sich weniger an dem Wohl der die Organisation tragenden M i t glieder als an dem Funktionärsinteresse als solchem orientiert. Darunter fällt namentlich das S t r e b e n n a c h M a c h t u m der Macht willen und die Degradierung des Menschen auf Kosten der Organisation. Der Hang, sich selbst absolut zu setzen, kann aus einem der Masse dienenden Organ ihren H e r r n und Gebieter machen 18 und, i n seiner äußersten Konsequenz, eine Gefahr für Freiheit und Menschenwürde sein. Das Führungsproblem unserer Großverbände ist so für sie selbst und f ü r die Nation eine Quelle zahlloser Risiken, unter Umständen aber auch unschätzbaren Gewinns. Die Mitgliedermassen und ihre Instinkte bedürfen des Regulativs starker und selbstbeherrschter Persönlichkeiten. Es ist eine alte Erfahrung, daß der Geist großer Organisationen ihre Eliten zu Höchstleistungen befähigen und zu geschichtlicher Größe emporführen kann, die ihre individuelle moralische und intellektuelle Kapazität weit überragen. Das A m t s c h a r i s m a der katholischen Kirche sowie G e i s t und T r a d i t i o n des englischen House of Lords u n d des preußischen Generalstabs sind die berühmtesten Beispiele. Die Berufung auf diese ehrwürdigen Institutitionen braucht uns nicht die engen Zusammenhänge zwischen Industrialisierung und modernem Organisationswesen vergessen zu lassen. Nicht nur ihr innerer Aufbau ist der Struktur großer Industrie- und Handelsunternehmen vergleichbar; auch f ü r ihre Stellung i n der Gesamtgesellschaft 17
Es ist beispielsweise eine Unterschätzung jener Funktionärsstufen, wenn man den i m Frühjahr und Sommer 1952 ausgefochtenen Kampf u m ein gewerkschaftsfreundliches Betriebsverfassungsgesetz ausschließlich auf eine Initiative des Bundesvorstandes der deutschen Gewerkschaften zurückführen will. Radikale Impulse kamen auch „von unten", aus den Einzelgewerkschaften und den Sekretariaten der Landes- und Lokalverbände, wo man durch eine Erweiterung der Funktionärskompetenz die Früchte einer jahrelangen und opferbereiten Organisationsarbeit ernten wollte. 18 Für eine detaillierte Studie oligarchischer Tendenzen in amerikanischen Gewerkschaften, vgl. V. O. Key, Politics, Parties and Pressure Groups, New York (Cromwell Co.) 1950, S. 57 ff., 79 ff.
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ergibt sich eine erstaunliche Parallelität. Um darüber keinen Zweifel zu lassen, hat Franz Klein die Beweggründe und Ursachen des modernen Organisationswesens dahingehend zusammengefaßt, daß es i m wesentlichen aus denselben Gedanken und Anschauungen entstanden sei, die für die moderne Volkswirtschaft charakteristisch sind; diese sei den Organisationen vorausgegangen, die Ausdruck des ökonomischen Prinzips i m heutigen Gesamtleben seien. Das Individuum sucht „aus der prekären Situation", i n die es durch die wirtschaftliche Entwicklung geraten ist, „Rettung, indem es, um der Volkswirtschaft und den durch sie ausgelösten Prozessen gewachsen zu sein, i h r selbst wieder die geistigen Elemente der Verteidigimg entlehnt" 1 9 . Über diese Zusammenhänge erübrigen sich weitere Ausführungen. Denn seit der Niederschrift jener Sätze vor dem ersten Weltkrieg hat die Problematik Mensch — Technik (oder wie immer man sie ausdrücken mag) das öffentliche Bewußtsein bewegt und eine unübersehbare Literatur hervorgerufen. Nur an einige Züge i m Bilde des modernen Menschen sei noch erinnert, die seine D i s p o n i e r t h e i t , seine Befähigung wie seine Anfälligkeit für Organisierungen nachdrücklich unterstreichen. Unsere Zeit eines weltgeschichtlichen Übergangs, der seit dem ersten Weltkrieg i n Europa schon den Massen bewußt war, hat zunächst die überlieferten Gehäuse des Daseins erschüttert und Desintegration eintreten lassen. Die Auflösung gewachsener, gesellschaftlicher, landschaftlicher und weltanschaulicher Ordnungen stellt den Menschen i n seiner Vereinzelung und Vereinsamung i n die ins Riesenhafte gewachsenen Räume, Quantitäten und Dimensionen seiner unmittelbaren Erfahrungswelt 2 0 . Außer dem existenzialistischen Versuch einer Begegnung gibt es die Reaktion der 19
a.a.O., S. 104 f. Alexis de Tocqueville hat die politische Seite dieses Phänomens nach seinem Aufenthalt in USA (1831) prophetisch vorausgeschaut: „On comprend que la centralisation gouvernementale acquiert une force immense quand elle se joint à la centralisation administrative. De cette manière elle habitue les hommes à faire abstraction complète et continuelle de leur volonté; . . . elle les isole et les saisit ensuite un à un dans la masse commune"; De la Démocratie en Amérique, Ed. J. P. Mayer, Bd. 1, Paris (Gallimard) 1951, S. 87 (zuerst veröffentlicht 1835). A n einem eindrucksvollen Erlebnis hat Sava Klickovic die Disponiertheit des modernen Menschen für und seine „Vereinnahmung" durch Organisationen dargestellt (Darmstädter Gespräch 1953 „Individuum und Organisation", Darmstadt 1954, S. 217 ff.). Armin Möhler hat eine andere Seite des heutigen Organisationswesens beleuchtet: einer konservativen Betrachtungsweise stellt es sich großen Teils als eine gigantische „Fluchtapparatur" dar, die darüber hinwegtäuschen soll, daß der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann (a.a.O., S. 200). 20
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Kaiser, Repräsentation
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Gleichgültigkeit i n allen Schattierungen bis zum offenen Zynismus und die erneute Ausschau nach heilen Ordnungen auf der beruflichen, politischen u n d weltanschaulichen Ebene, die nicht selten den Charakter von Autoritäten annehmen. Was von ihnen erwartet wird, ist die D a s e i n s s i c h e r u n g i n den genannten Lebensibereichen. Politisch kann sich die Gleichgültigkeit i n der Indifferenz und Apathie gegenüber dem großräumigen, i n seiner Ausdehnung und Kompliziertheit kaum mehr intelligiblen Big Government ebenso äußern wie i n der Mißachtung und Verkümmerung des politischen Interesses überhaupt, da ja alles Politische i m Schlagschatten großräumiger Vorgänge steht. Darin lag und liegt teilweise immer noch eine Chance des regionalen Föderalismus. Aber er hat durch die unwiderstehliche K r a f t politischer und administrativer Konzentration erheblich an Boden verloren 2 1 , und andere, dem individuellen Schicksal konkret-nahe Ordnungen, die das Bedürfnis nach Geborgenheit und. Sicherheit zu erfüllen imstande sind, gewinnen an Anziehungskraft und notwendig i m politischen Raum an Gewicht, mögen sie primär auch i m Bereich des Berufes, der Religion, der Erholung und Zerstreuung oder anderswo beheimatet sein. Denn i m politischen Raum gibt es k e i n Vakuum. Die Entleerung des Verhältnisses des einzelnen zur staatlichen Autorität, die sich damit auftuende K l u f t zwischen Staatsgewalt und Bevölkerung rufen notwendig eine Mehrzahl anderer, intermediärer Gewalten auf den Plan. Das sind heute die sich auf individuelle oder Gruppeninteressen stützenden Verbandsgewalten, die dementsprechend prädestiniert sind, zu politischen Gewalten zu werden. Das führt die Möglichkeit eines G r u p p e n - oder I n t e r e s s e n f ö d e r a l i s m u s herauf. Alexis de Tocqueville hat auf den unaufhebbaren Zusammenhang von Organisationen dieser A r t m i t dem demokratischen Grundrecht der politischen Gleichheit hingewiesen 22 . Die feudale aristokratisch-ständisch geprägte Gesellschaft ordnete das menschliche Zusammenleben und Zusammenwirken gemäß den i h r immanenten Gliederungsprinzipien. Jeder Potentat war das Haupt eines i n sich wiederum gegliederten permanenten Verbandes und verkörperte eine intermediäre Gewalt, die den einzelnen i n die territorialen, religiösen und beruflichen Gemeinwesen zwang. Aus der Französischen Revolution ging 11
vgl. die ausgezeichnet informierte und materialreiche Ubersicht von Otto Kirchheimer, The Decline of Intra-State Federalism in Western Europe, Wdrld Politics 3, 1951, S. 281 ff. M a.a.O., Bd. I I , S. 114 ff.
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der politisch freie, gleiche, aber individuell machtlose Staatsbürger hervor. Er ist zu großen Unternehmungen nur i m Verein m i t seinesgleichen imstande. Tocqueville sieht die Zivilisation i n Gefahr, wenn die Bürger einer Demokratie nicht die Kunst des freien Zusammenschlusses erlernen — „cette science nouvelle, science m è r e " 2 3 —, und eine seiner erstaunlichsten Prognosen kleidet sich \n die Alternative: Entweder entwickelt sich das. Organisationswesen der Staatsbürger i n dem Maße, i n dem ihre effektive Gleichheit zunimmt, oder die Staatsverwaltung füllt das verbliebene (intermediäre) Vakuum aus; dann laufen „Moral und Intelligenz eines demokratischen Volkes keine geringere Gefahr als sein Handel und seine Industrie" 2 4 . Organisation, ein M i t t e l zur Beherrschung des m i l i e u technique, ist damit als Interessenorganisation der politisch und auch ökonomisch zunehmend gleichen Staatsbürger i n die i h r zukommende politische Perspektive gestellt. Damit ist die Plattform gewonnen, auf der sich die folgenden Ausführungen bewegen werden. Nach dem Gesagten und angesichts sich täglich aufdrängender Erfahrungen bedarf es keiner Nachweise für den aktuellen Nutzen und die Notwendigkeit des Organisierens auch auf der politischen Ebene. Von dem Machtzuwachs durch Organisation haben seit der Französischen Revolution alle großen Theoretiker und Praktiker sozialer Bewegungen gewußt. „Organisation ist das Geheimnis der Macht." Nach diesem Grundsatz haben sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts i n allen industrialisierten Ländern Interessenten organisiert, u m das Gewicht ihrer Interessen auf der politischen Ebene, d. h. namentlich durch Einflußnahme auf Gesetzgebung, Verwaltung und die Bildung der öffentlichen Meinung, zum Tragen zu bringen. Als besonders stimulierend für die Organisation der einen Gruppe, ζ. B. der Industrie, w i r k t e dabei häufig der Umstand, daß das entgegenstehende Interesse, ζ. B. das der Arbeitnehmer, bereits organisiert war, oder auch, daß ein Gruppeninteresse sich durch das i n Parlament und Regierung formulierte „Allgemeininteresse" zu sehr benachteiligt fühlte. I n der Regel ist es das i m politischen und wirtschaftlichen A b lauf sich als schwächer erweisende Interesse, wie beispielsweise das der Arbeiter, das am frühesten seine Zuflucht i n der Organisation sucht. Darum t r i f f t es ins Schwarze, wenn John Kirby jr. i m Jahre 23 24
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a.a.O., S. 114, 124. a.a.O., S. 115.
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1911 als P r ä s i d e n t d e r m ä c h t i g e n , 1895 g e g r ü n d e t e n N a t i o n a l A s s o c i a t i o n of M a n u f a c t u r e r s
formulierte:
amerikanischen „Little
can
be
a c c o m p l i s h e d except t h r o u g h o r g a n i z a t i o n " u n d „ w e are l i v i n g i n a n age of o r g a n i z a t i o n , . . . w h e n o r g a n i z a t i o n m o s t cope w i t h
organi-
z a t i o n " 2 5 . So w o l l e n a u c h d i e A u s f ü h r u n g e n v o n C a r l o Schmid
ver-
s t a n d e n w e r d e n , d e r noch v i e l k a t e g o r i s c h e r i n d e n G e w e r k s c h a f t l i c h e n M o n a t s h e f t e n e r k l ä r t : „ N u r u n t e r O r g a n i s i e r t e n i s t es m ö g l i c h , V e r t r ä g e z u schließen. N u r s o w e i t o r g a n i s i e r t e W i l l e n s b i l d u n g m ö g l i c h ist, ist m a n v e r t r a g s w ü r d i g u n d b ü n d n i s f ä h i g " 2 6 . D i e Soziologie h a t seit l a n g e m v i e l M ü h e u n d S c h a r f s i n n d a r a u f v e r w a n d t , aus d e r z a h l e n m ä ß i g e n Größe d e r p o l i t i s c h e n V e r b ä n d e , i h r e r inneren Struktur, dem Intensitätsgrad ihrer Organisation u n d Kohäsion u n d a n d e r e n M e r k m a l e n F o l g e r u n g e n f ü r die B e w e r t u n g i h r e r w i d e r s t r e i t e n d e n I n t e r e s s e n i m s o z i a l e n G a n z e n z u z i e h e n u n d h a t sich a n d e n v e r s c h i e d e n a r t i g s t e n K l a s s i f i k a t i o n e n v e r s u c h t 2 7 . I h r e heuristische 25 Proceedings of the Sixteenth Annual Convention of the National Association of Manufacturers of the United States of America, New York, May 15, 16 and 17, 1911, p. 66. — Beispielhaft ist, was die Satzung über Ziel und Zweck dieser Organisation aussagt: „The general objectives and purposes for which the said corporation is formed are the promotion of the i n d u s t r i a l i n t e r e s t s of the United States, the betterment of the relations b e t w e e n e m p l o y e r a n d e m p l o y e e , the e d u c a t i o n o f t h e p u b l i c in the principles of individual liberty and the ownership of property, the s u p p o r t o f l e g i s l a t i o n in furtherance of those principles and o p p o s i t i o n t o l e g i s l a t i o n in derogation thereof." Mitgeteilt von Alpheus T. Mason, Business organized as Power: The New Imperium in Imperio, The American Political Science Review, X L I V , 1950, S. 328; (Sperrungen nicht im Original). 2β Gewerkschaftliche Monatshefte, 1951, S. 119. Carlo Schmid stellt dann die Frage, „ob es einer Gesellschaft, die wesentlich durch die Tatsache der Vermassung bestimmt ist, überhaupt möglich ist, O r d n u n g , d. h. k o n t r o l l i e r t e V e r h ä l t n i s s e zu schaffen, ohne d i e M a s s e i n i h r e verschiedenen Interessengruppen aufzuspalten und d i e s e G r u p p e n z u o r g a n i s i e r e n " . Dem ging die Paraphrase voraus: „ich stelle die Frage, ich gebe keine Antwort, ich kann sie nicht geben." Er fährt dann fort: „Es fragt sich, ob es nicht gerade zur T e c h n i k d e r D e m o k r a t i e i m Massenzeitalter, in dem w i r leider leben müssen, gehört, daß man solche Organisationen schaffen muß, wie es die Massenparteien, Massengewerkschaften, Massenarbeitgeberverbände sind. Ich persönlich bin der Meinung, daß nur auf diese Weise die Möglichkeit besteht, im Rahmen sozialer Autonomie eine kontrollierbare Ordnung — das Wort im weitesten Sinne verstanden — zu schaffen" (S. 120f.; Hervorhebung nicht im Original). 27 vgl. die Übersicht Social Organization and Institutions von Florian Znaniecki, a.a.O., S. 172—217; Franz Eulenburg, Das Geheimnis der Organisation, S. 23 ff.; Leopold von Wiese, Gesellschaftliche Stände und Klassen, München 1950; Julius Stone, The Province and Function of Law, A Study in Jurisprudence, Cambridge Mass. (Harvard University Press) 1950, S. 357 ff., 364 f., unter Bezugnahme auf Roscoe Pound, Rudolf Stammler, Josef Kohler und William James.
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Funktion leidet oft unter zu großer Abstraktheit 2 8 und i h r Nutzen w i r d leicht überschätzt. I n diesem Zusammenhang muß dazu nur bemerkt werden, daß die Höhe der M i t g l i e d e r z a h l noch nicht immer und überall ein erstrangiges K r i t e r i u m für die politische Relevanz einer Interessengruppe ist, obgleich i m Verlauf der fortschreitenden Demokratisierung die Zahl der Köpfe bzw. der Stimmberechtigten an Bedeutung gewinnt und das unzerstörbare Hegeische Prinzip von dem Umschlag, dem Sprung der Quantität i n die Qualität 2 9 vervielfacht i n Erscheinung tritt. Aber immer noch stehen auf der politischen Bühne den Millionenmassen der Gewerkschaften die an Zahl naturgemäß sehr viel kleineren Industrie- und Arbeitgeberverbände gegenüber, ganz zu schweigen von den ebenfalls politische Macht ausübenden Bürgervereinen, Reformgruppen u. dgl., deren Mitgliederzahl zuweilen n u r ein paar Dutzend umfaßt 3 0 und mitunter i m umgekehrten Verhältnis zu ihrem politischen Einfluß steht. Außer i n den Anfangsstadien einer Organisation ist das vor allem dann der Fall, wenn sich in ihnen ein Interesse manifestiert, das schwer zu organisieren ist, wie das der Verbraucher und der Frauen, oder wenn sich zwischen den Büroinstanzen der Parteien, Gewerkschaften und der anderen Verbände auf der einen und bestimmten Bevölkerungsschichten auf der anderen Seite eine K l u f t grundsätzlicher Meinungsverschiedenheit aufgetan hat und eine i m Lande schlummernde Opposition sich aus einem bestimmten Anlaß außerhalb der bestehenden Organisationen explosivartig den Weg i n die Öffentlichkeit bahnt. Z u einer kleinen Zahl von Organisations28 z. B. Albion W. SmalV s Einteilung der Interessen unter folgende sechs Kategorien: „health, wealth, sociability, knowledge, beauty, Tightness" (zitiert von Florian Znaniecki , a.a.O., S. 190). 20 Wissenschaft der Logik, I. Teil, Objektive Logik, Bd. I V der Sämtlichen Werke (Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden), Stuttgart 1936, S. 457—462. „ . . . es tritt ein Punkt dieser Änderung des Quantitativen ein, auf welchem die Qualität geändert wird, das Quantum sich als spezifizierend erweist, so daß das geänderte quantitative Verhältnis in ein Maß und damit in eine Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen ist" (a.a.O., S. 457). 30 Übereinstimmend Dayton David McKean, Party and Pressure Politics, Boston, New York (Houghton Mifflin Co.) 1949, S. 580. „A given pressure group may consist of only two or three individuals who have formed an association and started to get out publicity. Or it may be an organization with several millions of dues-paying members and a budget of millions of dollars a year" (a.a.O., S. 433). David B. Truman nennt die American Bar Association und die American Civil Liberties Union als Beispiel für Organisationen, die eine relativ geringe Mitgliederzahl, aber Einfluß auf einen großen Personenkreis haben, der ihre Auffassungen und Ziele teilt (The Governmental Process, Political Interests and Public Opinion, New York [Knopf] 1951, S. 158.)
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mitgliedern mag sich dann die tausend- oder zehntausendfache Anzahl von Sympathisierenden gesellen, ein Anhang oder eine Gefolgschaft, die die Kundgebungen jener kleinen Gruppe besucht und ihnen applaudiert, ihre Publikationen kauft und ihr i n anderen Organisationen, i n Parteien, Gewerkschaften, Jugendverbänden, Kirchen usw., eine kräftige Resonanz schafft. Die von der Bundestagsabgeordneten Helene Wessel und dem ehemaligen Bundesinnenminister Gustav Heinemann geleitete, gegen die deutsche Wiederbewaffnung gerichtete „Notgemeinschaft für Frieden und Freiheit Europas" mag hier als Beispiel dienen: sie umfaßte nur zehn Mitglieder 3 1 . Dieser Variationsbreite i n der Mitgliederzahl entsprechen die V i e l z a h l d e r o r g a n i s i e r t e n I n t e r e s s e n und die W e i t e d e s T ä t i g k e i t s f e l d e s , auf dem sie wirken. Einige Beispiele wurden schon genannt: da sind die gern als Sozialpartner bezeichneten, i n ihren Verbänden organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, da gibt es die zahlreichen Berufsorganisationen, daneben die Verbände der Soldaten, der Heimatvertriebenen, der Kriegs- und Währungsgeschädigten, außerdem Bürgervereine, wie den Bund der Steuerzahler, Wählergesellschaften (die ein bestimmtes, etwa das Mehrheitswahlrecht durchsetzen wollen) und Föderalistenverbände, schließlich die auf religiöser oder weltanschaulicher Grundlage gebildeten Organisationen, wie die Katholische A k t i o n und der Evangelische Bund, und die in erster L i n i e der Fürsorge und Wohlfahrtspflege dienenden Verbände des Evangelischen Hilfswerks und der Caritas. Diese Reihe ließe sich leicht u m ein Vielfaches vermehren 3 2 . E i n Katalog der Inter31 Gemäß einer Erklärung, die Heinemann am 1. 2. 1952 in Stuttgart abgegeben hat; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 2. 1952. Aus der Notgemeinschaft ist am 29. 11. 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei hervorgegangen. 32 Warren Moscow sagt anschaulich: „There are as many kinds of lobbying and as many assortments of pressure groups as there are ways of doing business and conducting the social and economic life of the community"; Politics in the Empire State, New York (Knopf) 1948, S. 204. C. J. Judkins zufolge schätzt das Department of Commerce der Vereinigten Staaten die Zahl der gewerblichen Organisationen (trade associations) auf etwa 8000, die der landwirtschaftlichen Organisationen auf etwa 30 500 und die der Frauenverbände auf mehr als 50 000 (Trade and Professional Associations of the United States, United States Department of Commerce, Industrial Series No. 3, 1942, zìt. bei Dayton David McKean , Party and Pressure Politics, New York (Houghton Mifflin Co.) 1949, S. 430.) McKean fügt dem hinzu, daß es insgesamt wahrscheinlich mehr als 100 000 Organisationen in den Vereinigten Staaten gebe, von denen sich eine Anzahl über das ganze Gebiet der USA erstrecke, andere nur innerhalb eines Staates bestünden und andere nur lokale Bedeutung hätten. „Der Grad ihrer politischen A k t i v i t ä t . . . variiert natürlich -ungeheuerlich; aber fast alle, ob
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essengruppen, die, über den Erdball verstreut, organisiert sind oder u. U. werden können, würde eine verwirrende Fülle höchst unterschiedlicher Gebilde enthalten, und eine noch heute vollständige Liste wäre angesichts der rapiden Entwicklung schon binnen kürzester Frist überholt. — So haben w i r einen überaus eindrucksvollen Komplex der verschiedenartigsten Spielarten vor uns, für den wir, gestützt auf einen eindeutigen soziologischen und politischen Befund und ausf einen hergebrachten Sprachgebrauch von internationaler Geltung den Sammelbegriff „organisierte Interessen" verwenden 3 3 . Für die politische Holle der Interessenorganisationen und ihre staatsrechtliche Qualität hat es nur eine untergeordnete Bedeutung, welcher A r t ihre i n n e r e R e c h t s f o r m ist. Da es sich i n der Regel um spontane gesellschaftliche Gebilde handelt, die ohne staatliche Initiative und ohne hoheitliche Funktionen geschaffen sind, gehören sie, zumindest irti Anfangsstadium ihrer Entwicklung, ihrer juristischen Konstitution nach dem Privatrecht an; i n Frage kommt namentlich der bürgerlich rechtliche Verein. Nach Nipperdey war schon z. Zt. der Weimarer Republik die normale Rechtsform des Arbeitgeberverbandes der rechtsfähige Verein, während fast alle Gewerkschaften nichtrechtsfähige Vereine bildeten 3 4 . Den Grund dafür sieht Nipperdey in sie es wissen oder nicht, sind wenigstens potentiell eine politische Kraft" (a.a.O.). Einen eindrucksvollen Überblick über die Vielzahl organisierter Interessen vermittelt auch das Yearbook of International Organizations, New York (Hafner) 1949. Vgl. auch das vom Public Administration Clearing House in Chicago herausgegebene Verzeichnis Public Administration Organizations, A Directory of unofficial Organizations in the Field of Public Administration in the United States and Canada (6. Auflage), Chicago 1948, das allein 565 Dachorganisationen der genannten Art aufführt und beschreibt. Für weitere das amerikanische Organisationswesen betreffende Literatur siehe das a.a.O., S. 216, verzeichnete Schrifttum. W i r werden uns im folgenden möglichster E n t h a l t s a m k e i t im A u f z ä h l e n bemühen, ergäbe sich doch sonst, wie Siegfried St*akosch formulierte (Das Agrarproblem i m neuen Europa, Berlin 1930, S. 214) „ein Register, endloser als das, welches Leporello über die Liebesabenteuer Don Juans führte, und weniger interessant überdies". 38 Es würde von dem Gegenstand dieser Studie ablenken, wollten wir hier das umfängliche Material ausbreiten. Es sei nur ausdrücklich hervorgehoben, daß der Begriff des Interesses auch immaterielle wie ethische, religiöse und k i r c h l i c h e I n t e r e s s e n umfaßt, die bzw. deren Organisationsformen stets mitgemeint sind, wenn i m folgenden von Interessen und organisierten Interessen die Rede ist. Dieser Sprachgebraudi ist im Ausland unbestritten; aber audi für den deutschen Sprachbereich lassen sich keine durchschlagenden Bedenken dagegen anführen (Einzelheiten s. unten, I V , 3, Anm. 4). 34 Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, herausgegeben von Hans Carl Nip -
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dem Bemühen der Gewerkschaften, einer Erstarrung der Organisationsform vorzubeugen, namentlich aber i n der Abneigung gegen eine gesteigerte Haftung für das Verhalten der Vorstandsmitglieder und satzungsmäßigen Vertreter 3 5 , was Gaetano Mosca auch für die italienischen Gewerkschaften bezeugt 36 . Die deutschen Gewerkschaften existieren auch heute noch unter der Form des nicht-rechtsfähigen Vereins 3 7 . Daß eine Reihe anderer Interessengruppen nicht oder nicht nur privatrechtlich, sondern öffentlich-rechtlich i n der Form des Kammersystems organisiert ist (Industrie- und Handelskammer, Ärztekammer, Handwerkskammer usw.), sei hier wenigstens vermerkt. I m ganzen t r i t t aber die Frage ihrer juristischen Person ebenso wie das Faktum ihrer inneren, demokratischen, oligarchischen oder sonstigen Ordnung zurück vor ihrer Bedeutung als M i t t e l der politischen Aktion; und der Gesetzgeber muß das Recht der Koalitionen auf unabhängige Entwicklung und auf freie Entscheidimg über ihre Organisationsform respektieren, solange sie i m nicht-staatlichen Bereich der Gesellschaft verharren 3 8 . Hier bleibt n u n nur noch die Aufgabe, zusammenfassend die Grenzpfähle aufzuweisen, soweit sie i n dem durch wissenschaftliche Arbeiten perdey, Bd. I I I , Berlin 1930, S. 390 (zu Art. 159); Ernst Rudolf Huber, W i r t schaftsverwaltungsrecht, Institutionen des öffentlichen Arbeits- und Unternehmensrechts, Tübingen 1932, S. 32 ff. und 2. Aufl., I I , 1954, S. 379 f.; Walter Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Aufl., Berlin 1928, S. 280 f.; Arthur Nikisch, Arbeitsrecht, Tübingen 1951, S. 41, 44 f. und 293. Nikisch glaubt, daß es nur eine Frage der Zeit sein werde „daß ihnen die Rechtsform gegeben wird, die ihrer tatsächlichen Stellung i m öffentlichen Leben entspricht"; in der Sowjetzone könne heute schon a m öffentlich-rechtlichen Charakter der Gewerkschaften nicht gezweifelt werden (S. 44). I m Sinne der hergebrachten Reserve gegenüber der Rechtsfähigkeit dagegen noch Selçuk Yalçin , Les relations entre l'Etat et les organisations professionnelles en Belgique, Genfer Wirtschaftswissenschaft!. Diss., Montreux (Ganguin et Laubscher) 1953, S. 29 ff. 55 a.a.O., mit ausführlicher Angabe des Schrifttums und des Standes der Rechtsprechung. 36 I n der Relazione al Consiglio Nazionale Liberale, nel 1925, veröffentlicht in Partiti e Sindacati nella Crisi del Regime Parlamentare, Bari (Laterza & Figli) 1949, S. 319. 37 Ulrich Brisch, Die Rechtsstellung der deutschen Gewerkschaften, Göttingen 1951, S. 31 ff. 38 Nach Jacques Donnedieu de Vabres: „La personnalité morale est, tout ensemble, un mythe de solidarité sociale et une technique d'action collective." „ . . . la réalité justifie la fiction et la fiction fortifie la réalité (L'organisation de l'Etat, Les Libertés Publiques, Paris [Les Cours de droit] 1948—1949, Bd. I, S. 109). Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 11. 1954 (NJW V I I , 1954, S. 1882) darf der Gesetzgeber bei Normierung der Tariffähigkeit das Entscheidungsrecht der Koalitionen über ihre Organisationsform „nicht sachwidrig" hemmen oder i m Kern antasten.
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nur wenig aufgehellten Nebel einer spontanen und i n den verschiedenen Sparten des öffentlichen Lebens wie auch regional höchst ungleichartigen und keineswegs abgeschlossenen Entwicklung bislang sichtbar geworden sind. I n den Kreis dieser Untersuchung fällt grundsätzlich die G e s a m t h e i t aller n i c h t - s t a a t l i c h e n , sozialen Interessengebilde, innerhalb deren sich die moderne Gesellschaft integriert und sich zu Regierung und Parlament und den untergeordneten, politische Gewalt oder Administration ausübenden Institutionen zum Zwecke ihrer Beeinflussung i n Beziehung setzt; Organisationen also, i n denen sich ein bestimmtes Interesse, Gruppeninteresse an der staatlichen Willensbildung und Verwaltung bekundet, das, u m es zu wiederholen, keineswegs immer finanzieller, wirtschaftlicher oder· egoistischer A r t sein muß, sondern auch durchaus altruistischen Zielsetzungen, gemeinsam erlebtem Schicksal, gleicher Welt- und Lebensanschauung, übereinstimmender manière de voir und vor allem aus religiösen Bindungen entsprungen sein kann. Es muß sich freilich u m Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens handeln, die als Z e n t r e n e i n e s o r i g i nären, politisch in Erscheinung tretenden Intere s s e s i n der Lage und bestrebt sind, auf die Organe des Staates oder der kommunalen und sonstigen Selbstverwaltung i m Sinne ihrer Zielsetzung Einfluß zu nehmen. Glaube und Gebet, Wissenschaft als Inbegriff von Methoden und Erkenntnissen, Handel als die auf Profit abzielende Tätigkeit des Güteraustausches kommen hier als solche nicht i n Betracht. Wenn sie dagegen i n Gestalt religiöser Institutionen, wissenschaftlicher Anstalten, Industrie- und Handelskammern usw. auftreten, also organisiert sind — was bei der zunehmenden Organisierung unseres Lebens die Regel ist —, u n d außerdem i m vorgenannten Maße politisch „interessiert" sind, fallen sie in den Bereich der vorliegenden Untersuchung. U m indessen die hier versuchte Darstellung der eigenartigen politischen und juristischen Relevanz dieser spezifischen Einrichtungen der modernen Gesellschaft nicht zu trüben, müssen aus dem Gesichtskreis dieser Studie grundsätzlich alle Organisationen ausscheiden, die i n ihren Ursprüngen vielleicht nicht-staatlichen oder anti-staatlichen Charakter hatten, inzwischen aber i m wesentlichen oder gar ausschließlich zu Trägern staatlicher Funktionen geworden sind. Die regierungsbeherrschten Berufsorganisationen totalitärer Staaten liegen deshalb grundsätzlich außerhalb des hier vorgezeichneten Rahmens. Das gilt
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Die Organisation der Interessen
i n der Hegel ebenfalls f ü r die i n den Parlamenten demokratischer Staaten vertretenen politischen P a r t e i e n ,
w e i l sie i n so hohem
Maße zu Einrichtungen jener Staatsapparaturen geworden sind, daß sie unter dem hier gewählten Gesichtswinkel nicht mehr als spezifisch nicht-staatliche Organisationsforimen der Gesellschaft angesehen werden können. Das ist die heute i n fast allen demokratischen Staaten vorherrschende Situation, u n d Verfassungsgesetzgeber u n d Staatslehre haben aus i h r einige wesentliche Folgerungen gezogen. A r t . 21 des Bonner Grundgesetzes hat sie i n dem Abschnitt „ D e r B u n d u n d die Länder" i n das geschriebene Verfassungsrecht
einbezogen, i h r
Mit-
w i r k e n bei der politischen Willensbildung legalisiert, ihre innere Ordnung normiert (sie müssen „demokratischen Grundsätzen entsprechen") u n d öffentliche Rechenschaft über die H e r k u n f t ihrer M i t t e l verlangt. Das ist ein einschneidender Vorgang 3 9 , u n d Ernst Forsthoff
weist m i t
Recht darauf hin, daß bis d a h i n die Übertragung des A d j e k t i v s „demokratisch" i n der Gesetzessprache n u r auf staatliche Organisationen üblich w a r 4 0 / 4 1 . — Der Fluß der verfassungsrechtlichen Entwicklung i n unserer Zeit erschwert indessen eine feste Abgrenzung, und der V o l l ständigkeit halber werden die v o n der Gesellschaft entwickelten höchsten Formen ihrer politischen Integration, die politischen Parteien, und die A r t u n d Weise staatlicher Willensbildung i n Legislative u n d Exek u t i v e nicht ganz außer Betracht bleiben dürfen. Schwieriger ist es, die
entgegengesetzte
Begrenzung
jenes
intermediären
reiches, die Unterscheidung von den nur-gesellschaftlichen,
Be-
nur-wirt-
schaftlichen u n d n u r - k u l t u r e l l e n Vereinigungen, die jenes bestimmten politischen Bezuges entbehren, zu finden. D i e Verbände der Kaninchenu n d Brieftaubenzüchter,
der Briefmarkensammler,
die Vereine
zur
Pflege des Gesellschaftstanzes, auch die Standesorganisation südafrika39 vgl. Ernst Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnung der Parteien, in Deutsche Rechtszeitschrift, V, 1950, S. 313, abgedruckt in der Sammlung Die politischen Parteien im Verfassungsrecht, Tübingen 1950, S. 6; ferner Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz. Hamburger Universitätsreden Nr. 9, Hamburg 1950, S. 21 ff.; Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Hamburg 1951, S. 55. A A dagegen Gerhard Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie (Deutsches Verwaltungsblatt, 1951, S. 1 ff.), nach dessen Auffassung die politischen Parteien nicht in der staatlichen Herrschaftssphäre, sondern auf der Seite des Volkes stehen. 40 a.a.O., S. 316 bzw. S. 16. Vgl dazu auch Wierner Weber, a.a.O., S. 22 f. 41 Das Verhältnis der Interessengruppen zu den politischen Parteien und ihre Abgrenzung wird ausführlicher unten in Kap. I I I , 3 gewürdigt; dort auch weitere Schrifttumsnachweise,
Die Organisation der Interessen
nischer Medizinmänner 4 2 u n d schließlich die Organisationen des Sports sind grundsätzlich keine Interessengruppen, die unter den politischen Aspekt dieser Arbeit fallen. Politische Betätigung liegt ihnen naturgemäß fern und widerspricht nach der hergebrachten Auffassung auch dem Gedanken des Sports. Trotzdem zeigt sich gerade hier die beunruhigende Problematik solcher Grenzziehungen. Millionen Staatsbürger sind i n den Organisationen des Sports zusammengeschlossen und bewirken nach dem schon angezogenen Hegeischen Prinzip den Umschlag der Quantität i n eine neue Qualität, so daß nicht ganz m i t Unrecht von einer Großmacht des Sports i m Staat gesprochen w i r d (ähnlich w i e man sich seit den Massenauflagen der Tageszeitungen daran gewöhnt hat, von der Großmacht der Presse zu sprechen) 48 . — Es gibt einen Berufsverband der Köche, der eigene Fachschulen unterhält, eine A r t Hochschule für Köche plant und der sogar seine eigene Internationale, den Weltverband der Köche, hat. Obwohl Berufsverbände i n der Regel typische Beispiele für politisch einflußreiche Interessenverbände abgeben, w i r d man die Organisation der Köche kaum zu dieser Kategorie zählen können. Sie ist weder Gewerkschaft noch einer Gewerkschaft angeschlossen. Ihre Mitglieder können gleichzeitig i n einer Gewerkschaft und je nach ihren Interessen i n anderen Verbänden organisiert sein, aber jener Köcheverband beweist gerade durch das hohe Maß der Spezialisierung, daß er ohne das Bewußtsein originärer politischer Belange sein Interesse auf die berufliche Weiterbildung seiner Mitglieder konzentriert und n u r der Kunst des Kochens dienen w i l l 4 4 . — M a n sieht, hier ist alles offen, und zahlreiche, oft nur 42 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17. 7. 1952 berichtet aus Pretoria von dem Zusamsmenschluß von tausend Medizinmännern, die die Ausübung ihres Gewerbes durch unwürdige Elemente verhüten wollen; sie gedenken den Nachwuchs einem Examen zu unterwerfen, in dem die Prüflinge ihre Zauberfähigkeit und ihre medizinischen Kenntnisse unter Beweis zu stellen haben. 43 vgl. dazu die Meinung eines Chefs der Inneren Verwaltung, des Bundesinnenministers Robert Lehr, in einem Artikel „Der Bund als Mittler im Sport", Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 16 v. 7. 2. 1952, S. 148, 150, in dem er mahnt, der Sport solle unpolitisch sein; wenn sich Sportler politisch betätigen wollten, stünden ihnen wie jedem anderen die gleichen Wege offen (gemeint sind wohl vor allem die politischen Parteien). „Zudem muß innerhalb der demokratischen Freiheit Ordnung herrschen. Keine Organisation, so groß sie auch an Mitgliederzahl sein mag, kann sich neben die Organe setzen, die verfassungsmäßig den staatlichen Willen bilden." 44 Es heißt ausdrücklich in § 2 Abs. 2 der Satzung des Verbandes dejr Köche e. V. (Sitz Frankfurt): „Die Vereinigung wird sich nur mit fachlichen und kulturellen Aufgaben, nicht aber mit rein wirtschaftlichen Arbeiten und nicht mit arbeits- bzw. lohnrechtlichen Fragen befassen."
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Die Organisation der Interessen
kurzlebige Zwischenformen tun ein übriges, den Versuch einer Grenzziehung zwischen Organisationen m i t distinkten politischen Interessen und solchen ohne jeden politischen Bezug zu vereiteln. Die Frage der politischen Relevanz solcher Organisationen kann indessen nicht für alle demokratischen Staaten i n dem gleichen Sinne entschieden werden. Das jeweilige politische Regime und mehr noch das i n schicksalhaften Tiefen des Volkslebens verwurzelte und von langen geschichtlichen Zeiträumen bestimmte Verhältnis von Gesellschaft und Staat geben hier weitgehend den Ausschlag. Die starke Institutionalisierung und Formalisierung der Staatsgewalt auf dem europäischen Kontinent Schloß die Existenz sog. herrschender Klassen nicht aus, wie das Beispiel der Großagrarier und der Schwerindustrie i m Bismarckschen Reich zeigt, hat aber lange Zeit die Entwicklung eines der Gesellschaftsstruktur entsprechenden breiten Komplexes von Interessengruppen zu Faktoren der politischen Willensbildung außerordentlich erschwert. Das Gegenteil g i l t für England und die Vereinigten Staaten von Amerika. Seemächte entwickeln i m Innern wie i n ihren auswärtigen Beziehungen nicht die Unmittelbarkeit und absolute Präsenz staatlicher Herrschaft, wie sie dem europäischen Kontinent eigen ist 4 5 . Gesellschaft und Staat stehen dort nicht, w i e durch eine K l u f t voneinander getrennt, i n einem polaren Verhältnis, sondern i n intimster Wechselbeziehung. Das gibt dem Staatsgefüge ein hohes Maß von Elastizität und F l e x i b i l i t ä t 4 6 und ermutigt «die Interessengruppen der Gesellschaft i n ihrer ganzen Breite zu einem erstaunlichen Maß politischer A k t i v i t ä t . Sie variieren natürlich i n ihrer politischen Bedeutung unendlich, „aber fast alle, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht, sind wenigstens potentiell eine politische K r a f t " 4 7 . Das w i r d man nicht i m gleichen Umfang von den übrigen Demo45 Die „indirect rule" ist in Darstellungen des Britischen Empire eine unverzichtbare Kategorie. 40 Es ist heute durch den Umfang der Regierungsapparatur jedoch wesentlich beeinträchtigt; der Aufgabenbereich der amerikanischen Bundesregierung ist seit der Depression 1929, Roosevelt's New Deal, dem Krieg, den neuen Bedürfnissen für die Verteidigung und den auswärtigen Verpflichtungen um vieles größer geworden, so daß zwischen 1929 und 1949 die Zahl ihrer Zivilbeschäftigten von 570 000 auf über 2 Millionen gestiegen ist und sie nun das größte „Unternehmen" der Welt darstellt. U b e r die damit verbundenen Nachteile und Erfordernisse vgl. die 19 Berichte der 1947 durch den Kongreß eingesetzten, von Ex-Präsident Herbert Hoover präsidierten Commission on Organization of the Executive Branch of the Government, namentlich den „Concluding Report", Washington (US Government Printing Office) 1949; ebendort, S. 4, die zitierten und weitere Zahlenangaben. 47 McKean, a.a.O., S. 430.
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kratien behaupten dürfen, die unter sich wiederum höchst unterschiedlich strukturiert sind. Nichtsdestoweniger deuten zahlreiche Symptome, wie zu zeigen sein wird, darauf hin, daß die Entwicklung i n der gleichen Richtung verläuft: auf eine wachsende Teilhabe der organisierten Interessen an der staatlichen Willensbildung. Der Gegenstand dieser Untersuchung über die Interessenorganisationen ist so i n der Tat höchst differenziert, aber sie alle w i r k e n i n dem i n t e r m e d i ä r e n R a u m z w i s c h e n I n d i v i d u u m u n d s t a a t l i c h e r G e w a l t . Das ist ihre gemeinsame politische und staatsrechtliche Position.
Erster
Teil
Historische Leitbilder und Strukturtypen Selten rufen die politischen und sozialen Vorgänge einer Epoche i n ihren zeitgenössischen Beobachtern einen anderen Eindruck als den einer tiefgreifenden Unordnung und Regellosigkeit hervor. I n unserem Fall ist dieser Eindruck so allgemein, daß er sich i n einer anschaulichen neuen Wortbildung niedergeschlagen hat, die, nicht nur i m journalistischen Jargon, dann aufzutauchen pflegt, wenn man seine Aufmerksamkeit dem Gegenstand dieser Arbeit widmet. Der Ausdruck „Interessentenhaufen" m i t seiner bewußten Nuance zum unverkennbar Despektierlichen ist die Sammelbezeichnung, m i t der man gern die verschiedenartigsten Organisationen belegt, i n denen sich bestimmte Interessen und Interessengruppen politisch manifestieren. Erst dem aus einer größeren geschichtlichen Distanz rückschauenden Geist gelingt es i n der Regel, die i n dem notwendig vordergründigen B i l d der Zeitgenossen noch verborgenen großen geschichtlichen Linien zu erkennen. Das zwingt zur Bescheidung, schließt aber nicht aus, i n Ideen, Institutionen und Bewegungen zurückliegender Zeiträume das Linienwerk der Zukunft aufzuspüren und darin Strukturelemente aktueller Erscheinungen aufzufinden. Denn keine Gestalt des gesellschaftlichen und politischen Lebens ist eine Schöpfung aus dem Nichts, und keine D o k t r i n ging vollendet aus dem H i r n eines politischen Denkers hervor wie die gepanzerte Athene aus dem Haupte des Zeus. Sie wären keine politisch wirksamen Realitäten, beruhten sie nicht auf vorgegebenen Fakten. Hier sollen einige typische, geschichtsmäßige Erscheinungen von seltener prinzipieller Klarheit und Eindeutigkeit ins Licht gehoben werden, die i n dieser bestechenden Einfachheit zwar kaum mehr existent sind, die aber, so verschieden sie untereinander sind, als Formelemente i n den aktuellen Vorgang der Repräsentation organisierter Interessen eingegangen und geeignet sind, uns für dessen Analyse unabdingbare Kategorien an die Hand zu geben. U m diese kategorialen Strukturprinzipien aufzufinden, brauchen w i r kaum hinter die Französische Revolution zurückzugehen. Sie bildet
Historische Leitbilder und Strukturtypen
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auch hier die große Zäsur, als Ereignis, insofern sie i n Frankreich die intermediären Gewalten des Ancien Régime zerstörte, und noch mehr als politische Bewegung, indem ihre auf das übrige Europa übergreifenden Wellen die dort zunächst noch fortbestehenden feudalen Gewalten unterhöhlten und ihre Staatsidee sich dem Aufkommen neuer intermediärer Gewalten schärfstens widersetzte. Diese Konzeption vom Staat ist vor allem das Erbe Jean Jacques Rousseaus. Sie hat zur Grundlage die Idee der I d e n t i t ä t des Volkes m i t sich selbst, das aus der unvermittelten Selbstbetrachtung sich zur volonté générale erhebt und sich so seine Gesetze gibt 1 , so daß „die Worte Untertan und Staatsoberhaupt identische Begriffe sind, deren Idee i n dem einen Wort Staatsbürger ausgedrückt ist" 2 . Zugegeben, daß diese Indentitätsvorstellung keine ausreichende Basis für eine reale Demokratie abgibt 3 und nur i n Verbindung mit dem Prinzip der R e p r ä s e n t a t i o n realisierbar ist 4 , so ist doch ebenso wahr, daß i n dieser Konzeption zwischen dem I n d i v i d u u m und dem souveränen Ganzen der Nation bzw. ihrer politischen Repräsentanz i m Staat kein Raum bleibt für vermittelnde, intermediäre Organisationen der Standes-, Berufs- und sonstigen Interessen. Während i n D e u t s c h l a n d revolutionäre und restaurative Kräfte noch ein halbes Jahrhundert lang einen unentschiedenen Kampf m i t einander führten und außer der Konservierung der ständischen Gesellschaftsstruktur keine neuen eindeutigen Gestaltungen aufkommen ließen 5 , wurde i n F r a n k r e i c h die Verwirklichung des Rousseau1
Contrat social, Buch I I , Kap. 6. - a.a.O., Buch I I I , Kap. 13. 3 Das räumt Rousseau selbst ein: „Gäbe es ein Volk von Göttern, würde es demokratisch regiert werden. Eine so vollkommene Regierung eignet sich nicht für Menschen" (a.a.O., Buch I I I , Kap. 4; vgl. auch Buch I V , Kap. 3). 4 „Auch da, wo der Versuch gemacht wird, unbedingt eine absolute Identität zu realisieren, bleiben Elemente und Methoden der Repräsentation unumgänglich, wie umgekehrt keine Repräsentation ohne Identitätsvorstellungen möglich ist" (Carl Schmitt, Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, S. 205 f.). 5 Damit ist nicht gesagt, daß es i m Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und später i m Deutschen Bund kein behördliches Einschreiten gegen die Koalitionen des Handwerks und namentlich der Gesellen gegeben habe. Das Gegenteil trifft zu. Aber diese Maßnahmen resultierten nicht aus Identitätsvorstellungen und dem Individualismus der Französischen Revolution, sondern aus der Notwendigkeit* dem Aufbegehren der Gesellen gegen die Meister, das sich in vielen Verbrüderungen und lokalen Aufständen Luft machte und die feudale Gesellschaftsordnung gefährdete, entgegenzutreten und Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Hinzu trat die absonderliche
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
sehen I d e n t i t ä t s p r i n z i p s m i t u n e r b i t t l i c h e r K o n s e q u e n z p o s t u l i e r t
und
r e a l i s i e r t . „ E s s i n d n i c h t m e h r d i e N o t a b e i n , a n die m a n sich z u w e n d e n h a t " , s c h r e i b t Sieyès,
„sondern die N a t i o n selbst"6; „ f ü r die Nation
k a n n es nichts anderes geben als n u r d i e N a t i o n " 7 : das i s t die S ä k u l a r i s i e r u n g des b i b l i s c h e n Ich bin
der ich bin. I n f e i e r l i c h e n W o r t e n zog
d e r Gesetzgeber i n d e m Gesetz v o m 14./17. J u n i 1791 d a r a u s die F o l g e rung:
„Die Vernichtung aller A r t e n von Vereinigungen der
desselben Standes u n d desselben B e r u f e s i s t e i n G r u n d p r i n z i p
Bürger (base
f o n d a m e n t a l e ) d e r französischen Verfassung. Es i s t v e r b o t e n , sie w i e d e r z u e r r i c h t e n , u n t e r w e l c h e m V o r w a n d u n d i n w e l c h e r F o r m auch immer"
( A r t . I ) 8 . Le
Chapelier,
dessen N a m e n das Gesetz t r ä g t ,
hat
Furcht vor geheimen Verbindungen, die das besondere Ziel landesväterlicher Strafandrohungen waren. Diese im Lauf der Jahrhunderte in den deutschen Landen ergangenen Verordnungen sind kaum zu übersehen. Erwähnung verdient der Reichsabschied vom 16. 8. 1731, der sich vor allem gegen die Gesellen richtet; den Meistern wird ihre Aufsichtspflicht über Gesellen und Lehrlinge eingeschärft; auch wird die „böse Gewohnheit, die angehenden Meister zu beeidigen, da sie der Zünfte Heimlichkeiten verschweigen und niemand entdecken", mit strengen Strafen bedroht und die Meister von solchen Eiden völlig losgesprochen. Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 verbot den Gesellen, eigenmächtig Versammlungen abzuhalten (II. Teil, 8. Titel §§ 396—400). A m 15. 1. 1835 beschränkte die Bundesversammlung in Frankfurt das Wandern der Gesellen ins Ausland und beschloß strenge Polizeiaufsicht über das Wandern in Deutschland, damit die Gesellen „an keinen Associationen und Versammlungen teilnehmen, wodurch die öffentliche Ruhe im I n - und Ausland bedroht oder gestört werden könnte". Statt anderer Landesgesetze mag noch die preußische Gewerbeordnung vom 17. 1. 1845 angeführt werden, die in §§ 181—184 gegen die Koalitionen, selbst die der Arbeitgeber, vorging. Z u m Ganzen vgl. Rud. Wissel, Koalitionen und Koalitionsverbote, Artikel i m Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. V, Jena 1923, S. 734^-756, und die dort nachgewiesenen Quellen; Otto v. Gierke , Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 644 f., 942 ff. c Qu'est-ce que le Tiers-Etat ? Kap. 5. 7 a.a.O., Kap. 6. 8 Art. 2 lautet: „Les citoyens d'un même état ou profession, les entrepreneurs, ceux qui ont boutique ouverte, ne pourront, lorsqu'ils se trouveront ensemble, se nommer ni présidents, ni secrétaires, ni syndics, tenir des registres, prendre des arrêtés ou délibérations, former des règlements sur leurs prétendus intérêts communs." Es ist bemerkenswert, daß Art. 3 sich gegen die Beeinflussung der staatlichen und städtischen Organe durch die verbotenen „Korporationen" ausspricht: „ I I est interdit à tous corps administratifs ou municipaux de recevoir aucune adresse ou pétion sous la dénomination d'un état ou profession, d'y faire aucune réponse, et i l leurs est enjoint de déclarer nulles les délibérations qui pourraient être prises de cette manière, et de veiller soigneusement à ce qu'il ne leur soit donné aucune suite ni exécution." Die Loi Le Chapelier ist zu solcher Berühmtheit gelangt, daß sie entsprechende frühere gesetzliche Regelungen in den Schatten gestellt hat und sie in der einschlägigen Literatur meist ausschließlich zitiert wird. Nichtsdestoweniger muß der Vollständigkeit halber erwähnt werden, daß zur
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den Grundsatz dieses Gesetzes i n der Debatte klar formuliert: „Es gibt keine Korporationen mehr i m Staat. Es gibt nur noch das Einzelinteresse jedes Individuums und das Allgemeininteresse. Niemandem ist es erlaubt, den Bürgern ein intermediäres Interesse einzuflößen und sie durch Korporationsgeist von den Angelegenheiten der Öffentlichkeit zu entfernen" 9 . I n diesem Ausspruch enthüllt sich gleichzeitig der alle diese Identitätsvorstellungen kennzeichnende, tiefe individualistische Grundzug dieser Zeit: ein nicht wegzudenkendes liberales Pendant zu dem Revolutionsdogma von der souveränen Nation. Der geheiligte Grundsatz der individuellen Freiheit Schloß für den revolutionären Gesetzgeber als natürliche Folge die Freiheit der Arbeit, des Handels und der Industrie ein 1 0 . U m diese zu schützen, unterdrückte er die Standes- und Berufsverbände und verwarf die Koalitionsfreiheit. Man muß diese individualistische Grundhaltung i n die Perspektive des hundertjährigen Kampfes u m das Koalitionsrecht stellen, wie er auf den folgenden Seiten i n Erinnerung gerufen wird, um die tief verwurzelte K r a f t und Zähigkeit dieses Individualismus zu erkennen. Acht Jahre später, 1799, wurde i n E n g l a n d unter dem Einfluß der Französischen Revolution, wie Sidney und Beatrice Webb hervorheben 11 , ein ähnliches Gesetz erlassen, das der L o i Le Chapelier an Zeit Ludwigs X I V . unter dem Einfluß Colberts die Korporationen schon wesentlich beeinträchtigt waren durch die Einrichtung von Handelskompagnien und königlichen Manufakturen, die mit Privilegien ausgestattet waren, die die Korporationen nicht kannten. Dann war es Turgot, der unter der Regierung Ludwig X V I . durch ein Edikt vom Februar 1776 die Korporationen verbot, um sie aber wenige Monate später, i m August 1776, wieder herzustellen. Bei dem Verbot hatten vor allem die ökonomischen Doktrinen Quesnays Pate gestanden, wie die Berufung auf das Recht der Arbeit und die Freiheit der .Konkurrenz, die Behinderung des wirtschaftlichen Fortschritts durch überholte Privilegien und Mißbräuche zeigt. — Die Loi Dallarde vom 2./17. März 1791 hatte schon einen Teil, namentlich die Handwerkerkorporationen, aufgelöst. Vgl. M. Olivier -Martin, L'Organisation corporative du Moyen Age à la fin de l'Ancien Régime, Löwen 1937, S. 159 ff. 9 P. J. B. Bûchez et P. C. Roux, Histoire parlementaire de la Révolution Française ou Journal des Assemblées Nationales depuis 1879 jusqu'en 1815, Bd. X, Paris (Paulen) 1834, S. 194, 195. Uber die Verbotsgesetze in den übrigen europäischen Staaten und die Rechtsentw'icklung in Deutschland vgl. auch Ulrich Brisch, Die Rechtsstellung der deutschen Gewerkschaften, Göttingen 1951, S. 18 ff. mit weiteren Nachweisen. 10 Dieses Grundrecht war seit 1789 ein wesentlicher Bestandteil des französischen öffentlichen Rechts; vgl. Léon Duguit, Traité de Droit constitutionnel, Bd. V, 2. Aufl., Paris (Boccard) 1925, S. 134 f. 11 The History of Trade Unionism, London (Longmans, Green & Co.) 1950, S. 73 ff. Dieses Standardwerk ist erstmals i m Jahre 1894 erschienen. 3
Kaiser, Repräsentation
Historische Leitbilder und Strukturtypen
Schärfe nicht nachstand. I n der damals ungewöhnlich kurzen Zeitspanne von 22 Tagen beschloß das Unterhaus und sanktionierte der König den General Combination Act, der i m Jahre 1800 durch zwei weitere Gesetze ergänzt wurde und der jedwede Koalition m i t Strafe bedrohte. Die Anwendung dieser Gesetze war jedoch sehr v i e l nachsichtiger, als sein Wortlaut vermuten läßt. Namentlich i n den alten handwerklichen Gewerben ließ man Milde walten, während die wachsende Radikalisierung der Arbeiter i n den neuen, m i t Maschinen ausgestatteten Industrien zu schärferem Einschreiten zwang. Mangels einer ausreichend organisierten Polizei und eines öffentlichen Anklägers wurden die Verbände i n der Regel aber erst auf die Klage eines Unternehmers behelligt 1 2 . Die korporationsfeindliche Bewegung ergriff selbst den K i r c h e n s t a a t . I m Zuge der unter dem Druck Napoleons durchgeführten Reformen verbot Pius VII. durch Motu Proprio vom 16. Dezember 1801 die alten Korporationen 1 3 . Die Unterdrückung der „corps intermédiaires" war eine allgemeine Erscheinung i m Gefolge der Revolutionsideen. Es gab zwischen I n d i v i duum und Staat keinen intermediären Raum, weil und solange eine nationale Homogenität, wie sie das Bewußtsein des französischen D r i t ten Standes i n der Revolution und i n den nachfolgenden Jahren und Deutsche und Italiener zur Zeit ihrer nationalen Einigung erfüllt hatte, diese radikale Verwirklichung des Identitätsprinzips gestattete. Sie wurde zweifelhaft, als die magnetische Kraft großer nationaler Belange nachließ und die individuellen Interessen stärker von den ökonomisch-sozialen Problemen und Bedürfnissen okkupiert wurden und sich nach ihnen ausrichteten. Auch P o r t u g a l hatte während des Mittelalters große und eindrucksvolle korporative Gliederungen gehabt, die sich gegenüber anderen Ländern durch größere Elastizität und profilierte politische Funktionen — Repräsentation vor dem König und Interventionsrechte i n 12 Sidney and Beatrice Webb , a.a.O., S. 74ff.; W. Milne-Bailey, Trade Unions and the State, London (George Allen & Unwin) o.J. (1934), S. 165 ff. Dem General Combination Act von 1799 gingen zahlreiche gesetzliche Einzelverbote von Arbeitervereinigungen voraus. Sie wurden i m wesentlichen provoziert durch Verstöße der Arbeiter gegen Lohnstopgesetze. Das älteste dieser Art war die Ordinance of Labourers vom Jahre 1359 oder 1350. Sie wurde erlassen, nachdem 1348 die Pest England heimgesucht und einen außerordentlichen Mangel an Arbeitskräften herbeigeführt hatte; vgl. W. Milne-Bailey, a.a.O., S. 168. 18 Robert Goetz-Girey , La pensée syndicale Française, Militants et Théoriciens, Paris (Armand Colin) 1948, S. 8.
1. Der Syndikalismus
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der Ratsversammlung (Câmara) ihrer Städte — auszeichneten und so über die Jahrhunderte hinweg teilweise schon eine gewisse Ähnlichkeit mit dem heutigen portugiesischen System aufweisen. Unter dem Einfluß merkantilistischer Gedanken 14 verloren, sie zunächst i m Jahre 1761 ihre monopolistische Stellung. Durch Dekret vom 7. Mai 1834, auf der Woge individualistischen Gedankengutes und unter dem Regime einer liberalen Verfassung, wurden sie völlig verboten 1 5 . 1. Der Syndikalismus Der konkrete Anlaß für die L o i Le Chapelier wie für die entsprechende englische Gesetzgebung waren A r b e i t e r demonstrationen 16 . Sie trugen bereits das Signum der späteren Entwicklung, das aber dem revolutionären Gesetzgeber noch verborgen war. Er vermutete i n ihnen die „Korporationen" aus der Zeit des Ancien Régime am Werk, wie sie auch in Deutschland und i m übrigen Europa als Zünfte, Gilden, Bauhütten u. dgl. mit meist mittelalterlichem Ursprung bekannt waren. Man braucht nur den Bericht Le Chapeliers vom 14. J u n i 1791 an die Constituante nachzulesen, u m das zu erkennen. Nichts zeigt aber auch deutlicher als diese prägnante Darstellung der tatsächlichen Struktur dieser Verbände sowie ihrer Absichten und Methoden, daß hier ein neuartiges Phänomen debütiert. Das Erstaunliche dabei ist, 14
Ähnlich wie in Frankreich, vgl. Anm. 8. Vgl. José Joaquim Teixeira Ribeiro, Liçôes de Direito Corporativo, Bd. I, Introduçâo, Coimbra 1938, S. 5—40; J. Pires Cardoso , Corporativismo, Bd. I, Introduçâo, Ediçâo do Autor, 1950, S. 112 f. (über die ideologischen Ursachen, S. 113 ff.), und die dort angegebene Literatur. 16 Sie häuften sich 1791 in Paris; England fühlte sich vor allem durch die Organisationen der Textilarbeiter in Yorkshire und Lancashire beunruhigt. Die Loi L e Chapelier wie der General Combination Act richteten sich in ihrem Wortlaut sowohl gegen Arbeitgeber wie gegen Arbeitnehmer. Tatsächlich handelt es sich aber in beiden Fällen um eine ausgesprochen arbeiterfeindliche Maßnahme. Das zeigt für Frankreich deutlich der Code Pénal, der Arbeiterkoalitionen mit erheblich strengeren Strafen bedroht als die „chambre syndicales patronales", die sich seit 1808 sogar ungestört entwickeln konnten. (Vgl. Georges Lasserre, Histoire du Syndicalisme ouvrier, I*re Partie, Paris (Les Cours de droit) 1948/49, S. 50.) Über England berichten Sidney und Beatrice Webb, daß Tausende von Arbeitern wegen des Verbrechens, Verbindungen eingegangen zu sein, zur Rechenschaft gezogen worden seien, während kein Fall bekannt geworden sei, in dem ein Unternehmer für das gleiche Verbrechen bestraft worden sei (deutsche Ubersetzung a.a.O., S. 56). Vgl. dazu auch schon Adam Smith, The Wealth of Nations, 1776, Buch I, Kap. 8, S. 68 f. Für das frühere Verbot der Arbeiterkoalitionen in Amerika vgl. den Cordwainer's Fall, Commonwealth v. Pullis, der 1806 in Philadelphia entschieden wurde. Vgl. John R. Commons and others, A. Documentary History of American Industrial Society, Cleveland 1910, Bd. 3. S- 230 f. 15
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daß w i r i n diesen „corporations d'arts", wie sie Le Chapelier i r r t ü m lich nennt, schon die Entwicklung der nächsten eineinhalb Jahrhunderte embryonal angelegt finden: die Syndikate, den Kampf u m den Arbeitslohn, den Tarifvertrag, den Koalitionszwang, den Generalstreik und sogar die Piquetline 1 7 . Die Constituante des Dritten Standes hat kaum damit begonnen, die Früchte dieser bürgerlichen Revolution zu ernten, als w i r i n ihnen schon den K e i m einer neuen und ganz verschiedenen Revolution, der sozialen Revolution des Vierten Standes» erkennen. Die L o i Le Chapelier ist einer der ersten offiziellen Texte, i n denen von permanenten Arbeiterorganisationen in Frankreich berichtet w i r d 1 8 . Weit älter sind die Trade Unions, die Organisationen der e n g l i s c h e n Arbeiter. Schon i m Jahre 1720 beklagten sich die Schneidermeister i n einer Eingabe an das Unterhaus, daß mehr als 7000 Schneidergehilfen i n und u m London und Westminster sich zusammengeschlossen hätten m i t dem Ziel, ihre Löhne zu erhöhen und die Arbeit eine Stunde früher zu verlassen; u m ihre Bestrebungen besser durchführen zu können, hätten sie ihre Namen i n eigens angelegte Bücher, wie sie i n zahlreichen Herbergen und Bierhäusern auslägen, eingetragen und eine beträchtliche Geldsumme gesammelt, um sich i m Falle von Strafverfolgung verteidigen zu lassen 19 . Das ist früher Syndikalismus, für den sich i n England, vor allem aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, schon zahlreiche Beispiele anführen lassen. Aber diese Verbände sind fast ausnahmslos klein und durch Verbote und Strafverfolgung i n ihrer Existenz bedroht. Erst der 17 „Plusieurs personnes ont cherché à recréer les corporations anéanties, en formant des assemblées d'arts, métiers, dans lesquelles il a été nommé des présidents, des secrétaires, des syndics et autres officiers. Le but de ces assemblées, qui se propagent dans le royaume et qui ont déjà établi entre elles des correspondances, est de forcer les entrepreneurs de travaux, les cidevant maîtres, à augmenter le prix de la journée de travail, d'empêcher les ouvriers eit les particuliers qui les occupent dans leurs ateliers, de faire entre eux des conventions à l'amiable, de leur faire signer sur des registres l'obligation de se soumettre au taux de la journée de travail fixé par ces assemblées, et autres règlements qu'elles se permettent de faire. On emploie même la violence pour faire exécuter ces règlements; on force les ouvriers de quitter leurs boutiques, lors même qu'ils sont contents du salaire qu'ils reçoivent (Réimpression de l'ancien Moniteur, Bd. V I I I , S. 661, séance du 14 juin 1791). On veut dépeupler les ateliers; et déjà plusieurs ateliers se sont soulevés, et différent désordres ont été commis." P. J. B. Bûchez et P. C. Roux , Histoire parlementaire de la Révolution Française, a.a.O., S. 193 f. 18 Georges Lefranc , Le Syndicalisme dans le Monde, Paris (Presse Universitaires de France) 1949, S. 22. 19 Sidney und Beatrice Webb, a.a.O., S. 31.
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Zustrom großer Arbeitermassen aus den industrialisierten Betrieben gibt dem Syndikalismus seine revolutionäre Gewalt. Die Anfänge dieser Entwicklung liegen in Frankreich nicht vor 1830, i n Deutschland erst nach 1848. Die Geschichte der Trade Unions lehrt jedoch, daß die ersten und dauernden dieser Verbände, die man bald i n Frankreich „ S y n d i c a t s " und i n Deutschland „ G e w e r k s c h a f t e n " nannte, der Industrialisierung u m ein halbes Jahrhundert vorausgingen und sich i n Gewerbezweigen entwickelten, i n denen noch die Handarbeit vorherrschend war. Es waren nicht einmal die in der größeren Misere lebenden Landarbeiter und Bergleute, die sich als erste organisierten, sondern die Gesellen und abhängigen Arbeiter der Schneider, Weber und verwandter Berufe 2 0 . Sie beginnen i n dem Augenblick, sich gegenüber ihren Meistern als Arbeiterklasse zu fühlen, als der Nachweis der Tüchtigkeit und Sachkunde durch die Anfertigung eines „Meisterstücks" zum Aufstieg i n die leitende Stellung der Meister nicht mehr genügt, sondern zur Gründung eines eigenen Geschäfts mehr Kapital erforderlich ist, als sich der Geselle i n der Regel ersparen kann. „Jetzt beginnt der Gegensatz der Interessen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, jetzt beginnen die Letzteren, sich gruppenweise zusammenzutun", und „die ,Trade Society 4 entsteht" 2 1 . Nicht der Triumph der Techn i k hat deshalb den Syndikalismus geschaffen, sondern die vielberufene Trennung der Arbeit von dem Eigentum an den Produktionsmitteln. Der industrielle Fortschritt forderte große Kapitalien, die sich i n den Händen der besitzenden Klasse akkumulierten, während die rasch wachsende Masse des Proletariats i n Abhängigkeit geriet, verarmte und ein Opfer der wirtschaftlichen Unsicherheit wurde 2 2 . Verantwort20
I n Deutschland zeigt die frühe und selbständige Entwicklung der Buchdruckerorganisation dieselbe Eigenart. 21 So zitieren Sidney und Beatrice Webb in ihrem klassischen Werk einen Artikel von J. M. Ludlow, der i m Februar 1861 in Macmillan's Magazine erschienen war; a.a.O., S. 26. 22 Diese Erfahrung verallgemeinerten Karl Marx und Friedrich Engels zu ihrer berühmten V e r e l e n d u n g s t h e o r i e : „Der moderne Arbeiter statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum" (Das kommunistische Manifest, Ziff. I a. E.). Noch deutlicher ist dieser „antagonistische Charakter der kapitalistischen Akkumulation" im Kapital beschrieben: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf
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liehe Unternehmer und später der Staat durch eine umfassende Arbeiterschutzgesetzgebung besserten die Lage der Lohnarbeiter; das eigentliche M i t t e l des Schutzes und der Gegenwehr, ein Instrument par excellence, kam aber aus ihren eigenen Reihen: das Syndikat. Die Geschichte des Syndikalismus der verschiedenen Länder hat zahlreiche Bände gefüllt und bedarf hier keiner ausführlichen Darstellung. Sie soll i n großen Zügen nur soweit herangezogen werden, als notwendig ist, u m das Wesen des Syndikalismus als eines der Formelemente der Repräsentation organisierter Interessen zu skizzieren. I n den Syndikaten organisiert sich das Interesse der Lohnarbeiter, nach Berufen oder Industriezweigen gegliedert. So gibt es Metall-, Bergbau-, Holz-, Leder-, Eisenbahn-, Post- und zahlreiche andere Gewerkschaften; jede von ihnen gliedert sich i n lokale und regionale Verbände und gipfelt i n einer nationalen, das gesamte Staatsgebiet umfassenden Spitzenorganisation, die, besonders i n Deutschland, eine straffe Führung ausübt und mitunter einem internationalen Fachverband angehört. A u f allen Stufen finden w i r organisatorische Zusammenschlüsse m i t anderen Gewerkschaften, Bünde, die regelmäßig auf der staatlichen Ebene a m stärksten ausgeprägt sind. Sie organisieren sich nach der weltanschaulichen oder politischen Richtung ihrer Mitglieder zu katholischen, christlichen, sozialistischen, liberalen und anderen Gewerkschaftsföderationen oder bilden, wie gegenwärtig in Deutschland, unter Einschluß dieser verschiedenen Gattungen eine Einheitsgewerkschaft. Über allen politischen und weltanschaulichen Nuancen und Meinungsverschiedenheiten steht aber die Arbeitersolidarität. Sie trägt die Gewerkschaftsbewegung als den gewaltigen organisatorischen Ausdruck der Arbeiterschaft als Klasse. Denn als Gemeinschaft der Lohnempfänger t r i t t sie den Arbeitgebern m i t einem höchst gleichartigen, durch die Nivellierung der Arbeitsbedingungen wesentlich eingeebneten dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert" (I. Buch X X I I I . Kapitel, Ziff. 4). Es ist seit langem unbestritten, daß die kapitalistische Entwicklung die Lage der Lohnarbeiter gebessert hat. Kautsky und andere haben darum die Verelendungstheorie in rein psychologisch-subjektivem Sinn gedeutet die intellektuelle und moralische Hebung des Arbeiters lasse ihn die Kategorien „Druck", „Knechtschaft", „Ausbeutung" — „die rein seelischer, innerlicher Natur sind" — mehr als Übel empfinden; vgl. Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 7. Aufl., Jena 1919. S. 94. Auch dieser Psychologismus ist inzwischen überwunden.
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Interesse gegenüber 23 . Es ist herkömmlich primär auf Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit gerichtet und strebt i m ganzen eine Besserung der allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen an. Die Syndikate stoßen i n der Verfolgung dieser Ziele auf die entgegengesetzten, an effektiver Macht zunächst überlegenen Interessen der Arbeitgeber, der Eigentümer, des Kapitals. Die Form der Auseinandersetzung ist der Kampf. Er w i r d i n den einzelnen Ländern und Epochen m i t verschiedenen M i t t e l n und ungleicher Intensität geführt. I n E n g l a n d haben die Arbeiter u m die Mitte des 19. Jahrhunderts den Widerstand gegen die Industrialisierung, der sich i m 18. und namentlich i n den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu Arbeiterrevolten m i t massenhafter Zerstörung von Maschinen ausgewachsen hatte, endgültig 2 4 aufgegeben und die kapitalistische Wirtschaftsverfassung als Tatsache hingenommen. I m Rahmen dieses Systems versuchen sie nun, ihre Lage zu verbessern: da die Arbeit eine Ware ist, für die das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt, beschränken sie die Zahl der Lehrlinge, damit kein Uberfluß an Arbeitskräften entsteht, der die Löhne drückt; i n ihrem Gefolge entstehen Konsumgenossenschaften, eine neue W i r t schaftsform 25 , die i n ihrem Wirkungsbereich den Gegensatz von Kapit a l und Arbeit aufheben w i l l ; die Trade Unions schaffen sich j u r i stische Beratungs- und Anwaltbüros, die ihnen i n Auseinandersetzungen m i t Arbeitgebern und bei Kollisionen m i t der Staatsgewalt zur Seite stehen; vor allem errichten sie Fonds zur gegenseitigen Unterstützung i m Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, A l t e r und Tod, Einrichtungen, die für die Arbeiter des europäischen Kontinents vorbildlich geworden sind. I n diesem M i l i e u verliert die Idee des Klassen28 „ . . . mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird I n größerem Maße zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt." So beobachteten schon K a r l Marx und Friedrich Engels, Das kommunistische Manifest, Ziff. I. 24 K a r l Marx bemerkt i m Kapital, daß sich in altmodischen Manufakturen noch zu seiner Zeit „die rohe Form der Arbeiterempörungen gegen die Maschinerie" ereigneten und nennt ein Beispiel aus dem Jahre 1865 aus der Feilenschleiferei in Sheffield; Buch I, X I I I . Kap., Ziff. 5. 25 Sidney und Beatrice Webb , a.a.O., S. 225, 752 ff. I n den englischen Kooperativen war, im Gegensatz zu denen Mitteleuropas, aber auch immer ein starkes bürgerliches Element vertreten, das die gemäßigte Haltung der englischen Gewerkschaften und ihre Bremswirkung auf die politische Führung der Labour Party wesentlich gestützt hat.
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kampfs allmählich an Bedeutung gegenüber dem Bemühen, durch Verhandlungen mit den Arbeitgebern ihren Zielen näherzukommen. Gemeinsame Organe, die „Industrial Councils", sind schon früh eine ständige Plattform, auf der sich die Vertreter von Kapital und Arbeit begegnen. Hinzu kommt eine andere Methode, mit der sie den kontinentalen Gewerkschaften weit voraus sind und die sich noch mehr von dem Boden des klassischen Syndikalismus entfernt: die A k t i v i e r u n g i h r e r p o l i t i s c h e n P o t e n z ; mehr und mehr versuchen sie über das Parlament, mittels einer günstigen sozialen Gesetzgebung, die Interessen der Arbeiterklasse zu wahren. Das führt sie auf den Weg zur Gründung einer eigenen politischen Partei. Zunächst war man mit den Liberalen gegangen und hatte ihnen ein soziales Reformprogramm oktroyiert, das i n dem liberalen Parteiprogramm von Newcastle 1891 seinen Ausdruck fand 2 6 . Nachdem seit 1893 eine Independent Labour Party bestanden hatte, beschloß der Gewerkschafttskongreß des Jahres 1900 gegen starken Widerstand aus seiner Mitte, da viele von der „Verwandlung der Trade Unions i n eine politische Partei" größten Schaden für die Gewerkschaften befürchteten 27 , mittels einer von Ramsay Macdonald vorbereiteten Resolution, die Gründung des Labour Representation Committee. Seine Aufgabe war es, die Wahl einer größeren Zahl von Abgeordneten ins Unterhaus zu betreiben: der Beginn einer eigenen Partei, die 1906 ihren Namen i n Labour Party änderte. Für die enge Beziehung von Trade Unions und Partei ist es kennzeichnend, daß zunächst seit 1903 und endgültig seit 1913 die Gewerkschaften von ihren Mitgliedern ohne Rücksicht auf deren Parteizugehörigkeit zusammen m i t dem Gewerkschaftsbeitrag gleichzeitig einen Beitrag zur Labour Party einziehen und es einer besonderen Erklärung des Gewerkschaftsmitgliedes bedarf, wenn es sich von dieser Verpflichtung zur Förderung der Labour Party befreien will. I n D e u t s c h l a n d war die Spontaneität des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses weniger ausgeprägt als i n England und Frankreich. Das Jahr 1848 hatte zwar eine Anzahl örtlicher Berufsvereine und die nationalen Organisationen der Buchdrucker und der Tabakarbeiter gebracht, die aber in den 50er Jahren, durch strenge Verbotsbestimmungen bedroht, sämtlich wieder untergingen. Jene beiden Berufs26 Über diese „Durchdringung der liberalen Partei" vgl. George B. Shaw, Essays in Fabian Socialism, London 1932, S. 147 ff. 27 William Glenviel Hall, The Labour Party, London (Collins) 1949, S. 21 f.
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zweige waren in den 60er Jahren wieder die ersten, die die Gründung zahlreicher Arbeiterbildungsvereine einleiteten. Die übrigen Organisationsgründungen sind jedoch weniger das Ergebnis eigener Impulse der Arbeiterklasse als der Ausdruck der miteinander konkurrierenden Bemühungen verschiedener politischer Richtungen, die Arbeiterschaft i n den Bannkreis ihrer Parteipolitik zu ziehen und darin festzulegen. Der Eigenwert gewerkschaftlichen Kampfes wurde am heftigsten bestritten von Ferdinand Lassalle, der allein in einer eigenen politischen Partei das erfolgversprechende Instrument für die Emanzipation des Proletariats sah. „Die vergeblichen Anstrengungen der Sache, sich als Mensch gebärden zu wollen — sind die englischen Streiks . . ., deren trauriger Ausgang bekannt genug ist. Der einzige Ausweg kann daher nur durch die Sphäre gehen, innerhalb deren sie noch als Menschen gelten, d. h. d u r c h d e n S t a a t . . , " 2 8 . Diesen Weg über den Besitz der politischen Macht beschritt Lassalle 1863 m i t der Gründimg einer sozialistischen Partei, die den Namen „Allgemeiner Deutscher A r beiterverein" trug. Sein Nachfolger i n der geistigen Führung dieser Partei, Jean Baptist v. Schweitzer, teilte jene Auffassung seines Meisters, stellte sich aber an die Spitze eines i m Widerspruch mit dem Zentralvorstand von oben herab gegründeten Gewerkschaftsverbands, der der Partei als organisatorische Basis i n der Arbeiterschaft dienen sollte. Die Organisation krankte aber an ihrem inneren Widerspruch und büßte nach anfänglichen Erfolgen viel von ihrer Bedeutung ein. I m Gegensatz zu Lassalle hatte K a r l Marx die Bedeutung der Gewerkschaften schon früh erkannt; schon 1847 hatte er i n der gegen Proudhon gerichteten Schrift „Das Elend der Philosophie" den Gewerkschaften dieselbe Bedeutung für die Organisation der arbeitenden Klasse zugewiesen, die i m Mittelalter die Gemeinden für den M i t t e l stand der bürgerlichen Gesellschaft gehabt hatten, und i n den englischen Gewerkschaften „die Preisfechter" der modernen Arbeiterbewegung gesehen. Aber seine Wertschätzung der Gewerkschaften beschränkt sich doch weitgehend auf ihren Charakter als Brennpunkte der O r g a n i s a t i o n der Arbeiterklasse 2 9 . Auch bei Marx steht die 28 I n seiner Streitschrift gegen Schulze-Delitzsch; zìt. bei Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 7. Aufl., Jena 1919, S. 238. (Sperrung nicht i m Original.) 29 „Abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken müssen sie nunmehr lernen, bewußterweise als Brennpunkte der Organisation der Arbeiterklasse zu handeln, i m großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung, welche auf dies Ziel lossteuert, unterstützen." Aus der von Marx entworfenen Resolution des Kon-
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politische Seite der Arbeiterbewegung so i m Vordergrund, daß, wie Werner Sombart hervorgehoben hat, sein Geist der Entwicklung der Gewerkschaften anfangs geradezu hinderlich gewesen ist 3 0 . Daß trotzdem die große Mehrzahl der deutschen Gewerkschaftler sich zum Sozialismus bekannt hat, ist vor allem das Verdienst August Bebels, der 1868 die bis dahin liberalen Arbeiterbildungsvereine des Nationalvereins für die Erste Internationale und den Marxismus gewann. Er trat m i t Wilhelm Liebknecht an die Spitze der 1869 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich 1875 i n Gotha m i t der Lassalle sehen Richtung vereinigte. I h r folgte die Verschmelzung der beiden Gewerkschaftsorganisationen auf dem Fuß. Seitdem ist der deutsche Sozialismus proletarisch und das Proletariat sozialistisch. Davon machen zwei Bewegungen eine Ausnahme: Die nach ihren Gründern benannten Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften standen dem Liberalismus nahe, lehnten den Klassenkampf ab und erstrebten, nach dem Vorbild der englischen Gewerkschaften, die Besserung der Arbeiterlage durch Verhandlungen mit den Unternehmern. Die Christlichen Gewerkschaften, die i n der Mitte der 90er Jahre gegründet wurden und sich 1900 zu einem Gesamtverband zusammenschlossen, konnten zu dieser Zeit schon auf eine große geistige und auch vereinsmäßige Tradition zurückblicken, der Namen wie Adolf Kolping und Wilhelm Emmanuel von Ketteier das Gepräge gegeben gresses der Internationalen Arbeiterassoziation des Jahres 1866, abgedruckt bei Siegfried Nestriepke, Die Gewerkschaftsbewegung, Bd. I, Stuttgart 1920, S. 36. 30 Sozialismus und soziale Bewegung, S. 239. Aus dem reichen Schrifttum über die Geschichte und die Bedeutung der deutschen Gewerkschaftsbewegung bis zum Ersten Weltkrieg seien außer den schon genannnten noch folgende Werke angeführt: Götz Briefs, Gewerkschaftswesen und Gewerkschaftspolitik, im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. I V , Jena 1927, S. 1108—1150; Adolf Braun, Die Gewerkschaften vor dem Kriege, 2. Aufl., Berlin 1921; Theodor Cassau, Die Gewerkschaftsbewegung, ihre Soziologie und ihr Kampf, Halberstadt 1925; Gustav Hartmann, 50 Jahre deutsche Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), 1868—1918, Jena 1918; Franz Hitze, Die Arbeitsfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung, MünchenGladbach 1904; E. Lederer, Soziale Organisationen, 2. Aufl., Leipzig 1922; Carl Legten, Die deutsche Gewerkschaftsbewegung, Berlin 1911; Hermann Müller, Geschichte der deutschen Gewerkschaften bis zum Jahre 1878, Berlin 1918; Max Quarck, Die deutsche Arbeiterbewegung 1848/49, Leipzig 1925; Jack Schiefer, Geschichte der deutschen Gewerkschaften, Bd. I, 3. Aufl., Köln 1948; Richard Seidel, Die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, Geschichte, Aufgaben, Leistungen, Ein ABC der Gewerkschaftskunde, Köln 1952; Werner Sombart. Dennoch, Aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen Bewegung, Jena 1900; Paul Umbreit, 25 Jahre deutsche Gewerkschaftsbewegung 1890—1915, Berlin 1915; ders., Der Stand der Gelben Organisationen, Berlin 1908.
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haben. Als Gewerkschaften wurden sie getragen von dem Gegensatz zu den i n den ersten Jahrzehnten ihrer Entwicklung oft antikirchlichen und religiös intoleranten sozialistischen Gewerkschaften. Sie waren bemüht, auf dem Gebiet der Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen dasselbe z u leisten wie die freien Gewerkschaften, wenngleich die Idee der Volksgemeinschaft sie oft zu einer nachgiebigeren Haltung gegenüber den Unternehmern veranlaßte 3 1 . Politisch waren sie der Zentrumspartei verpflichtet. Uber alle weltanschaulichen Unterschiede hinweg ist die deutsche Gewerkschaftsbewegung von ihrem Anfang an von der Überzeugung begleitet, daß gewerkschaftlicher Zusammenschluß und Kampf allein nicht genügen, die Ziele der Lohnarbeiter zu erreichen. Diese Überzeugung wurde nicht selten i n Frage gestellt; das w a r der Fall, wenn die Tatsachen das politische Instrument desavouierten, am schwerwiegendsten durch das Sozialistengesetz des Jahres 1878; oder als zur Zeit des großen Aufschwungs der Gewerkschaftsbewegung nach 1895 iihr Selbstbewußtsein wuchs und für die freien Gewerkschaften die grundsätzliche Prärogative der sozialdemokratischen Partei zuweilen schwer zu ertragen war, obwohl sie dem Programm des Marxismus keine eigene, gewerkschaftliche Idee entgegenzustellen hatten. Das hat zu Spannungen u n d nie völlig geglückten Versuchen der Arbeitsteilung 3 2 geführt, zu Meinungsverschiedenheiten über die Methoden und die Nahziele des Kampfes der Arbeiterklasse, bei denen die Gewerkschaften geneigt waren, i h r Augenmerk stärker als die Partei auf die konkreten, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse des Tages zu richten und sich den fortgesetzt wechselnden Situationen anzupassen. Sie neigten i n der Regel mehr zu Evolution und Reform, wo ein radikaler Parteiflügel forsches Vorgehen vorzog und Revolution auf seine Fahne schrieb. Sie glaubten nicht, daß Enthusiasmus allein für den Sieg ausreichend sei, sondern verließen sich lieber auf gefüllte Kassen — die sie nicht allen Parteiansprüchen öffneten — und gute finanzielle Reserven, die sich w o h l auch i n ansprechenden Immobilien manifestierten, was die französischen Syndikalisten als „maladie de la 81
Theodor Cassau, Die Gewerkschaftsbewegung, a.a.O., S. 35. Vgl. ζ. B. das Mannheimer Abkommen von 1906, das die gegenseitige Anerkennung aussprach und in wichtigen Fragen Verständigung und gemeinsame Entscheidung von Partei- und Gewerkschaftsführung vorsah; dazu Siegfried Nestriepke, Die Gewerkschaftsbewegung, I, S. 413 f., I I , S. 183; vgl. auch das Kapitel „Die Parteitage von Jena und Mannheim" bei H. Laufenberg, Der politische Streik, Stuttgart 1914, S. 71 ff., bes. S. 85 f. und meine Schrift Der politische Streik, Berlin 1955, S. 8 ff., Anm. 6. 82
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pierre" ironisierten 3 3 . Solche Antinomien beschatteten das Verhältnis der freien Gewerkschaften zur sozialdemokratischen Partei 3 4 , wie andere Antinomien die Beziehungen der christlichen Gewerkschaften zur katholischen Kirche beeinträchtigten, auch nachdem sich jene unter dem Schutz des Kardinals Fischer von K ö l n gegenüber dem übrigen Episkopat durchgesetzt hatten. Vor derartigen Schatten hob sich aber n u r u m so deutlicher ab der Primat der Partei. Darum ist Deutschland ebensowenig wie England das Land des klassischen Syndikalismus, sondern F r a n k r e i c h . Wie schon die L o i Le Chapelier deutlich machte, gehen i h m dort, den beiden anderen Ländern darin ähnlich, zahlreiche Verbrüderungen, compagnonnages, voraus. Die scharfe Verbotsgesetzgebung zwingt sie i n die Form der Geheimen Gesellschaft. Soweit es sich u m konservierte Relikte aus der Zeit des Ancien Régime handelt, hatten sie diesen Charakter vielfach seit je: sie führten ihren Ursprung auf König Salomon zurück und nannten sich deshalb „Enfants de Salomon" oder auch nach dem Namen seiner legendären Tempelbaumeister Enfants du Maitre Jacques, Enfants du Maitre Soubise. Wie die Freimaurerlogen und alle Geheimbünde hatten sie Aufnahmeriten und Erkennungszeichen, ein umständliches Zeremoniell, i n dessen Formen sie petrifizierten. Die verschiedenen „Riten" waren einander feind und lieferten sich blutige Kämpfe. I m übrigen waren sie eifersüchtig auf die Wahrung egoistischer Interessen und Privilegien nicht nur gegenüber den Meistern, sondern ebensosehr den jüngeren Gesellen, Lehrlingen und Neulingen gegenüber, so daß diese sich gezwungen sahen, sich selbst gegen die Älteren zu koalieren — ein typisches Phänomen des Syndikalismus. Bald treten aber modernere Formen des Zusammenschlusses auf, die die compagnonnages an Bedeutung weit überragen: Genossenschaften zur gegenseitigen Unterstützung, Produktionsgemeinschaften (coopératives) 3 5 , und die unter dem Namen „Résistance" zusammengefaßten Koalitionen zum Schutz gegen Lohnsenkungen; letztere kommen den Syndikaten nahe, sind aber, weil verboten, geheim. Diese Verbote 3 6 33 Georges Lefranc, Le Syndicalisme dans le Monde, Paris (Presse Universitaire) 1949, S. 21. 34 Dazu die systematische Darstellung von Götz Briefs, Gewerkschaftswesen und Gewerkschaftspolitik, a.a.O., S. 1108 ff. 35 Sie blieben sämtlich in erfolglosen Versuchen stecken, außer einer: der Association Chrétienne des Bijoux en Doré, die 1834 von einigen Katholiken gegründet wurde und mehrere Jahrzehnte überdauerte. 36 Es handelt sich um das Gesetz Le Chapelier vom 14./17. Juni 1791, das
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machten jede Koalition zu einer „association en mode subversif" 3 7 . Nach diesem „syndicalisme avant la lettre" bedeutete die beschränkte Gewährung des Streikrechts durch das Gesetz vom 25. März 1864 den ersten Schritt i n die Epoche des heroischen Syndikalismus, deren Revolutionäre Georges Sovel später mit Leonidas und seinen Spartanern verglichen hat 3 8 . Der zweite Schritt war die von Napoleon III. gewährte offizielle Toleranz, der sich die Syndikate seit 1868 i m Gegensatz zu dem Buchstaben der weitergeltenden Verbotsgesetze erfreuten. Es war die administrative Sanktion eines tatsächlich bereits bestehenden Zustandes und die faktische Anerkennung durch die Staatsgewalt. Dieser Syndikalismus ist weit entfernt von der romantischen Tradition der compagnonnages; er hat deren religiöse Überlieferung verloren und kennt nicht ihre geheimnisvollen Bindungen. Das allein Verbindende ist das gemeinsame, materielle Interesse, und die Syndikate sind das Mittel, es wirksam zu wahren. Die Franzosen haben die Fähigkeit, den Gehalt einer bestimmten politischen und sozialen Situation i n einer Formel zu kristallklarem Ausdruck zu bringen. A m Anfang der Französischen Revolution steht die berühmte Frage des Sieyès „Was ist der Dritte Stand?" 3 9 . Seine Antwort „Der Dritte Stand ist die Nation" hat die Identität dieser beiden Begriffe und damit die entscheidende Voraussetzung für die liberale, parlamentarische Demokratie des Bürgertums ein für alle Mal gültig formuliert. I n dem Augenblick, i n dem nun der Vierte Stand, das Proletariat, sich seiner selbst bewußt wurde, mußte i h m die A n t w o r t des Sieyès schlechthin zum Ärgernis werden. Der Dritte Stand, die Bürger, sind für den Proletarier die Eigentümer. Die berühmte Frage des Proudhon "Was ist das Eigentum?" hat deshalb Gesetz vom 22. Germinal des Jahres X I und die Artikel 414—416 des Code pénal von 1810. 37 Pierre Joseph Proudhon , De la capacité politique des classes ouvrières, 1865, S. 419. 38 Le Mouvement socialiste, no. 170, S. 56; zit. bei Maxime Leroy , Syndicats et Services publics, Paris (Armand Colin) 1909, S. 136. 39 Emmanuel Sieyès , Qu'est-ce que le Tiers-Etat, als Flugschrift erstmals im Januar 1789 erschienen, dann, ohne wesentliche Veränderungen noch im gleichen Jahre als „édition corrigée" und „troisième édition", erst in dieser Ausgabe mit dem Namen des Abbé. Deutsche Übersetzung von Otto Brandt ist erschienen als Band 9 in der von Friedrich Meinecke und Hermann Oncken herausgegebenen Reihe der Klassiker der Politik, Berlin 1924. Sieyès sagt über den Plan seiner Schrift in der Einleitung: „Wir haben uns drei Fragen vorzulegen: 1. Was ist der Dritte Stand? — Alles. 2. Was ist er bis jetzt in der staatlichen Ordnung gewesen? — Nichts. 3. Was verlangt er? — Etwas darin zu werden." Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Der Dritte Stand ist eine vollständige Nation".
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keinen anderen Inhalt als die Fraige des Sieyès. Es kennzeichnet die Aktualität des Problems, daß die A n t w o r t Proudhons die des Sieyès an Berühmtheit noch übertrifft. Sie lautet: „Eigentum ist Diebstahl" 4 0 . A n dieser Frage und ihrer A n t w o r t fällt zweierlei auf. Erstens: Sie verschiebt das entscheidende K r i t e r i u m vom Politischen ins ökonomische, und zweitens: Sie fragt nicht nach dem eigenen Wesen, sondern nach dem des Gegners, und die A n t w o r t steigert die für das proletarische Bewußtsein charakteristische Unterscheidung seiner selbst vom Bürgertum zu einer moralischen Diskriminierung schlimmster A r t , deren Ungeheuerlichkeit uns durch lange Gewöhnung vielleicht nicht mehr so evident ist wie den Zeitgenossen Proudhons. Das Wesen des Proletariats hat nie eine so klassische A r t i k u l a t i o n erfahren, wie sie das Bürgertum durch Sieyès für sich vollbracht hat. Natürlich stellen sich die großen Theoretiker jener Zeit die Frage: ,Was ist der Vierte Stand?' Aber die Antworten erschöpfen sich in der Aufzählung von Merkmalen und Berufsgruppen und widersprechen einander; es fehlt ihnen jene Evidenz 4 1 . Proudhon weiß: Das Proletariat hat seine „raison d'être dans la bourgeoisie" 42 , und darum steht die Bestimmung dieses Gegners für ihn am Anfang. A n seinem Gegner orientiert sich der französische Syndikalismus als Theorie und als Bewegung organisierter Massen. A n i h m entzündet sich das Solidaritätsgefühl der Arbeiter als Klasse und der Wille zur A u t o n o m i e . Er äußert sich i n ungewöhnlicher Selbstbeschränkung und Disziplin und führt die Klasse i m Gesamtverband der Nation in eine eigenartige Form freiwilliger Isolation. 40 P. — J. (Pierre Joseph) Proudhon, Qu'est-ce que la Propriété? ou Recherches sur le Principe du Droit et le Gouvernement. Proudhon dedizierte die Schrift mit einem Schreiben vorn 30. Juni 1840 der Akademie von Besançon, wo er ein Stipendium genoß. Die Akademie verurteilte das Werk und forderte den Verfasser auf, i m Falle einer zweiten Auflage die Widmung fortzulassen. Die berühmte Antwort auf die i m Titel gestellte Frage, „c'est le vol!" findet sich schon a m Anfang des ersten Kapitels. Später heißt es: Eigentum ist Mord, die Mutter der Tyrannei, die Negation der Gleichheit usw. 41 Proudhon stellt den Kapitalisten, Eigentümern, Unternehmern die „ouvriers, travailleurs, salariés, prolétaires" gegenüber. „Toute notre politique, notre économie politique, notre organisation industrielle, notre histoire, notre littérature, notre société, reposent sur cette distinction que la mauvaise foi et ime sotte hypocrisie paraissent seules nier." Und er definiert: „plébéien, ou prolétaire, tout individu n'ayant pour subsister que son travail". (Correspondance, X I I I , S. 247 ff.; z i t bei Maxime Leroy , Histoire des Idées sociales en France, Bd. I I , 4. Aufl., Paris (Gallimard) 1950, S. 503.)
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a.a.O.
1. Der Syndikalismus
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Der Syndikalismus stand a u ß e r h a l b d e r P o l i t i k . Das war die Voraussetzung für die tolerante Haltung der Regierung i m letzten Jahrzehnt des französischen Kaiserreichs 43 . Es war aber vor allem auch der Wille der Führer des Proletariats. Sie sind zwar nicht die Avantgarde des sich wie ein Lauffeuer ausbreitenden ökonomischen Denkens, aber sie ergreifen seine Kategorien m i t brutalem Ernst und machen sich zu Vollstreckern seiner Imperative. Sie bestimmen ihren Gegner ausschließlich nach ihren Erfahrungen i m Produktionsprozeß, der f ü r sie die einzige Realität ist. Politische Repräsentation bedeutet ihnen nichts. — Die Syndikate wurden als Organisationen geschaffen und geführt, die unabhängig waren von der öffentlichen Gewalt. Sie wehren sich gegen staatliche Reglementierung, wollen aber auch selbst, i m Gegensatz zu ihren deutschen 44 und englischen Kollegen, keinen Einfluß nehmen auf die Bildung des statlichen Willens, wie sie sich i n Gesetzgebung und Verwaltung vollzieht. Man glaubt an die Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Bereichs und bleibt damit i n der Tradition der Auguste Comte , Henri de Saint-Simon und Pierre Joseph Proudhon. Unter dem Einfluß von Jules Guesde w i r d dieser Tradition erst spät, etwa um die Jahrhundertwende, ihr beherrschender Rang von der marxistischen Doktrin streitig gemacht, die i n dem Syndikat vorzüglich ein M i t t e l der Organisation und Agitation, der Beförderung des Klassenbewußtseins sieht, es aber entschieden der Führung der politischen Partei unterwirft; aber noch heute ist die Wirkung jener älteren Lehre nicht ganz erschöpft und prägt sich noch in wesentlichen 43 So ζ. B. Napoleon III. in seiner Rede zu Beginn der Gesetzgebungsperiode 1866; vgl. die bei Maxime Leroy , Syndicats et Services Publics, Paris (Colin) 1909, S. 58 abgedruckten Sätze. 44 August Bebel hatte die meisten Gewerkschaftler auf seiner Seite, als er sich auf dem Parteitag der SPD in Jena 1905 mit den „Anarchosozialisten" auseinandersetzte; vgl. das Protokoll, Berlin 1905, S. 309 f. Der Gewerkschaftsführer Karl Legten wandte sich auf dem Parteitag der SPD in Mannheim 1906 besonders scharf gegen die kleinen anarchistischen Gewerkschaftsgruppen („Lokalisten") und behauptete von den französischen, italienischen und holländischen Gewerkschaften, sie hätten gewerkschaftlich wenig geleistet, und zwar gerade deshalb, weil man dort glaube, i m politischen Massenstreik d a s Kampfmittel gefunden zu haben (Protokoll, Berlin 1906, S. 250 f.). Legten identifiziert hier die gewerkschaftliche Leistung weitgehend mit dem organisatorischen Aufbau, ein Beweis mehr, welche überragende Bedeutung den Organisationsfragen von den deutschen Gewerkschaften beigemessen wurde. I m gleichen Zusammenhang betont Legten, die SPD solle den Gewerkschaften dafür dankbar sein, daß sie die Ausbreitung des antiparlamentarischen Standpunktes unter den deutschen Arbeitern verhindert haben.
Historische Leitbilder und Strukturtypen
Zügen des französischen Gewerkschaftslebens aus. Für den klassischen Syndikalismus w a r es nicht zweifelhaft, daß die Arbeiter als Staatsbürger nichts, i n ihrer Eigenschaft als Faktoren des Produktions Vorgangs aber alles vermögen. So verstand man i n Frankreich den Satz des Reglements der 1864 i n London gegründeten Internationale: „Die Emanzipation der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein." Dieser Syndikalismus steht konsequent „en dehors de la politique". M i t der gleichen Folgerichtigkeit stellt er sich „ e n d e h o r s d e l ' a r g e n t " , er lehnt es ab, sich i n das kapitalistische System zu integrieren und sich seiner Möglichkeiten und Sanktionen zu bedienen. Es hat Syndikate gegeben, die ihren Mitgliedern gegenüber die Verpflichtung eingingen, Streitigkeiten und Beitragsforderungen niemals zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens zu machen 45 . Die Stärke der Syndikate liegt i n ihrer A r m u t . Natürlich kennen sie die große Bedeutung materieller Hilfsmittel und namentlich finanzieller Streikhilfe. A u f dem Kongreß der Eisenarbeiter des Jahres 1903 entspann sich aber eine lebhafte Diskussion u m die beherrschende These, das Kapital könne man nicht m i t Geld besiegen; i h m mit Geld Widerstand leisten zu wollen, hieße das nicht, die T a k t i k der Coopération einschlagen? Opportunitätsgründe, vor allem die ungenügende gewerkschaftliche Erziehung der Arbeiter, halten den Kongreß davon ab, die Streikkassen aufzulösen, aber er betont, daß Geld i m Konfliktsfalle nur eine sekundäre Rolle spielen dürfe 4 6 . Finanzielle und kommerzielle Gesichtspunkte stören und lenken ab, sind schädlich. Darum distanzieren sich die Syndikate von dem Gedanken der Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften und dgl. Sie sammeln, organisieren und erziehen die Arbeiter jedes Berufs und jeder Industrie für den Kampf gegen das ausbeutende Unternehmertum. Das ist aber nach Georges Sorel kein Kampf, um i n bürgerliche Positionen zu gelangen und u m sich m i t bürgerlichen Requisiten auszustaffieren 47 . Das würde heißen, die Revolution ist tot. 45 Maxime Leroy , a.a.O., S. 150, wo er dazu ausführt: „C'est dans la généralisation de cette obligation que se formulera sans doute la véritable doctrine syndicale, parce qu'elle seule aurait pour effet d'étendre le champ de la juridiction syndicale, sans toucher à son autonomie, sans augmenter la responsabilité des travailleurs, qui, synd'icalement entendue, doit rester en dehors de l'argent." Leroy weist gleichzeitig darauf hin, daß derartige Bindungen der Verbände gegenüber ihren Mitgliedern wegen Art. 1006 des Code de Procédure civile nichtig waren: nur in gesetzlich bestimmten Fällen war Streitbeilegung durch Schiedsspruch erlaubt. 48 a.a.O., S. 169; weitere Nachweise ebendort S. 170. 47 L'Avenir socialiste des Syndicats, S. 51 (zit. bei Leroy , a.a.O., S. 168).
1. Der Syndikalismus
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Die Frucht dieser sozialen Revolution soll eine neue Ordnung der Gesellschaft sein. I n ihr w i r d es den Gegensatz Unternehmer — Lohnarbeiter nicht mehr geben und werden die Syndikate, heute noch Instrumente des Klassenkampfes, die maßgeblichen Einrichtungen der Produktion und der Verteilung und somit die Grundlage der Gesellschaftsverfassung sein 4 8 . I m übrigen haben sich die Syndikalisten aber weit weniger Gedanken über die zukünftige Gestaltung der Dinge als über Strategie und Taktik ihres Kampfes gemacht. I n i h m ist keine Partei oder Parlamentsinstanz als M i t t e l zwischengeschaltet, sondern er w i r d gegen die kapitalistischen Ausbeuter unmittelbar geführt. Er hat die Form der „ a c t i o n d i r e c t e " . Dieser explosive Ausdruck verdeutlicht wiederum die syndikale Autonomie und bezeichnet jede spontane oder geplante Manifestation 4 9 . Z u ihren M i t t e l n zählen Boykott, Sabotage und vor allem der Streik. Sie gehören zu dem tagtäglichen Kampf und erziehen zur Revolution, bereiten sie vor. Die Revolution aber steht nahe bevor. „Morgen schon kann die Katastrophe ausbrechen", schrieb am 23. August 1908 Victor Grieffuelhes, jahrelang Generalsekretär der Confédération Générale du Travail, „und heute müssen w i r uns darauf vorbereiten" 5 0 , denn jeder Streik — und das ist die große I n t u i t i o n dieses französischen Syndikalismus — kann sich i n den G e n e r a l s t r e i k auswachsen. Er ist die soziale Revolution schlechthin. Die Lehre vom Generalstreik spielt hier die Rolle eines apokalyptischen Mythus, fast vergleichbar m i t der urchristlichen Vision des Untergangs der heidnischen Welt und der Wiederkunft des Erlösers, i n der Tat eine Säkularisation der christ4S Vgl. Art. 2 der Satzung der 1895 gegründeten Confédération Générale du Travail und die Charte d'Amiens von 1906; bei Lefranc, Le Syndicalisme dans le Monde, S. 28). 49 Emile Pouget, La C. G. T., Paris 1908, S. 36. 60 I n dem Artikel Romantisme Révolutionnaire, erschienen in L'Action directe am 23. A p r i l 1908, abgedruckt in Le Mouvement Socialiste, Ausgabe vom 15. Oktober 1908. A m 24. Juli 1904 hatte Victor Griffuelhes eine authentische Definition der a , c t i o n d i r e c t e gegeben: „L'action directe . . . veut dire action des ouvriers euxmêmes, c'est-à-dire action directement e x e r c é e p a r l e s i n t é r e s s é s . . . Par l'action directe, l'ouvrier crée lui-même sa lutte, c'est lui qui la conduit, décidé à ne pas s'en rapporter à d'autres qu'à lui-même du soin de se libérer . . . la lutte doit être de tous les jours. Son exercice appartient aux intéressés. I l y a par conséquent à nos yeux une pratique journalière qui va chaque jour grandissant jusqu'au moment où, parvenaue à un degré de puissance supérieure, elle se transformera en une conflagration que nous dénommons g r è v e g é n é r a l e et qui sera la révolution sociale" (Sperrungen nicht i m Original; zit. bei Edouard Dolléans , Histoire du Mouvement Ouvrier, Bd. 2, Paris (Colin) 1948, S. 128).
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Kaiser, Repräsentation
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
liehen Eschatologie. D e r große K i r c h e n v a t e r des S y n d i k a l i s m u s
und
I d e o l o g e des G e n e r a l s t r e i k s , Georges Sorel, z i e h t selbst diese P a r a l l e l e 5 1 u n d beschreibt die W i r k u n g e n dieses M y t h u s a u f d i e
Arbeiterschaft
m i t B i l d e r n , d i e a n die u r c h r i s t l i c h e E r w a r t u n g d e r E n d z e i t e r i n n e r n . F ü r i h n s a m m e l t sich d e r ganze G e h a l t des Sozialismus i n d e r Idee vom
Generalstreik.
Sie
ist
das
entscheidende
Kriterium,
das
die
A r b e i t e r k l a s s e v o n d e m ü b r i g e n T e i l d e r Gesellschaft t r e n n t , die K l u f t zwischen diesen b e i d e n L a g e r n , zwischen denen es k e i n e V e r w e c h s l u n g u n d k e i n e V e r s ö h n u n g g i b t . Sie ist d i e „ i d é e m o t r i c e " , d i e
Denken
u n d F ü h l e n des A r b e i t e r s b e h e r r s c h t u n d s e i n e m H o f f e n die G e w i ß h e i t d e r E r f ü l l u n g g i b t . I h r gegenüber h a b e n die p a r t e i p o l i t i s c h e n K o m p r o misse u n d das ganze p a r l a m e n t a r i s c h e R e g i m e k e i n G e w i c h t 5 2 .
Denn
sie g e h ö r e n z u e i n e r anderen, der b ü r g e r l i c h e n W e l t 5 3 . 51
Réflexions sur la Violence, 11. Aufl., Paris (Rivière) 1950, S. 177 f. a.a.O., S. 173 ff. Denn was für den Bürger das Parlament, das sind für den Arbeiter die Syndikate (Sorel, Les Illusions du Progrès, 2. Aufl., Paris (Rivière) 1911, S. 136). Darum wundert es Sorel nicht, daß seine „Réflexions sur la Violence" unverständlich geblieben seien für alle Demokraten und, „en générale, pour toutes les personnes, qui ne comprennent pas les lois de la grandeur et de la décadence" (a.a.O., S. 335). 53 Die Frage, ob und inwiefern Sorel für den französischen Syndikalismus repräsentativ ist, kann hier nicht vertieft werden. Die innerhalb wie außerhalb Frankreichs weitaus herrschende Auffassung hat die Frage bejaht, bis sich die Stimmen berühmter und erfahrener Kenner des Syndikalismus mehrten, die mehr oder weniger deutlich die These vertreten: „Sorel expose sa pensée, non celle de la classe ouvrière"; so vor allem Maxime Leroy , Les Tendances du Pouvoir et de la Liberté en France au X X e Siècle, Paris (Sirey) 1937, S. 88 ff.; vgl. auch Gaétan Pirou, Proudhonisme et Syndicalisme révolutionnaire, Thèse, Paris 1910, S. 403; ders., Georges Sorel, Poitiers 1924, S. 2, wo er bemerkt: „Presque tout son oevre se compose de commentaires, de préfaces, d'analyses". Vgl. auch die ironischen Bemerkungen, die Werner Sombart in seinem Werk „Sozialismus und soziale Bewegung", S. 110, macht über französische und italienische Syndikalisten, wo er ihre reine Wäsche, guten Manieren und eleganten Frauen lobt, oder S. 123, wo er sie als „ganz überfeinerte Geister" und raffinierte Menschen mit Überkultur darstellt, „deren Nerven ganz starke Reize brauchen..." usw. Edouard Berth hat zweifellos recht, wenn er sagt, daß die Réflexions sur la Violence besser durch die Bourgeoisie als durch das Proletariat aufgenommen wurden (Les Méfaits des Intellectuels, 2. Aufl., Paris 1926> S. 13). Aber ebenso wahr ist es, wenn Robert Goetz-Girey zur Idee des Generalstreiks feststellt, daß sie tatsächlich von den militanten, syndikalistischen Praktikern benutzt wurde, um sich von den sozialistischen Parteien zu distanzieren, und daß es hierin zwischen ihnen und Sorel keinen tiefgreifenden Meinungsunterschied gegeben hat. (La Pensée syndicale Française, M i l i tants et Théoriciens, Paris [Armand Colin] 1948, S. 69). Vielleicht der bedeutendste Kopf in der Geschichte des französischen Syndikalismus, Fernand Pelloutier (1867—1901) hat zusammen mit Aristide Briand einen unveröffentlichten Essay „De la Révolution par la grève générale" geschrieben und sich der Idee des Generalstreiks mindestens als eines taktischen Mittels bedient; vgl. Goetz-Girey, a.a.O., S. 39 ff. 52
1. Der Syndikalismus
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„Der Generalstreik ist die absolute Negation des Staates" 54 . Er enthüllt die tiefe Heteronomie von Syndikalismus und nationaler Staatsidee. Dieser Gegensatz ist nicht akzidentell, eine Laune der isolierten, „geschlossenen Gesellschaft" der Arbeiterklasse, die m i t allem bricht, was nicht zu ihr gehört; er ist auch nicht damit erklärt, daß der Staat i n einer Reihe von Industrien selbst als Unternehmer auftritt und dort eigene Kapitalinteressen gegen die Arbeiter wahrnimmt. Es ist auch nicht eine bestimmte Staats- oder Regierungsform, die von den Syndikalisten abgelehnt w i r d ; sie wollen auch nicht nur die historische Mission des Bürgertums nachahmen und den Staat i n einem Gewaltakt wie i n der Revolution von 1789 umgestalten. Man w i l l nicht die Reform, sondern die Vernichtung des Staates, und glaubt an die Fruchtbarkeit der Gewalt. Das Parlament ist für sie nichts anderes als eine bürgerliche Repräsentation; Parlamentarismus ist die Übertragung der kommerziellen Händler- -und Verhandlungspraktiken auf die Ebene der Politik; die Parteien sind Koalitionen m i t dem Ziele, den Staatsapparat eigenen Interessen dienstbar zu machen, und darum „associations politico-criminelles" 5 5 . Der Staat, der seinen Truppen auf streikende Arbeiter zu schießen befahl, ist nur der politische „ A r m " des Unternehmertums, wie er i m Mittelalter der „weltliche A r m " der Kirche war. Nation, Parlament, M i l i t ä r verfallen darum dem Verdikt. Der Syndikalismus ist antipatriotisch 5 6 , er nimmt seit Proudhon die Form des a n a r c h i s c h e n Syndikalismus an und macht sich die berserkerhaften Angriffe Michael Bakunins auf den Staat zu eigen 57 . I n D e u t s c h l a n d ist die große Bedeutung Sorels erstmals durch Carl Schmitt voll gewürdigt worden; vgl. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München, Leipzig 1926, S. 78 ff., wo (S. 78, Anm. 2) eine bezeichnende Feststellung von Wyndham Lewis zustimmend zitiert wird: „Georges Sorel is the key to all contemporary political thought" (The art of being ruled, London [Chatto & Windus] 1926, S. 128.) I m übrigen läßt man dem Phänomen Sorel kaum Gerechtigkeit widerfahren, wenn man über der Frage des „Erfolgswertes" seiner Ideen ihren „Gesinnungswert" völlig übersieht — eine Unterscheidung, die Max Weber gerade an dem Beispiel des Syndikalismus expliziert hat (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., Tübingen 1951, S. 500 f.). 54 Edouard Berth , a.a.O., S. 212. Für Sorel ist er etwas völlig anderes als der Sieg einer Partei; er ist „l'émancipation des producteurs débarassés de toute politique (L'Avenir social des Syndicats, 1898; zit. bel Leroy , Les Tendances du Pouvoir et de la Liberté en France au X X e Siècle, S. 91). 65 Georges Sorel, Réflexions sur la Violence, S. 297. 56 „ . . . pour les ouvriers révolutionnaires l'antipatriotisme apparaisse inséparable du syndicalisme" (Sorel, a.a.O., S. 281 Anm.). 57 Maxime Leroy hat auf den Antitheismus Proudhons und Bakunins als die Grundlage dieses Anarchismus hingewiesen. Es ist Gott, den Bakunin im Staat und in seinen Repräsentanten verfolgt (Histoire des Idées sociales 4*
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
Die Commune, die i m Frühjahr 1871 Paris beherrscht hat, war ein Aufstand gegen den Staat, ein Ausbruch des Anarchismus 5 8 . Dieses Ereignis und seine blutige Unterdrückung hatten für den französischen Syndikalismus den Wert einer ungewöhnlichen geschichtlichen Erfahrung und den Rang eines unvergeßlichen Symbols, das nicht nur seine Entwicklung bestimmte, sondern auch die Haltung der französischen Öffentlichkeit und ihrer politischen Repräsentation zum Phänomen des Syndikalismus beeinflußt hat. So sehr die Syndikate ihre exklusive Autonomie — en dehors de la politique — zu hüten suchten, so wenig zweifelhaft war der politische Charakter ihrer Berufsinteressen, seitdem sie sich gegen die bestehende politische und rechtliche Ordnimg auflehnten. Wie i n England und Deutschland waren auch i n Frankreich Regierimg und Parlament bemüht, die Gewerkschaftsbewegung a u s d e m Z u s t a n d d e r I s o l i e r u n g u n d I l l e g a l i t ä t h e r a u s z u f ü h r e n und i n das Gleichgewichtssystem der parlamentarischen Demokratie und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung einzubauen. Schon 1875 hatte Léon Gambetta die Allianz von Bourgeoisie und Proletariat gegen Monarchie und Kirche gefordert 59 . Das Gesetz vom 21. März 1884 brachte die Koalitionsfreiheit, die aber durch derartige Bedingungen eingeschränkt w a r 0 0 , daß Maxime Leroy zutreffend von ihnen sagt, der Staat wolle zwar nicht mehr die Syndikate unterdrücken, sie aber statt dessen reglementieren 61 . Das Gesetz w i r f t volles Licht auf den Kontrast zwischen individueller und Koalitionsfreiheit und verkennt, daß für das Proletariat nur die kollektiv gesicherte Freiheit effektiven Wert hat. Die weitergeltenden Strafbestimmungen 62 lassen aber nicht zu, daß die individuelle, sog. Freiheit der Arbeit durch die Koalition en France, Bd. I I , De Babeuf à Tocqueville, 4. Aufl., Paris (Gallimard) 1950, S. 501). 58 Es ist hier nicht der Ort, das im einzelnen zu belegen. Schon ihre Zusammensetzung ist bemerkenswert; die Internationale war stark in ihr vertreten, darunter der Deutsche Leo Franckel als maßgebliches Mitglied. Bakunin sah in ihr eine „négation audacieuse, bien prononcée, de L'Etat" (La Commune de Paris et la Notion de l'Etat, Les Temps nouveaux, Paris 1899, S. 23). 59 Maxime Leroy , Syndicats et Services Publics, S. 114. 60 U. a. Vorlage der Satzung, Anzeige der Namen ihrer Chefs und Beschränkung des Erwerbs von Grundbesitz. Man erkennt dieselbe Furcht vor einer „Toten Hand" der Gewerkschaften, die zu den Amortisationsgesetzen gegen den kirchl. Besitz geführt hatte. 61 a.a.O., S. 114. 62 „„Nonobstant toutes clauses contraires" Art. 7 des Gesetzes von 1884.
1. Der Syndikalismus
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beeinträchtigt w i r d 6 3 , obwohl es gerade das Wesen der Syndikate ausmacht, daß die Mitglieder zugunsten der kollektiven A k t i o n einen Teil ihrer Handlungsfreiheit opfern und das Syndikat diesen Teil absorbiert. Es wundert uns deshalb nicht, daß die Syndikate das Gesetz verurteilen, sich darüber hinwegsetzen und der bürgerlichen Antithese Koalitionsfreiheit — Freiheit der Arbeit die ihre: Bürgert u m — Proletariat entgegenstellen 64 . Auch ein weiterer, sehr charakteristischer Versuch des herrschenden Regimes i n der bezeichneten Richtung stieß auf entschiedene Ablehnung. Ein Gesetzentwurf aus dem Jahre 1899, der 1906 wieder aufgenommen wurde, wollte den Syndikaten die „capacité commerciale" zugestehen: die unbeschränkte Fähigkeit, Eigentum zu erwerben, Handel zu treiben -und sonstige w i r t schaftliche Funktionen auszuüben. Die noch 1884 wirksame Furcht vor einer gewerkschaftlichen „Toten Hand" hatte hier zurücktreten müssen, vor dem Versuch, die Syndikate auf ökonomischem Wege systemgerecht zu machen: ihnen die Macht und die Verantwortung, die Besitz und Eigentum i n der bürgerlichen Ordnung verleiht, anzubieten. Das war eine echte Chance, w i e man nachträglich i m Blick auf die großen Besitztümer bestehender Gewerkschaften sagen darf. Die französischen Syndikalisten aber protestierten und entschieden sich für ihre Position „en dehors de l'argent". Ihre Macht beruhte ausschließlich auf der Arbeitersolidarität und schöpfte aus dieser kontradiktorischen Stellung die gefürchtete revolutionäre Gewalt. Sie sollte nicht denaturiert werden durch den Erwerb von Geldmitteln und Immobilien, durch die Verwischung des Interessengegensatzes von Kapital und Arbeit und die Notwendigkeit, die fähigsten und aktivsten Gewerkschaftsführer in den Posten von Direktoren und Wirtschaftsführern zu verbrauchen. Die Franzosen haben m i t den belgischen, spanischen, italienischen und welsch-schweizerischen Anhängern ihrer Konzeption des Syndikalismus immer wieder versucht, die I n t e r n a t i o n a l e für die Idee des Generalstreiks, des Antimilitarismus und Antiparlamentarismus zu gewinnen. Sie stießen dabei stets auf den Widerstand der deutschen Gewerkschaftskonzeption, die i n den nordischen Ländern, den Niederlanden, der deutschen Schweiz, in Österreich und auf dem 63 „Das Recht eines einzigen Arbeiters, der arbeiten will, ist gleichwertig dem Recht aller andern, die die Arbeit aufgeben wollen . . . eine Wahrheit, auf der die gesamte Organisation der Gesellschaft beruht, wie sie aus der Revolution von 1789 hervorgegangen ist"; René Waldeck-Rousseau in Le Temps, 20. 11. 1905, zit. bei Leroy , a.a.O., S. 122. ®4 Einzelheiten bei Edouard Dolléans, Histoire du Mouvement ouvrier, Bd. I I , S. 25 ff.
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Balkan vorherrschend war, und konnten sich ihr gegenüber als M i n derheit nicht durchsetzen. Die deutschen Gewerkschaften hatten den Aufbau zahlreicher ausländischer Gewerkschaften, namentlich auf dem Balkan, durch finanzielle Hilfe unterstützt; der Einfluß, den sie vor 1914 i n der Internationale besaßen, zeigte sich u. a. darin, daß von 28 internationalen Fachzentralen (der Bergarbeiter, Textilarbeiter, Eisenbahner usw.) 24 ihren Sitz i n Deutschland hatten 6 5 . Die Jahre vor dem ersten Weltkrieg erlebten bereits die Z e r s e t z u n g und A u f l ö s u n g der französischen Konzeption, dieses reinsten und darum klassischen Syndikalismus. Die Hoffnungen, die auf den Generalstreik gesetzt waren, erfüllten sich nicht. Sorel brach 1908 m i t der Bewegung, die sich teils i n die Sackgasse des alten und fruchtlosen Anarchismus verlor, i n ihrem weit größeren und konstruktiven Teil aber i n den politischen Sozialismus einging. So konnte selbst diese starke und m i t imponierender Konsequenz e i n s e i t i g ö k o n o m i s c h e Bewegung, die m i t bestem französischen Geist begabt war, d e m S c h i c k s a l d e s P o l i t i s c h e n n i c h t e n t gehen. 2. Die ständisdi-korporative 1 Idee Die Korporationen vereinen, was die Syndikate trennen. A u f die Bildung der Arbeitersyndikate folgte die Replik der Unternehmersyndikate, die zwar nicht überall unter diesem Namen figurieren, sich von ersteren aber nicht i n ihrer A r t unterscheiden. Beide, Unternehmer und Arbeiter desselben Berufes oder derselben Industrie, sind i n der Korporation vereint. Das ist eine gute Faustregel, die sich ein großer Teil der einschlägigen Literatur zu eigen macht 2 . Sie ist i n der Tat die präzise Definition 65 Georges Lefranc, Le Syndicalisme dans le Monde, S. 37. — Zur Frage des Anarchismus in Spanien und Italien vgl. auch die Dokumentation bei Renée Lamberet, L'Espagne (1750—1936), bes. S. 68 ff., und Alfonso Leonetti, L'Italie (Des origines à 1922), in der Sammlung Mouvements Ouvriers et Socialistes (Chronologie et Bibliographie), Paris (Editions Ouvrières) 1953 bzw. 1952. 1 Die Termini „ständisch" und „korporativ" werden i m Schrifttum teilweise unterschieden, teilweise synonym gebraucht. Wie sich aus dem folgenden ergibt, legen wir hier bei „ständisch" den Akzent auf die Spontaneität gewachsener gesellschaftlicher Gebilde, während „korporativ" auf ihre organisatorische Form abhebt, die oft autoritär durch staatlichen Eingriff kreiert ist. 2 Statt anderer seien genannt: Maurice Bouvier- A jam, La Doctrine corporative, Paris (Sirey und Institut d'Etudes Corporatives et sociales) 1943, S. 86 ff.; Robert Goetz-Girey, La Pensée syndicale Française, Paris (Armand
2. Die ständisch-korporative Idee
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einer strikt durchgeführten korporativen Staatsordnung, wie sie heute beispielsweise noch i n Portugal existiert, und leistet auch darüberhinaus vorzügliche Dienste. Sie rechtfertigt aber nicht, von Korporativismus als einer bestimmten Bewegung oder einem klar umreißbaren gedanklichen System zu sprechen 3 , wie es eine Bewegung und eine Theorie des Syndikalismus gibt, und es wäre eine unzulässige Vereinfachung, beide Komplexe i m Sinne jener Hegel durchgehend konfrontieren zu wollen. Davor sollte schon der Umstand behüten, daß Name u n d Begriff der Korporation ein sehr viel höheres A l t e r haben und i n sehr verschiedenartigen geschichtlichen Situationen und Ordnungen auftreten. Trotzdem halten w i r es für berechtigt, von einer korporativen Idee zu sprechen, die sich unter allen Formen zeitbedingter Realisationen i n ihrem kategorialen Sinngehalt gleichgeblieben ist. Sie ist ein unverwechselbares Prinzip gesellschaftlicher und politischer Gliederung, das, um eine erste Unterscheidung zu gewinnen, die f u n k t i o n a l e Struktur einer Gesellschaft oder einer Nation bestimmt und als solches zu dem regionalen Gliederungsprinzip i m Gegensatz steht. I n einem sehr allgemeinen Sinn sind Korporationen der organisatorische Ausdruck von Funktionen innerhalb eines sozialen und politischen Ganzen. M i t der Veränderung und dem Wechsel der Funktionen, Funktionsweisen und Funktionsträger i m geschichtlichen Ablauf wandeln sich auch Gehalt und Gestalt der korporativen Gebilde. So erklärt sich die Vielfalt der Formen, der w i r auf diesem Gebiet begegnen. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion werden die sozialen Gruppen herkömmlich S t a n d 4 genannt. Der damit bezeichnete Sachverhalt Colin) 1948, S. 9; José Joaquim Teixeira Ribeiro, Liçôes de Direito Corporativo, I, Introduçâo, Coimbra (Coimbra Editora) 1938, S. 81 f.; ders., Ο Destino do Corporativismo, Comunicaçâo enviada ao „ X V I I I Congresso Luso-Espanol para ο Progresso das Ciências" (Cordova, 3 a 10 de Outubro de 1944), Separata da Revista de Direito e de Estudos Sociais, Bd. I, Coimbra 1945, S. 4. s Eine andere Auffassung hat sich in zahlreichen französischen, italienischen und anderen romanischen Publikationen über „Corporatisme" und „Doctrine corporative" niedergeschlagen, aus deren kaum noch übersehbarer Fülle in den folgenden Anmerkungen einzelne repräsentative Werke genannt werden. M a n sollte jedoch nicht von „Korporativismus" sprechen, ohne sich stets zu vergegenwärtigen, daß der Bereich des Korporativen zu vielgestaltige und disparate Elemente enthält — man denke nur an die ständestaatlichen und genossenschaftlichen Theorien —, als daß man von e i n e r korporativen Doktrin sprechen könnte. 4 Vgl. zum folgenden: M a x Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, 2. Aufl. 1921, S. 101, 548 f., 590 f ; Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. I I , 2. Aufl. 1917, S. 1091 ff.; Othmar Spann, Der wahre Staat, Leipzig 1921, namentlich S. 197 ff.; ders., Artikel Klasse
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ist äußerst vielschichtig und komplex und enthält religiöse, ethische, das Gefühl ansprechende, wirtschaftliche und politische Momente. Er w i r d i n der Regel als gewachsene Ordnung und Lebensgemeinschaft beschrieben, die sich einem höheren Gemeinwesen „organisch" einund unterordnet. Der Gegenbegriff ist die K l a s s e . Sie ist keine Gemeinschaft i m engeren Sinn, sondern eine Vielheit von Menschen mit den gleichen, eindeutig ökonomischen Interessen, letzten Endes Erwerbs· und Besitzinteressen, die unter den Bedingungen des Arbeitsund Gütermarktes stehen. I m Gegensatz zum Stand ist die Klasse nach jener Auffassung dem höheren Ganzen „mechanisch" eingefügt. Othmar Spann bringt diesen Gegensatz vereinfachend auf folgende Formel: Die handelnde Gruppe heißt, isoliert gesehen, Klasse, i n ihrem Organcharakter betrachtet, Stand; Klasse ist der individualistische und marxistische Gruppierungsbegriff; Stand ist der universalistische Begriff, für den jedes Gruppenhandeln der Ausdruck eines hinter ihm stehenden geistigen Ganzen, des Gesamthandelns der Gesellschaft oder der Nation, ist, dem es sich gliedhaft einordnet 5 . Aus dieser Formulierung darf jedoch nicht geschlossen werden, der Unterschied zwischen Klasse und Stand gründe sich nur auf die Verschiedenheit zweier wissenschaftlicher oder ideologischer Standpunkte. Beide Gruppen sind vielmehr i n verschiedenen Daseinsbereichen beheimatet. Die Klassen sind ausschließlich ökonomisch determiniert; Klassenlage ist letztlich Marktlage 6 . Stände können sich dagegen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Gliederungen und Funktionen ergeben: Die Unterscheidung von Männern und Frauen führt zu dem Begriff der N a t u r s t ä n d e ; uralt ist die Trennung i n F r e i e und U n f r e i e . Ebenfalls seit Jahrtausenden kennt man den priesterlichen L e h r s t a n d , den adeligen W e h r s t a n d und den Bürger und Bauern umfassenden N ä h r s t a n d . Man weiß von G e b u r t s s t ä n d e n und H e r r s c h a f t s s t ä n d e n . Die mittelalterliche Feudalordnung ruhte auf den drei Ständen des A d e l s , des K l e r u s und des B ü r g e r t u m s , das als D r i t t e r S t a n d diese Ordnung i n der Französischen Revolution gestürzt und die parlamentarische Demokratie geschaffen hat. I m Anschluß daran ist die Arbeiterschaft zuweilen als V i e r t e r S t a n d , die Gruppe der i h r i n dem Zuschnitt ihrer Lebensführung und Stand im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. V, Jena 1923, S. 692 ff.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 3. Aufl., Tübingen 1947, S. 179 f., 631 ff. 5 Klasse und Stand, a.a.O., S. 696. 0 Max Weber, a.a.O., S. 632.
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2. Die ständisch-korporative Idee
noch u n t e r l e g e n e n S o z i a l r e n t n e r u n d n e u e r d i n g s t e i l w e i s e d e r H e i m a t vertriebenen
als F ü n f t e r
Stand
bezeichnet w o r d e n .
Will
man
schließlich m i t O t h m a r S p a n n d e n S t a n d als h a n d e l n d e G r u p p e definieren,
so h a t m a n i n e r s t e r L i n i e a n d i e B e r u f s s t ä n d e
wie den
R i c h t e r - , Ä r z t e - u n d A r b e i t e r s t a n d z u d e n k e n . M a n k a n n dieser G r u p p i e r u n g auch d i e h e r g e b r a c h t e E i n t e i l u n g i n d i e verschiedenen A r t e n der b e r u f l i c h e n
Facharbeit
(Tischler, F e i n m e c h a n i k e r ,
Stenotypistin-
n e n usw.) z u g r u n d e legen, z i e h t es h e u t e aber h ä u f i g v o r , sie i m S i n n e von Leistungsgemeinschaften (Landwirtschaft, H a n d w e r k , Holzindustrie usw.) z u v e r s t e h e n , i n d e n e n verschiedene F a c h b e r u f e i h r e n B e i t r a g z u m W e r k einer gemeinsamen P r o d u k t i o n leisten7. D i e A u f z ä h l u n g l ä ß t e r k e n n e n , w i e s e h r auch ständische G l i e d e r u n gen d u r c h w i r t s c h a f t l i c h e diese m a c h e n n i c h t
Gegebenheiten bedingt sein können;
das W e s e n des Standes aus. W a s i h n v o n
K l a s s e unterscheidet, i s t d i e ständische Sonderschätzung, die d i e e r k o l l e k t i v f ü r sich i n A n s p r u c h n i m m t u n d d i e i h m
aber der
Ehre, erwiesen
w i r d u n d die d i e Z u g e h ö r i g k e i t z u e i n e m S t a n d e seinen G l i e d e r n v e r l e i h t 8 . D a m i t u n t r e n n b a r v e r b u n d e n , w e n n n i c h t vorausgesetzt,
sind
7 Dieser Revision des berufsständischen Gedankens liegt dieselbe w i r t schaftliche Entwicklung zugrunde, die die Gewerkschaften schon seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts veranlaßt hat, sich außer in Berufsverbänden auch in Industrieverbänden zu organisieren und den letzteren wachsendes Gewicht beizumessen (darüber Theodor Cassau, Die Gewerkschaftsbewegung, S. 88 ff.). Aus dieser modernen Betriebsgestaltung zieht Maurice Bouvier-Ajam interessante Folgerungen für die ständischen Organisationen, indem er beispielsweise für die Tischler einer Automobilfabrik ein syndicat de spécialité vorsieht, das ausschließlich ihren besonderen Interessen dient und deshalb mit einer ständischen Korporation der Autoindustrie, in der jene Tischler außerdem Mitglied sind, nicht konkurriert (La Doctrine corporative, S. 312 f.). Zu dem gleichen Problem hat die päpstliche Enzyklika „Quadragesimo anno" vom 15. 5. 1931 unter Berufung auf die Enzyklika „Rerum novarum" vom 15. 5. 1891 in der Weise Stellung genommen, daß sie innerhalb der Korporationen wie auch über ihren Rahmen hinaus die Vereinsfreiheit gewahrt wissen will. 8 „Die sittliche Gesinnung in diesem System ist daher die R e c h t s c h a f f e n h e i t und die S t a n d e s e h r e , sich, und zwar aus eigener Bestimmung durch seine Tätigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit zum Gliede eines der Momente der bürgerlichen Gesellschaft zu machen und als solches zu erhalten, und nur durch diese Vermittlung mit dem Allgemeinen für sich zu sorgen, sowie dadurch in seiner Vorstellung und der Vorstellung anderer a n e r k a n n t zu sein. — Die M o r a l i t ä t hat ihre eigentümliche Stellung in dieser Sphäre..."; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 207. Nach Messner (a.a.O., S. 14) ist die Standesehre das höchste unter den Gütern des ständischen Gemeinwohls. Gegen M a x Weber und Spann macht er geltend, daß die Ehre aller Stände gleich sei und es deshalb keine Ständehierarchie gebe; ebenso Mihail Manoilesco, Le siècle du corporatisme, Doctrine du corporatisme intégral et pur, nouv. éd., Paris (Alcan) 1938, S. 210 ff.
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ausgeprägtes Selbstbewußtsein und Selbstgefühl der Standesgenossen, ein Empfinden für die Bedeutung des Standes i m Rahmen der Gesellschaft und der Nation, seine Leistung und seinen Wert, seine wie immer gearteten Rechte und seine Verantwortimg. Hinzu kommen häufig politische oder hierokratische Herrschafts- und Gewaltausübung, ständische Monopole und Privilegien, Abstammungs- oder Berufsprestige, ständische Erziehung, Ausbildung und Lebensführung. Zusammenfassend läßt sich dieser A r t von ständischer Gemeinschaft auf Seiten der Klasse die Klassensolidarität, läßt sich der ständischen E h r e das Klassen i n t e r e s s e entgegenstellen. Gewerkschaften, Trade Unions und Syndikate sind Organisationen der Arbeiterklasse, und die teilweise ebenfalls als Syndikate bezeichneten Organisationen der Unternehmer und Arbeitgeber sind desgleichen Organisationen eben dieser Klasse, sämtlich orientiert an den ökonomischen Interessen der Mitglieder. Klasse und Syndikalismus sind deshalb einander zugeordnete Begriffe. Die Klasse ist das Substrat der Syndikate. Man kann nicht m i t der gleichen Bestimmtheit sagen, daß die Stände das Substrat der korporativen Organisation seien. Das lehrt schon eine einfache und alltägliche Beobachtung: Die tiefgreifenden Umwälzungen und Nivellierungen unserer Zeit haben die überlieferten ständischen Ordnungen bis auf wenige Ausnahmen wie den Richterstand und den Stand ehemaliger Soldaten, i m übrigen aber bis auf Rudimente zerstört und behindern das Wachstum neuer ständischer Gemeinschaften — dieses Wort in seiner hergebrachten Bedeutimg verstanden, d. h. i m Sinne von Max Scheler, Max Weber, Werner Sombart, Othmar Spann und Ferdinand Tönnies, u m nur diese zu nennen. Nichtsdestoweniger ist gerade in unserer Zeit i n fast allen Ländern eine Tendenz zu korporativen Gestaltungen unverkennbar 9 , die, wie sich zeigen wird, schon i n zahlreichen Institutionen greifbaren Ausdruck gefunden hat. Das ist um so erstaunlicher, als die faschistischen oder nationalsozialistischen Realisationen der korpora9 F ü r Frankreich bezeugten dieses schon Maxime Leroy in seinem Buch Les Tendances du Pouvoir et de la Liberté en France au X X e Siècle, 1937; Georges Scelle , Principes du Droit Public, Paris (Les Cours de droit) 1939/40, S. 421, und, mit rücksichtsvoller Reserve im Ausdruck, Georges Lasserre, Histoire du Syndicalisme ouvrier, 2ème partie, Paris (Les Cours de Droit) 1949/50, S. 180. Aus der neutralen Perspektive Portugals hat José Joaquim Teixeira Ribeiro angesichts des Zerfalls des korporativen Systems in Italien schon 1944 die Frage nach der Gegenwartsbedeutung des korporativen Staatsaufbaus gestellt und ohne Einschränkung bejaht (O Destino do Corporativismo, a.a.O., S. 3 und 11).
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tiven Staatsidee durch die i m zweiten Weltkrieg besiegten totalitären Regimes dieses Prinzip der politischen Organisation zunächst diskreditiert und außer Mode gebracht hatten. Aber die politischen und w i r t schaftlichen Bedürfnisse der Zeit und der i n ihrer Gleichartigkeit und Gleichzeitigkeit sich manifestierende objektive Geist sind stärker als alle ideologische und propagandistische Diskriminierung. Das ständische Element kommt i n einem korporativen Regime in dem Maße zur Geltung, wie dieses auf S p o n t a n e i t ä t beruht und „von unten", aus den ständischen Gemeinschaften seine tragenden Kräfte und gestaltenden Impulse empfängt; es t r i t t i n dem Maße zurück, wie Korporationen von der Staatsführung a u t o r i t ä r oktroyiert sind und i n ihrer A k t i v i t ä t fortlaufend reglementiert werden. Diese Unterscheidung zwischen ständischem (spontanem) und autoritärem Korporativsystem, zwischen der „corporation d'association" und der „Corporation d'Etat" ist erst jungen Datums. Die Lehre von der berufsständischen Ordnung, die i n der deutschen Staatslehre über eine alte und reiche Tradition verfügt 1 0 , konnte ihrer entraten, da sie gerade für die Selbstorganisation der i n Stände gegliederten Gesellschaft eintrat, eine Konzeption, die dem Gedanken eines Korporationsoktroy widerspricht. Das gilt auch für die überlieferte katholische Gesellschaftslehre 11 , die i n der vielberufenen Enzyklika „Quadragesimo anno" Papst Pius' X I . vom 15. M a i 1931 ein allgemeines Grundsatzprogramm der berufsständischen Ordnung besitzt. Die Enzyklika w i l l „aus der Auseinandersetzung zwischen den Klassen zur einträchtigen Zusammenarbeit der Stände (ordines) emporführen" 1 2 , „denen man 10 Sie ist unter dem Gesichtspunkt der berufsständischen Vertretung von Heinrich Herrfahrdt eindrucksvoll dargestellt worden in dem Werk „Probleme der berufsständischen Vertretung von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart", Stuttgart und Berlin 1921; vgl. auch Herrfahrdt, Grundfragen der Wirtschaftsvertretung, in Recht und Wirtschaft, Bd. X , 1921, S. 107 ff.; Heinz Brauweiler, Berufsstand und Staat, Betrachtungen über eine neuständische Verfassung des Deutschen Staates, Berlin 1925; Walter Heinrich, Das Ständewesen, 1932; Edgar Tatarin-Tarnheyden, Die Berufsstände, Berlin 1922; ders., Berufsverbände und Wirtschaftsdemokratie, 1930. 11 Gemäß dem S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p soll der Staat das Recht der kleinen Lebenskreise anerkennen und sich auf Aufgaben beschränken, die von ihnen nicht erfüllt werden können (Enzyklika Quadragesimo anno, Ziff. 79). Es ist auch auf protestantischer Seite vertreten worden, wenn auch meist nicht unter diesem Namen. Vgl. statt anderer Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch, Hamburg 1946, S. 186 ff., wo von „Lebensgruppen" die Rede ist (zu ihnen werden Familien, Schule, Kirche, Kunst und Sport gerechnet), die den „pressure groups" entgegengestellt werden. 12 Quadragesimo anno, Ziff. 81. Diese christliche Lehre von der berufsständischen Ordnung leidet teilweise an den Mängeln ihrer literarischen Vertretung. Aus einem umfangreichen Schrifttum ragen folgende Werke
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nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen F u n k t i o n des Einzelnen angehört". Berufsstände sollen die gegebene Leistungsverbundenheit und Interessengemeinschaft a l l derer, die an der gleichen Leistung, Erzeugung von Sachgütern oder Darbietung von Dienstleistungen, beteiligt sind, körperschaftlich verwirklichen. Sie sollen so die zwischen diesen Leistungsverbundenen bestehenden Interessengegensätze überwölben, namentlich den Antagonismus von Kapital und Arbeit, deren Organisationen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, sich nach der Enzyklika heute schon als die Wegbereiter einer künftigen berufsständischen Ordnung betrachten und nach Kräften auch betätigen sollen (Ziff. 87). Das eigengesetzliche Wachstum der Stände und Korporationen ist auch die Grundidee dieser Enzyklika. Die juristische Untersuchung der konkreten Wege und Möglichkeiten der Verwirklichung ihres Sozialprogramms w i r d jedoch immer zu dem Ergebnis führen, daß zur rechtlichen Organisation der ständischen Körperschaften stets der Gesetzgeber bemüht werden muß. Die Formulierung der Enzyklika „socialis corporis membra bene instructa constitui" schließt auch einen interventionistischen Gründungsakt des Staates nicht aus. Aber schon Adolf Julius Merkl hat es i n seiner Studie über die Enzyklika 1 3 zur Gewißheit erhoben, daß ein korporatives System zu keinem Zeitpunkt auf eine den berufsständischen Körperschaften übergeordnete (staatliche) Autorität und durch sie gesetzte, heteronome Normativbestimmungen verzichten kann, obwohl jenes „bedeutendste staatspolitische Bekenntnis dieses Jahrhunderts" 1 4 i n Übereinstimmung m i t dem gehervor: Franz Xaver Arnold, Zur christlichen Lösung der sozialen Frage, 2. Aufl., Stuttgart 1949; Adolf Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika „Quadragesimo anno", Zeitschr. f. öffentl. Recht, X I V , 1934, S, 208 ff. Johannes Messner, Die berufsständische Ordnung, Innsbruck-Wien-München 1936; O. v. Nell-Breuning, Die soziale Enzyklika, 2. Aufl., 1932; Berufsständische Ordnung und Monopolismus, Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 3 (1950), S. 211 ff.; W. Schwer, Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters, 1934; Josef van der Velden, Die berufsständische Ordnung, Idee und praktische Möglichkeiten, Köln 1932. Aus der älteren Literatur sind zu nennen: Wilhelm v. Ketteier, Die großen sozialen Fragen der Gegenwart, Mainz 1849; Konstantin Frantz, Naturlehre des Staates, Heidelberg 1870; Der Förderalismus als leitendes Prinzip für die soziale staatliche und internationale Organisation, Mainz 1879; Max Scheler, Die christliche Gemeinschaftsidee, Hochland Bd. X I V , I, 1916/17, S. 643 ff. 13 a.a.O., S. 212, 220, 233 und passim. 14 Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1935, S. I V .
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samten deutschrechtlichen Schrifttum zur berufsständischen Ordnung zweifellos der spontanen, gesellschaftlichen Schöpfung und der ständischen Autonomie vor einer mehr oder weniger autoritären Lösung den Vorzug gibt. Das Ergebnis jener juristischen Analyse w i r d durch die geschichtliche Erfahrung erhärtet. A l l e korporativen Systeme der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts standen oder stehen unter autoritärem Regime; dabei ist es gleichgültig, ob sie unter faschistischem, nationalsozialistischem oder kommunistischem Vorzeichen entstanden — wie i n I t a l i e n , D e u t s c h l a n d und i n dem J u g o s l a w i e n Marschall Titos —, ob sich ihre Schöpfer die päpstliche Enzyklika zum Vorbild nahmen — Engelbert Dollfuss i n Ö s t e r r e i c h , Antonio de Oliveira Salazar i n P o r t u g a l und General Francisco Franco i n S p a n i e n —, oder ob sich die Entwicklung zum korporativen Staat i n F r a n k r e i c h unter dem Regime des Marschall Henri Philippe Pétain auf der Grundlage und i n Fortführung einer namentlich i n den 30er Jahren weitverbreiteten französischen Theorie und Gesetzgebimg vollzog. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte und die Ideologien dieser verschiedenen korporativen Kreationen darzustellen. Soweit es sich u m noch lebende Institutionen handelt, werden w i r i n dem IV. Teil dieser Studie auf sie zurückkommen. Hier sollen, mangels einer umfassenden und präzisen korporativen D o k t r i n 1 5 , lediglich die typischen Leitbilder und Strukturelemente skizziert werden, i n denen das Wesen der korporativen Idee i n Erscheinung tritt. Alle korporativen Organisationen und Einrichtungen vereinigen i n sich die verschiedenen i n einem bestimmten Beruf oder einer bestimmten I n dustrie tätigen Schichten. I h r Hauptzweck ist es, die Solidarität zwischen den jenen Schichten jeweils· eigenen Interessen darzustellen, vor allem den Antagonismus der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzuheben und so die Klassenkampfsituation zu überwinden. Darin liegt die Richtigkeit der eingangs angeführten Faustregel, daß die Korporationen verbinden, was die Syndikate trennen und isolieren. Korporationen können deshalb aus verschiedenen Syndikaten bestehen, die als konstituierende 15
Dieser Mangel wird höchstens aus propagandistischen Gründen verschleiert, in dem wissenschaftlichen Schrifttum aber einhellig hervorgehoben. Vgl. statt anderer Georges Scelle, Principes de Droit Public, 1939/40, S. 432; Georges Lasserre, Histoire du Syndicalisme Ouvrier, 1949/50, S. 180. Die umfangreichsten Arbeiten an einer korporativen Doktrin sind in Italien geleistet worden. Sie heben die Rolle des Staates nachdrücklich hervor und haben zuweilen einen pragmatischen Einschlag.
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
Elemente i n sie eingegangen sind und damit ihren Charakter als Kampfverbände antagonistischer Klassen aufgeben. Damit ist nicht nur an den Dualismus von Kapital und Arbeit zu denken; Korporationen können i n zahlreiche Untergliederungen zerfallen — Verbände der Manager, Ingenieure, Werkmeister usw. —, die sich Syndikate, Sektionen, Fachgruppen oder sonstwie nennen und i m Rahmen der Korporation ein gewisses Eigenleben entfalten können. Selbst die Enzyklika empfiehlt, u m der Gerechtigkeit willen den Sonderinteressen dieser Gruppen die Möglichkeit einzuräumen, sich wirksam zur Geltung zu bringen 1 6 . Der Interessenausgleich innerhalb der Korporation erfolgt i m Wege der Verhandlung, Vermittlung und Streitschlichtung, für die paritätisch besetzte Organe m i t Rekursmöglichkeit an eine höhere, m i t Entscheidungsgewalt ausgestattete Stelle bestehen. Hier müssen sich die Vertreter der widerstreitenden Interessen i n der Regel einem neutralen D r i t t e n unterordnen. Das ist der Sinn des Streites u m den sog. „dritten Mann" i n paritätischen Einrichtungen, der i n der Regel und endgültig nur durch staatlichen Eingriff gelöst werden kann. Hier zeigt sich, daß arithmetische Parität nicht alle Probleme löst, ja vor den eigentlichen Schwierigkeiten versagt. Die katholische Gesellschaftslehre hat stets die organische und die hierarchische Struktur der Korporationen gefordert, die natürlich nicht eo ipso ein Privileg der Kapitalinteressen einschließen darf. I n der Leitung der mittelalterlichen Korporationen hatten die Meister ein kaum gerechtfertigtes Übergewicht, gegen das sich die illegalen Gesellenbünde und compagnonnages zur Wehr setzten. Harold Laski 17 und Georges Scelle 18 warnen vor einer entsprechenden Prärogative der Kapitalinteressen i n modernen korporativen Verbänden und Einrichtungen; das Gegenteil, eine Übermacht der Arbeiterinteressen, wäre nicht weniger korporationswidrig. Solche Erscheinungen heben den Klassenkampf nicht auf, sondern transponieren i h n nur auf eine andere Ebene, wo er unter anderen Formen und mit anderen M i t t e l n weitergeführt wird. Jede Korporation hat die Tendenz, sämtliche Angehörigen einer Berufs« oder Industriesparte zu erfassen; Teixeira Ribeiro hat darauf 18 „Angelegenheiten..., die in besonderer Weise die Sonderinteressen der Selbständigen oder Gehilfenschaft berühren, so daß ein Schutz gegen Vergewaltigung geboten sein muß, unterliegen vorkommendenfalls der gesonderten Beratung und je nach der Sachlage auch getrennter Beschlußfassung." 17 A Grammer of Politics, London (Allen & Unwin) 1950, S. 74. 18 Princips du Droit Public, S. 429 f. Scelle hat dabei die Verhältnisse der 30er Jahre in Italien, Portugal, Deutschland und Frankreich vor Augen.
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hingewiesen, daß sie sich nicht einmal nur aus den Personen konstituiert, die zu einem gegebenen Zeitpunkt ihre Mitglieder sind, sondern daß sie ein Organ der (Berufs-) Kategorie ist 1 9 . Sie r e p r ä s e n t i e r t eine b e s t i m m t e F u n k t i o n in u n d g e g e n ü b e r der gesellschaftlichen u n d p o l i t i s c h e n G a n z h e i t . Darauf gründet sich der Beitrittszwang, den sie i n der Hegel auf sämtliche Angehörige ihrer Branche ausübt, und die Fähigkeit, eine mehr oder weniger strikte Korporationsdisziplin auszuüben 20 . Ihr sind alle, die in ihrer Branche berufstätig sind, unterworfen, selbst wenn sie ausnahmsweise nicht Mitglied der Korporation sind. Diese Kompetenz qualifiziert die Korporationen zu originären Ordnungselementen i m nationalen Raum, so daß Oliveira Salazar von einer „economia autodirigida" sprechen kann 2 1 . Man muß sich indessen hüten, nur ihre w i r t schaftliche Bedeutung zu sehen, die i n der Literatur eine besonders extensive Würdigung erfahren hat. Korporationen sind juristische Institutionen, und ihre Hauptprobleme sind staatsrechtlicher Art. Die Korporation ist eine intermediäre Gewalt par excellence. Wie die Reformation den Gläubigen i n seiner Vereinzelung seinem Gott gegenüber gestellt hatte, so brachte der Liberalismus den einzelnen Staatsbürger in unmittelbare Beziehung zum Staat. Der konservative Absolutismus ist i h m ein wirksamer Wegbereiter gewesen, aber ohne jenen religiösen Individualismus der Reformatoren ist der politische Individualismus der Französischen Revolution nicht zu denken. Heute heben korporative Gebilde diese Staatsunmittelbarkeit des Individuums wieder auf. I n ihrer vermittelnden Stellung mediatisieren sie den wirtschaftenden und seine politischen Rechte ausübenden einzelnen u n d den Staat. Die individuellen Rechte und Freiheiten werden kollektiviert 2 2 , und innerhalb der staatlichen Ordnung entstehen kraft der korporativen Rechtsetzungsgewalt autonome ständische Ordnungs19
Liçôes de Direito Corporativo, I, Introduçâo, S. 90. Es läuft i m Ergebnis auf dasselbe hinaus, wenn Anhänger der berufsständischen Ordnung für die Allgemeinverbindlichkeit der ständischen Ordnungsgewalt und das Recht der Beitragserhebung von allen Standesgenossen eintreten, aber die Zwangsmitgliedschaft ablehnen, wie z. B. Messner, Die berufsständische Ordnung, S. 35 mit Anm. 33 bis 36. 21 Discursos, I, Coimbra 1935, S. 189. Benito Mussolini sprach von einer Selbstdisziplin der interessierten Kategorien; mitgeteilt von de Michells f La Corporation dans le Monde, Paris 1935, S. 277 ff. und Teixeira Ribeiro, Liçoes, S. 127 f. 22 François Perroux stellt der liberalen Erklärung der Menschenrechte die korporative Idee einer „Erklärung der Gruppenrechte" gegenüber (Capitalisme et Communauté du Travail, Paris, S. 267 ff.). 20
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einheiten, eine „dritte Lösung" 2 3 zwischen Individualismus und Kommunismus. I h r inneres Recht ist das eigene Werk dieser neuen „ordres juridiques", so daß neben die Rechtsetzung durch den Gesetzgeber, die Justiz u n d die Verwaltung noch die Rechtsetzung durch Korporationen tritt24. Insofern sind Korporationen die „dialektische Negation des Staates". Aber es ist falsch, daraus zu folgern, sie könnten sich außerhalb oder i n Gegensatz zum Staat befinden 25 . Als organisatorischer Ausdruck bestimmter Funktionen sind sie stets dem politischen Ganzen zugeordnet. Auch wenn sie spontan aus dem sozialen Humus hervorgehen, bedürfen sie der „Anerkennimg" durch den Staat, der sie zu K ö r p e r s c h a f t e n d e s ö f f e n t l i c h e n R e c h t s erhebt. Die Privilegierung und der Schutz durch den Staat ziehen unweigerlich ein gewisses Maß staatlicher Aufsicht nach sich. Sie kann sich verdichten zur völligen Einordnung i n den staatlichen Machtapparat, zur Instrumentalisierung der intermediären, korporativen Gebilde, durch die der Staat W i r t schaft und K u l t u r reglementiert und das Individuum (in der Tendenz) absorbiert 26 ^ 27 . Die reale Gestalt eines korporativen Systems w i r d sich stets zwischen diesen beiden Extremen ansiedeln. Dabei mag es sein, daß die politische Führung i n der Periode des Aufbaus einer korporativen Staats- und Gesellschaftsverfassung die mangelnde private und korporative Initiative durch staatlichen Zwang ersetzen muß 2 8 , ihre 23 Auguste Murât, Le Corporatisme, Paris (Les Publications Technique) 1944, S. 187. 24 Georges Ripert, Le régime démocratique et le droit civil moderne, Paris (Librairie générale de Droit et de Jurisprudence) 1936, S. 436. 25 Diese Auffassung vertritt ζ. Β. Agostino Lanzillo, Lo stato nel processo economico, Padua 1936, Kap. X V (zit. bei Louis Baudin, Le corporatisme, nouv. éd., Paris (Librairie générale de Droit et de Jurisprudence) 1942, S. 20 f.) i m Gegensatz zur weitaus herrschenden italienischen Lehre der Aera des Faschismus (vgl. folgende Anm.), in der auf die Erarbeitung der theoretischen Grundlagen des Korporat'ivismus besondere Mühe verwandt wurde. 26 Das ist das andere Extrem, wie es in Italien beispielsweise von Ugo Spirito vertreten wurde (I Fondamenti della economia corporativa, Mailand 1932, S. 17 f. und passim; Capitalismo e corporativismo, Florenz 1933). Die herrschende Lehre bewegte sich zwischen beiden Polen. Für sie sind repräsentativ: Carlo Costamagna, Elementi di Diritto Constituzionale corporativo fascista, Florenz (Bemporad) 1929, S. 60 f. und passim; Giovanni Gentile, Die Grundlagen des Faschismus, 1936, z. B. S. 39: „für den Faschismus identifizieren sich Staat und Individuum, oder, besser gesagt, sind unzertrennliche Begriffe einer notwendigen Synthese"; Giuseppe Bottai, Grundprinzipien des korporativen Aufbaus in Italien, 1933. 27 Scelle lehnt es ab, in diesem Fall noch von Korporationen zu sprechen; Principes du Droit Public, a.a.O., S. 427. 28 Johannes Messner, Die berufsständische Ordnung, S. 89, gestattet dem Staat zu diesem Zweck die „Einschränkung naturgegebener Rechte..., wie
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Maßnahmen aber darauf abzielen, sich so rasch und so weitgehend wie möglich überflüssig zu machen. Das gilt namentlich für das Portugal Salazars. Es bietet den ungewöhnlichen Fall, daß der Staatschef selbst dem Staat mißtraut, und wegen ihrer weisen Selbstbeschränkung ist seine Praxis u$d Doktrin human. Die ständisch-korporative Idee ist noch weniger als der Syndikalismus ein nacktes Strukturprinzip der Wirtschaft und Politik. Ihre Wurzeln reichen i n historische und ideologische Tiefen und geben ihr eine religiöse und ethische Substanz. Sie ist nicht nur eine Technik zur Organisation der modernen Massengesellschaft, sondern ein Ziel der Menschenführung und -erziehung. G. Arias spricht von einem „korporativen Gewissen", das dem einzelnen die Unterordnung seiner Privatinteressen unter das Gemeinwohl zur Pflicht macht 2 9 . Und das unaufhebbare ständische Element i m Korporativen gibt ihm seine Ehre, seine Verantwortung und die Liebe zum Beruf 3 0 . Die Realisationen der korporativen Idee stimmen hierin überein. I m übrigen weisen sie so bedeutende Verschiedenheiten auf, daß sie sich nicht auf den einheitlichen Nenner einer umfassenden und prägnanten Theorie bringen lassen. Die Korporation ist jeweils Teil eines höheren Ganzen und kann letzten Endes nur aus ihm verstanden werden. „Elle . . doit être ,située' afin de pouvoir être définie" 31 . etwa des Rechtes der freien Vereinigung" und beruft sich (S. 278) für ein autoritäres Eingreifen des Staates auf Augustinus, De libero arbitrio, 1, 6, 14. Zum Ganzen vgl. auch Ernst Rudolf Huber, Die Gestalt des deutschen Sozialismus, Heft 2 der Sammlung „Der deutsche Staat der Gegenwart", Hamburg 1934, der die Ablösung der „Interessenwirtschaft" durch den körperschaftlich gegliederten Staat darstellt, „in dem die sich selbst verwaltenden und der Staatsidee verpflichteten Stände zur Einheit des Volkes werden sollen" (S. 72). 29 Economia nazionale corporativa, Rom 1929, und L'Economia corporativa, Florenz 1934 (ohne Fundstelle angef. bei Baudin, Le Corporatisme, S. 16). 30 Zur Illustration und zur Ergänzung mag § 81 a der Gewerbeordnung dienen: „Aufgabe der Innungen ist: 1. die Pflege des Gemeingeistes sowie die Aufrechterhaltung und Stärkung der Standesehre unter den Innungsmitgliedern; 2. die Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen (Gehilfen) sowie die Fürsorge für das Herbergswesen; 3. die nähere Regelung des Lehrlingswesens und die Fürsorge für die technische Ausbildung der Lehrlinge, vorbehaltlich der §§ 103 e, 126 bis 132 a; 4. die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Innungsmitgliedern und ihren Lehrlingen." Die unter Ziff. 3 genannten Paragraphen haben Bestimmungen über die Zuständigkeit der Handwerkskammer und nähere Vorschriften über Lehrlingsverhältnisse zum Inhalt. 31 Louis Baudin, Le corporatisme, S. 13. 5
Kaiser, Repräsentation
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Historische Leitbilder und Strukturtypen 3. Die Pressure Groups i n U S A Es i s t h e u t e i n A m e r i k a schon fast e i n G e m e i n p l a t z , daß V e r f a s -
sungsrecht u n d P o l i t i k
der Vereinigten Staaten ohne K e n n t n i s
P r e s s u r e G r o u p s n i c h t v o l l v e r s t ä n d l i c h sind. Pressure G r o u p s
der sind
o r g a n i s i e r t e G r u p p e n m i t d e m Z i e l , d i e gesetzgebenden K ö r p e r s c h a f ten, d i e E x e k u t i v e u n d t e i l w e i s e auch die J u s t i z i m e i g e n e n Interesse z u beeinflussen, schon a u f die W a h l d e r P a r l a m e n t s a b g e o r d n e t e n d u r c h E m p f e h l u n g o d e r A b l e h n u n g e i n z u w i r k e n u n d selbst d i e ö f f e n t l i c h e M e i n u n g f ü r oder gegen anstehende p o l i t i s c h e E n t s c h e i d u n g e n e i n z u n e h m e n 1 . D e r A u s d r u c k Pressure G r o u p w i r d s y n o n y m m i t
Interest
1 Die Darstellung beruht großenteils auf Gesprächen, die ich mit Samuel J. Eldersveld, Samuel D. Estep, Ernest S. Griffith , John W. MacDonald , Harvey C. Mansfield , James Kerr Pollock, Harold Zink und Persönlichkeiten in Washington und an den Parlamenten mehrerer Staaten führen durfte, die leider ungenannt bleiben müssen, wenn die Liste nicht über die Maßen anschwellen soll; ihnen sei auch an dieser Stelle für ihr stets großzügiges Entgegenkommen gedankt. Die Literatur ist außerordentlich umfangreich und verstreut. Es wurden u. a. folgende Standardwerke benutzt: Stephan Kemp Bailey, Congress makes a Law, The Story behind the Employment Act of 1946, New York (Columbia University Press) 1950; Charles A. Beard , The Economic Basis of Politics, 3. Aufl., New York (Knopf) 1945; Stuart Chase, Democracy under Pressure, Special Interests versus the Public Welfare, New York (Twentieth Century Fund) 1945; Kenneth Crawford, The Pressure Boys, New York (Julian Messner) 1939; Alfred de Grazia, Public and Republic, Political Representation in America, New York (Knopf) 1951; Ernest S. Griffith, Congress, Its contemporary role, New York (N.Y. University Press) 1951; Pendleton Herring , Group Representation before Congress, Washington (Brookings Institution) 1929 — dieses Werk ist, trotz der vielen jüngeren Erscheinungen und obwohl in einigem überholt, wohl die beste einschlägige Studie; ders.: Public Administration and Public Interest, New York (McGraw H i l l Book Co.) 1936; V. O. Key , Politics, Parties, and Pressure Groups, 2. Aufl., New York (Thomas Y. Crowell Co.) 1950; Avery Leiserson, Administrative Regulation, A Study in Representation of Interests, Chicago (Chicago University Press) 1942; Dayton D. McKean, Party and Pressure Politics, New York (Houghton Mifflin Co.) 1949; Warren Moscow, Politics in the Empire State, New York (Knopf) 1948; Peter Odegard, Pressure Politics, New York (Columbia University Press) 1938; E. E. Schattschneider, Politics Pressures, and the Tariff, New York (Prentice Hall) 1935; ders., Party Government, New York (Rinehart & Co.) 1942, K a r l Schriftgiesser, The Lobbyists, The Art and Business of Influencing Lawmakers, Boston (Little, Brown & Co.) 1951; David B. Truman , The Government Process, Political Interests and Public Opinion, New York (Knopf) 1951; Belle Zeller, Pressure Politics in New York, New York (Prentice Hall) 1937; Harold Zink, Government and Politics in the United States, 3. Aufl., New York (Macmillan) 1951, S. 224—247. I n größerem Zusammenhang stellt sich das Problem der Interessengruppen in den unerreichten Werken von Alexis de Tocqueville . De la Démocratie en Amérique, Bd. I und II., zuerst veröffentlicht 1835 bzw. 1840 (benutzt in der Ausgabe von J.-P. Mayer, 4. Aufl., Paris [Gallimard] 1951); und von James Bryce, The American Commonwealth, Bd. I und I I , zuerst erschienen 1888 (benutzt ist die 3. Aufl., New York [Macmillan] 1893).
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Group gebraucht, ist aber geläufiger als dieser und hat sich schon deutlich zum terminus technicus entwickelt 2 ; nur selten glaubt man eine leichte Differenzierimg festzustellen, wenn „Pressure Group" nämlich den spürbaren Beigeschmack des Despektierlichen, politisch oder moralisch Abgewerteten annimmt, während „Interest Group" absolut neutral ist; das ist aber ein mehr unbewußt als bewußt mitgeschlepptes Relikt aus einer früheren Epoche, i n der das wissenschaftliche Verständnis dieser Erscheinungen noch wenig entwickelt und auch ihre mitunter anrüchige Praxis weit mehr Grund zu jenem abfälligen Urteil gab, als das heute der Fall ist. Es wäre falsch, diese Druck- und Machtgruppen für ein amerikanisches Monopol und eine Errungenschaft jüngeren Datums zu halten. Europäische Staatstheoretiker haben schon f r ü h u m die Realität und das Gewicht gegebener Interessen i n der Gesellschaft gewußt, und Lorenz von Stein hat uns i n seiner Geschichte der sozialen Bewegimg i n Frankreich geradezu ein Dokument für ihre staatsrechtliche Bedeutung geschenkt 3 — wenngleich es wahr ist, daß dieses Wissen unter der Ägide des juristischen Positivismus lange Zeit unfruchtbar blieb. I n den Vereinigten Staaten sind die Pressure Groups allerdings zahlreicher, einflußreicher, besser organisiert als i n irgendeinem anderen Land und agieren weit mehr i m Vordergrund des politischen Bewußtseins der Nation. Schon die Verfassung aus dem Jahre 1787 w i r d als Beispiel eines Kompromisses zwischen wirtschaftlichen Interessen genannt 4 , deren Bedeutung Madison 1787 i n Nr. 10 des Federalist i n klassischen Fori n Deutschland hat erstmalig Heinz Linden in seiner unter der Leitung von Prof. Heinrich Herrfahr dt entstandenen Marburger jur. Dissertation „Pressure Groups", Der Einfluß amerikanischer Interessenverbände auf die Regierung, 1949, dem Thema eine ausführliche und verdienstvolle Darstellung gewidmet, der ich mich ebenfalls verpflichtet weiß. 2
Bemerkenswert ist, daß der Ausdruck Pressure Groups auch in nichtenglische Sprachen Eingang gefunden hat. I n Deutschland hört man ihn mit zunehmender Häufigkeit, und seine Kenntnis wird in allen einschlägigen Diskussionen vorausgesetzt; Heinz Linden hat ihn durchgehend benutzt, ohne eine Übersetzung vorzuschlagen. I n Spanien hat ihn Manuel GarciaPelayo übernommen und in seinem Buch Derecho Constitucional Comparado, 2. Aufl., Madrid (Revista de Occidente) 1951, S. 384 ff., in Grupos de Presión abgewandelt. 8 Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde., München 1921. 4 Charles A. Beard , A n Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York (Macmillan) 1913: ders.: The Economic Basis of Politics, S. 41 ff.; Stuart Chase, Democracy under Pressure, S. 10, 12.
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mulierungen hervorgehoben hat 5 . Aber es sind keineswegs nur w i r t schaftliche Interessen, die hier eine Rolle spielen. Als Alexis de Tocqueville* 1831 neun Monate lang die Vereinigten Staaten bereiste, w a r das üppige Vereinswesen, dem er überall begegnete, eine seiner größten Überraschungen, und er hat es auf zahlreichen Seiten seines berühmten Werkes unter soziologischen und politischen Gesichtspunkten gewürdigt. I n jenem „demokratischsten Lande der W e l t " 6 erfährt Tocqueville, wie man sich zu fast allen denkbaren Zwecken vereinigt und daß überall dort, wo man i n der Leitung eines neuen Vorhabens i n Frankreich die Regierung und i n England einen Grandseigneur finden würde, i n Amerika diese Aufgabe stets ein Verein erfüllt 7 . Während aber die politischen Organisationen, Tocqueville zufolge, damals erst einen kleinen Teil der Vereine ausmachten 8 , sind heute fast alle, wenigstens potentiell, politischer Natur 9 , und die Beziehungen zwischen Pressure Groups und Staat stellen den Politiker vor die schwierigsten Probleme 1 0 . Diese Verfassung der amerikanischen Gesellschaft ist zum Teil das Ergebnis der industriellen Entwicklung, die auch i n Europa zu einer Differenzierung der Produktion, der Verteilung und des Konsums, zu einer fortschreitenden Spezialisierung der Berufsarbeit und zu einer Aufspaltung der Gesellschaft i n zahlreiche widerstreitende Interessengruppen geführt hat; n u r haben sich diese Faktoren auf dem traditionslosen Boden der Neuen Welt m i t weit größerer Vehemenz und Sehne) 5 „ . . . the most common and durable source of factions has been the various and unequal distribution of property. Those who hold and those who are without property have ever formed distinct interests in society. Those who are creditors, and those who are debitors, fall under a like discrimination. A landed interest, a manufacturing interest, a mercantile interest, a moneyed interest, with many lesser interests, grow up of necessity in civilised nations, and divide them into different classes, actuated by different sentiments and views." β De la Démocratie en Amérique, Bd. I I , S. 114. 7 Les Américains de tous âges, de toutes les conditions, de tous les esprits, s'unissent sans cesse. Non seulement ils ont des organisations commerciales et industrielles auxquelles tous prennent part, mais ils en ont encore de mille autres especes: de religieuses, de morales, de graves, de futiles, de fort générales et de très particulières, d'immenses et de fort petites; les Américains s'associent pour donner des fêtes, fonder des séminaires, bâtir des auberges, élever des églises, répandre des livres, envoyer des missionaires aux antipodes; ils créent de cette manière des hôpitaux, des prisons, des écoles. S'agit-il enfin de mettre en lumière une vérité ou de développer un sentiment par l'appui d'un grand exemple, ils s'associent (a.a.O., I I , S. 113). 8 a.a.O., S. 113. 9 McKean, Party and Pressure Politics, S. 430. 10 Griffith, Congress, Its contemporary role, S. 104.
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ligkeit ausgewirkt. Hinzu kommt natürlich die Mischung der Bevölkerung aus den verschiedensten Rassen und Nationalitäten, die trotz der sprichwörtlich gewordenen einschmelzenden K r a f t der amerikanischen Nation ein großes Maß an Kohärenz aufweisen. Noch wichtiger sind die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Lebens- und Geschäftsstils und die während eines langen Zeitraums grenzenlosen Möglichkeiten persönlicher Entfaltung. Der weite Raum gestattete ein äußerstes Maß an Individualismus, ohne daß die Gesellschaft so leicht i n Mitleidenschaft gezogen wurde wie i n dem dichtbesiedelten Europa, und forderte gleichzeitig, daß sich die Siedler auf Gedeih und Verderb zusammenschlossen, da jedes Überschreiten der Grenze gen Westen nur kollektiv und bei weitestgehender gegenseitiger Hilfeleistung möglich war. Dieser „Frontier-Geist" ist heute noch sehr lebendig, wie jeder europäische Besucher zu seinem Erstaunen erlebt. „ I t is a country of Joiners'" schrieb jüngst noch J. A. Corry 11, ein Land, i n dem man sich gern zusammenfindet und wo man aus der unbegrenzten Versammlungs- und Vereinsfreiheit 1 2 den größten Nutzen gezogen hat. Gedenkt man noch der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Interessen i n diesem Land von kontinentalen Ausmaßen; des großen, für alle demokratischen Erscheinungen wesentlichen Wohlstands und Lebensstandards; der hochentwickelten Verkehrs- uiid Nachrichtenmittel, die es einer Anzahl von Organisationen erlauben, jährlich Mammutkongresse m i t mehreren tausend Teilnehmern zu veranstalten; schließlich noch der schon von Tocqueville bewunderten 1 3 , beispiellosen A k t i v i t ä t , die auf allen Lebensgebieten entfaltet wird, so sind wohl die wichtigsten Gründe genannt, die sich f ü r die Fruchtbarkeit des amerikanischen Organisationswesens anführen lassen. Die politische Tragweite dieser organisierten Gruppen erklärt sich i n erster Linie aus der amerikanischen Vorstellung vom Staat. Sie kannte bislang - n i c h t die polemische E n t g e g e n s e t z u n g der Bereiche von S t a a t u n d G e s e l l s c h a f t , Staat und Wirtschaft, Staat und Kirche, die seit Beginn des politischen Liberalismus und 11
Democratic Government and Politics, 1946, S. 210. Sie ist im ersten, 1791 angenommenen Amendment der Verfassung niédergelegt, das wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung auch für spätere Ausführungen hier vollständig zitiert sei: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibition of free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peacebly to assemble, or to petition the government for a redress of grievances." Dazu auch Tocqueville , De la Démocratie en Amérique, Bd. I, S. 197 ff. 13 a.a.O., Bd. I, S. 253 f. 12
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auch heute noch die kontinental-europäische Staatslehre beschattet, soweit sie bürgerlich ist 1 4 . Das Denken i n verschiedenen Ebenen und die Umschaltungs- und Transformationsakrobatik, die regelmäßig notwendig wird, wenn Staatliches und Nicht-Staatliches i n Beziehung gesetzt werden sollen, sind dem politischen Denken und Handeln der Amerikaner fremd. Der Staat war nie Obrigkeit, sondern immer ein Mittel, „die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und die Segnungen der Freiheit . . . zu gewährleisten" 1 5 , ein Mittel, das jedem Bürger — „entitled to life, liberty and the pursuit of happiness" 16 — zur Verfügung steht. Man postuliert die Organisationsmöglichkeit des allgemeinen Wohlbefindens und ist gewohnt, die Voraussetzungen dafür i m wesentlichen i m Materiellen zu suchen 17 . Daraus folgt keine passive Lebenserwartung, w i e sie sich häufig i n die Patina alter Völker und K u l t u r e n mischt, sondern edne optimistisch sprudelnde A k t i v i t ä t . Homo puer robustus 18 — und so ist auch die A r t , wie dieses junge Volk, individuell wie auch i n kleinen und großen Organisationen gegliedert, auf seine politischen Institutionen w i r k t ; das Staatshandeln, an dem man — „soit par goût, soit par intérêt" — aktiven A n t e i l nimmt, ist darum nichts anderes als die Verlängerung jener umfassenden Bewegung, die das ganze Volk ergreift 1 9 . Diese intensive, periodisch anund abschwellende Kommunikation zwischen Gesellschaft und Staat liefert das Ferment eines glücklichen Regenerationsprozesses, dem die 14 Die marxistische Staatslehre ging ursprünglich von einem ähnlichen Gegensatz aus, hat ihn inzwischen aber für den Bereich des kommunistischen totalitären Staates praktisch weitgehend relativiert. 15
Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten. Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 reklamiert dieses Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück für alle Menschen. Was oben über das Verhältnis des einzelnen zum Staat gesagt wird, gilt mutatis mutandis auch von den Organisationen, was Thurman Arnold zu der ironischen Bemerkung veranlaßt hat: „The very Declaration of Independence is now the symbol of great business organizations, who insist that every corporation is born free and equal, and that holding companies are entitled to life, liberty and the pursuit of happiness"; The Symbols of Government, New Haven (Yale University Press) 1935, zit. bei Chase, Democracy under Pressure, S. 13. 16
17 R. M. Maciver, The Web of Government, New York (Macmillan) 1948, S. 219. 18 „Un Américain ne sait pas converser, mais i l discute; i l ne discourt pas, mais il disserte." — „Le but principal de ces associations étant d'agir et non de parler, de combattre et non de convaincre, elles sont naturellement amenées à se donner une organisation qui n'a rien de civil et à introduire dans leur sein les habitudes et les maximes militaires." Tocqueville , a.a.O., Bd. I, S. 254 bzw. 200. 1β a.a.O., S. 253.
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Verfassung und die Einrichtungen dieser alten Demokratie unterworfen sind: sie wandeln sich, wie die Bedürfnisse der Nation sich verändern. Man dient darum nicht dem Staat, sondern man bedient sich seiner, heute mehr als je zuvor, da aus dem Schatzamt Pensionen, Zuschüsse, Unterstützungen und Subsidien aller A r t i n nie gekanntem Umfang fließen, und „bigger and better every day" nach wie vor die Devise ist 2 0 . Diese besondere A r t eines aktiven Interesses am Staat findet innerhalb der politischen Parteien keine ausreichende Befriedigung und schafft sich darum eigene Organisationen: die Pressure Groups. Das Zweiparteiensystem der Vereinigten Staaten stimuliert geradezu ihre Entwicklung. Denn keine der beiden großen Parteien vermag die speziellen Interessen einzelner Bevölkerungskreise artikuliert zu vertreten, schon weil dadurch andere Gruppen, die ihr anhängen, abgestoßen würden. Während auf dem europäischen Kontinent eine Anzahl politischer Parteien dem Wähler i n der Hegel eine ganze Skala minutiöser Programme vorlegen, die verschiedenen Interessenstandpunkten entgegenkommen, vermeiden es die amerikanischen Parteien nach Möglichkeit, sich auf ein konkretes politisches Konzept festzulegen. Das ist nicht einmal eine logische Notwendigkeit des Zweiparteienstaates, denn w i r erleben es vor jeder Wahl i n England, daß konservative und Labourparty umfang- und inhaltsreiche Programme herausbringen, die i n hohen Auflagen an die Bevölkerung käuflich abgesetzt werden. Demgegenüber sind die amerikanischen „Party-platforms" bedeutungslos, und während langer Zeiträume wußte man kaum einen anderen Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern anzugeben, als daß die einen Regierungspartei („in") und die anderen Opposition („out") seien. Vor allem i n den letzten Jahrzehnten haben sie wenig Wert darauf gelegt, die Förderung bestimmter Interessen herauszustellen, offenbar auch unter dem Eindruck, daß diese Funktion weitgehend durch Pressure Groups wahrgenommen w i r d 2 1 . Das erlaubt ihnen, die verschiedenartigsten Interessengruppen anzusprechen und vermindert die Gefahr der Absplitterung und Spaltung. I n diesem 20
Zink, Government and Politics in the United States, S. 226. Zink, Government and Politics in the United States, S. 226; zum Ganzen auch McKean, a.a.O., S. 639 f. Das ist auch das Ergebnis der statistischen Untersuchungen von Julius Turner, Party and Constituency: Pressures on Congress, Baltimore (Johns Hopkins Press) 1951, der die Stimmabgabe der Abgeordneten unter dem Gesichtspunkt einiger in ihrem Wahlkreis einflußreicher Interessen analysiert. 21
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Sinn leisten die Pressure Groups i n der Tat einen Beitrag zur Erhaltung des Zweiparteiensystems 22 . Ihre Stärke steht grundsätzlich i m umgekehrten Verhältnis zur inneren Stärke der Parteien. Ε. E. Schattschneider hat diesen Zusammenhang analysiert; für i h n gibt es n u r die Wahl zwischen starken Parteien auf der einen und „Pressure Politics" auf der anderen Seite 2 3 . I n USA ist diese Alternative eindeutig zugunsten der Interessengruppen entschieden. Sie sind i n ihrer straffen Organisation, wirksamen Führung und inneren Disziplin den Parteien weit überlegen. A u f der Bundesebene sind die Parteien nur sehr locker organisiert. Der kandidierende Congressman kann sich i n seinem Wahlkreis nur auf die lokale Parteiorganisation (party boss und party machine) stützen und hat i m übrigen durch eine Brüskierung der unter seiner Wählerschaft mächtigen Interessengruppen — Gewerkschaften, American Legion (Veteranenverband), Farm Bureau (eine Organisation der Bauern), Chamber of Commerce oder American Association of Manufacturers (Handel und Industrie), die Kirchen usw. — viel mehr zu verlieren als durch einen Affront gegen die Leitung seiner Partei 2 4 . Es gibt keine strikte Parteilinie. Auch i m Kongreß ist der Abgeordnete deshalb weitgehend sich selbst überlassen 25 und dadurch dem Druck der organisierten Interessen stärker ausgesetzt, als es i n irgendeinem anderen Parlament der Fall ist. Auch hier liefert die „Mutter der Parlamente", das englische Unterhaus, wiederum eine eindrucksvolle Illustration: Trotz des Zweiparteiensystems, das an sich Pressure Groups außerordentlich begünstigt — die amerikanische Literatur sagt durchweg: unentbehrlich macht —, w i r d man i m Westminster-Palast keine „Pressure-Boys" 2 6 finden; die scharfe Parteidisziplin läßt ihrem Einfluß keinen Raum. 22 Wilfred E. Binkley and Malcolm C. Moos, A Grammar of American Politics, The National Government, New York (Knopf) 1949, S. 154. 23 Party Government, S. 193. 24 Ernest S. Griffith sagt beispielsweise von den Prärie-Staaten des amerikanischen Westens, daß sie „essentially »agriculture' rather than Republican or Democrat" sind; Congress, Its contemporary role, S. 110. 25 „Members specialize and members bargain, in each instance largely in fields determined by their constituents' interest and interests. Votes on the floor do not split primarily on party lines", (a.a.O., S. 111). I m Gegenteil, Unabhängigkeit wird einem Congressman wie auch seinen Wählern immer erstrebenswerter erscheinen als Loyalität gegenüber seiner Partei. 26 Das ist der Titel eines Buches von Kenneth G. Crawford, The Pressure Boys, The Inside Story of Lobbying in America, New York (Messner) 1939, der Pressure Groups als eine Perversion der demokratischen Willensbildung verwirft; wie Chase, a.a.O., S. 24, berichtet, wird den Vertretern der Dro-
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Pressure Groups setzen immer dort ihren Hebel an, wo echte politische Macht residiert. Werden die Beschlüsse des Gesetzgebers außerhalb des Parlaments, i m Kabinett oder i n den Parteibüros, schon vorweg entschieden, so sind diese die geeigneten Ansatzpunkte für den Druck organisierter Interessen, und eine Parlamentslobby hat nicht viel Sinn. Dabei erweisen sich diese Institutionen gegenüber dem Interessendruck i n der Regel als weit widerstandsfähiger als die breite Front eines Parlaments. Die Verfassung und der Stil des politischen Lebens prädestinieren den amerikanischen Kongreß zu einer besonders günstigen Angriffsfläche für die Erosionseinwirkungen der Pressure Groups. Die Einrichtung der ungewöhnlich selbständig prozedierenden Ausschüsse trägt dazu wesentlich bei. Die Zahl von 531 Congressmen (435 Abgeordnete i m House of Representatives und 96 Senatoren) bedeutet grundsätzlich eine breite Operationsbasis, aber i m Einzelfall erweist es sich, schon nach dem Urteil Woodrow Wilsons 27, als bequem, es vorwiegend nur mit den Mitgliedern eines Ausschusses zu t u n zu haben. — I n der Exekutive sind es der Mangel eines Beamtenstandes i m kontinentaleuropäischen Sinn und die Spuren des heute allerdings mehr und mehr zurückgedrängten Spoil Systems 28 , die den Pressure Groups erstaunliche Wirkungsmöglichkeiten eröffnen. Die außerordentliche Unabhängigkeit des Congressman ist die entscheidende Voraussetzung für die wirksamste A r t von „Pressure Politics": das vielberufene „ L o b b y i n g " 2 9 . Der Ausdruck leitet sich von „Lobby" ab, was Vorraum oder Wandelhalle, Foyer und Couloir bedeutet; „lobbying" bezeichnet, als terminus technicus, die Methode der Interessenvertreter, sich den Abgeordneten i n den Gängen und Räumen des Kapitols, aber auch bei allen sonstigen Gelegenheiten, zu nähern, u m die politische Willensbildung des Gesetzgebers zu beeinflussen. M a n versteht darunter heute auch schon die entsprechende Tätigkeit bei allen Stufen der Verwaltung und, wo dies möglich ist, selbst bei der Justiz. „Social lobbying" ist die — oft als besonders gerie- und Apothekerinteressen zuweilen der Name „Pain and Beauty Boys" zugelegt. 27 Congressional Government, 1900, S. 189 f.: „It would be impracticable to work up his schemes in the broad field of the whole house, but in the membership of a committee he finds manageable numbers." 18 vgl. auch Heinz Linden, a.a.O., S. 28. 29 Heinz Linden hat auf nahezu 20 Seiten seiner Arbeit eine interessante und beispielsreiche Darstellung des „Lobbying" gegeben und in seinen Schrifttumsnachweisen aus einer fast unübersehbaren einschlägigen Literatur eine Reihe repräsentativer Studien aufgeführt, a.a.O., S. 29 ff.
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wirksam geschilderte — Kunst, Politiker bei eigens arrangierten gesellschaftlichen Veranstaltungen oder durch ähnliche Vergünstigungen für die von dem Gastgeber vertretenen Interessen einzunehmen. Seit dem Corrupt Practices Act von 19 10 3 0 ist der volle Tatbestand der Bestechung ein seltener F a l l 3 1 . Die Eisenbahn-Lobby, u m n u r dieses Beispiel zu nennen, darf seit 1906 den Congressmen keine Freifahrscheine mehr geben 3 2 , und das üppige, von Lobbies finanzierte K l u b leben 3 3 hat anscheinend nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vor 50 Jahren. Märchenhafte Parties u n d gastronomische Orgien gehören wohl der Vergangenheit an. Das politische Gewicht der Pressure Groups ist gestiegen, ihre Macht hat durch Einsicht u n d Gewöhnung aller Beteiligten und namentlich durch den Umstand, daß viele unbestreitbar die Interessen großier Bevölkerungsmassen vertreten, längst einen legalen Anstrich bekommen; auch die Zahl der Organisationen, die zur Lobby gehören, hat zugenommen, und vor allem haben Staatslehre (political science) und Presse sie mehr und mehr i n das Rampenlicht der Öffentlichkeit gestellt. Das alles hat dazu beigetragen, daß der „Lobbying" genannte Vorgang sich erheblich formalisiert hat. Bestimmte Techniken und Usancen hatten sich schon ausgebildet, bevor der Legislative Reorganization Act von 1946 einen bedeutsamen Schritt i n dieser Richtung unternahm 3 4 und Registrierung der Interessenvertreter sowie Berichterstattung über die aufgewandten M i t t e l vorschrieb. Auch die meisten Einzelstaaten haben das Lobbying bei den Staatsparlamenten auf entsprechende Weise geregelt. Die Erwartungen, daß sich hier i n der intimeren Atmosphäre noch mehr ursprüngliche 30 c. 392, 36 Stat. 822, ersetzt durch den Federal Corrupt Practices Act von 1925, c. 368, Title I I I , 2 U.S.C.A. § 241 et sequ. 31 Früher war der Stimmenkauf durch skrupellose Interessenten keine Seltenheit, und es wurden für eine einzelne Stimme einige Dollars bis zu einigen Zehntausend Dollars gezahlt. Auch in den Einzelstaaten ist heute der Stimmenkauf strafbar und ist durch die öffentliche Meinung nie schärfer verurteilt worden als gegenwärtig. Aber es gibt sublimere Formen der Gewährung von Vorteilen an Abgeordnete, die kein Gesetz erfaßt, z. B. die Pro-Forma-Anstellung eines Abgeordneten als Beraters in Rechtssachen oder in „public relations" oder die Anstellung von Verwandten gegen hohes „Entgelt". Dazu vgl. Zink, a.a.O., S. 232. 32 Aber eine Eisenbahngesellschaft unterhielt in der Hauptstadt eines Staates während einer ganzen Gesetzgebungsperiode einen Speisewagen zur kostenlosen Bewirtung der Abgeordneten; bei Zink, a.a.O., S. 233. 33 Es ist dies auch unter dem Namen „plush-horse" lobbying bekannt geworden; Einzelheiten bei Binkley und Moos, a.a.O., S. 157 f.; Moscow, a.a.O., S. 203; McKean, a.a.O., S. 69 f.; Linden, a.a.O., S. 43. 34 Die einschlägigen Bestimmungen und die Frage, ob sie den erwarteten Erfolg gebracht haben, werden später in systematischem Zusammenhang gewürdigt; vgl. Kap. I I I , 4 mit Anm. 22 ff.
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Formen des Lobbying finden als i n Washington, werden nicht enttäuscht 35 . Während es i n Washington Ärgernis erregt, wenn ein Lobbyist an der Formulierung eines Gesetzentwurfs i n einer Ausschußsitzung teilnimmt, geschieht das i n Albany immer wieder und ruft kein Aufsehen hervor 3 6 . — Eine der großen Gewerkschaften, die American Federation of Labor (AFL), hat jahrelang die täglich an alle Abgeordneten ausgegebenen Listen der Gesetzentwürfe, die jeweils zur Beratung anstanden, dazu benutzt, m i t Stempeln „Approved by the State Federation of Labor" oder „Opposed by the State Federation of Labor" ihre Auffassung zu den einzelnen Entwürfen auszudrücken; und manche Abgeordneten, die über das Gesetz nicht genau unterrichtet waren, ließen sich durch das aufgestempelte, empfehlende oder ablehnende Votum der Gewerkschaften leiten. Keine andere Pressure Group i n Albany erfreute sich dieses Privilegs 3 7 . — Das Bankhaus J. P. Morgan & Co. sah sich i n dem Zeitpunkt, als es sich i n eine „Corporation" des amerikanischen Gesellschaftsrechts umzuwandeln gedachte, i n der Gefahr, nicht mehr seinen berühmten Namen führen zu können, da ein kleiner Geschäftsmann i n Queens (New York City) bereits unter demselben Namen firmierte. Durch ein allgemeines Gesetz, das den Namen Morgan nicht erwähnte, wurde die Schwierigkeit behoben, aber n u r die „legislative leaders" — darunter sind die Vorstände der beiden Kammern und wohl auch des betreffenden Ausschusses zu verstehen — wußten, auf wessen Ansuchen und zu wessen Gunsten dieses Gesetz erlassen wurde 3 8 . — Präsident F. D. Roosevelt hatte dem Bürgermeister von New York, Fiorello H. La Guardia 39, versprochen, ihn zum Brigadegeneral zu machen. Damit während der zu erwartenden Abwesenheit La Guardias der die Stadtverwaltung leitende Ausschuß, der Board of Estimates, nicht i n die Hände der Opposition gerate, wie eine Bestimmung der Charta von New York befürchten ließ, griff der Gesetzgeber i n Albany ein: Ein mehr als 70 Seiten umfassendes Gesetz über den Militärdienst der niederen Staatsangestellten, das in dem ersten Abschnitt die Angestellten der 83 Die Berichte, die Warren Moscow aus Albany, der Hauptstadt des Staates New York, gegeben hat, zählen zu den jüngsten und bekanntesten der veröffentlichten Zeugnisse (Politics in the Empire State, namentlich S. 200 ff.). Moscow war langjähriger Reporter der New York Times in Albany. 36 a.a.O., S. 200. 37 a.a.O., S. 203. 88 a.a.O., S. 204 f. 39 Er versah dieses A m t von 1933 bis 1945.
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Stadt New York ausdrücklich, von der Regelung ausschloß, enthielt auf S. 36 eine gewundene Bestimmung, die es La Guardia erlaubte, für sich einen Ersatzmann zu bestimmen. I n diesem Fall waren außer den „legislative leaders" nur La Guardia und Gouverneur Thomas E. Detrey 4 0 eingeweiht 4 1 . — Die New York Bar Association (Anwaltsverein) versuchte 1949, i n Albany einen Gesetzentwurf zur Erleichterung der Ehescheidung durchzubringen; aber ihr „pressure" blieb ohne Erfolg, da sie dem Druck einer mächtigeren Gruppe, der Katholischen Kirche, unterlag 4 2 . I m gleichen Jahr kämpfte die Euthanasia Society um einen Entwurf, der den an unheilbar Kranken begangenen Totschlag für straffrei erklärte, falls der Kranke selbst den Tod gewünscht hatte; es w i r d ebenfalls dem Einfluß der Katholischen Kirche zugeschrieben, daß sich kein Abgeordneter bereitfand, einen solchen Antrag einzubringen 4 2 . Diese Beispiele mögen genügen, u m einen Eindruck von Zielen, Methoden und Erfolgen eines ungehinderten Lobbying, teilweise älteren Stils, zu verschaffen. Es sind andere Methoden, deren sich die Pressure Groups i m Lichte der Öffentlichkeit bedienen und die von dieser toleriert, wenn nicht sogar anerkannt werden 4 3 . Dazu gehört an erster Stelle die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Reklame und Propaganda, eine A r t mittelbaren „atmospheric pressure" auf Parlament und Verwaltung. A l l e M i t t e l von der umfangreichen Zeitungsannonce, dem inspirierten Leitartikel und der selbständigen Broschüre bis zur Fernsehsendung dienen diesem Zweck und erzielen i n Einzelfällen ungeahnte Wirkungen 4 4 . Ebenfalls indirekt, i n der Regel aber einfacher, billiger und wirksamer, sind die gern ausgeschöpften Möglichkeiten, die Abgeordneten auf dem Weg über ihren Wahlkreis zu beeinflussen. Oft führen diese Umwege („back-fire" genannt) am schnellsten und sichersten zum Ziel. Maßgebliche Persönlichkeiten oder Gruppen werden bewogen, öffentlich oder gegenüber ihrem Congressman, schriftlich, fernmündlich, durch Delegationen oder durch persönliches Erscheinen auf dem Kapitol ihre Meinimg zu bestimmten Ge40 Es handelt sich um den republikanischen Präsidentschaftskandidaten der Jahre 1944 und 1948, der seit 1942 Gouverneur des Staates New York ist. 41 Die Klausel wurde nicht angewandt, da La Guardia nicht Brigadiergeneral wurde, sondern blieb; a.a.O., S. 205 f. 42 McKean, Party and Pressure Politics, S. 438. 43 Sie sind in dem oben Anm. 1 zitierten Schrifttum eingehend beschrieben und mit Beispielen belegt; vgl. u. a. McKean, S. 606 ff.; Key, S. 184ff.; Chase, S. 21 ff.; Zink, S. 229 ff.; Binkley-Moos, S. 155 ff. 44 Die Aktivität der Chamber of Commerce auf diesem Gebiet springt besonders in die Augen.
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setzgebungsvorhaben zu äußern und Wünsche und Forderungen anzubringen. Es ist schon „high pressure" — obgleich das M i t t e l i n den letzten Jahren durch zu häufigen Gebrauch etwas abgenutzt ist —, wenn Interessenvertreter den Kongreß (oder auch eine Verwaltungsbehörde) aus einem bestimmten Anlaß m i t Briefen und Telegrammen aus den Wahlkreisen und dem ganzen Land überfluten. I n die L i t e ratur ist der Fall eines katholischen Priesters, des Father Coughlin, Pfarrer i n Royal Oak, Michigan, eingegangen, hinter dem nur eine kleine Gruppe von Katholiken stand. Er gab i n einem Zeitraum von mehreren Jahren wöchentlich politische Kommentare über eine Anzahl von Radiostationen. 1938 griff er einen Gesetzentwurf des Präsidenten Roosevelt an, der die Reorganisation der Bundesbehörden zum Ziel hatte. Die Presse hatte dem. E n t w u r f eine gute Mehrheit i m Kongreß vorausgesagt, und die Ergebnisse der Meinungsbefragung der Abgeordneten deuteten i n dieselbe Richtung. Father Coughlin aber verurteilte am Sonntag vor der Abstimmung i m Kongreß die „ B i l l " als undemokratisch und beschwor seine Hörer, telegraphisch zu protestieren. A m folgenden Tage gingen fast 100 000 Protesttelegramme i m Kapitol ein. Dieses Ereignis brachte i m Verein m i t anderen Umständen den Entw u r f zu F a l l 4 5 . I m allgemeinen bedarf es natürlich einer vorzüglich arbeitenden Lokalorganisation, wie sie namentlich den Gewerkschaften, dem Farm-Block und dem Veteranenverband zur Verfügung steht, u m i m geeigneten Augenblick Massenproteste zu produzieren 4 6 . Es kommt alles darauf an, daß der Eindruck der Spontaneität gewahrt bleibt 4 7 . Der Verdacht, daß die Organisation selbst die Briefe oder Telegramme m i t fingierten, etwa aus einem Telefonbuch eruierten Adressen expediert habe, beraubt dieses M i t t e l seiner Wirkung. Solche und andere Taktiken und P r a k t i k e n 4 8 haben die Aufmerksamkeit europäischer Beobachter immer besonders gefesselt. Es werden 45 Zink, a.a.O., S. 31. Eine einzige Welle von Briefen und Telegrammen kann selbst die Millionengrenze überschreiten (McKean, a.a.O., S. 618), was dann ernste Auswirkungen für die Arbeitsökonomie der Sekretariate haben kann. 46 Ein Vertreter des Farmblocks äußerte einmal, er könne binnen 48 Stunden über 150 000 Telegramme an den Senat provozieren, ganz gleich, ob es sich u m eine landwirtschaftliche oder eine andere Angelegenheit handele; F. R. Kent , Scaring the Senate w i t h Synthetic Telegrams, Des Moines Register, Ausgabe vom 20. 2. 1935; zit. bei Linden, a.a.O., S. 45 f.; dort weitere Beispiele. 47 „Never admit that it is only you who is talking"; das ist die Maxime. 48 Es kann hier darauf verzichtet werden, sie mit dem Bemühen um Vollständigkeit zu verzeichnen, da die Interessengruppen in Deutschland und i m übrigen Europa ebenfalls. Mittel gebrauchen, die denen ihrer amerika-
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
d a r ü b e r leicht s t i l l e r e M e t h o d e n , das „ e n g i n e e r i n g of c o n s e n t " 4 9 , v e r gessen, d i e j e n e o f t a n W i r k s a m k e i t ü b e r t r e f f e n .
Kein
Abgeordneter
ist m e h r a u f l e b e n d i g e n K o n t a k t m i t seinen W ä h l e r n bedacht als der amerikanische
Congressman. D i e Pressure G r o u p s l e i s t e n i h m
dabei
als I n f o r m a t i o n s q u e l l e u n e n t b e h r l i c h e H i l f e . G e w i ß s t e h t i h m p e r s ö n l i c h h e r v o r r a g e n d e sekretärische H i l f e z u r V e r f ü g i m g 5 0 u n d s i n d a u ß e r d e m d e r L e g i s l a t i v e Reference Service d e r L i b r a r y einem Stab
von
etwa
Legislative B i l l Drafting
170 h o c h q u a l i f i z i e r t e n
of Congress
Angestellten
und
C o m m i s s i o n m i t e t w a 15 J u r i s t e n
j e d e n W u n s c h d e r A b g e o r d n e t e n z u e r f ü l l e n ; aber er
findet
mit die
bemüht, nirgends
e i n größeres M a ß a n S a c h k u n d e als b e i d e n Interessenten, d i e i n d e r Regel n i c h t n u r
eigene B ü r o s ,
Washington unterhalten. fortlaufend
sondern
wissenschaftliche
Sie ü b e r s c h ü t t e n
m i t statistischem Material,
Kongreß
und
Resolutionen der
Memoranden, kompletten Gesetzentwürfen u n d dienen m i t
Stäbe
in
Exekutive Mitglieder, Auskünf-
t e n a l l e r A r t . D i e W i r k s a m k e i t dieser A k t i v i t ä t , die d u r c h i n d i v i d u e l l e Verhandlungen, Aussagen i n Ausschuß-„Hearings" u. dgl. unterstützt w i r d , l ä ß t sich k a u m j e e x a k t b e s t i m m e n , ist a l l e m A n s c h e i n nach aber a u ß e r o r d e n t l i c h g r o ß 5 1 . nischen „Verwandten" oft nicht unähnlich sind, und die Tagespresse über sie ausgiebig unterrichtet. 49 P. H. Odegard und Helms, zit. bei Binkley-Moos, a.a.O., S. 158. 50 Jeder hat ein modern ausgestattetes Büro; die Senatoren haben persönliche Assistenten mit einem Jahresgehalt von 10 000 Dollar und können weitere 20 000 Dollar für Sekretäre ausgeben, während die Mitglieder des Repräsentantenhauses jährlich 9500 Dollar für den gleichen Zweck verwenden können (Binkley-Moos, a.a.O., S. 430.). 51 James Bryce distanzierte sich bereits von der wenig guten Meinung, die sich die Öffentlichkeit u m die Jahrhundertwende über das Lobbying gebildet hatte. Er vergleicht den Vorgang gern mit dem Parteienstreit vor dem unabhängigen Richter und sagt in bezug auf das Lobbying: „advocacy of this kind is needed in order to bring the facts fairly before the legislature". So erklärt sich seine Sympathie für einen Gesetzentwurf, der schon 1875 im Senat eingebracht sei: ein Gremium von Anwälten solle als Interessenvertreter vor den Ausschüssen des Kongresses zugelassen werden; The American Commenwealth, Bd. I, 3. Aufl., S. 677 ff. Unter den „lobbyists" befinden sich in der Tat eine große Anzahl J u r i s t e n , namentlich ehemalige Congressmen und ehemalige Angestellte des öffentlichen Dienstes. Letztere scheiden zuweilen freiwillig aus ihrem A m t aus, um die Vertretung privater Interessen zu übernehmen, mit denen die Regierung in der Zahlung der Gehälter nicht konkurrieren kann. Sie betreiben das Lobbying dann u. U. bei derselben Behörde, in der sie früher angestellt waren, wobei ihnen dann die in amtlicher Eigenschaft erworbenen Beziehungen und Kenntnisse sehr zugute kommen. Noch unerfreulicher sind die sogenannten „ I n s i d e l o b b y i s t s " : Congressmen oder Behördenangestellte, die an der Entscheidung von Angelegenheiten mitwirken, an denen sie selbst persönlich interessiert sind, sei es daß die Anwaltsfirma eines Abgeordneten die Interessenvertretung — in der Regel durch
3. Die Pressure Groups in USA
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F ü r d i e politische u n d staatstheoretische E i n s c h ä t z u n g der Pressure G r o u p s s i n d z w e i M o m e n t e v o n entscheidender B e d e u t u n g : d e r G r a d i h r e r P u b l i z i t ä t u n d i h r e F u n k t i o n i m L e b e n d e r N a t i o n . I n der n o r d amerikanischen
Gesellschaft
haben g e h e i m e
Gesellschaften
l a n g e Z e i t eine e m i n e n t e B e d e u t u n g g e h a b t 5 2 . D i e besonderen B e d i n gungen zur Zeit der Kolonisation, ein Z u g z u m Männerbündlerischen, dessen soziologische W u r z e l n z u m T e i l
an
die d e r
schweizerischen
L a n d s g e m e i n d e 5 3 e r i n n e r n , u n d die große T r a d i t i o n d e r
Freimaurer-
l o g e n h a b e n auch d i e E n t w i c k l u n g e i n i g e r Pressure G r o u p s zeitweise e x e m p l a r i s c h beeinflußt.
1849 o r g a n i s i e r t e n sich i n N e w Y o r k
starke
einen Korrespondenzanwalt — wahrnimmt, sei es daß ein Angestellter durch Aktienbesitz engagiert ist, und dergleichen; weitere Einzelheiten und Literatur bei McKean, a.a.O., S. 609 ff. Wie erwähnt, schreibt der Legislative Reorganization Act den Pressure Groups vor, sich bei dem Clerc of the House registrieren zu lassen und die Höhe ihrer A u f w e n d u n g e n anzugeben. 1948 hatten 220 Organisationen über Tausend „lobbyists" namhaft gemacht; man schätzt, daß die w i r k liche Zahl erheblich höher ist. Den Berichten zufolge wurden 1948 insgesamt 6 700 000 Dollar ausgegeben (nach einer Schätzung sollen es in W i r k lichkeit etwa 12 Millionen gewesen sein). Industrie, Handel und Verkehr sowie Gewerkschaften meldeten die größten Beträge. Das höchste Einzelgehalt, das für 1949 gemeldet wurde, beläuft sich auf 65 000 Dollar, eine Anzahl „lobbyists" erhielten 25 000 bis 40 000 Dollar (Binkley-Moos, a.a.O., S. 166; Zink, a.a.O., S. 230). Man sieht, die amerikanischen Pressure Groups ziehen einen bemerkenswerten Teil ihrer K r a f t a u s d e m R e i c h t u m ihres Landes. Natürlich sind die meisten Interessengruppen sehr viel bescheidener. Typisch ist der Bericht der „Federation of American Scientists" (sie ist 1945 aus einer Lobby beim Kongreß hervorgegangen, die sich schon während des Krieges aus Anlaß der Gesetzgebung über die Kontrolle der Atomenergie gebildet hatte): „The Washington office (one salaried employee under supervision of a volunteer Executive Secretariat and supplemented by many local volunteers) provides a listening-post in normal times and a rallying point in emergency" (Bulletin of the Atomic Scientists, A Magazine for Science, Public Affairs and Education, V I , 1950 (February), S. 61. Ein Fall von „emergency" war beispielsweise 1949 gegeben, als der Senat die Atomenergie-Kommission auf kommunistische Parteigänger untersuchte und von ihren Mitgliedern den Loyalitätseid verlangte. 52 Es ist schwer anzunehmen, daß dieses einflußreiche Element der amerikanischen Gesellschaft einem der bedeutendsten europäischen Besucher Amerikas, Alexis de Tocqueville, während seines neunmonatigen Aufenthalts im Jahre 1831 entgangen ist, wenn er a.a.O., Bd. I, S. 198, behauptet, daß geheime Gesellschaften in Amerika unbekannt seien. Die Bemerkung muß wohl so erklärt werden, daß Tocqueville die revolutionären geheimen Gesellschaften des zeitgenössischen Frankreich vor Augen gehabt hat. Subversive geheime Gesellschaften hat es in der Geschichte der Vereinigten Staaten in der Tat nicht gegeben, bis die kommunistische F ü n f t e K o l o n n e dort auftrat (woraus sich die unerfahrene und etwas unbeholfene A r t des Umgangs mit solchen Vereinigungen und ihrer Bekämpfung erklärt). 53 Sie lebt noch heute in der Beschränkung des politischen Wahlrechts auf die Männer fort.
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
anti-katholische und gegen Einwanderer gerichtete Interessen i n einer geheimen Bruderschaft, die den Namen Order of the Star Spangled Banner trug. Die Arkandisziplin forderte von den Mitgliedern, selbst die Tatsache der Zugehörigkeit geheimzuhalten und auf die Frage danach zu antworten: Ich weiß von nichts (I know nothing). Als die Gruppe politisch sehr aktiv wurde, legte ihr der Volksmund den Namen „Know-Nothing Party" bei, unter dem sie heute noch zitiert wird. Z u dem Aufnahmeritus gehörte ein Eid, i n dem die Mitglieder gelobten, i m Fall ihrer Wahl zu einem politischen A m t jeden Katholiken oder Fremden aus den ihnen untergeordneten Stellen zu entfernen 5 4 . Eine der größten Organisationen des Farm-Blocks, die Grange, wurde 1867 gegründet als „national secret order of farmers", m i t einem geheimen Ritual, das die Zeremonien der Logen i m i t i e r t 5 5 . Sie bezeichnet sich selbst als die einzige Bauernbruderschaft (Farm Fraternity) der W e l t 5 6 . M i t der Ausdehnung solcher Vereinigungen zu Massenorganisationen verflüchtigte sich i h r geheimer Charakter i n Formalismen, und nur noch Spuren wie die Riten, die äußerst zahlreich verliehenen Grade, schließlich auch die aus Buchstaben des griechischen Alphabets gebildeten Namen der Studentenverbindungen erinnern noch an die alte, geheime Substanz 57 . I m Falle der Pressure Groups taten, w i e schon erwähnt, Gesetzgebung u n d Gewohnheit ein übriges: ihre Organisation und A k t i v i t ä t sind, i m großen und ganzen und entsprechend ihrem politischen Gewicht, kaum weniger public als die der politischen Parteien. Das politische System der Vereinigten Staaten und sein Staatsbegriff gestatten, i n der ökonomischen Ebene gültige Kategorien ohne Bruch auf das Politische zu übertragen. So ist die Bemerkung von Robert M. 54 Wilfried E. Binkley, American Political Parties, New York (Knopf) 1943, S. 187—205. 85 Frauen waren allerdings zugelassen. Bemerkenswert ist folgendes „Prayer for a country community", das gleichzeitig die religiös-moralische Grundstimmung mancher dieser Gruppen gut illustriert: „Our f a t h e r . . . save the women of the country from the physical strain of overwork, and from the nervous strain of loneliness and isolation. Put into the hearts of the men of their families a willingness to lighten their daily burden of toil by the supply of laborsaving conveniences and by thoughtful consideration"; zit. bei McKean. a.a.O., S. 447; dort weitere Schrifttumsnachweise. 58 „It is a ,social, educational and economic force, plus a neighborly and community building agency'"; vgl. V. Ο. Key, a.a.O., S. 33f. 57 Bekanntlich macht der in einigen Südstaaten verbreitete, gegen Neger, Juden und Katholiken gerichtete K u - K l u x - K l a n eine Ausnahme; ihm werden auch heute zeitweise noch Fememorde und andere Gewalttaten zur Last gelegt.
3. Die Pressure Groups in USA
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MacIver zu verstehen: Demokratie ist ein „way of life", eine Lebensart, „aber Politik ist Geschäft, großes Geschäft, das sich von anderen A r t e n i n seinen Methoden, aber nicht i n seinen Zielen unterscheidet" 58 . Nicht weniger realistisch ist eine Wahlbroschüre der Gewerkschaft Congress of Industrial Organizations (CIO), die mit der Feststellung beginnt: „Politik ist die Wissenschaft, wie wer was, wann und warum erhält. Politik gibt es i n jeder Bürgergruppe, Kirche, Gewerkschaft und Familie" 5 9 . Unter diesem wissenschaftlichen und politischen Aspekt, der in der Tat nicht zwischen Kirchen und Gewerkschaften unterscheidet, mögen die Pressure Groups in der Wahrnehmung ihrer Interessen bis zum äußersten gehen: Wie es i m liberalen System die eigentümliche Bedeutung des Preises ist, den Punkt des Gleichgewichts i m Spiel der miteinander ringenden Kräfte von Angebot und Nachfrage zu bestimmen, so ist nach einer verbreiteten Meinung das Resultat von „Pressure Politics" ebenfalls eine Balance zwischen den sich widerstreitenden Interessen 60 . Dabei ist es verhältnismäßig unwichtig, ob sich dieser Vorgang auf dem Interessenmarkt des United States Congress oder i n dem individuellen Geist des Abgeordnetcen, der zwischen zwei Extremen den Mittelweg wählt (oder dem stärkeren Druck weicht?), oder an der Börse der öffentlichen Meinung abspielt. Vor 120 Jahren hat Alexis de Tocqueville i n seinem Kapitel über die politischen Vereinigungen 6 1 diese Auffassung i n die Formulierung gekleidet: „L'extrême liberté corrige les abus de la liberté." Ein so scharfer und kompetenter Beobachter wie Ernest S. Griffith 62 glaubt bei den Pressure Groups einen Wandel von selbstsüchtigem Utilitarismus zu einem tieferen Verständnis ihrer F u n k t i o n i m Ganzen der Gesellschaft und Nation feststellen zu können 6 3 (das, wie erinnerlich, ein wesentliches K r i t e r i u m der korporativen Idee ist). Es ist i n der Tat eine eindrucksvolle Pose und zumindest ein Zeugnis für den common sense des amerikanischen Publikums, wenn Interessen58
The Web of Government, S. 219. „Politics is the science of how who gets what, when, and why. Politics exists in every civic group, church, labor union, family. The key man is always a politician. He keeps things going, wheels turning." Der erste Satz ist eine Abwandlung des Titels der von Harold D. Laswell veröffentlichten Schrift „Politics: Who gets What, When, How", New York (Whittlesey House) 1936. Der Titel der CIO-Broschüre lautet „Political Primer for all Americans"; zit. bei McKean , a.a.O., S. 472, Anm. 1. 80 vgl. statt anderer Binkley-Moos, a.a.O., S. 14. β1 De la Démocratie en Amérique, Bd. I, S. 200. 62 Griffith leitet den Legislative Reference Service bei der Library of Congress. 68 Congress, Its contemporary role, S. 105 ff. 50
6
Kaiser. Repräeentation
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Historische Leitbilder und Strukturtypen
gruppen stets m i t Nachdruck ihren A n t e i l an der Gesamtwirtschaft, ihre Dienstleistungen für die Allgemeinheit und ihren Beitrag zum nationalen Wohlstand, Komfort und zur allgemeinen Sicherheit hervorheben. So oft i m einzelnen auch öffentliche und private Interessen ineinsgesetzt werden, so mag es dennoch zutreffen, daß man sich nicht ständig i n den Mantel des Gemeinwohls kleiden kann, ohne daß auf die Dauer eine nachhaltige erzieherische Wirkung davon ausgeht. Der verbreitete Enthusiasmus, den w i r i n der Neuen Welt für Sozialarbeit und die Wahrnehmung allgemeiner Interessen antreffen 6 4 , ist günstige Voraussetzimg und überzeugendes Symptom zugleich. Pressure Groups sind die spontanen Organisationen einer i n vieler Hinsicht pluralistischen Gesellschaft. Es hieße ihre politische Rolle überschätzen, wollten w i r sie m i t Schlagworten wie „unsichtbare Regierung", „Regierung der Minderheiten" 6 5 , „Pressure Group-Demok r a t i e " 6 6 oder „Verzweiflung der Patrioten" 6 7 umschreiben. Geben w i r statt dessen zunächst wiederum Ernest S. Griffith zu einem abge68 wogenen Urteil das W o r t : „They are enormously useful; they are also i n many of their aspects extremely dangerous; they are also at times just a plain nuisance." 64
Er äußert sich nicht nur in der bekannten „Service-Clubs" wie Rotary, sondern auch in vielen politischen Organisationen, die sich mit Verwaltungsreform, der sparsamen Verwendung von öffentlichen Mitteln usw. befassen. Hier seien beispielsweise nur die National Municipal League und die League of Women Voters genannt; vgl. auch unten Kap. I I , 6. 65 Allen White, zustimmend zit. bei McKean, a.a.O., S. 341. ββ Binkley-Moos, a.a.O., S. 155. 97 Chase, a.a.O., S. 9. βδ Congress, Its contemporary role, S. 113.
Ζweiter
Teil
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen Der Gegenstand der folgenden Abschnitte ist schon auf den vorausgehenden Seiten, vorzüglich unter historischen Aspekten, berührt worden; später, i n anderem Zusammenhang, w i r d noch mehr dazu auszuführen sein. Hier soll weder Gesagtes wiederholt noch späteren Problemstellungen vorgegriffen werden. Es erscheint aber zweckmäßig, an dieser Stelle i n einer Reihe von kurzen Skizzen charakteristische Positionen, Dimensionen und Perspektiven des intermediären Interessenbereichs vergleichbar nebeneinanderzustellen 1 und so einige Prolegomena zu dem Versuch einer aktuellen Morphologie wichtiger Interessentypen anzubringen. 1. Die Gewerkschaften Von der großen Konfession des revolutionären Syndikalismus halten sie nur noch Bruchstücke i n ihren Händen. A n ihre Stelle t r i t t mehr und mehr das Bekenntnis zur aufrichtigen, konstruktiven Mitarbeit i n Wirtschaft, Gesellschaft u n d Staat. Es ist müßtig, darüber zu streiten, ob w i r hierin das Ergebnis einer gradlinigen kontinuierlichen Entwicklung oder die Auswirkungen einer Richtungsänderung, eines geschichtlichen Bruchs zu sehen haben. Maxime Leroy erkennt selbst i n der alten Ideologie des Generalstreiks noch konstruktive Elemente und weist andererseits mit Recht auf die revolutionäre Grundlage des heutigen Verlangens nach Verstaatlichung oder Vergemeinschaftung von Privateigentum hin. So sieht er i n jener Antithese mehr einen Unterschied i n der Formulierung und Technik der Durchführung als i n den Grundgedanken und Zielen der Arbeiterbewegung 2 , während dem weniger erfahrenen Beobachter vor allem der Kontrast zwischen einst und jetzt i n die Augen springt. 1 Eine detaillierte Darstellung des inneren Aufbaus der verschiedenen Organisationen würde allein viele Seiten füllen, aber jenem Ziel nicht viel näher bringen; sie würde die in den einzelnen Ländern verschiedenen und oft veränderten „Gehäuse" dieser Organisationen beschreiben, hätte aber über den Geist und den Willen, der sie sich gebaut hat, und über die Zwecke, für die sie konstruiert wurden, noch nicht Aufschluß gegeben. 2 Les Techniques Nouvelles du Syndicalisme, Paris (Garnier Frères) 1921, S. 4 f.
6*
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Der Syndikalismus der Jahrhundertwende w a r staats- und gesellschaftsfeindlich. Er dachte n u r i n ökonomischen Kategorien und begab sich mit der Forderung des „hors de la politique" i n die freiwillige Isolation der sich solidarisch fühlenden Proletarierklasse, u m von dort m i t um so größerer Gewalt den K a m p f gegen die Expropriateure, die Bourgeoisie und ihren Staat zu führen. A l l e A k t i v i t ä t war „action directe". — Wenn diese konsequente Konzeption der französischen Syndikalisten unter den deutschen u n d den meisten, unter deutschem Einfluß entstandenen übrigen kontinentalen Gewerkschaften 3 auch keinen Boden fand, so ist doch auch hier zu dieser Zeit die bemerkenswerte Unsicherheit und Reserve gegenüber Politik, Parteien und Staat unverkennbar. Seit dem ersten Weltkrieg kann die Entwicklung der Gewerkschaften i n der freien Welt bei aller Verschiedenheit untereinander auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, der das Gegenteil jener revolutionär-syndikalistischen Leitgedanken besagt. Die damit beginnende Epoche ist gekennzeichnet durch den E i n t r i t t d e r G e w e r k s c h a f t e n in die P o l i t i k und i n das ö f f e n t l i c h e L e b e n d e s S t a a t e s . Sie haben seitdem eigene, distinkte politische Interessen. Die beispielhafte deutsche Sozialgesetzgebung der 80er Jahre und die i h r folgenden Gesetze anderer Staaten hatten es ebensowenig vermocht, sie aus jener Isolation zu lösen, wie die von den Syndikalisten scharf zurückgewiesenen Versuche des französischen Gesetzgebers aus der gleichen Zeit. Was die Sozialpolitik nicht vermocht hatte, voll3 Auch die e n g l i s c h e n und a m e r i k a n i s c h e n Gewerkschaften kannten in ihren Anfängen eine kurze Phase der Rebellion gegen die wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsverhältnisse, die in dem andersartigen Milieu natürlich völlig andere Züge trug als auf dem Kontinent. Sidney und Beatrice Webb bezeichnen den Zeitraum von 1829 bis 1842 als die „revolutionäre Periode" der englischen Gewerkschaften; siehe The History of Trade Unionism, S. 113 ff. I n USA haben in den drei letzten Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende die Knights of Labor und später bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg die 1905 gegründeten und vor allem ungelernte Arbeiter organisierenden I n dustrial Workers of the World syndikalistische Tendenzen vertreten. Ihnen gegenüber hat sich die 1886 ins Leben gerufene American Federation of Labor mit ihrer evolutionär-reformistischen Linie wirksam durchgesetzt. Aber auch sie versuchte zunächst, den europäischen Gewerkschaften darin ähnlich, sich der Berührung mit den Parteien, der Regierung und aller politischen Aktivität zu enthalten; vgl. David B. Truman , The Governmental Process, Political Interest and Public Opinion, New York (Knopf) 1951, S. 70; Sidney Lens, Die amerikanischen Gewerkschaften, Frankfurt ο.J., S. 190 ff. (deutsche Übersetzung von Left, Right and Center, Conflicting Forces in American Labor, Hinsdale 111. [Regnery] 1949).
1. Die Gewerkschaften
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brachte der Krieg, der das Proletariat i n die nationalen Armeen und seine Führer i n staatliche Planungs- und Rationierungsbüros einordnete. Es w a r eine Integration von unwiderstehlicher Gewalt 4 . Wo immer dann militärische Zusammenbrüche, Staatskrisen oder sonstige Debakel ein politisches V a k u u m entstehen ließen, erlagen die Gewerkschaften zwangsläufig der Sogkraft dieser Situation und wurden zu Trägern politischer Funktionen. Neben und hinter den bürgerlichen und sozialistischen Parteien entwickelten sie sich zu I n s t i t u t i o nen der neuen s t a a t l i c h e n O r d n u n g ; sie haben in Deutschland schon i m März 1920, während des K a p p - P u t s c h e s , durch Ausrufimg des Generalstreiks diese Ordnung m i t erstaunlicher Wirksamkeit geschützt. Das Gewicht der Millionenmassen ihrer M i t glieder gestattete ihnen nicht mehr ein Verharren an der Peripherie des politischen Lebens, sondern zog sie mehr und mehr i n die innenpolitischen und selbst die außenpolitischen Auseinandersetzungen hinein. Die deutschen und englischen Gewerkschaften führten i n der Versöhnung m i t dem nationalen Staat, m i t dessen Belangen sich die Gewerkschaften heute aus eigenem Interesse vielfach identifizieren. A n die Stelle einer destruktiven Ideologie t r i t t konstruktive Staatsbejahung; aus Revolutionären sind die sich administrativen Aufgaben hingebenden Funktionäre geworden; die „action directe", wie sie sich noch i m Streik und i m Generalstreik äußert, hat nur noch die Bedeutung einer ultimo ratio neben den „mittelbaren" Maßnahmen: W i r kungen auf und durch die öffentliche Meinung, die Parteien und das Parlament, Verhandlungen m i t der Regierung, allen Stufen der Verwaltung, den Organen der ehemaligen Feindmächte i m besetzten Deutschland und Österreich, den Industrie- und Arbeitgeberverbänden als den sog. Sozialpartnern usw. I n dieser Lage u n d angesichts des gehobenen Lebensstandards der Arbeiterschaft, die vielfach einer solideren wirtschaftlichen Sicherung teilhaftig geworden ist, als sie etwa Intellektuelle und mittleres B ü r gertum heute besitzen, verliert der polemische Begriff des P r o l e t a r i a t s seinen Sinn. Es ist ein Symptom für das allmähliche Schwinden des alten Klassenbewußtseins, daß er uns i n gewerkschaftlichen Verlautbarungen seit langem kaum noch begegnet. I m Gegenteil, die Gewerkschaften sind längst nicht mehr eine proletarische 4
Das gilt, wenngleich in vermindertem Maße, auch für die amerikanischen Gewerkschaften, deren politische Aktivität durch den Ersten Weltkrieg intensiviert wurde (David B. Truman , a.a.O., S. 71).
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Organisation. Sie umfassen unter Ausschluß der Unternehmensleiter Arbeiter und Angestellte der gesamten produzierenden und verteilenden Wirtschaft, des Verkehrswesens, der Banken und Versicherungen, Erzieher und Wissenschaftler, ja sogar Angehörige des öffentlichen Dienstes 5 . Nach gewerkschaftlicher Auffass-ung sind sie alle A r b e i t n e h m e r 6 . Das ist der neue Begriff, der i m Deutschen an die Stelle des Schlagworts vom Proletariat getreten ist. I m Französischen ist es der Begriff des „producteur", des „citoyen-producteur", der eine ähn6 Es ist darum nur folgerichtig, wenn auch der polemische Gegenbegriff zu „Proletariat", der „ B ü r g e r", von dieser Begriffserweichung erfaßt wird. I n diesem Sinne hat die kommunistische Staatspartei der russisch besetzten Zone, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), ein argumentum e fortiori erbracht; ihr Aufruf zum 1. M a i 1952 beginnt mit den Worten: „Arbeiter, Bauern, Intellektuelle, deutsche Bürger." Der erste Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Hans Böckler, proklamierte auf dem Gründungskongreß am H.Oktober 1949 in München: „Bürger, nicht mehr Untertanen wollen w i r sein" (in seinem Referat „Die Aufgaben der deutschen Gewerkschaften in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft", herausgegeben vom Bundesvorstand des DGB, Düsseldorf, S. 20). Soziologen werden in diesem Begriffswandel auch den Ausdruck eines im Gegensatz zur marxistischen Verelendungstheorie sichtbar eingetretenen Wandels der äußeren Lebensumstände und der gesellschaftlichen Stellung der Arbeiterschaft erkennen. I n diesem Sinne ist sie „der n e u e M i t t e l s t a η d", was vor allem von ihren Funktionären gilt, die in der Gewerkschaftsbürokratie, der Verwaltung der Genossenschaften und der Zwangsversicherung in allen ihren Zweigen und in Deutschland neuerdings auch in der Reichweite des Mitbestimmungsrechts in den Aufsichtsräten und Vorständen der Industrie einträgliche Ämter innehaben. Diese soziologische Bestimmung ist nur dann mißverständlich, wenn in ihr nicht nur die phänomenologische Bezeichnung eines dem bürgerlichen Niveau gleichartigen oder nahekommenden Lebensstandards gesehen wird, sondern gleichzeitig die Deskription einer bourgeoisen Gesinnung, und man darüber hinaus diesem Begriff jenen odiosen Klang gibt, den ihm gerade die Arbeiterschaft ein ganzes Jahrhundert lang beigelegt hat. Auch nach dem Wortlaut des neuen r u s s i s c h e n Parteistatus setzt sich die kommunistische Partei nicht mehr nur aus einer Avantgarde des I n dustrieproletariats, sondern aus freiwilligen Militanten zusammen, die der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Intelligenz entnommen werden (Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 233 vom 24.8.1952).
• Theodor Geiger hat darauf aufmerksam gemacht, daß um 1880/90 herum die Arbeiterschaft in ihrem prozentuellen zahlenmäßigen Anteil innerhalb der gesamten erwerbsmäßigen Bevölkerung zu stagnieren begann und die Arbeiterparteien deshalb gezwungen waren, in anderen Schichten, unter den Angestellten, den von der Großindustrie bedrohten Teüen des gewerblichen Mittelstandes, den Kleinbauern usw. Bundesgenossen zu werben, wenn sie den Sozialismus auf parlamentarischem Wege durch die Macht der Mehrheit verwirklichen wollten; das habe wesentliche Kursänderungen in der Ideo·« logie und Agitationsweise der Bewegung notwendig gemacht (Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln und Hagen 1949, S. 75 ff.). — Es hat den Anschein, daß sich heute eine ähnliche Entwicklung bei den Gewerkschaften vollzieht und sie in dem Maße, in dem sie von dem revolutionären Syndikalismus abrücken, ihre Reihen ebenfalls mit bürgerlichen Arbeitnehmern zu füllen bemüht sind.
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liehe, wenn nicht noch umfassendere Bedeutung zu gewinnen scheint 7 . Der gleiche Vorgang ist in der englischen und i n der amerikanischen Gesellschaft erkennbar, die den Sammelbegriff „working class", obgleich i h m nie der polemische Gehalt des kontinental-europäischen „Proletariat" innewohnte, durch das neutrale „Labor" ersetzt 8 . Die intensiven und nicht selten kostspieligen Versuche der Gewerkschaften, sich auch bislang zum Mittelstand gerechnete und i n eigenen, nichtgewerkschaftlichen Interessenverbänden organisierte Schichten anzugliedern, haben bemerkenswerte Erfolge gezeitigt. Gewiß gibt es i n Deutschland neben der Einheitsgewerkschaft noch eine mächtige A n gestelltengewerkschaft, einen selbstbewußten Beamtenbund, unabhängige Lehrervereine, Ingenieurverbände usw. mit originären Interessen und profiliertem Charakter; aber für sie ist der Deutsche Gewerkschaftsbund eine spürbare und unwillkommene Konkurrenz. Man sieht, die Gewerkschaften haben sich aufgemacht, die gesamte arbeitende Nation, soweit sie sich aus Lohn- und Gehaltsempfängern zusammensetzt, i n einer einheitlichen Front der Arbeitnehmer zu organisieren. Das ist angesichts ihrer syndikalistischen, marxistischen, i n jedem F a l l klassenkämpferischen Ursprünge ein erstaunlicher Vorgang, der notwendig ihre Stellung i n Staat und Gesellschaft verändert 7 Maxime Leroy hat auf die Renaissance dieses alten Schlüsselbegriffs der Lehre Saint-Simons hingewiesen (Les Tendances du Pouvoir et de la Liberté en France au XXe Siècle, 1937, S. 108 ff.). Er erinnert vor allem daran, daß Charles Dunoyer, der trotz seiner liberalen Auffassungen ein Mitarbeiter an der von Saint-Simon herausgegeben Revue Encyclopédique war, dem Begriff „producteur" eine von seinen Zeitgenossen heftig kritisierte Weite gegeben hat; Dunoyer entwickelte namentlich in dem Artikel „Production" des Dictionnaire d'Economie politique jenen Begriff i m Gegensatz zu der von Adam Smith beherrschten Wirtschaftslehre seiner Zeit, die nur materielle Güter als Gegenstände der Produktion gelten ließ. Demgegenüber legte Dunoyer beispielsweise auch Künstlern, Professoren und Ärzten die Qualität des Produzenten bei. 8 Harold Laski bezeugt das Schwinden des alten Mißtrauens der Arbeiter gegenüber „what Americans call the »white-collar* and Englishmen the ,black-coated' workers"; an dessen Stelle trete mehr und mehr der Zusammenschluß (Trade Unions in the New Society, New York [Viking] 1949, S. 25). Kennzeichnend für die neue Atmosphäre in USA ist ein Bericht der amerikanischen Zeitschrift Fortune: „Die Streiks und die Streikdrohungen von 1945/46 riefen große Erregung hervor, aber es ist eine imposante Tatsache, daß zum ersten M a l eine große Streikwelle ganz ohne Gewaltakte abgelaufen ist. Die Teilnehmer an den Arbeitsniederlegungen von 1945/46 waren keine verzweifelten Menschen. Auf den Rednertribünen ließen ihre Führer hochtönende Phrasen gegen den Feind Kapitalismus ertönen; aber privat waren sie ebenso wie die Streikenden ruhige, kühle, ja geradezu freundliche Kämpfer" (in „Fortune", The Labor Situation, X X X I V , November 1946, S. 124; angef. bei Sidney Lens, Die amerikanischen Gewerkschaften, S. 403).
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— und gleichzeitig ein sprechendes Beispiel für die allen Interessengruppen innewohnende Tendenz zu fortwährender Expansion. Eine weitere, i n einer anderen Dimension verlaufende Ausdehnung ist seit langem bemerkt worden: waren die Gewerkschaften zunächst nur an der wirtschaftlichen Lage ihrer Mitglieder, das hieß vor allem der Lohnfrage, interessiert, so erweiterten sie bald i h r Tätigkeitsfeld. Es begann m i t der Einbeziehung von Unterhaltung, Freizeitgestaltung und Sport, während ihre schon sehr früh einsetzenden Bemühungen um die Aus- und Fortbildung ihrer Mitglieder noch durchaus 1 i n ihrer ursprünglichen Richtung lagen: wirtschaftliche Besserstellung nicht zuletzt durch Brechung des Bildungsmonopols der herrschenden Klasse. Demgegenüber sind sie heute, ihren zahlreichen eigenen Verlautbarungen zufolge, auf das Wohl der Mitglieder i n allen ihren Lebensäußerungen und Lebensbedingungen bedacht. Die Gewerkschaften sind so über ihre Funktion als Instrument für den Lohnkampf und Angebotskartell der Arbeitskraft des Proletariats i n mehreren Dimensionen hinausgewachsen. Jene Zielsetzung setzt sie unweigerlich i n Beziehung zum Staat, dem die Sorge um das Gemeinw o h l der Gesamtgesellschaft aufgegeben ist. Die Staatsfeindschaft und Staatsfremdheit der Gewerkschaften weicht dabei u m so rascher der Bereitschaft zur beratenden Teilnahme an der Formulierimg der staatlichen Politik und zur Unterstützung ihrer Durchführimg, je mehr das Gewicht ihrer Millionenmassen dank der Demokratisierung der Staatswillensbildung i n ihr ohnehin schon zur Geltung kommt. Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem A n s p r u c h , mitzubestimmen. Die verschiedenen Phasen und Bereiche der Mitbestimmung bedürfen hier keiner eingehenden Darstellung 9 . Es genügt zu sagen, daß sie i n Deutschland ihrer gegenwärtigen Tendenz nach f ü r alle Organe und Vorgänge der Gesamtwirtschaft m i t dem größten Nachdruck geltend gemacht wird, d. h. als Mitbestimmung i n den Betrieben und i n den Aufsichtsräten, als paritätische Mitbestimmung auch i n den überbetrieblichen Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft (Kammern) und schließlich i n der Form einer gutachtüch-'konsultativen M i t w i r k u n g 1 0 i n der staatlichen Wirtschaftspolitik (gegebenenfalls durch • Dazu unten Teil I I I , 1. Der Anspruch ist in offiziellen gewerkschaftlichen Verlautbarungen immer wieder erhoben worden. Besonders aufschlußreich sind die „Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft" vom 10
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Wirtschaftsräte auf der Landes- und der Bundesebene). Wie am A n fang ihrer Geschichte stehen die Gewerkschaften zunächst auch hier unter dem P r i m a t d e s ö k o n o m i s c h e n . Aber nicht mehr wie ehedem i m Sinne einer exklusiven Beschränkung, i m Gegenteil, sie sind seit langem gewohnt, zur Durchsetzung ihrer i m Bereich der Wirtschaft belegenen Forderungen in erster Linie die ihnen zugefallenen politischen Gewichte in die Waagschale zu werfen, und greifen i n der Regel erst nach Erschöpfung dieser Möglichkeiten auf die traditionellen syndikalistischen M i t t e l des Wirtschaftskampfes, namentlich den Streik, zurück. Hierin drückt sich nicht nur die i n allen Ländern fortschreitende Interdependenz von Politik und Wirtschaft aus, die die Gewerkschaften unter den Zwang politischen Handelns stellt. Jene Erscheinimg ist vor allem eine Folge der inneren Dynamik der Arbeiterbewegung, ein Ausfluß ihres eigentümlichen politischen Status. Die Gewerkschaften haben ihre recht- und machtmäßig ausgebaute Stellung auf dem Arbeitsmarkt, auf dem sie seit Jahrzehnten als Partner von Tarifverträgen anerkannt sind, durch Erhöhung des Prozentsatzes der organisierten Arbeitnehmer und, beispielsweise in Deutschland und Österreich, durch die Entwicklung zur Einheitsgewerkschaft überaus festigen können. Aber damit ist erst das wenigste gesagt. Jene Position auf dem Arbeitsmarkt ist nur das Fundament eines gewaltigen Organisations- und Machtapparates, der die Interessen der Arbeitnehmer nicht nur gegenüber dem Arbeitgeber, sondern in der Gesamtwirtschaft, ja sogar: i n n e r h a l b d e s G e s e l l s c h a f t s g a n z e n , d. h. gegenüber allen seinen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen vertritt. Sie sind damit dem ursprünglich nur ökonomischen Bezug von Kapital und Arbeit entwachsen und haben neue Dimensionen hinzugewonnen: p o l i t i s c h treten sie i n unmittelbare Beziehungen zur wahlmündigen Nation — indem sie Kandidaten und Parteilisten empfehlen oder ablehnen — 14. April 1950 und der „Gesetzes Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes . . . zur Neuordnung der deutschen Wirtschaft'· vom 22. M a i 1950, mit eingehender Begründung; beide sind herausgegeben vom Bundesvorstand des DGB, Düsseldorf. — Von Seiten der Unternehmer betaßte sich damit namentlich eine Denkschrift des Gemeinschaftsausschusses der deutschen gewerblichen Wirtschaft vom M a i 1950, die unter dem Titel „Das Problem des Mitbestimmungsrechts, Stellungnahme und Vorschläge der Unternehmerschaft" erschien; vgl. auch die „Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu den Beschlüssen des Arbeitskreises der Ausschüsse für Arbeit und für Wirtschaftspolitik des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes" vom Januar 1952.
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und als Organ der von ihnen repräsentierten Arbeitnehmerinteressen i n den i n t e r m e d i ä r e n Bereich zwischen Individuum und Staat. Das macht die Gewerkschaften zu einer echten politischen Institution. Wie Marx dem bürgerlichen Gegner auf das ökonomische Gebiet hat folgen müssen, so mußlten die Arbeitgeberorganisationen dem Bürgert u m i n Demokratie und Parlamentarismus folgen 1 1 . Nichtsdestoweniger ist ihr erster und eigentlicher Beruf die Wahrnehmimg der w i r t schaftlichen Belange ihrer Mitglieder 1 2 , hingegen nicht nur, wie ursprünglich, gegenüber ihren Arbeitgebern, sondern gegenüber allen Faktoren unserer sich beständig engmaschiger strukturierenden W i r t schaft, die den Reallohn und die wirtschaftliche Sicherheit des Arbeitnehmers beeinflussen. Grundsätzlich können wirtschaftliche Interessen auf zweierlei Weise wahrgenommen werden: durch unmittelbare Auseinandersetzung m i t den übrigen Beteiligten eines bestimmten W i r t schaftsvorgangs oder durch Inanspruchnahme der Staatsautorität, d. h. durch die Herbeiführung autoritärer Eingriffe in wirtschaftliche Abläufe. I m Unterschied zu ihren amerikanischen Schwesterorganisationen beschreiten die europäischen Gewerkschaften vorzugsweise den letztgenannten Weg, den sie für erfolgreicher und bequemer halten, da sie zu den entscheidenden Artikulationsorganen der staatlichen Wirtschaftspolitik, Parlament und Regierung, sich besonders leicht Z u t r i t t verschaffen können: durch die individuelle Wahlentscheidung der Millionen ihrer Mitglieder und durch unmittelbaren, organisierten Druck 1 3 . Sie setzen sich darum i n der Regel für eine Intensivierung der staatlichen Wirtschaftspolitik ein, die somit auch eine Mehrung ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Möglichkeiten m i t sich bringt. I m einzelnen fordern sie namentlich die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, neuerdings teilweise i n der abgewandelten Form der Überführung i n Gemeineigentum, die, ohne daß bisher präzise Unterscheidungsmerkmale entwickelt wären, größere Möglichkeiten f ü r eine 11 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München und Leipzig 1926, S. 86. 12 Das meinte der Vater der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, Samuel Gompers, wenn er die A F L auf „trade unionism, pure and simple" verpflichtete, eine Forderung, die man heute gern präziser durch die Formel „job consciousness" ausdrückt: „the job interest as the only hard reality in the wage earner s life." Vgl. Selig Perlman, The Basic Philosophy of the American Labor Movement, in The Annals of the American Academy of Political and Social Science, March 1951, S. 59 f. 13 Das gilt namentlich für Deutschland, Österreich und die Länder, deren Gewerkschaften sich unter deutschem Einfluß entwickelt haben, wie ζ. B. Skandinavien, wo der staatsfremde Syndikalismus seit je weit weniger verwurzelt war als in Frankreich und den von dort beeinflußten Gebieten.
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unmittelbare Beteiligung der Gewerkschaften und anderer Interessenverbände an dessen Verwaltung eröffnen soll 1 4 ; sie fordern ferner eine aktive Preispolitik, arbeitsintensive Investitionspolitik und eine Politik der Vollbeschäftigimg und haben sich damit so weit durchgesetzt, daß die öffentliche Meinung keines Landes noch ein ökonomisches System akzeptieren wird, das nicht ein hohes Beschäftigungsniveau garantiert; — das alles sehen sie i n dem Rahmen eines allumfassenden W i r t schaftsplanes, einer Idee von fast schon mythischer Kraft. So erfüllt sich auch an den Gewerkschaften das S c h i c k s a l jeder organisierten Macht, ungeachtet ihrer i m Grunde vielleicht unpolitischen Zielsetzungen und Wurzelbereiche und i m Falle der Gewerkschaften sogar trotz einer ursprünglichen Aversion gegen alle Politik, i n d e n B a n n k r e i s d e s P o l i t i s c h e n z u g e r a t e n , seinen Gesetzen unterworfen und seinen Gefahren ausgesetzt zu werden. Das gilt für die amerikanischen Gewerkschaften sowohl wie für die europäischen 15 ; auch für jene ist Politik „the everyday house keeping j o b " 1 6 . Amerikanische Trade Unions können jedoch nur m i t großer Vorsicht und kluger Maßhaltung auf dem politischen Feld operieren, wenn sie nicht schließlich den Widerstand der öffentlichen Meinung und der politischen Repräsentanten der Nation i m Kongreß herausfordern wollen, die schlechterdings nicht gewillt sind, politische Prärogativen einer organisierten Minderheit zu dulden 1 7 . Auf dem europäischen Kontinent haben die politischen Aktionen der Gewerkschaften dagegen noch vielmehr den Charakter kühner und oft aggressiver Experimente, und es 14 vgl. Hessische Verfassung Art. 39—41. Der Verfassungsstreit um Art. 41 hat allerdings die ungelöste Problematik dieses keineswegs hinlänglich definierten Begriffes nicht aufhellen können; dazu namentlich Kurt Ballerstedt in einem Gutachten vom 14. März 1952 „Der Begriff des Gemeineigentums i m Sinne des Art. 40 Abs. 1 der Hessisdien Verfassung vom 1. 12. 1946" (Maschinenschrift), angef. von Werner Weber, Bericht über die Rechtsgutachten zur Frage der Sozialisierung in Hessen (Artikel 41 der Hessischen Verfassimg), März 1952, als Manuskript gedruckt. Das Gutachten von Ballerstedt stand mir nicht zur Verfügung. 15 Selbst die konservativen Gewerkschaften in USA haben zu den Mitteln des politischen Drucks gegriffen, „nicht weil sie von dem Grundsatz der job consciousness abfielen, sondern gerade weil sie daran festhielten" (Perlman, a.a.O., S. 62). 16 Walter P. Reuther , Practical Aims and Purposes of American Labor, in The Annals of the American Academy of Political and Social Science, March 1951, S. 71. 17 Deshalb konnte dem laborfreundlichen Wagner Act von 1935 i m Jahre 1947 der Taft-Hartley Act folgen, der seine Entstehung nicht zuletzt der großen Streikwelle von 1946 verdankt und den unter dem Regime des New Deal und namentlich des Wagner Act geförderten Machtzuwachs der Gewerkschaften beschneidet, deshalb auch die Minderung ihrer Erfolge i m Lobbying und den Wahlkämpfen der letzten Jahre.
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scheint noch einer Reihe von Kraftproben zwischen ihnen und ihren Sozialpartnern (Industrie- und Mittelstandsorganisationen) sowie den Parlamenten und Regierungen zu bedürfen, bevor das Maß und die Grenzen ihrer politischen Funktion für das allgemeine Bewußtsein bestimmter hervortreten. Immerhin scheint auch die europäische Öffentlichkeit mit zunehmender Sensibilität auf die gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen zu reagieren und diese um so weniger tolerieren zu wollen, je mehr sie die individuelle Versorgung mit Gütern und Leistungen beeinträchtigen und ihre Ziele mit dem politischen Wollen, den Bedürfnissen und den Wertvorstellungen der Nation nicht i n Einklang stehen. Tatsache ist, daß die organisatorischen und finanziellen 18 Möglichkeiten großer Gewerkschaften heute nur noch zum Teil durch die Wahrnehmung der unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen der A r beiter in Anspruch genommen werden. Das gilt vor allem, wenn i n den modernen Demokratien die Arbeiterschaft sich schon i n den Parlamenten und häufig auch in den Regierungen durch den Stimmzettel machtvolle Vertretungen geschaffen hat, die ihre Belange m i t Hilfe des staatlichen Imperiums wahrnehmen. Die expansive Tendenz gewerkschaftlicher A k t i v i t ä t ist so nicht zuletzt eine Folgeerscheinung überschüssiger Kraft, die gerade auch außerhalb der syndikalistischen Konzeption Gegenstände gewerkschaftlichen Interesses sucht, findet und i n Angriff nimmt. Ein markantes Beispiel dafür ist der Entschluß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, mit Hilfe des M i t b e s t i m m u n g s r e c h t s durch seine Funktionäre Unternehmeraufgaben ausüben zu lassen und so nicht nur durch die Betriebsräte der Arbeit18 Es gibt wenige Geheimnisse, die von den meisten Gewerkschaften so gehütet werden wie das Ausmaß ihrer f i n a n z i e l l e n R ü c k l a g e n ; Verlautbarungen darüber sind mit Vorsicht aufzunehmen. Es besteht aber kein Zweifel, daß das Kapital d. h. die ö k o n o m i s c h e Macht der deutschen, englischen und amerikanischen Gewerkschaften eine erhebliche Steigerung ihrer organisatorischen Macht bewirkt. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1950 schätzt die Rücklagen der amerikanischen Gewerkschaften (der lokalen und der zentralen Organisationen) auf drei bis vier Milliarden Dollar, die fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der größten Sicherheit und nicht nach Erwerbsrücksichten angelegt waren (New York Times vom 2. 2. 1950). Der österreichische Gewerkschaftsbund beziffert sein Vermögen in der Bilanz zum 31. 12. 1950 auf annähernd 54 Millionen Schilling (Tätigkeitsbericht 1950 des österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wien 1951, S. 135). Der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes gibt in seinem Geschäftsbericht für 1952—1953 (Düsseldorf 1954) nur das langfristig angelegte Vermögen des DGB (Liegenschaften, Beteiligungen und Hypotheken) mit 44,56 Millionen D M an. 1952 betrugen die Zuweisungen 5,13 und 1953 2,16 Millionen D M (S. 24, 19).
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nehmer und auf dem Wege über die staatliche Autorität, sondern auch durch seine Vertreter i m Management die Wirtschaft mitzusteuern. Auf derselben Linie liegt es, wenn nach den schwedischen Gewerkschaften auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Internationale Bund freier Gewerkschaften 19 sich anschicken, i n großem Stil in das F i l m g e s c h ä f t einzusteigen — i n richtiger Einschätzung des Films sowohl als „Industrie- und Wirtschaftsfaktor" wie seiner „ k u l t u r politischen Schlüsselstellung" 20 . A m weitesten ist die „Histadruth", der Gewerkschaftsbund i m Staate Israel, auf dem Wege der Agglomeration wirtschaftlicher Macht fortgeschritten. Sie hat seit ihrem Bestehen i h r Augenmerk auch auf selbständige wirtschaftliche Tätigkeit gerichtet u n d kontrolliert heute einen großen Teil der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion, der Verteilung und des Verkehrs und sogar des Schulwesens i n den ländlichen, kollektiven und kooperativen Siedlungen. Die auf dem „jungfräulichen Boden" des neuen Staates und auf der geistigen Grundlage eines utopischen Sozialismus aufschießenden Unternehmungen der Gewerkschaften wurden finanziell durch Spenden des internationalen Zionismus getragen, in dem die Arbeiterführer eine bedeutende Bolle spielten 2 1 . Diese Entwicklung w i r d begleitet und gefördert durch neue, sich langsam bildende Vorstellungen von der Holle der Arbeiterschaft und ihrer Gewerkschaftsorganisation i n Gesellschaft und Staat. Das alte Konzept ist überholt; es hat seine Glaubwürdigkeit und seine A n ziehungskraft auf die Massen eingebüßt, auch dort, wo es künstlich aufrecht erhalten wird. Jeder Versuch, den Standort der Gewerkschaften i n Gesellschaft und Staat neu zu bestimmen, muß von den eingetretenen Wandlungen ausgehen: 1. Die Arbeiterbewegung ist als I n t e r n a t i o n a l e groß geworden. Die Forderungen aber, die das international organisierte Proletariat an die Nationalstaaten gestellt hat, sind i m Rahmen nationaler Gesetzgebungswerke verwirklicht. Mehr noch: Die Gewerkschaften sind zu einer tragenden Säule der N a t i o n a l s t a a t e n geworden: I n Deutschland, wo der Kampf u m die Erhaltung der Produktionsstätten gegen feindliche Demontage und die Rückgewinnung der ver19
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7. 7. 1952. Gottfried Bold, Der Film — Konzession oder Auftrag, in dem vom DGB aus Anlaß der von ihm veranstalteten Ruhrfestspiele i m Juni 1952 herausgegebenen Heft „Kulturtage der Arbeit". 21 Abba Eban, Israel, The Emergence of a Democracy, in Foreign Affairs, An American Quaterly Review. X X I X , 1951, S. 433, und namentlich Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 312 vom 12. 11. 1952. 20
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lorengegangenen deutschen Souveränität als eine der vornehmsten Aufgaben auch der Gewerkschaften galt und gilt und die Führer der Arbeiterschaft auf jeden Fall verhindern wollten, daß man ihnen wiederum wie nach dem ersten Weltkrieg den Vorwurf machte, sie seien nicht „national"; i n allen während des Krieges unter fremder Besatzimg stehenden Ländern, wo die Arbeiterbewegung eine führende Holle i n der Résistance und den ersten Nachkriegsregierungen spielte; i n allen kriegführenden und nicht-kriegführenden Ländern, wo sie als bewußte Mitträger nationaler Verantwortung Unruhen an der „Front der Arbeit" verhinderten u n d i n engem Kontakt m i t den Regierungen Verwaltung und Politik ihres Landes unterstützten. Sie haben schließlich m i t dem Stimmzettel ihrer Mitglieder und durch organisierten Druck u m die „Eroberung" ihres nationalen Staates gekämpft und waren weithin erfolgreich. Aber der Tisch, an den sie sich setzten, war nicht mehr gefüllt: Die Staaten sind nicht nur verarmt, ihre Existenz als Nationalstaaten ist i m Zeitalter großräumiger politischer Manifestationen bedrohlich i n Frage gestellt. Der Kassandraruf vom Ende der Nationalstaaten enthüllt die hintergründige Paradoxie des angedeuteten Vorgangs. 2. Die Gewerkschaften haben die Z i e l e , für die sie Jahrzehnte lang gekämpft haben, e r r e i c h t und haben noch kein neues Programm, das der mitreißenden Vehemenz und Überzeugungskraft des Syndikalismus entfernt gleichkäme. Sie sind als Organisationen von den „Sozialpartnern", den Staaten und der öffentlichen Meinimg anerkannt u n d haben keine Schwierigkeit, durch Tarifvertrag oder m i t Hilfe gewerkschaftlicher Kampfmittel, einschließlich des Streiks, den Lebensstandard ihrer Mitglieder der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. 3. Sie schöpften ihre L e g i t i m a t i o n aus der erbarmenswerten Lage des arbeitenden Proletariats. Diese Grundlage ist heute überall dort entfallen, w o sie gut bezahlte Arbeiter und einen neuen M i t t e l stand vertreten 2 2 , die Armen und Hilflosen aber i n ganz anderen Gruppen zu suchen sind: unter den Alten und den Rentnern, den Flüchtlingen und den depossedierten Teilen des alten Bürgertums. Die gegenwärtige Machtposition der Gewerkschaften i n Gesellschaft und Staat ist ein imbestreitbares 23 Faktum. Umstritten sind A r t und 22 „Die Verelendungstheorie ist eine Legende". Detaillierte Nachweise bei Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft i m Schmelztiegel, Köln 1949, S. 57 ff. und 168 ff. 23 I n den angelsächsischen Ländern sind die Gewerkschaften und ihre
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Ausmaß ihrer Legitimation. Darin offenbart sich ein Mangel, der für das Gefühl der breitesten Öffentlichkeit schwer wiegt 2 4 . Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat das Verdienst, das Problem zum Gegenstand eines dreitägigen „Europäischen Gesprächs" in Recklinghausen 25 gemacht zu haben: ein Zeugnis seiner Stärke und seines Kraftgefühls. — Nach dem oben Gesagten w i r d hier die Auffassung vertreten, daß die Kreation einer neuen, polemischen Gewerkschaftsideologie ebenso eine Unmöglichkeit ist wie ihre Ansiedlung i n sozialethischen oder weltanschaulichen Bereichen 26 . Selbst der große und radikale englische Sozialist Harold Laski weiß keine andere brauchbare Ideologie mehr zu nennen als die des Kommunismus, die er aber nicht empfiehlt 2 7 , obwohl er die kommunistischen Methoden für nicht schlimmer hält als den selbstsüchtigen Kampf demokratischer Gewerkschaftsführer u m persönliche Macht. Und der aus entgegengesetztem Lager stammende Harvard-Professor Sumner H. Slichter beschränkt sich k l u g auf pragmatische Analysen und nuancenreiche Ratschläge 28 . Die Gewerkschaften haben nach wie vor eine ö k o n o m i s c h e Funktion: die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder i m Gesamtbereich der nationalen und internationalen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Sie haben darüberhinaus bedeutungsvolle k u l t u r e l l e Aufgaben übernommen und spielen m i t imponierender Geste die Rolle eines Kunstmäzens: um dem Arbeiter den ihm zukommenden Anteil auch am geistigen Leben der Gesellschaft zu erschließen und ihn nicht zuletzt auf dieser Ebene i n der Handhabung und Meisterung Praxis ein permanenter Verstoß gegen die Monopol- und Anti-Trust-Gesetze; sie sind aber dadurch geschützt, daß sie ausdrücklich aus dem Kompetenzbereich der Verfolgungsbehörden, der amerikanischen Federal Trade Commission, der kanadischen Combines Investigation Commission und der englischen Monopolies and Restrictive Practices Commission, ausgeklammert wurden. 24 Selbst Kurt Schumacher, um nur diesen zu nennen, hat anläßlich der Neugründung der Sozialistischen Internationale auf dem Sozialistenkongreß in Frankfurt am 1. Juli 1951 erklärt, es sei das Kennzeichen der letzten vier Jahrzehnte, daß mehr neue Tatsachen geschaffen seien, als die politische Theorie habe bewältigen können. Die Arbeiterbewegung sei aber auf eine erkenntnisstarke und leistungsfähige politische Theorie angewiesen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 7. 1951). 25 Vom 28. bis 30. Juli 1952 im Rahmen der Ruhrfestspiele des DGB. 2e Natürlich haben auch politische Phänome ihre religiöse, ethische und, wenn man will, auch ästhetische Dimension. Davon ist aber ihr Kriterium zu unterscheiden. 27 Trade Unions in the New Society, New York (Viking) 1949, S. 37 und 166 f. 28 Trade Unions in a Free Society, Cambridge, Mass. (Harvard University Press) 1948.
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seiner sozialen Gleichberechtigung zu unterstützen. Auch das ist ein A k t der Befreiung, wenngleich nur die Voraussetzungen kollektiv geschaffen werden können, die Teilnahme selbst aber ein personaler Auftrag ist, solange man — wie der Deutsche Gewerkschaftsbund in seinen Ausstellungen und Darbietungen moderner Kunst — unter K u l t u r auch noch etwas anderes versteht als ihre zivilisatorische Breite. A l l e diese Funktionen, so wichtig und wertvoll sie sind, verblassen indessen vor dem eigentlichen Problem: der Ungewißheit über ihren p o l i t i s c h e n S t a t u s . Zwei der erfahrensten Gewerkschaftskenner, Goetz Briefs und Peter F. Drucker, sprechen von einer Krise der Gewerkschaften. Es ist keine Wachstums- und keine Schwächekrise, sondern eine M a c h t k r i s e , „a crisis of success" 29 ; ihre Macht ist überdimensioniert. Sie sind „ i n der Lage einer schweren Artillerie, i n deren Schußfeld sich nur Objekte für Kleinkaliber befinden" 3 0 . Die uns heute gestellte Aufgabe beschränkt sich darum nicht darauf, für den Hausgebrauch der Gewerkschaften ein neues politisches Programm zu entwickeln. Die Frage nach dem Wesen dieser mächtigen Organisation schließt für die Nation immer auch die Frage nach dem politischen Standort und dem staatsrechtlichen Status der Gewerkschaften ein, und das ist i n dieser späten Stunde des abendländischen Konstitutionalismus eine wahrhaft schicksalhafte Frage. 2. Arbeitgeberverbände, Industrie und Gewerbe Das hervorragende Beispiel für die Kreation politischer Macht durch Organisation, durch die Organisation von Massen, sind die Gewerkschaften. Die politische Macht der auf der Arbeitgeberseite stehenden Gruppen ist dagegen i m Ursprung ökonomische Macht. Ihre Grundlage ist das Privateigentum und sein Schutz durch die staatliche Ordnung. Es gibt vielerlei Arten ökonomischer Macht: Grundeigentum, Eigent u m an Rohstoffen, Vieh, bewegliche Güter aller A r t , Monopole, 29
„ . . . but that may make it all the more severe"; Drucker, Labor in I n dustrial Society, in The Annals, March 1951, S. 145. 80 Bnefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, Die Gewerkschaften am Scheidewege, München 1952, S. 97 und passim. Papst Pius XII. hat in der Nachkriegszeit mehrfach auf die Gefahr der „Vermachtung" hingewiesen, der die Wirtschaft nicht nur von der Kapitalseite, sondern auch von Seiten der Gewerkschaften ausgesetzt ist. Er hat diese Gefahr auch in der Einführung des Mitbestimmungsrechts gesehen; vgl. die Papstansprache zum Mitbestimmungsrecht, Recht der Arbeit, I I I , 1950, S. 386 f.
2. Arbeitgeberverbände, Industrie und Gewerbe
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Patente, Forderungen, Lizenzen usw. 1 Durch K a r l Marx hat das Eigent u m an den Produktionsmitteln repräsentative Bedeutung erlangt. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, trotz der Aufspaltung und des Übergangs seiner Funktionen auf Management und das die Rechte des Aktienbesitzers vielfach ausübende Großbankentum 2 . Beide, Management und Hochfinanz, sind heute noch „ d i e Wirtschaft" in einem prominenten und exklusiven Sinn. Zwischen industrieller Produktion und Organisation i n ihrer elementaren Form als Arrangement von Arbeitskraft, technischer Ausrüstung und Rohmaterial besteht ein ursprünglicher Zusammenhang, auf den schon früher hingewiesen wurde 3 . Adam Smith hat auf eine Selbstorganisation der Wirtschaft angespielt, die einen mehr entwickelten und die Gesellschaft tangierenden Sinn hat. Schon 1776 bemerkte er i n seinem Wealth of Nations: „Leute derselben Handelsbranche kommen selten zusammen, nicht einmal zu Lustbarkeiten und zum Zeitvertreib, ohne daß die Unterhaltung i n einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder i n irgendeiner Absprache, die Preise zu erhöhen" 4 . Das ist ein frühes Zeugnis für den die moderne W i r t schaftsgeschichte bewegenden Willen zur Beherrschung des Marktes. Neben anderen Faktoren wie der Produktion von Massenartikeln und der Weiträumigkeit des modernen Wirtschaftslebens trieb er die Konzentration des privaten Vermögens voran. Der größte Teil dürfte heute i n Kapitalgesellschaften investiert sein; i n USA, wo dieser Vorgang a m weitesten fortgeschritten ist, w i r d das Ausmaß der Konzentration dadurch veranschaulicht, daß von den 48 Einzelstaaten nur zehn innerhalb ihrer Grenzen eine größere Summe von privatem und 1 Es zählt dazu alles das, was i m Privatrecht und i m Strafrecht gemeinhin unter dem Vermögensbegriff zusammengefaßt wird. 2 Auf Grund des Depotstimmrechts. I n USA üben Banken ähnliche Funktionen aus als Nominees (ermächtigt durch einen Vermögensverwaltungsvertrag) oder als Investment-Trusts. Doch besteht dort eine eindeutige Tendenz zur Stärkung des Managereinfiusses, den die Börsengesetzgebung von 1934 durch Einführung des sog. Proxy-Statements, das der Unterrichtung des Aktionärs bei Einholung der Stimmrechte dient und den neuerdings auch Schutzverednigungen der Aktionäre zu beschneiden trachten. 8 Vgl. oben Einleitung Anm. 8. 4 A n Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nationes, Book I, chap. 10, Aberdeen (George Clark & Son) 1848, S. 94. Smith fährt dort fort: „Es ist in der Tat immöglich, solche Zusammenkünfte durch irgend ein Gesetz zu verhindern, das durchführbar wäre und mit Freiheit und Gerechtigkeit i m Einklang stände. Aber wenn das Gesetz schon Leute derselben Branche an gelegentlichen Zusammenkünften nicht hindern kann, so sollte es doch nichts tun, solche Versammlungen zu erleichtern, erst recht nichts, sie notwendig zu machen" — eine klare Absage an die ständische Idee.
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Kaiser, Repräsentation
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öffentlichen Vermögen aufweisen können, als die A k t i v a eines einzelnen Unternehmens, der Metropolitan Life Insurance Company oder der American Telephone and Telegraph Company, ausmachen5. M i t der Gründimg von Trusts, Kartellen, Konzernen, Holding-Gesellschaften, Interessengemeinschaften und Vereinigungen aller A r t schritt die Konzentrationsbewegung über die Grenzen der Einzelunternehmen und der Staaten hinweg, führte zu einer großmaschigen Organisation der nationalen Wirtschäften und der Weltwirtschaft und ermöglichte so gigantische Kombinationen, wie w i r sie ζ. B. i m Bereich der Stahlu n d Erdölindustrie kennen. U m ihren wirtschaftlichen Mißbrauch zu hindern, sucht man sie durch Kartell- und Anti-Trust-Gesetzgebung den Bedingungen des freien Marktes, des Wettbewerbs, — ganz oder teilweise — zu unterwerfen 6 und vertraut auf dessen „unsichtbare Hand", die die Unternehmerwirtschaft zu dem Ziel der prästabilierten Marktharmonie geleitet und damit dem Allgemeinwohl dienstbar macht, obwohl dieses „nicht zu ihren Intentionen gehörte" 7 . Dem haben w i r hier nicht nachzugehen. Wie alle Macht hat auch die so organisierte ökonomische Macht unleugbar eine p o l i t i s c h e Q u a l i t ä t . I n der Frühzeit und i m „goldenen Zeitalter" des Kapitalismus illustrieren nicht wenige ihrer politischen Äußerungen ein politisches Axiom: Soziale Kräfte, denen nicht durch Gegenkräfte das Gleichgewicht gehalten wird, neigen wie i m wirtschaftlichen so auch i m politischen Bereich zu Auswüchsen. Das ist natürlich am leichtesten der Fall i n einem konsequent durchgeführten demokratischen System, das wie kein anderes alle gegebenen sozialen Mächte ins politische Spiel bringt und das als schiedsrichterliches Organ nicht die Institution eines Monarchen oder eines i h m nachgebildeten Staatsoberhaupts kennt, sondern allein die öffentliche Meinung und ein von i h r abhängiges Parlament. A u f dem ehemals kolo5 Senator Joseph C. O'Mahoney als chairman des Temporary National Economic Committee, 1938—1941, Final Report, Washington (Government Printing Office), S. 677. Dort weitere aufschlußreiche Angaben. Vgl. ferner V. O. Key, Politics, Parties and Pressure Groups, 2. Aufl., New York (Crowell) 1950, S. 88 ff. 6 Für die Entwicklung in U S A vgl. statt anderer den Abriß der Geschichte des Sherman Anti-Trust-Act von 1890 bei Heinrich Kronstein, Die Politik des Wettbewerbs in den USA, Ordo, I I I , 1950, S. 82 ff., mit der bemerkenswerten Feststellung: „Es waren jedesmal Volksbewegungen nötig, um das durch Gerichtsauslegung blockierte Gesetz in Bewegung zu bringen" (S. 86, 88). 7 Vgl. Adam Smith, The Wealth of Nations, Book I V , chap. 2, a.a.O, S. 297.
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nialen Boden Amerikas sind solche politischen Exzesse ökonomischer Macht durch keine traditionellen Bindungen oder überkommenen patriarchalischen Gewohnheiten gemildert oder kaschiert. So w i r d uns beispielsweise aus dem westlichen Pennsylvanien und den Textilbezirken des Südens berichtet, daß dort die Β erg werksdirekt or en und hier die Leiter der Textilfabriken jeweils die Gemeinde oder die Stadt auch politisch beherrschten: sie kontrollierten Kirchen 8 , Schulen, Zeitungen, Straßenkehrer und die Polizei. „Es gab keine Schulen i n unserem Sinn, und es gab keine freie W a h l " 9 — bis ihnen in den Gewerkschaften mächtige Gegenspieler erwuchsen. Die Geschichte der d e u t s c h e n Wirtschaftsverbände ist gekennzeichnet durch die scharfe Unterscheidung zwischen Unternehmer- und Arbeitgeberverbänden. M i t der industriellen Aufwärtsbewegung zur Zeit der Reichsgründung beginnt auch die Geschichte der größeren Unternehmerorganisationen. 1869 wurde der Mittelrheinische Fabrikantenverein i n Mainz gegründet; ihm folgte 1871 der Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen i n Rheinland und Westfalen m i t dem Sitz i n Düsseldorf (der sog. Langnamverein). Nach weiteren Gründungen, unter denen die Nordwestdeutsche Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller hervorragt, bildete sich 1876 durch Zusammenschluß der rheinisch-westfälischen Verbände m i t den Organisationen der süddeutschen Textilindustrie der einflußreiche Zentralverband deutscher Industrieller. Von i h m spaltete sich 1895 der vorwiegend i n Mitteldeutschland beheimatete Bund der I n dustriellen ab, der sich aber 1914 m i t dem Zentralverband wieder i m Kriegsausschuß der deutschen Industrie zusammenfand, aus dem nach 1918 der Reichs verband der deutschen Industrie hervorging. Diese Spitzenorganisationen hatten w i e heute eine tiefe Gliederung i n regionale und Fachgruppen 10 . Die politische Bedeutung der Wirtschaft und ihrer Verbände zur Zeit der Weimarer Republik ist i m einzelnen noch umstritten. I m Kaiserreich waren der Großgrundbesitz unter Führung des ostelbischen Adels und die Schwerindustrie politische Faktoren von feudaler Mächtigkeit. Auch i n der Republik waren sie für die Vorstellungswelt weiter Schichten des Volkes „nicht Gewerbs8
John G. Ramsay , The Reconciliation of Religion and Labor, in Labor's Relation to Church and Community, A Series of Addresses, ed. by Liston Pope, New York (Institute for Religious and Social Studies) 1947, S. 105 ff. 9 Lawrence Rogin, Labor's Concern for the National Welfare, a.a.O., S. 12. 10 Über die heutige Gliederung vgl. die Übersicht am Schluß dieses Kapitels. 7*
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zweige schlechthin, sondern nationale Institutionen, deren Belange tabu w a r e n " 1 1 . Die industriellen und gewerblichen Vereinigungen hatten immer die Förderung der gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder zum Ziel, häufig auch i m Sinne jener ein wenig süffisanten Bemerkung von Adam Smith, also durch Preisvereinbarungen und nach Möglichkeit durch Beschränkung oder Unterbindung der Konkurrenz. Sie haben nicht selten auch den Widerstand der Öffentlichkeit und staatliche Eingriffe provoziert, wenn sie die Grundlage für kartellähnliche Bindungen abgaben, u m ihren Mitgliedern marktunabhängige Rendite zu gewähren. Bemerkenswert ist dagegen auch ein Exportkartell der englischen Kunstseidenindustrie, deren Central Rayon Office mit dem Ziel einer P r e i s s e n k u n g u m etwa 3 0 % ein Schema für die Erzeugung standardisierter Gewebe ausgearbeitet hat, die zum Verkauf i n Afrika, Britisch-Westindien, Ceylon, Zypern und Malta bestimmt sind und dort m i t den japanischen Erzeugnissen i n Konkurrenz treten sollen 1 2 . I n Deutschland hat der Schleifmittelprozeß, der 1950 vor einem Gericht der amerikanischen Besatzungsmacht durchgeführt wurde, Licht auf wettbewerbsbeschränkende Funktionen von Brancheverbänden geworfen. Der Fachverband Schleifmittelindustrie i n Beuel am Rhein und der Verein deutscher Schleifmittelwerke i n Bad Harzburg sowie deren Vorsitzende und Geschäftsführer wurden wegen Verstoßes gegen das Militärregierungsgesetz Nr. 56 zu hohen Strafen verurteilt; sie hatten den Wettbewerb unter ihren Mitgliedern durch Preis-, Skonti- und Rabattfestsetzungen geregelt, Lieferungs- und Zahlungsbedingungen vereinbart, Treuevergütungen an Kunden bezahlt und Organisationszwang geübt; sie hatten ferner m i t der französischen Schleifmittelindustrie ein internationales Kartell gebildet und ein weiteres mit der italienischen Konkurrenz vorbereitet 1 3 . 11 Dazu vor allem Theodor Eschenburg, Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik, Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte (Bern), Jahrgg. 9, 1951, S. 164 ff., 201 ff. (das Zitat befindet sich auf S. 203); ferner die vom West-Verlag in Essen-Kettwig veröffentlichte Schrift von August Heinrichsbauer, Schwerindustrie und Politik, 1948, die viele aufschlußreiche Daten und wertvolles Quellenmaterial enthält. — Zur Geschichte der Organisationen vgl. auch die in Anm. 33 dieses Kapitels angef. Literatur. 12 Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. 10. 1952. 18 Zu dieser Seite des Verbandswesens, die hier nur gestreift werden kann, vgl. Albrecht Spengler, Grenzen und Gefahren der Wirtschaftsverbände i m Hinblick auf das Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen, R W P Blattei (Forkel-Stuttgart) 8 Wi-R. (Gewerbliche Ordnung), D, Wirtschaftsverbände^ Einzelfragen 1, vom 27. 9. 1950.
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D i e H e r v o r h e b u n g dieser d i e V e r b r a u d i e r u n d die W i r t s c h a f t
zwei-
fellos besonders n a c h h a l t i g b e r ü h r e n d e n M a n i p u l a t i o n e n g i b t aber v o n d e m Wesen u n d d e r T ä t i g k e i t dieser O r g a n i s a t i o n e n k e i n
vollkom-
menes B i l d . D i e r e g i o n a l g e g l i e d e r t e n F a c h v e r b ä n d e d i e n e n i h r e n M i t gliedern namentlich durch Marktberichte u n d Informationen aller A r t ; sie t r e t e n e i n f ü r K o s t e n s e n k u n g d u r c h R a t i o n a l i s i e r u n g , sierung marken
und 15
Verminderung
der
Produktionstypen14,
Standardi-
führen
Güte-
u n d t r e i b e n B r a n c h e w e r b u n g . Sie b e r a t e n i n a l l e n a k t u e l l e n
P r o b l e m e n des Geschäftszweiges 1 6 , w e i s e n G e s c h ä f t s v e r b i n d u n g e n nach, 14 Zu diesem Zweck ist 1950 das R a t i o n a l i s i e r u n g s - K u r a t o r i u m d e r D e u t s c h e n W i r t s c h a f t (RKW) neu erstanden, dessen Aufgabe es ist, die Produktivität in der deutschen Wirtschaft planmäßig zu steigern. I n ihm arbeiten zusammen der Bundesverband der deutschen I n dustrie, der Deutsche Industrie- und Handelstag, der Zentralverband des Deutschen Handwerks, die Handwerkskammern und Zentralfachverbände, die Verbände des Handels, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft sowie die Ministerien des Bundes und der Länder. Die Arbeit des R K W wird außerdem unterstützt durch den Deutschen Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine mit mehr als dreißig angeschlossenen Organisationen wie dem Verein Deutscher Ingenieure, Verein Deutscher Eisenhüttenleute usw. Der Beirat setzt sich aus 48 Persönlichkeiten zusammen, die von den Verbänden der Wirtschaft, den Gewerkschaften und der öffentlichen Verwaltung entsandt werden. Eine Anzahl von Rationalisierungs-Gemeinschaften mit Aufgabengebieten wie „Mensch und Arbeit", „Hauswirtschaft", „Wärme", „Schiffbau" und Gemeinschaftsorgane wie der Deutsche Normenausschuß (mit dem bekannten Verbandszeichen „DIN"), der Verband für Arbeitsstudien, der Ausschuß für w i r t schaftliche Verwaltung usw. sind bemüht, die Rationalisierungsbestrebungen auf die gesamte Wirtschaft und selbst die Tätigkeit der Behörden auszudehnen. Vgl. Jahresbericht 1951/52 des R K W . Die Beteiligung der öffentlichen Verwaltung und der Gewerkschaften an den Arbeiten des R K W sichern seinen Analysen gleichzeitig einen bemerkenswerten P u b l i z i t ä t s e f f e k t . Gewerkschaftsforderungen nach einem Enquäte-Ausschuß, der alle Möglichkeiten der Rationalisierung und Produktionssteigerung zu untersuchen habe und befugt sei, zu diesem Zweck Geschäftsunterlagen, Kostenrechnungen, Prüfungsberichte und Steuerbilanzen einzusehen, werden von der Wirtschaft abgelehnt M a n sieht in ihnen den Versuch, eine Art Kontrollinstanz über die Unternehmer einzusetzen und die M i t b e s t i m m u n g durch die Hintertür der Rationalisierung einzuführen. 15 Der A u s s c h u Q f ü r L i e f e r b e d i n g u n g e n u n d G ü t e s i c h e r u n g , die Nachfolgeorganisation des früheren Reichsausschusses für Lieferbedingungen (RAL) ist von den Vertretern der einschlägigen Bundesministerien, den Spitzenorganisationen der Wirtschaft und den Gewerkschaften (die hier nicht zuletzt als Interessenvertreter der Verbraucher handeln) als beratende, begutachtende und registrierende Zentralstelle für deutsche Gütezeichen anerkannt worden. Der Ausschuß ist mit dem Deutschen Normen-Ausschuß (DNA) verbunden worden und arbeitet mit dem Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft zusammen. Vgl. Jahresbericht des R K W 1951/52, S. 131—134. 10 Der Gesetzgeber hat die Rechts- und Steuerberatung der Verbände begünstigt. Das Gesetz zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiet der Rechtsberatung vom 13. 12. 1935 (RGBl. I, S. 1478) schreibt für jede ge-
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erteilen Auskünfte 1 7 , veranstalten Konferenzen und Tagungen und pflegen, mehr oder weniger bewußt, auch die persönliche Begegnung der Mitglieder und ihrer Familien. Nach außen vertreten sie die Interessen ihrer Branche i n jeder geeigneten Form, vor der Öffentlichkeit wie vor allen staatlichen Organen. Darüberhinaus haben die Wirtschaftsverbände i n der modernen Wirtschaftsordnung teilweise s t ä n d i s c h - k o r p o r a t i v e Funktionen. Es gibt keine P l a n w i r t s c h a f t ohne weitgehende Delegation staatlicher Lenkungsaufgaben auf die Spitzenverbände. Aber auch in, der mehr oder weniger freien M a r k t w i r t s c h a f t sind sie heute unentbehrliche Organe eines geordneten und m i t leichter Hand gesteuerten Wirtschaftsablaufs. Das ständische Element ihrer Interessenwahrnehmung zeigt sich darin, daß sie einerseits die staatlichen Stellen m i t den erforderlichen (und meist weit über das notwendige Maß hinausgehenden) Informationen, wie globalen Kostenbildern, Kapazitäten, Vorräten, Bedarf ihres Gewerbezweigs und dgl. versorgen, andererseits intern, gegenüber ihren Mitgliedern, i m Sinne der staatlichen Wirtschaftspolitik oder allgemeiner, nationaler, ethischer und ähnlicher Belange vermittelnd tätig werden 1 8 . Daß sie damit auch ihren eigenen Interessen dienen, versteht sich für eine Auffassimg von selbst, die i m Wohl des Ganzen auch den Nutzen der Glieder erkennt, ist aber auch i n einem weniger anspruchsvollen Sinn richtig. Die Warnung schäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten einschließlich der Rechtsberatung behördliche Genehmigung vor. Nach § 7 Satz 1 bedarf es keiner Erlaubnis, „wenn auf berufsständischer oder ähnlicher Grundlage gebildete Vereinigungen oder Stellen i m Rahmen ihres Aufgabenbereichs ihren Mitgliedern Rat und Hilfe in Rechtsangelegenheiten gewähren". § 107a der Abgabenordnung befreit die Verbände von dem Erfordernis einer entsprechenden Erlaubnis des Finanzamts für die geschäftsmäßige Raterteilung in Steuersachen. 17 Verbände und Industrie- und Handelskammern difenen ihren M i t gliedern ζ. B. mit vertraulichen Kreditschutz-Veröffentlichungen; in Listen, die in der Regel im Verbandsorgan erscheinen, werden die Namen von Kaufleuten aufgeführt, die sich i m Konkurs- oder Vergleichsverfahren befinden, den Offenbarungseid geleistet oder sich sonstwie als kreditunwürdig erwiesen haben. 18 Die Spitzenorganisationen der gewerblichen Wirtschaft haben ζ. B. 1950 an ihre Mitglieder einen Aufruf „Disziplin und Verantwortungsbewußtsein i m kaufmännischen Zahlungswesen" gerichtet, u m die notleidende Zahlungsmoral zu bessern. Als i m gleichen Jahr die Wirtschaft größere Exporterfolge verzeichnete, der Auftragsbestand anstieg und die Neigung zu Preiserhöhungen sichtbar wurde, haben die Spitzenverbände ebenfalls ordnend eingegriffen und eine Mahnung zur Preisdisziplin erlassen, die man im allgemeinen befolgt hat; vgl. Albrecht Spengler, Grenzen und Gefahren der Wirtschaftsverbände i m Hinblick auf das Verbot der Wettbewerbsbeschränkungen in RWP-Blattei (Forkel-Stuttgart) a.a.O. vom 27. 9. 1950.
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vor ungerechtfertigten Preiserhöhungen und der hemmungslosen Ausnutzung einer gerade günstigen Konjunkturlage, Preisspiegel, Preissenkungsaktionen, die Festsetzung von Qualitätserfordernissen und dgl. sollen i n der Regel nicht zuletzt gewerkschaftlichen Lohnforderungen vorbeugen oder ihnen den Wind aus den Segeln nehmen und oft auch staatlichen Eingriffen zuvorkommen. Dieser letzte Gesichtspunkt lag vor allem der sog. I n v e s t i t i o n s h i l f e der gewerblichen W i r t schaft für die Grundstoffindustrie zugrunde, die infolge des Preisstops und mangels eines funktionsfähigen Kapitalmarkts notwendige Investitionen zur Überwindung ihrer Engpässe nicht durchführen konnte. Der Wirtschaftsminister hatte den Wirtschaftsverbänden die Initiative zugeschoben, nachdem die Pläne einer A r t Zwangsanleihe oder der Beschaffung der benötigten Investitionsmittel durch den Finanzminister über die Steuer i n bedrohliche Nähe gerückt waren. U m das abzuwenden und ein weiteres Engagement des Staates i m Raum der privaten Wirtschaft — „Sozialisierung der Kapitalbeschaffung und Kapitalverwendung" 1 9 — zu vermeiden 2 0 , und nicht zuletzt unter dem Eindruck des Koreabooms, übernahmen die Spitzenverbände der gewerblichen Wirtschaft die Verpflichtung, eine M i l l i a r d e Mark für die Kohle, Eisen, Stahl und Energie produzierende Industrie aufzubringen. Das stärkte die Position des Wirtschaftsministers i m K a binett und wurde von der Öffentlichkeit als einsichtsvoller Entschluß zu einem halbfreiwilligen Aderlaß m i t Beifall quittiert. Er erhielt durch das „Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen W i r t schaft" vom 7. Januar 1952 21 seine staatliche Sanktion und Vollziehbarkeit auch an den Mitgliedern, die das Versprechen ihrer Verbandsleitung nicht indossierten; denn jene Verbandserklärung hatte gegenüber den betroffenen Einzelpersonen und Unternehmen natürlich keine bindende Kraft. Eine grundlegende Änderung der Konjunkturlage, 19
Wilhelm Röpke in dem Artikel „Kapitalbeschaffung und Kapitalverwendung in unserer Zeit" in Neue Zürcher Zeitung vom 18. und 19. 10. 1952, Fernausgaben Nr. 287 und 288. 20 Vgl. den Bericht „Die Finanzierung der Anlageinvestitionen im ersten Halbjahr 1952" im Monatsbericht der Bank Deutscher Länder, Frankfurt, September 1952, S. 38 ff.; die dort, S. 39, mitgeteilte Übersicht über die I n vestitionen der Jahre 1950 bis erstes Halbjahr 1952 ergibt die nachhaltige Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Anteil der öffentlichen Haushaltsmittel und dem Anteil der inländischen Kapitalmarktmittel zugunsten der Investitionen durch die öffentliche Hand. Auf letztere entfielen i m ersten Halbjahr 1952 2790 Mülionen D M (37 Vo), auf Kapitalmarktmittel aus Inlandsquellen 1452 Millionen (19,2 °/o); den Rest bildeten Investitionen aus Eigenmitteln u. dgl. 21 Bundesgesetzblatt, Teil I, 1952, S. 7 ff.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Preiserhöhungen für die Grundstoffindustrie und damit erweiterte Möglichkeiten für Investitionen aus eigenen Mitteln, ein vermehrtes Angebot der bislang knappen Grundstoffe am M a r k t und fühlbare Rückschläge i n großen Teilen des bis dahin durch besondere Liquidität ausgezeichneten Handels und der Verbrauchsgüterindustrie haben jener hochherzigen Bereitschaft der Spitzenverbände und dem sie sanktionierenden Gesetz inzwischen aber die Überzeugungskraft genommen. I n zahlreichen Durchbrechungen und Verwässerungen durch den Gesetzgeber und die Verwaltung, i n der zeitweiligen Weigerung weiter Wirtschaftskreise, die fälligen Raten zu zahlen, i n Beschwerden, Verfassungsklagen und Argumenten wie: der Bundestag könne wohl Steuern und Abgaben allgemeiner A r t , aber keine Verpflichtung zur Hergabe von Krediten beschließen 22 , offenbart sich die Investitionshilfe als ein unvorhergesehenes Beispiel für die Problematik ständischer Wirtschaftsformen 23 . Selbstkontrolle und Selbstdisziplin der Verbände sind auf allen Sektoren der Wirtschaft und i n fast allen Ländern Erscheinungen von zunehmender Bedeutung. Sie vollziehen sich viel intensiver i n den Formen der tagtäglichen wirtschaftlichen Selbstverwaltung als aus so sensationellen Anlässen wie der Investitionshilfe, dem Streit u m die Filmselbstkontrolle 2 4 oder auf W i r k i m g i n der Öffentlichkeit berech22 Johannes Hagge (CDU) in der Begründung eines Änderungsantrages im Bundestag am 18. Juni 1952 (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, I. Wahlperiode 1949, 219. Sitzung, Stenographische Berichte, S. 9652). 23 Daran vermag auch eine andere Auffassung nichts zu ändern, die in der Investitionshilfe eine A r t Nachzahlung für infolge der Stoppreise „zu billig" bezogenen Stahl und Kohle sehen will. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden von 78 Firmen durch Urteil vom 20. Juli 1954 zurückgewiesen. Vgl. zum Ganzen Ernst Forsthoff, Die Verfassungswidrigkeit des Investitionshilfegesetzes, Rechtsgutachten, Lüdenscheid (Selbstverlag des Verbandes der weiterverarbeitenden Industrie) o. J.; ders., Ergänzende Bemerkungen, ebendort; Hans Peter Ipsen, Rechtsfragen der Investitionshilfe, ArchÖffR. 78, 1952/53, S. 284ff.; Georg Strickrodt, Liquiditäts-Enteignung, Ztschr. f. d. ges. Kreditwesen, 1954, S. 736 f. Zu einer eingehenden Stellungnahme fehlt hier der Raum. 24 Uber die Geschichte und die Grundsätze dieser freiwilligen, korporativen Zensur vgl. Richard Muckermann, Sinn und Bedeutung der Filmselbstkontrolle, Bulletin des Presse- u. Inf.-Amtes der Bundesregierung v. 27. Juli 1954, S. 1238 ff. Solche Selbstzensuren finden sich am häufigsten in Gewerben, deren Erzeugnisse dem Verbot und der Beschlagnahme besonders ausgesetzt sind. Die österreichischen Verleger billiger Spannungs- und Kriminalromane beschlossen darum eine Selbstkontrolle und gleichzeitig Richtlinien für deren Arbeit: ein Mord je Heft als Maximum, keine besonderen Grausamkeiten und Sieg des Prinzips des Guten, d. h. des Polizei- oder Privatdetektivs, am Schluß (Frankfurter Allgemeine Ztg. vom 15. 6. 1951).
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neter Resolutionen. Hier sei nur noch die M i t w i r k u n g der Verbände i n B e i r ä t e n , m i t denen sich Ministerien und andere Organe der öffentlichen Verwaltung i n wachsender Zahl umgeben 2 5 , und die Tätigkeit der I n d u s t r i e - u n d H a n d e l s k a m m e r n 2 6 genannt. Letztere sind ursprünglich nicht aus dem Koalitionsrecht der Unternehmer, sondern als Hilfsorgane der noch merkantilistisch denkenden Staatsverwaltung 2 7 entstanden und sind seitdem Körperschaften des öffentlichen Rechts. Heute machen die ihnen durch staatliche Delegation übertragenen Hoheitsaufgaben nicht mehr das Hauptgebiet der K a m mertätigkeit aus. Ihre Aufgabe liegt ganz allgemein i n der Förderung der Gesamtwirtschaft ihres Bezirks. Dazu gehört sowohl der Ausgleich zwischen den verschiedenartigen und zum Teil sehr divergierenden Interessen der einzelnen Wirtschaftszweige, Unternehmensformen und Betriebsgrößen, wie allgemein die Interessenvertretung der Wirtschaft ihres Bezirks und die regelmäßige, von der Öffentlichkeit meistens sehr geschätzte Berichterstattung über ihre Lage, Erstattung von Gutachten für Gerichte und Behörden, Nachwuchsförderung und dgl. Die Forderung der deutschen Gewerkschaften, i n den Industrie- und Handelskammern paritätisch vertreten zu sein, ist eine Konsequenz ihres Bestrebens, neben der hergebrachten Vertretung der Arbeitnehmerinteressen i n wachsendem Maße auch Unternehmerfunktionen i m Rahmen der privaten Wirtschaft zu übernehmen. Die V e r w i r k lichung dieser Forderung und die Befriedigung des damit einhergehenden Verlangens nach umfassenden politischen Befugnissen der Kammern verändert natürlich ihren bisherigen Charakter und macht 25
Dazu unten Teil I I I , 5. K u r t Apelt, a.a.O., S. 27 ff.; (Albert Pietzsch, Die Organisation der gewerblichen Wirtschaft, Heft 20 der Schriften der Hochschule für Politik, hrsg. von Paul Meier-Beneckenstein, Berlin 1938; über die heutige, unterschiedliche Rechtslage referiert K u r t Egon von Turegg, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Berlin 1950, S. 454 ff. Z u den allgemeinen Grundlagen des Kammerwesens vgl. auch K. Redeker, Kammerbegriff und Grundgesetz (dargestellt am Beispiel der Ärzte- und Rechtsanwaltskammern), Deutsches Verwaltungsblatt, 67, 1952, S. 201 ff. und 239 ff., und über das gesamte K a m merwesen einschl. der Handwerks- und Landwirtschaftskammern vor allem Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 2. Aufl., Tübingen 1953, S. 204 ff. 27 Soweit es sich um das auf dem europäischen Kontinent verbreitete sog. französische System mit Zwangsmitgliedschaft handelt. Die amerikanischen Chambers of Commerce sind von Anfang an Interessengruppen und zählen zu den interessantesten dieser Art (David B. Truman, The Governmental Process, S. 81). Die deutschen Kammern haben sich auf der Tagung der Internationalen Handelskammer in Lissabon, 1951, nachdrücklich zu dem französischen System bekannt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 6. 1951). 20
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sie völlig zu einem k o r p o r a t i v e n Organ. Als erstes deutsches Land hat Rheinland-Pfalz diesen Weg beschritten 28 . Adam Smith glaubte, die Arbeitgeber könnten sich sehr viel leichter als die Arbeiter koalieren, da sie geringer an Zahl seien 29 . Die Prämisse ist heute e fortiori richtig: einer relativ kleinen Zahl von Arbeitgebern steht ein Heer unselbständiger Arbeitnehmer gegenüber. Aber die Schlußfolgerung, die Adam Smith daraus ableitete, t r i f f t heute keineswegs mehr zu. Das Gegenteil ist der Fall. Die gewerkschaftlichen Organisationsbemühungen werden sehr erleichtert durch die verhältnismäßig große Homogenität der Masse der Arbeitnehmer m i t ihren gleichgerichteten wirtschaftlichen Interessen, wogegen der staatlich befohlene Konkurrenzkampf aus den Arbeitgebern innerhalb der verschiedenen Wirtschaftsgruppen natürliche Gegner macht 3 0 . Darin vor allem liegt der Grund ihrer i n den letzten Jahrzehnten häufig beobachteten Zersplitterung ihrer Kräfte, des Mangels einer einheitlichen Führung und der Neigung zu Separatzugeständnissen i m Arbeitskampf 3 1 . Die Rivalität zwischen Konkurrenten kann sich u. U. nachhaltiger auswirken als der Gegensatz von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen, wofür die amerikanische Praxis i n dem 1945 vom Supreme Court entschiedenen Fall A l l e n Bradley Co. v. Local Union No. 3 ein berühmtes Beispiel kennt 3 2 . Es sind i m wesentlichen nur 28
Vgl. Art. 69 ff. der Verfassung von Rheinland-Pfalz. Außerdem, so stellte er zutreffend fest, autorisiere das Gestz ihre Vereinigungen oder verbiete sie wenigstens nicht, während es die der Arbeiter untersage. The Wealth of Nations, Book I, Chap. 8, a.a.O., S. 52. 30 Vollbeschäftigung als Ziel der Wirtschaftspolitik und die Gewerkschaften als Angebotskartell der Arbeitskraft haben den Konkurrenzkampf auf der Arbeitnehmerseite fast vollständig eliminiert. 31 Auf Nachweis spaltender Sonderinteressen und Sonderfunktionen kann hier verzichtet werden, da im folgenden Kapitel eine ausführliche Äußerung Max Webers zu diesem Thema angeführt wird, die am Beispiel des an sich weit mehr homogenen Bauernstandes eine verwirrende Fülle von Sonderinteressen aufweist und damit eine Art exemplum e fortiori beibringt. 32 325 U.S. 797 (1945). Die Gewerkschaft hatte die Initiative ergriffen. Local Union No. 3, ein Ortsverband der International Brotherhood of Electrical Workers of America war bei den Bemühungen, neben den Now Yorker Installateuren auch die Fabrikarbeiter der Branche zu organisieren, auf den Widerstand der ansässigen Industrie gestoßen, die von gewerkschaftlichen Lohnforderungen eine solche Kostensteigerung befürchtete, daß sie mit den Mammutgesellschaften General Electrics und Westinghouse nicht mehr werde konkurrieren können. Anfang 1934 kam es zu einem Abkommen zwischen der Industrie, den Installationsfirmen und der Gewerkschaft Die Unternehmer bewilligten höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und verpflichteten sich in einem closed shop agreement, nur Mitglieder der Gewerkschaft zu beschäftigen. Local Union No. 3 versprach als Gegenleistung, dafür zu sorgen, daß in New York 29
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z w e i A s p e k t e , u n t e r d e n e n sich e i n großer T e i l d e r U n t e r n e h m e n z u e i n e r o r g a n i s i e r t e n F r o n t v e r e i n i g e n : als A r b e i t g e b e r gegen d i e o r g a n i s i e r t e n A r b e i t n e h m e r u n d als P r i v a t w i r t s c h a f t v e n i e r e n d e oder sozialisierende
defensiv gegen i n t e r -
R e g i e r u n g e n oder o f f e n s i v
mit
dem
Z i e l d e r E i n f l u ß n a h m e a u f Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g . D e r B e g r i f f des A r b e i t g e b e r s k a n n n u r d u r c h seinen G e g e n b e g r i f f , den
Arbeitnehmer,
definiert
werden.
A r b e i t g eberorgani-
s a t i o n e n sind die A n t w o r t der Unternehmer auf die z u Macht u n d E i n f l u ß k o m m e n d e n G e w e r k s c h a f t e n . I n D e u t s c h l a n d w u r d e n bis z u r J a h r h u n d e r t w e n d e die B e z i e h u n g e n z u d e n G e w e r k s c h a f t e n fast ausschließlich d u r c h die F a c h g r u p p e n d e r I n d u s t r i e v e r b ä n d e
wahrgenom-
ausschließlich Erzeugnisse der ansässigen, mit ihr kontrahierenden Industrie installiert würden, und erfüllte dieses Versprechen, indem, gegen Bauherrn, die auf der Verwendung anderen, nicht in New York produzierten Materials beharrten, mit Streiks, Streikdrohungen und Sympathiestreiks anderer Gewerkschaften des Baugewerbes vorgegangen wurde. U m die Arbeit zu strecken und die Zahl der Beschäftigten hoch zu halten, setzte die Gewerkschaft es durch, daß auch größere Aggregate entgegen der Gewohnheit in ihren Bestandteilen an der Baustelle angeliefert und dort erst zusammengesetzt wurden. Verstießen die Lieferanten gegen diese Forderung, so wurden die Geräte vor dem Einbau erst von den Arbeitern auseinandergenommen und dann wieder zusammengesetzt. So konnte die Gewerkschaft ihre Mitglieder mehr als verdreifachen. Außer etwa 7000 Arbeitern der Installationsflrmen gehörten ihr rund 8000 Industriearbeiter und -arbeiterinnen an. Letztere waren aber Gewerkschaftsmitglieder minderen Rechts, wie schon jene Montagepraxis zeigt, die allein im Interesse der Installateure und zum Nachteil der Hersteller geübt wurde. Sie zahlten geringere Beiträge, hatten aber kein Stimmrecht und keinen Einfluß auf die Angelegenheiten der Gewerkschaft, während der Gewerkschaftsboss ziemlich unumschränkt regierte. Die Arbeitgeber erfreuten sich so in der Stadt New York eines geschlossenen Marktes, der ihnen erlaubte, die Preise für Material und I n stallation zu diktieren. Die Preise folgten nicht ganz der steilen Kurve der Mitgliederbewegung bei der Gewerkschaft; immerhin stiegen sie teilweise auf das Dreifache der außerhalb der Stadt gezahlten Preise. 1935 klagten zehn benachteiligte Nicht-New Yorker Produzenten vor der ersten Instanz. Der Supreme Court entschied 1945 letztinstanzlich zugunsten der Kläger. Das vom Congress nicht vorausgesehene New Yorker Kombinat von Kapital und Arbeit brachte zwei Absichten des Gesetzgebers miteinander in Konflikt. Durch den Sherman Anti-Trust-Act (1890) suchte er die Wettbewerbswirtschaft zu schützen und durch die Ausnahmen von dieser Regel — Clayton Act (1914) und Norris — La Guardia Act (1932) — die volle Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften zu garantieren. I n diesem Dilemma entschied der Gerichtshof, daß die Gewerkschaften jener Befreiung von der Monopolgesetzgebung verlustig gehen, sobald sie nicht mehr allein, als Arbeitnehmervertretung, handeln, sondern mit „Non-Labor Groups" ein Monopol bilden, das den Güter- und Arbeitsmarkt beherrscht. (Uber Hintergründe und den Prozeßverlauf vgl. Elias Liebermann, Unions before the Bar, New York [Harper] 1950, S. 172—186). Die strikte U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n L a b o r - u n d K a p i t a l i n t e r e s s e n wird in dieser Entscheidung als eine der Säulen sichtbar, auf denen das amerikanische Wirtschaftsleben ruht.
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men. Doch gab 1903 der Textilarbeiterstreik i n Crimmitschau das Signal zur Gründung besonderer Arbeitgeberverbände, die sich m i t der Ausbreitung der Arbeitskämpfe, vorwiegend i n der Industrie, aus vorläufigen Antistreikvereinen rasch entwickelten und sich 1913 zur Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände zusammenschlossen. Nach dem ersten Weltkrieg nahmen sie auch i m Handel, i m Versicherungsgewerbe, i n der Land- und Forstwirtschaft und i n anderen W i r t schaftszweigen einen bedeutenden Platz e i n 3 3 . Sie folgten den Gewerkschaften auch auf die politische Ebene, um ihren Einfluß geltend zu machen, und vertraten ihre Belange vor der Öffentlichkeit. Der Vereinigung war der Deutsche Streikschutz e. V. angegliedert, eine Gesellschaft, die Versicherungen gegen Streikschäden abschloßt Die Gewerkschaften haben so an der Formierung der Arbeitgeberfront einen entscheidenden Anteil gehabt; sie haben die Zusammenfassimg der Arbeitgeber in zentralen Organisationen provoziert. Für sie selbst entspricht das Bedürfnis nach weiträumiger und einheitlicher Organisation dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind. Denn sie wirken durch die Zahl, durch die Masse ihrer Mitglieder, die aber erst durch straffe Organisation und zentrale Führung zu einem schlagkräftig einsetzbaren Instrument wird. So ist es nur folgerichtig, wenn — nach der Gründung der Ersten Internationale! — Friedrich Engels nichtsdestoweniger die nationale Einigung durch Bismarck begrüßt, denn „die deutschen Arbeiter können sich auf ganz anders nationalem Maßstab, als bisher, organisieren". Darum sei es absurd, „den A n t i bismarckismus zum alleinleitenden Prinzip zu erheben"; „erstens tut Bismarck jetzt, wie 1866, immer ein Stück von unserer Arbeit, i n s e i n e r Weise und ohne es zu wollen, aber er tut's doch. Er schafft uns reineren Bord als vorher. Und dann sind w i r nicht Anno 1815" 34 . 33 Vgl. statt anderer K u r t Apelt, Die wirtschaftlichen Interessenvertretungen in Deutschland, ihr Aufbau, ihr Wesen und ihre Entwicklung, Bd. 107 von Gloeckners Handels-Bücherei, hrsg. v. Adolf Ziegler, Leipzig 1925, S. 51 ff.; Hans Bayer, Artikel „Unternehmerverbände" i m Staatslexikon der Görresgesellschaft, 5. Aufl., Bd. V, Freiburg 1932, Sp. 560 ff.; Gerhard Keßler, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1907; Ci. Lammers, Artikel „Arbeitgeberverbände" im Staatslexikon der Görresgesellschaft, 5. Aufl., Bd. I, Freiburg 1926, Sp. 290 ff.; O. Leibrock, Die volkswirtschaftliche Bedeutung der deutschen Arbeitgeberverbände, Bd. I, 25. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt, 1922; Fritz Tänzler, Die deutschen Arbeitgeberverbände 1904 bis 1929, 1929. 34 „Uberhaupt, à la Liebknecht, die ganze Geschichte seit 1866 rückgängig machen zu wollen, weil sie ihm nicht gefällt, ist Blödsinn." Auch die französischen Arbeiter würden, meint Engels, sicher ein freieres Feld haben als unter dem Bonapartismus, was auch für eine Regierung dort folgen möge.
2. Arbeitgeberverbände, Industrie und Gewerbe
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Immer wieder stoßen w i r i n der Geschichte der Arbeiterbewegung auf ähnliche Erscheinungen. Auch i n USA gilt der regionale Föderalismus als eine der größten Schwierigkeiten: Labor . . . müsse an nicht weniger als 48 verschiedenen Fronten kämpfen anstatt n u r an einer wie i n Europa; das zwinge zu sehr verschiedenen Taktiken und Bündnissen und mache eine einheitliche Politik praktisch unmöglich 3 3 . Die Gewerkschaften legen darum Wert auf undifferenzierte Verhältnisse und uniforme Abmachungen m i t möglichst weitem Geltungsbereich, eine Tendenz, die auf dem europäischen Kontinent überdies noch eine ideologische Wurzel i n den alten Vorstellungen von der Gleichheit und Solidarität der proletarischen Arbeiterklasse hat. I n ihrer unaufhebbaren Bezogenheit auf den andern „Sozialpartner", den Arbeitgeberverband, müssen sie auch dort auf eine zentrale Kompetenz hinwirken, so wenig sie i m übrigen die dadurch beförderte K r a f t steigerung ihres Gegenspielers begrüßen mögen 3 6 . I n USA läßt sich diese Entwicklung deutlich verfolgen. Die National Association of Manufacturers wurde 1893 gegründet und widmete sich zunächst der Förderung des Außenhandels. Erst als sie nach dem erstaunlichen A n schwellen der American Federation of Labor und den ersten großen Streiks u m die Jahrhundertwende begann, „Labor Relations" seit 1903 als eines ihrer Hauptarbeitsgebiete anzusehen, gelangte sie zu Bedeutung und Einfluß, so daß David B. Truman es nahezu für gerechtfertigt hält, von einer Neugründung zu sprechen 37 . F ü r die Gegenwart Engels an Marx in einem vom 15. August 1870 in Ramsgate, Manchester, datierten Brief; vgl. K a r l Marx und Friedrich Engels, Briefwechsel, MarxEngels Gesamtausgabe, im Auftrage des Marx-Engels-Instituts Moskau, hrsg. v. V. Adoratskij, Dritte Abtig., Bd. 4, S. 365 f. 33 Paul H . Douglas, The Coming of a New Party, 1932, S. 130 (zit. bei Dayton David McKean, Party and Pressure Politics, New York (Houghton Mifflin Co.) 1949, S. 472. 38 Ein hervorragendes Beispiel gaben die deutschen Gewerkschaften nach dem Zusammenbruch 1945; siehe unten Teil I I I , 1. Die staatliche Bürokratie hat i m übrigen zu dieser Entwicklung nicht wenig beigetragen. Auch sie hat eine besondere Vorliebe für große Dimensionen in der Wirtschaft. Sie bevorzugt das Großunternehmen, wenn sie als Auftraggeber oder selbst als Unternehmer auftritt oder öffentliche Kredite plant und verteilt, weil es verwaltungstechnisch leichter zu bearbeiten ist als die große Zahl von Klein- und Mittelbetrieben. Ebenso begrüßt sie den zentralen Wirtschaftsverband, wenn sie lenkende Funktionen ausübt oder delegiert, Vertreter der Wirtschaft in beratende Beiräte beruft usw. 37 The Governmental Process, S. 81 f., mit überzeugenden Nachweisen; ferner Robert A. Brady, Business as a System of Power, New York (Columbia University Press) 1947, S. 198 ff.; Clarence E. Bonnett, Artikel „Employers' Associations", Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 5, New York (Macmillan) 1931, S. 509 ff. Neben der Organisation der Arbeitgeber ist von nicht geringerer Bedeu-
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
werden die gewerkschaftlichen Bemühungen u m klare, zentrale Zuständigkeit auf der Gegenseite von Peter F. Drucker am Beispiel von General Motors eindrucksvoll i l l u s t r i e r t 3 8 . Schließlich hat der Stahlstreik des Sommers 1952, der für die Dauer von fast zwei Monaten 1 500 000 Stahlarbeiter u n d Arbeiter i n stahlverarbeitenden Industrien ganz oder teilweise arbeitslos gemacht hat, auf beiden Seiten ein erstaunliches Maß an Kompetenz- und Machtkonzentration sichtbar gemacht. A u f der entscheidenden Konferenz i m Weißen Haus standen sich nur Philip Murray, der Vorsitzende der Stahlarbeiter und der CIO-Gewerkschaftszentrale, u n d der Generaldirektor von US-Steel, Benjamin F. Fairless, „der m i t eiserner Hand die Industrie r e g i e r t " 3 9 , gegenüber, die sich beim Vornamen nannten. Sie beschlossen unter vier Augen, den Streik zu beenden, und unterzeichneten das entscheidende Protokoll 4 0 . I n Deutschland war der Streit u m das Mitbestimmungsrecht für die Arbeitgeber ein Anlaß, ihre Reserven zu mobilisieren. Während die Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Neuordnimg der deutschen Wirtschaft vom 14. A p r i l 1950 und der entsprechende Gesetzesvorschlag n u r vom Bundesvorstand des DGB unterzeichnet sind, finden sich unter der Denkschrift der Arbeitgeber zum Problem des Mitbestimmungsrechts vom M a i 1950 41 die Namen folgender Organisationen: Vereinigung der Arbeitgeberverbände, Deutscher Industrieund Handelstag, Bundesverband der Deutschen Industrie, Zentralvertung die Organisation des Kapitals zu Konzernen und Trusts; über diese Zusammenhänge unterrichtet Frank Tannenbaum, The Social Function of Trade Unionsm, Political Science Quarterly, 62, 1947, S. 161 ff. Bei der Größe der Betriebe und Konzerne und der Aktivität der local unions in USA steht die unmittelbare Beziehung zwischen beiden im Vordergrund. Sie vereinbaren die Tarifverträge. I n Deutschland ist das Gegenteil der Fall: Den hochzentralisierten Gewerkschaften mit schwacher Lokalorganisation kann in der Regel nicht das einzelne Unternehmen, sondern nur die Arbeitgeberorganisation entgegentreten. 38 Concept of the Corporation, S. 96, 171, 218; vgl. auch S. 82. 39 Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung vom 2. 8. 1952; im übrigen New York Times vom 26. und 27. Juli 1952 und Time, Atlantic Edition, vom 4. August 1952. 40 Auf Seiten der Stahlfirmen handelte es sich hier weniger um eine organisatorische Zentralisierung als um das faktische Übergewicht der USSteel Corporation als des größten Produzenten. Hinzu kam, daß Präsident Truman dem Gewerkschaftspräsidenten nur einen einzigen Gesprächspartner gegenüberstellen wollte, weil er eine Einigungsverhandlung unter vier Augen für erfolgreicher hielt als eine vielköpfige Konferenz. Die Antitrustgesetzgebung erschwert Abreden über Fragen der Produktion und der Preise und damit indirekt audi eine den Gewerkschaften vergleichbare, straffe Arbeitgeberorganisation. 41 Der genaue Titel der Dokumente findet sich oben Teil I I , 1, Anm. 10.
111
2. Arbeitgeberverbände, Industrie und Gewerbe
b a n d des D e u t s c h e n H a n d w e r k s , G e s a m t v e r b a n d des G r o ß - u n d A u ß e n handels,
Hauptgemeinschaft
des
Deutschen
Einzelhandels,
gemeinschaft d e r V e r b ä n d e des p r i v a t e n B a n k g e w e r b e s ,
Arbeits-
Gesamtver-
b a n d d e r V e r s i c h e r u n g s w i r t s c h a f t , Z e n t r a l a r b e i t s g e m e i n s c h a f t des V e r kehrsgewerbes,
Zentralverband
Deutscher
Handelsvertreter
und
Handelsmaklerverbände. Diese „Spitzenverbände" (und außerdem: der Deutsche
Hotel-
und
Gaststättenverband,
der
Verband
Deutscher
Reeder u n d d e r Z e n t r a l a u s s c h u ß d e r D e u t s c h e n B i n n e n s c h i f f a h r t ) im
Gemeinschaftsausschuß
locker
der
deutschen
gewerblichen
sind
Wirtschaft
zusammengefaßt 42.
42 Die Organisationen der gewerblichen Wirtschaft sind von den Militärregierungen erst erheblich später zugelassen worden als die Gewerkschaften. Für die amerikanische Zone erließ die Militärregierung (OMGUS) die Richtlinien 13—120 für Wirtschafts- und Berufsorganisationen und 13—121 für Genossenschaften (später umbenannt in M G R 11—111 und M G R 11—112). Sie wurden von O M G U S mit Anschreiben vom 19. März 1947 den Ländermilitärregierungen und von dort Anfang April 1947 den deutschen Länderregierungen zugestellt (abgedruckt i n RWP-Blattei, Forkel-Stuttgart, Gruppe 8 W i - R (Gewerbl. Ordnung), T-Blatt „Vereinigungen, w i r t schaftliche MR-Bestimmungen für die amerikanische Zone"). Die Richtlinien für Wirtschafts- und Berufsorganisationen gestatten den Zusammenschluß zu „wirtschaftlichen und beruflichen Vereinigungen", „um gesetzlich zugelassene Interessen ihrer Mitglieder zu fördern". Sie bestimmen u. a., daß die Verbände nicht Körperschaften des öffentlichen Rechts und nur beratend tätig sein dürfen; alle Maßnahmen zur Beschränkung der Produktion oder des Handels sind ihnen untersagt. Die Mitgliedschaft muß freiwillig sein, diskriminierende Beschränkungen der Mitgliedschaft sind verboten. Die Verbände dürfen die Zonengrenzen nicht überschreiten. Die britische Militärregierung erließ für ihre Zone in der Technical I n struction No. 12 vom 23. August 1946 Vorschriften über die Errichtung von Wirtschaftsverbänden und über ihre Aufgaben. Organisationen können zu Körperschaften des öffentlichen Rechts erhoben werden und sich bis zur Zonenstufe zusammenschließen. I n Ergänzung dazu erließ das Zentralamt für Wirtschaft in der britischen Zone eine Verordnung über Wirtschaftsverbände vom 28. November 1946 (beide abgedruckt in der RWP-Blattei (Forkel-Stuttgart), a.a.O.) Für die Doppelzone wurden vom Zweimächte-Kontrollamt mit BicoMemorandum (48) 13 Anhang vom 12. Februar 1948 an den Generalsekretär des Exekutivrates „Grundsätze für Wirtschafts- und Beruf s verbände mit wirtschaftlichem Charakter" übersandt; sie erschienen mit Bico-Memorandum (49) 218 vom 27. April 1949 in neuer Fassung. Inhaltlich stimmen sie mit den Richtlinien der amerikanischen Militärregierung 11—111 überein, mit der Ausnahme, daß sie Organisationen auf Zonenbasis zulassen. I m übrigen werden die Abweichungen der britischen Technical Instruction No. 12 (Körperschaften des öffentlichen Rechts sind gestattet) hinfällig. Die in der französischen Zone geltenden Bestimmungen entsprechen den amerikanischen Richtlinien 11—111, wurden aber am 17. März 1950 ersatzlos aufgehoben (Amtsblatt der Allüerten Hohen Kommission für Deutschland, Nr. 13 vom 25. März 1950, S. 138 ff.). Nach der überwiegenden Auffassung dürften die vom Zweimächte-Kontrollrat erlassenen Bestimmungen auch heute noch in Kraft sein, es w u r -
112
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Der Bundesverband der Deutschen Industrie umfaßt eine große A n zahl fachlicher und regionaler Verbände; diese münden i n 37 Bundesspitzen aus, die sich unter dem Dach des Bundesverbandes zusammengefunden haben. Als Tarifpartner haben sie ihr Zentralorgan i n der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. I m Deutschen Industrie· und Handelstag sind mehr als siebzig Industrie- und Handelskammern vereinigt 4 3 . Einer Verschmelzimg dieser drei großen Organisationen stehen vorerst noch verschiedene regionale und fachliche Gliederungsprinzipien, nicht zuletzt die von den Besatzungsmächten i n ihren Zonen geschaffenen Rechtsunterschiede entgegen. Trotzdem w i r d die weitere Entwicklung von dem Bedürfnis nach größerer Geschlossenheit bestimmt werden. 3. Die Bauern Die Bauern waren immer i m eminenten Sinne ein S t a n d . M i t Recht nennt i h n Hegel den ersten, substantiellen und unmittelbaren Stand 1 . „Der Mensch n i m m t hier m i t unmittelbarer Empfindung das Gegebene und Empfangene auf, ist Gott dafür dankbar und . . . braucht es auf, denn es kommt i h m wieder. Dies ist die einfache, nicht auf Erwerbung des Reichtums gerichtete Gesinnung. Man kann sie auch die a l t a d e l i g e nennen, die, was da ist, verzehrt" 2 . Die ländliche Ordnung ist geprägt durch die große Beständigkeit i m Denken, Werten und Handeln ihrer Menschen, durch Fleiß und Sparsamkeit und die i n biologischen, wirtschaftlichen, sozialen und sakralen Bereichen wurzelnde K r a f t des Charakters und der Selbstbehauptung. Trotz einer nun schon Jahrhunderte währenden Abwanderung vieler begabter und unternehmungsfreudiger Glieder i n die Stadt und in nicht-bäuerliche Berufe ist das Bauerntum immer noch als die gesündeste Regenerationsreserve der großen Kulturnationen anzusehen. den jedoch keine Beanstandungen erhoben, als sich die Organisationen auf das ganze Bundesgebiet ausdehnten. Zum Ganzen vgl. A. Gleiss, Grenzen der Handlungsfreiheit der Verbände, Betriebs-Berater, 1950, S. 494: ders., Besatzungsvorschriften für Verbände und Genossenschaften, RWF-Blattei (Forkel-Stuttgart) a.a.O., Einzelfragen 3 vom 28. 5. 1952. 45 Vgl. Taschenbuch des öffentlichen Lebens, hrsg. v. Rudolf Vogel und Albert Oekl, 2. Aufl., Bonn 1952, S. 137 ff., sowie Hans Joachim v. Merkatz und Wolfgang Metzner, Deutschland-Taschenbuch, Frankfurt 1954, S. 268 ff. 1 I m Unterschied zum reflektierenden oder formellen Stand des Gewerbes und zum allgemeinen Stand der Staatsdiener (Rechtsphilosophie, §§ 202 ff. und Zusatz zu § 203). 2 a.a.O., Zusatz zu § 203.
3. Die Bauern
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Trotz der „désertion des campagnes . . . le socle de la société française demeure toujours paysan" sagt André Siegfried i n seinem „Tableau des partis en France" 3 . U n d V. Ο. Key bezeugt für die Vereinigten Staaten von Amerika: „Rural attitudes and rural people, so the belief has been, constitute the reality and the strength of America"; oder i n der Formulierung von Thomas Jefferson: Bauern sind „the chosen people of God, if ever He had a chosen people" 4 . Von Übertreibungen und Idealisierungen ist die Einschätzung des Bauerntums durch die Gesellschaft nicht immer frei gewesen. Sie reichen von den höfischen Schäferspielen über die Physiokraten und Romantiker bis zur „ B l u t und Boden"-Ideologie des Dritten Reiches, haben aber ebensowenig w i e die despektierlichen Äußerungen einer naserümpfenden Stadtbevölkerung dem Selbstbewußtsein des Bauerntums etwas anhaben können. Dieses hat i m Nachkriegsdeutschland i n der „Programmatischen Erklärung des Deutschen Bauernverbandes zur Agrarpolitik" starken und betonten Ausdruck gefunden. Es heißt dort: „Das Land repräsentiert die Kräfte der Beharrung, die Stadt, als aktives Element des Zivilisationsprozesses, die Kräfte der Bewegung; und nur i n dieser Polarität, das zeigt die Geschichte aller Kulturen, können Völker dauernd existieren. I n einer Zeit, i n der es weitgehend zum Verfall der bürgerlichen Gesellschaftsordnimg gekommen ist und die Stadt eine neue Lebensform noch nicht gefunden hat, muß die ländliche Lebensordnung beispielgebend für weite Volkskreise werden . . . Nur so können die volks- und staatserhaltenden Tugenden entwickelt werden: die menschliche Bescheidenheit und das rechte Maß, die aus echt christlicher Religiosität entspringen. . . . Abendländische K u l t u r reicht i n Zukunft nur so weit, wie Bauern europäischer Prägung und Herkunft sicher auf ihren Höfen sitzen und bäuerliches Denken und Empfinden i n dem hier gekennzeichneten Sinne i n den anderen Gesellschaftsschichten Verbreitung findet" 5. Landwirtschaftliche Interessen und Interessenwahrnehmung lassen sich nicht trennen von dieser A r t ausgeprägten Selbstverständnisses, das unverkennbar religiöse und patriotische Züge hat und das, wie angedeutet, auf der Gegenseite, i n den nicht-bäuerlichen Schichten der 3
Paris 1931, S. 13. V. O. Key, Politics, Parties and Pressure Groups, S. 17; vgl. auch Dayton David McKean, Party and Pressure Politics, S. 440. 5 Deutsche Bauern-Korrespondenz, I I , 1949, Nr. 18, (zit. bei Wilhelm Abel, Agrarpolitik, Grundriß der Sozialwissenschaft, Bd. 11, Göttingen 1951, S. 26 f.). 4
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Kaiser, Repraeentation
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Gesellschaft, zahlreiche Entsprechungen findet. Das sind nicht „allgemeine Deklamationen" und „Klischees herabgesunkener Romantik", wie Theodor W. Adorno annimmt 6 , und wenn die „fact-finding methods" seiner „ m i t den Bauern vertrauten Interviewer", die er aufs Land schicken w i l l , ein nicht zu grobes Sieb sind, dann werden sie i n allem Denken und Handeln der Bauern immer einen sehr bedeutenden Gehalt irrationaler Gegebenheiten aufweisen, der sich i n einem System ökonomischer Fakten nicht unterbringen läßt 7 . Es ist dieser einer „aufklärerischen" Soziologie unzugängliche Rest, der den Interessenverbänden der Landwirtschaft und ihrer politischen A k t i v i t ä t eine besondere Note verleiht. Die Natur der bäuerlichen Arbeit und die überlieferten Bindungen versetzen die Landwirtschaft gegenüber ihren Rivalen, Industrie, Handel und Gewerkschaften, i n eine oft diskutierte nachteilige Lage. Bei ihr sind die Möglichkeiten des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts und damit der Verbesserung des Lebensstandards sehr begrenzt. Ihre Kategorien sind weitgehend andere als die der Wirtschaft. Sie ist keine Universalfabrik, die wie Industrie und Gewerbe den Gesetzen des Marktes unterworfen wäre. Der Bauer rechnet nicht nach Konjunktur- und Depressionszyklen. Seine Produktions- und Investitionsperiode geht von Herbst zu Herbst auf dem Feld, und umfaßt sein Leben oder das zweier Generationen i m Forst. Seine Wirtschaftseinheit ist die Familie, und seine Krisen sind Brand, Unwetter, Dürre und Tod. Diese Abhängigkeit von N a t u r 8 und persönlichem Schicksal erklärt die geringe ökonomische Macht der Landwirtschaft, die sich trotz ihrer Bedeutung für Volksernährung und Volkseinkommen nicht i n Aussperrungen, Streiks oder vergleichbaren Kraftproben manifestieren kann 9 . Nichtsdestoweniger ist sie eine echte und konkrete p o l i t i s c h e M a c h t . Sie beruht mehr auf ihrer biologischen, sozia0 Die Soziologen und die Wirklichkeit, Über den Stand der Sozialforschung in Deutschland, Ein Vortrag, Frankfurter Hefte, V I I , 1952 (Heft 8), S. 587 ff. 7 Das gilt für jedes seßhafte Bauerntum. Es versteht sich jedoch von selbst, daß dieses sich nur mit Einschränkungen auch von dem auf ehemals kolonialem Boden angesiedelten Farmertum sagen läßt, das seinen Grundbesitz nicht selten in einer Generation mehrfach wechselt und eine restlos kommerzialisierte Landwirtschaft betreibt. 8 Naturereignisse können für die politische Haltung der Bauern von Belang sein. Als Beispiel für ihre Radikalisierung durch ungünstige Witterung vgl. John D. Barnhart, Rainfall and the Populist Party in Nebraska, in American Political Science Review, 19, 1925, S. 527—540. 9 Die in der Regel nur kurzfristige Zurückhaltung von Milch und dgl. kann wegen ihres geringen Effekts nicht mit jenen Kampfmaßnahmen der Gewerkschaften und der Industrie verglichen werden.
3. Die Bauern
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len und wirtschaftlichen Bedeutung für das Leben des Volkes, die sich so deutlich dem Selbstbewußtsein aller Kulturvölker eingeprägt hat, als auf der Zahl der i h r angehörenden Staatsbürger. Die Landwirtschaft, die Gewerkschaften und der oft i n einem weiteren Sinn als „Wirtschaft" bezeichnete Block von Industrie, Handel und Gewerbe sind sie drei führenden Gruppen der modernen Gesellschaft. Sie gehen i m Kampf u m ihre Interessen wechselnde Verbindungen ein. Industrie und Gewerkschaften vereinigen ihren Einfluß gegen die „grüne Front", wenn es sich darum handelt, die Preise der landwirtschaftlichen Produkte niedrig zu halten, da von ihnen die Höhe des Reallohns der Arbeitnehmer wesentlich abhängt. Die Bemühungen der Landwirtschaft u m Unterbindung oder Einschränkung landwirtschaftlicher Importe durch Zölle und Einfuhrschleusen oder u m Sondersteuern auf Konkurrenzartikel wie Margarine 1 0 werden darum stets auf den Widerstand jener mächtigen Gruppen stoßen. Andererseits sahen frühere Jahrzehnte die Bauern häufig auf Seiten der Arbeiter. I n USA sind i n den frühen 20er Jahren dieses Jahrhunderts, als die Preise von industriellen u n d landwirtschaftlichen Erzeugnissen i n einem für die Farmer besonders fühlbaren Mißverhältnis standen, Farmer-Labor Parteien aufgekommen, die i n dem sog. Farm Belt der Vereinigten Staaten bei der Präsidentenwahl i m Jahre 1924 für ihren Kandidaten Robert M. La Folette eine eindrucksvolle Zahl von Stimmen errangen, dann aber untergingen 1 1 . Die „links von der Mitte" stehende National Farmer's Union unterhält heute noch freundliche Beziehungen zu lokalen Gewerkschaften. I n Deutschland haben auch von Bauern gewählte Abgeordnete, beispielsweise solche des linken CDU-Flügels, häufig gewerkschaftsfreundliche Maßnahmen und Gesetze unterstützt. Ähnliches gilt für den teilweise ebenfalls von Bauern getragenen sog. Linkskatholizismus i n westeuropäischen Ländern und w i r d immer der Fall sein, solange es sich 10 I n USA haben alle 48 Staaten, außer Arizona, und der Bund, dem Druck der Farmer nachgebend, den Verkauf der Margarine gesetzlich geregelt. 23 Staaten erhoben Verbrauchssteuern, die sich von 5 cents auf das Pfund ungefärbter bis zu 15 cents auf das Pfund gefärbter Margarine beliefen. 20 Staaten verbieten den Gebrauch von Margarine in staatlichen Anstalten (Wesley McCune. The Farm Bloc, 1943, S. 105 f. z'it. bei McKean, a.a.O. S. 455, der bemerkt, daß 1948 einige Staaten die auf gefärbte Margarine erhobenen Steuern fallen gelassen haben). 11 Andere Parteien dieser Art waren schon vorausgegangen. Vgl. Nathan Fine, Labor and Farmer Parties in the United States, 1828—1928, New York (Rand School) 1928, und Fred E. Haynes, The Collapse of the Farmer-Labor Bloc, in Social Forces, 4, 1925, S. 148—156.
8*
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
u m die Hebung eines hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgebliebenen Lebensstandards der Arbeiter handelt. Die Organisierung der Landarbeiter durch die Gewerkschaften, ihre Angriffe auch gegen das landwirtschaftliche Privateigentum und nicht zuletzt die außerordentliche Steigerung ihrer politischen Macht haben die Landwirte zunehmend den Gewerkschaften entfremdet. Sie stehen nun, soweit sie auch andere Arbeitskräfte als Familienangehörige beschäftigen, als Arbeitgeber notwendig i m Gegensatz zu den Gewerkschaften, zumal wenn durch Landarbeiterstreiks diese Position eine Verhärtung erfährt. Steigende Kapitalinvestitionen, die Rationalisierung der Landwirtschaft und, wie namentlich i n USA, ihre mehr und mehr geschäftsmäßige Betreibung stempeln den Bauern i n wachsendem Maße zum Unternehmer 1 2 , wenn die Entwicklung auf Kosten jener vielgerühmten Werte des bäuerlichen Charakters verläuft . Desungeachtet u n d trotz ihrer konservativen Grundhaltung sind die Bauern m i t den Gewerkschaften häufig einig i n der Forderung nach „billigem Geld". Die Arbeiter versprechen sich davon anhaltende Vollbeschäftigung, die Bauern günstigen Kredit. Fast alle Höfe sind darauf angewiesen, da ihr Ertrag und auch die Sparsamkeit ihrer Besitzer dem raschen Tempo der technischen Entwicklung und dem Zwang zu Bodenverbesserungen, Intensivierung und nicht selten Änderung der Produktion nicht gewachsen sind. Die Landwirtschaft selbst hat durch die Gründung von ländlichen Kreditgenossenschaften versucht, sich unter erträglichen Bedingungen Fremdfinanzierungsmittel zu sichern; Gemeindeverbände, Provinzen und Länder haben sich durch ihre Sparkassen und Bodenkreditinstitute ebenfalls erfolgreich dieser Aufgabe gewidmet 1 3 . Trotzdem kann die Verschuldung der Landwirtschaft zu einer argen Bürde werden, die Zahlungserleichterung oder Schuldnachlaß fordert. N u n denken heute nur noch wenig Bauern wie die märkische Ritterschaft, die den i m Reichsschluß von 1654 dekretierten Moratorien und Schuldreduktionen widersprochen und erklärt haben soll: Gottes Wort und der kundbaren Ehrbarkeit laufe das zuwider 1 4 . Erleichterung der Schuldenlast ist ein wesentliches Ziel der landwirt12 Statt anderer vgl. V. O. Key , Politics, Parties, and Pressure Groups, S. 19 f.; Dayton David McKean, Party and Pressure Politics, S. 441 ff., 451 f. 18 Vgl. Wilhelm Abel, Agrarpolitik, S. 258 ff. und Siegfried Strakosch, Das Agrarproblem i m neuen Europa, Berlin 1930, S. 299 ff. 14 E. Gothein, Die deutschen Kreditverhältnisse und der dreißigjährige Krieg, Leipzig 1893; angef. bei K. Padberg, Die Verschuldung der Landwirtschaft, in Neue Mitteüungen für die deutsche Landwirtschaft, I V , 1949, S. 363, und bei Abel, a.a.O., S. 264 f.
3. Die Bauern
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schaftlichen Verbände. N u r i n seltenen Fällen w i r d sie auf teilweise oder völlige Entschuldung hinauslaufen 15 . I n der Regel versucht die Landwirtschaft ihre generelle Kapitalschwäche über den Markt zu kompensieren, durch steigende Preise, d. h. unter Umständen: durch Inflation. Theodor Geiger folgert, der Bauer sei ein geborener Inflationist 1 6 , ein Schluß, der i n dieser allgemeinen Formulierung k a u m zutreffen dürfte. I n Deutschland haben die konservativen Kräfte und Traditionen eines freien Bauerntums nicht weniger als die Interessen von Industrie und Gewerbe die entscheidenden Angriffe auf die Symbiose von Inflationismus und Staatsinterventionismus getragen. Das hindert die Landwirtschaft nicht an der Feststellung, daß unter den Gegebenheiten des westeuropäischen Landbaus der Marktpreis allein eine dem Gemeinwohl entsprechende Steuerung der Erzeugung ebensowenig leisten kann wie eine gerechte Befriedigung der landwirtschaftlichen Bedürfnisse. Dazu ist die Stellung der Landwirtschaft auf dem Markt trotz einer nach Menge und Wert bedeutenden Leistung zu schwach. Sie fordert darum andere M i t t e l und Wege, die herkömmlich mit dem Begriff der Marktordnung umschrieben werden 1 7 . Staatliche Hoheitsverwaltung und ständische Selbstverwaltung w i r k e n i n der Planung und Durchführung einer Marktordnung zusammen. Sie w i r d i n ihrer Zielsetzung wirksam ergänzt durch echte Maßnahmen der 15 Vgl. beispielsweise das Gesetz zur Regelung der landwirtschaftlichen Schuldverhältnisse vom 1. Juni 1933 (RGBl. I, 1933, S. 331 ff.) und das Gesetz zur Abwicklung der landwirtschaftlichen Entschuldung vom 25. März 1952 (BGBl. I, 1952, S. 203 ff.). 16 Theodor Geiger gründet diese allgemeine Feststellung auf seine Untersuchungen der d ä n i s c h e n Landwirtschaft; vgl. Die Klassengesellschaft i m Schmelztiegel, Köln 1949, S. 181. I n D e u t s c h l a n d läßt sich das keineswegs auch nur mit annähernder Eindeutigkeit behaupten. Ein relativ festes Preisgefüge, die Erinnerung an die Währungsreform von 1948, welche die vorhandenen Schulden von insgesamt rund 1 Milliarde nicht verringerte, sondern sie in der Form von Umstellungsschulden in vollem Umfang bestehen ließ, schließlich der Umstand, daß die Gesamtverschuldung noch kein beängstigendes Ausmaß erreicht hat (Mitte 1951 4,27 Milliarden), und nicht zuletzt ein geschärftes politisches Verantwortungsgefühl dämpfen die auch hier nicht zu bestreitenden preissteigernden Tendenzien. Es kommt hinzu, daß in Deutschland die Landwirtschaft durch ihre Interessen, Verwandtschaft und Ideologie stark mit dem Mittelstand liiert ist, jede Inflation aber in erster Linie auf Kosten des Mittelstandes geht. Anders die Nachkriegsentwicklung in F r a n k r e i c h , wo, wie man weiß, die Preise der landwirtschaftlichen Produkte die inflationäre Entwicklung anführen, und in U S A , die ebenfalls jene Feststellung Theodor Geigers bestätigt (Nachweise bei V. O. Key, a.a.O., S. 31, 42). 17 Dazu statt anderer Adolf Weber und Wilhelm Meinhold, Agrarpolitik, Berlin-München 1951, S. 415 ff., wo außer der aktuellen deutschen Problematik auch die amerikanische Politik der Paritätspreise und das englische Stützungssystem dargestellt sind,
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
bäuerlichen Selbsthilfe: das i n Deutschland noch weiter ausbaufähige Genossenschaftswesen. Es ermöglicht eine gewisse Rationalisierung der Landwirtschaft und eine begrenzte Teilhabe an der Vermarktimg der industriellen Gesellschaft; es erhöht dadurch den Ertrag der Landarbeit und enthält i m übrigen unleugbare ideelle und erzieherische Werte, indem es den immer mehr erstarrenden Fronten der Massenorganisationen einen durch gesunden Gemeinschaftssinn gesicherten Bereich individueller Selbständigkeit und Verantwortlichkeit entgegensetzt 18 . Die Stellung der Landwirtschaft i n der Gesamtwirtschaft und i n der Gesellschaft ist i m übrigen dadurch gekennzeichnet, daß sie keinen dauernden gleichwertigen Gegenspieler hat. Sie unterscheidet sich damit grundsätzlich von der Lage der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, deren Gegnerschaft heute den vielberufenen Gegensatz von Stadt und Land weitgehend relativiert. Es läßt sich i m einzelnen darüber streiten, welche Interessengruppe sich jeweils am stärksten zur Geltung bringen kann. I n so hoch industrialisierten Ländern wie D e u t s c h l a n d und namentlich U S A haben Industrie und Handel lange Zeit eine deutliche Überlegenheit an den Tag gelegt. Inzwischen bemühen sich die Gewerkschaften m i t Erfolg, eine Vorzugsrolle zu spielen. I n USA hat indessen die Landwirtschaft schon 1935 m i t der Preisparität das wichtigste Stück ihres Programms verwirklicht 1 9 . Zur Stützung der Preise kann die Regierung Anbauverbote erlassen und ist vor allem zum Aufkauf des Überflusses, den der M a r k t nicht aufnimmt, verpflichtet; Anfang 1950 hatte sie etwa 4 Milliarden Dollar i n „surplus" investiert, der bis zum Korea-Boom als nahezu unverkäuflich galt, und für 1954 rechnete man m i t rund 8 M i l l i arden 2 0 . I n der S c h w e i z nimmt die Landwirtschaft i m Vergleich zu den übrigen Wirtschaftszweigen eine ausgesprochene Sonderstellung ein, die teilweise sogar verfassungsrechtlich gesichert ist. Der i n 18 Vgl. Gunther Ipsen, Die Zukunft des Bauerntums, in dem Tymbos für Wilhelm Ahlmann, Berlin 1951, S. 111 ff. 19 Der Agricultural Adjustment Act gab den landwirtschaftlichen Erzeugnissen „a purchasing power with respect to articles farmers buy, equivalent to the purchasing power of agricultural commodities in the base period 1909—1914"; zit. bei McKean, a.a.O., S. 454. Kritisch: Theodore W. Schultz, Agricultural Price Policy, in Food, Proceedings of the Academy of Political Science!, X X I I I , No. 2, January 1949, S. 12 ff. Vgl. auch Floyd A. Harper , The Government's Agricultural Policy and Inflation, in Prices, Wages and Inflation, a.a.O. X X I I I , No. 1, May 1948, S. 30 ff. 20 F. Rosenstiel in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 2. 1951; The Economist v. 27. 3. 1954, S. 954.
3. Die Bauern
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der Volksabstimmung vom 3. März 1929 angenommene A r t i kel 23 b i s der Eidgenössischen Bundesverfassung bestimmt beispielsweise: „Der Bund fördert den Anbau von Brotgetreide i m Inland, begünstigt die Züchtung und Beschaffung hochwertigen inländischen Saatgutes und unterstützt die Selbstversorgung unter besonderer Berücksichtigung der Gebirgsgegenden. Er übernimmt gutes, mahlfähiges Inlandgetreide zu einem Preise, der den Getreidebau ermöglicht. Die Müller können verpflichtet werden, dieses Getreide auf Grundlage des Marktpreises zu übernehmen" (Abs. 2) 2 1 . A m eindeutigsten ist der überragende Einfluß der Landwirtschaft wohl in F r a n k r e i c h , wo sie i m entscheidenden Augenblick immer stärker w a r als Industrie und (gegenüber den Bauern vornehmlich Verbraucherinteressen wahrnehmende) Gewerkschaften. Die Arbeiten und Erfolge der Weinkommission der französischen Nationalversammlung liefern dafür zahlreiche Beispiele. I n D e u t s c h l a n d hat nach 1945 der Machtkampf zwischen Industrie und Gewerkschaften so sehr die innenpolitische Auseinandersetzung beherrscht, daß die Interessen der Bauern lange Zeit hinter ihnen zurücktraten, i m Parlament nicht weniger als i n der Öffentlichkeit. Die Situation drängte darum auf eine aktivere Geltendmachung der landwirtschaftlichen Interessen auf einer verbreiterten organisatorischen Grundlage. Der Deutsche Bauernverband hat sich darum i m Herbst 1951 mit den Verbänden des Handwerks und der Haus- und Grundbesitzer zum D e u t s c h e n M i t t e l s t a n d s b l o c k zusammengeschlossen, zu dem soziologisch und seinen Interessen nach auch der Einzelhandel gehört. Damit hat der Mittelstand, der nach Marx hin- und herschwankt und nach Lenin oszilliert 2 2 , organisatorisch 21 Dieses weitgehende Zugeständnis an die Interessen der Landwirtschaft wurde bezeichnenderweise mit einer Inklination vor den Interessen des Müllereigewerbes und der Verbraucher verbunden: „Der Bund sorgt für die Erhaltung des einheimischen Müllereigewerbes; desgleichen wahrt er die Interessen der Mehl- und Brotkonsumenten . . . " (Abs. 3). Uber die Geschichte dieses Artikels vgl. Walther Burckhardt , Schweizerisches Bundesrecht, Staats- und verwaltungsrechtliche Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung seit 1903, Frauenfeld (Huber) 1931, Bd. V, S. 809—831. Die in den letzten Jahren von der schweizerischen Uhrenindustrie und anderen Berufszweigien erfolgreich geführten Kämpfe um Schutz und Förderung durch den Staat („Uhrenstatut") seien hier wenigstens am Rande erwähnt. 23 Angef. bei Maxime Leroy , Histoires des Idées sociales en France, 2. Bd., S. 503. — Theodor Geiger sagt dagegen überspitzt von den Mittelschichten: „eine Klasse leugnet mit Entrüstung, Klasse zu sein, und führt einen erbitterten Klassenkampf gegen Wirklichkeit und Idee des Klassenkampfes" (Die Klassengesellschaft i m Schmelztiegel, S. 168).
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
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festere U m r i s s e b e k o m m e n u n d p o l i t i s c h a n G e w i c h t g e w o n n e n . Das ist m e h r a l s n u r d i e V e r t e i d i g u n g e i n e r s c h m a l e n P o s i t i o n u n d eines gesunden, h a r t e n K e r n e s , v o n d e r H e n d r i k de Man s p r i c h t 2 3 , w e n n auch noch
nicht
die „ u n i v e r s a l i s a t i o n s e i n e n „Confessions
d e l a classe m o y e n n e " , révolutionnaire"
von
der
in
Proudhon
ersehnte ihre E n t f a l t u n g i m Rahmen der ländlichen Ord-
nimg, u n d auch d i e oben zitierte
d'un
träumte24.
Proudhon
„Programmatische
Erklärung
des
Deutschen B a u e r n v e r b a n d e s z u r A g r a r p o l i t i k " ist noch v o n d e n gleichen I d e e n beseelt. D i e „ u n i v e r s a l i s a t i o n de l a classe m o y e n n e " ist
Wirk-
l i c h k e i t g e w o r d e n i n d e n V e r e i n i g t e n Staaten, w o sich 90 °/o d e r B e völkerung
zum Mittelstand
bekennen25,
aber
nicht
auf
bäuerlicher
Grundlage, sondern u n t e r den Auspizien einer progressiven
Techni-
sierung u n d Industrialisierung aller Wirtschafts- u n d Berufszweige. Die Organisationen d e r deutschen L a n d w i r t s c h a f t sind außerordentl i c h v i e l g e s t a l t i g 2 6 . D e r 1948 g e g r ü n d e t e Deutsche B a u e r n v e r b a n d e. V . 23 Vermassung und Kulturverfall, Eine Diagnose unserer Zeit, München 1951, S. 170. — Fritz Marbach hat in seiner Theorie des Mittelstands (Bern, Francke, 1942) das Gesetz von der „existentiellen Konstanz des selbständigen, produzierenden Mittelstands" aufgestellt; die Aussage gilt aber nur für das Phänomen des Mittelstandes als solchen, betrifft aber nicht die einzelnen Schichten und individuellen Existenzen, die jeweils mittelständischen Charakter tragen, aber sehr wohl abzusinken vermögen, ebenso wie umgekehrt andere Schichten und Existenzen dem Mittelstand zuwachsen können (a.a.O., S. 257 ff.). 24 Bei Leroy a.a.O., S. 506. Das Bild, das sich Proudhon von einer neuen Gesellschaft machte, hat er in dem Postskriptum seiner 1849 erstmals erschienenen Confessions d'un Révolutionnaire pour servir à l'histoire de la Révolution de Février entworfen (Paris, Rivière, 1929, namentlich S. 352 ff.). Die Nachschrift endet mit folgender bemerkenswerten Prognose: „Le jacobinisme se convertît, le césarisme se fléchit; les prétendants à la royauté tâchent de se rendre populaires; l'Eglise, comme une vieille pécheresse entre la vie et la mort, demande la reconciliation. Le grand pan est mort! Les dieux sont partis; les rois s'en vont; le privilège s'efface: tout le monde se classe parmi les ouvriers. Tandis que le goût du bienêtre et de l'élégance arrache la multitude au sans-cullottisme, l'aristocratie, effrayé de son petit nombre, cherche son salut dans les rangs de la petite bourgeoisie. La France, assurant de plus en plus son véritable charactère, donne le branle au monde, et la Révolution apparaît triomphante, incarnée dans la classe moyenne" (S. 373). 25 Dieses Ergebnis der subjektiven, individuellen Selbsteinstufung ist gewiß ebenso bedeutsam wie die an Hand von nie ganz befriedigenden, „objektiven" Maßstäben wie Einkommen, Beruf, Ausbildung usw. gewonnenen Resultate. Dazu vgl. die von René König mitgeteilten, USA und eine Reihe anderer Länder betreffenden Daten (Soziologie heute, Zürich, RegioVerlag, 1949, S. 71 ff.). 26 I n ihnen spiegeln sich divergierende Interessen in großer Zahl. Max Weber hat an ihnen das Ungenügen der Kollektivbegriffe exemplifiziert. Seine Beobachtungen sind ein Beispiel für die bunte Fülle lebendiger, menschlicher Beziehungen, die in unserer Arbeit durch so abstrakte
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3. Die Bauern umfaßt
sämtliche
Bauern-, Landwirtschafts-
und
Landvolkverbände
u n d eine Reihe ü b e r r e g i o n a l e r Fachverbände. D i e i n d e n m e i s t e n L ä n d e r n d e r B u n d e s r e p u b l i k bestehenden L a n d w i r t s c h a f t s k a m m e r n h a b e n seit 1949 i h r e organisatorische Spitze i m V e r b a n d d e r L a n d w i r t s c h a f t s k a m m e r n . S i e sehen i h r e A u f g a b e ä h n l i c h w i e d i e I n d u s t r i e - u n d H a n delskammern i n
einer maßvollen V e r t r e t i m g
der
Mitgliederbelange
u n d U n t e r s t ü t z u n g d e r B e h ö r d e n u n d w i d m e n sich d e r Pflege
und
Förderung der landwirtschaftlichen Technik, der Berufsausbildung usw. Sie u n t e r s c h e i d e n sich aber v o n i h r e n S c h w e s t e r o r g a n i s a t i o n e n d a r i n , daß i n i h r e n H a u p t v e r s a m m l u n g e n d i e L a n d a r b e i t e r m i t e i n e m D r i t t e l d e r S t i m m e n v e r t r e t e n s i n d 2 7 . B e s o n d e r e r W e r t s c h ä t z u n g e r f r e u e n sich die l ä n d l i c h e n Genossenschaften, d i e a u f eine h u n d e r t j ä h r i g e
frucht-
b a r e T ä t i g k e i t z u r ü c k b l i c k e n 2 8 . Sie h a b e n sich 1948 u n t e r d e m N a m e n Sammelbegriffe wie Industrie, Gewerbe, Verbraucher usw. nur angedeutet werden können: „Nehmen w i r zunächst die »Interessen der Landwirtschaft 4 als die empirisch konstatierbaren, mehr oder minder klaren s u b j e k t i v e n Vorstellungen der einzelnen wirtschaftenden Individuen von ihren Interessen, und sehen w i r dabei ganz und gar von den unzähligen Konflikten der I n teressen viehzüchtender, viehmästender, kornbauender, kornverfütternder, schnapsdestillierender usw. Landwirte hier ab, so kennt zwar nicht jeder Laie, aber doch jeder Fachmann den gewaltigen Knäuel von durch- und gegeneinander laufenden Wertbeziehungen, der darunter unklar vorgestellt wird. Wir wollen hier nur einige wenige aufzählen: Interessen von Landwirten, welche ihr Gut verkaufen wollen und deshalb lediglich an einer schnellen Hausse des Bodenpreises interessiert sind; das gerade entgegengesetzte Interesse von solchen, die sich ankaufen, arrondieren oder pachten wollen; das Interesse derjenigen, die ein bestimmtes Gut ihren Nachfahren um sozialer Vorteile willen zu erhalten wünschen und deshalb an Stabilität des Bodenbesitzes interessiert sind; — das entgegengesetzte Interesse solcher, die in ihrem und ihrer Kinder Interesse Bewegung des Bodens in der Richtung zum besten Wirt oder — was nicht ohne weiteres dasselbe ist — zum kapitalkräftigsten Käufer wünschen; — das rein ökonomische Interesse der i m privatwirtschaftlichen Sinne »tüchtigsten Wirte* an ökonomischer Bewegungsfreiheit; . . . — die Liste könnte noch gewaltig vermehrt werden, ohne ein Ende zu finden, obwohl w i r so summarisch und unpräzis wie nur möglich verfahren sind. Daß sich mit den mehr »egoistischen' I n teressen dieser A r t die verschiedensten rein idealen Werte mischen, verbinden, sie hemmen und ablenken können, übergehen w i r . . . " (Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, zuerst 1904 veröffentlicht i m Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, abgedruckt in Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1951, S. 210 f.). 27 Das Zahlenverhältnis wird damit begründet, daß in der westdeutschen Landwirtschaft in rund 2 Millionen selbständigen Betrieben etwa 4 Millionen Familienangehörige arbeiten, während die Zahl der Arbeitnehmer nur 1,1 Millionen beträgt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 8. 1951). 28 Zu ihnen zählen 11 240 Kreditgenossenschaften, 10 108 Warengenossenschaften und 2396 Betriebs- (ζ. B. Elektro-, Dresch- und sonstige) Genossenschaften; vgl. Abel, Agrarpolitik, S. 74, und zur Geschichte und gegenwärtigen Gestalt des landwirtschaftlichen Organisationswesens ebendort
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
„Deutscher Raiffeisenverband" zusammengeschlossen, der nach dem Vater der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften benannt ist29/80 . 4. Religiöse und weltanschauliche Interessen Seit den abendländischen Säkularisationen haben die Kirchen nie bedeutsamere politische Funktionen ausgeübt als i n unseren Tagen. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches i m zweiten Weltkrieg haben sie sich i n der grauenvollen Zeit eines politischen Vakuums als die einzigen „haltenden Mächte" erwiesen. I m Augenblick der Niederlage waren es nicht selten die Pfarrer, die namens ihres Dorfes oder ihrer Stadt den anrückenden feindlichen Truppen entgegengingen, die Übergabe des Ortes erklärten und m i t ihrer Person für die Aufrichtigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Übergabe bürgten; das war vor allem i n ländlichen Gebieten der Fall, wo sich die Wehrmacht vorher abgesetzt oder aufgelöst hatte und die Vertreter der kommunalen Behörden und Parteidienststellen m i t dem Untergang des Regimes auch die letzten Reste von Legitimität -und Autorität verloren hatten. I n diesen dunklen Tagen eines seit Jahrhunderten nicht erlebten nationalen Unglücks waren häufig die Pfarrer der katholischen und der protestantischen Konfession die einzigen, die noch ein öffentliches A m t verwalteten und das Vertrauen der Bevölkerung und die Anerkennung durch die effektiv Gewalt ausübende Militärmacht besaßen. Sie waren die berufenen Sprecher ihrer Gemeinde, i n diesem Fall nicht vor Gott, sondern gegenüber der feindlichen Invasionstruppe, wie Papst Leo I. gegenüber Attila, und sie leisteten einen ihnen höchst ungewohnten, mühe- und gefahrvollen, in jenen Ortschaften aber unvergessenen Dienst. Es war ein humanes Werk u n d e i n e p o l i t i s c h e F u n k t i o n , denn sie waren die Repräsentanten ihrer Gemeinde vor dem Feind. Sie erfüllten diese Aufgaben, bis Bürgermeister eingesetzt waren und kommunale Ämter wieder ihre Aufgaben wahrnahmen. So wuchsen langsam von unten originäre politische Organe i n ein politisches S. 65 ff.; ferner die gute Übersicht bei Gisela Augustin, Genossenschaftliche Selbsthilfe i m Europa der Nachkriegszeit, Europa-Archiv, V I , 1951, S. 3899 ff. 29 Die 1885 nach dem Vorbild der Royal Agricultural Society of England geschaffene und 1948 neu gegründete Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft befaßt sich vornehmlich mit der Durchführung von Ausstellungen. 30 Zum landwirtschaftlichen Organisationswesen vgl. ferner das Kapitel „Streifzüge durch die Werkstätten landwirtschaftlicher Organisationen" bei Siegfried Strakosch, Das Agrarproblem im neuen Europa, S. 214 ff.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen V a k u u m h i n e i n , das v o n d e r O k k u p a t i o n s g e w a l t
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k r a f t ihres Wesens
n i c h t h a t t e a u s g e f ü l l t w e r d e n k ö n n e n u n d i n d e m d i e T r ä g e r d e r geistlichen A u t o r i t ä t
stellvertretend wirksam
geworden w a r e n —
unter
d e m Z w a n g der S i t u a t i o n u n d i m A u f t r a g e i h r e r M i t b ü r g e r . A l s L ä n d e r p a r l a m e n t e u n d L ä n d e r r e g i e r u n g e n ins L e b e n t r a t e n , w u r d e n d i e Bischöfe e n t l a s t e t , u n d n a c h E r r i c h t u n g d e r B u n d e s r e p u b l i k
konnten
sie w e i t e r e n p o l i t i s c h e n F u n k t i o n e n entsagen, d i e sie bis d a h i n s t e l l v e r t r e t e n d e r f ü l l t h a t t e n 1 . J a h r e l a n g h a b e n die K i r c h e n a n S t e l l e der u n t e r g e g a n g e n e n u n d d a n n i n E r g ä n z u n g u n d U n t e r s t ü t z u n g d e r sich l a n g s a m w i e d e r a u f r i c h t e n d e n deutschen S t a a t s a u t o r i t ä t 2
konstruktive
p o l i t i s c h e A u f g a b e n v o n u n b e z w e i f e l b a r e r G r ö ß e u n d D r i n g l i c h k e i t erf ü l l t . G e g e n ü b e r d e m A u s l a n d w a r e n sie d u r c h i h r E i n t r e t e n f ü r Recht u n d G e r e c h t i g k e i t gegenüber S i e g e r n u n d B e s i e g t e n u n d d u r c h m u t i g e s A u f t r e t e n v o r d e n B e s a t z u n g s g e w a l t e n zunächst die einzige v e r n e h m bare deutsche S t i m m e i n der W e l t . „ I h r O r g a n i s a t i o n s g e f ü g e l a n g e Z e i t d i e einzige gesamtdeutsche O r g a n i s a t i o n u n d tation
stellte
Repräsen-
d a r " ; die kirchliche Lebens- und Sittenordnung hat
„jahre-
l a n g s t e l l v e r t r e t e n d d a s deutsche Sozialgefüge g e h a l t e n " 3 ^ 4 . 1
Diesen Gedanken hat der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz des gesamtdeutschen Episkopats, Kardinal Joseph Frings, bei der St. AnnoFeier in Siegburg am 31. Oktober 1949 ausgesprochen (Der Wortlaut der Ansprache konnte trotz der dankenswerten Bemühungen des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln nicht festgestellt werden). 2 Die deutsche Staats g e w a 11 war nicht untergegangen, darüber herrscht heute Übereinstimmung; statt anderer vgl. Rolf Städter, Deutschlands Rechtslage, Hamburg 1948. 5 Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 51 (Sperrung durch mich). 4 Die politische Funktion der Kirchen in dieser Zeit hat teilweise in einem vielschichtigen Komplex von Hirten Worten, Erklärungen, in der oft wiederholten Anrufung und Auslegung des allgemeinen Sittengesetzes wie des Naturrechts und anderen Verlautbarungen ihren Niederschlag gefunden; sie gingen von den verschiedensten kirchlichen Organen aus und erlangten für ganz Deutschland oder auch nur für bestimmte Bevölkerungskreise bzw. in begrenzten Gebieten repräsentative oder richtungweisende Bedeutung und wurden so politisch relevant. Das sehr verstreute Material und die Frage seines politischen und rechtlichen Gehalts wäre detaillierter, monographischer Bearbeitung wert. Hier seien wenigstens zwei Beispiele genannt: A m 18. und 19. Oktober 1945 traf sich in Stuttgart der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zum erstenmal mit Vertretern des ökumenischen Rates. Er gab vor diesem internationalen Organ der protestantischen Kirchen der westlichen Welt die sog. S t u t t g a r t e r E r k l ä r u n g ab. Sie ist ein aus der Situation gesprochenes Schuldbekenntnis, versäumt aber auch nicht, auf den Geist der Gewalt und der Vergeltung hinzuweisen, der „heute" von neuem mächtig zu werden drohe. Die häufig ins Licht gestellte Problematik dieses Schuldbekenntnisses ist hier ohne Belang. I n diesem Zusammenhang ist wesentlich, daß der Rat der E K D hiermit eine für
124
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Noch heute erwächst den Kirchen eine unverkennbare politische Funktion aus dem Umstand, daß sie die einzigen intakten und integren Organisationen sind, deren Existenz und Arbeit i m gesamtdeutschen Raum noch nicht völlig durch den Eisernen Vorhang und durch andere die ganze Nation r e p r ä s e n t a t i v e E r k l ä r u n g a b g e b e n w o l l t e , denn sie hebt an mit dem Satz: der Rat wisse sich mit dem Volk in einer großen Gemeinschaft der Leiden und in einer Solidarität der Schuld. So wurde sie auch von den Adressaten verstanden, wie die ebenfalls repräsentativ gemeinten, Schuld und Verantwortung bekennenden Antworten der amerikanischen Quäker, des Exekutivausschusses des Bundesrates der Kirchen Christi in Amerika, des Erzbischofs von Canterbury, des Bischofs von Chichester, der Niederländischen Reformierten Kirche und des Rates der tschechoslowakischen Kirche ausweisen. Nicht zuletzt wurde sie auch von den Deutschen selbst als eine Erklärung verstanden, die mit dem Anspruch auf repräsentative Bedeutung auftrat; die unmittelbar danach einsetzende heftige Diskussion hat das bezeugt. Die Stuttgarter Erklärung ist abgedruckt i m „Verordnungs- und Nachrichtenblatt, Amtliches Organ der Evangelischen Kirche i n Deutschland" Januar 1946, Nr. 3, die Erwiderung des Bundesrats der amerikanischen Kirchen a.a.O., Februar 1946, Nr. 7, die übrigen Antworten sind in Nr. 14 veröffentlicht. I n Nr. 6, a.a.O. ist ein Rundgespräch wiedergegeben, das sich mit der Reaktion der deutschen öffentlichen Meinung auseinandersetzt. Der repräsentative Charakter der Erklärung ist auch von dem Präsidenten der Kirchenkanzlei der EKD, Pfarrer Hans Asmussen, in einer hektographierten Arbeit über die Stuttgarter Erklärung hervorgehoben worden; ebenfalls von K a r l Gerhard Steck, „Schuld und Schuldbekenntnis", in der Zeitschrift „Evangelische Theologie", 1947, Heft 7/8, S. 371, 378 ff. Nicht weniger repräsentativ war ein Hirtenbrief des Episkopates der Kölner und Paderborner Kirchenprovinz, der sich die Erklärung Papst Pius XII. vom 20. 2. 1946 zur Schuldfrage zu eigen machte: es sei ein Irrtum, zu behaupten, daß man einen Menschen schon deshalb als schuldig oder verantwortlich behandeln könne, weil er einer bestimmten Gemeinschaft angehöre, ohne daß man sich die Mühe gebe, im einzelnen Fall zu untersuchen, ob der Betreffende durch sein Handeln oder Unterlassen sich persönlich schuldig gemacht habe (aus der Ansprache vor den neu kreierten Kardinälen, Acta Apostolicae Sedis, 38, 1946, S. 149 f.). Vgl. auch Carl Klinkhammer, Die deutschen Katholiken und die Schuldfrage, in der Monatszeitschrift „Neues Abendland", Oktober 1946, S. 12 ff. I m nordrhein-westfälischen Raum wurde einem Satz aus der Silvesterpredigt 1946 des Erzbischofs von Köln, Joseph Kardinal Frings, die denkbar größte Publizität gegeben: „Der einzelne darf i n der Not das nehmen, was er zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit notwendig hat, wenn er es nicht erarbeiten oder erbitten kann" (zit. aus dem Manuskript, das für mich durch das Erzbischöfliche Ordinariat Köln in dankenswerter Weise exzerpiert wurde; die Predigt wurde in der Pfarrkirche S t Engelbert in Köln-Riehl gehalten). Es ist dem Verfasser bekannt, daß dieses Wort eine tiefe und heilende Wirkung auf die bedrohte soziale Ordnung gehabt hat und auch auf die Beurteilung von Diebstahlsaffären durch Richter und Staatsanwaltschaft nicht ohne Einfluß geblieben ist. Die evangelische Kirche hat sich u. a. in ihren Akademien mit großer Hingabe der Wiederherstellung der sozialen Ordnung in Deutschland gewidmet und in anderen Veranstaltungen wie durch Veröffentlichungen diesem Ziel gedient. VgL statt anderer „Kirche und Recht", Ein vom Rat der evangelischen Kirche in Deutschland veranstaltetes Gespräch über die christliche Begründung des Rechts, Göttingen 1950, mit einem bemerkens-
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
125
G r e n z z i e h u n g e n 5 p a r a l y s i e r t s i n d . D e r E v a n g e l i s c h e K i r c h e n t a g 1951 i n B e r l i n u n d d e r K a t h o l i k e n t a g 1952 i n B e r l i n e r f ü l l t e n d i e e h e m a l i g e Reichshauptstadt
über alle Sektorengrenzen
hinweg mit
einer
nach
H u n d e r t t a u s e n d e n z ä h l e n d e n T e i l n e h m e r m e n g e aus a l l e n T e i l e n dieses Reiches, u n d d i e i n a l l e n S e k t o r e n d e r S t a d t , i n K i r c h e n u n d fanen Versammlungsräumen
veranstalteten
religiösen
pro-
Massenkund-
gebungen w a r e n gleichzeitig ein nicht zu unterdrückendes
Bekenntnis
z u m D e u t s c h t u m u n d d e n t r a g e n d e n W e r t e n seiner Geschichte. W ä h rend
des K a t h o l i k e n t a g e s
1952 k a m das i n
besonders
bewegender
Weise z u m A u s d r u c k , als sogar Tausende evangelischer C h r i s t e n u n t e r g r o ß e n p e r s ö n l i c h e n O p f e r n aus d e r s o w j e t i s c h besetzten Z o n e nach B e r l i n g e k o m m e n w a r e n , u m i n das B e k e n n t n i s
ihrer
katholischen
Glaubensbrüder einzustimmen, nachdem ihnen die Beteiligung a n dem E v a n g e l i s c h e n K i r c h e n t a g 1952 i n S t u t t g a r t d u r c h d i e B e h ö r d e n i h r e r werten Referat von Ulrich Scheuner, „Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung", S. 27 ff. Abschließend sei noch auf die zahlreichen, politisch bedeutsamen Erklärungen zu Krieg und Kriegsdienst hingewiesen, die von Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche in den letzten Jahren in Deutschland abgegeben wurden; sie haben eine so große Publizität erlangt, daß es nicht notwendig ist, hier einzelne Äußerungen anzuführen. 5 Was die S a a r betrifft, so hat der Heilige Stuhl dem französischen Drängen auf die Errichtung eines selbständigen Sprengeis ebensowenig nachgegeben wie den polnischen Forderungen, die deutschen, unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete östlich der Ο d e r - N e i ß e - L i n i e in die polnische Bistumsverfassung einzugliedern. Die Saar gehört nach wie vor zu den Diözesen Trier und Speyer; de iure bestehen auch i m Osten die deutschen Bistümer Ermland, Breslau und die Freie Prälatur Schneidemühl mit ihren bisherigen Grenzen weiter, wie das Annuario Pontificio (letzte Ausgabe: für das Jahr 1?54, Città del Vaticano 1954, S. 144, 460 und 683) regelmäßig ausweist. Durch staatlichen Gewaltakt sind aber die polnisch verwalteten Gebiete der Jurisdiktion polnischer Bischöfe unterstellt Dadurch wurden der Ausübung der deutschen Seelsorge und kirchlichen Verwaltung Qrenzen gesetzt, die eine neue provisorische Einteilung der kirchlichen Jurisdiktionsbezirke notwendig machten; sie ergibt sich aus dem kirchlichen Handbuch, Bd. X X I I I , 1944r-51, Köln 1951, S. 19 ff. Nichtsdestoweniger haben die Kapitelsvikare für die Diözesen Breslau und Ermland, der Prälatus nullius von Schneidemühl und der Generalvikar des deutschen Anteils der Erzdiözese Prag (Grafschaft Glatz) nach wie vor Sitz und Stimme in der Fuldaer Bischofskonferenz. Sie werden im Kirchlichen Handbuch, a.a.O., S. 35 f., als „Träger persönlicher Jurisdiktion" aufgeführt. Für die Evangelische Kirche gilt Entsprechendes. Die Evangelische Kirche im Rheinland hält mit voller Unterstützung ihrer saarländischen Gemeinden daran fest, daß diese weiterhin Teil der rheinischen Kirche sind. Die Evangelische Kirche von Schlesien erhebt den Anspruch, auch heute noch für die von Polen besetzten Gebiete Schlesiens zuständig zu sein. Vgl. Hermann Ehlers, Struktur und Aufgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland heute, Europa-Archiv, V I , 1951, S. 3866.
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
126
Zone untersagt war 6 . Das sind eindrucksvolle Manifestationen eines religiösen
und
unter
den gegebenen Umständen
auch politischen
Willens. Es ist ein Zeichen für die Stärke dieses politischen Willens zur Einheit, daß er selbst eindeutig religiöse und gegen Politik bewußt abgeschirmte Kundgebungen trägt, weil Okkupationsmächte seine Selbstdarstellung und -Verwirklichung i n originär politischen Formen nicht zulassen. Die Kirchen können jenen Willen und seine derartigen, indirekten Äußerungen nicht unterdrücken; i n der Tat bekennen sie sich zu der ihnen nicht nur von ihren Gläubigen, sondern — wie jene zum Katholikentag nach Berlin gepilgerten Protestanten beweisen — von allen Bevölkerungsschichten spontan übertragene Funktion, m i t ihren Kräften und i n ihrem Bereich die deutsche Einheit zu repräsentieren und dem Anliegen der deutschen Wiedervereinigung z u dienen. Sie erfüllen diesen Dienst i n stiller Kleinarbeit und zahllosen A k t e n der Nächstenliebe, aber auch i n öffentlichen, repräsentativen K u n d gebungen m i t dem unermüdlichen Appell an die Regierenden, alles zu tun, u m die Spaltung Deutschlands zu beseitigen. Diese Proklamationen und Botschaften der Kirchen gipfeln i n einem Vorschlag, den der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche i n Deutschland, Bischof Otto Dibelius, am 16. A p r i l 1952 i n Dortmund gemacht hat: die K o n t r o l l e g e s a m t d e u t s c h e r Wahlen solle der evangelischen und katholischen Kirche übertragen werden. Der Aufbau einer besonderen Kontrollorganisation bedürfe bei der Vielzahl der Orte und Gemeinden i n Ost- und Westdeutschland eines Verbandes, der etwa 15 kriegsstarken Divisionen gleichkomme. Die Kirche sei die einzige Organisation i n Ost und West, deren Redlichkeit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit alle vertrauen könnten; nur sie überwinde noch die große K l u f t und predige das Evangelium mit den gleichen Worten 7 . Diese erstaunliche Initiative des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche i n Deutschland wurde i n dem B l a t t des Bischofs von Generalsuperintendent F. W. Krummacher authentisch 6 Die Zeit vom 28. 8. 1952. Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 309 vom 9. 11. 1952. 7 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 4. 1952. Die Katholische Kirche, die nicht konsultiert war, distanzierte sich von dem Vorschlag, da es sich um eine rein politische Angelegenheit handele, die nicht zum Aufgabenbereich der Kirche gehöre. Auch würde außer einer moralischen Autorität auch eine Polizeimacht zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendig sein (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 4. 1952).
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
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interpretiert: „Es geht u m die Bereitschaft der Kirche, i n einer Stunde der Not für das Volk gegebenenfalls ein Ν ο t a m t zu übernehmen" 8 . Die Kirchen haben i n Zeiten nationalen Notstandes, wenn die staatlichen Organe versagten, immer wieder politische Aufgaben erfüllt. Nach der Besetzimg N o r w e g e n s i m zweiten Weltkrieg, nachdem König und Kabinett geflohen waren, wurde auf norwegischen Vorschlag ein Administrationsrat errichtet, der vom 15. A p r i l bis 25. September 1940 amtierte und m i t dem die protestantische Kirche eng zusammenarbeitete 9 . Erst als V i d k u n Quisling an die Spitze der norwegischen Verwaltung berufen wurde, kam es zum Bruch, und Bischof Eivind Berggrav organisierte die vorläufige Kirchenleitung („midlertidige kirkeledelse"), die gegen das von Quisling eingesetzte Kirchenregiment illegal arbeitete. Z u ihr bekannten isich 9 2 % der Pfarrer und alle Gemeinderäte. Der Kirchenkampf war Teil der gesamten nationalen Reaktion Norwegens gegen die deutsche Besetzung 10 . Nach der deutschen Niederlage wurde sie durch königliche Resolution vom 8. Mai 1945 bestätigt und m i t der Säuberung der Kirche beauftragt 1 1 . Auf dem B a l k a n hat die g r i e c h i s c h - o r t h o d o x e Kirche jahrhundertelang den Glauben an die einstige Wiederkehr des byzantinischen Reiches gehütet und damit die geistige Grundhaltung der Völker vor der türkischen Überfremdung bewahrt, nachdem 1453 Konstantin X I . Reich und Leben i m Kampf gegen den Sultan Mohammed II. verloren hatte 1 2 . Auch hier verfügte die Kirche über die ein8 Berliner Sonntagsblatt, Herausgegeben i m Auftrage des evangelischen Bischofs von Berlin D. Dr. Dibelius, vom 27. 4. 1952. • Engdahl Thygesen bemerkt in seinem Artikel „Ein streitbarer Bischof" (in dem Wochenblatt „Die Zeit", vom 7. 8. 1952): „Nach der Besetzung Norwegens versuchte Berggrav, eine Verwaltungsbehörde zu errichten, die mit und unter der deutschen Besatzungsmacht arbeiten sollte, was ihm später manche Kritik einbrachte." 10 Übereinstimmend K a r l Barth, Die protestantischen Kirchen in Europa — ihre Gegenwart und ihre Zukunft, erstmals im September 1942 veröffentlicht in „Foreign Affairs", das deutsche Manuskript abgedruckt in Eine Schweizer Stimme 1938—1945, Zollikon-Zürich (Evangelischer Verlag) 1945, S. 262 ff., wo die Haltung der norwegischen (und holländischen) Kirche gleichzeitig positiv und kritisch beurteilt wird; vgl. auch S. 266. 11 Der Sekretär des Bischofs, Herr M. Mowinkel, hat mir in dankenswerter Weise mit Schreiben vom 19. 11. 1952 diese Daten bestätigt. Zu der in Anm. 9 mitgeteilten These Thygesens führt Herr Mowinkel aus, daß jene Verwaltungsbehörde nicht als kirchliche Aktion betrachtet werden dürfe, sondern es sich um eine allgemeine Zivilbehörde gehandelt habe. Vgl. auch Walther Hubatsch, Die deutsche Besetzung von Dänemark und Norwegen 1940, Göttingen 1952, S. 163 ff. 12 Die Ostkirche hat dabei, anders als Rom, keine theologische und philosophische Lehre über das Verhältnis der kirchlichen zur weltlichen Gewalt entwickelt, sondern die byzantinische Staatsidee war eine Art politi-
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
zige, noch einigermaßen unversehrt gebliebene Organisation. Während es die Türken an jeder geistigen Betreuung ihrer christlichen Untertanen fehlen ließen, sicherten Mönchtum und Weltklerus die Fortpflanzung einer bescheidenen autochthonen Bildung. Das orthodoxe Bewußtsein von dieser Aufgabe schaffte sich 1743 i n der „Athos-Akademie" eine eindrucksvolle Manifestation 1 3 . Auch i n Z y p e r n war die griechisch-orthodoxe Kirche, schon bevor die Insel 1878 von türkischer unter englische Verwaltung kam, das Bollwerk des Griechentums, zu dem sich vier Fünftel seiner Bevölkerung bekennen. Heute ist i n der britischen Kronkolonie die Kirche die Trägerin der mächtigen Enosis-Bewegung, die die Vereinigung mit Griechenland anstrebt, und Erzbischof Makarios ist i h r leidenschaftlicher Sprecher. Während sich die griechische Regierung aus politischen Rücksichten gegenüber England noch vorsichtig zurückhielt und geneigt war, das Problem zu bagatellisieren, fand der Erzbischof schon lebhafte Unterstützung bei den Gewerkschaften Griechenlands, die am 5. J u l i 1952 m i t einem Generalstreik gegen die Weigerung Großbritanniens, über die Abtretung Zyperns an Griechenland zu verhandeln, protestierten. I n einem Streit zwischen zwei Interessengruppen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, gab Kardinal Henry Edward Manning, Erzbischof von Westminster, ein hervorragendes Beispiel innenpolitischer A k t i v i t ä t , indem der katholische Kirchenfürst an Stelle der an sich berufenen^ englischen Behörden handelte 1 4 . A m 13. August 1889 traten die Londoner Hafenarbeiter i n den Streik, da man ihrer Forderung auf Erhöhimg des Stundenlohns von 5 auf 6 Pennies nicht nachkam. Zwei Wochen lang unternahm niemand etwas zur Beilegung des Streiks, bis sehen und religiösen Dogmas, an das man glaubte und in den Klöstern heute noch glaubt. Vgl. dazu Georg Stadtmüller, Geschichte Südosteuropas, München 1950, S. 163 f.; M . J. Papovic, Istorijska uloga srpske erkve u cuvanju narodnosti i stvaranju drzave (Die geschichtliche Rolle der serbischen Kirche bei der Bewahrung des Volkstums und der Schaffung des Staates) Belgrad 1933 (zit. bei Georg Stadtmüller, S. 455). F. Eichmann sieht in der Kirche die „Retterin der griechischen Nationalität" (Die Reformen des Osmanischen Reiches mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Christen des Orients zur türkischen Herrschaft, Berlin 1858, S. 249). 18 Mönchsland Athos, herausgegeben von F. Dölger, München 1943, S. 19. 14 Z u m folgenden vgl. Shane Leslie, Henry Edward Manning, His Life and Labours, 1921, S. 369—376; Georgiana P. McEntee y The Social Catholic Movement In Great Britain, New York (Macmillan) 1927, S. 71—76; Edmund Sheridan Puree il, Life of Cardinal Manning, Archbishop of Westminster, Bd. I I , London (Macmillan) 1895, S. 658—671.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
129
man sich, wie es scheint von Seiten der Streikleitung 1 5 , an den 81jährigen K a r d i n a l wandte; da L o r d Mayor und Home Secretary (Innenminister) abwesend waren, begab sich Manning i n Begleitung des Stellvertretenden Bürgermeisters zu den Direktoren der Docks. Die Verhandlungen m i t Direktoren und Arbeitern erstreckten sich über zwei Wochen. A n ihnen nahmen nach seiner Rückkehr auch der Lord Mayor und der anglikanische Bischof von London teil, die sich aber schließlich verärgert zurückzogen. Der Kardinal verhandelte dann allein, vor allem m i t den Hafenarbeitern, i n einer Schule ihres Viertels; als sie hartnäckig eine Vereinbarung ablehnten, „spielte er seine letzte Karte" (Leslie) u n d drohte, er werde an seine irischen Katholiken appellieren und sie i n die Docks rufen. Die Arbeiter bevollmächtigten ihn schließlich, i n ihrem Namen m i t den Direktoren zu verhandeln 1 6 , die beschlossen hatten, nur über solche Bedingungen zu sprechen, die vom Kardinal überbracht würden. A m 14. September 1889 wurde der „Friede des Kardinals" unterzeichnet, und die Presse w a r v o l l des Lobes f ü r die Initiative des Kardinals. Manning tat damit einen ersten Schritt i n Richtung auf eine staatliche Schlichtungsinstanz 17 . Das sind Ausnahmesituationen, die der Kirche politisches Handeln ganz großen Stils erlauben oder — „Mich erbarmt des Volkes!" — aufnötigen. Bei der Wahrnehmimg von Aufgaben der bezeichneten A r t vertritt die Geistlichkeit nicht nur die Gläubigen ihres Sprengeis, sondern handelt, kraft der politischen Unabhängigkeit ihres öffentlichen Amtes, stellvertretend für die ganze Stadt oder die ganze Nation. Sie erscheint aber gerade dadurch i n einer eminent politischen F u n k t i o n : sie vollzieht Akte der politischen R e p r ä s e n t a t i o n . Die alltägliche Wahrnehmung kirchlicher Interessen i m politischen Raum hat naturgemäß ein anderes Gesicht. Daß es sie gibt, ist nicht zweifelhaft und w i r d i m weiteren Verlauf dieser Studie durch Beispiele belegt. Es muß hier freilich daran erinnert werden, daß Interesse keineswegs immer m i t materiellem, finanziellem oder egoistischem Interesse identisch, sondern auch geistiger, religiöser und altruisti14
Purcell, a.a.O., I I , S. 662. Auch der Lord Mayor ermächtigte den Kardinal, in seinem Namen zu sprechen und „to urge the proposition of the men upon the Directors" ( Purcell , a.a.O., S. 663). 17 A n deren Einrichtung nahm er aktiven Anteil, wie die bei Purcell, a.a.O., S. 664 ff., abgedruckte Korrespondenz ausweist. Als Grund für sein Eingreifen gibt er an: „Finding that no other mediation acceptable to the combatants appeared to be available, I resolved to offer my humble services with the endeavour to bring them to meet together" (S. 665). 16
9
Kaiser, Repräsentation
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
scher Gegenstände fähig ist. Es ist auch kein organisiertes Interesse — es sei denn, es handelt sich um eine kirchliche Hilfs-(Standes-) organisation —, sondern das Interesse einer Institution, denn die Kirche ist ihrem Wesen nach nicht Korporation, sondern Anstalt, Heilsanstalt. Die Kirchen gehen nicht auf i n der Funktion einer Interessengruppe, solange ein Hauch des corpus mysticum i n ihnen lebendig ist. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist darum wesentlich anderer A r t als das Verhältnis von Staat und Gewerkschaften, Staat und Industrie, Staat und Bauernverbänden usw. Die katholische und die protestantische Auffassung von Staat und Kirche stimmen darin grundsätzlich überein, und auch die Jurisprudenz kann sich dem nicht verschließen. Die vorstehend geschilderten Beispiele kirchlicher A k t i v i t ä t i m politischen Raum legen auf ihre A r t von jener Wesens Verschiedenheit Zeugnis ab. Keine Gewerkschaft und kein Bauernverband besitzt jene Autorität, über die auch heute die Vertreter der Kirchen verfügen, und das alte, die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche bewegende Problem der Unterscheidung von auctoritas und potestas 18 ist auch heute noch aktuell. Hiernach w i r d man uns nicht mißverstehen, wenn w i r von kirchlichen oder religiösen und weltanschaulichen Interessen sprechen. Auch die Kirchen und religiösen Gemeinschaften treten an die Öffentlichkeit und namentlich an den Staat mit eigenen Ansprüchen und Interessen heran. Diese mögen, wenn sie sich aus ihrem göttlichen A u f t r a g herleiten, sub specie aeternitatis unendlich viel wichtiger u n d wertvoller sein als die Forderungen und Wünsche jener anderen Verbände. Das schließt jedoch nicht aus, daß sie in der Form der Geltendmachung, i n der A r t und Weise, wie sie jeweils der öffentlichen Meinung oder einem Staatsorgan präsentiert werden und ihnen Nachdruck verliehen wird, erhebliche Ähnlichkeit untereinander aufweisen. Tatsächlich gehen so die kirchlichen Interessen i m politischen Raum m i t jenen anderen, heteronoanen Interessen ein i n das höchst verschlungene und kaum durchschaubare Interessengewebe, das die P o l i t i k der modernen Demokratien charakterisiert. I n s o f e r n und n u r unter diesem Aspekt ist es möglich, ja sieht sich jede realistische Analyse der gegenwärtigen demokratischen Willensbildung genötigt, die Kirchen- und 18 Dazu vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, München-Leipzig 1928, S. 75, Anm.; Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 136, Anm. 2; Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 30, 35. Vgl. auch Walther Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, Stuttgart 1951, S. 178 ff., über die auctoritas im römischen Rechtsdenken.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
131
Religionsgemeinschaften neben den Interessenverbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Landwirtschaft, der Steuerzahler, Verbraucher usw. zu nennen 19 ^ 20 . 19 Die in dem Kapitel über die Adressaten organisierter Interessenwahrnehmung beigebrachter Beispiele werden diese Feststellung erhärten. I n der a m e r i k a n i s c h e n Literatur werden mit großer Unbekümmertheit Kirchen und andere Interessengruppen unter den Begriff der Pressure Groups gebracht. Vgl. statt anderer McKean, Party and Pressure Politics, S. 543 ff. I n der d e u t s c h e n Literatur kommt ein so hervorragender Kenner des Staatskirchenrechts und seiner aktuellen Problematik wie Werner Weber zu einem ähnlichen Ergebnis: Er rechnet die Kirchen wie die politischen Parteien, die Gewerkschaften und die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände zu den politischen Ständen unserer Demokratie (Spannungen und Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, S. 49 ff.). 20 Die Begriffe des Religiösen und des Politischen haben nicht immer den Gegensatz zweier Welten bezeichnet, der heute noch den europäischen Sprachgebrauch weithin bestimmt. Erich Voegelin hat in seiner bedeutenden Studie „Die politischen Religionen" (Wien 1938) gezeigt, daß sie sich an bestimmten Modellen orientieren, die im Geisteskampf Europas ihre besondere Bedeutung haben. „In der Kampfposition haben sich sprachliche Symbole gebildet, welche nicht die Wirklichkeit als solche erkennen, sondern die Gegensätze des Kampfes festhalten und verteidigen wollen" (S. 9). Die Geschichte des Verhältnisses von S t a a t , K i r c h e und G e s e l l s c h a f t hat eine merkwürdig dialektische Entwicklung genommen. Das Mittelalter ist beherrscht von dem Dualismus von Kirche und Welt, ordo ecclesiasticus und ordo saecularis. Er wird aufgehoben durch den souveränen Nationalstaat der Neuzeit. I h m setzt sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Gesellschaft entgegen, wodurch ein neuer Dualismus entsteht. Das deistische Weltbild drängt Gott und die Kirche auf einen Platz außerhalb dieses Horizonts, soweit sie sich nicht i m Raum des Staates (Summepiskopat der protestantischen Landesfürsten, katholischer Josephinismus) angesiedelt hat. Enttemporalisierung und Spiritualisierung der Kirche i m 19. Jahrhundert bringen sie gegenüber Staat und Gesellschaft wieder in eine selbständige Position. Dieses Fazit zog Rudolf von Gneist in seiner Studie „Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlrecht": „Wollen w i r uns nicht entschließen, . . . zu sagen: i m Staat lebt ein dreifacher Organismus? 1. der Organismus der Gesellschaft, 2. der Organismus der Kirche, 3. der Organismus des Staats. Das Wesen der menschlichen Entwicklung wird zu finden sein i n der stetigen Wechselwirkung dieser drei Organismen unter sich)" (S. 15; vgl. auch Eduard Spranger, Das Wesen der deutschen Universität, Akademisches Deutschland I I I 1, S. 9). Die weitere Entwicklung hat sich in Deutschland mit besonderer Schärfe und Geschwindigkeit vollzogen: Die Gesellschaft integrierte sich in den Staat; dieser wurde dadurch „totaler Staat" (Carl Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat, 1931, abgedr. in Positionen und Begriffe, S. 126 ff.), und der Dualismus von Staat und Kirche erreichte eine schon fast an das Urchristentum gemahnende Intensität. Die letzte, totalitäre und autoritäre Steigerung des kontinentalen Staates endete mit seiner Vernichtung durch den Einbruch des atlantischen Systems, das ein wesentlich von der Erwerbsgesellschaft beherrschtes System ist, und Kirche und Gesellschaft besetzen nun gemeinsam die Viscera der sich aus der Asche wieder erhebenden staatlichen Macht. Es fragt sich, ob die Dialektik dieses essentiell kontinental-europäischen Vorgangs damit ihre Kraft verloren hat und in der Spannungslosigkeit eines gesellschaftstotalen Zustandes untergeht, oder ob auch die künftige Ordnung noch so viel kontinentale Substanz
*
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Ist die Kirche 2 1 i n ihrem Verhältnis zum Staat von einer bestimmten Staatsform abhängig? M a n schreibt dem Protestantismus gern eine größere Nähe zur Demokratie zu, während man die Monarchie oder Aristokratie für eine von der katholischen Kirche bevorzugte Staatsform h ä l t 2 2 . Es ist die Frage, inwieweit hier angelsächsische Erfahrungen einerseits' und Erinnerungen an die Zeit der Gegenrevolution andererseits verallgemeinert werden. Sicher ist, daß die deutschen Katholiken nach dem ersten Weltkrieg leichter die Wendung zur Repub l i k vollzogen als ihre protestantischen Glaubensbrüder, die m i t dem König gleichzeitig ihren Summepiskopus verloren hatten 2 3 . Wenn Bischof E i v i n d Berggrav als die Voraussetzimg der lutherischen Lehre von Staat und Kirche den Rechtsstaat fordert i n dem Sinne „Ohne Recht keine richtige Obrigkeit" 2 4 , dann ist mit dem oft mißbrauchten Begriff des Rechtsstaats n u r gesagt, daß die Kirche sich nicht m i t einem Latrocinium und auch nicht m i t einem Industriekonzern oder einer Gewerkschaft verbinden kann, sondern daß ihr nur eine Rechtsordnung, ein Staat, i n der Sprache der Papstenzykliken: eine „societas perfecta" korrespondiert. Alle Prädilektionen sind situationsbedingt. Es gibt auch für die Kirche keine Staatsform, die sie als „die beste" anerkennen könnte 2 5 . Sie paßt sich jeder Gesellschafts- und Staatsordnung a n 2 6 und bleibt doch mit sich selbst identisch. Nur wenn der Staat ihre Existenz bedroht, bleiben i h r allein die Katakomben und äußerstenfalls das Martyrium. Aber selbst i n solcher Bedrängnis bleibt sie eine Größe auch i m politischen Raum. Die Formen und die Intensienthalten wird, daß auch der nächste Schritt noch getan wird: die Differenzierung von Kirche und Welt. 21 M i t gutem Recht und i m Einklang mit ihrem Selbstverständnis kann man von den historischen „Kirchen" im. Singular sprechen, solange sie trotz aller konfessionellen Gegensätze an der Einheit des mystischen Leibes ihres Stifters partizipieren: „Baptismate homo constituiter in Ecclesia Christi persona . . . " (c. 87 des Codex Iuris Canonici). 22 Statt anderer Ernst Troeltsch , Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 3. Aufl., Tübingen 1923, S. 743 ff., 790 ff. 23 Martin Dibelius, Protestantismus und Politik, in der Monatsschrift „Die Wandlung", I I , 1947, S. 40. 24 I n einem Vortrag, den er am 29. Juli 1952 vor der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover hielt; auszugsweise veröffentlicht in Junge Kirche, Protestantische Monatshefte, X I I I , 1952, S. 404; vgl. auch den Artikel „Die Kirche und der moderne Wohlfahrtsstaat" in der Universitas, V I , 1952, S. 997 f. 25 Vgl. Ottaviani, Institutiones, I I , S. 35, unter Berufung auf Leo XIII, Enzykliken Sapientiae christianae (Acta Leonis X I I I , B d X , S. 28) und Diuturnum illud (a.a.O., Bd. I I , S. 272). 26 Vgl. Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, München 1923, S. 51.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
133
tät ihres politischen Einflusses verändern sich jedoch wie die Struktur des Staates, i n dem sie ihre Mission erfüllt. Die römische Kirche, die eigentliche Erbin des römischen Rechts, hat aus ihrem Anspruch und ihren Interessen gegenüber dem Staat eine große und berühmte Rechtsfigur entwickelt: die Lehre von der i n d i r e k t e n G e w a l t . Wort und Begriff der potestas indirecta lassen sich schon für das zweite Dezennium des 13. Jahrhunderts als durchaus geläufig nachweisen 27 , aber erst Kardinal Robert Bellarmin S. J. hat um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert der Lehre von der indirekten Gewalt ihre säkulare, theologische und juristische Gestalt gegeben 28 . I n den Enzykliken Leos XIII. t r i t t der Terminus zwar zurück, aber das Prinzip ist nichtsdestoweniger deutlich gewahrt. Es ist ein integrierender Bestandteil der katholischen Auffassung vom Verhältnis der Kirche zum Staat 2 9 . Es ist aber auch i n protestantischen Äußerungen, wie sich zeigen wird, implicite vorausgesetzt, ohne daß man jemals die umstrittene Lehre ausdrücklich akzeptiert hätte. Es ist zum Verständnis dieses bedeutenden Begriffes wichtig, daran zu erinnern, daß Bellarmin i h n gegen die hierokratische Theorie aufrichtete, gegen das Postulat einer i m göttlichen Recht begründeten weltlichen Universalgewalt des Papstes innerhalb der abendländischen Christenheit. Der Kampf gegen diese überspannten Forderungen der Kurialisten w a r der konkrete Anlaß seines Systems, und die Auseinandersetzimg m i t diesem Gegner hat seine Lehre von der indirekten Gewalt geprägt. Sie wurde also nicht zur Begründung oder Rechtfertigung weltlicher Herrschaftsansprüche der Päpste entwickelt, sondern i m Gegenteil u m solche abzuwehren und i n die Schranken zu 27 Franz Gillmann, Von wem stammen die Ausdrücke „potestas directa" und „potestas indirecta" papae in temporalia?, in Archiv für katholisches Kirchenrecht, 98, 1918, S. 407 ff. 28 Dazu vgl. Franz Xaver Arnold, Die Staatslehre des Kardinals Bellarmin, Ein Beitrag zur Rechts- und Staatsphilosophie des konfessionellen Zeitalters, München 1934, S. 324 ff.; Ernst Timpe, Die kirchenpolitischen Ansichten und Bestrebungen des Kardinals Bellarmin. 3. Bd. der Kirchengeschichtlichen Abhandlungen, hrsg. von Max Sdralek, Breslau 1905. 29 Pius IX. hat unter Nr. 24 des Syllabus von 1864 (bei Petrus Card. Gasparri, Codicis Juris Canonici Fontes, Bd. I I , S. 1003) den Satz verworfen: „Ecclesia vis inferendae potestatem non habet neque potestatem ullam temporalem dlrectam vel indirectam." I m Sinne der traditionellen kirchlichen Auffassimg ebenfalls der Kardinalstaatssekretär R. Merry del Val in einem Schreiben an den Erzbischof von Lyon vom 14. 10. 1913 (Acta Apostolicae Sedis, V, 1913, S. 558 ff., Archiv für kathol. Kirchenrecht, 94, 1914, S. 227 ff.; Ottaviani, a.a.O., 1947, S. 153 ff.
134
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
weisen. Das h a t Bellarmin
d i e k u r z f r i s t i g e I n d i z i e r u n g seiner S c h r i f t e n
eingetragen30. Seit Bellarmin
s t e h t fest, daß die i n d i r e k t e G e w a l t i h r e r N a t u r nach
eine g e i s t l i c h e
G e w a l t ist: „ P a p a n o n h a b e t i n p r i n c i p e s a u c t o r i -
t a t e m n i s i s p i r i t u a l e m " 3 1 . Sie ist e i n A t t r i b u t des k i r c h l i c h e n H i r t e n amtes. Nach der L e h r e der K i r c h e ist die absolute B e d i n g u n g rechtmäßigen
ihrer
A u s ü b u n g , daß das Seelenheil d e r G l ä u b i g e n sie
er-
f o r d e r t 3 2 . D i e K i r c h e schreibt sich k e i n e G e w a l t , w e d e r eine m i t t e l b a r e noch eine u n m i t t e l b a r e , i n r e i n w e l t l i c h e n , p r i v a t e n oder p o l i t i s c h e n A n g e l e g e n h e i t e n zu, die k e i n e n B e z u g z u r salus
animarum
haben.
A b e r i n o r d i n e ad s p i r i t u a l i a f o r d e r t sie e i n Dispositionsrecht i m staatlichen Bereich 33. Es äußert sich i n erster L i n i e i n d e r I n a n s p r u c h n a h m e H i l f e u n d s t a a t l i c h e n Schutzes: des b r a c c h i u m
staatlicher
saeculare.
Nach
k a t h o l i s c h e r L e h r e 3 4 schuldet d e r Staat d e r K i r c h e w i e d i e B e r e i t s t e l l u n g d e r n o t w e n d i g e n z e i t l i c h e n G ü t e r so auch gegebenenfalls d e n Einsatz seiner
Zwangsgewalt
(vis m a t e r i a l i s ,
v i s armata), u m
Frieden
und
F r e i h e i t des Gottesdienstes u n d der V e r k ü n d i g u n g i h r e r L e h r e z u gew ä h r l e i s t e n 3 5 . Ottaviani
r ä u m t ein, daß selbst das i n n e r e L e b e n der
30 Unter Sixtus V. (1585—1590). Urban VII. hob 1590 das Verbot wieder auf; vgl. Arnold, a.a.O., S. 12, und Joseph H er g enr öther, Katholische Kirche und christlicher Staat in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in Beziehung auf die Fragen der Gegenwart, Historisch theologische Essays, Freiburg 1872, S. 423. 31 Roberti Bellarmini S. J. Commentarli in Summam S. Thomae, 4 Bde., Lovanii 1570—1576, aus der im Archiv des Generalrats der Gesellschaft Jesu in Rom befindlichen Handschrift zitiert von Arnold, a.a.O., S. 343, Anm. 58. 32 Ottaviani, a.a.O., S. 175 f. mit Nachweisen. 33 Statt hier aus diesen Prinpizien i m Wege logischer Deduktion die Grenzen des kirchlichen Eingriffs für den konkreten Fall zu fixieren, sei auf die in den folgenden Kapiteln beigebrachten Beispiele verwiesen, in denen das tatsächliche Wirkungsfeld der Kirchen und ihrer Organisationen i m politischen Raum deutlicher und zuverlässiger in Erscheinung tritt, als es eine theoretische Spekulation jemals auf weisen könnte. Die Problematik einer solchen Grenzziehung rührt aber vor allem daher, daß die Kirchen für sich in Anspruch nehmen, das g e s a m t e private und öffentliche Leben mit dem Sauerteig des christlichen Geistes zu durchdringen; vgl. dazu Hans Peters, in dem vor der Staatsrechtslehrervereinigung 1952 gehaltenen Referat „Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts", namentlich die Leitsätze Ziff. I I ; ferner Joseph H. Kaiser, Die Politische Klausel der Konkordate, Berlin-München 1949, S. 121 ff., bes. Anmerkung 86. 34 Wir folgen hier dem Werk von Ottaviani, das als offiziös anzusprechen ist (a.a.O., S. 159 ff.); dort weitere Schrifttumsangaben. 35 Das deutsche Recht trägt dem in folgender Weise Rechnung: § 166 StGB: Bestrafung der Gotteslästerung, der öffentlichen Beschimpfung einer christlichen Kirche oder einer anderen mit Korporationsrechten in Deutschland bestehenden Religionsgesellschaft, ihrer Einrichtungen oder Ge-
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen Kirche dadurch i n Mitleidenschaft
gezogen w e r d e n k ö n n t e , w e n n es
gelte, B e e i n t r ä c h t i g u n g e n des i n t e r n e n F r i e d e n s , der i n t e r n e n D i s z i p l i n u n d S i c h e r h e i t s o w i e d e r rechten u n d a u f t r a g s g e m ä ß e n
Unterweisung
(recta et o r d i n a t a d i r e c t i o ) d e r G l ä u b i g e n z u u n t e r b i n d e n 3 6 . E r
be-
g r ü n d e t das Recht d e r K i r c h e a u f das b r a c c h i u m saeculare m i t d e m Syllogismus: Gott habe die K i r c h e zweifellos m i t allen
notwendigen
M i t t e l n a u s s t a t t e n w o l l e n ; d a G o t t i h r n i c h t u n m i t t e l b a r eine Z w a n g s g e w a l t gegeben habe, o b w o h l sie d e r e n m i t u n t e r b e d ü r f e , h a b e e r i h r wenigstens
das Recht a u f
die H i l f e des b r a c c h i u m saeculare
t r a g e n m ü s s e n 3 7 . A b e r Ottaviani
über-
unterstreicht mehrfach eine theolo-
gisch w i c h t i g e u n d auch p r a k t i s c h z e i t w e i l i g b e d e u t s a m e E i n s c h r ä n k u n g dieses k i r c h l i c h e n A n s p r u c h s , die auch schon Bellarmin
hervorgehoben
h a t t e : D i e L e h r e v o n d e r i n d i r e k t e n G e w a l t , h e i ß t es, setze d e n c h r i s t l i c h e n S t a a t voraus, u n d das heiße i n p r a x i : d e n k a t h o l i s c h e n S t a a t 3 8 . Diese u n g e w ö h n l i c h e , l i t e r a r i s c h e Selbstbescheidung ist aber n u r eine bräuche; Bestrafimg beschimpfenden Unfugs in einer Kirche oder an einem anderen zu religiösen Versamlmlungen bestimmten Ort; § 167: Bestrafung der Behinderung des Gottesdienstes durch eine Tätlichkeit oder Drohung, der Behinderung oder Störung des Gottesdienstes oder einzelner gottesdienstlicher Handlungen in einer Kirche usw. durch L ä r m oder Unordnung; § 168 StGB: Bestrafung der Störung des Gräberfriedens; die Strafe ist in allen Fällen Gefängnis. Vgl. auch §§ 304, 367 Nr. 1 StGB. § 366 Nr. 1 StGB: Schutz der Sonntagsruhe; § 243 Nr. 1: Kirchendiebstahl ist ein Fall des schweren Diebstahls; § 304: Bestrafung der Sachbeschädigung an res sacrae und res religiosae; § 306 Nr. 1: Besonderer Schutz der Kirchengebäude gegen Brandstiftung. P o l i z e i l i c h e r Schutz: Kirchen und Religionsgesellschaften, ihre Organe und Mitglieder, ihre Einrichtungen und Veranstaltungen, ihr Eigentum und ihr Vermögen sind gegen drohende oder eingetretene Gefährdungen und Verletzungen ebenso geschützt wie jede andere Person oder Personenvereinigung. Vgl. im übrigen Art. 138 Abs. 2, und 139 WRV, die durch Art. 140 G G zum Bestandteil des Grundgesetzes geworden sind; ferner Art. 1, 5, 8, 9, 10, 13, 17, 31 und 33 Abs. 1 des Reichskonkordats. V o l l s t r e c k u n g s h i l f e : vor allem bei Erhebung und Verwaltung der Kirchensteuern durch die Finanzämter. 86 Das schließt auch die gegebenenfalls notwendige Beteiligung des Staates beim Vollzug von Kirchenstrafen ein, natürlich nur im Bereich des forum externum, ζ. Β. bei der Behinderung eines amtsenthobenen Geistlichen an der Ausübung von Amtshandlungen. 87 a.a.O., S. 162 mit Hinweisen auf Augustin und Thomas in Anm. 23. 88 „Supponitur . . . Status constans homìnibus christianis; infidelium enim ad ecclesiam nulla est subordinatio. Imo Statum catholicum dumtaxat considerabimus, i. e. constantem catholicis, quia 'etsi in haereticos Ecclesia habeat eadem iura ac in suos, tarnen respectu Status heterodoxi nulla est via qua ius possit in usum et praxim deduci, ut constat4 (Billot , De habitudine Ecclesiae ad civilem societatem, Romae, 1922, p. 83)", bei Ottaviani , a.a.O., S. 153; vgl. auch a.a.O., S. 161, 169, 177. Zu Bellarmin vgl. Jakob Gemmel S.J., Die Lehre des Kardinals Bellarmin über Kirche und Staat, Scholastik, Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, Freiburg, V, 1930, S. 374 ff.
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4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
Erinnerung an die vergangene Situation des impermeablen und laizistischen Staates und darum ein Anachronismus. Die Demokratien sind so „porös", daß sie sich sogar Fünften Kolonnen gegenüber als anfällig erwiesen haben. Sie könnten sich viel weniger den sublimen politischen Einwirkungen der römischen oder einer anderen Kirche entziehen, selbst wenn sie es wollten. Begriff und Methode der indirekten Gewalt sind darum heute von höherer Aktualität als zu irgendeiner anderen Zeit, seitdem Bellarmin
diesem Phänomen seine
unvergängliche juristische Form gab. Die Lehre vom bracchium saeculare gehört zum eisernen Bestand der Lehre von der indirekten Gewalt. Außerdem tradiert die katholische Lehre unter Titeln wie „De principum correctione" und „De regum depositione" Methoden und Formen, i n denen sich die indirekte Gewalt vorzüglich i m Mittelalter äußerte. Von größerer Aktualität sind Maßnahmen gegen staatliche Gesetze. Unter der genannten Voraussetzung der Gefährdimg des Seelenheils 39 können Gesetze für n u l l und nichtig erklärt oder die zuständigen Staatsorgane aufgefordert werden, Gesetze abzuändern oder außer K r a f t zu. setzen; der Papst kann die verantwortlichen Politiker beraten, ermahnen und m i t Kirchenstrafen belegen. Als die Geschicke der Staatswesen noch i n den Händen von K ö n i g e n lagen, war der Bannstrahl gegen sie ein gefürchtetes Mittel der indirekten Gewalt. Berühmt sind die Absetzung Heinrichs IV. durch Gregor VII., Friedrichs II. durch Innozenz IV., Elisabeth I. von England durch Pius V. und die Entbindung ihrer Untertanen vom Treueid. Solange G e s e t z e die Staaten regierten, erwies sich ihre Anullierung als ein ebenfalls geeignetes M i t t e l der indirekten Gewalt. Pius X. verurteilte am 11. Februar 1906 40 das französische Trennungsgesetz v o m 9. Dezember 1905 und am 6. Januar 1907 41 das Gesetz vom 2. Januar 1907. Die Kirche stellte sich damit hors de la loi, i n dem rationalistischen Gesetzesstaat Frankreichs ein unerhörtes und unerträgliches Phänomen, das die Staatsgewalt zwang, die von der Kirche 59
Sie ist imimer dann gegeben, wenn ein Staatsgesetz eine der beiden Arten des ius divinum, Naturrecht oder geoffenbartes göttliches Recht, verletzt. 40 I n der Enzyklika „Vehementer Nos", abgedruckt bei Zaccaria Giacometti, Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche, Tübingen 1926, S. 294 ff. 41 Bei Giacometti, a.a.O., S. 329 ff. Vgl. auch die Enzyklika „Gravissimo officii" vom 10. August 1906, in der die gesetzlich befohlenen Kultvereine verurteilt wurden; a.a.O., S. 314 ff.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
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bezogene illegale Position durch weitere Gesetze nachträglich zu legalisieren 4 2 . Wenn es nicht schon offenbar wäre, so könnte man aus der Zielrichtung der jüngsten päpstlichen und bischöflichen Interventionen schließen, wo sich gegenwärtig die staatliche Macht konzentriert: i n den P a r t e i e n . Die indirekte Gewalt der römischen Kirche richtet sich n u n nicht mehr gegen die Gesetze, die die Parteien i m Parlament beschließen, und äußert sich vor allem nicht i n einer depositio principimi, wie sie jüngst das Bundesverfassungsgericht an den Abgeordneten der Sozialistischen Reichspartei vollzog 4 3 , sondern setzt dort an, wo sich die Macht der Parteien formiert, in den Wahlen und Wahlkämpfen. Der Papst hat nach dem zweiten Weltkrieg mehrfach nachdrücklich i n italienische Wahlkämpfe eingegriffen; die von den Kanzeln verlesenen Wahlaufrufe der deutschen Bischöfe gehören zum gewohnten B i l d unserer Wahlkämpfe, und Ottaviani hat diese jüngste Form politischer Einflußnahme der Kirche schon seinem System der indirekten Gewalt eingefügt 4 4 . Es handelt sich hier jedoch um Medien kirchlicher Intervention, die gegenüber den bisherigen Äußerungsformen der indirekten Gewalt etwas grundsätzlich Neues darstellen. Die Lehre vom bracchium saeculare, die Absetzung von Königen, die Kraftloserklärung von Gesetzen und die übrigen Reaktionen der Kirche gegen den Staat zielen sämtlich auf die S t a a t s s p i t z e , dorthin, w o jeweils die staatliche Souveränität tatsächlich residiert. Die jüngeren Bemühungen der K u r i e und des Episkopates richten sich dagegen an den zwar proklamierten, aber von Parlament und Verfassungsjustiz bereits weitgehend mediatisierten Souverän: das V o l k . Die Säkularisationen haben das alte bracchium saeculare gelähmt, die Demokratisierung der Staatsgewalt hat es verkürzt. Neben i h m ist aber 41 „C n'esit pas l'Eglise qui risque de perdre à la séparation, c'est plutôt l'Etat", Maurice Hauriou , Principes de droit public, Paris (Sirey) 1925, wo trotz der ausgedehnten Trennungsliteratur dieser erstaunliche, schon ans Groteske grenzende Vorgang die klarste und sachlichste Darstellung gefunden hat. 43 Urteil vom 23. Oktober 1952 betr. Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Sozialistischen Reichspartei, Ziff. I, 4: „Die Bundestags- und Landtags- (Bürgerschafts-) Mandate der Abgeordneten, die auf Grund von Wahlvorschlägen der Sozialistischen Reichspartei gewählt sind oder zur Zeit der Urteilsverkündung der Sozialistischen Reichspartei angehören, fallen ersatz^· los fort. Die gesetzliche Mitgliederzahl der betroffenen Parlamente vermindert sich um die Zahl der fortgefallenen Mandate; die Gültigkeit parlamentarischer Beschlüsse wird hierdurch nicht berührt" (BVerfGE 2, 2). 44 a.a.O., S. 169.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
inzwischen zielbewußt ein n e u e s , ganz andersartiges b r a c c h i u m s a e c u l a r e kreiert worden, das sich den veränderten demokratischen Gegebenheiten weit besser anpassen kann, ein Instrument von nie erreichter Zuverlässigkeit: die K a t h o l i s c h e A k t i o n . Sie ist eine kirchliche Organisation par excellence, aber sie ist trotzdem ein bracchium saeculare, denn sie ist berufen, i m säkularen, politischen Bereich zu wirken, Entscheidungen herbeizuführen und Aufgaben zu erfüllen 4 5 , vor denen heute jenes alte bracchium und die übrigen traditionellen Aushilfen meistens versagen. Die Abwehr des Laizismus mag dazu beigetragen haben, daß das Papsttum seine fast ein Jahrhundert lang beobachtete Reserve gegenüber der Laienbewegung aufgab, die erst von Pius XL organisiert wurde, deren Spuren aber bis in" den deutschen Vormärz und die belgischen Lande vor ihrer Trennung von den Niederlanden (1830), bis auf Joseph Görres und den von Rom verurteilten Franzosen Félicité de Lamennais zurückgehen. Aber wo immer der Laizismus ganz oder bis auf unbedeutende Reste verschwand, ist die Katholische A k t i o n damit nicht überflüssig geworden. Die Grundlage ihres Daseins und ihrer Brauchbarkeit liegt vielmehr i n den Gegebenheiten des demokratischen Staates, m i t dem sich die Laienbewegung schon i n ihren Anfängen berührte und i n dem die Kirche mittels der staatsbürgerlichen Rechte 46 ihrer Gläubigen und deren politischen Funktionen und Ämter häufig besser und wirksamer — natürlich indirekt — Einfluß nehmen kann als über die Staatsspitze. Die Katholische Aktion, qua „actio socialis" i n der Sprache Ottavia nis 4 7 , ist darum ihrem Wesen nach nicht dem Laizismus, sondern der Demokratie zugeordnet. 45 A n erster Stelle verpflichtet die actio catholica ihre Mitglieder zur Heiligung des Privatlebens; „ac deinde in publicam etiam magnopere influât, eiusmodi comparando viros qui vel aliquando administrationem civitatis participent, vel iniquis legibus obsistant, vel graviora in re publica munera adipiscantur"; Ottaviani, a.a.O., S. 416, in dessen System die Katholische Aktion, weit entfernt von den Ausführungen über die indirekte Gewalt in dem Schlußkapitel „Laicismi socialis conatus et Ecclesiae defensio" abgehandelt wird. 46 Sie beruhen auf dem sich fortwährend erweiternden Komplex der politischen und sozialen Grundrechte, u. a. der Gewissens- und Kultusfreiheit, dem Versammlungs-, Vereins- und parlamentarischen Wahlrecht. Georg Jellinek hat die Herkunft der Staatsbürgerrechte aus dem Recht der Religionsfreiheit nachgewiesen (Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Leipzig 1904, S. 35 ff.). 47 Für die theologisch-juridische Grundlegung vgl. Ottaviani, a.a.O., S. 420 ff. Vgl. ferner das Rundschreiben Pius XI. „Ubi arcano" vom 23. 12. 1922, Acta Apostolicae Sedis 14, 1922, S. 673 ff., wo das Programm der
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
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Ihre innere Verfassung ruht auf der vielzitierten Definition: Katholische A k t i o n ist Teilhabe der Laien am hierarchischen Apostolat der Kirche zur Unterstützung u n d in Unterordnung unter die Hierarchie. Es ist keine bestimmte äußere Organisationsform allgemeinverbindlich vorgeschrieben, aber überall schließt sich i h r Aufbau, der hierarchischen Gliederung der Kirche entsprechend, eng an Pfarrei, Dekanat und Diözese an. A n der Spitze der auf jeder Stufe eingerichteten Ausschüsse oder Vorstände steht ein vom Bischof ernannter Laie als Präsident, dem ein Priester als geistlicher Beirat zur Seite steht 4 8 . I m übrigen ist ein Wandel i n ihrer Struktur unverkennbar. Während sie früher eine Laienbewegung neben anderen war, entwickelt sie sich immer stärker zu einer komplexen, alle übrigen Vereinigungen durchdringenden Organisation, die, als „actio socialis", überall politische Kräfte mobilisiert und aus ihnen eine mächtige und aktive acies bene ordinata der ecclesia militans formiert. Dabei ist es unwesentlich, ob man i m Einzelfall den Namen „Katholische A k t i o n " verwendet oder, vielleicht aus politischen Gründen, darauf verzichtet und statt dessen „Katholikenausschuß" oder „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Verbände" sagt. Immer handelt es sich um die Katholische Aktion, „ i n der die zur Tat drängenden Katholiken zusammenkommen und sich organisieren" 4 9 ; da sie aus den verschiedenen katholischen Standesorganisationen kommen, gewinnt auch die A k t i o n teilweise ein s t ä n d i s c h e s G e p r ä g e , das i n Frankreich noch durch den bekannten „Milieueinsatz" unterstrichen wird. Das Verhältnis des i n der kirchlichen Lehre streng polar gedachten Nebeneinander von Kirche und Staat erfährt durch diese Hilfs- und Stützpunktorganisationen eine leichte Abwandlung m i t der Tendenz zur ständischen E i n o r d n u n g in den Staat und E i n f l u ß n a h m e auf den staatlichen Machtapparat 5 0 . Katholischen Aktion ausgeführt ist; ferner Paul Dahin, L'action catholique, Essai de synthèse, Nouv. éd., Paris (Blond & Gay) 1932. 48 Statut der Erzdiözese München-Freising für die Katholische Aktion vom Jahre 1949, Beilage zu Nr. 4 des Amtsblattes der Erzdiözese, abgedr. i m Archiv f. Kath. Kirchenrecht, 124, 1949/50, S. 170 ff. 49 Pius XII. in einer Ansprache an die Generalversammlung der italienischen Katholischen Aktion am 3. 4. 1951; Acta Apostolicae Sedis 43, 1951, S. 375; Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, 91, 1951 (vom 1. 7. 1951) S. 342. 80 Vgl. dazu auch Werner Weber in seinem Referat über die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts vor der Staatsrechtslehrervereinigung 1952. Diese ständische Einordnung in den Staat ist ein Komplementärvorgang zu einer in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Bewegung: der Befreiung der Kirchen aus dem Rahmen und den Schranken der i m Sinne der libe-
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
A n Stelle einer schematischen Aufzählung möge ein konkreter Fall Gliederung und Umfang der Katholischen A k t i o n i n Deutschland veranschaulichen. Die Wahlen zu den politischen Gremien werden immer wieder zu einer A r t Heerschau dieses Elite Verbandes. Aus Anlaß der Gemeindewahlen i n Nordrhein-Westfalen wandte er sich m i t einem Wahlaufruf an die katholischen Wähler und Wählerinnen, der von folgenden Organisationen unterzeichnet war: Die Vorstände der (Diözesan-) Katholikenausschüsse von Köln, Paderborn und Aachen, Arbeitsgemeinschaft Katholischer Verbände und Organisationen i m Bistum Münster, Katholischer Akademikerverband, Katholische Deutsche Akademikerschaft, Katholische Arbeiterbewegung Westdeutschlands, Katholischer Deutscher Frauenbund, Diözesanverbände Katholischer Frauen- und Müttervereine Nordrhein-Westfalen, Berufsverband Katholischer Fürsorgerinnen, Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Verband Katholischer Kaufmännischer Vereine Deutschlands e. V., Deutsche Kolpingsfamilie, Verband der Katholischen Lehrerschaft Deutschlands, Verein Katholischer Lehrerinnen, St. Lydia Verband katholischer kaufmännisch-berufstätiger Frauen, Arbeitsgemeinschaft Katholischer Männerwerke Deutschlands, Sitz Köln, Zentralverband der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften, Katholische Deutsche Studenten-Einigung, Bund Katholischer Unternehmer. ralen Staatsidee konstruierten Körperschaft des öffentlichen Rechts. Diese Konzeption ließ außerhalb des staatlichen Bereichs keine öffentliche Autorität gelten und behandelte die Rechtsstellung der Kirchen als staatliche Privilegierung, mit der ein gewisses Maß von Staatsaufsicht notwendig einherging (gegen diese herrschende Lehre schon Godehard Joseph Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, München 1930, S. 311). Rudolf Smend („Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz", in der Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht, I, 1951, S. 4 ff. und „Deutsches evangelisches Kirchenrecht und Ökumene" in der Festgabe für Otto Dibelius „Verantwortung und Zuversicht", 1950, S. 185) und Arnold Röttgen („Kirdie i m Spiegel deutscher Staatsverfassung der Nachkriegszeit", in DVB1., 67, 1952, S. 485 ff.) haben jene Lösung der Kirchen aus dem öffentlich-rechtlichen Körperschaftsbegriff und die damit angedeutete Verschiebung des Verhältnisses von Staat und Kirche mit aller Deutlichkeit dargestellt. Sie hatte in der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern eine besonders prägnante Formulierung gefunden: in Art. 120 waren die Kirchen „als Träger des sittlichen Lebens des Volkes n e b e n dem Staate" anerkannt. Die Gegenbewegung, die man sowohl als ständische Einordnung in den Staat wie als Okkupation des Staates durch soziale Machtgruppen bezeichnen darf, vollzieht sich auf einer völlig anderen Ebene, auf der noch alles in Fluß und noch keine institutionelle Verfestigung erkennbar ist. Die Kirchen erweisen sich hier als Teil der nicht-staatlichen Gesellschaft, die seit dem Zusammenbruch auf weite, ehemals durch den totalen Staat in Anspruch genommenen Gebiete zurückflutet und, nach den Gesetzen des politischen Gezeitenwechsels, den Staat zurückdrängt.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
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Das ist i n der Tat eine wohlgegliederte und gefügte Front der ecclesia militans, wie sie sich uns i m Augenblick einer konkreten politischen A k t i o n präsentiert. P o t e s t à s i n d i r e c t a — das ist der Anspruch und die Tatsache der mittelbaren Machtausübung auf dem politischen Gebiet, ausgehend von einer Macht, die prinzipiell einem anderen Bereich zugehört und deshalb i n der Regel nicht unmittelbar und nicht ohne weiteres i m politischen Raum tätig werden kann; die deshalb an Persönlichkeiten und Gruppen appelliert, die eigene politische Rechte und Funktionen ausüben, zu jener [Macht aber i n einer besonderen Gewissens-, Interessen- oder sonstigen Bindimg stehen: i n Frage kommen sowohl Organisationen wie Individuen, Regierungsmitglieder, Parteiführer, Parlamentarier, und der einzelne, wahlberechtigte oder demonstrationsfähige Staatsbürger. Es ist die unvergängliche Leistung Bellarmins, aus Theorie und Praxis der mittelbaren Machtausübimg eine juristische Kategorie von hohem Rang und elementarer Bedeutung geschaffen zu haben. Damit ist schon ausgedrückt, daß diese A r t Machtausübung nicht auf die katholische Kirche beschränkt ist; wie auch jene Umschreibimg bereits andeuten w i l l , können andere, i m Ursprung nichtpolitische Mächte ebenfalls Formen politischer A k t i v i t ä t entwickeln, die sich mit dem Begriff der indirekten Gewalt juristisch am besten erfassen lassen 51 . Es gibt i n den p r o t e s t a n t i s c h e n Kirchen und i n den übrigen nicht-katholischen Religionsgemeinschaften keine eindeutigen Analogien zur Katholischen A k t i o n 5 1 a , w e i l sie sich nicht m i t solcher De51 Das schließt freilich niemals aus, daß diese Mächte gleichzeitig auch d i r e k t e r politischer Aktionen und Funktionen fähig sind. Auf den ersten Seiten dieses Kapitels ist das am Beispiel der beiden Kirchen schon eingehend dargestellt worden. 51a Das protestantische Pendant zu dem älteren Typ des katholischen brachium saeculare, das auf die Staatsspitze gerichtet war, ist von Paul Schempp ins Licht gerückt worden. Dabei ist bemerkenswert, daß auch aus seinen Ausführungen die i m demokratischen Staat eingetretene Wandlung deutlich sichtbar wird: Die evangelische Kirche „weiß heute, daß sie nicht mehr wie früher durch ihre Beamten, die zugleich Staatsbeamte waren, durch Hofprediger, Prälaten, erste Kammer und Konsistorium stellvertretend für ihre Gemeinden Politik machen k a n n . . Was bleibt da übrig, um sowohl politisch aktiv als politisch neutral zu sein? . . . nach außen die Gründung einer christlichen Partei, für die die Kirche k e i n e offizielle V e r a n t w o r t u n g hat und die dennoch die Belange der Kirche vertritt und das Programm der Kirche als Partei in die politische Arena übernimmt." Schempp nennt als älteres Beispiel den um die Mitte der zwanziger Jahre gegründeten christlichen Volksdienst, „ein Notprodukt der kirchlichen Hilflosigkeit gegenüber ihrer eigenen politischen Verantwortung in besonderer Notzeit des Parlamentarismus", der Anlaß gab zu dem „durch den Vergleich
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
z i d i e r t h e i t a n das i n d i v i d u e l l e G e w i s s e n w e n d e n w i e die k a t h o l i s c h e H i e r a r c h i e . A b e r i h r e i n d i r e k t e G e w a l t i n d e m soeben u m s c h r i e b e n e n S i n n ist t r o t z d e m n i c h t z w e i f e l h a f t . Sie v e r p f l i c h t e n P f a r r e r u n d Gemeindemitglieder Bischof Dibelius
n i c h t z u e i n e r b e s t i m m t e n H a l t u n g , aber, so sagt v o m Rat der Evangelischen K i r c h e i n
Deutschland,
er spreche v o n Z e i t z u Z e i t e i n W o r t , m i t d e m e r bezeugen möchte, w o r i n sich die v e r a n t w o r t l i c h e n
Männer der Kirche vor Gott
einig
w i s s e n 5 2 . D i e besonnene Z u r ü c k h a l t u n g dieser Ä u ß e r u n g w a r ö l die u m d e n hessischen K i r c h e n p r ä s i d e n t e n
Martin
Niemöller
auf
hoch-
gehenden W o g e n d e r D i s k u s s i o n , nachdem, seine p o l i t i s c h e n S t e l l u n g n a h m e n die Ö f f e n t l i c h k e i t s t a r k b e u n r u h i g t h a t t e n . W e n i g e r r e s e r v i e r t sprachen sich d e r ö k u m e n i s c h e R a t d e r K i r c h e n u n d d e r I n t e r n a t i o n a l e M i s s i o n s r a t aus; als sie a u f i h r e r K o n f e r e n z v o m 4. bis 7. A u g u s t 1946 die K o m m i s s i o n der K i r c h e n f ü r I n t e r n a t i o n a l e A n g e l e g e n h e i t e n ins L e b e n riefen, s t e l l t e n sie diesem n e u e n O r g a n u. a. d i e A u f g a b e , „ d i e christlichen
Prinzipien
festzustellen
und
auf
die
Beziehungen
der
V ö l k e r u n t e r e i n a n d e r a n z u w e n d e n u n d d a f ü r z u sorgen, daß sie u n mittelbar
zur Geltung kommen"53.
k l ä r u n g h e i ß t es a u ß e r d e m :
zur
I n e i n e r d a z u beschlossenen
Neugestaltung
des p o l i t i s c h e n
Erund
w i r t s c h a f t l i c h e n L e b e n s u n d des V ö l k e r r e c h t s „ h a t die K i r c h e e i n W o r t mit dem Zentrum naheliegenden Verdacht, es stecke dahinter eine katholische Deutung des Christentums" (Die Stellung der Kirche zu den politischen Parteien und das Problem einer christlichen Partei, Stuttgart 1946, S. 21. f.; Sperrung durch mich.) Der führende Theologe Adolf Schlatter hat die Lage mit besonder Deutlichkeit gezeichnet. I n der ersten Auflage seines bedeutenden Werkes „Die christliche Ethik" (Calw und Stuttgart 1914) betont er im 14. Kapitel „Die Christenheit als politische Partei" schon in der Uberschrift des ersten Abschnitts „die Notwendigkeit der christlichen Partei". „Nur dann wird eine Kirche nicht auch eine politische Partei, wenn sie in sich selbst uneinig und darum zur Arbeit unfähig ist" (S. 140). Es ist bezeichnend, daß dieses 14. Kapitel in der dritten Auflage (Stuttgart 1929) die Überschrift trägt: „Die Christenheit als politischer Verband" und statt von der Notwendigkeit einer christlichen Partei von der „Notwendigkeit der christlichen Politik" gesprochen wird (S. 168). Die politische Qualität dieses „Verbandes" wird in Sätzen, die sich in der ersten Auflage noch nicht finden, ganz im. Sinne unseres Themas charakterisiert: „Die Sichtbarkeit und Macht, die die Berufung zur Regierung der Kirche ihren Beamten verleiht, gibt ihnen auch politisches Gewicht. I h r Verhalten kann nicht ohne Einfluß auf die Entschlüsse bleiben, von denen das Schicksal aller abhängig ist." Neben den kirchlichen Beamten hätten indessen auch die übrigen Glieder der Kirche ihre Kraft und Erkenntnis für den Staat fruchtbar zu machen (S. 175). 52 I n einem Artikel „Die Meinung der Kirche" in der in Berlin erscheinenden Zeitschrift „Die Kirche", Oktober 1950, zit. im Europa-Archiv, V, 1950, S. 3586. 58 Verordnungs- und Nachrichtenblatt, Amtliches Organ der Evangelischen Kirche in Deutschland, I, Nr. 29, vom 16. 9. 1946, S. 2.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
143
zu sprechen, das sonst niemand sprechen kann. Sie spricht nicht als Vertreterin einer bestimmten Nation, Klasse oder Gruppe, sondern i m Namen Gottes, der keine Sonderinteressen schützt, sondern aller Richter u n d Erlöser i s t " 5 4 . Wenn auch die Proklamationen der protestantischen Kirchenleitungen ausgesprochen oder unausgesprochen unter dem Vorbehalt der geistlichen Reserve gegenüber der Autorität des individuellen Gewissens ergehen, so nehmen sie doch auch für sich selbst ein mehr oder weniger großes Maß von Autorität i n Anspruch, indem sie für die religiöse und politische Entscheidung der Gläubigen wegleitend sein w o l l e n 5 5 . I n der deutschen evangelischen Kirche festigt und konsolidiert sich diese Autorität. Die Entwicklung einer neuprotestantischen Hierarchie seit 1945 mit dem für sie charakteristischen Gewicht des Bischofsamtes ist dafür ein deutliches Symptom. Eine hierarchisch regierte Kirche ist kraft der aus Organisation und Führung entspringenden Kompetenz i n höherem Grade eine politische Potenz als es eine reine Volkskirche sein könnte. Evangelische Bischöfe, Kirchenpräsidenten und andere Inhaber hoher Ämter bezeugen ihre Berufung zu dieser oder jener politischen Mission. — Für den früheren Protestantismus darf auf das Beispiel des Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen hingewiesen werden, der sich seit seiner Gründung i m Jahre 1887 als Gegenspieler des „politischen Katholizismus" betrachtet hat. Nach seinen Satzungen von 1887, 1925 und 1930 und seinem WartburgProgramm von 1921 war es seine Aufgabe, dem Evangelium, dem Glaubens- und Geisteserbe der Reformation und dem deutschen Volks04
a.a.O., I, Nr. 31, vom 7. 10. 1946, S. 1. Fast alle religiösen Kräfte haben i m Laufe der Geschichte die Form einer Kirche angenommen. „II arrive parfois qu'un pensateur isolé se dresse contre l'église établie et lui oppose la voix et les protestations de la conscience individuelle. Mais il est à peu près de règle qu'autour de ce novateur se groupent des sectateurs, de sorte que le résultat du schisme d'un individu devient la construction d'une ou de plusieurs églises" (André Latreille , Le catholicisme, in Latreille-Siegfried, Les forces-religieuses et la vie politique, Le catholicisme et le protestantisme, Paris [Armand Colin] 1951, S. 29 f.). Vgl. auch die Ausführungen des damaligen Dekans Haug auf einer T a gung der Vertrauensleute der Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft Württembergs am 27. und 28. 11. 1945 in Eßlingen; sie sind in größerem Zusammenhang unten, Teil I I I , 3. Anm. 49, zitiert. 65
Vgl. vor allem auch die zahllosen evangelischen Appelle, Warnungen, Delegationen usw. zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Frage der Wiederbewaffnung; statt anderer Nachweise: Europa-Archiv, V, 1950, S. 3584 ff., 3591 ff.
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
144
t u m die i h n e n gebührende Stellung u n d G e l t u n g zu verschaffen
und
zu erhalten56. L e h r e v o n d e n z w e i Reichen, v o m t r i p l e x o r d o h i e r a r c h i c u s 6 7
Luthers
u n d v o n der O b r i g k e i t 5 8 meinte „trotz aller künstlichen K o n s t r u k t i o n " ein
soziales,
staatskirchliches
Ganzes,
für
das
die
„Deckung
von
K i r c h e n g e b i e t u n d Staatsgebiet, d i e V e r f i l z u n g v o n K i r c h e n g e w a l t u n d Staatsgewalt,
d e r Z u s a m m e n f a l l des K i r c h l i c h e n u n d P o l i t i s c h e n
in
d e m B e g r i f f e i n e r c h r i s t l i c h e n G e s e l l s c h a f t " 5 9 k e n n z e i c h n e n d w a r e n . Es ist b e k a n n t , daß i n dieser sozialen O r d n i m g Staat
das e f f e k t i v e
Schwergewicht
zufiel:
Als
der
Christenheit
custos
dem
utriusque
t a b u l a e w a c h t e er auch ü b e r K u l t u s u n d R e c h t g l ä u b i g k e i t u n d
be-
strafte
das
die
Häresie
60
Versäumnis
des
Sonntagsgottesdienstes
ebenso w i e
. H i e r liegen die W u r z e l n d e r protestantisch-preußischen Be-
amtenethik
und
Berufstreue 61. Später hat die Differenzierung
von
56 Für den Evangelischen Bund vgl. u. a. Fritz von der Heydt, Gute Wehr, Werden, Wirken und Wollen des Evangelischen Bundes, Zu seinem 50jährigen Bestehen, Berlin 1936; Was will der Evangelische Bund, Auf Grund der Kundgebungen, der letzten Jahre, Berlin 1935; Was w i l l der Evangelische Bund, 1. Flugschrift, Brackenheim 1888. Willibald Beischlag, Zur Entstehungsgeschichte des Evangelischen Bundes, Persönliches und Urkundliches, Berlin 1926; Johannes B. Kissling, Der deutsche Protestantismus 1817—1917, Bd. I I , Münster 1918, S. 244. 57 Status ecclesiasticus, politicus und oeconomicus, die als Stände der Kirche oder als Hierarchien bezeichnet werden. 58 Aus dem umfangreichen Schrifttum vgl. statt anderer Georg Wünsch, Evangelische Ethik des Politischen, Tübingen 1936, S. 144ff.; Harald Diera, Luthers Lehre von den zwei Reichen, untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus, Ein Beitrag zum Problem „Gesetz und Evangelium", München 1938; Gustav Törnvall, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, Studien zu Luthers Weltbild und Gesellschaftsverständnis, Übers, von Karl-Heinz B&cker, 1947; Ernst Wolf, Politik Christi, in Evangelische Theologie, 1948/49, Heft 1/3, S. 46 ff. 59 Ernst Troeltsch , Die Soziallehre der christlichen Kirchen und Gruppen, 3. Aufl., Tübingen 1923, S. 521; dazu auch Wünsch, Evangelische Ethik des Politischen, S. 139 f. 80 Troeltsch, a.a.O., S. 521 ff. mit Anm. 237, und namentlich Rudolf Sohm, Kirchenrecht, I. Bd., Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig 1892, S. 549 ff. 61 Von hier aus, so scheint mir, müssen auch die mitunter überraschenden und nicht immer leicht in Einklang zu bringenden Stellungnahmen K a r l Barths zum Verhältnis von Kirche und Staat gedeutet werden; vgl. Christengemeinde und Bürgergemeinde, Stuttgart 1946; Eine Schweizer Stimme 1938/45, und dazu Hermann Diehm, K a r l Barths Kritik a m deutschen Luthertum, in Evangelische Selbstprüfung, Beiträge und Berichte von der gemeinsamen Arbeitstagung der Kirchl.-theol. Sozietät in Württemberg und der Gesellschaft für Evangelische Theologie, Sekt. Süddeutschland, im Kurhaus Bad Boll vom 12. bis 16. Oktober 1946, hersg. von Paul Schempp, Stuttgart 1947, S. 69 ff. Hier hat auch folgender charakteristische Satz des Bischofs Eivind Berggrav aus seinem schon angeführten Vortrag vor der Vollversammlung des Lutnerischen Weltbundes seinen systematischen Ort: „Nicht bloß dulden — innerhalb evangelischer Grenzen —
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
145
Kirche und Staat und eine entsprechende Interpretation von Römer 13 und Luthers Lehre zu einer „loyalen Passivität" 6 2 der Kirche geführt und die Vorstellung von der Eigengesetzlichkeit beider Bereiche genährt 6 3 . Die hiermit angedeutete Problematik ist neben der schon genannten geistlichen Reserve gegenüber dem individuellen Gewissen eine weitere Schwierigkeit, die sich aus der lutherischen Lehre und Tradition einem dezidierten Wirken der Kirche in den politischen Raum entgegenstellt. Aber die Sogkraft der politischen Situation und das Verständnis der protestantischen Kirchen von ihrem Auftrag i n der Öffentlichkeit erweisen sich als stärker. Die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hat die völlige politische Abstinenz, die Beschränkung der Kirche auf die Predigt des Evangeliums ebenso verworfen w i e die „politische Prophetie", die Verkündigung von bestimmten praktischen Lösungen für gegebene politische Probleme. Zwischen beiden Extremen geht sie den Weg des „politischen Dienstes", dessen Grenzen dort gezogen sind, wo die Auslegung der göttlichen Gebote für das öffentliche Leben Raum für verschiedene politische Stellungnahmen läßt 6 4 . I n der Welt des Calvinismus und i m gesamten angelsächsischen Bereich ein unbestrittenes und kaum als problematisch empfundenes F a k t u m 6 5 . (wenn auch gegebenenfalls unter Protest), sondern sogar sich dem fehlgreifenden Staat positiv gegenüberstellen, mithelfen, die Loyalität fördern, ist Pflicht der Kirche. Hierin bestehen die positiven Forderungen an die Christen in Römer 13" (Junge Kirche, Protestantische Monatshefte, X I I I , Heft 15/16 vom 15. 8. 1952, S. 405). Darin wird der tiefe, theologisch begründete U n t e r s c h i e d zur katholischen Staatsauffassung sichtbar, der auch hinter den erstaunlichen Ähnlichkeiten der politischen Praxis und Taktik der beiden Konfessionen immer wieder hervorbricht 62 Martin Dibelius, Protestantismus und Politik, a.a.O., S. 38. 63 Dagegen wendet sich nachdrücklich Helmut Thielicke, Kirche und Öffentlichkeit, Tübingen 1947, S. 65 ff. 04 Berliner Sonntagsblatt, Nr. 14 vom 6. 4. 1952.. — Es ist weder möglich noch nötig, aus den zahlreichen, im einzelnen vielfach nuancierten Äußerungen kirchlicher Gremien und leitender Persönlichkeiten weitere Nachweise anzuführen. Sie sind aus der Presse allgemein bekannt und haben die Auffassung der Öffentlichkeit von dem politischen Auftrag der Kirche geprägt. 65 Vgl. Richard Nürnberger , Die Politisierung des französischen Protestantismus, Calvin und die Anfänge des protestantischen Radikalismus, Tübingen 1948; vor allem S. 32 ff. André Siegfried, Le Protestantisme, in LatreilleSieg fried, a.a.O., S. 174 ff. — „It is a rare church convention . . . whose resolutions committee fails to secure the adoption of at least one declaration on national policy, one statement of opinion that is up for political settlement" (Stanley High, The Church in Politics, 1930, S. 14, angef. bei McKean, Party and Pressure Politics, S. 543). 10 Kaieer, Repraeentation
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
146 Die
wahrnehmbaren
wortungsbewußtseins
Manifestationen
der
dieses
politischen
Verant-
p r o t e s t a n t i s c h e n K i r c h e n z e i g e n nach
Art
u n d Zielrichtung erhebliche Ä h n l i c h k e i t m i t der politischen A k t i v i t ä t d e r k a t h o l i s c h e n K i r c h e u n d i h r e r V e r b ä n d e , w e n n sich b e i d e
Kon-
fessionen auch i m I n h a l t i h r e r F o r d e r u n g e n , w i e e t w a i n d e r S c h u l frage, o f t unterscheiden. B e i d e K i r c h e n a p p e l l i e r e n beispielsweise Wahlaufrufen
in
a n i h r e G l ä u b i g e n , n u r solche K a n d i d a t e n z u w ä h l e n ,
d i e f ü r d i e V e r w i r k l i c h u n g d e r c h r i s t l i c h e n G r u n d s ä t z e e i n t r e t e n . Sie e r k l ä r e n d i e B e t e i l i g u n g a n d e r W a h l z u r Gewissenspflicht jedes E i n zelnen u n d leisten d a m i t
einen wesentlichen Beitrag
zur
Loyalität
des S t a a t s b ü r g e r s i m d e m o k r a t i s c h e n S t a a t 6 6 . D e r G a n g z u r U r n e ist z u e i n e m so e i n d e u t i g e n
Gebot a n den Christen unserer Tage
ge-
w o r d e n , daß beide K i r c h e n g l a u b t e n , i h r e G l ä u b i g e n i n P a s t o r a l b r i e f e n d a v o n d i s p e n s i e r e n z u müssen, als i n e i n e m u n g e w ö h n l i c h e n F a l l d i e B e d i n g u n g e n e i n e r f r e i e n d e m o k r a t i s c h e n W a h l n i c h t gegeben w a r e n : 66 M a n kann darin eine moderne Abwandlung der früheren kirchlichen Erziehung des Bürgers zum Respekt vor dem absoluten oder konstitutionellen Monarchen erblicken. Die Spanne, die die Entwicklung in den letzten hundert Jahren durchlaufen ist, wird deutlich aus einem Vergleich zwischen Friedrich Julius Stahl, Der Protestantismus als politisches Prinzip, Berlin 1853, und Otto Dibelius, Grenzen des Staates, Tübingen 1949. Während Stahl polemisch den guten Einfluß des Protestantismus auf den Untertanengehorsam herausstellt (S. 71 ff.), macht Dibelius die Feststellung: „Es ist nichts Positiv-Metaphysisches am modernen Staat, nichts Heiliges, w i r k lich gar nichts! Der Staat ist ein Apparat, eine Organisation. Er ist i m Leben der Völker das, was i m wirtschaftlichen Leben die Firma ist, nicht mehr, nicht, was sich den großen Gottesordnungen der Familie, dem Volk oder der Kirche vergleichen könnte" (S. 24). Wenn nicht eine Uberordnung der Kirche über den Staat, so ist damit doch entschieden ihr höherer Wert postuliert — was für ihr Handeln i m politischen Raum nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Auch Hanns LH je sagt von der unlängst noch unabänderlich scheinenden Tradition der vorbehaltlosen Loyalität des Luthertums gegenüber dem Staat, sie sei zu Ende; demgemäß betont er die protestantische Verantwortlichkeit auch für den Bereich des Temporale (in dem Artikel „Rebirth of Faith" in dem amerikanischen Magazin „Life" vom 31. M a i 1954, S. 66 ff., das dazu ein Bild des protestantischen Bischofs Lilje bringt, auf dem er i m Hof der ehemaligen katholischen Abtei Loccum mit der Mitra auf dem Haupt und dem Krummstab in der Hand erscheint. Von diesen Insignien Bischof Liljes w i r d ausdrücklich bemerkt, sie seien genaue Nachbildungen der ehemals von den Äbten in Loccum getragenen Zeichen ihrer Würde).
Da sich die Kraft der Kirchen i m politischen Raum nicht zuletzt über den Stimmzettel ihrer Gläubigen realisiert, sind die Erklärungen der Kirchen zu politischen Wahlen echte Erscheinungsformen einer i n d i r e k t e n G e w a l t . Das gilt auch von anderen Veranstaltungen der Kirchen; von dem Evangelischen Kirchentag 1952 sagte dessen Präsident, Reinold von ThaddenTrieglaff: „Nicht unmittelbare politische Wirkungen, aber starke m i t t e l b a r e politische Antriebe sind von dieser Bewegung ausgegangen" (Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 309, vom 9. 11. 1952).
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
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bei der saarländischen Landtagswahl vom 30. November 1952, zu der deutschgesinnte Parteien nicht zugelassen waren 6 7 . Die katholische Kirche und die evangelische Kirche stellen in Deutschland alle übrigen Religionsgesellschaften, auch wenn diese wie die Kirchen Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, i n den Schatten ihrer überragenden politischen Sonderstellung, die durch keine rechtlichen Normierungen erfaßt wird. Es ist nur ein bescheidener Reflex, wenn i n Verfassungen und i n der Gesetzgebung die Kirchen 67 Es handelt sich um ein Schreiben des Bischofs Matthias Wehr von Trier und um eine Kanzelabkündigung der evangelischen Kirchenleitungen i m Rheinland und in der Pfalz. I n dem Brief des Bischofs von Trier vom 19. November 1952 heißt es u. a.: „Die bevorstehenden Wahlen haben zwar in erster Linie den Sinn, eine Vertretung des Volkes zur Ordnung der inneren Angelegenheiten des Landes zu wählen. Ich hatte gehofft, es könnte erreicht werden, daß ihnen einzig und allein diese Bedeutung beigemessen würde. Das entspräche auch heute noch meinem Wunsch; denn nach meiner Meinung ist die außenpolitische Endlösung nur möglich auf Grund einer Volksabstimmung, die mit genau festgelegten Fragen in völliger Freiheit erfolgt. Aber die Lage ist augenblicklich sehr schwierig und verworren. Eine ungewöhnliche Härte wurde hineingetragen. Insbesondere wurde durch die Nichtzulassung anderer Parteien die Auffassung begünstigt, daß durch die kommenden Wahlen einer Loslösung vom deutschen Vaterland Vorschub geleistet werde. Viele fühlen sich deshalb i m Gewissen bedrängt und glauben, bestehenden Parteien ihre Stimme nicht geben zu können. Angesichts dieser Tatsache halte ich mich nach ernster Überlegung — ohne mich auf die politische Ebene zu begeben — zu folgender Weisung und Feststellung verpflichtet: Jeder verhalte sich so, wie er es vor Gott in seinem eigenen Gewissen glaubt verantworten zu können. Wer für eine Partei stimmt, der darf nur solchen Männern und Frauen seine Stimme geben, deren christliche Gesinnung und Haltung für die Beobachtung der Grundsätze und Forderungen bürgen, auf die wir als katholische Christen nicht verzichten können. Wer aber nach verantwortungsbewußter Überlegung zu dem Urteil kommt, daß er in der gegenwärtigen Lage den aufgestellten Vertretern seine Stimme nicht geben dürfe und sich nach dieser Erkenntnis richtet, kann von anderen einer Pflichtverletzung nicht beschuldigt werden. Für ihn besteht, um es klar und einfach zu sagen, in diesem Falle keine Wahlpflicht... (gez.) + Matthias, Bischof von Trier. — Vorstehendes Bischofswort ist in geeigneter Weise den Gläubigen bekanntzugeben." Ich danke dem Bischöflichen Generalvikariat Trier, das mir den Text dieses Bischofswortes freundlichst zur Verfügung stellte. Polizei und Presse des Regimes an der Saar haben den Hirtenbrief unterdrückt. Die französische Diplomatie erhob ernste Vorstellungen beim Heiligen Stuhl. Auf das Ansinnen, den Hirtenbrief zurückzunehmen, bot der Bischof dem Heiligen Stuhl an, sein A m t zur Verfügung zu stellen. Vgl. die zuverlässige Darstellung bei Hans-Joachim Hagmann, Die saarländischen Landtagswahlen vom 30. November 1952, Köln 1953, S. 68 ff. Diese Vorgänge erinnern an den großen Bischof Michael Felix Korum von Trier (gest. 1921), der nach dem Ersten Weltkrieg die Einheit seiner Diözese mit Erfolg gegen französische Spaltungspläne verteidigte, wie sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder hervorgetreten sind (zutreffend Adolf Süsterhenn, Staats- und Diözesangrenzen, Rheinischer Merkur Nr. 51 vom 17. 12. 1954).
10*
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
häufig vor den übrigen Religionsgesellschaften m i t öffentlich-rechtlicher Körperschaftsqualität genannt werden, obgleich auch die K i r chen unter diesen Begriff fallen und i n der Sache zwischen ihnen nicht unterschieden wird. Das ist eine leichte Verbeugung des Gesetzgebers vor ihrer eminenten politischen Prärogative; sie ist mehr als eine Formalität, und beide Kirchen sind auf ihre Einhaltung bedacht 68 . A n dem Beispiel der beiden großen christlichen Konfessionen sollte auf den vorangegangenen Seiten die politische Relevanz religiöser und weltanschaulicher Interessen aufgewiesen werden. Das genügt für den Zweck dieser Studie, die sich angesichts der verwirrenden Fülle vergleichbarer Tatbestände auf die Analyse einiger exemplarischer Phänomene beschränken muß. Natürlich sind es nicht nur die christlichen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die i n diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, sondern auch Organisationen, wie beispielsweise die M o h a m m e d a n i s c h e B r u d e r s c h a f t (AlIchwan al-Muslimun) i n Ägypten, die 1929 gegründet wurde und heute auch i n Syrien, i n Irak, i n Jemen und anderen arabischen Staaten verbreitet ist; die Gesamtzahl der Moslembrüder wurde 1948 auf über eine M i l l i o n geschätzt. Die Bruderschaft ist eine ausgesprochen spirituelle Kraft, die die Maßstäbe für ihre politische Tätigkeit dem Koran entnimmt und der die Schaffimg eines mohammedanisdien „Gottesstaats" vorschwebt. Sie t r i t t als Exponent der muselmanischen Orthodoxie auf u n d genießt unter den Völkern, die ihre Traditionen nur schwer m i t den Erfordernissen des modernen Lebens i n Einklang bringen, eine m i t Furcht gemischte Achtung. I n Ägypten haben A n hänger der Bruderschaft binnen zehn Jahren zwei Ministerpräsidenten (Ahmed Mäher, 1945, und Nokraschi, 1948) und einen Minister (Finanzminister A m i n Osman, 1943) ermordet und andere Mordtaten, Überfälle und Brandstiftungen begangen. Nach dem Anschlag auf Ministerpräsident Gamal Abdel Nasser am 26. Oktober 1954 wurde sie am 4. Dezember 1954 aufgelöst. Trotzdem und obwohl sie ihrer Führer beraubt wurde, darf man annehmen, daß sie nicht aufgehört hat zu 88 Auch in den meisten Verfassungen der deutschen Länder sind die K i r chen mit Vorrang vor den Religionsgesellschaften erwähnt; vgl. Baden (Art. 34), Bayern (Art. 142), Bremen (Art. 59), Hessen (Art. 49), NordrheinWestf. (Art. 19), Rheinland-Pfalz (Art.41). Vgl. dazu auch Johannes Heckel, „Kirchengut und Staatsgewalt", in der Festschrift für Rudolf Smend, S. 109, wo drei Gruppen unterschieden werden: die großen christlichen Kirchen, die sonstigen als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannten Religionsverbände und schließlich die des Privatrechts. Vgl. ferner Köttgen, Kirche i m Spiegel deutscher Staatsverfassung der Nachkriegszeit, a.a.O., S. 486.
4. Religiöse und weltanschauliche Interessen
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bestehen 69 . Außer der Bruderschaft sind hier zu nennen die „ F r e i w i l l i g e n d e s I s l a m " (Mudjahedin-i-Islam) sowie die „ T ο d g e w e i h t e η d e s I s 1 a m " (Fidayan-i-Islam) unter Leitung Ayatulla Kaschanis i n Persien und die fanatische T i d s c h a n i - S e k t e und andere religiöse Gruppen i n der Türkei m i t ihren gegen den laizistischen Staat Kemal Atatürks gerichteten Zielen. Die Verquickung von Politik und Religion w a r immer einer der typischen Züge der islamitischen Welt. Eine große politische Bedeutung haben seit je auch die j ü d i s c h e n Organisationen gehabt, allen voran die 1897 gegründete internationale Organisation des Zionismus, der das moderne, säkulare „Streben Israels nach dem gelobten L a n d " 6 9 * verkörpert. Seine Tätigkeit hat m i t der Gründung des Staates. Israel eine besondere Pointe erhalten. Sie gipfelte darin, daß 24 jüdische Weltorganisationen, die i n der Conference on Jewish Material Claims against Germany vereinigt sind, durch die Unterzeichnung von zwei Protokollen an dem deutschisraelischen Abkommen über die deutschen Entschädigungsleistungen vom 10. September 1952 beteiligt wurden. Damit wurde ein wichtiger Präzedenzfall für die Frage der Völkerrechtsfähigkeit von Interessenorganisationen geschaffen. Kirchen und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ragen m i t ihren M i t t e l n direkter und indirekter E i n w i r k u n g weit i n den politischen Raum und nehmen die Staatsunterworfenen — i n ordine ad spiritualia — f ü r sich i n Anspruch. A m wirksamsten geschieht es durch die unübertroffene Organisation der katholischen Kirche m i t ihrer starken institutionellen Verfestigung, ihrem internationalen Rückhalt und der sicheren Verankerung i m Kirchenvolk. Sie stieß dabei häufig auf den Widerstand der selbstbewußten Staatsgewalt und 69 H. L. Kaster, Aussichten der ägyptischen Revolution, in der Zeitschrift Außenpolitik, 5, 1954, S. 569 ff., und der Bericht der Neuen Zürcher Ztg. vom 25. Nov. 1954. — I n Lybièn hat eine von der Familie Senussi begründete und geleitete ältere Bruderschaft politische Bedeutung gewonnen. e9a Otto Freiherr von Taube, Die Zukunft Israels in christlicher Sicht, Hochland 41, 1948, S. 52. Über die öffentliche politische Tätigkeit der jüdischen Organisationen in U S A berichtet regelmäßig und ausführlich die New York Times. Eine gute Darstellung stammt aus der Feder von Alexander H. Pekelis, L a w and Social Action, Selected Essays, ed. by Milton R. Konvitz, Ithaca and New York (Cornell University Press) 1950; siehe darin vor allem das „Full Equality in a Free Society" betitelte Programm for Jewish Action, das Pekelis als Direktor der Comission on L a w and Legislation des American Jewish Congress verfaßt hat. Vgl. auch M a x Walter Clauss, Der Weg nach Yalta, Präsident Roosevelts Verantwortung, Heidelberg 1952, S. 38 f.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
rief das Phänomen des Antiklerikalismus hervor, der eine typische Erscheinung der katholischen Welt i s t 7 0 , wie die Trennimg von Staat und Kirche als Begriff und als politisches System eine Schöpfung der romanischen Völker ist 7 1 . „ I I me prennent l'âme" sagte Napoleon von den Priestern, „et ils me laissent le cadavre" 7 2 . Die daraus resultierenden Konfliktsituationen sind i n den Demokratien selten geworden, wo die kirchlichen Interessen politisch so wirksam repräsentiert werden, daß einer antikirchlichen staatlichen Willensbildung schon i n der Wurzel begegnet werden kann 7 3 . I m übrigen ist es der große, u m die M i t t e des vorigen Jahrhunderts einsetzende Vorgang der Extemporalisierung und Spiritualisierung der Kirche 7 4 , der einen erheblichen Teil des Konfliktsstoffes abgebaut hat. Wo aber der Kirche ein selbstherrliches, etwa autoritärisches Regime gegenübertritt, kommt es auch heute noch zu Kraftproben, die u m so bedenklicher sind, je mehr es sich um einen totalitären Staat handelt. I n einer solchen Lage kann es das Verhältnis von Staat und Kirche entlasten, wenn die Kirche die äußeren Positionen ihres politischen Vorfeldes zurücknimmt. Eine solche Differenzierung kann die Respektierimg der kirchlichen Autonomie auf ihrem eigentlichen Bereich i n sich schließen. Gegenüber dem nationalsozialistischen Staat gab der Heilige Stuhl i n A r t . 31 und 32 des Reichskonkordats vom 20. J u l i 1933 die parteipolitischen Bastionen 70
André Latreille, a.a.O., S. 40 f., 87. Man weiß, daß man in Deutschland über eine „hinkende Trennung" (Ulrich Stutz) nie hinausgekommen ist und man sich auch davon wieder seit langem entfernt. Soweit er in das angelsächsische Rechtsdenken übernommen wurde, wirkt er dort als Fremdkörper und erfüllt vorwiegend den praktischen Zweck einer Zurückweisung katholischer Ansprüche auf Staatszuschüsse für die parochial schools und dgl. Der Kampf gegen die Kirche oder ihre Unterwerfung im sowjetrussischen Herrschaftsbereich hat mit der „Trennung" nicht viel mehr als nur noch den Namen gemeinsam. 72 Zit. bei Latreille, a.a.O., S. 40. 73 Man ahnt die umstürzenden Konsequenzen, die sich daraus für die Staatslehre ergeben, wenn man sich vergegenwärtigt, worin Carl Schmitt das Signum des Staates der Neuzeit erblickt: „Die völlig unvergleichbare, einmalige geschichtliche Besonderheit dessen, was man in einem spezifischen Sinne »Staat1 nennen kann, liegt darin, daß d i e s e r S t a a t d a s V e h i k e l d e r S ä k u l a r i s i e r u n g ist"; vgL Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 97, 98 f. (Hervorhebung durch mich.) Dieser Staat der Neuzeit findet vor unseren Augen sein Ende. 74 Sie führte mit der inneren Konzentration i m Glauben, in Kultus und besonders im Recht zu einer imposanten kirchlichen Machtsteigerung. VgL Ulrich Stutz, Kirchenrecht, in von Holtzendorffs Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, B d 5, 7. (2.) Aufl., 1914, S. 363 ff., und Hans Erich Feine, Kirchliche Reditsgeschichte auf der Grundlage des Kirchenrechts von "Ulrich Stutz, Bd. I, Die Katholische Kirche, Weimar 1950, S. 561 ff. 71
5. Der öffentliche Dienst
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freiwillig auf 7 5 . I n dem Kirchenkampf der nachfolgenden Jahre ging sie dann unter den Parolen „Entpolitisierung des kirchlichen Lebens" und „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" fast aller ihrer Einrichtungen in jenem Vorfeld verlustig 7 6 . Die Kirchengeschichte und unsere Gegenwart kennen Kirchenkämpfe, die noch m i t größerer Härte und Grausamkeit geführt werden, der Kirche aber ebenfalls den Charakter einer politischen Potenz nicht nehmen konnten. Während Macht und Einfluß von Industrie, Big-Business, L a n d w i r t schaft und Gewerkschaften in der Regel besonders handgreiflich i n Erscheinung treten, ist die Macht der Kirchen und ähnlicher Gemeinschaften, auf der Grundlage ihrer Macht über die Gewissen von M i l lionen Anhängern, wenngleich unvergleichlich sublimer, so doch nicht weniger real und politisch und rechtlich relevant. 5. Der öffentliche Dienst Der gesellschaftliche Rang und die Würde des öffentlichen Dienstes bestimmen sich nach Rang und Würde des Dienstherrn. Sie waren völlig unbestritten, solange der König das Haupt der Exekutive und, seit dem aufgeklärten Absolutismus, „der erste Diener des Staates" war. I h m war der Beamte durch das persönliche Band der Treue und des Gehorsams verbunden. Der öffentliche Dienst war der „allgemeine Stand", von dem Hegel sagte, daß er „ d i e a l l g e m e i n e n I n t e r e s s e n des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte" habe; „der direkten Arbeit für die Bedürfnisse muß er daher entweder durch Privatvermögen oder dadurch enthoben sein, daß er vom Staat, der seine Tätigkeit i n Anspruch nimmt, schadlos gehalten wird, so daß das Privatinteresse in seiner Arbeit für das Allgemeine seine Befriedigung findet" 1. 75 Sie waren faktisch schon vorher mit der Selbstauflösung der Parteien gefallen. 76 Vgl. vor allem Werner Weber, Die staatskirchenrechtliche Entwicklung des nationalsozialistischen Regimes in zeitgenössischer Betrachtung, in der Festschrift für Rudolf Smend „Rechtsprobleme in Staat und Kirche", Göttingen 1952, S. 370 ff. Dieser Vortrag aus dem Jahre 1941 ist ein bedeutendes historisches Dokument jener Zeit, das eine aufschlußreiche Übersicht über die Verluste der Kirche in dem vom totalen Staat reklamierten Bereich enthält; vgl. vor allem S. 371 und 373 mit einem umfassenden Katalog wichtiger Positionen der Kirche außerhalb ihres engsten, gottesdienstlichen Bereichs. Vgl. außerdem Michele Maccarrone, I l Nazionalsocialismo e la Santa Sede, Roma (Editrice Studium) 1947, S. 81 ff. 1 Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 205 (Hervorhebung schon bei Hegel).
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Die Weimarer Republik hat während der kurzen Zeit ihres Bestehens versucht, das persönliche Treueband zum Monarchen durch eine unpersönlich-überpersönliche Treuepflicht gegenüber der demokratisch-republikanischen Grundordnimg zu ersetzen. Die repräsentative Figur des Reichspräsidenten und vor allem die starken Traditionen des preußisch-deutschen Beamtentums kamen ihr bei der Erhaltung eines integren öffentlichen Dienstes zu Hilfe. Sie scheiterte an dem Mangel eigener staatlicher Substanz. Wie der Staat, so wurde audi der Stand der Staatsdiener — trotz der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums i n A r t . 129, 130 W R V 2 — immer mehr eine Beute heterogener Parteien und Interessengruppen 3 . Es w a r eine natürliche Folge der konsequenten Demokratisierung der Staatsgewalt und der Zubilligung aller politischen Rechte an die Beamten, daß jene Beutepraxis zum System wurde („spoil-system") 4 / 5 . Der kontinentale Staat der Neuzeit w a r der Inbegriff weltlicher Autorität und Macht, Subjekt rationaler Dezision. Der Dienst des Beamten bestand i n der durch Gesetz umschriebenen Teilhabe an der Ausübung der Herrschaft. Seinen persönlichen Bedürfnissen war durch die Garantie der wohlerworbenen Rechte, vor allem der lebenslänglichen Besoldung Genüge getan. E i n hohes Berufsethos und das Postulat der Tüchtigkeit und Fähigkeit gaben dem öffentlichen Dienst seinen Charakter. Diese traditionelle Grundlage mußte Schaden leiden, sobald der Beamte nicht nur den „allgemeinen Interessen" zu dienen, sondern auch die Interessen von Parteien und anderen Gruppierungen zu besorgen hatte, je nachdem sie Macht über den Staatsapparat und damit auch über den öffentlichen Dienst gewonnen hatten. Auch in diesem Sinne wurde das Beamtentum i n der Demokratie die „Beute" der jeweils herrschenden Gruppen, und es ist nicht überraschend, daß 2 Der Begriff der institutionellen Garantie ist von Carl Schmitt geprägt; vgl. Verfassungslehre, München 1928, S. 170 ff. — Zur Lage des öffentlichen Dienstes in der Weimarer Republik namentlich Arnold Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, BerlinLeipzig 1928. 3 Vgl. Theodor Eschenburg, Der Beamte in Partei und Parlament, Frankfurt 1952, S. 39 ff., mit zahlreichen Nachweisen. 4 Die Vereinigten Staaten haben nur langsam und unter großen Mühen und Kämpfen das spoil-system überwunden, nachdem es ein öffentliches Ärgernis geworden war. 5 M i t dem wachsenden Mißbrauch erhoben sich die Rufe nach Reform, nach einem „pouvoir neutre" und einem System von Inkompatibilitäten; vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 132 ff.; Werner Weber, Parlamentarische Unvereinbarkeiten, Archiv des öffentlichen Rechts, N.F., Bd. 19, 1930, S. 161 ff.
5. Der öffentliche Dienst
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nun auch das eigene materielle Interesse der Staatsdiener hervortrat. Alexis de Tocqueville, nach einem neunmonatigen Aufenthalt i n den Vereinigten Staaten (1831/32) einer der besten Kenner der Demokratie, hat die erstaunliche Auffassung vertreten, daß die Interessen der Regierenden für das Wohl der Nation noch wichtiger seien als deren Tugend und Begabung 6 . Andere Umstände trugen dazu bei, die persönlichen Interessen der Staatsbediensteten zu mobilisieren. Neben die klassische Hoheitsverwaltung trat zunehmend die Verantwortung des Staates für die allgemeine Wohlfahrt und Versorgung. Das führte zu tiefgreifenden soziologischen u n d strukturellen Veränderungen des öffentlichen Dienstes. Indem die Verwaltung Leistungsträger wurde 7 , assimilierte sie sich dem Betrieb, ebenso w i e die privatwirtschaftlichen Unternehmungen sich mit wachsendem Umfang der öffentlichen Verwaltung anglichen 8 . Es kam ein neuer Typ des öffentlichen Bediensteten auf, nämlich die Kategorie der Angestellten und Arbeiter i m öffentlichen Dienst, die sich mit der Ausdehnung der Staatsaufgaben rasch ausbreitete. Der Gegensatz von Staat u n d Gesellschaft hatte i m 19. Jahrhundert die politischen Institutionen der kontinentalen Staaten und auch das Berufsbeamtentum geprägt. Je mehr der Staat sich nun auch als Unternehmer betätigte und sich insofern der wirtschaftenden Gesellschaft einfügte, erschien er auch seinen Bediensteten gegenüber i n der Rolle des Unternehmers und Arbeitgebers, so daß jene i h m gegenüber nun auch typische Arbeitnehmerinteressen geltend machten. Inmitten der Interessenblöcke, die sich m i t Ansprüchen an den Staat wandten, hatten die Beamten, Angestellten und Arbeiter des Staates n u r Aussicht auf erfolgreiche Wahrnehmung ihrer Belange, wenn sie sich ebenfalls organisierten und damit zu einer Druck- und Machtgruppe 6 „II importe sans doute au bien des nations que les gouvernants aient des vertus ou des talents; mais ce qui, peut-être, leur importe encore davantage, c'est que les gouvernants n'aient pas d'intérêts contraires à la masse des gouvernés; car, dans ce cas, les vertus pourraient devenir presque inutiles, et les talents funestes" (De la Démocratie en Amérique, a.a.O., Bd. I, S. 243). 7 Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart-Berlin 1938, und Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I. Bd. Allgem. Teil, 4. Aufl., München 1954, S. 284 ff. 8 Max Weber hat diese wechselseitige Assimilierung schon hervorgehoben und der bürokratischen Behörde den bürokratischen Betrieb gegenübergestellt, bei dem das „rein Quantitative als Hebel der Bürokratisierung sozialer Gebilde" besonders auffällt (Wirtschaft und Gesellschaft, i m Grundriß der Sozialökonomik, I I I . Abtig., 3. Aufl., Tübingen 1947, S. 650 ff.).
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
g e g e n ü b e r dem Staat wurden. Darin besteht also die A n t i n o m i e des öffentlichen Dienstes: als Träger der Hoheitsverwaltung und anderer existentieller Staatsfunktionen ist er nach wie vor eindeutig „Staat"; als Inhaber eigener Interessen sowie subjektiver, staatsbürgerlicher Rechte und Verantwortung ist er aber gleichzeitig auch „Gesellschaft" und kann sich vom Staat sogar so weit distanzieren, daß Herbert von Borch i n i h m m i t Recht das wichtigste Subjekt des Widerstandes gegen die freiheitsfeindliche Usurpation und Ausübung der Staatsgewalt sehen kann 9 . Die Auflösung dieser Antinomie w i r d i n einem demokratischen Gemeinwesen niemals restlos gelingen. Eine seinen Funktionen entsprechende Ordnimg des öffentlichen Dienstes vermöchte jedoch die jener Antinomie entspringenden Gefahren wesentlich einzudämmen. I n Frankreich, der Heimat des Syndikalismus, begann es m i t einer Kette von Verwechslungen und Mißverständnissen, in denen die wesentlichen Seiten dieses Problems schon ins Licht gerückt wurden. Das Koalitionsgesetz von 1884 und das Vereinsgesetz von 1901 änderten nichts an der Auffassung der Regierung, die alle Syndikate von Staatsbediensteten für gesetzwidrig hielt. Sie bestritt dem Personal der Straßenbahnen ebenso das Koalitionsrecht wie den Lehrern, „comme contraire au droit public", und verweigerte den Arbeitern aller Staatsbetriebe die Anerkennung des Streikrechts; darüber stürzte zwar am 22. Mai 1894 das Kabinett Casimir Périer, aber das hinderte Regierung und Parlament nicht daran, auch fortan noch den Arbeitern staatlicher Rüstungsbetriebe das Streikrecht vorzuenthalten, während man aber nicht daran dachte, den Arbeitern der i n Privatbesitz befindlichen, für die Zwecke der Landesverteidigung produzierenden Industrie die gleiche Beschränkung aufzuerlegen. Schon Maxime Leroy erkannte, daß i n der Frage des Koalitions- und Streikrechts der I n dustriearbeiter nicht mehr zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen öffentlichem und privatem Betrieb unterschieden werden k a n n 1 0 . 9 Obrigkeit und Widerstand, Zur politischen Soziologie des Beamtentums, Tübingen 1954. I m Sinne jener Antinomie verstehe ich es, wenn S. 22 f. und passim das Beamtentum in einer „prekären Zwischenstellung" in dem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft gesehen wird. 10 Les Transformations de la Puissance Publique, Les Syndicats des Fonctionnaires, Paris (Giard & Brière) 1907, S. 233; zum übrigen siehe a.a.O., S. 201 ff. und 232 ff. Jaques Donnedieu de Vabres stellt dagegen noch den Streik der Verwaltungsbeamten und den Streik der Bediensteten der Versorgungsbetriebe auf eine Stufe, vgl. L'Organisation de l'Etat, Les Libertés publiques, Bd. I I I , Paris (Les cours de Droit) 1948/49, S. 501.
5. Der öffentliche Dienst
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Die Frage der Interessenwahrnehmung der Staatsbediensteten erledigt sich damit f ü r die Arbeitnehmer i n Staatsbetrieben, die w i r t s c h a f t l i c h e n , fiskalischen Zwecken dienen und m i t eigentlicher Hoheitsverwaltung nichts zu t u n haben oder i n denen die Aufgaben und Befugnisse hoheitlichen Charakters hinter dem wirtschaftlichen Zweck stark zurücktreten (Eisenbahn, Post, Versorgungsbetriebe, Staatsforsten, Staatsdomänen usw.). Dieser Personenkreis steht hinsichtlich des Koalitions- und Streikrechts den Arbeitern der Privatwirtschaft gleich. Der Staat als Unternehmer, u. U. vertreten durch den zuständigen Minister („pouvoir public représentant TEtatpatron" 1 1 ), verkehrt denn auch m i t den Interessenvertretungen seiner Arbeitnehmer, etwa m i t der Eisenbahner- und der Postgewerkschaft, pari passu und schließt mit ihnen Tarifverträge, die sich von denen etwa des privaten Verkehrsgewerbes nicht unterscheiden 12 . Für die aus dem Arbeitsverhältnis entstehenden Rechtsstreitigkeiten sind die Arbeitsgerichte zuständig. Syndikalismus und Gewerkschaftsbewegung haben ökonomische U r sachen; das gilt auch für die Vereinigungen der öffentlichen Bediensteten i n der H o h e i t s v e r w a l t u n g , d. h. des öffentlichen Dienstes i m engeren Sinn 1 3 , also für Beamtenbund, BeamtengewerkStatt jener Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Betrieben hat bei den Streiks der letzten Jahre eine andere Abgrenzung verbreitete Anerkennung gefunden: die Unterscheidung von für die Nation lebenswichtigen und weniger wichtigen Unternehmungen: sei es, daß die Gewerkschaften aus eigenem Verantwortungsbewußtsein oder unter dem Druck der öffentlichen Meinung darauf verzichteten, die erstgenannten zu bestreiken, sei es daß die Regierung solche Unternehmungen unter öffentlich-rechtliche Kontrolle, etwa die der Armee (ζ. B. in USA), stellte. 11 Leroy, a.a.O., S. 211. 12 Für die Deutsche Bundesbahn schließt deren Vorstand die Tarifverträge ab; wenn sie wesentliche finanzielle Auswirkungen haben, bedürfen sie der Genehmigung des Bundesverkehrsministers, der i m Einvernehmen mit dem Finanzminister handelt (§ 14 Abs. 5 des Bundesbahngesetzes vom 13. 12. 1951; vgl. § 25). Bei Staatsunternehmen mit Doppelcharakter, die wie die Bundesbahn wirtschaftliche Zwecke m i t Hoheitsbefugnissen (Bahnpolizei, Aufsicht über nichtbundeseigene Bahnen als Auftragsverwaltung für die Verkehrsverwaltung eines Landes nach § 51 Bundesb.-Ges.) verbinden, gelten die Ausführungen über das Streikrecht n i c h t für Bedienstete, die echte Hoheitsaufgaben erfüllen; insofern besteht z. B. kein Unterschied zwischen den A n gehörigen der Bahnpolizei und sonstigen Polizeiorganen. Die Staatsbetriebe können wegen ihrer lebenswichtigen Bedeutung für die Allgemeinheit einer Sonderregelung unterworfen werden. Das trifft im gleichen Maße aber auch für die lebenswichtigen Betriebe der Privatwirtschaft zu. Soweit die Praxis diesen Grundsatz noch nicht anerkannt hat, bewegt sie sich doch erkennbar in dieser Richtung. 1S I n dieser Bedeutung erscheint der Begriff auch i m Bonner Grundgesetz, A r t 33, Abs. 4 und 5; vgl. Jess i m Bonner Kommentar, Art. 33, S. 6.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
schaft und dgl. Sie sind aus den Beschwerden der öffentlichen Funktionäre über Besoldung und Arbeitsbedingungen hervorgegangen, und man kann heute ihre Daseinsberechtigung nicht mehr i n Frage stellen, weder mit der Aufforderung an die Beamten, sie sollten n u r auf die Regierung vertrauen (Raymond Poincaré i m Jahre 1906, seinerzeit Finanzminister) 1 4 , noch durch die Aufforderung an die Regierung, die Gründe jener Unzufriedenheit zu beseitigen 15 . Die allgemeinen w i r t schaftlichen Verhältnisse sind so wenig stabil, und die sozialen, personellen und arbeitstechnischen Probleme des Arbeitsverhältnisses haben ein solches Ausmaß und ein solches Gewicht, daß es einer regelmäßigen und kompetenten Interessenvertretung der öffentlichen Funktionäre gegenüber ihrem Dienstherrn bedarf. Seitdem die Staatsverwaltung und ihr A n t e i l am Staatshaushalt einen bedeutenden Faktor i m Wirtschaftsleben darstellen, können die Belange der Angehörigen des öffentlichen Dienstes immer n u r i n Auseinandersetzung m i t den hochorganisierten Verbänden anderer Interessenten (gemäß ihrem A n teil an der Steuer vor allem der Industrie, aber auch der L a n d w i r t schaft und des übrigen Mittelstandes) gewahrt werden. Auch dieser Umstand fordert eine Interessenorganisation des öffentlichen Dienstes. Nach § .91 des Bundesbeamtengesetzes vom 14. J u l i 1953 haben die Beamten „auf Grund der Vereinigungsfreiheit" das Recht, „sich i n Gewerkschaften oder Berufsverbänden zusammenzuschließen". Es ist bekannt, welches Gewicht England auf diç parteipolitische Neutralität seines Civil Service legt. Eine Order i n Council von 1927 untersagt allen Civil Servants, für das Parlament zu kandidieren, es sei denn, sie geben vorher i h r A m t auf. Sie haben sich jeder politischen Äußerung zu enthalten 1 6 , aber sie dürfen BeamtengewerkNach § 6 Abs. 3 Bundesb.-Ges. ist aber auch die Erfüllung der Aufgaben der Deutschen Bundesbahn „öffentlicher Dienst". Der Begriff allein besagt darum noch nichts über die oben angef. Unterscheidung. Zur Frage der Abgrenzung des öffentlichen Dienstes hat Adolf Schule einen wertvollen Beitrag geleistet (Staatliche Personalämter und berufsgenossenschaftliche Selbstverwaltung, Festschrift für Richard Thoma, Tübingen 1950, S. 225 ff.). Für die Zurechnung zum öffentlichen Dienst werden mit Recht zwei Kriterien aufgestellt: „hoheitliche Natur der g e s a m t e n Aufgabe" und „das Vorliegen besonderer ,Staatsnähe' " S. 235. (Sperrung durch mich.) 14 Er erklärte am 22. März 1906, „avec la bienveillance d'un secrétaire d'état de la Monarchie", vor der Kammer: „C'est dans le gouvernement que ceux-ci doivent mettre leur confiance"; bei Leroy , a.a.O., S. 241 ff. 15 Das hielt im Jahre 1907 Maxime Leroy noch für einen gangbaren Ausweg; a.a.O., S. 236. 16 „It is the policy to exclude from active participation in politics all nonindustrial grades from administrative to typing, . . . p u b l i c c o n f i d e n c e
5. Der öffentliche Dienst
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Schäften beitreten, und diese Verbände, vor allem die der niederen Grade, sind sehr mächtig. Es gibt dort besondere Organisationen für die Angehörigen der verschiedenen Stufen der Hierarchie (administrative, executive, clerical) die i n beratenden Körperschaften, den Whitley Councils und dem National Whitley Council 1 7 , mit Vertretern aller Ministerien (in der Regel höheren Beamten, keine politischen Funktionäre), vereinigt sind. Hier werden alle Angelegenheiten des Dienstverhältnisses besprochen. Die Treasury setzt keine Gehaltsklassen fest, ohne nicht vorher mit dem National Whitley Council beraten zu haben. Die Gewerkschaften bearbeiten auch Beschwerden der C i v i l Servants und können u. U. über das Parlament Druck auf die Verwaltung ausüben, etwa i m Falle grundloser Entlassung 18 , die prinzipiell möglich ist und gegen die es kein Rechtsmittel gibt. Die Berechtigimg und die Bedeutung der Interessenorganisationen des öffentlichen Dienstes können heute nicht mehr bestritten werden. Die politische und staatsrechtliche Problematik aber, die ihre Existenz aufwirft, ist heute noch weit mehr aktuell als u m die Jahrhundertwende, als man sich i n Frankreich zum erstenmal ihrer vollen Tragweite bewußt wurde. Der Versuch, die Organisationen der Funktionäre zu unterdrücken, scheiterte; sie waren ein „état de fait", und die Minister waren gezwungen, ihre Delegationen zu empfangen und mit ihnen zu verhandeln. Die Verbände waren aber mehr als nur eine Veri n t h e i n t e g r i t y o f t h e C i v i l S e r v i c e is so important that i t is probably better to draw no distinction between those who are in daily touch with Ministers of the Crown and those who file or type their letters and minutes"; vgl. E. C. S. Wade & G. Godfrey Phillips, Constitutional Law, Fourth ed. by Wade, London (Longmans, Green & Co.) 1950, S. 167 (Hervorhebung nicht i m Original). Vgl. ferner Eschenburg, Der Beamte in Partei und Parlament, S. 18 ff.; Fritz Morstein Marx, Berufsbeamtentum in England, Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., 89, 1930, S. 4 ff.; „Probleme des öffentlichen Dienstes in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika", herausgg. von der Gesellschaft für Personalwesen, Frankfurt 1951. 17 Sie gehen zurück auf das Whitley Committee on Relations between Employers and Employed, das i m März 1916 geschaffen wurde und das fünf Berichte vorlegte; von ihnen ist der erste der wichtigste und bekannt als Whitley Report; er empfiehlt die Einrichtung von Councüs, in denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam interessierende Fragen beraten; vgl. British Trade Unionism, Six Studies by PEP (Political and Economic Planning) London, July 1948, S. 46 ff. 18 Ich verdanke diese Daten den mündlichen Ausführungen von Dame Evelyn Sharp in Wilton Park. Vgl. i m übrigen J. O. Roach, Der deutsche öffentliche Dienst i m westeuropäischen Rahmen, in Ausbildung und Berufsauffassung i m öffentlichen Dienst, Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten, Frankfurt 1950, S. 61 f.
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
tretung der sich unmittelbar aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Interessen ihrer Mitglieder. Der politische Elan des revolutionären Syndikalismus teilte sich auch den „associations" der Staatsbediensteten mit, die praktisch die Rolle von Syndikaten spielten 1 9 . Neben die Autorität des Dienstherrn trat die Autorität des Syndikats, „une direction et u n gouvernement parallèles fondés sur le seul intérêt des fonctionnaires" 2 0 . Sie richteten sich gegen die Regierung, ja „contre la représentation nationale ellemême" 2 1 , und i n diesem Loyalitätskonflikt war der Staatsbedienstete nicht selten geneigt, dem Befehl seines Syndikats eher zu folgen als den Anweisungen der Regierung. Durch eine Reihe von Beamtenstreiks w i r d das überzeugend belegt 2 2 . Die Bilanz der Konflikte zwischen Regierung und Syndikat weist einen erstaunlichen Rückzug der staatlichen Autorität aus. Aristide Briand unterdrückte 1910 einen Eisenbahnerstreik, indem er die Streikenden i n die Armee einberief 2 3 . I m J u l i 1948 machte dagegen die Administration sogar einen Unterschied zwischen den Beamten der zentralen staatlichen Verwaltung: den Streik der hohen Beamten bedrohte sie m i t Disziplinarstrafen, den der niederen nur mit Unterbrechimg der Gehaltszahlung 24 . Die Geschichte hat so die Kassandrarufe Maxime Leroys aus dem Jahre 1907 19
Leroy, a.a.O., S. 215. a.a.O., S. 208. — Die starke Ausbreitung der Beamtengewerkschaften setzte etwa um das Jahr 1906 ein: seitdem wurde eine Reihe von „associations" in „syndicats" verwandelt, die sich zu „fédérations" zusammenschlossen und der Confédération du Travail (CGT) beitraten. Ihre Parolen entsprachen voll und ganz der syndikalistischen Konzeption: „L'Etat aux fonctionnaires"; „chaque administration doit otre géré par ses fontionnaires. L'Université aux professeurs, la poste aux postiers" etc. Aber weder der Kassationsgerichtshof noch der Conseil d'Etat haben die syndicats des fonctionnaires als rechtmäßig anerkannt; sie hoben in ihren Entscheidungen hervor, daß diese Syndikate die staatliche Autorität beeinträchtigten und Streiks begünstigen, die die services publics lahmlegten. Erst das statut législatif des 1926 begründeten Conseil National Economique hat sie implicite anerkannt, indem es den Staatsbediensteten eine représentation syndicale im Wirtschaftsrat einräumte. Über ihre weitere Entwicklung vgl. Jacques Donnedieu de Vabres, L'Organisation de l'Etat, Bd. I I I . , Paris (Les cours de droit) 1947/48, S. 610 f. 21 Ein Ausruf des Handelsministers M . J. Roche am 17. 11. 1891 vor der Kammer (angef. bei Leroy , a.a.O., S. 209). 22 Georges Ripert berichtet z. B. von einem Streik der Steuereinnehmer und der Lehrer im Juli 1948, die damit eine Verbesserung ihres Gehalts durchsetzen wollten (Le Déclin du Droit, Etudes sur la Législation contemporaine, Paris [Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence] 1949, S. 112). 23 Harold Laski, Trade Unions in the New Society, New York (Viking) 1949, S. 13. 24 Ripert , a.a.O., S. 112, Anm. 1. 20
5. Der öffentliche Dienst
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verifiziert: „ L ' E t a t cesse d'être un impératif catégorique" 2 5 , und ebenso die Ankündigung von „transformations que ces associations feront subir à l ' E t a t " 2 e . Harold Laski, der vehemente englische Pluralist, hat dieses Wort aufgenommen. E r sagt von dem „administrativen Syndikalismus i n Frankreich", daß er eine Revolte gegen den Staat sei 2 7 ; „the result w i l l be the transformation of the state" 2 8 . Wie das Beispiel des preußischen Beamtentums nicht ohne Einfluß war auf die Verordnung des englischen Kronrats von 1870, die die Ämterpatronage beseitigte 29 , so mag das französische Beispiel nicht ganz ohne Einfluß gewesen sein auf die Bestimmung des Trade Disputes und Trade Unions Act von 1927 30 , die den „established" (d. h. den pensionsberechtigten) C i v i l Servants verbot, einer Organisation beizutreten, deren Hauptzweck die Beeinflussung des Gehalts und der Arbeitsbedingungen seiner Mitglieder war; es sei denn, daß eine solche Organisation (Gewerkschaft) i n jeder Hinsicht unabhängig sei, daß sie ausschließlich Servants of the Crown umfasse und nicht einem Gewerkschaftsbund angeschlossen sei, zu dem auch Organisationen von Nicht-Civil Servants gehörten; daß sie ferner keine politischen Ziele verfolge und weder direkt noch indirekt m i t einer Partei oder Parteiorganisation assoziiert sei. Staats- und Gemeindebehörden durften die Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft i n einer Gewerkschaft nicht zur Bedingung einer Anstellung machen 31 . Die Labour25 a.a.O., S. 249. Vgl. auch S. 242: „L'association, on ne peut en douter, est ,anarchique', comme l'on dit tant de ministres dans leurs circulaires et suivant le sens qu'ils ont donné à ce mot . . . L e contrat, c'est la base du fédéralisme p r o u d h o n i e n , négateur de l'Etat, en même temps que soutien de l'ordre" (Hervorhebung durch mich). 2β a.a.O., S. 245. — Maxime Leroy wollte mit seinen Ausführungen gewiß nicht bestreiten, daß Frankreich auch heute noch hochbefähigte und dem Regime ergebene Beamtenkader besitzt, die es dem Lande imjmer wieder gestatten, wochen- und monatelang weiter zu existieren, ohne daß es eine leitende Regierung gibt, die auch dafür sorgen, daß die am Boden schleifenden Zügel der Macht nur von den dazu Legitimierten aufgehoben werden, und die schließlich die in ihrer A r t bewundernswerte Administration tragen, in der sich auch heute noch der in Frankreich altbewährte politische Satz bewahrheitet: il n'y a que le provisoire qui dure. 27 Authority in the modem State New Haven (Yale University Press) 1919, S. 385. 28 a.a.O., S. 337. 29 H. R. G. Greaves , The Civil Service in the Changing State, in Probleme des öffentlichen Dienstes in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika, a.a.O., S. 10; angef. auch bei Eschenburg, Der Beamte in Partei und Parlament, S. 19. 80 Das Gesetz als ganzes war eine Konsequenz, die das englische Parlament aus dem Generalstreik von 1926 zog. 81 Vgl. W. Milne-Bailey , Trade Unions and the State, S. 189 ff., wo auch
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
R e g i e r u n g h a t dieses Gesetz d u r c h d e n T r a d e U n i o n s a n d T r a d e D i s p u t e s A c t v o n 1947 aufgehoben. S e i t d e m s i n d sieben V e r b ä n d e A n g e h ö r i g e n des ö f f e n t l i c h e n
Dienstes d e m Trades U n i o n
von
Congress
a n g e g l i e d e r t 3 2 . A b e r auch d i e L a b o u r - R e g i e r u n g w a r „ j e n e r r a d i k a l e n V e r ä n d e r u n g i n d e m u n p o l i t i s c h e n S t a t u s des ö f f e n t l i c h e n
Dienstes
völlig abgeneigt"33/34. D e r ö f f e n t l i c h e D i e n s t , v e r s t a n d e n als d i e I n s t i t u t i o n der s t a a t l i c h e n H o h e i t s v e r w a l t u n g , s t e h t abseits d e r K l a s s e n f r o n t e n . A u c h ohne daß m a n i n d e m B e a m t e n schon e i n e n R e p r ä s e n t a n t e n d e r Staatsidee e r blickt35
und ihm
eine besondere
„Repräsentationsmächtigkeit"36
zu-
schreibt, w i r d m a n n i c h t u m h i n k ö n n e n , i m ö f f e n t l i c h e n D i e n s t m e h r als technische Geschäftsbesorgung u n d n u r e i n e n u n t e r a n d e r e n
Er-
w e r b s z w e i g e n z u sehen; seine besondere F u n k t i o n u n d E h r e h a b e n i n d e m auszeichnenden B e g r i f f
des Staatsdieners i h r e n
u n d (als anzustrebendes I d e a l ) u n v e r ä n d e r t
herkömmlichen
geltenden Ausdruck
ge-
f u n d e n 3 7 . Es g i b t i n i h m n i c h t d e n Gegensatz v o n K a p i t a l u n d A r b e i t , U n t e r n e h m e r u n d L o h n a r b e i t e r , u n d d a r u m auch k e i n e n B o d e n
für
eine G e w e r k s c h a f t s p o l i t i k , die aus diesem Gegensatz i h r e n ausschlagdas Motiv dieses bemerkenswerten Verbots genannt ist: „ . . . to make it more difficult for the allegiance of a public servant to be divided." 32 J. O. Roach, Der deutsche öffentliche Dienst i m westeuropäischen Rahmen, a.a.O., S. 64. 33 Gemäß einer Erklärung aus dem Jahre 1948, in der sie der Einsetzung iines Ausschusses zur Untersuchung der politischen Betätigung der Civil Servants zustimmte; a.a.O., S. 64. 34 I n der durch keine Parteipolitik erschütterten Stabilität des englischen Civil Service wird man ebenso wie in seiner undoktrinären und pragmatischen Arbeitsweise einen Hauptgrund für seine imponierende Leistungsfähigkeit erblicken dürfen: umfangreiche Aufgaben mit relativ geringem personellem und sachlichem Aufwand auszuführen. Angehörige des Civil Service versäumen indessen nicht, daneben auch auf die erheblich höheren Gehälter hinzuweisen, deren sie sich gegenüber ihren französischen und deutschen Kollegen erfreuen. Es gibt kein „prolétariat administratif" (Leroy). 35 Diese Auffassung wurde vertreten von Arnold Röttgen, i m HdbDStR., 1932, S. 6 f.; Carl Heyland, Das Berufsbeamtentum im neuen deutschen demokratischen Staat, Berlin 1949, S. 30 f. und Hans Gerber, in grundsätzlichen Ausführungen im DVB1., 66, 1951, S. 489 ff. Vgl. dazu neuestens die Kritik von Wilhelm Grewe, Verhandl. d. 39. Dtschn. Juristentages, Teil D., Tübingen 1952, S. 7 ff., und zu dieser Frage schon Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 212 f. 36 Gerber, a.aO. 37 Das Verhältnis der Dienstpflichten zu den staatsbürgerlichen Freiheiten des Beamten beleuchtet Ulrich Scheuner in dem Gutachten „Politische Betätigung von Beamten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung", veröffentlicht in dem vom Deutschen Bund für Bürgerrechte hrsg. Heft „Politische Treupflicht im öffentlichen Dienst", Frankfurt o. J. (1951), S. 73.
161
5. Der öffentliche Dienst
g e b e n d e n I m p u l s u n d i h r e I n t e n s i t ä t e r h ä l t . Es g i b t i n i h m auch k e i n e Analogie z u m wirtschaftlichen Mitbestimmungsrecht; denn die Angeh ö r i g e n des ö f f e n t l i c h e n
Dienstes t r a g e n n i c h t m i t
an einem
t r i e b s r i s i k o " i m S i n n e d e r auf der U n t e r n e h m e r i n i t i a t i v e Wirtschaft.
„Be-
beruhenden
Die Beziehungen zwischen Staat u n d Beamtenbund
und
Staat u n d Beamtengewerkschaft sind d a r u m v ö l l i g anderer A r t .
Der
S t a a t ist w e d e r e i n I n d u s t r i e l l e n v e r e i n oder A r b e i t g e b e r v e r b a n d noch d a r f er i h n e n gleichgesetzt oder b e h a n d e l t w e r d e n w i e sie, d e n n er i s t die p o l i t i s c h e u n d r e c h t l i c h e F o r m , i n d e r d i e N a t i o n werkschaftliche dustriezweigs, wirtschaftliches
Kampfmaßnahmen Gewerbes
oder
e x i s t i e r t . Ge-
gegen d i e A r b e i t g e b e r
der Landwirtschaft
eines
In-
sind primär
ein
u n d soziales E r e i g n i s , solange sie die B e l a n g e
der
A l l g e m e i n h e i t nicht wesentlich beeinträchtigen. Eine „ d i r e k t e A k t i o n " gegen d e n S t a a t w ä r e e i n P o l i t i c u m e r s t e n Ranges, e i n Streik,
politischer
e i n V e r f a s s u n g s s t r e i k 3 8 , e i n e R e v o l t e , selbst w e n n es u m
nichts anderes als u m G e h a l t u n d A r b e i t s b e d i n g u n g e n d e r A n g e h ö r i g e n des ö f f e n t l i c h e n D i e n s t e s g i n g e ; sie m ü ß t e d e s h a l b d i e i n F ä l l e n eines gesetz-
und
verfassungswidrigen
Aufbegehrens
notwendigen
und
r e c h t m ä ß i g e n R e a k t i o n e n nach s i c h ziehen: d e n E i n s a t z d e r s t a a t l i c h e n Macht zur A b w e h r jener „direkten
Aktion"39'40.
38 Maxime Leroy hat schon 1921, nach dem französischen Generalstreik vom M a i 1920, einen gegen die politischen Institutionen gerichteten Streik als „grève constitutionnelle" bezeichnet (Les Techniques nouvelles du Syndicalisme. Paris (Rivière) 1921, S. 166 ff.). Ferner meine Studie Der politische Streik, Berlin 1955. Nach § 57 des Regierungsentwurfes zum Bundesbeamtengesetz vom 14. Juli 1953 sollten Dienstverweigerung oder Arbeitsniederlegung, auch zum Zwecke der Wahrung der Arbeitsbedingungen, unzulässig sein. Der Bundestagsausschuß für Beamtenrecht hat diese Bestimmung gestrichen; er hielt sie nicht für notwendig, weil sich der Satz aus den Pflichten eines deutschen Beamten klar ergebe und in den Rechtsvorstellungen der Beamten und der Staatsbürger fest verankert sei. 89 Der Staat kann die Fehde zwischen Verbänden, die ihm gleichmäßig eingeordnet sind, anerkennen, aber er kann „unmöglich, ohne sich aufzugeben, die Fehde gegen sich selbst zulassen" (Dietrich Schindler, Werdende Rechte, Festgabe für Fritz Fleiner, Tübingen 1927, S. 420). Ulrich Scheuner hat in seiner grundlegenden Studie „Der Verfassungsschutz i m Bonner Grundgesetz" auch die Gewerkschaften, Berufsverbände usw. in den Kreis der Objekte eingezogen, gegen die sich Maßnahmen zum Schutz der staatlichen Grundordnung richten können (Um Recht und Gerechtigkeit, Festgabe für Erich Kaufmann, Stuttgart-JCöln 1950, S. 329 f.). Über die immanenten Grenzen solcher Maßnahmen ebendort S. 316 ff. 40 Fast alle a m e r i k a n i s c h e n Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes haben in ihren Satzungen dem Streikrecht entsagt. I h r letztes Mittel sind Vorstellungen bei der Legislative. Seit 1946 hat aber auch der Kongreß das Problem ins Auge gefaßt und den Streik i m öffentlichen Dienst für illegal erklärt: zunächst in Klauseln, die in den Appropriation Acts enthalten waren; sie besagten, daß aus den bewilligten Mitteln keine Gehälter an Personen gezahlt werden dürften,
11
Kaiser, Repräsentation
162
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Es liegt im eigenen Interesse des Staates und ist nicht mehr als die Erfüllung einer sozialen Verpflichtung, wenn er seinen Bediensteten geeignete Möglichkeiten eröffnet, i n persönlichen, sozialen und arbeitsdie sich geweigert haben, ein Affidavit zu unterzeichnen, des Inhalts, daß sie nicht zu einer Organisation gehören „asserting the right to strike against the United States". Nun enthält der Taft Hartley Act von 1947 ein ausdrückliches Streikverbot, das auch für die wirtschaftlichen Unternehmungen des Staates, die „government corporations", gilt. Wer streikt, hat danach fristlose Entlassung zu gewärtigen und kann frühestens nach einem Zeitraum von drei Jahren wieder eingestellt werden. Auch eine Reihe von Einzelstaaten haben 1946 und 1947 das Streikverbot gesetzlich verankert. Es konnte indessen 1948 in Minneapolis einen Lehrerstreik nicht verhindern, mit dem die Öffentlichkeit wegen der geringen Lehrergehälter sogar sympathisierte. Die Geschichte der Vereinigten Staaten kennt eine größere Zahl von Streiks gegen Einzelstaaten oder gegen den Bund. Sie werden im allgemeinen als „Verzweiflungsakte" charakterisiert und hatten keine grundsätzlich politische Tragweite. Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes des Bundes waren von 1902 bis 1912 verboten. Sie haben sich seitdem vor allem in den unteren Graden ausgebreitet, zeigen aber eine deutliche Tendenz zu weiterer Ausdehnung. Das in der Industrie von den Gewerkschaften angestrebte und weitgehend erreichte Ziel des „closed shop" (es dürfen nur die Mitglieder einer Gewerkschaft eingestellt werden) oder wenigstens des „union shop" (Zwang zum Eintritt in die Gewerkschaft nach einer bestimmten Frist, in der Regel nach 30 Tagen) würde den Charakter des öffentlichen Dienstes revolutionierend verändern und das „Merit"-System zu Fall bringen; einige wenige, kleinere Kommunalbehörden haben in den union shop eingewilligt. Präsident F. D. Roosevelt hat in einem vielzitierten Brief an Luther C. Steward, den Präsidenten der National Federation of Federal Employees, zur Rolle der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst ausgeführt, daß dem „collective bargaining" im öffentlichen Dienst unübersteigbare Schranken gesetzt seien. Die Dienststellenleiter vermöchten in Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften nicht vollverantwortlich die Regierung („Government", d. h. Exekutive und Legislative) zu vertreten und für sie verbindlich zu handeln, denn „the employer is the whole people who speak by means of laws enacted by their representatives in Congress. Accordingly, administrative officials and employees alike are governed and guided and in many instances restricted, by laws which establish policies, procedures, or rules in personal matters". Das hat nicht gehindert, daß eine Reihe von Tarifverträgen abgeschlossen wurden. Der Brief des Präsidenten ist zitiert in dem Werk von William E. Mosher, J. Donald Kingsley, and O. Glenn Stahl, Public Personnel Administration, 3. Aufl., New York (Harper) 1950, S. 334; über civil service unions a.a.O., S. 318—363. Vgl. ferner Harvey C. Mansfield und Fritz M or stein Marx , Henry Reining Jr., Wallace S. Sayre und Milton M. Mandel in der von Fritz Morstein Marx herausgegebenen Sammlung „Elements of Public A d ministration", New York (Prentice Hall) 1948, S. 313, 442 ff., 487 ff. bzw. 574 ff., die auch die Vorzüge der Gewerkschaften i m öffentlichen Dienst (Rationalisierung der Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen) würdigen. Einige Bemerkungen zum Thema auch in dem von der Deutschen Gesellschaft für Personalwesen e. V. herausgegebenen Reisebericht „Der öffentliche Dienst in den Vereinigten Staaten von Amerika", Frankfurt 1950, S. 83. Der politischen Aktivität der Gewerkschaften sind sehr enge Grenzen gezogen durch die den Angehörigen des öffentlichen Dienstes i m {latch
5. Der öffentliche Dienst
163
technischen Angelegenheiten ihres Dienstverhältnisses und i n Fragen der Besoldung ihre Interessen geltend zu machen 41 . Die Einrichtung von Personalvertretungen innerhalb der Behörden ist darum ein selbstverständliches Gebot. I m d e u t s c h e n Beamtenrecht entspricht die Einrichtung von Beamtenvertretungen einem hergebrachten Grundsatz 4 2 . Entsprechende Personalvertretungen sollten auch für die A n gestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes geschaffen werden. Je weniger heute zwischen den Funktionen der Beamten und der privatrechtlichen Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes unterschieden wird, u m so mehr verbietet sich eine Regelung wie die unter der Weimarer Reichsverfassung, die Angestellte und Arbeiter i n das Betriebsräterecht einbezog. Ob man getrennte Vertretungen oder eine Gesamtvertretung für alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes schafft, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, solange ihre Struktur die Sonderstellung der Beamten berücksichtigt und nicht zu ihrer Majorisierung durch die Vertreter der privatrechtlichen Arbeitnehmer führt 43. Den Personalvertretungen die Befugnisse eines Betriebsrates 44 zuzusprechen hieße, sie an der Leitung der Behörden beteiligen, ihnen einen unmittelbaren Einfluß auf die Führung der Behördengeschäfte und damit auf die P o l i t i k einräumen. Das wäre dann i n der Tat neben den vom V o l k gewählten und den durch die Volksvertretung bestellten und kontrollierten politischen Instanzen eine unkontrollierte und Act von 1939 auferlegten Beschränkungen. Einige Gewerkschaften haben diesen Zwang zu eigener politischer Enthaltsamkeit durch die Verbindung mit A F L oder CIO kompensiert. Über den Hatch Act vgl. vor allem den ausgezeichneten Aufsatz von Otto Kirchheimer, The Historical and Comparative Background of the Hatch Law, in dem Jahrbuch „Public Policy", hrsg. von C. J. Friedrich und Edward S. Mason, Bd. I I , 1941, S. 341 ff. 41 Es gibt kaum eine Staatsverwaltung, die den Angehörigen des öffentlichen Dienstes mehr entgegenkommt als die f r a n z ö s i s c h e . Die Chefs der Personalverwaltungen französischer Ministerien stehen i n ständigem Kontakt mit den Vertretern der Funktionärsgewerkschaften; keine Vorlage, die das Dienstreglement und dgl. betrifft, erreicht den Minister, ohne daß sie nicht vorher den Vertretern der Bediensteten vorgelegen hätte und diese ihre Forderungen und Wünsche dazu geäußert haben. — Es würde zu weit führen, die zahlreichen übrigen Rechte hier darzustellen: bei Ermessensentscheidungen des Ministers und in Disziplinarverfahren, auf Einsicht der Personalakten und dgl. 42 Vgl. Art. 130 Abs. 3 W R V und Grewe a.a.O, S. 32, These 12 d. 48 Walter Grabendorff, Z u m Personalvertretungsgesetz für den öffentlichen Dienst, DÖV. 5, 1952, S. 321 ff.; ders. in Zeitschr. f. Beamtenrecht, 2, 1954, S. 105 ff., 136 ff., 169 ff. und 260 ff.; O. G. Fischbach, Der Bundespersonalausschuß, seine rechtliche Stellung und seine Aufgaben, a.a.O.. S. 233 ff. 11*
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
niemandem verantwortliche Nebenregierung der organisierten Interessen der Bürokratie. 6. Steuerzahler und Verbraucher Jeder Staatsbürger ist sowohl Steuerzahler 1 als Verbraucher. M i t der einen Schulter trägt er den Staat, mit der anderen die Volkswirtschaft. Als Steuerzahler treffen ihn die finanziellen Lasten der staatlichen Politik, die unter diesem Aspekt besonders nach ihrer Ausgabenseite hin für ihn interessant wird. Als Verbraucher steht er in einer unaufhebbaren Beziehimg zu den Mächten des Wirtschaftslebens, der Urproduktion, der Verarbeitung und der Verteilung, d. h. zur Landwirtschaft, zu Industrie, Gewerbe und Gewerkschaften, zum Groß- und Einzelhandel. Die staatsbürgerlichen Funktionen des Steuerzahlers und des Verbrauchers lassen sich jedoch nicht scharf trennen. Der Konsum vermehrt mittelbar die Steuerkraft der Wirtschaft und ist zudem über die Verbrauchssteuer auch eine selbständige Steuerquelle; er ist unter diesem Gesichtspunkt deshalb ebenso eine staatstragende Funktion wie die Aufbringung direkter Steuern und steht so i n einer nicht weniger realen Beziehung zum Staatsbudget 2 . Andererseits sind es die zwischen Planung und Dirigismus sich bewegende staatliche Wirtschaftspolitik und das ausgedehnte unternehmerische Engagement des Staates i n der Wirtschaft (durch öffentliche Investitionen, Versorgungs- und Regiebetriebe usw.), die eine konsequente Unterscheidung zwischen SteuerZahler- und Verbraucherfunktionen problematisch erscheinen lassen. 44 Betriebsverfassungsgesetz vom 11. 10. 1952, bes. §§ 49 ff., BGBl. I, S. 686 ff. 1 Das erscheint nur auf den ersten Blick als eine gewagte Vereinfachung. Hier ist ausschlaggebend, daß die Masse der mangels eigenen Erwerbs nicht Steuerpflichtigen, die Minderjährigen, auch nicht als Subjekte aktiver Staatsbürgerrechte und selbständig geltend gemachter Interessen in Frage kommen. Von der Gruppe der zu keiner Steuer veranlagten Minderbemittelten darf an dieser Stelle einmal abgesehen werden, zumal sie mit dem sich nivellierenden sozialen Wohlstand und der Ausdehnung des staatlichen Steuersystems ohnehin abnimmt. I m übrigen sind auch diese Gruppen als Verbraucher an der Aufbringung der i n d i r e k t e n S t e u e r n beteiligt. Das ist beispielsweise in Frankreich von besonderem Belang, wo die seit Jahrzehnten fortschreitende Inflation zu einem außerordentlichen Ausbau des indirekten Steueraufkommens veranlaßt hat (Louis Trotabas, Les Finances publiques et les Impôts de la France, Paris [Colin] 1953, S. 137 ff.). 2 Mabel Newcomer , Taxation and the Consumer, steuert dazu interessante Daten aus den amerikanischen Nachkriegserfahrungen bei (The Annals of the American Academy of Political and Social Science, November 1949, Government Finance in a Stable and Growing Economy, S. 55 ff.).
6. Steuerzahler und Verbraucher
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Die beiden, ursprünglich getrennt und unabhängig voneinander gespielten Rollen des Staatsbürgers werden immer mehr zu einer einzigen, von den anonymen Mächten des Staates und der Gesellschaft weitgehend determinierten Funktion 3 . Staat und Wirtschaft denaturieren zu einem amorphen Funktionsmechanismus, der f ü r das konsumierende und Steuern zahlende Individuum erst dadurch wieder ein gewisses Profil erhält, daß sich organisierte Interessen aller A r t seiner bemächtigen. Die Zwielichtigkeit und die Dimensionen dieses spektakulösen Vorgangs machen es dem einzelnen fast unmöglich, seiner voll und ganz bewußt zu werden. Er würde sonst kaum je das Gefühl verlieren, einem gefährlich drohenden Mechanismus konfrontiert und ausgeliefert zu sein, zu dessen Bezeichnung i h m das antike Schreckbild der Hydra noch angemessener erscheinen müßte als die berühmten Bilder, unter denen Thomas Hobbes den Staat darstellt: Seeschlange und unwiderstehliche Maschine, während ihm eine Apotheose wie deus mortalis oder eine Heroisierung wie magnus homo gewiß völlig unverständlich wären. Würde der Typ des heutigen Steuerzahlers und Konsumenten durch das wissende, i n seiner Einsamkeit und Isoliertheit aber machtlose Individuum charakterisiert, so müßten Steuerzahlerbünde und Verbraucherorganisationen wie Pilze aus dem Boden schießen und alle übrigen Verbände weit in den Schatten stellen, denn das Steuerzahlerund Konsumenteninteresse ist allen Staatsbürgern gemeinsam, und jene Bedrohung der isolierten Existenz ließe keine andere Alternative als die Organisation. W i r wissen, daß dem nicht so ist. Die seit 1945 in Deutschland nach amerikanischem Vorbild gegründeten Bünde der Steuerzahler und Verbraucherorganisationen haben sich zu keinen Massenorganisationen entwickelt. Die durch sie vertretenen Interessen sind zwar allgemein und unterscheiden sich darin von den Arbeiter-, Industrie-, Bauernund sonstigen Interessen, sind aber gerade deshalb einer ebenso selbständigen und überzeugenden politischen Manifestation nicht fähig. 3 Der frühvollendete Serge Maiwald ist nicht müde geworden, auf die zunehmende Funktionalisierung der Daseinsbereiche des modernen Menschen hinzuweisen. Vgl. vor allem die drei Aufsätze „Der massensoziologische Hintergrund der heutigen Kulturkrise", „Soziologie der modernen K u l tur" und „Medizin und Psychologie in soziologischer Perspektive" in der von ihm begründeten Zeitschrift Universitas, I V , 1949, S. 1167 ff., 1301 ff. und 1431 ff.; ferner den Aufsatz „Das Recht als Funktion gesellschaftlicher Prozesse" in dem Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1952, S. 55 ff.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Alle Abhandlungen über das Wesen der politischen Parteien eines demokratischen Staatswesens stimmen darin überein, daß sie nur „Teil" der politischen Repräsentation sein und darum nur ausnahmsweise für die Gesamtbevölkerung sprechen können. Hierin unterscheiden sich die Interessengruppen nicht von den politischen Parteien. So komplexe Phänomene wie das Verbraucherinteresse sind i n sich wiederum erheblich differenziert; Unterscheidungen wie der Luxus-, der „gehobene" und der Durchschnittskonsum einerseits und die progressive Einkommensbesteuerung andererseits begründen nicht nur verschiedene Nuancen und Intensitätsgrade der Verbraucher- und Steuerzahlerbelange, sondern, wie beispielsweise i n der Frage der Luxusund Aufwandbesteuerung und zahlreicher anderer Steuerarten, diametral entgegengesetzte Interessen, die eine einheitliche Organisation sprengen müßten. Es ist darum keineswegs erstaunlich, daß die für jeden Staatsbürger vitalen Steuerzahler- und Verbraucherbelange i n ihrer Differenzierung bereits durch andere, bestehende Organisationen vertreten werden 4 . Hier sind in erster Linie die p o l i t i s c h e n P a r t e i e n zu nennen, die i n der Steuer- und Wirtschaftsgesetzgebung die stärksten Hebel zur Beförderung oder Hintansetzung bestimmter Steuerzahler- und Konsumenteninteressen handhaben. Dabei sind sie dem Einfluß zahlreicher Interessengruppen ausgesetzt. Unter ihnen spielen die G e w e r k s c h a f t e n eine überragende Rolle, für die von Haus aus Konsumentengesichtspunkte primär sind 5 . M i t den Millionenmassen ihrer Mitglieder und deren Angehörigen umfassen sie ein sehr breites und ziemlich homogenes Segment der Verbraucherschaft. Sie können des4
Die K o n s u m g e n o s s e n s c h a f t e n , deren große wirtschaftliche Bedeutung nicht unterschätzt wird, sind unter dem Gesichtspunkt dieser Arbeit nur insofern von Belang, als sie auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen. Das ist nur ausnahmsweise der Fall, etwa wenn sie sich gegen Eingriffe des Gesetzgebers gegen ihre ungehemmte wirtschaftliche Betätigung und Ausbreitung zur Wehr setzen. I m übrigen handelt es sich um konsolidierte Wirtschaftsunternehmen auf genossenschaftlicher Grundlage, die ihre Mitglieder mit den Gegenständen des durchschnittlichen Bedarfs, vor allem Lebensmitteln, versorgen und bestrebt sind, diese durch Ausschaltung des Zwischenhandels und zuweilen auch durch Angliederung von Produktionsbetrieben zu verbilligen. Entsprechendes gilt für Verbrauchervereinigungen, die es sich zur Aufgabe machen, den Verbraucher zu einem rechnenden und wägenden Wirtschaftssubjekt zu machen, die an Waren Qualitätsuntersuchungen vornehmen, Ausstellungen durchführen und Hausfrauen beraten. Auch sie können politisch hervortreten, indem sie beispielsweise dem Verbraucherbeirat eines Wirtschaftsministeriums beitreten. 5 Götz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, S. 78 und 98.
6. Steuerzahler und Verbraucher
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halb legitim für ein zwar nur spezielles, aber wegen seines Umfangs und seiner Stoßkraft politisch besonders wichtiges Verbraucherinteresse sprechen. I n dieser Rolle sehen w i r sie immer wieder vor den politischen Instanzen und der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben. Dabei setzen sie sich, entsprechend den Bedürfnissen der von ihnen vertretenen Verbraucherschicht, namentlich für preisgünstige Grundnahrungsmittel und billigen Wohnraum ein und streben zu diesem Zweck Staatszuschüsse, Herabsetzung oder Aufhebung von Einfuhrzöllen und ähnliche Maßnahmen zur Stützung der Preise an. Amerikanische Gewerkschaften gehen noch weiter, indem sie die Verbraucher über das Verhältnis von Gestellungskosten und Preisen informieren, und üben so einen indirekten Druck auf die Gewinne aus. Sie verwenden teilweise sogar eigene Markenzeichen für die Erzeugnisse und Dienstleistungen ihrer Mitglieder 6 . M i t der Auszeichnung appellieren sie an eine qualifizierte Arbeitsleistung und lenken gleichzeitig die Kaufkraft auf die von Mitgliedern produzierte Ware. Sie dienen damit der eigenen Organisation und geben ein Beispiel für die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Unternehmern zum beiderseitigen Nutzen. Verbraucher ist nicht n u r der individuelle Endverbraucher, der Haushalt, die einkaufende Hausfrau oder wie immer man sich i h n vorstellt, sondern beispielsweise auch die L a n d w i r t s c h a f t i n bezug auf Saatgut, Kunstdünger und Maschinen, viele Gewerbe i n bezug auf Halbzeug u. dgl. und die w e i t e r v e r a r b e i t e n d e Industrie i n ihrem Bedarf an Holz, Kohle u n d Stahl. I n solchen Fällen bereitet die Organisation des jeweiligen Verbraucherinteresses keine Schwierigkeit. Mächtige Standes- und Brancheverbände machen sich zu seinen Sprechern. Der Beratende Ausschuß bei der Hohen Behörde der M o n t a n u n i o n ist dafür ein gutes Beispiel (Artikel 18 des Vertrages vom 18. A p r i l 1951; vgl. auch A r t . 46 und 48). I n i h m sind die Produzenten, die Arbeitnehmer und die Verbraudier m i t je 17 Sitzen vertreten 7 . Die β Dem Label Trades Department der A F L sind 55 Gewerkschaften angeschlossen (Gewerkschaften und Produktivität, Bericht einer Gruppe britischer Gewerkschaftsfunktionäre, Köln 1951, S. 39 f.). 7 Herbert Kraus hält ihren nur konsultativen Status für einen Rückschritt gegenüber der Internationalen Arbeitsorganisation, in der Arbeitnehmer und Arbeitgeber e n t s c h e i d e n d mitwirken (Die rechtliche Struktur der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 191). I m Gegensatz zum Internationalen A r beitsamt, dessen Empfehlungen der Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten bedürfen, kann die Behörde bindende Entscheidungen treffen; eine paritätische Beteiligung jener Organisationen hätte der Montanunion eine
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
vom Ministerrat am 2. Dezember 1952 berufenen sechs deutschen Konsumentenvertreter repräsentieren folgende Branchen: metallverarbeitende, chemische und Zementindustrie, die Elektrizitätswirtschaft, den Handel und den Bundesverband der Deutschen Industrie 8 . Es ist kennzeichnend, daß der sog. Hausbrand nicht vertreten ist, obwohl auf ihn ein erheblicher Teil des deutsche» Kohle Verbrauchs entfällt; es gibt keine Organisation, die den deutschen Kleinverbraucher gegenüber der Hohen Behörde repräsentieren könnte. Die Einrichtung des Konsultativrats der Montanunion hat i h r Vorbild i n den Verwaltungsorganen der i n Staatseigentum überführten f r a n z ö s i s c h e n Industrie. Hier wirken ebenfalls Arbeitnehmer und Verbraucher m i t ; aber sie nehmen an der Verwaltung mitentscheidend teil, i m Gegensatz zu der nur beratenden Kompetenz i n der Montanunion. Man geht kaum fehl i n der Annahme, daß die schlechten Erfahrungen mit den französischen Einrichtungen und die lebhafte K r i t i k i n und außerhalb Frankreichs eine unveränderte Übertragung der französischen Konstruktion auf die Montanunion von vornherein ausgeschlossen haben 9 . I n Frankreich ist die gleichmäßige Vertretung des Staates, der Arbeitnehmer und der Verbraucher das beherrschende Prinzip, nach dem sich jeweils der Conseil d'Administration einer verstaatlichten Industrie zusammensetzt. Für die Charbonnages de France, die zentrale Kohlenverwaltung, ist durch das Gesetz vom 17. Mai 1946 10 ein 18köpfiger Verwaltungsrat geschaffen; von den sechs Vertretern des Staates werden zwei durch den Bergwerksminister und je einer durch die Minister für Wirtschaft, Finanz, Arbeit und Transport ernannt; die sechs Arbeitnehmervertreter werden durch die Gewerkschaftsleitungen bestimmt; von den sechs Verbrauchervertretern repräsentieren drei die wichtigsten, kohleverbrauchenden Industriezweige, einer den Dachverband der associations familiales und zwei die bedeutendsten Gewerkschaften („organisations ouvrières les plus représentatives"). Die Kleinverbraucher, der Hausbrand, werden also zu 6 6 % durch die Gewerkschaftsvertreter repräsentiert, was dazu führt, mehr oder weniger ständisch-korporative Verfassung gegeben und hätte die alte Idee Saint-Simon' s von der Exekutive, in der alle Industriezweige vertreten sind, teilweise verwirklicht. 8 Frankfurter Allgemeine Ztg. vom 4. 12. 1952. • Man kann sicher sein, daß man auch aus anderen Gründen die Kohleund Stahlgemeinschaft nicht mit einem ständisch-korporativem Experiment belasten wollte, das sie zu einem erheblichen Teil den heterogenen Interessengruppen der einzelnen Mitgliedstaaten ausgeliefert hätte. 10 Ergänzt durch die Verordnung vom 16. Januar 1947.
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6. Steuerzahler und Verbraucher
daß d i e G e w e r k s c h a f t e n nach d e m Gesetz ü b e r 8 v o n 18 S i t z e n v e r fügen. Ä h n l i c h setzen sich d i e V e r w a l t u n g s r ä t e d e r e i n z e l n e n K o h l e n felder, der H o u i l l è r e s de Bassins, z u s a m m e n , n u r daß h i e r d i e V e r treter
des ö f f e n t l i c h e n
Interesses
durch
die ü b e r g e o r d n e t e
Behörde
d e r C h a r b o n n a g e de F r a n c e b e r u f e n w e r d e n . A u c h d i e ü b r i g e n n a t i o nalisierten Industrien haben Verwaltungsräte,
die sich v o n d e m ge-
schilderten M o d e l l nicht wesentlich unterscheiden 11. I n i h n e n erhöht sich d e r G e w e r k s c h a f t s a n t e i l n i c h t s e l t e n a u f ü b e r 50 % d e r S t i m m e n , da auch d i e V e r t r e t e r d e r ö f f e n t l i c h e n H a n d o f t einer
Gewerkschaft
angehören, so daß m a n , w i e es h e i ß t , z u w e i l e n beobachten k ö n n e , daß sich d i e C G T v o n e i n e r z u r a n d e r e n S e i t e dieser D r e i e c k s k o n s t r u k t i o n d e n B a l l z u w e r f e 1 2 . Es ist kennzeichnend, daß außer d e m V o r s i t z e n d e n des V e r w a l t u n g s r a t e s , d e r j e w e i l s v o n d e m z u s t ä n d i g e n M i n i s t e r
er-
nannt w i r d , die übrigen Mitglieder von dem Unternehmen keine E n t s c h ä d i g u n g beziehen, so daß die L o y a l i t ä t z u i h r e n V e r b ä n d e n n i c h t gem i n d e r t w i r d d u r c h e i n persönliches Interesse, das a u f G r u n d m a t e r i e l ler
Vorteile zu
der
Gesellschaft
tendieren
könnte, deren
leitendes
O r g a n sie k o n s t i t u t i e r e n . 11 I n den Verwaltungsräten der nationalisierten Großbanken werden die Verbraucherinteressen wahrgenommen durch die Organisationen der I n dustrie, des Handels und der Landwirtschaft. Das Zentralorgan des französischen Finanzsystems ist der Conseil supérieur du Crédit. Zehn Mitglieder des Verwaltungsrats werden entsandt durch verschiedene Interessenorganisationen wie Konsumgenossenschaften, Handelskammern, Organisationen der Industrie, Landwirtschaft usw.; sieben repräsentieren die Gewerkschaften (organisations ouvrières les plus représentatives), davon vier die Organisationen der Bankangestellten; sieben Mitglieder kommen aus mehreren Ministerien; weitere sieben sind Persönlichkeiten aus verschiedenen Gebieten der Finanzwirtschaft und mit entsprechender Erfahrung; sieben schließlich entstammen öffentlichen oder halböffentlichen Finanzinstituten; den Vorsitz führt ein von der Regierung beauftragter Minister, in der Regel der Finanzminister; er kann seine Befugnisse auf den Gouverneur der Bank von Frankreich delegieren, der ex officio Vizepräsident des Verwaltungsrates ist. Für den Verwaltungsrat der Renault-Werke werden die Vertreter der Konsumenteninteressen durch ein Übereinkommen zwischen dem Minister für industrielle Produktion und dem Minister für öffentliche Arbeiten bestimmt. 12 Le Tripartisme et l'Administration des Entreprises Nationalisées, in Economie contemporaine, Centre de Recherches et de Documentation Economiques, April 1948, angef. bei William A. Robson, Nationalised Industries in Britain and France, in The American Political Science Review, 44, 1950, S. 318 Vgl. i m übrigen Les Nationalisations en France et en Grande-Bretagne, La Documentation Française vom 27. 8. 1948, Notes Documentaires et Etudes, No. 983; Les Nationalisations en France, hrsg. von L. Jiullot de la Morandière und Maurice Byé , Paris 1948; Nationalisation of Banks and Industries in France, International Labour Review, Bd. 54, 1946, S. 206 ff.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Dieser „Tripartisme", die unmittelbare Verwaltung durch die Vertreter der Staatsinteressen, der Arbeitnehmerinteressen und der Verbraucher- und Steuerzahlerinteressen, hat seine geistigen Wurzeln i n den Schriften u n d i n der Umgebung von H e n r i de Saint-Simon. Die CGT hat das Prinzip seit Ende des ersten Weltkrieges als eine A l t e r native zur Verstaatlichung, étatisation, vertreten; die Zusammensetzung des Conseil National Economique von 1925 war schon durch diesen Tripartisme bestimmt. Es ist früher schon von dem ständischkorporativen System gesagt worden, daß es auf eine übergeordnete staatliche Autorität nicht verzichten kann. Die Vertreter des Staates stellen i n den französischen Verwaltungsräten aber keine solche A u t o r i tät d a r 1 3 . Die Vertreter der Verbraucherinteressen sind ein besonders schwacher Punkt dieses Systems. Ein bedeutender Kenner dieser Materie, W i l l i a m A. Robson von der London School of Economics, hält es f ü r völlig falsch, Gewerkschaften als Vertreter des Verbraucherinteresses anzusehen; „die Tatsache, daß auch Gewerkschaftler Verbraucher sind, macht aus einer Gewerkschaft noch kein Konsumentenorgan" 1 4 . Auch i n der englischen verstaatlichten Industrie und Wirtschaftsplanung sind Verbrauchergremien nicht unbekannt. Sie unterscheiden sich von den französischen Einrichtungen weniger durch ihre Zusammensetzung als durch ihre Funktionen. I n keinem Fall haben sie die Befugnis zur Mitentscheidung, sondern haben immer nur beratende Kompetenz. Die ersten Einrichtungen dieser A r t finden w i r schon zu Beginn der 30er Jahre. Sie waren eine Folge der Depression. Unter dem Coal Act von 1930 hatte die subventionierte Kohlenindustrie ihre 18
Sie wird im Falle der Charbonnages de France auch nicht begründet durch das Recht der Auflösung des Verwaltungsrates, den Vorbehalt der Zustimmung des Kabinetts zu Plänen für Produktion und Erweiterungen, den Jahresbericht und die Gewinn- und Verlustrechnung, bestimmten Finanztransaktionen und dgl., da das Kabinett trotzdem nicht mit genügender Unmittelbarkeit und Initiative auf die allgemeine Geschäftsführung einwirken kann. 14 Robson, a.a.O., S. 318. Es scheint ihm hoffnungslos, von einer Versammlung so verschiedener und widerspruchsvoller Interessen wie der des A r beitnehmers und des Verbrauchers und Steuerzahlers eine einheitliche, energische Verwaltung und kontinuierliche Politik zu erwarten. „Frustration and deadlock, log rolling and jockeying for position, are much more likely to result from the juxtaposition of discordant elements" (a.a.O S. 317). Georges Scelle berichtet, daß man nach dem Ersten Weltkrieg daran gedacht habe, i m Conseil Economique Konsumenteninteressen erst durch Bürgermeister vertreten zu lassen. — Er hält es ebenfalls für schwierig, die Vorstellung von der Repräsentation jener drei großen Mächte zu verwirklichen. (Principes du Droit Public, Paris [Les cours de Droit] 1940/41, S. 386).
6. Steuerzahler und Verbraucher
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eigenen Organe für die Regelung der Förderquoten und gemeinschaftlichen Verkauf gebildet. Die Agricultural Marketing Acts von 1931 und 1933 hatten Marketing Boards für Milch und andere Produkte geschaffen, die katastrophale Preisstürze verhindern und den Erzeugern zu einer wirtschaftlicheren Produktion und Verteilung helfen sollten. Ihnen waren Consumers Committees zugeordnet, die die Interessen der verschiedenen Verbraucherzweige repräsentierten. Sie hatten das Recht, sich über die Geschäftsführung des Boards bei dem zuständigen Minister zu beschweren, der sie an einen unparteiischen Ausschuß verweisen konnte. M i t verschiedenen Abwandlungen sind solche Consumers Commitees nach dem zweiten Weltkrieg i m Zusammenhang mit der Verstaatlichung von Kohle, Stahl, Transport, Elektrizität und Gas gebildet worden. Auch sie hatten bzw. haben die Befugnis der Beschwerde an den Minister, aber ihre Hauptbedeutung liegt darin, daß sie dem Board die Möglichkeit geben, sich völlig auf die Bedürfnisse und Wünsche der Verbraucher abzustimmen, und andererseits die Verbraucher auf dem laufenden zu halten über die Pläne und Schwierigkeiten des Board 1 5 . Soweit sich erkennen läßt, haben sie i n der zuletzt verstaatlichten Stahlindustrie eine größere Bedeutung gehabt als i n den übrigen Wirtschaftszweigen. I n der Stahlindustrie hatte trotz der Verstaatlichung die alte Federation of British Industries noch ein breites Betätigungsfeld, und vor allem waren es so mächtige Organisationen wie die der Schiffsbau- und Autoindustrie, die hier Verbraucherinteressen geltend machten 1 6 . Diese unmittelbare Zuordnung 15 Sir Arthur Street, Quasi-Government Bodies since 1918, in der Sammlung British Government since 1918, hrsg. v. Institute of Public Administration, London (Allen & Unwin) 1950, S. 167. 18 Uber die Consumers' Councils äußert sich das vom Jahreskongreß der Labourpartei i m Oktober 1950 angenommene Programm Labour and the New Society, a statement of policy an principles of British democratic Socialism (Herbert Morrison und Wilfried Fienburgh haben es verfaßt). Es fordert eine Democracy of Consumers' (S. 36) und führt zu den Consumers' Councils aus, ihr Zweck sei „to enable consumers to exercise a direct and stimulating influence over the publicly owned industries". Die Propagandaschrift räumt ein, daß die Councils noch nicht arbeiteten, wie sie sollten, und stellt eine generelle Reform in Aussicht. Durch engere Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen und „local authorities" soll eine stärkere Verbindung mit der Öffentlichkeit herbeigeführt werden. I n Ausschüssen, die sich mit Industrieplanung befassen, sollen unabhängige Persönlichkeiten die Verbraucherinteressen wahrnehmen (S. 37). Die Konsumenten werden auch in der Prinzipienerklärung des demokratischen Sozialismus, die auf der ersten Konferenz der neugegründeten Sozialistischen Internationale in Frankfurt am 1. Juli 1951 beschlossen wurde, neben den Gewerkschaften und Produzentenverbänden als unerläßliche Faktoren einer demokratischen Gesellschaft anerkannt, ohne daß ge-
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
der Produzenten- und Konsumenteninteressen war ein Teilstück jener erstaunlichen Dezentralisierung, für die es auf dem Kontinent keine Parallele gibt, die es aber der britischen Regierung ermöglichte, die gewaltigen Staatsmonopole i n ihrer überlieferten Struktur, ohne den Tumor einer eigenen großen Wirtschaftsbürokratie, zu verwalten. Ohne Consumers Committees hätte man eine stärkere Beanspruchung der Ministerialbürokratie, namentlich durch parlamentarische Kanäle, i n Kauf nehmen müssen. Es war aber gerade die Absicht der Labour Regierung, die verstaatlichten Industrien möglichst autonom und ohne die Belästigung ihrer Minister durch parlamentarische Anfragen einer höchst aufgebrachten Opposition arbeiten zu lassen 17 . Die Folge war ein für kontinentale Vorstellungen bedenklicher Mangel parlamentarischer Kontrolle 1 8 . Es liegt deshalb die Auffassung nahe, daß durch die Consumer Committees eine A r t öffentlicher Kontrolle hätte ausgeübt werden sollen. Das war aber nicht der Fall, und war auch nicht die Absicht ihrer Schöpfer, die die Beziehungen zwischen Erzeuger und Verbraucher außerhalb des Politischen halten wollten. Die Presse hat jene Aufgabe viel gründlicher und wirkungsvoller erfüllt. — Als die von 1949 bis 1953 verstaatlichte Stahlindustrie reprivatisiert wurde, hat der I r o n and Steel Act vom 14. M a i 1953 die Iron and Steel Corporation durch ein Board ersetzt, das zwischen Staat und Industrie als neutrale, halbamtliche Instanz eingeschaltet ist und Lenkungsaufgaben sagt ist, wie sich der meist vergessene Faktor Konsumenten neben jenen hochorganisierten Machtgruppen zur Geltung bringen soll (abgedruckt bei Wilhelm Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, Eine Auswahl vom Vormärz bis zur Gegenwart, München 1951, S. 163). Aber schon in seiner Erwähnung erkennt man den Einfluß der englischen und skandinavischen Sozialisten auf dem Frankfurter Kongreß. Der Umstand, daß sie in ihren Ländern die Regierungsgewalt innehatten, gab ihnen in Frankfurt ein Gewicht, das sich auch in dem Abschleifen marxistischer Schärfen äußerte. — Für die Bedeutimg der Konsumgenossenschaften in Skandinavien ist das schwedische Beispiel aufschlußreich: Sie besitzen und betreiben 4 % der schwedischen Industrie (Elektrizitätswirtschaft und Schiffahrt, die größtenteils sich in staatlicher Regie befinden, sind nicht eingerechnet) und erreichen damit fast den in öffentlicher Hand befindlichen Anteil in Höhe von 5 % (Veröffentlichung der Handelskammer Stockholm über die ökonomische Entwicklung i n Schweden, September 1952, zit. in der New York Herald Tribune, Paris ed., vom 6. 10. 1952). 17
Street, a.a.O., S. 179 und passim Eine ausführliche Darstellung würde den hier gesetzten Rahmen weit überschreiten. Die Gesetze enthalten Vorschriften über Rechnungsführung, Jahresbericht („being a form which shall conform with the best commercial standards"; ζ. B. Coal Industry Nationalisation Act von 1946, S. 31, 1) und Rechnungsprüfung; sie sind aber kein wirksamer Ersatz für die Möglichkeiten laufender parlamentarischer Kontrolle. 18
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6. Steuerzahler und Verbraucher
wahrnimmt. Es besteht aus dem Chairman, der weder aus dem Kreis der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer stammen darf, und mindestens 9, höchstens 14 weiteren Mitgliedern, die Sachverständige der Stahlherstellung und -Verarbeitung (-verbrauch), der Gewerkschaften oder der Verwaltung sein oder allgemeine industrielle, finanzielle oder kaufmännische Kenntnis haben müssen, an der Stahlindustrie aber nicht finanziell interessiert sein dürfen. Sie werden vom Minister auf fünf Jahre, m i t der Möglichkeit der Wiederbestellung, berufen; auch ihr Gehalt w i r d mit Zustimmung des Schatzamtes vom Minister festgesetzt, der dabei der Kontrolle durch das Parlament unterliegt. Die Finanzierung des Board, einschließlich der Gehälter, erfolgt jedoch durch eine vom Board festgesetzte und von der Stahlindustrie aufgebrachte Umlage, gegen deren Höhe die Industrie beim Minister Einspruch erheben kann. Board und Minister können vor ihren EnkScheidungen Einzelpersonen, die die genannten, weit gefaßten Voraussetzungen erfüllen, hören; sie müssen nach dem Gesetz die „repräsentativen Organisationen" zuziehen, soweit sie diese zur Behandlung von jeweils anstehenden Fragen für geeignet halten. Diese Möglichkeit, je nach dem Gegenstand Einzelne und Gruppen aus einem so weiten, über die Stahlindustrie hinausgehenden Interessenkreis zu beteiligen, bringt die jeweils kompetenten Interessen (und nur diese!) und den einschlägigen Sachverstand zum Tragen. Sie ermöglicht ihre M i t w i r k u n g auch i n Fragen des Details und verdient wegen ihrer viel größeren Elastizität und Wirksamkeit den Vorzug vor dem starren System der auf dem Kontinent bekannten Wirtschaftsräte und des Beratenden Ausschusses der Montangemeinschaft. Die britischen Boards als „Quasi-Government Bodies" und die Einrichtungen der verstaatlichten Industrien Frankreichs gehören zu einem weit verbreiteten Phänomen des Staats- und Verwaltungsrechts, dem m i t der Ausdehnung des Staates i n den Bereich der Wirtschaft eine große Zukunft beschieden ist und das i n der amerikanischen Rechtslehre unter dem Namen „Government Corporation" bekannt ist 1 9 . Sie sind unter dem Gesichtspunkt dieser Arbeit von exemplarischer Bedeutung und werden i n anderem Zusammenhang noch eingehender gewürdigt 2 0 . Auch die a m e r i k a n i s c h e n Steuerzahler- und Verbraucherorganisationen spielen i m Vergleich zum Farmblock u n d zu den Gele Die amerikanischen Government brauchervertretungen. 20 Unten Teil I I I , 5, mit Anm. 18.
Corporations
kennen
keine Ver-
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
werkschaften nur eine untergeordnete Rolle 2 1 . Sie haben i n der Regel nur eine schwache zentrale Organisation 2 2 und bringen sich auf der Bundesebene kaum zur Geltung. Ihr Wirkungsbereich sind die Gemeinden; hier üben sie aber oft einen entscheidenden Einfluß aus 23 . Man muß sie sehen inmitten der zahlreichen Gruppen, die für die amerikanische Kommunalpolitik kennzeichnend sind. Diese verdanken ihre Entstehung oft akuten Problemen, wie sie namentlich i n den rasch wachsenden Gemeinden des Westens und Mittelwestens auftraten und denen die Gemeinde- und Stadtverwaltungen oft nicht gewachsen waren. Sie befaßten sich mit Straßenbau, der Anlage von Park- und Spielplätzen, allen anderen städtebaulichen Angelegenheiten, Verkehrsregelung und -kontrolle, Armenfürsorge und Hospitalbauten, Gefängniswesen, säuberten gelegentlich eine korrupte Gemeindepolizei, wehrten sich i n „Consumer Unions" gegen Übervorteilung und unlautere Geschäftspraktiken, setzten vielleicht eine Beschränkung oder ein Verbot des Verkaufs von Alkohol durch und beseitigten kommunale Mißwirtschaft. Manche dieser und ähnliche Probleme fordern auch heute noch die Initiative der Einwohner heraus; es bilden sich Gruppen, die Reformen diskutieren und vorschlagen, mitunter beteiligt sich ein inoffizielles Gremium einflußreicher Bürger neben Mayor und City Council an der Leitung der Gemeindegeschäfte, oder man führt eine Wahlkampagne durch. So vielfältig der Anlaß, so unterschiedlich ist auch das Gesicht dieser Gruppen; manche sind kurzlebig, andere blicken auf eine jahrzehntelange Arbeit zurück. Sie werden häufig unter dem Namen „Civic Groups" zusammengefaßt 24 . 21 Pendleton Herring, The Politics of Democracy, American Parties in Action, New York (Rinehart) 1940, S. 87; McKean, Party and Pressure Politics, S. 459; Dimock, American Government in Action, S. 314; Goetz Briefs , Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, S. 94. 22 Eine Ausnahme macht die National Municipal League, die sich namentlich für das Ein-Mann(City-Manager)-Prinzip in der Kommunalverwaltung einsetzt. 23 Günther Schmölders, Die Mitarbeit der Steuerzahler an Kommunalaufgaben in den Vereinigten Staaten, Zeitschrift f. Kommunalwirtschaft, 19, 1929, S. 1656 ff. 24 McKean, a.a.O., S. 583 ff.; Lent D. Upson , Organized Citizen Concern with Government, New York (Governmental Research Association) 1946; Warren Moscow, Politics in the Empire State, S. 213. I n diesem Zusammenhang verdient auch auf die zahlreichen R e f o r m g r u p p e n und -bewegungen hingewiesen zu werden, die, teilweise zentral organisiert, aus patriotischen Gründen und aus Überlegungen des Steuerzahlers für eine Reorganisation der kommunalen, einzelstaatlichen oder Bundesverwaltung werben. Unter ihnen ragte in den letzten Jahren das Citizens' Committee for the Hoover Report hervor, das den Vorschlägen der unter dem Ex-Präsidenten Herbert Hoover und Dean Achesan 1947 bis
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Taxpayers' Associations und ähnliche Gruppen — die Grenzen sind natürlich fließend — richten i h r Augenmerk namentlich auf die Verwendung der Gemeindesteuern. Gewiß sind sie bestrebt, diese nach Möglichkeit zu senken oder eine Erhöhung zu verhindern, aber wichtiger ist ihnen die Sauberkeit, Zuverlässigkeit, „efficiency" 2 5 ihrer Verwaltung. Man begegnet darum immer wieder Schlagworten wie „to make democracy work", „to make democratic government an effective tool of the public w i l l " , „to make government catch up w i t h science". Es ist keine Frage, daß von diesen Gruppen ein starker Impuls zu neuen Verwaltungsmethoden, ζ. B. zur Budgetreform 2 6 , und zu einer Wissenschaft von der Verwaltung ausgegangen ist 2 7 . Die vorwiegend soziologische Orientierung dieser Wissenschaft hat sie bisher daran gehindert, einer eminent juristischen Erscheinung die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen: dem Recht des Steuerzahlers, durch gerichtliche Klagen eine Kontrolle über die Finanzen, besonders über die Ausgaben der Verwaltung auszuüben. Angèle Auburtin hat das Verdienst, diese spröde Materie zum erstenmal systematisch dargestellt zu haben 2 8 . Für die Entwicklung des eigentümlichen Rechtsinstituts der taxpayers' suits sind vor allem ursächlich gewesen der i m Calvinismus begründete Aktivismus des Amerikaners; die Notwendigkeit individueller Kontrollen und subjektiven Schutzes gegenüber einer 1949 arbeitenden Commission on Organization of the Executive Branch of the Government die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit sicherte. Ich danke auch an dieser Stelle James K. Pollock, einem Mitglied der Kommission, für die Einführung in diesen Komplex. Aus dem Schrifttum über Reformgruppen vgl. David B. Truman, The Governmental Process, Political Interests and Public Opinion, S. 359 f.; McKean, Party and Pressure Politics, S. 579 ff. 25 Man weiß, daß sich dieser typisch amerikanische Begriff weder ins Deutsche noch ins Französische angemessen übersetzen läßt. Webster's New Collegiate Dictionary, 2. Aufl., 1951, definiert: „Effective operation as measured by a comparison of production with cost in energy, time, money etc." (S. 262); vgl. auch Francis Hekking, Réflexions sur la Mécanique Administrative, New York (Editions de la Maison Française) 1943, S. 298. 2e Günther Schmölders, Steuerzahlerbewegung und Budgetreform in den Vereinigten Staaten, Wirtschaftsdienst Hamburg, 14, 1929, S. 1805 ff.; ders., Steuerzahlerbewegung und Verwaltungsreform in den Vereinigten Staaten, Reichs verwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, 50, 1929, S. 759 ff. 27 Upson, a.a.O., S. 29 f. Das Bureau of Municipal Research und die Governmental Research Association, beide in New York, haben in dieser Richtung besonders verdienstvoll gearbeitet. 28 Die Ausgabenkontrolle durch Steuerzahlerklagen, Ein Beitrag zum Problem der Verwaltungskontrolle und der Rechtsstellung des Individuums zum Staat in den Vereinigten Staaten von Amerika, Verwaltungsarchiv, 38, 1933, S. 309—382.
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Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
Verwaltung, die kaum eigene Kontrollen besitzt, wie sie der europäische Kontinent i n dem inneren Gefüge der Beamtenhierarchie und i n dem Institut der Staatsaufsicht kennt; ferner die Anwendung des „trusts", der Vorstellung des Treuhand Verhältnisses, auf die Beziehungen des Bürgers zu seiner Kommunalbehörde, an die er Steuern zahlt, so daß diese Beziehung privatrechtlich gedacht w i r d und der Gemeinde verband einer privaten Gesellschaft, dem „Trust", gleichgestellt w i r d 2 9 ; schließlich sind es die Möglichkeiten des anpassungsfähigen Equity-Rechts, welche die Grundlage für das Institut der „taypayers' suits" abgaben. Eine Reihe von Staaten haben sie i n das positive Recht übernommen 3 0 . Kennzeichnend ist der § 791 des Revised Code von Arizona aus dem Jahre 1928. Er gibt jedem Steuerzahler das Recht, wegen rechtswidriger Zahlungen aus der County-Kasse i m eigenen Namen u n d auf eigene Kosten Klage zu erheben, wenn der County-Attorney auf schriftliches Ersuchen eines Steuerzahlers binnen 20 Tagen nicht selber Klage erhoben hat. Der Kläger muß sich vorher i n einem schriftlichen Schuldversprechen (bond) verpflichten, dem Beklagten die Kosten und allen sonstigen Schaden zu ersetzen, wenn er unterliegt. I m anderen F a l l sollen i h m seine Kosten ersetzt und eine angemessene Anwaltsgebühr zugesprochen werden, die 40 % des dem County geretteten Betrages nicht übersteigen darf 3 1 . A k t i v legitimiert ist der Steuerzahler oder eine Gruppe von Steuerzahlern 32 unabhängig davon, ob sie i n der Gemeinde wohnhaft sind oder nicht. Die Frage nach Umfang und A r t des nachgewiesenen Interesses als Rechtsschutzvoraussetzung w i r d sehr verschieden beantwortet. Immer muß es sich u m ein pekuniäres Interesse handeln, ist Voraussetzung, daß die angegriffene Verwaltungsmaßnahme den Steuerzahler, wenn auch nur mittelbar, belastet; dabei macht es häufig keinen Unterschied, ob über das Steueraufkommen oder über das sonstige Vermögen der Gemeinde verfügt wird. I n einem F a l l 3 3 betrug das steuerliche Interesse nur drei Cents. Verschieden ist auch die Ausgestaltung der Klage als Popular29
Auburtin, a.a.O., S. 325 ff. Angèle Auburtin führt (a.a.O., S. 315 ff.) folgende Staaten an: Arizona, Arkansas, California, Colorado, Illinois, Iowa, Kansas, Maine, Massachusetts, Michigan, Mississippi, New York, North Carolina, Ohio, Oklahoma, Pennsylvania, South Dakota. 31 a.a.O., S. 315, Anm. 14. 32 Maine, Massachusetts und Pennsylvania schreiben als Mindestzahl eine Gruppe von zehn Steuerzahlern vor (a.a.O., S. 355, Anm. 168). 33 Ellingham, Secretary of State, v. Dye, 178 Ind. 336, 99 Ν. E. 1, 37 (Ind. 1912); a.a.O., S. 375, Anm. 284. 80
177
6. Steuerzahler und Verbraucher
k l a g e z u m Schutz ö f f e n t l i c h e r Interessen ( „ o n b e h a l f of a l l t a x p a y e r s " oder „ o n b e h a l f of t h e s t a t e " )
oder als I n d i v i d u a l k l a g e z u m Schutze
privater Eigentumsinteressen m i t öffentlichen Nebenwirkungen. Manche S t a a t e n lassen sie n i c h t
nur
gegen die
Gemeindebehörde,
sondern
selbst gegen den Staat zu, t r o t z d e r a l l g e m e i n e n „ n o n - s u a b i l i t y of t h e state"34.
Immer
schwingt
der
Gedanke
einer
Verwaltungskontrolle
d u r c h d e n S t e u e r z a h l e r m i t . Dieser w i r d so i n die L a g e versetzt, fast den
ganzen B e r e i c h
administrativer
Tätigkeit
mit
Einschluß
hoch-
p o l i t i s c h e r A k t e z u ü b e r w a c h e n u n d bis z u e i n e m gewissen G r a d e zu beeinflussen 3 5 . D a b e i s i n d d i e S t e u e r z a h l e r k l a g e n
oft n u r e i n D e c k -
m a n t e l f ü r die G e l t e n d m a c h u n g anderer, e i g e n n ü t z i g e r Interessen u n d haben dann m i t
der K o n t r o l l e
der öffentlichen
Ausgabenwirtschaft
wenig mehr zu tun36. In D e u t s c h l a n d der ö f f e n t l i c h e n
entziehen sich O r g a n i s a t i o n u n d A r b e i t s a b l ä u f e
V e r w a l t u n g w e i t g e h e n d der B e u r t e i l u n g d u r c h
die
Masse d e r Steuerzahler. D e r nach a m e r i k a n i s c h e n V o r b i l d e r n g e g r ü n dete B u n d
der Steuerzahler,
d e m eine größere U n t e r s t ü t z u n g
z u w ü n s c h e n w ä r e , ist d a r a u f beschränkt, d i e ö f f e n t l i c h e
Verwaltung
31 Der Supreme Court hat in dem Fall Frothingham v. Mellon, 262 U.S. 447 (1923) entschieden, daß es kein Recht des Steuerzahlers gebe, auch die Ausgaben des Bundes zu kontrollieren, u. a. weil es sich hier u m eine öffentliche und nicht um eine Privatangelegenheit handele (a.a.O., S. 338 f.). 33 I n der ausgezeichnet belegten Studie von Angèle Auburtin wird das an Hand zahlreicher Beispiele nachgewiesen; vgl. besonders S. 362 ff. 30 a.a.O., S. 350. Uber Steuerzahlerklagen in F r a n k r e i c h („recours des contribuables") vgl. a.a.O. S. 337; Maurice Hauriou, Précis de droit administratif et de droit public, 11. Aufl., Paris (Sirey) 1927, Bd. I, S. 405 f. und Notes d'arrêts sur décisions du Conseil d'Etat et du Tribunal des Conflits publiées au Recueil Sirey de 1892 a 1928, réunies et classés par Maurice Hauriou , Bd. I I , Paris (Sirey) 1929, S. 205—238. Danach sind Steuerzahlerklagen gegen Gemeinden und gegen Departements statthaft und sind ausgebildet in der Form des recours pour excès de pouvoir. Zur Frage der gerichtlichen Uberprüfung kommunaler Ausgabenbeschlüsse in E n g l a n d , die durch writ of certionari (Klage in der Form eines gerichtlichen Befehls an den Beklagten oder eine Behörde, die auf die Uberprüfung eines Sachverhalts gerichtet ist) eingeleitet werden, vgl. Joseph Redlich, Englische Lokalverwaltung, Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901, S. 382, und die Kritik von Angèle Auburtin, a.a.O., S. 358 ff. Danach ist es der Attorney General, der, in der Regel wohl auf private Initiative, Ausgaben betreffende Entschließungen der boroughs und der counties vor die King's Bench Division des High Court bringen kann. I m übrigen berichten über die politische Rolle der Steuerzahler in E n g l a n d und den s k a n d i n a v i s c h e n Staaten Robert Arzet, SteuerzahlerOrganisationen, in der Berliner Börsenzeitung vom 6. 10. 1929, und Günther Schmölders, The Taxpayers' Movement in Europe, National Municipal Review, 19, 1930, S. 534 ff. (angef. bei Auburtin, a.a.O., S. 379, Anm. 299).
12
Kaiser, Repräsentation
178
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
zu beobachten, unwirtschaftliche Maßnahmen zu kritisieren und Reformvorschläge zu machen. Er verleiht ihnen Nachdruck durch Publizität, indem er die Öffentlichkeit ζ. B. vor Übergriffen wie Gebührenschneiderei warnt, übertriebenen A u f w a n d i n Dienstkraftwagen und andere Mißstände ins Licht rückt und die Presse zum Sprachrohr seiner K r i t i k macht. Daneben hat der B u n d f ü r B ü r g e r r e c h t e , der sich i n einer Reihe von Städten (teilweise mit leicht abweichendem Namen) gebildet und am 20. September 1949 i n F r a n k f u r t - z u einer Arbeitsgemeinschaft organisiert hat, eine segensreiche Tätigkeit entfaltet. Er sieht seine Aufgabe darin, die Bevölkerung über die bürgerlichen Rechte und Freiheiten zu unterrichten, schwerwiegende Verstöße dieser Rechte und Freiheiten i n der Öffentlichkeit aufzugreifen und i n geeigneten Modellfällen selbst den Verletzten vor Gerichten und Verwaltungsbehörden beizustehen. Hervorragende Mitglieder des Bundes haben darüber hinaus durch wissenschaftliche Forschung, Lehre und Veröffentlichungen die Ziele des Bundes unterstützt 3 7 — i m Sinne der bemerkenswerten These von Franz Böhm, daß die Verbraucher nur einen Freund haben: die Wissenschaft und die wissenschaftlich geschulte Einsicht 3 8 . Der Rationalisierung der Verwaltung dient ein Organ des Rationalisierungs-Kuratoriums der Deutschen Wirtschaft, der Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung, der i m September 1950 wiedergegründet wurde. Seine Eigenart liegt darin, daß er sowohl der öffentlichen Hand wie der Privatwirtschaft dienen w i l l . Beide haben gewiß verschiedenartige Dienstleistungen zu erbringen; auf die A r t , wie sie erbracht werden, sollen aber die gleichen Leistungs- und Rationalisierungs87 Vgl. ζ. B. die beiden Rechtsguthaben von Ulrich Scheuner, Politische Betätigung von Beamten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, und Wilhelm Grewe, Die politischen Treupflichten der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, Rechtsgutachten zu dem Beschluß der Bundesregierung vom 19. September 1950 zur politischen Betätigung von Angestellten des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung, zusammen mit einem Gutachten der Gesellschaft zur Wahrung der Grundrechte e. V. Mannheim-Heidelberg zum gleichen Thema vom Deutschen Bund für Bürgerrechte herausgegeben unter dem Titel „Politische Treupflicht im öffentlichen Dienst", Frankfurt o. J., 1951. Vgl. auch den als Heft der Schriftenreihe der Gesellschaft für bürgerliche Freiheiten in München erschienenen Bericht über ihre Entstehung, Organisation, Arbeit und Ziel, München o. J. 88 Das wirtschaftliche Mitbestimmungsrecht der Arbeiter i m Betrieb, in dem Jahrbuch „Ordo", I V , 1952, S. 197. Auch Böhm hebt dort mehrfach hervor, daß das Interesse der Konsumenten nicht organisiert und nicht organisierbar ist und daß der Konsument weder als Individuum noch als Masse eine politische Macht ist oder es je sein wird (S. 197 und passim).
6. Steuerzahler und Verbraucher
179
grundsätze angewandt werden; beide sollen wirtschaftlich arbeiten. Der Vergleich von Aufwand und Erfolg, von Kosten und Leistung ist indessen viel schwieriger in der Verwaltung als i n der P r i v a t w i r t schaft. Produktion und „Ausstoß" eines Betriebes sind i n Geld meßbar, die Dienste einer Behörde nicht; darum ist auch i h r Leistungsgrad oft nur m i t Mühe festzustellen. Der Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung widmet sich Aufgaben, die sich der öffentlichen Verwaltung und der gewerblichen Wirtschaft i n ähnlicher Weise stellen, d. h. namentlich den technischen Voraussetzungen des Büros: Haushalts- und Rechnungswesen, Arbeitsmittel und Büroeinrichtungen u. dgl. I n seinem Vorstand und Beirat sind die Verbände von Industrie, Handel und Gewerbe, der privaten Banken und Versicherungen, Gewerkschaften, Bundes- und Länderministerien, kommunale Spitzenverbände und Sozialversicherungsträger vertreten 3 9 . Wiederum sind es die großen Branche- und Arbeitnehmerorganisationen, die ebenso wie Verbraucherinteressen auch die Steuerzahlerinteressen wahrnehmen. Steuerzahler- und Verbraucherinteressen haben die Eigentümlichkeit, nicht organisierbar zu sein wie die übrigen, in den vorangehenden Kapiteln dargestellten Interessen 40 . Sie sind allgemein 4 1 . Das bedeutet nicht, daß sie schwach und bedeutungslos sind, wenn auch der einzelne Verbraucher oft das B i l d eines „ r o i fainéant", eines müßigen Königs 4 2 , abgeben mag. Das Überhandnehmen des Konsumentenmotivs ist i m Gegenteil ein Charakterzug unserer Gesellschaft 43 , und unsere öffentliche Meinung ist sehr weitgehend eine Konsumentenmeinung. Die Verbrauchermeinung Frankreichs hat 1952 ein erstaunliches Beispiel für ihr politisches Gewicht gegeben, als sie den Ministerpräsidenten 39 Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft, Jahresbericht 1951/52, Frankfurt 1952, S. 122 ff. Vgl. auch Günther Schmölders, 25 Jahre Forschungsarbeit zur Rationalisierung der Verwaltung in Nordamerika, Beamtenjahrbuch, 17, 1930, S. 272 ff. 40 Es gibt deshalb in der ständisch-korporativen Staatsordnung keine Konsumenten- und Steuerzahlerkorporation, vgl. Adolf Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika Quadragesimo anno, Zeitschr. f. öffentl. Recht, 14, 1934, S. 224. — José Joaquim Teixeira Ribeiro, der Darsteller des portugiesischen Korporativismus, identifiziert in der Lehre von der korporativen Wirtschaft das Wohl der Gemeinschaft mit dem Nutzen der Verbraucher (Licôes de direito corporativo, I, Introduçâo, Coimbra [Coimbra Editora] 1938, S. 130). 41 „On ne sait jamais exactement où trouver les consommateurs qui sont tout le monde" (Georges Scelle , Principes de Droit Public, 1940/41, S. 386). 42 Ein Ausspruch von M . Ramadier, zit. bei Maxime Leroy, Les Tendances du Pouvoir et de la Liberté en France au X X e Siècle, S. 107. 43 Hendrik de Man, Vermassung und Kulturverfall, S. 164.
12*
180
Aktuelle Beispiele organisierter Interessen
A n t o i n e Pinay Reihe
m i t seinem P r o g r a m m
von Monaten
zum
„Rettet den Franc!" für
starken M a n n
gegenüber
der
eine
National-
v e r s a m m l u n g machte, i n der e r z u k e i n e m Z e i t p u n k t ü b e r e i n e z u verlässige M e h r h e i t v e r f ü g t h a t 4 4 . D i e eigentliche O r g a n i s a t i o n der S t e u e r z a h l e r u n d V e r b r a u c h e r i n der Tat der S t a a t 4 5 .
ist
Es ist b e k a n n t , daß d i e französischen R e v o -
l u t i o n e n n i c h t i m Z e n t r u m , s o n d e r n i n den F a u b o u r g s u n d der B a n n m e i l e v o n P a r i s i h r e n A n f a n g n a h m e n u n d sich z u r M i t t e h i n f o r t setzten
u n d steigerten.
Steuerzahler
u n d Verbraucher,
trotz
aller
D e k l a m a t i o n e n w e i t d a v o n e n t f e r n t , der S o u v e r ä n z u sein, s i n d die Bannmeile unserer
Demokratie.
44 Die „Expérience Pinay", deren Leitmotiv die Rückkehr des Vertrauens war, wurde von der öffentlichen Meinung unterstützt, vom Parlament aber ständig unterwühlt; sie endete am 23. Dezember 1952 mit dem Gesamtrücktritt des Kabinetts, einer Kapitulation vor den Intrigen der Couloirs. 45 Maurice Hauriou, Précis de Droit Constitutionnel, Paris (Sirey) 1923, S. 149, Anm.: „Les syndicats de producteurs s'annoncent comme des instruments d'oppression beaucoup plus dangereux que l'Etat puissance publique et, au contraire, il est besoin que celui-ci nous protège contre eux. La véritable qualité économique du citoyen est celle de consommateur, la seule qui soit véritablement égale pour tous, et l'Etat est le grand syndicat des consommateurs dressé contre les syndicats de producteurs." Vgl. auch Harold Laski, A Grammar of Politics, 4. Aufl.. London 1950, S. 69 ff.
Dritter
Teil
Die Adressaten der organisierten Interessenwahrnehmung I n den vorausgehenden Kapiteln sollte an Hand von Beispielen ein B i l d von den Gruppen vermittelt werden, die als Subjekte organisierter Interessen politisch und rechtlich relevant sind. Jede Auswahl und jede Einteilung hat ihre Schwierigkeiten und ihre Probleme. Wenn irgendwo, so mußten sie an diesen sich i n reicher Vielfalt entwickelnden und rasch verändernden Faktoren unseres öffentlichen Lebens hervortreten. Organisationen mußten bislang unerwähnt bleiben, obwohl sie, wie die Flüchtlingsorganisationen i n Deutschland und die Veteranenverbände i n USA, i n einzelnen Staaten eine überragende Bedeutung haben, während sie i n anderen fast völlig zurücktreten. Der Verzicht auf die Beschreibung einer größeren Reihe von Verbänden gestattete es andererseits, einige i m B i l d dieser Organisationen immer wiederkehrende Züge farbiger und lebendiger hervortreten zu lassen, als abstrakte Definitionen und eine m i t dem Bemühen u m Vollständigkeit unternommene Aufzählung allein es vermocht hätten. A u f den folgenden Seiten soll versucht werden, den aktuellen Aktionsradius der Interessengruppen zu bestimmen. Vollständig ausgeführt ergäbe das fast eine enzyklopädische Abhandlung über die gegenwärtige Innenpolitik, gesehen aus der Perspektive ihrer Objekte. Für die Darstellung dieses verschlungenen Interessengeflechts ist i m Rahmen dieser Studie erst recht die Beschränkung auf einige exemplarische Tatbestände notwendig und nach dem bisher Ausgeführten auch möglich. Dabei werden die Orientierungspunkte aus den wichtigsten Richtungen gewonnen, i n denen die Organisationen vorgehen: Interessenwahrnehmung der Gruppen untereinander, gegenüber der öffentlichen Meinung und gegenüber den politischen Instanzen. 1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen Dieser Komplex vielgliedriger Wechselbeziehungen w i r d hier vorwiegend unter vier Gesichtspunkten ins Auge gefaßt: 1. die P a r t n e r s c h a f t und das Aufeinanderangewiesensein der einzelnen Gruppen, ein Verhältnis, das in den Tarifverträgen eine eminente j u r i -
182
Die Adressaten der organisierten Interessenwahrnehmung
stische Institution hervorgebracht hat; 2. ihr Interesse an der S e l b s t ä n d i g k e i t des anderen Partners und ihre g e g e n S t a a t s i n t e r v e n t i o n e n gerichteten Koalitionen; 3. S t r e i k und A u s s p e r r u n g als M i t t e l des Arbeitskampfes; 4. ihr Verhalten nach den Grundsätzen der N e u t r a l i ä t und der P a r i t ä t gegenüber andersartigen Gruppen. I. Interessenorganisationen sind ursprünglich Kampforganisationen. Sie formieren die Gruppen und rüsten sie aus für die immer komplizierter werdende innergesellschaftliche und innenpolitische Auseinandersetzung. Es ist wiederholt davor gewarnt worden, bestehende Interessengegensätze auch noch zu organisieren 1 . Carl Schmitt hat schon vor dem Langnamverein ausgeführt: „Wer Interessen als solche organisiert, organisiert gleichzeitig immer auch Interessengegensätze und steigert durch die Organisierung vielleicht die Intensität der Gegensätze" 2 . Die Fronten verhärten und verfestigen sich durch Organisation, man macht sich gefechtsbereit. Der so verschärfte Interessenkampf kann für die Nation die Gefahr eines latenten Bürgerkrieges heraufführen. Die Frage, ob Organisation deshalb böse sei, verdient aber trotz dieser dunklen Perspektiven keine andere A n t w o r t als die berühmte Frage nach der Bösartigkeit der Macht. Wie gegen Jacob Burckhardt, so kann auch von der Organisation gesagt werden: Beide, Organisation und Macht — keineswegs ungleichartige Phänomene —, haben ein Janusgesicht: sie können sowohl gut als böse sein, je nach dem Gebrauch, der von ihnen gemacht wird. Kein amerikanischer Industriezweig hat mehr, heftigere und blutigere Streiks gekannt als die Textilindustrie — bis die Textilarbeiter sich i n Gewerkschaften organisierten, welche die Rolle des Gesprächs- und Verhandlungspartners gegenüber der Betriebsleitung übernahmen und ein Instrument friedlicher Streitregelung wurden 3 . Heute ist die Be1
Ernst Wolgast, Revision der Staatslehre, Nürnberg 1950, S. 7 und 44, zitiert das sog. Fahlbeck'sche Gesetz: „Vorhandene soziale Gegiensätze darf man nicht auch noch organisieren" (Von dem schwedischen Staatsrechtslehrer Pontus Fahlbeck erschien 1922 die Schrift „Die Klassen und die Gesellsdiaft", die mir nicht zugänglich war). 2 Gesunde Wirtschaft i m starken Staat, Vortrag, gehalten auf der 60. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen am 23. 11. 1932 in Düsseldorf, Mitteilungen des Vereins zur Wahrung . . . („Langnamverein") 1932, Nr. 1, N.F. 21. Heft, S. 27. 3 Lawrence Rogin (Educational Director, Textile Workers Union of America), Labor's Concern for the National Welfare, in Labor's Relation to
1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen
183
kleidungsindustrie das meist zitierte Beispiel für eine vorbildliche Zusammenarbeit zwischen Unternehmern und Gewerkschaften 4 . A n zahlreichen Fällen aus den verschiedenen Branchen ließe sich das erstaunliche Ausmaß solcher Kooperation zwischen Gewerkschaftsleitung und Betriebsführung illustrieren. U m die Konkurrenzfähigkeit und Rentabilität des Betriebes zu sichern oder zu steigern und damit ihren M i t gliedern den Arbeitsplatz zu erhalten, beteiligen sich die Gewerkschaften an den Bemühungen um Steigerung der Produktion und Minderung der Kosten: durch berufliche Schulung der Belegschaft und gegebenenfalls durch Verzicht auf Lohnforderungen, aber auch indem sie notleidenden Unternehmungen u. U. Darlehen aus eigenen Mitteln gewähren, der Betriebsleitung eigene Experten zur Verfügung stellen, Pläne für die Überwindung von Engpässen ausarbeiten usw. 5 . Solche Maßnahmen erfreuen sich i n den Vereinigten Staaten einer besonderen Publizität, w e i l man sich davon einen günstigen Einfluß auf die Betriebsatmosphäre verspricht; sie lassen sich aber auch für Deutschland nachweisen, wo beispielsweise ein Unternehmen der Holzwirtschaft 1951 durch einen Gewerkschaftskredit davor bewahrt wurde, seine Tore schließen zu müssen. Dem liegt das gemeinsame Interesse an dem Gedeihen des Unternehmens zugrunde. Wenn ein Betrieb leistungsfähig ist, genießen die Arbeitnehmer größere Sicherheit und höheres Einkommen, und die Mitgliedszahl der Gewerkschaft bleibt stabil. Diese A r t der Interessenwahrnehmung hat bislang i h r höchstentwickeltes Instrument i n dem Vertrag der General Motors m i t der Church and Community, A Series of Addresses, ed. Liston Pope, New York (Institute for Religious and Social Studies) 1947, S. 13. Vgl. auch Clinton S. Golden , Management-Labor Relations in a Changing Economy, The Annals of the American Academy of Political and Social Science, March 1951 (Labor in American Economy), S. 174 f.: Ein Unternehmen, das hauptsächlich Saisonarbeiter beschäftigte, gedachte, ein neues Lohnsystem einzuführen, das den Bedürfnissen der Arbeiter wie denen des Werkes mehr entgegenkam. Der Plan mißlang, bis die zunächst unorganisierten Arbeiter einer Gewerkschaft beigetreten waren und aus ihren Reihen Sprecher wählen konnten; erst so konnte die Arbeiterschaft die von der Betriebsleitung erbetene Stellungnahme und Kritik formulieren, und es gelang eine reibungslose und zufriedenstellende Durchführung der geplanten Neuerungen. 4 Kurt Braun, Union-Management Cooperation, Experience in the Clothing Industry, Washington (The Brookings Institution) 1947. 5 Fälle dieser Art sind oft dargestellt worden. Statt vieler: „Gewerkschaften und Produktivität", Bericht einer Gruppe britischer Gewerkschaftsfunktionäre, Köln 1951, S. 59 (Fall aus der Textilindustrie), 66 f. (Reorganisation einer Gießerei durch die United Automobile Aircraft and Agricultural Implement Workers of America, U A W - C I O ) und S. 75 ff.; Clinton S. Golden, Management-Labor Relations in a Changing Economy, a.a.O., S. 175 f.
184
Die Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
United Automobile Workers Union (UAW-CIO) vom Jahre 1950 gefunden. Danach hat die Gewerkschaft für die Dauer von fünf Jahren auf Streiks u m Lohnerhöhungen u. dgl. verzichtet. General Motors haben sich für die gleiche Zeit zu einer jährlichen Lohnerhöhung verpflichtet, die dem geschätzten Produktivitätszuwachs entspricht. Eine weitere Bestimmung sieht Lohnerhöhungen und i n begrenztem Maß auch Lohnminderungen vor, je nachdem der Lebenskostenindex steigt oder fällt. A n die Stelle des Lohnkampfes sind hier objektiv feststellbare Kriterien getreten, die außerhalb der beiderseitigen Machtpositionen bestehen. Das ist eine „Rationalisierung" des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, die selbst i n den Vereinigten Staaten etwas völlig Neues bedeutet 6 . A u f dem europäischen Kontinent, wo jene Beziehung durch die Motive des Klassenkampfes vergiftet ist und die syndikalistische Konzeption noch fortwirkt, wäre der Verzicht auf gewerkschaftliche Kampfmittel zugunsten einer Norm eine Umstürzung aller traditionellen Vorstellungen und Gebräuche. I n keinem Land lassen sich so viele und so zahlreiche literarische Belege für das Bewußtsein der Partnerschaft von Kapital und Arbeit und eine dementsprechende Praxis nachweisen w i e i n USA. U m so merkwürdiger ist es, daß die Vereinigten Staaten als Besatzungsmacht i n Deutschland wie i n Japan nach dem Zusammenbruch eine Politik trieben, die das genaue Gegenteil der eigenen inneramerikanischen Praxis und Verhältnisse war. I n Deutschland wie i n Japan 7 w a r es jahrelang ein Dogma der amerikanischen Besatzungspolitik, daß die Demokratie sich nur von „links" aufbauen lasse und i n beiden Ländern die Arbeiterschaft der fruchtbarste Boden f ü r den Samen der „démocratisation" und „reorientation" sei 8 . Während Arbeitgeberverβ Fünf Jahre vorher, schreibt Peter F. Drucker, wäre ein solcher Vertrag noch nicht möglich gewesen (Labor in Industrial Society, The Annais, a.a.O., S. 146). 7 I n Deutschland konnten sich die amerikanischen Ideen unmittelbar zunächst nur in der amerikanischen Besatzungszone auswirken. Es zeigte sich jedoch bald, daß das von starkem Sendungsbewußtsein diktierte Konzept der Amerikaner auch die „Demokratisierung" in der britischen und französischen Zone beeinflußte. I n Japan war theoretisch die Fernost-Kommission zuständig, in der elf Kriegsgegner Japans vertreten waren. Sie erließ auch Instruktionen an den Supreme Commander in Tokio, General Douglas McArthur, die von diesem aber unabhängig ausgelegt werden. 8 Auf die soziologischen, psychologischen und ideologischen Wurzeln dieser Haltung der Besatzungsmacht eines Landes, das als hochkapitalistisch gilt, einzugehen, läßt der Rahmen dieser Arbeit nicht zu. U m das Ausmaß und die Intensität dieser Befangenheit zu kennzeichnen, genügt es, daran zu erinnern, daß die Besatzungsmacht nach dem Zu-
1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen
185
bände zunächst n i c h t gestattet w a r e n 9 , w u r d e n schon i n d e n
ersten
M a i t a g e n 1945 „ i n a l l e n L a n d e s t e i l e n m i t d e n Besatzungsmächten V e r h a n d l u n g e n d a r ü b e r g e f ü h r t , w i e neue G e w e r k s c h a f t e n e r r i c h t e t w e r d e n sollten. D i e K o n t r o l l r a t s d i r e k t i v e N r . 31 v o m 3. J u n i 1946 b e s t i m m t e d a n n gemäß d e n W ü n s c h e n der f ü h r e n d e n G e w e r k s c h a f t l e r , daß neue G e w e r k s c h a f t e n als p a r t e i p o l i t i s c h u n d religiös n e u t r a l e V e r b ä n d e a u f gebaut w e r d e n s o l l t e n " 1 0 . D i e j u n g e n deutschen G e w e r k s c h a f t e n f a n d e n sich so i n e i n e r u n g e w ö h n l i c h e n , p r i v i l e g i e r t e n I n dieser L a g e e r s u c h t e n satzungsmächte verbänden
1 1
.
um
Das ist
die
Gewerkschaften
Zulassung ein erstaunlicher
von
be-
Machtposition. die
Be-
Arbeitgeber-
Vorgang,
der
über
das
sammenbruch Kommunisten selbst dort in Schlüsselpositionen einsetzte, wo ihr Anteil an der Bevölkerung keine 3°/o erreichte und nie ein Kommunist zu einem öffentlichen A m t gewählt worden ist. Als Nachweis für die Situation in Japan genügen zwei Sätze aus dem Aufsatz „Labor Policy in Occupied Japan" von M i r i a m S. Farley: „Labor experts on General MacArthur's staff have evolved for themselves a working philosophy which assumes that the working classes constitute, potentially, the strongest if not the only reliable base for a democratic regime in Japan". „Labor holds the key to the success or failure of the present attempt to convert Japan from a dangerous enemy into a good neighbor" (Pacific Affairs, 20, 1947, S. 131 f.). • Vgl. oben Teil I I , 2, Anm. 42. 10 Ulrich Brisch in der gut informierten Arbeit „Die Rechtsstellung der deutschen Gewerkschaften", Göttingen 1951, S. 24. — I m August 1946 hielten die Gewerkschaften für die Britische Zone ihren ersten Kongreß in Bielefeld. 11 Clark Kerr, Collective Bargaining in Postwar Germany, in der Vierteljahresschrift „Industrial and Labor Relations Review" (hrsg. von der New York State School of Industrial and Labor Relations, Cornell University, Ithaca, Ν. Y.), 5, 1952, S. 324: „ . . . the employers' associations i n postwar Germany were invited back into existence by the unions because the alternative was no collective bargaining at all." I n einer Anmerkung dazu heißt es, daß in der Zeit nach dem Zusammenbruch zwar einige Betriebsräte mit den Arbeitgebern Lohnverhandlungen geführt hätten; aber diese Möglichkeit habe auf die Gewerkschaften keine Anziehungskraft ausgeübt. Ausführlicher heißt es dann auf S. 325: „At the end of World War I I , the occupying powers did not immediately permit the resurgenze of employers' associations, or of other industrial groupings, because of their suspicion of the cartelizing inclinations of German employers. The unions, however, were coming back on a local and state level but found no partners with which to deal. They were accustomed to bargaining with organized employers, so that transfer to a company-by-company basis appeared utterly impossible." Einen weiteren Grund sieht Kerr in der mangelnden Lokalorganisation der deutschen Gewerkschaften. Deshalb seien Lohnverhandlungen innerhalb eines einzelnen Werkes nicht in Frage gekommen. Aber selbst wenn sie möglich gewesen wären, man hätte sich ihrer trotzdem nicht gern bedient, „since the unions were wedded to the concept of uniformity of contractual terms — best, if not solely, achievable through group bargaining. Consequently, t h e u n i o n s r e q u e s t e d t h e o c c u p y i n g p o w e r s t o p e r m i t t h e r e - e s t a b 1 i s h me η t of e m p l o y e r s ' associa-
186
Die Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
Wesen d e r B e z i e h u n g v o n K a p i t a l u n d A r b e i t , v o n
Gewerkschaften
u n d U n t e r n e h m e r v e r b ä n d e n m e h r aussagt, als a l l e D e k l a m a t i o n e n d e r S o z i a l p a r t n e r auszusagen v e r m ö g e n . F ü n f Jahre, b e v o r d e r große V e r t r a g zwischen G e n e r a l M o t o r s u n d d e r U n i t e d A u t o m o b i l e
Workers
U n i o n abgeschlossen w u r d e , k ü n d i g t d i e F o r d e r u n g d e r deutschen Gew e r k s c h a f t e n eine W e n d u n g i n d e m V e r h ä l t n i s v o n K a p i t a l u n d A r b e i t an, die v o r d e m H i n t e r g r u n d der deutschen u n d der europäischen Gewerkschaftsgeschichte
ein A k t
v o n großer Eindeutigkeit
und
Uber-
z e u g u n g s k r a f t ist. D i e S o z i a l p a r t n e r k e h r e n d a m i t z w a r w e i t g e h e n d z u den vor
1933 i n D e u t s c h l a n d ü b l i c h e n O r g a n i s a t i o n s - u n d
Verhand-
l u n g s f o r m e n zurück. Das w e s e n t l i c h Neue, das d e n b e i d e n a m e r i k a n i schen A u t o r e n Kerr
u n d Bendix
ungewöhnlichen
Akt
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politischen
legenen
und
e n t g a n g e n ist, l i e g t aber i n
einer A n e r k e n n u n g
Position
Gegners
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jenem
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über-
mit
ihm
t r e f f e n 1 2 . M a n k a n n sich k a u m eine bessere I l l u s t r a t i o n d a f ü r schen, was P a r t n e r s c h a f t
und Aufeinanderangewiesensein
zu
wün-
bedeuten13.
t i o n s , which began forming in 1946 and 1947" (Hervorhebung nicht im Original). Für die frühe Geschichte der Arbeitgeberorganisationen in der Nachkriegsperiode verweist Kerr in einer Anm. auf D. F. MacDonald, Employers' Associations in Western Germany. Office of Military Government for Germany, (U. S.) Manpower Division, 1949. Es war mir nicht möglich, diese Arbeit einzusehen. Clark Kerr ist Direktor des Institute of Industrial Relations, University of California (Berkeley). Wenn man dem Verfasser auch keineswegs in allen Einzelheiten seines Artikels zu folgen vermag — vor allem die Ausführungen über die innere Struktur der Arbeitgebervereinigungen sind stark von den Zielen der amerikanischen Kartellpolitik beeinflußt — so erscheinen die oben wiedergegebenen Sätze doch wohl begründet: Reinhard Bendix. hat sich unter Berufung auf Kerr die gleiche Auffassung zu eigen gemacht (Social Stratification and Political Power, in der Viertel Jahresschrift „American Political Science Review", 46, 1952, S. 366, Anm. 19). Dr. Günter Grunwald hat mir i. A. des Bundesvorstandes des DGB mit Schreiben vom 29. 1. 1953 bestätigt, daß die Gewerkschaften die Besatzungsmacht nach dem Zusammenbruch aufgefordert haben, auch die Organisationen der Arbeitgeber wieder zuzulassen. „Besonders die damals selbständigen Gewerkschaftsbünde der amerikanischen Besatzungszone haben sich für diese Zulassung eingesetzt." I n dem Arbeitsministerium des früheren Landes Württemberg-Hohenzollern erinnerte man sich jedoch daran, daß bei der französischen M i l i tärregierung von Gewerkschaftsseite g e g e n die Zulassung von Arbeitgeberverbänden Vorstellungen erhoben worden sind. 12 Eine Parallele zu dieser Gewerkschaftsforderung ist die von Carlo Schmid den Besatzungsmächten vorgetragene weitsichtige Auffassung, es sei notwendig, auch eine k o n s e r v a t i v e P a r t e i zuzulassen. 18 F. W. Dalley hat als Vorsitzender einer Kommission des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften in der zweiten Hälfte des Jahres 1950 den Fernen Osten bereist und berichtet von dort, ohne nähere Angabe des
1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen
187
Es ist kein Zufall, daß die Sozialpartner und andere Gruppen gerade i n Zeiten nationalen Unglücks bereit waren, gemeinsam Aufgaben von allgemeinem Interesse in Angriff zu nehmen. Man würde solchen Erscheinungen nicht gerecht werden, wenn man i n ihnen nur Zeugnisse des Expansionsdranges von Organisationen sehen wollte, welche die Schwäche der Staatsgewalt zur Erweiterung ihres Machtbereichs ausnutzen. Es wurde schon am Beispiel der Kirchen dargestellt und verdient hier erneut ins Licht gerückt zu werden, daß i n Augenblicken staatlicher Schwäche und vor allem der Bedrohung von außen das Hervortreten und die Kooperation intermediärer Organisationen fast immer ein A k t von hohem, staatspolitischem Rang ist: n i c h t - s t a a t l i c h e I n s t i t u t i o n e n r e p r ä s e n t i e r e n das n a t i o n a l e I n t e r e s s e und wirken, subsidiär und stellvertretend, an Stelle der verhinderten staatlichen Organe. Der Beitrag der Wirtschaftsverbände zur Erhaltung und Mehrung der nationalen Substanz, namentlich der Kampf der Gewerkschaften gegen die Zerstörung industrieller Anlagen durch die Siegermächte bis ins Jahr 1950 und ihr Verzicht auf Lohnkämpfe zugunsten von Betriebsinvestitionen, sind ein Ruhmesblatt ihrer und der gesamtnationalen Geschichte. Die gleiche Haltung hat n a c h d e m e r s t e n W e l t k r i e g i n der großen V e r e i n b a r u n g zwischen den Spitzenverbänden der industriellen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vom 15. November 1918 ihren Ausdruck gefunden. Schon in den letzten Kriegsjahren hatte die Regierung häufig die beiderseitigen Organisationen herangezogen und i n gemeinsamen Sitzungen zusammengeführt. Jenes Abkommen enthielt nun die ausdrückliche Anerkennung der Gewerkschaften durch die Arbeitgeberverbände. Sie wurden „als die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft" anerkannt und erhielten dadurch gegenüber allen an der Vereinbarung beteiligten Arbeitgeberverbänden wie gegenüber den einzelnen in diesen Verbänden zusammengeschlossenen Arbeitgebern eine Rechtsstellung, die sie zu Verhandlungen über die Gestaltung der Ortes, über eine vergleichbare Initiative von U n t e r n e h m e r n . Wegen des Widerstandes der noch in primitiven Anfängen steckenden Gewerkschaften fand er es besonders bemerkenswert, „that, particularly where they have had government encouragement, the mere influential firms and individual employers, discarding their former individualistic outlock and objectionable forms of paternalism, have been establishing employers' trade unions with the object of negotiating with their opposite numbers and of instituting collective-bargaining machinery and recognising collective contracts as the normal procedure in industry" (The Prospect for Asian Trade Unionism, Pacific Affairs, 24, 1951, S. 301).
188
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Arbeitsbedingungen legitimierte. Art. 165 Abs. 1 Satz 2 WRV hat diese Verhandlungs- und Vertragsfähigkeit auf alle Berufsvereine erweitert und verfassungsmäßig gesichert. Außerdem sah das Abkommen die Errichtung einer Arbeitsgemeinschaft der Sozialpartner vor, die am 4. Dezember 1918 als „Arbeitsgemeinschaft (später umbenannt i n Zentralarbeitsgemeinschaft) der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer" ins Leben trat. Sie hatte einen regional und nach Fachgruppen gegliederten Unterbau. Daneben traten bald ähnliche Arbeitsgemeinschaften des Verkehrsgewerbes, des Handels und der Landwirtschaft. Sie waren „zur gemeinschaftlichen Regelung der die einzelnen Wirtschaftszweige berührenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen" geschaffen u n d sollten vor allem bei dem Übergang von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft mitwirken. Ihre Haupttätigkeit entfalteten sie dann auf dem Gebiet der Lohn- und Arbeitszeitregelung. Die Arbeitsgemeinschaften, deren Zustandekommen namentlich Hugo Stinnes sen. und den Vorsitzenden der Freien Gewerkschaften, K a r l Legten und Theodor Leipart, zu danken war, verloren jedoch bald ihre Bedeutung. Der Druck, den die äußerste Linke, die Unabhängigen Sozialdemokraten und die Kommunisten, auf die Gewerkschaften ausübten, scheint nicht zuletzt für das Scheitern verantwortlich gewesen zu sein. Die Industrie nahm 1930 m i t den Gewerkschaften Fühlung, um die Grundlagen für eine neue Gemeinschaftsarbeit zu legen. Die Vertreter der Gewerkschaften, so w i r d berichtet, lehnten aber „aus taktischen Gründen" ab; entsprechende i m März 1933 unternommene Bemühungen der Industrie seien daran gescheitert, daß die Macht der Gewerkschaften schon gebrochen w a r 1 4 . Dem dritten Gegenstand des Abkommens vom 15. November 1918 kommt dagegen bis heute die allergrößte Bedeutung zu: die inhaltliche Determination der Einzelarbeitsverträge durch Kollektiv- ( T a r i f - ) V e r t r ä g e zwischen Arbeitgeber oder, das ist die Regel, Arbeitgeberverband und Gewerkschaften. Der Interessenkampf zwischen den Sozialpartnern ist durch dieses hervorragende juristische Instrument formalisiert und rationalisiert. Der Gesetzgeber hat die Vereinbarung der Sozialpartner, in der sie sich gegenseitig als tarifvertragsfähig an14
Vgl. zum Ganzen Kurt Apelt, Die wirtschaftlichen Interessenvertretungen in Deutschland, ihr Aufbau, ihr Wesen und ihre Entwicklung, Leipzig 1925, S. 84f.; August Heinrichsbauer, Schwerindustrie und Politik, EssenKettwig 1948, S. 64f.; Walter Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Aufl., Berlin 1928, S. 9 und 281; Heinrich Lechtape, Die deutschen Arbeitgeberverbände, 1926; Fritz Tänzler, Die deutschen Arbeitgeberverbände 1904—1929, 1929.
1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen
189
erkannten, wenige Wochen später, erstmals durch die Verordnung vom 23. Dezember 1918 15 , gesetzlich sanktioniert und die i n jenem Vertrag einander eingeräumten (privatrechtlichen) Rechtspositionen freigebig m i t bedeutenden öffentlich-rechtlichen Privilegien ausgestattet. Der Tarifvertrag bindet die Vertragspartner, in der Regel also die Organisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bzw. deren Spitzenverbände. Tarif gebunden sind aber auch die Mitglieder der Verbände; sie können sich nicht einmal durch Austritt von den Wirkungen des von ihrem Verband abgeschlossenen Vertrages befreien; selbst nach Verlust der Mitgliedschaft bleiben sie bis zum Ablauf des Vertrages gebunden (§ 3 T V G ) 1 6 . A u f der Arbeitnehmerseite werden alle, ob sie organisiert sind oder nicht, i n den Wirkungskreis des Tarifvertrags dadurch einbezogen, daß dieser oft auch Bestimmungen über die Ordnung i m Betrieb enthält, die für alle Arbeitnehmer verpflichtend sind (§ 3 Abs. 2 TVG). Schon insofern reicht also die normative W i r k u n g jedes Tarifvertrags über den Kreis der Verbandsmitglieder hinaus. Sie kann aber auch auf Antrag einer oder beider Tarifparteien durch den Arbeitsminister auf die nicht organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer der Branche i n ihrem ganzen Umfang ausgedehnt werden. Voraussetzung dafür ist lediglich, daß die A l l g e m e i n v e r b i n d l i c h k e i t i m öffentlichen Interesse geboten erscheint und daß der Tarifvertrag schon i n der Branche überwiegende Bedeutung hat. Die letzte Voraussetzung gilt als erfüllt, wenn die tarifgebundenen 15 RGBl. I I , S. 1456; der die Tarifverträge behandelnde Teil dieser V e r ordnung, die auch Bestimmungen über Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten enthielt, wurde später ersetzt durch die VO. über Tarifverträge vom 1. 3. 1928 (RGBl. I, S. 47). Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. 1. 1934 (RGBl. I, S. 45 ff.) ersetzte den Tarif v e r t r a g durch die Tarif o r d η u η g , die durch staatliche Behörden, die Reichstreuhänder der Arbeit, erlassen wurde. Das heutige Tarifrecht beruht auf dem Tarifvertragsgesetz vom 9. 4. 1949, das durch den Wirtschaftsrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet beschlossen wurde und gemäß Art. 125 GG. in seinem Geltungsgebiet als Bundesrecht gilt. Z u den in einzelnen Ländern getroffenen Sonderregelungen und allgemein zum Recht des Tarifvertrages vgl. statt anderer: Erich Fechner, Die Rechtslage des Tarifvertrags in den Ländern der französischen Besatzungszone, Recht der Arbeit, 1950, S. 129 ff.; Alfred Hueck und Hans Carl Nipper dey, Tarif Vertragsgesetz, München 1950; Arthur Nikisch, Arbeitsrecht, Tübingen 1951. Die Praxis der Lohnverhandlungen behandelt Clark Kerr, Collective Bargaining in Postwar Germany, a.a.O., S. 323 ff., bes. S. 332 ff. 10 Über die Bemühungen, auf dem Wege der Auslegung die Bindung des ausgeschiedenen Mitglieds angemessen zu begrenzen (keine Bindung nach Verlängerung oder — das ist bestritten — wesentlicher Abänderung des Vertrages) vgl. Nikisch, a.a.O., S. 312.
190
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Arbeitgeber mindestens 50 % der Arbeitnehmer des Berufskreises beschäftigen, für den der Tarifvertrag abgeschlossen wurde {§ 5 TVG). Ob diese einer Gewerkschaft angehören oder nicht, ist unerheblich. Schon die Tärifverordnung von 1918 hatte den Reichsarbeitsminister zu einer Allgemeinverbindlicherklärung ermächtigt. I m Unterschied dazu hat das Gesetz von 1949 auf Veranlassung der (Militärregierungen ein Verfahren vorgeschrieben, das den nicht organisierten Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestattet, ihre Bedenken vorzubringen. Das hat i n der öffentlichen Verhandlung des mit je drei Vertretern der Sozialpartner besetzten Tarifausschusses zu geschehen; der Ausschuß beschließt i n geheimer Beratung, ob er dem Minister die Allgemeinverbindlicherklärung empfehlen oder sie ablehnen w i l l . Wenn er ihr widerspricht oder wenn ein Beschluß wegen Stimmengleichheit nicht zustande kommt, darf der Minister den Tarifvertrag nicht für allgemeinverbindlich erklären 1 7 . Diese Kautelen dürfen die Tragweite der Allgemeinverbindlicherklärung nicht verdunkeln. Eine Gewerkschaft, die nur einen Bruchteil der Arbeitnehmer einer Branche umfaßt, und Arbeitgeber dieser Branche, die dank ihrer Betriebsgröße zwar 50 °/o der Arbeitnehmer dieses Berufszweiges beschäftigen, i m übrigen aber nur einen Bruchteil der Arbeitgeber ausmachen, können m i t Hilfe der Allgemeinverbindlicherklärung für den gesamten Wirtschaftszweig die Arbeitsbedingung festlegen 18 . E i n e w o h l o r g a n i s i e r t e M i n d e r h e i t v e r m a g so a u c h f ü r d i e n i c h t o r g a n i s i e r t e M e h r h e i t verbindliches R e c h t z u s e t z e n . Die Allgemeinverbindlicherklärung, die nur auf Antrag wenigstens einer Tarifpartei erfolgen kann und inhaltlich an das von den Parteien Vereinbarte gebunden ist, w i r d nach richtiger Auffassung nicht als Rechtsverordnung, sondern als Verwaltungsakt charakterisiert. Die Allgemeinverbindlichkeit endet m i t Ablauf des Tarifvertrages (§ 5 Abs. 5 Satz 2 TVG); sie als Rechtsverordnungen qualifizieren hieße, die Geltungsdauer eines Aktes 17
Einzelheiten bei Nikisch, a.a.O., S. 349 ff. Clark Kerr, dem offensichtlich das Material der amerikanischen Hohen Kommission zur Verfügung gestanden hat, berichtet, daß von den 16 deutschen Industriegewerkschaften nur sechs mehr als 5 0 % der in ihrem Berufskreis tätigen Arbeitnehmer umfassen. Aber auch die übrigen, zu denen die Gewerkschaften Textil und Bekleidung, Lebensmittel, Holz und Bau zählen, haben nach Kerr mehrere hundert Tarifverträge abgeschlossen, die für allgemeinverbindlich erklärt worden sind (Collective Bargaining in Postwar Germany, a.a.O., S. 338). 18
1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen
191
d e r s t a a t l i c h e n Rechtssetzung a n den W i l l e n v o n P r i v a t r e c h t s p e r s o n e n binden19. D i e R e c h t s n a t u r des T a r i f v e r t r a g e s ist s t r i t t i g . D i e v o n Kaskel gründete
und früher
herrschende
Lehre tut der Einheit
20
be-
des T a r i f -
vertrages G e w a l t an, i n d e m sie i h n i n z w e i T e i l e s p a l t e t : d e r n o r m a t i v e B e s t a n d t e i l sei Rechtsetzungsakt u n d b e g r ü n d e d i e T a r i f b i n d i m g der Verbandsmitglieder,
der obligatorische T e i l verpflichte
die
b ä n d e als P a r t e i e n eines s c h u l d r e c h t l i c h e n V e r t r a g e s 2 1 . Jacobi 22 i h m n u r e i n e n k o l l e k t i v e n S c h u l d v e r t r a g sehen w o l l e n : der Arbeitnehmer
Verhat i n
einzelne
oder A r b e i t g e b e r habe sich v o n v o r n h e r e i n d u r c h d e n
E i n t r i t t i n seine O r g a n i s a t i o n d e n B e s t i m m u n g e n eines schon abgeschlossenen oder noch abzuschließenden T a r i f v e r t r a g e s
unterworfen.
D i e A u f f a s s u n g w i r d aber d e m u n a u f h e b b a r e n Rechtssatzcharakter d e r Tarifvereinbarungen
n i c h t gerecht.
Diese
sind
Rechtsnormen
(§ 1 A b s . 1 T V G ) . Sie w e r d e n n i c h t w i e V e r t r ä g e , s o n d e r n w i e Gesetze a u s g e l e g t 2 3 : w e n n sie i n e i n e m u n m i ß v e r s t ä n d l i c h e n W o r t l a u t geschrieltt Ebenso Walter Schmidt-Rimpler, Paul Gieseke, Ernst Friesenhahn und Alexander Knur, Die Lohngleichheit von Männern und Frauen. Zur Frage der unmittelbaren Einwirkung des Art. 3 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes auf Arbeits- und Tarifverträge (Rechtsgutachten des Instituts für Handelsund Wirtschaftsrecht an der Universität Bonn vom 23. Mai 1950); vgl. ferner Hueck, a.a.O., Anm. 42 zu § 5; Nikisch, a.a.O., S. 353 und W. Romberg in der Glosse „Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen und Grundgesetz", Arch.d.öff.Rechts, 77, 1951/52, S. 110 f. I n der Mehrzahl der Fälle scheint der Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung von den Arbeitgebern ausgegangen zu sein. Sie sind daran interessiert, daß die übrigen Betriebe ihres Wirtschaftszweiges auf dem Arbeitsmarkt denselben Bedingungen unterworfen werden und nicht etwa durch Zahlung niedrigerer Löhne ihre Konkurrenzfähigkeit verbessern. Für einen amerikanischen Beobachter wie Clark Kerr ist das Interesse der Gewerkschaften an der Allgemeinverbindlicherklärung weniger einleuchtend, da die Besserstellung ihrer Mitglieder die werbende Kraft der Gewerkschaften auf die nicht organisierten Arbeitnehmer sehr verstärken würde. Kerr folgert daraus mit Recht, daß die Gewerkschaften sich nicht nur als Vertreter ihrer Mitglieder, sondern als r e p r ä s e n t a t i v e s Organ der g e s a m t e n A r b e i t e r s c h a f t ansehen. Die bewußte Bevorzugung von Gewerkschaftsangehörigen etwa bei Sonderzulagen und Weihnachtsgrafikationen ging dagegen, soweit ich sehe, immer von sozialistisch beherrschten, namentlich kommunalen Gremien aus, die offensichtlich ein parteipolitisches Interesse an der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeitnehmer hatten. 20 Vgl. Arbeitsrecht S. 18 ff. 21 Dagegen mit überzeugender Begründung Nikisch, a.a.O., S. 354 f. 22 Erwin Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts, 1927, S. 272 f.; ebenfalls Hueck, a.a.O., Anm. 114 zu § 1 TVG. 23 Nikisch, a.a.O., S. 356 ff., in der Argumentation mit Recht gegen die h. M., die grundsätzlich die für Verträge geltenden Auslegungsprinzipien (§§ 133, 157 BGB) anwendet, aber mit Rücksicht auf die große Zahl dritter Personen besonderes Gewicht auf den erklärten Willen legt und so zu einem fast übereinstimmenden Ergebnis gelangt.
192
Die Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
b e n s i n d , so i s t dieser a l l e i n maßgebend, selbst w e n n er d e m k l a r e n ü b e r e i n s t i m m e n d e n W i l l e n d e r P a r t e i e n w i d e r s p r i c h t , w i e er sich e t w a aus d e n B e g l e i t u m s t ä n d e n e r g i b t . Nikisch
f ü h r t m i t Recht aus, daß die
ganze R e g e l u n g , w i e sie a l l m ä h l i c h g e w o r d e n sei, h e u t e n o c h n i c h t d e n E n d p u n k t der E n t w i c k l u n g e r r e i c h t h a b e u n d k ü n f t i g v i e l l e i c h t noch besser i n d i e G e s a m t o r d n u n g des s t a a t l i c h e n L e b e n s e i n g e f ü g t w e r d e n k ö n n e 2 4 . Diese A u f g a b e k a n n aber n i c h t g e l i n g e n , ohne daß m a n erk e n n t , daß m a n es h i e r m i t e i n e m e i n d e u t i g k o r p o r a t i v e n
Phä-
n o m e n z u t u n h a t , das n i c h t a u t o r i t ä r o k t r o y i e r t , s o n d e r n aus d e n B e d ü r f n i s s e n des w i r t s c h a f t l i c h e n L e b e n s u n d d e m I n t e r e s s e n k a m p f
von
K a p i t a l u n d A r b e i t s p o n t a n gewachsen ist. D e r T a r i f v e r t r a g i s t eine S c h ö p f u n g der A r b e i t g e b e r v e r b ä n d e u n d der G e w e r k s c h a f t e n . D e r Gesetzgeber h a t die v o n i h n e n k r e i e r t e F o r m l e g a l i s i e r t u n d s a n k t i o n i e r t . E r s t a t t e t die T a r i f p a r t e i e n
m i t jener weitreichenden
k o m p e t e n z aus. D e r S t a a t a n e r k e n n t
Rechtsetzungs-
die r e p r ä s e n t a t i v e
Funktion
dieser V e r b ä n d e 2 5 . 24 a.a.O., S. 355. — Ernst Rudolf Huber hat in dem Aufsatz „Beliehene Verbände, Ein Beitrag zu den Rechtsformen des Wirtschaftsverwaltungsrechts" (Deutsches Verwaltungsblatt, 67, 1952, S. 456 ff.) die Frage der Rechtsstellung der Tarifparteien unter einen bemerkenswerten neuen Gesichtspunkt gestellt. Sie werden hier unter die Organisationen eingereiht, die mit Verwaltungsfunktionen betraut sind (z. B. Privatnotenbanken, Verbände mit Markt-, Messe- oder Börsenprivilegien, mit Monopolfunktionen oder der Investitionsverwaltung) und für die Huber den Begriff des beliehenen Verbandes geprägt hat. Die Sozialpartner sind mit der Tarifmacht beliehen, die darin besteht, daß sie durch normsetzende Vereinbarungen objektives Recht schaffen können: „eine auf gesetzlicher Delegation beruhende, von den Partnern gemeinsam auszuübende Rechtsetzungsbefugnis". Auch die überbetrieblichen Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften und die Normsetzungsrechte der Betriebsvertretungen beim Abschluß von Betriebsvereinbarungen zählt Huber zu den gesetzlich verliehenen, öffentlich-rechtlichen Befugnissen dieser Art. Als wesentlicher Unterschied zu den übrigen beliehenen Verbänden wird mit Recht herausgestellt, daß sie k e i n e r s t a a t l i c h e n A u f s i c h t unterstehen (a.a.O., S. 458 f.). 25 Auch das s c h w e i z e r i s c h e Recht kennt die Allgemeinverbindlicherklärung von Verbandsvereinbarungen. Anders als i m deutschen Recht können in der Schweiz nicht nur Gesamtarbeitsverträge, sondern auch andere Beschlüsse und Vereinbarungen von Organisationen, ζ Β. Preisvereinbarungen in der Uhrenindustrie, für allgemeinverbindlich erklärt werden, soweit das Bundesrecht das ausdrücklich vorsieht. Vgl. die Aufstellung bei Hans Georg Giger, Die Mitwirkung privater Verbände bei der Durchführung öffentlicher Aufgaben (Heft 60 der Berner Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen), Bern (Haupt) 1951, S. 147 Anm. 20. Ebenso wie in Deutschland können auch in der Schweiz Verbandsvereinbarungen nur auf Antrag der Verbände für allgemeinverbindlich erklärt werden, und die zuständige Behörde ist in der Regel inhaltlich an die Abmachung der Verbände gebunden. I m übrigen handelt es sich jedoch nicht um ein ganz einheitliches Rechtsinstitut, das nach Giger zwischen den Polen der konsultativen Mitwirkung der Verbände bei der Gesetzgebung und autonomer Rechtsetzung durch den Verband schwankt. Über die
1. Die „Sozialpartner" und andere Interessengruppen
193
II. Gewerkschaften und Unternehmer haben ein Lebensinteresse an der S e l b s t ä n d i g k e i t d e s P a r t n e r s . Die Sozialpartner sind darin der politischen Partei ähnlich, daß sie per definitionem niemals das Ganze darstellen können, sondern selbst von der Koexistenz des anderen, des Gegenspielers abhängen. Die erste Folgerung aus dieser Erkenntnis ist, daß sie sich selbst jeder Interferenz i n Aufgaben und Zuständigkeit des Partners enthalten. A m e r i k a n i s c h e Gewerkschaften treffen die Unterscheidimg mit großer Konsequenz, indem sie sich auf den Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung stellen und die damit gegebene Bewegungsfreiheit, unbelastet von den Aufgaben des Management, voll ausnutzen 26 . Wenn sie Unternehmungen i n der Rationalisierung der Betriebe oder auch durch Kredite unterstützen, so geschieht das nur aus ihrem vitalen Interesse an einem guten Geschäftsgang. Ein solches Eindringen i n unternehmerische Funktionen ist nur eine Nebenwirkung, nicht typisch, sondern akzidentell. Sie sind „existenziell gebunden an Prosperität der Firmen; nur hier gibt es jene contested zone (Sidney Webb), wo die Gewerkschaft fordernd ansetzen k a n n " 2 7 . Auch die e n g l i s c h e n Einrichtungen der „joint consultation between management and workpeople", die sich steigender Beliebtheit erfreuen 28 , obwohl sie nur beratenden Charakter haben, bedeuten Einhelligkeit. Giger charakterisiert sie als ein Rechtsetzungsverfahren, bei rechtliche Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung besteht keine dem den Verbänden „ein maßgebender Einfluß auf die Einleitung des Verfahrens und auf die materielle Ausgestaltung der Normen zukommt" (S. 148 ff.; das Zitat auf S. 154). Andererseits ist auch davon die Rede, daß die „Verbandsregelungen einfach ins öffentliche Verordnungsrecht hinübergenommen werden" und „daß man erwartet, eigentlich solle nur der Verbandswille maßgebend sein, dem sich die Behörden wohl unterordnen müssen" (Schweiz. Arbeitgeber-Zeitung, 1948, S. 862, angef. bei Giger, S. 150 Anm. 27). 26 Vgl. statt vieler die in E. Wight Bakke und Clark Kerr, Unions Management and the Public, New York (Harcourt, Brace & Co.) 1949, S. 316 ff. unter den Titeln „The Right to Manage" und „Union Participation" veröffentlichten Erklärungen der National Labor Relation Conference und die Ausführungen von Lee H. Hill, Charles R. Hook jr., E. J. Kessler, Morris L. Cooke und Philip Murray. Peter F. Drucker hebt hervor, daß Recht und Übung in den Vereinigten Staaten die Kontakte von Union und Management eher auf die Konfliktsituation beschränkt sehen, als daß sie sie zu einer normalen, alltäglichen Beziehung ausweiten wollten (Concept of the Corporation, New York [John Day] 1946, S. 89). 27 Götz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, Die Gewerkschaften am Scheidewege, München 1952, S. 81. „The worst crime of business is, to be without profits" (Samuel Gompers, zit. bei Briefs, a.a.O., S. 82); vgl. auch Selig Perlman , The Basic Philosophy of the American Labor Movement, Annals, March 1951, S. 61; ferner oben Teil I I , 2, Anm. 32. 20 Vgl. die Times vom 18. 9. 1952. 13 Kaiacr, Repräsentation
194
Die Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
keineswegs eine Vermischung, sondern unterstreichen nur die Selbständigkeit der beiden Partner. Selbst i n den verstaatlichten Industrien Großbritanniens hat sich daran i m Grundsatz nichts geändert. Wenn Gewerkschaftsfunktionäre i n ein Governing Board eintreten, so müssen sie vorher aus der Gewerkschaftsbürokratie ausscheiden. Wären sie nicht unabhängig, so würden sie i n einem Board, etwa neben einem ehemaligen Beamten, einem Finanzexperten, einem Ingenieur oder Wissenschaftler, einem A n w a l t und vielleicht einem ehemaligen General oder Luftmarschall, ein Fremdkörper sein. Die Vorstellung von der Neutralität des Civil Service hat sich insofern auf das leitende Organ der verstaatlichten Industrie übertragen. Die strenge britische Auffassung von Inkompatibilität schließt auch Abgeordnete aus 29 . Der Kampf der d e u t s c h e n Gewerkschaften um die Mitbestimmung und ihre gesetzliche Regelung für Kohle und Stahl hebt die alte Unterscheidung zwischen Gewerkschaft und Unternehmertum auf. Die Gewerkschaften werden ein Teil des Management. Paritätische M i t bestimmung hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund verlangt; annähernde Parität hat das Gesetz 30 i h m zugesprochen. Von elf Aufsichtsratsmitgliedern werden fünf von den Arbeitnehmern entsandt, davon drei von der Gewerkschaftsleitung 31 und zwei von den Betriebsräten 3 2 . Der elfte Mann soll unabhängig und neutral sein 3 3 . Er w i r d von den übrigen zehn Aufsichtsratsmitgliedern bzw. von einem paritätischen Vermittlungsausschuß dem Wahlorgan (Hauptversammlung) vorgeschlagen. Kommt eine Wahl nicht zustande, entscheidet auf Antrag das zuständige Oberlandesgericht über die Berechtigung der Ab29 William A. Robson, Nationalised Industries in Britain and France, in The American Political Science Review, 44, 1950, S. 315: „Workers' control, as such, has been rejected". Auch Harold Laski spricht sich entschieden gegen eine Beteiligung der Gewerkschaften am Management aus (Trade Unions in the New Society, S. 156 f.). Zu dem Verhältnis von Kapital und Arbeit in F r a n k r e i c h vgl.: Labor-Management Cooperation in France, Genf (International Labor Office) 1950. 30 Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie, vom 21. M a i 1951, BGBl. I, S. 347 ff. 31 Darunter befindet sich ein Mitglied, das nicht „Repräsentant" einer Gewerkschaft sein und in dem Unternehmen weder als Arbeitnehmer tätig noch an ihm wirtschaftlich wesentlich interessiert sein darf. Entsprechende Vorschriften gelten für eines der fünf Aufsichtsratsmitglieder, die die Eigentümerinteressen im Aufsichtsrat vertreten (§ 4). 32 Außerdem sind die Gewerkschaften in dem dreiköpfigen Vorstand durch den Arbeitsdirektor vertreten. 33 Für den elften Mann gelten dieselben Bestimmungen, wie sie in Anm. 31 für je einen Vertreter von Kapital und Arbeit aufgeführt sind.
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lehnung (§ 8). Die neutrale Justiz ist hier also die letzte Zuflucht i n dem Interessenstreit der Sozialpartner, wenn ihr paritätisch zusammengesetztes Gremium auf dem toten Punkt der Entscheidungsunfähigkeit angelangt ist. Der Aufsichtsrat, das höchste Organ der Betriebsleitung und Verantwortung, ist damit i n zwei etwa gleiche Teile gespalten 34 . Gespalten ist aber auch die Gewerkschaft, da sie nun den natürlichen Antagonismus von Betriebsleitung und Vertretung der Arbeitnehmerinteressen i n sich selbst austragen muß. Daraus können sich selbstzerstörerische Kräfte von explosiver Gewalt entwickeln. Unverkennbare Kräfte dieser A r t haben sich ζ. B. i n „wilden Streiks" und i n anderen Manifestationen des Unwillens der Arbeiter angedeutet, als der Trades Union Congress durch die Labourpartei indirekt m i t i n die Ausübung der Regierungsgewalt engagiert w a r 3 5 . Solche Autoritätseinbußen sind die notwendige Folge, wenn eine Bewegung, „die den Habitus des Forderns i n sich trägt und bei ihren Mitgliedern großgezogen hat", selbst gegen Forderungen einschreiten muß. Es gibt dazu nur eine Alternative, deren Darstellung Götz Briefs breiten Raum gewidmet hat, die „befestigte Gewerkschaft". Sie muß darauf bedacht sein, ihre Mitglieder fest i n der Hand zu halten, damit sie nicht aus dem von der Führung bestimmten Rahmen ausbrechen. Sie tendiert dahin, „ihre Geschäfte bürokratisch und ihre Politik autoritär zu gestalten". „ I n i h r finden die Massen wieder ihren Herrn; ihr 84 Die Neutralität des elften Mannes ist eine Fiktion; in der Praxis scheint man sich von Fall zu Fall dahingehend geeinigt zu haben, daß „für einen elften Mann, der mehr nach der einen Seite liegt, an anderer Stelle ein solcher gewählt wird, der mehr nach der anderen Seite tendiert". Entsprechend ist man bei der Wahl des Vorsitzenden des Aufsichtsrates verfahren (Götz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, S. 120). Bei diesem überbetrieblichen Ausgleich mußte auch die Spitzenorganisation der Eigentümerinteressen mitwirken, da es sonst an dem Partner gefehlt hätte, mit dem dieses Aushandeln hätte getätigt werden können; das Gesetz sieht eine derartige Mitwirkung nicht vor. 85 Die Situation ist mit der durch die Mitbestimmung geschaffenen Lage vergleichbar. Obwohl er nur mittelbar, als Alliierte der Regierungspartei, mit einem Fuß im Regierungslager stand, befand er sich in einem ähnlichen Konflikt. Es verdient angemerkt zu werden, zu welchen Widersprüchen das führt: Selbst wenn eine Gewerkschaft einen wilden Streik als illegal erklärt und die Streikenden zu sofortiger Wiederaufnahme ihrer Arbeit aufgefordert hatte, bestrafte sie doch die Streikbrecher mit Geldbußen und anderen Disziplinarstrafen und bedrohte sie mit dem Ausschluß aus der Gewerkschaft; ja sie zahlte sogar an die Streikenden die vollen Unterstützungsgelder. I n einem Gerichtsverfahren hat die Leitung der Elektrikergewerkschaft erklärt, daß dies einem seit längerer Zeit üblichen Brauch entspreche (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 11. 1951). Welche Gewerkschaft kann i h r e A u t o r i t ä t gegenüber ihren eigenen Mitgliedern in so vollendeter Weise d e s a v o u i e r e n , ohne auf die Dauer schwersten Schaden zu erleiden?
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Aufstand ist vorbei" 3 6 . Daß die Idee der Mitbestimmung weder logisch i n der Richtung der klassischen gewerkschaftlichen A k t i o n liegt, noch auch historisch aus den Gewerkschaften hervorgegangen und von Gewerkschaftsintelligenz konzipiert ist, hat der gleiche A u t o r überzeugend nachgewiesen. I h r geistiger Urheber steht vielmehr i m entgegengesetzten Lager: Heinrich Dinkelbach war Mitglied des Vorstandes der Vereinigten Stahlwerke und wurde 1946 durch den North German Iron and Steel Controller zum Leiter der Treuhand-Verwaltung Eisen und Stahl ernannt; er hat die Gewerkschaftsfunktionäre m i t seiner Idee der Mitbestimmung „sehr überrascht" 3 7 ' 3 8 . Das Interesse der Sozialpartner an ihrer und ihres Partners Selbständigkeit und Unabhängigkeit äußert sich vor allem gegenüber dem S t a a t . Wenn die Industrie verstaatlicht wird, t r i t t an Stelle der Partnerschaft die Unterordnung der Gewerkschaft unter den Staat. I m umgekehrten Fall, wenn ein Staat seine Hand auf die Gewerkschaften legt und Organisationen wie die Arbeitsfront beherrscht, folgt daraus über kurz oder lang die Kontrolle der Unternehmungen i m Namen der Arbeiter. W i r sehen darum Gewerkschaften immer wieder K o r rekturen an den Verstaatlichungsplänen sozialistischer Regierungen vornehmen. I n F r a n k r e i c h haben sie m i t großem Erfolg dem „étatisme" den „tripartisme" der Gewerkschaften, Konsumenten und der öffentlichen Hand entgegengesetzt 39 . I n E n g l a n d ist seiner Zeit die Gewerkschaft der Eisen- und Stahlarbeiter gegen die Verstaatlichung der Eisen- und Stahlindustrie eingetreten 40 . Heute ist der Trades Union Congress der Hort des gemäßigten Elements i n der Labourpartei gegenüber den radikalen Verstaatlichungsplänen der 30
a.a.O., S. 102 ff. Auch der frühere Vorsitzende des Aufsichtsrates der Klöckner Werke AG., Jarres , hat sich in einem Schreiben vom 18. 1. 1947 für eine Art M i t bestimmung der Arbeitnehmer zusammen mit Vertretern der öffentlichen Hand eingesetzt; vgl. Briefs, a.a.O., S. 108 ff. 38 Zum Gegenstand der Mitbestimmung statt vieler: Franz Böhm, Das wirtschaftliche Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer im Betrieb, Düsseldorf 1952; O. von Nell-Breuning, Die Mitbestimmung, Landshut 1950. 39 I n D e u t s c h l a n d hat man versucht, den Begriff „Verstaatlichung" durch „Überführung in Gemeineigentum" zu ersetzen; vgl. Hessische Verfassung Art. 39 ff. Die Praxis und der Rechtsstreit vor dem Hessischen Verfassungsgerichtshof haben bei der Konkretisierung der Definition „Gemeineigentum ist Eigentum des Volkes" (Art. 40) indessen keine wesentlichen Unterschiede gegenüber der hergebrachten Verstaatlichung hervortreten lassen, vgl. oben Teil I I , 1, A n m 14. î0 Alan Bullock in einem Vortrag „Das politische Kräftespiel im heutigen England", den er in Frankfurt gehalten hat (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 12. 1952). 37
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Gruppe u m Aneurin Bevan. I n N o r w e g e n warnt der Gewerkschaftsbund vor den Blankovollmachten, welche die Regierung i n den Entwürfen eines Preisgesetzes und eines Rationalisierungsgesetzes vom Parlament zu verlangen gedenkt. Während die Gesetze fast die gesamte gewerbliche Wirtschaft staatlicher Lenkung unterwerfen, sind Löhne und Arbeitsbedingungen von ihrem Geltungsbereich ausdrücklich ausgenommen. Trotzdem befürchten die Gewerkschaften, daß sie Löhne und Arbeitsbedingungen nicht mehr frei aushandeln können, wenn den Unternehmern Kosten, Preise und Verdienstspannen staatlich vorgeschrieben sind 4 1 . I n S c h w e d e n wehren die Sozialpartner gemeinsam Eingriffe des Staates i n Tarifverhandlungen ab 4 2 . M i t Hilfe von „Garantieabkommen", durch die ein bestimmter Reallohnstandard gewährleistet werden soll, versuchen sie autonom dasselbe zu leisten, was beispielsweise i n Frankreich die Regierung durch Verordnungen über die gleitende Lohnskala zu erreichen sucht. M a n darf erwarten, daß m i t weiteren Interventionen der öffentlichen Hand die reflexartige Bewegung der Abwehr sich verstärkt und u. U. zu einem antistaatlichen Affekt steigert. Dieser w i r d sich in einem funktionierenden demokratischen System m i t seinen Ventilen und Herrschaftschancen nie m i t der berserkerhaften Wucht Bakunins oder der anarchistischen Schärfe des frühen Laski, sondern immer nur sehr nuanciert aussprechen. Wer den Apparat des Staates beeinflußt oder beherrscht, wer seine Hilfe braucht und an seinen Subventionen interessiert ist, w i r d ihn vielleicht wie seine Firma einschätzen oder verachten, aber einen Affekt w i r d er unterdrücken oder i h n gar nicht kennen. Das Gegenteil ist der Fall, wo man gegen staatliche Vormund41 Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 283, vom 14. 10. 1952; Walter Galenson, Labor in Norway, Cambridge, Mass. (Harvard University Press) 1949, S. 329 f. Zu den tiefgreifenden Wandlungen, denen die Gewerkschaftsbewegung unterworfen wurde, seitdem die Arbeiterpartei 1945 mit einer absoluten Parlamentsmehrheit die Regierung übernahm^ S. 316 ff. Die Besorgnisse der schwedischen Gewerkschaften erscheinen durch die Entwicklung in N e u s e e l a n d gerechtfertigt. Unter sozialistischem Regime hatten die Gewerkschaften ihren natürlichen Partner verloren und dafür die unmittelbare Zuordnung zur Staatsgewalt und zunächst zahlreiche neue Rechte eingetauscht. Diese Lage führte schließlich zu heftigen Kämpfen zwischen Regierung und Gewerkschaften, in deren Verlauf diese schwere Machteinbußen erlitten; darüber berichtet Herbert Gross, Sozialismus in der Krise, Frankfurt 1952, S. 81 ff. 42 New York Times vom 16. 9. 1952, Brief an den Herausgeber von Benjamin H. Namm; im übrigen Charles A. Myers , Industrial Relations in Sweden, Some Comparisons with American Experience, Cambridge (Technology Press) 1951; namentlich in zwei Kapiteln über Collective Bargaining und der Darstellung der Labor Management Committees (S. 69 ff.).
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schaft und Kontrolle aufbegehrt, vor allem wo es gilt, Religion oder Kunst vor den Maßstäben einer Funktionärsbürokratie i n Schutz zu nehmen. Die vielschichtige Abneigung gegen staatliche Einmischung kennt viele Intensitätsgrade und unterliegt der Pendelbewegung der geschichtlichen Entwicklung, aber sie ist eine politische Kraft. Sie ist der stärkste Impuls dafür, daß sich Gruppen m i t gleichgerichteten oder heterogenen Interessen vereinen, u m unter eigener Verantwortung Aufgaben zu lösen, die andernfalls verwaltungsrechtliche oder legislative Hoheitsakte herausfordern würden. Preisdisziplin und Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft wurden schon genannt 4 3 . Daneben ist i n einer Zeit, die gigantische M i t t e l für die Reproduktion von Kunst verwendet, der F i l m eine Macht und darum Gegenstand besonderer Interessen. I n einer Reihe von Staaten hat sich die Filmwirtschaft freiwillig Kontrollen der verschiedensten A r t unterworfen, nachdem das eine oder andere ihrer Erzeugnisse zu heftigen Reaktionen der Kirchen und anderer Organisationen geführt hatte und die Einrichtung staatlicher Aufsichtsorgane drohte. I n der deutschen Filmselbstkontrolle ist die Filmwirtschaft und die öffentkeit paritätisch vertreten. Letztere ist durch Beauftragte des Bundes, der Länder, der Kirchen und der Jugendverbände repräsentiert. Sie arbeitet schlecht und recht, aber alle Beteiligten ziehen dieses unvollkommene Organ der schweren Hand einer Staatszensur vor. — I n den Vereinigten Staaten kam es Anfang der 30er Jahre zu scharfen Protesten der katholischen Kirche gegen Filme. Die Hersteller begegneten den Forderungen nach einer Zensurbehörde des Bundes durch Verhandlungen m i t der katholischen Legion of Decency, und man vereinbarte einen „Code of Ethics" („Hays Code"). Neben zahlreichen einzelstaatlichen Censorship Boards spielt der National Board of Review eine gewisse Rolle; er ist eine Einrichtung verschiedener Frauenorganisationen und religiöser sowie pädagogischer Verbände. Ein F i l m findet selten noch Widerspruch, wenn er durch dieses private Organ gebilligt wurde. — Der British Board of F i l m Censors zeichnet eine große Unabhängigkeit aus. Sein Präsident w i r d von einem Ausschuß der Verleiher und Kinobesitzer gewählt und vom Innenminister bestätigt; er ernennt frei die übrigen Mitglieder des Board. Die Kooperation der Sozialpartner i m Arbeitsrecht und die Zusammenarbeit der am F i l m interessierten Verbände sind kennzeichnende Beispiele der wirtschaftlichen und sozialen Selbstverwaltung. I m ein" Vgl. oben Teil I I , 2 mit A n m 18 ff.
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zelnen ihre Grenzen zu bestimmen und rechtsvergleichend die zahlreichen Variationen dieses Themas i n Theorie und Praxis aufzuzeichnen, ist hier weder notwendig noch möglich. Wesentlich ist die beherrschende Tendenz: der staatlichen Intervention i n den wirtschaftlichen und kulturellen Bereich möglichst zuvorzukommen oder sie abzuwehren und zu ersetzen. A n Stelle der staatlichen Norm ist es ein Regime der Verständigung zwischen den interessierten Gruppen bzw. deren Organisationen, das Ordnung stiftet. Die Formeln der Verständigimg sind unterschiedlich und oft nicht klar zu erkennen. Sie kann stillschweigend erfolgen, indem man die Interessen des Partners anerkennt u n d i n seinem Verhalten berücksichtigt. I n der Regel w i r d man i n Verhandlungen versuchen, die Standpunkte zu klären und Kompromisse herbeizuführen. Häufig werden gemeinsame Organe, Vermittlungs-, Prüfungs-, Lenkungsausschüsse u. dgl. geschaffen. Konferenzen der leitenden Persönlichkeiten, Gespräche unter vier Augen, sind oft, besonders wenn die Interessen stark divergieren, besonders wirksam u n d können zu Abreden führen, die möglicherweise geheim bleiben, aber die Politik der Verbände bestimmen. Spitzenverbände vereinbaren zuweilen n u r die Generallinie und setzen den Rahmen, innerhalb dessen die beiderseitigen Fachgruppen berufen sind, Einzelregelungen zu treffen. Die so geschaffene Ordnung ruht auf heterogenen Interessen, die aber verbunden sind i n dem Bewußtsein, daß es besser ist, sich einem Regime zu unterwerfen, für das man selbst m i t konstitutiv ist und das der eigenen, unmittelbaren Einwirkung offensteht, als einem autoritativen und nicht selten als sachfremd empfundenen staatlichen Befehl. Ulrich Scheuner hat i n einem großen und inhaltsreichen Referat unter dem Titel „Die staatliche Intervention i m Bereiche der W i r t schaft, Rechtsformen und Rechtsschutz" 44 hervorgehoben, welche Bedeutung dieser von der Staatsintervention grundsätzlich ausgenommenen und den wirtschaftlichen und sozialen Kräften zur Selbstgestaltung.überlassenen Ordnung zukommt. Für die Beteiligung freier Kräfte an der Wirtschaftsgestaltung ist sie schlechterdings unentbehrlich. Die Ausgrenzung zugunsten einer mehr oder weniger weitgehenden Ver44 Gehalten auf der Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, 1952; vgl. die ausführlichen Leitsätze, veröffentlicht in „Die öffentliche Verwaltung", 5, 1952, S. 689 ff. Adolf Schule hat in dem Korreferat zum gleichen Thema für den arbeitsrechtlichen Bereich festgestellt, daß dort kaum noch staatlich gelenkt werde; das gelte insbesondere bezüglich des Arbeitseinsatzes und der Höhe der Arbeitsentgelte (Leitsätze, Ziff. 11, a.a.O., S. 691).
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
b a n d s a u t o n o m i e b e d e u t e t jedoch keineswegs, daß h i e r die staatliche P l a n u n g s o w i e r e g u l i e r e n d e u n d begrenzende Rechtsgrundsätze
völlig
zurücktreten. „ D e r Raum, den der Staat den Sozialpartnern einräumt u n d i n d e m er i h n e n i n gewissem U m f a n g ö f f e n t l i c h e F u n k t i o n e n f r e i g i b t , ist sachlich b e g r e n z t u n d u n t e r l i e g t d e n l e i t e n d e n der Gemeinschaftsordnung."
Grundsätzen
Sie s i n d b i n d e n d auch f ü r d i e E i n r i c h -
t u n g e n d e r w i r t s c h a f t l i c h e n u n d sozialen S e l b s t v e r w a l t u n g , n a m e n t l i c h auch f ü r die M i t t e l d e r S e l b s t h i l f e w i e d e n S t r e i k 4 5 . III. S t r e i k
und Aussperrung
sind zwei Seiten ein u n d der-
selben Sache; sie s i n d die H a u p t k a m p f m i t t e l i m A r b e i t s k a m p f u n d geh ö r e n u n t r e n n b a r zusammen. K a m p f f r e i h e i t Streik u n d zur Aussperrung.
Das
b e d e u t e t das Recht z u m
eine k a n n
nicht verboten
sein,
w ä h r e n d das andere gestattet ist. A r t . 29 A b s . 5 d e r Hessischen V e r fassung, d e r d i e A u s s p e r r u n g f ü r r e c h t s w i d r i g e r k l ä r t , ist d a r u m w e g e n V e r l e t z u n g des Gleichheitssatzes des Grundgesetzes ( A r t . 3) n i c h t i g 4 6 . S t r e i k u n d A u s s p e r r u n g s i n d die äußersten K o n s e q u e n z e n d e r k l a s sischen V o r s t e l l u n g v o n d e m V e r h ä l t n i s v o n A r b e i t g e b e r n u n d A r b e i t n e h m e r n 4 7 . W e n n auch der Gesetzgeber lange Z e i t gezögert h a t , sie a n z u e r k e n n e n 4 8 , so h a t die Rechtslehre seit d e r W e i m a r e r Z e i t 45
das
Scheuner, Leitsätze Ziff. 12; zum Ganzen vgl. ferner vor allem Ziff. 13, 14, 17, 20, 22 b und 25 ff. 40 Ernst Forsthoff, in Forsthoff-Hueck, Die politischen Streikaktionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes anläßlich der parlamentarischen Beratung des Betriebsverfassungsgesetzes in ihrer verfassungs- und zivilrechtlichen Bedeutung, zwei Rechtsgutachten, Heft 6 der Schriftenreihe der Bundes Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1952, S. 15, und Nikisch, Arbeitsrecht S. 275. I n der Praxis des Arbeitskampfes ist die Aussperrung jedoch eine sehr seltene Erscheinung. I n Deutschland ereignete sich die letzte größere Aussperrung in dem Eisenkonflikt 1927. Er wurde durch einen Schiedsspruch ausgelöst, zu dem der von der Regierung bestellte Schlichter nach Auffassung der Industrie nicht berechtigt war. 47 Sie können hier nur in ihrem staatsrechtlichen Bezug gewürdigt werden. Alle übrigen Aspekte bleiben außer Betracht; von dem politischen Streik wird gesondert (unten Teil I I I , 4) zu sprechen sein. 48 Während die Weimarer Nationalversammlung noch grundsätzliche Bedenken gegen die Anerkennung des Streikrechts hegte, war der Parlamentarische Rat bereit, sie verfassungsmäßig zu gewährleisten. Eine entsprechende Bestimmung unterblieb jedoch, da man sich über die Grenzen des Rechts und die Formen seiner Ausübung nicht einigen konnte (Einzelheiten i m Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F., Bd. I, 1951, S. 116 ff.; vgl. auch ν . Mangoldt, Kommentar zum Grundgesetz, 1950 ff., S. 81, und K. G. Wernicke i m Bonner Kommentar, Erl. I zu Art. 9). I n einer Reihe von Landesverfassungen ist das Streikrecht ausdrücklich anerkannt: Hessen, Art. 29; Rheinland-Pfalz, Art. 66; Bremen, Art. 52; Berlin, Art. 18. Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in dem Beschluß vom 21. Januar 1955 (GS 1/54) entschieden, daß die zum Streik auffordernde Ge-
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Streikrecht mangels ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften als eine Betätigung der natürlichen Handlungsfreiheit für zulässig erachtet 49 . Als Adressat dieser erlaubten Kampfmaßnahme gilt jedoch ausschließlich der soziale Gegenspieler, „und zwar i n der konkreten Gestalt, wie er der kämpfenden Partei oder deren Mitgliedern gerade gegenübersteht" 5 0 . Die Waffe des Streiks bzw. der Aussperrung darf sich nur gegen den anderen Sozialpartner richten. Der Arbeitskampf hat hiernach die Form eines Duells; er ist ausschließlich eine Angelegenheit der Arbeitsmarktparteien und w i r d unter den Augen des Staates und der Gesellschaft ausgetragen 51 . Der Staat wahrt strikte Neutralität 5 2 und ist nicht anders beteiligt, als daß er seine guten Dienste, die Möglichkeiten der Streitschlichtung, zur Verfügung stellt. Für die Ideologie des revolutionären Syndikalismus ist der Streik, die direkte Aktion, das entscheidende Mittel, u m den Sturz der bürgerlichen Gesellschaft herbeizuführen und die Herrschaft des Proletariats zu begründen 53 . Streik und Generalstreik sind Kategorien des Klassenkampfes. Gleichzeitig liegt der Streik aber auch ganz i n der Linie der liberalen Auffassung von Wirtschaft und Gesellschaft und hat als solcher die Billigung der Rechtsordnung erfahren. Das freie Spiel der Kräfte gilt auch für Angebot und Nachfrage der Ware Arbeit, und die Arbeitsmarktparteien sind berechtigt, mit ihrer Leistung zurückzuhalten, wenn das gewährte Entgelt sie nicht befriedigt. Das ist dann ein rein wirtschaftlicher Vorgang, und die konsequente Trennimg von Wirtschaft und Politik ermöglicht und rechtfertigt die Neutralität des Staates. werkschaft und die Arbeiter, die daraufhin die Arbeit ohne Kündigung niederlegen, nicht rechtswidrig handeln, daß andererseits auch der Arbeitgeber für eine legitime Aussperrung die Arbeitsverträge nicht zu kündigen braucht und es in seinem Ermessen steht, ob er die ausgesperrten Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitskampfes wieder einstellen will, falls die Parteien nicht eine Wiedereinstellungsklausel vereinbart haben. Das Wesen von Streik und Aussperrung als einander gleichgeordneter Einrichtungen des Arbeitskampfes kommt darin deutlich zum Ausdruck. 49 Statt anderer Kaskel, Arbeitsrecht, S. 387. 60 Nikisch, Arbeitsrecht, S. 271. 51 Statt anderer vgl. Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 2. Bd., 3. bis 5. Aufl., 1932, S. 649 f.; Süsterhenn-Schäfer, Kommentar der Verfassung von Rheinland-Pfalz, 1950, S. 277; Robert Nebinger, Kommentar der Verfassung von Württemberg-Baden, 1948, S. 61. M Dazu vor allem Forsthoff, Rechtsgutachten, a.a.O., S. 13 f. und Dietrich Schindler, Werdende Rechte, Betrachtungen über Streitigkeiten und Streiterledigung im Völkerrecht und im Arbeitsrecht, Festgabe für Fritz Fleiner, Tübingen 1927, S. 414. 63 Dazu vgl. oben Teil I, 1.
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Der Umstand, daß diese Voraussetzungen längst entfallen sind, daß jeder größere Streik die gesamte Nation auf das schwerste i n M i t leidenschaft zieht und so zu einem Politicum ersten Ranges wird, haben bisher vor allem dazu geführt, daß der Staat seine Vermittlerund Schlichter di ens te zu einem Höchstmaß steigert. Aber die liberalen Grundlagen der Streikpraxis bestehen i m wesentlichen als Fiktionen weiter. Auch durch Streiks provozierte Notstandsmaßnahmen haben diese Fiktionen grundsätzlich nicht angetastet. Aristide Briand hat 1910 als Ministerpräsident, wie schon erwähnt, einen Eisenbahnerstreik dadurch gebrochen, daß er die Streikenden zur Armee einberief 5 4 . I n den Vereinigten Staaten hilft sich die Regierung noch heute dadurch, daß sie einen lebenswichtigen, durch Streik bedrohten Wirtschaftszweig unter die Kontrolle der Armee oder des Präsidenten stellt. Seit August 1950 laufen beispielsweise die Eisenbahnen nominell unter Staatsregie, um Streiks des Personals zur Stützung seiner Lohnforderungen unmöglich zu machen. Dem kommt die i n den Vereinigten Staaten unerschütterte Auffassung entgegen, daß gegen die Regierung unter keinen Umständen gestreikt werden darf. Es ist bereits ausgeführt worden 5 5 , daß dieser Grundsatz wenig begründet erscheint i n einer Wirtschaftsordnung, i n welcher der Staat selbst i n umfangreichem Maße wirtschaftlich tätig w i r d und als Arbeitgeber i n Staatsbetrieben auftritt, die den Gesetzen des Wirtschaftslebens unterworfen sind. Gegen den Staat als Unternehmer kann rechtmäßig gestreikt werden 5 6 ; dem folgt die Streikpraxis auf dem europäischen Kontinent seit langer Zeit. Es ist ein erregendes Phänomen, inmitten der rationalen, perfektionierten Rechtsordnung der europäischen Nationalstaaten sich plötzlich einen Bezirk öffnen zu sehen, i n dem Interessen kollidieren, für deren Lösung jene Rechtsordnung keinerlei M i t t e l bereithält und deshalb den Kampf zulassen muß. Das Arbeitsrecht ist darum ein unvollkommenes Recht und insofern, wie Dietrich Schindler gezeigt h a t 5 7 , eine klare innerstaatliche Analogie zum Völkerrecht. Heute muß man fragen, ob es sich hier u m eine isolierte Erscheinung des Arbeitsrechts oder u m einen Sachverhalt von symptomatischer Bedeutimg handelt. Es hat den Anschein, daß der allgemeine Widerstreit der Interessen 54 85 50 57
Harold Laski, Trade Unions in the New Society, S. 13. s. oben, Teil I I , 5, m i t Anm. 10. Ubereinstimmend wohl Forsthoff, a.a.O., S. 14. I n dem schon angef. Aufsatz „Werdende Rechte".
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u n d Interessenorganisationen i n d e m K a m p f v o n K a p i t a l u n d A r b e i t , i n S t r e i k u n d A u s s p e r r u n g n u r seine äußerste Z u s p i t z u n g e r f ä h r t , gew i s s e r m a ß e n i n e i n e n sozialen A u s n a h m e z u s t a n d ü b e r g e h t , v o n d e m h e r aber k l ä r e n d e s L i c h t a u f d e n I n t e r e s s e n k a m p f
als solchen f ä l l t .
Es b l e i b t s p ä t e r e n A u s f ü h r u n g e n v o r b e h a l t e n , dieses L i c h t z u s a m m e l n u n d i n den Dienst der Erkenntnis
jenes i n t e r m e d i ä r e n
Interessen-
bereiches u n d seiner S t r u k t u r z u stellen. E i n e E i n d ä m m i m g des S t r e i k s m u ß g r u n d s ä t z l i c h ü b e r d i e scheidung
von
lebenswichtigen
und
nichtlebenswichtigen
Unter-
Industrien
u n d B e t r i e b e n erfolgen, d i e j e w e i l s aus d e r k o n k r e t e n S i t u a t i o n
zu
t r e f f e n ist. T r o t z der a n d e r s a r t i g e n a m e r i k a n i s c h e n P r a x i s n ä h e r t m a n sich dieser U n t e r s c h e i d u n g a u c h i n U S A . Sie h a t e i n solches G e w i c h t , daß P e t e r F . Drucker
z ü dem Ergebnis k o m m t : „ W e have begun to
question the right to s t r i k e " 5 8 . 58 „The important thing is that we have come increasingly to regard the strike as an extraordinary and abnormal phenomenon which can be allowed only under definitely prescribed conditions: (1) if it does not interfere with national preparedness; (2) if it does not interfere with the national economy, the welfare, the health, or even the comfort, of the citizens; (3) if it is not directed against a governmental body" (Labor in Industrial Society, The Annals, Nr. 274, March 1951, S. 147). Vgl. auch Richard Ebel, Aufrechterhaltung lebenswichtiger Betriebe in Streikfällen, DÖV, 4, 1951, S. 443 ff., der zu dem bemerkenswerten Ergebnis kommt, daß in den Ländern der Bundesrepublik, deren Verfassungen das Streikrecht gewährleisten, staatliche Maßnahmen zu seiner Beschränkung nur im Wege der Verfassungsänderung möglich sind; wenn durch Streiks öffentliche Notstände hervorgerufen werden, die nicht durch Verständigung mit den Gewerkschaften oder durch freiwillige Arbeitsleistungen behoben werden können, „muß abgewartet werden, bis ein ,Katastrophenfair unmittelbar bevorsteht oder bereits eingetreten ist"! Erst dann könnten auf Grund des § 21 P V G und u. U. § 330 c StGB von der Polizei Personen zu Hilfeleistungen herangezogen werden (S. 446). Ist es noch mit dem Wesen und den Aufgaben eines Staates vereinbar, den auf eine Katastrophe zutreibenden Maßnahmen einer Gruppe abwartend zusehen zu müssen, um dann i m Katastrophenfall auf derart unzulängliche Mittel wie die Heranziehung nicht-polizeipflichtiger Personen gegen eine straff organisierte Macht verwiesen zu sein? Der Regierung ist schon durch ihre Amtspflicht ein schnelles und entschlossenes Handeln geboten (vgl. Lammers-Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich, Bd. 1, S. 273), und sie wird dazu äußerstenfalls in dem ungeschriebenen Notrecht des Staates eine Rechtsgrundlage finden. Das Fehlen ausreichender verfassungsrechtlicher Bestimmungen für den Ausnahmefall ist von Ulrich Scheuner mit Recht als ein gefährlicher Mangel charakterisiert worden, da jenes Notrecht schwer einzugrenzen ist (Der Bereich der Regierung, in „Rechtsprobleme in Staat und Kirche", Festschrift für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 289, Anm. 95). Die Nation wird jedenfalls „einzelnen Maßregeln, die durch einen evidenten Notstand veranlaßt sind, durch bereitwillig ertheilte Indemnitätserklärungen" zustimmen (Rudolf von Gneist, die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlsystem, Berlin 1894, S. 181).
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IV. N e u t r a l i t ä t und P a r i t ä t ist die Reaktion der Interessengruppen auf einen Tatbestand, der allen ständisch-korporativen und pluralistischen Konstruktionen große Schwierigkeiten bereitet: daß der Aufschlußreich ist die Rechtslage in J a p a n , das, ähnlich wie die amerikanische Besatzungszone in Deutschland, teilweise die Rolle eines sozialpolitischen Laboratoriums amerikanischer Wissenschaftler gespielt hat, in dem sich die Grundsätze durchführen ließen, die in USA keine Aussicht auf Verwirklichung haben. Das vom japanischen Parlament im September 1946 verabschiedete Labor Relations Adjustment Law etabliert nach amerikanischem Urteil „much more logical and comprehensive system for adjusting labor disputes than anything so far produced in the United States" (Miriam S. Farley , Labor Policy in Occupied Japan, Pacific Affairs, 20, 1947, S. 134). Es verbietet Streiks in lebenswichtigen Industriezweigen für eine bestimmte Periode, die der Streitschlichtung dient. Es trifft außerdem die Unterscheidung zwischen Staatsbediensteten der Hoheit s Verwaltung und solchen der staatlichen Wirtschaftsunternehmen·. Diese sollten hinsichtlich des Streiks den Arbeitnehmern der Privatwirtschaft gleichgestellt sein, während den Angehörigen der Hoheitsverwaltung das Streikrecht versagt ist. Unter dem Eindruck kommunistischer Gewerkschaftsdemonstrationen forderte der Supreme Commander, General MacArthur, jedoch eine Änderung: Durch Cabinet Order Nr. 201 v. 31. Juli 1948 hat die Regierung allen Staatsbediensteten das Streikrecht entzogen. Aber audi die spätere, von der amerikanischen Besatzung inspirierte Gesetzgebung, die dieses Streikverbot übernommen hat, macht noch einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Arten von Arbeitnehmern i m Staatsdienst: die der Hoheitsverwaltung sind noch weiteren Einschränkungen unterworfen; sie dürfen nur Gewerkschaften beitreten, die nicht tarif fähig sind, und für den Fall der Teilnahme an Arbeitskämpfen sind sie mit schweren Strafen bedroht (vgl. William T> Moran, Labor Unions in Postwar Japan, in dem vom American Institute of Pacific Relations hrsg. Far Eastern Survey, 18, 1949, S. 246 f.). Für die Rechtslage in E n g l a n d vgl. den Fall »National Sailors' and Firemen's Union v. Reed von 1926 (Thomas and Hood Phillips, Leading Cases in Constitutional Law, 8. Aufl., London [Sweet & Maxwell] 1947. S. 292). Das Gericht erklärte den Generalstreik von 1926 für illegal, weil es sich nicht mehr um einen Arbeitskampf gehandelt habe; „no trade dispute does or can exist between the Trades Union Congress on the one hand and the Government and the nation on the other" (S. 293). Der Trade Disputes and Trade Unions Act von 1927 verbot ausdrücklich den politischen Streik und die politische Aussperrung, ist aber durch den Trade Disputes and Trade Unions Act von 1946 aufgehoben worden. Nichtsdestoweniger scheint die von Sir Hartley Shawcross als Attorney-General formulierte Unterscheidung zwischen einem „industrial strike" ohne politische Zielsetzungen und einem „revolutionary strike" (a.a.O., S. 295) Allgemeingut zu sein, wenn auch die Auffassungen über die juristische Begründung der Rechtswidrigkeit des letzteren auseinandergehen. I n diesem Zusammenhang verdient auch eine Entscheidung des S c h w e i z e r i s c h e n Bundesgerichtes (Entscheidungen, 51, 1925, I I , S. 525 ff.) Erwähnung, die nicht einen politischen Streik i m engeren Sinn betrifft, sondern die durch Streikdrohung erzwungene Entlassung eines Arbeitnehmers, der sich geweigert hatte, einer parteipolitisch orientierten Gewerkschaft beizutreten. Es heißt dort: „ . . . Die Förderung politischer Ideen soll vom Standpunkt der guten Sitten aus nicht mit Zwangsmaßregeln, sondern nur i m Wege der Aufklärung und des freien geistigen Meinungsaustausches verfolgt werden. Die Sittenwidrigkeit einer gewaltsamen politischen Beeinflussimg ist ein unerläßliches Korrelat der politischen Freiheit und des allgemeinen Wahlrechts" (S. 531).
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einzelne nicht nur einer einzigen, sondern i n der Regel mehreren oder vielen Gruppen m i t verschiedenen, einander oft widersprechenden Interessen gleichzeitig angehört. Es gibt drei große Kategorien von Interessen, die für jeden mehr oder weniger belangvoll sind: religiöse oder weltanschauliche Interessen, politische und schließlich beruflichökonomische Interessen. Dementsprechend gibt es die Organisationen vom Typ der Kirche, der politischen Partei und der Gewerkschaft. Niemand ist von dem einen oder dem anderen Interesse und der entsprechenden Organisation so völlig absorbiert, daß die übrigen Interessen und Organisationen für i h n völlig gleichgültig sein könnten. Diese Dreiteilung erschöpft natürlich noch nicht die soziale Wirklichkeit; aus den Vereinigten Staaten w i r d berichtet, daß „active joiners" etwa sechzig oder siebzig Vereinigungen angehören. Aber jene drei Kategorien haben universale Bedeutung, und fast jeder einzelne spürt das Gewicht dieser disparaten Interessen, w i r d mehr oder weniger vehement von den entsprechenden Organisationen i n Anspruch, i n Pflicht genommen und ist i n ihrem Bannkreis verortet. Man kann davon ausgehen, daß niemand zwei Organisationen angehört, die innerhalb derselben Kategorie einander kontradiktorisch entgegengesetzte Interessen vertreten. Es wäre absurd, wollte jemand zwei Kirchein angehören. Das Württembergische Gesetz über die K i r chen vom 3. März 1924 schreibt darum vor, daß niemand ohne vorherige Vorlegung einer Kirchenaustrittsbescheinigung des Standesbeamten konvertieren kann (§ 14) 59 . Daß jemand gleichzeitig Mitglied 5tt „Will ein Mitglied einer Kirche zu einer anderen Kirche übertreten, so ist diese verpflichtet, vor der Aufnahme die Vorlegung einer Austrittsbescheinigung des Standesbeamten zu verlangen, es sei denn, daß der Übertritt in Todesgefahr erfolgt" (vgl. Friedrich Haller, Das württembergische Gesetz über die Kirchen, S. 47). Die Verordnung des Kultministeriums über die neueren Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts vom 14. Juli 1928 macht jedoch einen bemerkenswerten U n t e r s c h i e d zwischen K i r c h e n und diesen R e 1 i gionsgesellschaftem. Während nach dem Kirchengesetz Doppelmitgliedschaft schlechthin ausgeschlossen ist, muß bei dem Ubertritt von einer Religionsgesellschaft zu einer anderen nur dann jene Austrittsbescheinigung verlangt werden, wenn die erstgenannte „durch eine bei dem Kultministerium eingereichte Erklärung die Gegenseitigkeit gewährleistet hat" (§ 4 der Verordnung, abgedruckt in „Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, Amtsblatt des deutschen Evangelischen Kirchenbundes" 78, 1929, S. 20). I m Verhältnis jener Religionsgesellschaften untereinander und der Kirchen zu den neueren Religionsgesellschaften ist Doppelmitgliedschaft also grundsätzlich möglich. Dem dürfte die Auffassung zugrunde liegen, daß jene Religionsgesellschaften häufig nur bestimmte religiöse Zielsetzungen haben und nicht den gesamten Bereich des Religiösen ausschöpfen, zudem häufig nur locker organisiert sind. Vgl. auch Eberhard
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zweier verschiedener politischer Parteien ist, mag eine Ausnahme von vielleicht zeittypischer Bedeutung 6 0 sein, ist aber an sich nicht weniger abnorm als das Bekenntnis zu verschiedenen Konfessionen. — Schließlich kann jemand nicht gleichzeitig einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband angehören. Die Praxis hat eine scharfe Unterscheidung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerfunktionen i n den Betrieben entwickelt, über deren Beobachtung die Verbände wachen 61 . Zwischen Organisationen der gleichen A r t gibt es keine Neutralität, sondern sie schließen einander aus. I m übrigen ist es keine Seltenheit, daß die Zugehörigkeit zu zwei oder mehreren Gruppen zu Loyalitäts- und Interessenkonflikten führt. A m schärfsten und nachhaltigsten pflegen sie für zahlenmäßig bedeutende Bevölkerungskreise zu sein, wenn sie das Verhältnis zwischen den drei elementaren Interessenkategorien kennzeichnen. Eine Kirche empfiehlt beispielsweise ihren Gläubigen die Wahl der Kandidaten einer Partei, die die Konfessionsschule zu einem ihrer Programmpunkte gemacht haben, während ein Teil der Gläubigen auf Grund ihrer politischen Auffassungen oder ihres sozial-ökonomischen Standards m i t einer Partei sympathisieren, die die Konfessionsschule ablehnt. Oder eine Gewerkschaft verschreibt sich einem Sozialisierungs- und Kulturprogramm, das m i t dem Glauben ihrer kirchentreuen Mitglieder nicht i n Einklang zu bringen ist 6 2 . Ein anderes Beispiel verzeichnet McKean aus New Jersey: Die League of Women Voters setzte sich für die Sterilisation der Schwachsinnigen ein; Bestrebungen dieser A r t mußten katholische Mitglieder i n Loyalitätskonflikte stürzen 6 3 . Bopp, Der Anspruch der Religionsgesellschaften auf Verleihung der Rechtsstellung einer öffentlichen Körperschaft nach Art. 137 W R V i. Verb. m. Art. 140 BGG, Die öffentl. Verw., 5, 1952, S. 518. 60 I n turbulenten Zeiten kann es aus Gründen der persönlichen Sicherheit, um beruflicher oder geschäftlicher Vorteile willen und dgl. opportun sein, ein zweites Parteibuch zu besitzen. Das mag ein illoyales Verhalten gegenüber einer Partei sein, aber es entsteht daraus kein Interessenkonflikt. Etwas anderes ist es, wenn etwa ein Industrieverband gleichzeitig eine Rechts- und eine Linkspartei unterstützt. Dazu Näheres unten, Teil I I I , 3. 01 Auch nach dem Personalvertretungsgesetz vom 5. August 1955 (BGBl. I, 477) wird deutlich zwischen beiden Funktionen unterschieden: Dienststellenleiter, ihre Vertreter und der verantwortliche Personalsachbearbeiter sind zu den Personalräten nicht wählbar, wohl aber wahlberechtigt (§ 10 Abs. 3); vgl. dazu Walter Grabendorff, Zum Personalvertretungsgesetz für den öffentlichen Dienst, DÖV, 5, 1952, S. 323, mit Anm. 7. 62 Solche Erwägungen finden sich bei Götz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, S. 112 f. 63 Pressures on the Legislature of New Jersey, 1938, S. 224 (zit. von David B. Truman , The Governmental Process, Political Interests and Public
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Solche Konflikte können für die Mitglieder peinlich oder lästig sein, und amerikanische Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß sie i n zahlreichen Fällen nicht durch die Hintansetzung des einen oder anderen Interesses gelöst werden, sondern daß man sich dem Konflikt dadurch zu entziehen versucht, indem man sich etwa der Wahl enthält oder sich sonstwie von b e i d e n Organisationen zurückzieht und die nicht i n Einklang zu bringenden Pflichten und Interessen desavouiert 6 4 . Diese die Wahlenthaltung und die allgemeine politische Indifferenz befördernde W i r k i m g von partikulären Interessenkonflikten, die wie ein Spaltpilz den Volkskörper zerstören, macht ihre Beseitigung zu einer Forderung des nationalen Interesses. Auch für die Organisationen bedeuten solche Konflikte immer eine Beeinträchtigung ihrer Kohäsion. Sie zu vermeiden liegt darum in ihrem eigenen Interesse. Daraus resultiert das Postulat der N e u t r a l i t ä t gegenüber andersartigen Gruppen. Damit hängt eng zusammen das Verlangen nach P a r i t ä t . Sie bedeutet die gleichmäßige Zulassung aller Gruppen und Richtungen, die eine Organisation umfaßt, „unter gleichen Bedingungen und m i t gleicher Berücksichtigung bei der Zuwendung von Vorteilen" 6 5 . Die Personalpolitik ist das wichtigste Anwendungsgebiet dieses Postulats. Beide Begriffe sind vorzüglich i n dem Ringen des souveränen Nationalstaates m i t den auf seinem Staatsgebiet beheimateten Konfessionen entwickelt worden. Sie sind ein Produkt des großen Neutralisierungsprozesses der Neuzeit, der sich nach der Darstellung von Carl Schmitt* 6 i n den säkularen Schritten des europäischen Geistes vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen, dann zum ökonomischen vollzog und i m 19. Jahrhundert auch Opinion, New York [Knopf] 1951, S. 161); vgl. zum Ganzen auch Truman , a.a.O., S. X , 64 und 157 ff., und K a r l Mannheim, Freedom, Power and Democratic Planning, S. 86 f. 64 Paul F. Lazarsfeld, Bernard Berelson and H Gaudet, The Peoples Choice, How the Voter makes up his Mind in a Presidential Campaign, 2. Aufl., New York (Columbia University Press) 1948, chap. 6; Sheldon J. Korchin, Psychological Variables in the Behavior of Voters, unveröffentlichte Harvard Ph. D.-Dissertation, 1946; Martin Kriesberg, Cross-Pressures and Attitudes, A Study of the Influence of conflicting Propaganda on Opinions regarding American-Soviet Relations, Public Opinion Quarterly, 13, 1949, S. 5—16 (angef. bei Truman , a.a.O., S. 162 f.). 65 Carl Schmitt, Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffes der innerpolitischen Neutralität des Staates (1931), in Positionen und Begriffe, Hamburg 1940, S. 159. ββ Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929), a.a.O., S. 120 ff.
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den Monarchen ergriff und ihn zu einem pouvoir neutre sowie den Staat zu einem stato neutrale ed agnostico machte. Dieser große Strom abendländischer Geistesgeschichte drohte schon i m seichten K u l t der Technik und des Positivismus zu versanden, wie der Strom mittelalterlicher Theologie i n der wesenlosen „Technik" spätscholastischer Begriffsstreitereien verebbte. Nun scheint aber der Prozeß der Neutralisierung i n einem weiteren Schritt über den Staat hinaus den vielschichtigen Komplex der zwischen Individuum und Staat vermittelnden Organisationen ergriffen zu haben. Das ist n u n das Ende dieses Prozesses und seine Auflösung i n ein Spektrum höchst verschiedenartiger Neutralitäten: die Parteien 6 7 sollen konfessionell neutral und die Kirchen gegenüber den Parteien und den Sozialpartnern neutral sein: von den Gewerkschaften, Unternehmerorganisationen usw. w i r d konfessionelle und i n geringerem Grade parteipolitische 68 Neutralität erwartet; Organisationen sollen einen ihnen fremden Sachbereich nicht mit anderen Maßstäben messen als solchen, die i n ihrem eigenen Interesse begründet sind: Es ist z. B. das Recht und die Aufgabe der K i r chen, auf dem Fundament von Offenbarung und Uberlieferung ein Lehrgebäude zu errichten, das Prinzipien über die Ordnung von W i r t schaft und Gesellschaft enthält (wie i n den Sozialenzykliken der Päpste) oder, i n ordine ad spiritualia, zu konkreten politischen Fragen Stellung zu nehmen, die das Gewissen der Gläubigen beunruhigen (wie i n den Kundgebungen der katholischen Kirche und der Bekennenden Kirche i m Dritten Reich); aber eine Kirche würde ihre Aufgabe verfehlen, wollte sie etwa einer politischen oder sozialen Restauration m
und Reaktion i m despektierlichen Sinne des Vormärz ihre Autorität 67 Sie müssen hier mitgenannt werden, da sie auch als Teile des Staatsapparates die Spuren ihrer sozialen Herkunft an sich tragen und auf das Verhältnis der Gruppen untereinander von großem Einfluß sind. So können die Beziehungen von Kirche und Gewerkschaft dadurch belastet werden, daß die Kirche eine politische Partei fördert, die von der Gre werkschaft bekämpft wird, oder daß beide mit politischen Parteien sympathisieren, die zueinander in Opposition stehen. 68 I m Hinblick auf solche Parteien, mit denen Teile der Mitgliederschaft sympathisieren. Auch Bebel hat sich wiederholt zum Grundsatz der parteipolitischen Neutralität der Gewerkschaften bekannt (H. Laufenberg, Der politische Streik, Stuttgart 1914, S. 87 und passim). Kautsky sagte jedoch auf dem Parteitag der SPD in Mannheim, 1906, daß die freien Gewerkschaften von der Volksmasse als sozialdemokratisch angesehen werden, „mögen sie sich noch so frei, noch so neutral geben" (Protokoll, Berlin 1906, S. 258). Der Parteitag bestätigte das mit „Sehr richtig" und nahm auch den Resolutionsantrag Kautskys an (a.a.O., S. 305), der besagte, daß die Gewerkschaften von dem Geiste der Sozialdemokratie erfüllt sein müßten. Adolf Braun wollte ihn vor allem mit Rücksicht auf die weiblichen M i t glieder der Gewerkschaften abgelehnt wissen (a.a.O., S. 288).
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leihen; der Idee und den Bedürfnissen einer konfessionell nicht uniformen Demokratie entspricht es zweifellos am besten, wenn zwischen den Kirchen und bestimmten Parteien oder politischen Gruppen keine zu enge Symbiose besteht. — Die Gewerkschaften vollbringen i n ihren Bildungsstätten und als Mäzene der Kunst (ζ. B. i n ihren jährlichen Festspielwochen i n Recklinghausen) kulturelle Aufgaben von hohem Rang, aber sie sind nicht legitimiert, sich polemisch f ü r einen bestimmten weltanschaulichen Charakter der öffentlichen Schulen einzusetzen. Die von allen Seiten erhobene Forderung nach Neutralität enthüllt sich so als Ruf nach einer s a u b e r e n u n d g e t r e u e n D a r s t e l 1 u η g d e r i m Volk lebendigen I n t e r e s s e n , ohne Verfälschung durch die Voreingenommenheiten der die Organisationen regierenden Eliten und ohne die Verzerrungen und hypertrophen Auswüchse, die immer dann eintreten, wenn diese Eliten der Versuchung ihrer Macht erliegen. Natürlich können sich i n dem Ruf nach Neutralität auch heute noch antistaatliche Affekte, syndikalistische und anarchistische A m b i tionen entladen, die gegenwärtig, wo immer sie auftreten, einen deutlichen Zug ins Romantische verraten. Aber weit vorherrschend sind doch das Ressentiment gegen Gruppenegoismus und parteipolitische Taktik und das Bedürfnis nach einer t r a n s p a r e n t e n R e p r ä s e n t a t i o n der Interessen. Dieses ist das letzte Auslaufen der säkularen Bewegung der Neutralisierungen i n die Breite des intermediären Bereichs. Sie hat sich hier noch nicht vollständig durchsetzen können. Ihre Kraft, so scheint es, nimmt ab. Neutralität und Parität des Staates gegenüber zwei großen, annähernd gleich starken Konfessionen oder gegenüber einigen innerpolitisch wichtigen Parteien sind Sachverhalte, die i n einer langen geschichtlichen Entwicklung profilierte, unterscheidbare Merkmale ausgebildet haben. I n den vielgliedrigen und diffusen Beziehungen höchst ungleichartiger Interessen verlieren diese Begriffe ihre geschichtliche Prägung und ihre Evidenz und verblassen zu Schlagworten. M i t der steigenden Kompliziertheit der Daseinsordnungen und der fortschreitenden Komplizierung des gesellschaftlichen Lebens w i r d dieser Tatbestand immer universeller. Der Liberalismus war zu einer uns unerreichbaren Neutralität gegenüber den politischen Gruppen, den Konfessionen und den wirtschaftlichen Interessen fähig, w e i l er zu einer Trennung von Kirche und Staat und von Staat und Wirtschaft die K r a f t besaß und die i m Spiel befindlichen politischen, wirtschaftlichen 14
Kaiser, Repräeentation
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und geistigen 69 Mächte, dem Geist der Zeit folgend, sich zur Bescheidung und Beschränkung ihrer A k t i v i t ä t auf ihre ureigenen Gebiete bereit fanden. N u r so war die liberale Achtung vor der Autonomie der verschiedenen Sachbereiche prinzipiell 7 0 möglich. Jedermann weiß, wie sehr w i r uns von diesem System entfernt haben und immer noch weiter entfernen. Neutralität und Parität sind hier häufig mehr Postulat und Deklamation als ein das Leben und Handeln der Organisationen beherrschendes Prinzip. Viele Gruppen üben nur i n den äußeren Kreisen ihres Wirkens und Handelns Neutralität und Parität, u m bei ihren M i t gliedern desintegrierende Loyalitätskonflikte zu beschwichtigen, A b spaltungen zu verhindern und werbend Anhänger der verschiedensten Richtungen anzuziehen. I n ihrem Kern aber hat, mindestens auf dem europäischen Kontinent, jede starke und eindeutige bestimmte Gruppe ihre Dispositionen zu bestimmten weltanschaulichen, politischen und ökonomischen Wertungen, zu Alliancen und Mesalliancen, zu Freundschaften und Feindschaften. Und sie suchen diesen K e r n nach den verschiedensten Richtungen h i n zu erweitern. Sie umgeben sich mit Trabantenorganisationen aller A r t , mit Jugend-, Sport-, Spiel-, k u l t u rellen und beruflichen Vereinen 7 1 , mit denen sie möglichst vielseitigen und nachhaltigen Einfluß auf ihre Mitglieder ausüben und die so der Expansion ihrer Doktrin wie als periphere Integrations- und Regenerationsorgane dienen. Wichtiger als diese Tendenz zur Beherrschung des Menschen, der gegenwärtig eine allgemeine Organisationsmüdigkeit entgegenwirkt, ist heute die Beherrschung der Sachgebiete. Jede starke Organisation (bzw. ihre Führungsschicht) zeigt heute das Bedürfnis, von allem Kenntnis zu nehmen, zu allem eine Meinung zu äußern, an allen Steuerungen und Regulierungen (es widerstrebt, hier von Entscheidungen zu sprechen) beteiligt zu sein und auf allen Kommandobrücken unserer polyzentrischen Ordnung ein Wort mitzureden. Keine Gruppe kann es sich leisten, dort nicht vertreten zu sein, wo das 69 Trotz des Syllabus von 1864 vollzog auch die katholische Kirche — ratione temporum habita — diese Bewegung, wie der von Ulrich Stutz sogenannte Vorgang ihrer Enttemporalisierung und Spiritualisierung bezeugt. 70 Es ist bekannt, wie sehr die kirchenfeindlichen Trennungsbestrebungen diesem Prinzip i n Wirklichkeit widersprachen, wie heftig es von der katholischen Kirche verurteilt wurde, weil ihr Wesen keine gleichgültige Neutralität erträgt, und daß es sich schließlich als nicht vollständig und konsequent durchführbar erwies. — M i t dem Begriff der Neutralität und seiner Verwirklichung ist es nichtsdestoweniger verbunden. 71 Vgl. die Darstellung von Carl Schmitt in „Der Hüter der Verfassung", Tübingen 1931, S. 83 und passim.
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gegnerische Interesse bereits anwesend ist. Dieser Zwang, den konkurrierenden Einfluß aufzuwiegen und nach Möglichkeit zu übertrumpfen, löst ein Wettrennen der Organisationen in die verschiedensten Sachbereiche aus, das jenem großen Neutralisierungsprozeß diametral zuwiderläuft 7 2 . So wenig w i r für den intermediären Bereich der organisierten Interessen die Neutralität einer absoluten Technizität postulieren, so sehr w i r anerkennen, daß mittelbar die verschiedensten Rücksichten für die Politik einer Gruppe maßgebend werden können, so verderblich scheint es uns, wenn eine Interessengruppe ihre notwendige und unvertretbare Funktion durch Prädilektionen denaturiert, die zu dem von ihr repräsentierten Sachbereich nur eine sehr entlegene Beziehung haben.
2. Die öffentliche Meinung I. Man braucht sich nur das gewohnte B i l d zeitunglesender Abgeordneter in den Parlamenten zu vergegenwärtigen, u m zu wissen, daß die öffentliche Meinung schon weitgehend an die Stelle der parlamentarischen Diskussion getreten ist. Gewiß war das diskutierende Parlament selbst lange Zeit das hervorragendste Organ der öffentlichen Meinung der Gesellschaft und erfüllt auch heute teilweise noch bei besonderen Anlässen diese Funktion. Die modernen Medien der öffentlichen Meinung, die Nachrichtendienste, Dokumentationen und vor allem die m i t großer Schnelligkeit und Exaktheit arbeitende Weltpresse sind jedoch den originären Informationsmöglichkeiten des Parlaments, den Kontakten der Abgeordneten m i t ihren Wählern, weit überlegen und bilden deshalb auch seine wichtigste Informationsquelle neben dem Dokumenten- und Nachrichtenstrom aus den Ä m t e r n der Exekutive. Diese Entwicklung hat das Parlament i n eine Position gedrängt, die durch eine gewisse Ferne von den Fakten gekennzeichnet ist 1 . Das ist ein bedrohlicher Tatbestand i n einer Zeit, die auch alle i m Lande geäußerten Meinungen zunächst einmal als Fakten regi72 Und dazu beiträgt, die Demokratie zu einem so energieverzehrenden und kostspieligen Verfahren zu machen (vgL oben Teil I, 3, Anm. 51, 3. und 4. Absatz). 1 Für Frankreich wird das bestätigt von Alfred Sauvy, Le Pouvoir et l'Opinion, Essai de Psychologie politique et sociale, Paris (Payot) 1949, 5. 74 f.; vgl. auch Sauvy, L'Information, Clef de la Démocratie, in der Vierteljahresschrift Revue Française de Science Politique, 1, Januar—Juni 1951, Nr. 1/2, S. 26 ff.
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striert und verbreitet und die durch das Hervorbringen und Konsumieren großer Mengen von Informationen e i η e A r t k o l l e k t i v e n K u l t e s d e r K o m m u n i k a t i o n m i t d e n M a s s e n treibt. Und mit der öffentlichen Meinung glaubt man, die reinen und unverfälschten Emanationen der demokratischen Massen (besser: die jeweiligen Destillate dieser Emanationen) i n sich aufzunehmen 2 . Die überragende Bedeutung der öffentlichen Meinung äußert sich auch darin, daß man ihr heute mehr oder weniger ausdrücklich die Rolle einer Vierten Gewalt i m Staat zuweist 3 . Man darf diesen untech2 Das Ergebnis ist die Entleerung der argumentierenden öffentlichen Diskussion und ein Uberwiegen des Affektiven und Sensuellen gegenüber dem Intellektuellen. Carl Schmitt macht in diesem Zusammenhang auf Wyndham Lewis, The art of being ruled, London (Chatto and Windus) 1926, aufmerksam, der jene Entwicklung damit erklärt, daß infolge der modernen Demokratie der männliche Typus zurückgedrängt wird und eine allgemeine F e m i n i s i e r u n g eintritt. (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., S. 11, Anm. 1). Evita Perori, die mit größtem Erfolg die öffentliche Meinung Argentiniens beherrschte, nannte unsere Zeit das Jahrhundert des triumphierenden Feminismus. VgL auch das Kapitel „Die Wollust der Schwäche" bei Winfried Martini, Dasi Ende aller Sicherheit, Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954, S. 208 ff. 3 Sauvy, L'Information, Clef de la Démocratie, a.a.O., S. 39; ferner in dem Titel einer Sammlung geistreicher französischer Aufsätze über die Presse in der Vierten Republik, die dort als die bedeutendste Äußerungsform der öffentlichen Meinung, , , I V è m e Pouvoir" benannt wurde (veröffentlicht in der Monatsschrift „La Nef", 7, August-September 1950, Nr. 67/68). Das Verhältnis von Presse und öffentlicher Meinung kann hier nicht in extenso untersucht werden. Die Stimme der Presse ist keineswegs immer die Stimme des Volkes oder einer interessierten Öffentlichkeit. So überraschend gering ihr Einfluß häufig auf den Ausgang von politischen Wahlen ist, so mächtig und zuverlässig ist sie in der Artikulierung der verschiedenartigsten Stimmungen und Strömungen, und so groß ist die prägende Kraft, die auf lange Sicht und je nach dem Gegenstand mit sehr unterschiedlicher Wirkung von ihr ausgeht. Sie ist nach Tradition und Fähigkeit zu präziser Artikulation das vornehmste Ausdrucksmittel der öffentlichen Meinung und wird oft mit ihr identifiziert. Ferdinand Tönnies hat dem Verhältnis von Presse und öffentlicher Meinung einige Seiten seines Werkes „Kritik der öffentlichen Meinung" (Berlin 1922, S. 177—189) gewidmet Auf S. 574 sagt er beiläufig, daß unsere Vorstellung von der öffentlichen Meinung so eng mit dem Wesen der Tagespresse verknüpft ist, „daß Reform und Zukunft der öffentlichen Meinung unabtrennbar scheint von Reform und Zukunft der Zeitungen". Die Bemerkung hat durch die technische Entwicklung anderer Mittel der Meinungsbildung wie Rundfunk und Film nichts von ihrem Wahrheitsgehalt eingebüßt. Das geschriebene Wort ist dem gesprochenen immer noch weit überlegen, und wenn man von Pressefreiheit spricht, meint man oft allgemein Freiheit der Information und der Meinungsäußerung. Dadurch wird auch das Verhältnis der Interessengruppen zu den Faktoren der öffentlichen Meinungsbildung bestimmt. Statt anderer vgl. dazu ferner Werner Friedmann, Presse und öffentliche Meinung, München 1951, und Curtis D. MacDougall, The American Press's Influence on Public Opinion, International Journal of Opinion and Atti-
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nischen Ausdruck nicht pressen. Er veranschaulicht aber eine verbreitete Auffassung von der Bedeutung dieser schwer zu definierenden politischen Kraft. Sie soll Legislative, Exekutive und Justiz überwachen, die ohne Publizität dauernd Gefahr laufen zu korrumpieren 4 . Ist n u n i n der öffentlichen Meinung endlich der ideale Wächter für ein Ephorenamt gefunden worden? Die Erfahrung lehrt, daß ihre Stimme nicht immer rein u n d unverfälscht ist. Die M i t t e l der öffentlichen Meinungsäußerung und Meinungsbildung sind gleichzeitig ein Instrumentarium zur Vervielfachung des Einflusses partikulärer Gruppen, Klassen, Organisationen. II. Ein Staatsrechtslehrer von der Autorität Werner Webers hat dazu eine bedeutsame Feststellung gemacht. Die großen Organisationsgebilde, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und wirtschaftliche Interessenverbände haben vorab dieses gemeinsam, daß sie „ u n g e f ä h r p a r i t ä t i s c h Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung haben" 5 . Ihre M i t w i r k u n g i n zahllosen offiziellen und offiziösen Ausschüssen und Beiräten und ihre Herrschaft über die Presse machen das deutlich. Besonders sichtbar ist ihre paritätische Vertretung i n den Hauptorganen der deutschen Rundfunkträger, i m Hauptausschuß des NWDR. und noch ausgeprägter i n den Rundfunkräten des Rundfunks i n der amerikanischen Besatzungszone6. I n ihnen ist der Einfluß des Staates weitgehend zugunsten jener Gruppen zurückgedrängt. Die Postenbesetzung beim Rundfunk ist deshalb schon fast so schwierig wie eine Kabinettsbildimg 7 . Das ist eine Erscheinung, die nicht nur für den Rundfunk, sondern für fast den gesamten Bereich der öffentlichen Meinungsbildung i n demokratischen Staaten charakteristisch ist. Georges Ripert hat das für Frankreich bezeugt. Er spricht von den Gewerkschaften, dem Conseil national d u patronat français, der Confétude Research, 3, 1949, S. 251 ff., eine Studie, die vorwiegend von den Erfahrungen der amerikanischen Präsidentenwahlen ausgeht. Die Schrift von E. Mannheim, Die Träger der öffentlichen Meinung, Brünn-Leipzig 1933, stand m i r nicht zur Verfügung. 4 „Unless public opinion is alert, intelligent and vigorously expressed, democratic institutions fall prey to all sorts of maladies: inefficiency, corruption, bossismi and bureaucracy" (Harold Zink, Government and Politics in the United States, S. 142); vgl. auch Hans Huber , öffentliche M e i nung und Demokratie in der neueren amerikanischen Staatslehre, Festgabe für Karl Weber, 1950, S. 39 ff. 5 Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, S. 52. β Vgl. die a.a.O., Anm. 14, mitgeteilten Gesetzesstellen. — Ähnliches gilt audi für den Verwaltungsrat von BBC London. 7 Friedrich Sieburg in einem Vortrag in Heidelberg unter Zustimmung der Diskussionsredner (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 11. 1952).
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dération générale de l'Agriculture und von den kleineren Organisationen der Kaufleute, Handwerker, Hausbesitzer, Mieter usw. und sagt von ihnen: „Ces groupements disposent de moyens d'action que n'ont n i le Gouvernement, n i le Parlement. Ils agissent d'une façon incessante sur l'opinion par le meeting, le défilé, le tract, la presse, l'affiche" 8 . Dasselbe w i r d uns für die Vereinigten Staaten bestätigt: „ I n the United States the Government has, on the whole, been weaker than the privileged groups i n manipulating public opinion" 9 . Nur in seltenen Fällen, i n den Schicksalsstunden der Nation, wenn der einzelne mit gewichtigen politischen Entscheidungen von großer Einfachheit konfrontiert w i r d oder wenn elementare rechtliche oder ethische Prinzipien in Frage gestellt werden, ist es möglich, daß sich aus der Tiefe der Volksseele spontan eine öffentliche Meinung formiert: eine überwältigende einheitliche Auffassung (sie bildet sich leichter i m Fall der Bedrohung von außen oder in Fragen der Außenpolitik als an Gegenständen der inneren Politik) oder mehrere miteinander ringende Meinungen nebeneinander. I n der Regel ist die öffentliche Meinung zu konkreten Anlässen bewußt provoziert — um nicht zu sagen: produziert — und organisiert 10 . Auch die den Staatsapparat jeweils beherrschende Parteigruppe oder eine Koalition von Gruppen ist bemüht, die Meinungsbildung zu beeinflussen. Aber die von ihr zu diesem Zweck eingesetzten staatlichen Mittel ändern, indem sie m i t den meinungsbildenden Einflüssen sozialer Gruppen i n Konkurrenz treten, nicht den Charakter der öffentlichen Meinung, die eine Institution der nicht-staatlichen Gesellschaft ist — es sei denn, ein autoritäres Regime unterdrückt jede von der Parteilinie abweichende Regung der Öffentlichkeit. Die Mechanik und die Methoden der Meinungsbeeinflussung sind namentlich i n der amerikanischen Literatur oft beschrieben worden 1 1 . Außer den immer wieder aufgezählten Mitteln wie Presse, Radio, Film, Flugschriften, Versammlungen, Demonstrationszügen, Plakaten, 8
Le Déclin du Droit, 1949, S. 30. David Riesman , Civil-Liberties in a Period of Transition, in Public Policy ed. by Carl J. Friedrich and Edward S. Mason, I I I , 1942, S. 82. 10 Vgl. auch Joseph A. Schumpeter , Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., München 1950, S. 418 ff. 11 Statt anderer Harwood L. Childs , An Introduction to Public Opinion, New York (Wiley) 1940, S. 81 ff.; Leonard W. Doob, Public Opinion and Propaganda, New York (Holt) 1948, S. 397 ff.; Marbury Bladen Ogle jr., Public Opinion and Political Dynamics, New York (Houghton Mifflin) 1950, S. 269 ff.; Joseph S. Roucek and Associates, Social Control, 2. Aufl., New York (van Nostrand) 1949, S. 408 ff. 9
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Großannoncen und dgl. w i r d die nuancenreiche Skala der weniger drastischen und auffallenden Media zu häufig übersehen. Wegen ihrer bedeutenden Publizitätswirkung müssen i n diesem Zusammenhang auch die öffentlichen Gebete der Kirchen genannt werden, m i t denen beispielsweise der Segen Gottes auf einen Landtag herabgefleht wird, der gerade ein Schulgesetz berät 1 2 , oder in denen die Namen von Geistlichen genannt werden, die von den staatlichen Gerichten zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden 1 3 , ganz zu schweigen von Kanzelabkündigungen, Predigten und Hirtenbriefen. — Das S c h u l w e s e n der Organisationen verdient ebenfalls einmal i n der Perspektive des von i h m ausgehenden Einflusses auf die öffentliche Meinung gesehen zu werden. Auch soweit es der Heranbildung eines eigenen Funktionärkorps dient, hat es sehr bedeutende Wirkungen auf die Öffentlichkeit, wodurch das staatliche Interesse an diesen Einrichtungen begründet erscheint. Die vornehmsten Institutionen dieser A r t sind die Hechte der Kirchen an den theologischen Fakultäten der Universitäten und die kirchlichen Schulen und Hochschulen, ehrwürdige Einrichtungen, die großenteils seit Jahrhunderten bestehen 14 . Der Kampf u m das E l t e r n r e c h t auf die Entscheidung der Schulart (Konfessions- oder christliche Gemeinschaftsschule oder auch weltanschaulich neutrale 12 Anordnung des Erzbischöflichen Ordinariats Köln vom 10.3. 1952: „Der Landtag von Nordrhein-Westfalen wird in den nächsten Wochen überaus wichtige Entscheidungen über ein neues Schulgesetz treffen. Bei der großen Bedeutung, die ein solches Gesetz für unsere Kinder und die Zukunft unseres Volkes hat, ordnen wir hiermit an, daß bis Ostern d. J. an den Sonntagen in allen Kirchen und öffentlichen Kapellen unserer Erzdiözese entweder bei einer der heil. Messen oder bei der Nachmittagsandacht ein besonderes Gebet gesprochen wird, um den Segen Gottes für eine glückliche Entwicklung unseres Schul- und Erziehungswesens zu erflehen" (Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, 92, 1952 [vom 15. März] S. 118). 18 Das Ministerium des Innern der Sowjetzone protestierte bei der Kanzlei der Evangelischen Kirche Deutschlands in Berlin gegen Anregungen einiger Landeskirchen in der Sowjetzone, in Gebetgottesdiensten für Gefangene auch die Namen von ungefähr 30 verurteilten Geistlichen zu nennen, und bezeichnete das als eine „unzulässige und unrechtmäßige Einmischung in die Hoheitsrechte des Staates" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 1952). 14 Die Hechte der Kirchen und die Hochschulhoheit des Staates wurden grundgelegt in Art. 149 Abs. 2 WRV, in den Konkordaten und Kirchenverträgen Bayerns, Preußens und Badens und in Art. 19 und 20 des Reichskonkordats. Die Befestigung und Erweiterung der kirchlichen Hochschulkompetenz nach 1945 beleuchtet Werner Weber, Der gegenwärtige Status der theologischen Fakultäten und Hochschulen, i m Tymbos für Wilhelm Ahlmann, Berlin 1951, S. 309 ff. Vgl. auch die Glosse von Herbert Wehrhahn „Vom Kampf um's Promotionsrecht" (evangelisch-theologischer Hochschulen), Juristenzeitung, 1952, S. 156.
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Schulen) w i r d vor allem auch um den Einfluß des Bekenntnisses auf ein so entscheidendes Instrument der Meinungsbildung wie die öffentlichen Schulen geführt. Entscheidend ist aber, daß es sich nur über den Willen der Eltern zur Geltung bringen kann. I n einem von Weltanschauungs- und Interessenparteien beherrschten Staat hat die allgemeine Überzeugung von dem hohen erzieherischen Beruf des {„aufgeklärten") Staates gelitten und hat, i n der Frage des w e l t a n s c h a u l i c h e n Charakters der Schule, das Elternrecht die höhere Legitimation. Erfahrungen mit wechselnden Parteikoalitionen, die bei der Regelung des Schulwesens eine höchst unglückliche Hand zeigten und kurzsichtige Reformen dekretierten, die den Doktrinen einer Parten mehr entsprechen als dem Rat bewährter Pädagogen und dem Mehrheitswillen der Eltern, lassen das Recht der Eltern zur Bestimmung der Schul a r t auch als plausibel erscheinen 15 . — Von völlig anderer A r t ist das ausgebaute Ausbildungswesen der Gewerkschaften, das Abend- und Berufsschulen und wissenschaftliche Akademien umfaßt 1 3 . Sie haben sich seit ihrem Bestehen u m die Ausbildung ihrer Mitglieder bemüht, da sie i n jeder Spezialausbildung geradezu ein Produktionsmittel und i n Sonderqualifikationen der bürgerlichen Klasse ein Leistungsmonopol erblickten 1 7 , das zu brechen sie entschlossen waren. Der Deutsche Gewerkschaftsbund unterhält gegenwärtig acht Bundesschulen, i n denen i n mehrwöchigen Kursen für Funktionäre und Betriebsräte große Gebiete der Gesellschafts- und W i r t schaftswissenschaften, Arbeitsrecht, ferner Verhandlungs- und Vortragstechnik und dgl. behandelt werden. A n erster Stelle steht die Gewerkschaftslehre, die Gegenstände wie Gesellschaft, Staat, W i r t schaft und soziale Organisationen umfaßt und i n der eine A r t Ge15 Die Entwicklung in den meisten demokratischen Staaten tendiert in dieser Richtung; vgl. Robert C. Hartnett S.J., ed., The Right to Educate, Democracy and Religious Education, A Symposium, New York (America Press) 1949. Die staatsrechtliche Problematik ist von Ernst Forsthoff gewürdigt worden („Das Elternrecht, juristisch beleuchtet", Vortrag auf der 5. Plenarsitzung der Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademie in Bad Boll vom 19. bis 22. 4. 1950, in „Christen und Nichtchristen in der Rechtsordnung", Veröffentlichung der Studiengemeinschaft, ohne Ort und Jahr). 16 Harold Laski steht dem Erziehungswesen der Gewerkschaften kritisch gegenüber und hält den Staat für besser geeignet, Bildungsaufgaben wahrzunehmen (Trade Unions in the New Society, S 152). 17 Vgl. Theodor Geiger , Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, S. 86 f. — „La Chambre syndicale . . . l'académie de la profession" (Tolain, zit. bel Georges Lefranc , Le Syndicalisme dans le Monde, Paris [Presses Universitaires de France] 1949, S. 24).
2. Die öffentliche Meinung
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werkschaftsideologie entwickelt wird. Die Zahl der i n diesen Lehrgängen zur Verfügung stehenden Plätze betrug i m Jahre 1952 rund 3600. I n ihnen eröffnen sich gewaltige Möglichkeiten zu theoretischer Arbeit und zur Prägung der öffentlichen Meinung i m Sinne der A u f fassung der Gewerkschaften über ihre Stellung i m Staat, Volk, W i r t schaft und K u l t u r . Außer den Bundesschulen besteht noch eine größere Anzahl von Schulen der verschiedenen Industriegewerkschaften. Als Krönung der gewerkschaftlichen Ausbildung hat die preußische Unterrichtsverwaltung 1920 unter M i t w i r k u n g der drei großen Gewerkschaftsverbände und des Deutschen Beamtenbundes eine Akademie der Arbeit i n Anlehnung an die Universität Frankfurt a. M. errichtet 1 8 . Der Gewerkschaftspresse kommt eine große Bedeutung zu. Amerikanische Gewerkschaften verfügen über eine Anzahl eigener Radiostationen 19 . Der Einfluß der Gewerkschaften reicht darüberhinaus i n die leitenden Gremien von wissenschaftlichen Einrichtungen, die sie durch ihre Beiträge tragen helfen. Das Kuratorium der Hochschule für Politische Wissenschaften i n München beispielsweise ist eine Parallele zu den vori Werner Weber herausgestellten Rundfunkräten. I n i h m sind die Kirchen und die Wirtschaft durch Persönlichkeiten ihres Vertrauens und der Deutsche Gewerksehaftsbund durch den Ersten Vorsitzenden seines Landesbezirks Bayern vertreten 2 0 . — Nicht nur die politischen Wissenschaften, Erziehung überhaupt hat eine politische F u n k t i o n 2 1 ; sie ist ein wichtiger Faktor der öffentlichen Meinungsbil18 Zum Bildungswesen der Gewerkschaften vgl. Adolf Weber, Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, 5. Aufl., 1930, S. 240 ff. Sehr aufschlußreich ist der Bildungsbericht des österreichischen Gewerkschaftsbundes, der in dem „Tätigkeitsbericht 1950" (Wien 1951, S. 165 ff.; vgl. dort auch die Berichte über Presse und Verlag und die Büchergilde Gutenberg, a.a.O., S. 191 ff. und 215 ff.) breiten Raum einnimmt. 19 „Gewerkschaften und Produktivität" Bericht einer Gruppe britischer Gewerkschaftsfunktionäre, Köln 1951, S. 22 f.; vgl. auch S. 39 f. 20 Nach § 3 der Satzung steht es „an der Spitze der Hochschule" und hat „insbesondere die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Hochschule sicherzustellen und verwaltet die Geldmittel der Körperschaft". I n dem Finanzausschuß des Kuratoriums stehen sich u. a. ein Fabrikant und der Vertreter der Gewerkschaften gegenüber (Personen- und Vorlesungsverzeichnis für das WS. 1950/51, S. 4 ff.). 21 Ihr hat V. O. Key ein ganzes Kapitel gewidmet (Politics, Parties and Pressure Groups, S. 645—660). Das darin begründete Interesse der Verbände an Erziehung und Wissenschaft kommt natürlich den Bildungsstätten in Dotationen, oft mit „gebundenen Aufgaben", und auf andere Weise zugute. Die Gefahr, daß die Wissenschaft dadurch zur „ancilla" der Politik oder bestimmter Interessen werden könnte, die Gefahr ihrer Politisierung und Kommerzialisierung ist von Theodor Geiger nachdrücklich hervorgehoben worden (Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949, S. 50).
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
dung und hat darum immer wieder das Interesse der verschiedenartigsten Organisationen erregt 2 2 . Der Einfluß, den Interessengruppen auf die öffentliche Meinungsbildung ausüben, kann die Funktionen dieser „Vierten Gewalt" paralysieren. Zentrale Steuerung und Konzernbildung auf dem Gebiet der Presse, des Rundfunks und der Filmproduktion und die Entartung „überparteilicher" Gremien (im Idealfall Teams unabhängiger Persönlichkeiten verschiedener Herkunft) zu Kartellen mit Einflußquoten steigern die Gefahr. K a r l Mannheim fordert darum, daß das Wachstum und die Ausübung dieser Macht unter öffentliche Kontrolle gestellt werden 2 3 . Hinter dieser Forderung erhebt sich wieder die Problematik des Ephorenamtes einer sog. Vierten Gewalt. Soll der Kontrollierende durch den Kontrollierten überwacht werden? Carl J. Friedrich w i l l auch hier die Justiz bemühen 2 4 . I I I . Gefahren des Mißbrauchs und der Fehlleitung können die konstitutionelle Bedeutung der Öffentlichkeit und ihrer Meinung jedoch nicht verdunkeln 2 5 , öffentliche Meinung ist „die m o d e r n e A r t d e r A k k l a m a t i o n " . Carl Schmitt hat i n seiner Verfassungslehre 26 auf der Grundlage der demokratischen Überlieferung den Faktoren „Öffentlichkeit" und „öffentliche Meinung" eine vollendete Darstellung gewidmet. Die Bestimmung dieser Begriffe orientiert sich an dem Gedankensystem Rousseaus und seinem Prinzip der demokratischen Identität. Das unorganisierte Volk schafft Öffentlichkeit, und zwar durch seine Anwesenheit, durch seine reale Präsenz. „ N u r das anwesende, w i r k l i c h versammelte Volk ist Volk und stellt die öffent22 Weitere Beispiele für das Interesse der Organisationen an Schule und Erziehung bei McKean, Party and Pressure Politics, S. 505 f. 23 Freedom, Power, and Democratic Planning, S. 137. 24 Nach einem Hinweis auf die Aufgabe Oberster Gerichtshöfe, über die Bewahrung der individuellen Freiheit zu wachen, fragt er: „May it not also be possible to „judicialise" press procedure by outlawing certain types of sensationalist disregard for the truth and then leaving it to aggrieved parties to bring their complaints before a court-like body which would consider the evidence?" (Constitutional Government and Politics, S. 448 f., angef. bei Mannheim , a.a.O., S. 345 f.). 25 U m sie zu erkennen, bedarf es nicht der Auseinandersetzung mit den zahllosen Definitionen, die die einschlägige Literatur kennt. Außer der angeführten Literatur sind noch folgende Schriften zu nennen, die zur Kenntnis jenes Phänomens wesentlich beigetragen haben: Walter Lippmann, Public Opinion, New York (Macmillan) 1922; Ders., The Phantom Public, New York (Macmillan) 1930; Alfred McClung Lee, A Definition of Public Opinion, International Journal of Opinion and Attitude Research, I, Nr. 4, Dezember 1947, S. 103 ff. 26 München-Leipzig 1928, Neudruck 1954, S. 243—251; das Zitat findet sich auf S. 246.
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lichkeit her . . . als έκκλησία i n der griechischen Demokratie auf dem Markt; auf dem römischen Forum; als versammelte Mannschaft oder Heer; als Schweizer Landsgemeinde" (S. 243). Die Meinung dieser Öffentlichkeit äußert sich in der hörbaren und sichtbaren Akklamation oder i n der Verweigerung der Akklamation: i m Zuruf, i n Hochrufen und in jubelnder und begeisterter Zustimmimg oder i n Ablehnung, Schweigen und Murren. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung sind also Kategorien der unmittelbaren Demokratie. Schon die Einzelabstimmung und das Wahlgeheimnis, die natürlich als Schutzmaßnahmen gegen Wahlbeeinflussung und andere Mißbräuche ihren Sinn und ihre Berechtigung haben, stehen zu dem Prinzip der unmittelbaren Demokratie und zu den Phänomenen Öffentlichkeit und öffentliche Meinung i m Widerspruch. Erst recht können die modernen Methoden der individuellen Meinungsbefragung keine öffentliche Meinung schaffen oder darstellen. I h r Resultat ist eine Summe von Privatmeinungen, eine volonté de tous, aber kein Gemeinwille, keine volonté générale. Die Prinzipien Rousseaus waren von einer ungeheuren K r a f t und Dauerhaftigkeit. Obwohl sie an den sehr überschaubaren Verhältnissen der „Stadt und Republik von Genf" entwickelt waren, vermochten sie selbst noch das politische System der europäischen Nationalstaaten zu tragen. Eine Feststellung, daß das Volk hier grundsätzlich nicht mehr auf dem Marktplatz durch Zuruf seine politischen Angelegenheiten erledigen konnte, hat niemanden beunruhigt und wurde höchstens als Banalität empfunden. Das Volk war zwar abwesend, aber es wurde durch das Parlament repräsentiert, vergegenwärtigt. Die Volksvertretung ist zwar eine dem Denken Rousseaus durchaus widersprechende Institution 2 7 , aber sie hat die erstaunliche Fortwirkung der Ideen Rousseaus nicht nur nicht behindert, sondern erleichtert und großenteils erst möglich gemacht. Es erhebt sich die Frage, ob auch die modernen Groß- und Massenstaaten eine unveränderte Übertragung Rousseauscher Vorstellungen und Begriffe erlauben, oder ob ihr Anwachsen schon einen Punkt erreicht hat, auf dem ihre Quantität i n eine neue Qualität umgeschlagen ist 2 8 , von der die ehemals gültigen und hilfreichen Kategorien zu Fiktionen verblassen. Die Frage w i r d hier nur mit dem Blick auf Begriff und Phänomen der Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung ge17
Vgl. Contrat Social, I I I . Buch, Kap. 14 und 15. Zu dem Hegeischen Prinzip des Sprungs der Quantität in die Qualität vgl. oben, Einleitung, Anm. 29. 28
2 2 0 D i e Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung s t e l l t . W i r v e r d a n k e n C a r l Schmitt
d e n H i n w e i s auf geheime E i n z e l -
w a h l u n d a p p a r a t h a f t e p r i v a t e M e i n u n g s ä u ß e r u n g 2 9 , die j e n e m ü b e r kommenen Begriff
bereits w i d e r s p r e c h e n . H e u t e s i n d es n i c h t m e h r
n u r die d ü n n e n W ä n d e d e r W a h l z e l l e , d i e d e n S t a a t s b ü r g e r f ü r
die
D a u e r des W a h l a k t e s aus d e m „ V o l k " herauslösen u n d p r i v a t i s i e r e n ; es ist v i e l m e h r d i e politische, soziale u n d „ e m o t i o n a l e O r d n u n g " 3 0 V o l k selbst, d i e a n U n m i t t e l b a r k e i t hundert
aufgetretenen
Massen,
gliedern und organisieren
31
v e r l i e r t , i n d e m sich d i e i m 19. J a h r das
„Volk",
nach
ihren
Interessen
; sie v e r m a g m a n g e l s ausreichender H o m o -
29 Wie eng verwandt die in eine private Sphäre gerückte politische Wahl und die mit Gallup- Methoden erforschte private Meinungsäußerung sind, zeigt die erstaunliche Annäherung der von den Gallup- Instituten gemachten Voraussagen an die tatsächlichen Wahlresultate; die Differenz betrug bei den englischen Parlamentswahlen 1950 nur noch etwa 1 °/o. I n der Bundestagsdebatte über das Haushaltsgesetz 1954 teilte der Abg. Martin Blank mit, daß i m Haushalt für den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes die Mittel zur Erforschung der öffentlichen Meinung in Deutschland von 54 000 auf 100 000 D M erhöht wurden, „da diese Form der Meinungserforschung sich als außerordentlich zuverlässig und zweckmäßig erwiesen hat" (2. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht [7. April 1954], S. 800). I n der gleichen Debatte machte der Abg. Müller-Hermann darauf aufmerksam, daß der Parteivorstand der SPD zur Auflockerung der Diskussion innerhalb der Partei empfohlen habe, demoskopische Umfragen mehr als bisher zu nutzen (a.a.O., S. 812). Die Problematik dieser nach dem Amerikaner George H. Gallup benannten Methoden zur „Erforschung der öffentlichen Meinung" kristalliert sich bei Siegfried Landshut (Volkssouveränität und öffentliche Meinung, Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1953, S. 579 ff.) in der Frage, warum es einer eigenen Veranstaltung und eines ausgeklügelten Verfahrens bedarf, „um dasjenige in Erfahrung zu bringen, was seiner Natur und seinem Begriffe nach öffentlich sein soll". Landshut bemerkt dazu mit Recht, daß das Subjekt der öffentlichen Meinung sich in die unbestimmte Menge der Vielen aufzulösen und an die Stelle der öffentlichen Meinung in sich unbestimmte, stimmungsmäßige Neigungen zu treten drohen (S. 581, 585). Von den nach jenen Methoden registrierten und in Prozentzahlen ausgedrückten verschiedenartigen Meinungen und s t i m m u n g s m ä ß i g e n Neigungen eines anonymen Kollektivs ist eine jedenfalls erst dann „die" öffentliche Meinung, wenn sie sich mit der in diesem Begriff implizierten Eindeutigkeit und Evidenz aus der Sphäre beliebiger Privatmeinungen erhebt. I n der Frage der Evidenz wiegt aber weniger die Zahl der gleichlautenden einzelnen Meinungsäußerungen als vielmehr die in Zahlen kaum meßbare I n t e n s i t ä t der im Spiele befindlichen o r g a n i s i e r t e n I n t e r e s s e n . Die nicht selten zu beobachtende Streikunlust einer Belegschaft, von der sich ein sehr hoher Prozentsatz für den Streik ausgesprochen hat, ist dafür ein treffendes Beispiel. M Dietrich Schindler, Staat und Politik der Gegenwart, in „Recht, Staat, Völkergemeinschaft", S. 178. 81 Politische Parteigruppierungen stehen sich nicht selten in zwei annähernd gleich starken Machtblöcken gegenüber, die sich gegenseitig und dadurch die politische Entscheidungsfähigkeit der Nation in einem Maße aufheben, das an das alte Wort von den z w e i Nationen gemahnt. Die Parität der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen führt zum gleichen Ergebnis im sozial-ökonomischen Bereich. A m wenigstens sind die emotio-
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genität n u r noch selten eine volonté générale und eine öffentliche Meinung i n jenem eminenten Sinn hervorzubringen. Das bedeutet nicht das Ende der öffentlichen Meinung oder auch nur das Ende ihrer politischen Funktion. Es gibt keinen Staat ohne öffentliche Meinung und keine öffentliche Meinung ohne politische Funktion 3 2 . Aber sie ist nur noch ausnahmsweise der „genius of universal p u b l i c i t y " 3 3 und von der Stärke einer volonté générale 34 . Sie ist auch nicht notwendig die Meinung der Majorität, wie eine verbreitete Auffassung w i l l , die auch der berühmte Autor von „The American Commonwealth" v e r t r i t t 3 5 . Die These steht i n schöner Harmonie mit dem demokratischen Postulat der Mehrheitsherrschaft, hält aber den Ergebnissen der modernen Meinungsforschung nicht stand, die über den bedeutenden Anteil, den auch dezidierte Minoritäten an der Bildung der öffentlichen Meinung haben, nicht hinwegsehen kann. Die Öffentlichkeit ist keine Größe, die arithmetisch bestimmt werden kann. Sie ist sich auch keineswegs immer gleich, sondern gegenüber den wechselnden Gegenständen und Inhalten ein höchst unterschiedliches Gebilde. Man kann gewiß ohne Unterschied i n einem keineswegs präzisen Sinn von d e r Öffentlichkeit eines Landes oder gar von der Weltöffentlichkeit sprechen und sich z. B. der beliebten Wendung bedienen: „etwas der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen." Dabei kann es sich u m Belanglosigkeiten handeln, die fast niemand zur Kenntnis n i m m t . Die Formel bedeutet dann aber nichts anderes als: etwas publik machen, veröffentlichen, und hat noch einen ganz diffusen Sinn. Öffentlichkeit i n konkretem Sinn entsteht durch Kenntnisnahme; öffentliche Meinung entsteht durch Interessen a h m e. Man kann auch den staatsrechtlichen Begriff der Öffentlichkeit nicht völlig von den soziologischen und psychologischen Fakten lösen, so sehr man heute die häufige Vermengung juristischer, soziologischer und nalen Grundlagen der Volksordnung von der desintegrierenden Gewalt der organisierten Interessen betroffen. Werden uns aus diesem Wurzelboden heilende Kräfte oder Erinnyen entwachsen, die die Spaltung der Nation grausam rächen werden? 82 Carl Schmitt, a.a.O., S. 247; James Bryce, a.a.O., S. 255. 88 Bryce, a.a.O., S. 364. 84 Rousseau bezeichnet die öffentliche Meinung als eine A r t Gesetz und setzt sie damit in immittelbare Beziehung zur volonté générale (Buch I V , Kap. 7; vgl. auch Buch I I , Kap. 12). 85 Lord Bryce hat sich in einem der ersten Sätze seiner glänzenden Analyse der öffentlichen Meinung, die den I V . Teil seines Werke® füllt, dazu bekannt: „ . . . sometimes merely the views of the majority"; a.a.O., S. 247.
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
psychologischer Kategorien und Methoden auch beklagen muß. I n Athen, Rom und Genf war die Öffentlichkeit eine konkrete, seh- und hörbare Realität: die Volksversammlung. Wenn Begriffe wie die deutsche oder die amerikanische Öffentlichkeit nicht zu einem wertlosen Schemen werden sollen, dann w i r d man der oft unausgesprochen m i t spielenden Vorstellung entsagen müssen, die Öffentlichkeit sei mit der Totalität aller Staatsbürger identisch, die oft m i t der absurden Ermahnung an den ahnungslosen und längst überforderten „Mann auf der Straße" verbunden ist, alle müßten sich für alles interessieren. Für die Volksversammlung der antiken Stadtstaaten wie für den germanischen Heerbann und für die Schweizer Landgemeinde ist physische Anwesenheit das K r i t e r i u m der Öffentlichkeit. Seit langem kann die deutsche Öffentlichkeit nicht mehr physisch präsent werden. Sie w i r d heute auch durch das Parlament nicht vollständig repräsentiert. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung entstehen aber nicht nur i n der Volksversammlung und i m Parlament. Ihre Kriterien sind nicht mehr nur die reale Anwesenheit und die kollektive Unterrichtung und Entscheidung, sondern auch die individuelle Kenntnisnahme und die individuelle Willensäußerung. Letztere hat sich schon i n der geheimen Einzelwahl eine unverzichtbare Institution geschaffen. Der allgemeine Bildungsstand und die technische Entwicklung der Informationsmittel 8 6 geben dem Begriff der Öffentlichkeit eine ungeheure Spannweite und machen ihn potentiell fast allumfassend. I n den Schicksalsfragen der 3e Ulrich Scheuner hat die Öffentlichkeit schaffenden Möglichkeiten der Informationstechnik in der eindringlichen Abhandlung „Grundfragen des modernen Staates" (Recht, Staat, Wirtschaft, I I I , Düsseldorf 1951, S. 142 und 160, Anm. 7) gewürdigt. Sie wurden in Deutschland aus Anlaß der Übertragung großer Bundestagsdebatten (ζ. B. der Wehrdebatten 1952) durch den Rundfunk mit Erstaunen und Überraschung allgemein wahrgenommen. Dabei sind die Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgeschöpft; sie werden durch Fernsehübertragungen und durch die wachsende Zahl privater Fernsehempfänger in den Haushaltungen eine ungeheure Steigerung erfahren. Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß sie Rückwirkungen auf das parlamentarische Verfahren nach sich ziehen und der parlamentarischen Debatte eine neue Bedeutung geben werden. Während die Berichterstattung durch die Presse nur einen sehr indirekten Eindruck verschafft und die für die Öffentlichkeit bestimmte Parlamentstribüne schon wegen ihres beschränkten Raumes in der Demokratie der Massen fast nur eine symbolische Bedeutung haben kann, wird es nun dank der Übertragungstechnik wieder Teilnehmer an Parlamentssitzungen geben, die noch nicht durch die geheimen Verhandlungen und ^Compromisse der Fraktionszimmer und Wandelgänge gebunden sind und die es deshalb mit Argumenten und mit rhetorischer Kunst zu überreden oder zu überzeugen gilt. Diese Teilnehmer, eine je nach dem Interesse des behandelten Gegenstandes große oder kleine Öffentlichkeit, sind der bisher mit Konsequenz ignorierte Souverän, das Volk.
2. Die öffentliche Meinung
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Nation und bei allen Gegenständen von tatsächlich allgemeinem Interesse ist Öffentlichkeit m i t der Totalität der Staatsbürger nahezu identisch. öffentliche Meinung ist dann ein wirklicher „genius of universal publicity" (Bryce) und t r i t t als mächtiger politischer Faktor auf den Plan. Handelt es sich um einen Gegenstand geringen Interesses, ist dementsprechend auch die Öffentlichkeit, die er hervorruft, beschränkt. Durch künstliche Grenzziehungen kann sie dagegen nicht wirksam eingeschränkt werden. Bildungsstand und moderne Informationstechnik heben selbst die physische Impermeabilität eines eisernen Vorhangs weithin wieder auf und bewirken diesseits und jenseits der Elbe eine deutsche Öffentlichkeit und eine deutsche öffentliche Meinung. Aber auch die so geschaffene Öffentlichkeit drängt immer wieder zu einer höheren Form der Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung, zu der durch reale Anwesenheit bewirkten Öffentlichkeit i n der Volksversammlung, i n Massenveranstaltungen. Das machte den Evangelischen Kirchentag 1951 und den Katholikentag 1952, beide i n Berlin, zu einer machtvollen gesamtdeutschen Repräsentation. Daß Öffentlichkeit auf Kenntnisnahme beruht, haben die unter der Leitung von Helmut Schelsky durchgeführten, sehr verdienstvollen Untersuchungen an jugendlichen Arbeitslosen 3 7 bestätigt: Weil die rationale Kompliziertheit staatlich-politischer Vorgänge das Vorstellungsvermögen Jugendlicher überfordert, w e i l diese trotz eines durchaus lebendigen Sachinteresses am politischen Geschehen es intellektuell nicht voll erfassen können, deshalb partizipieren sie nicht an ihm, deshalb ihre Hilflosigkeit und ihre Abwehrreaktionen gegen eine Öffentlichkeit, die ihnen als eine fremde, anonyme und überwältigende Macht gegenübertritt 3 8 . Die antike Öffentlichkeit, wie sie von der 87 Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, hrsg. vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Erarbeitet von der Sozlalwissenschaftl. Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen unter der wissenschaftl. Leitung von Helmut Schelsky, 2 Bde., Köln 1952. Vgl. darin vor allem Schelsky, Die Jugend der industriellen Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit, Bd. I I , S. 269 ff. Für die Beurteilung der Ergebnisse ist es wesentlich, daß die unter der arbeitslosen Jugend erhobenen Daten sich nur als verschärfte Ausdrucksformen der gleichen sozialen Strukturen erwiesen, die in abgeschwächter und gemäßigter Weise auch bei der beruflich tätigen Jugend beobachtet werden konnten (a.a.O., S. 277). 88 Schelsky, a.a.O., S. 304—309. Überzeugend vor allem auch die von Heinz Κ luth in dem Beitrag „Das Verhältnis der ar beitslosen Jugendlichen zum Staat und zur Politik" zusammengetragenen Erhebungen (Bd. I I , S. 209 ff.), aus denen Schelsky mit Recht schließt, daß eine vermeintlich autoritäre Einstellung der Jugendlichen keineswegs von ihrer sozialen Herkunft, früheren Zugehörigkeit zur H.J. usw. abhängt, „sondern eher von Faktoren
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Volksversammlung konstituiert wurde, hatte die Anziehungskraft eines erhebenden Schauspiels oder einer schon fast zirzensischen Attraktion. Die der modernen Demokratie zugeordnete Form der Öffentlichkeit stößt dagegen häufig auf Indifferenz, Reserve oder feindselige Ablehnung der Staatsbürger, weil sie so hohe Ansprüche an ihre Verständnisfähigkeit stellt, so daß mancher nach einer einfacheren und klareren politischen Ordnung verlangt, mit der er sich vertraut machen kann. Dem abstrakt-rationalen System der Demokratie ist Publizität durch intellektuelle Aufklärung besonders gemäß. Die Demokratie der Massen w i r d sich aber noch u m andere publizitätssteigernde Medien bemühen müssen, die auch wieder stärker die von Dietrich Schindler sog. „emotionale Ordnung" ansprechen und zum Tragen bringen. Das w i r d besonders erschwert durch den Umstand, daß sich „Gremien und Organisationen an die Stelle tragender Einzelpersonen i n die Führungs- und R e p r ä s e n t a n t e n s t e l l e n " 3 9 einbauen; andererseits sind es aber gerade diese Organisationen, die i n steigendem Maße als neuartige Medien der Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung in Funktion treten. IV. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung werden nicht nur durch Individuen konstituiert. Die an den ungegliederten und amorphen Massen entwickelte Vorstellung von der Öffentlichkeit ist falsch, w e i l es diese Massen kaum noch gibt. Auch und gerade wenn die Vertreter von O r g a n i s a t i o n e n und I n s t i t u t i o n e n einen Sachverhalt zur Kenntnis und daran Interesse nehmen, ensteht Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Wenn ζ. B. den Vertretern der Industrie und der Gewerkschaften und geladenen Journalisten vertraulich von einem politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Debakel berichtet w i r d und sich i n diesem geschlossenen Kreis Meinungen bilden über mögliche Gegenmaßnahmen, die Beseitigung der Folgen, die Verantwortlichkeit, über die Konsequenzen für die Lohnpolitik, über die Methoden einer allmählichen Vorbereitung des Publikums durch die Presse usw., dann ist das etwas völlig anderes, als wenn das gleiche Ereignis unter den gleichen Bedingungen einer gleichen Zahl von Privatpersonen zur Befriedigung ihrer Neugierde mitgeteilt w i r d und diese sich über dieselben Komplexe ihre Meinung bilden. Das hat m i t öffentwie dem Grad der Schulbildung, dem Alter usw., also deutlich von Faktoren der Verständnisfähigkeit" (a.a.O., S. 308). se Schelsky, a.a.O., S. 305 (Sperrung durch mich).
2. Die öffentliche Meinung
lichkeit nichts zu tun, während w i r es i m ersten Fall m i t einer qualifizierten Öffentlichkeit und öffentlichen Meinung zu tun haben. Die Vertreter von Industrie und Gewerkschaften repräsentieren hier die von ihnen vertretenen Interessen, während die Vertreter der Presse das Interesse der Leser an schneller und vollständiger Information repräsentieren, ein Interesse, das zwar nicht organisiert, das aber i n der demokratischen Einrichtung der Presse i n s t i t u t i o n a l i s i e r t ist. Vertrauliche Mitteilungen an Interessenvertreter und Journalisten sind i m öffentlichen Leben außerordentlich häufig. Der Grund dafür ist unmittelbar einsichtig: Man w i l l dadurch an das Verständnis und die Unterstützung der Industrie, der Arbeiterschaft und der öffentlichen Meinung appellieren, ohne doch den Sachverhalt der „Öffentlichkeit" i n jenem völlig unbestimmten und diffusen Sinn preisgeben zu müssen. Das Risiko des Vertrauensbruchs ist gering. Das Beispiel illustriert darum gleichzeitig eine Beschränkung, der sich zu unterwerfen die Sonderinteressen jeden Tag zugunsten des höheren, „öffentlichen Interesses" bereit sind. öffentliche Meinung ist auch heute noch, wie Carl Schmitt es formuliert hat, „die moderne A r t der Akklamation". Aber sie ist nicht mehr nur die Akklamation durch Individuen, sondern sie ist vor allem die Akklamation durch jeweils interessierte Organisationen, die ein bestimmtes Interesse der Gesellschaft repräsentieren. V. Interessengruppen stehen zur öffentlichen Meinimg i n einem dialektischen Verhältnis, w e i l die Öffentlichkeit einerseits Adressat ihrer Interessenwahrnehmung ist u n d deshalb unter ihrem Einfluß steht, von ihnen manipuliert wird, die Organisationen andererseits selbst zu den Trägern der Öffentlichen Meinung zählen, für sie mit konstitutiv sind. Sie g e h ö r e n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t a n und f l i e h e n s i e doch immer wieder. Die alltäglichen Taktiken und Praktiken der Interessenwahrnehmung, namentlich gegenüber Legislative u n d Exekutive, haben die Tendenz, sich dem Licht der Öffentlichkeit zu entziehen. Die i h r gemäße Tätigkeitsform ist das Verhandeln und Aushandeln, und dabei w i r k t Öffentlichkeit störend, ja sie ist damit schlechterdings unverträglich. Man braucht dabei noch keineswegs an die eigentlich unrühmlichen oder illegalen M i t t e l wie Bestechung u. dgl. zu denken. Schon die persönlichen Kontakte, alles „Lobbying" und auch die kleinen politischen Tricks, die aus dem A l l t a g einer wirksamen Interessenvertretung nicht weggedacht werden kön15
Kaiser, Repräsentation
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nen, erfordern viel Diskretion und Takt und vertragen ihrer Natur nach keine Publizität 4 0 . Diesem Rückzug aus der Öffentlichkeit w i r k t ein starkes Bedürfnis nach Publizität entgegen. Erstens können sie aus dem Gesichtswinkel ihres Sonderinteresses heraus nicht die Übersicht über die allgemeine politische Lage gewinnen, die sie für den strategischen Einsatz ihrer Macht benötigen; auch sind viele jeweils interessierende Objekte ihrem Einfluß entzogen, solange sie nicht i n das Medium der Öffentlichkeit getaucht sind. Zweitens bedürfen sie für eine erfolgreiche A k t i o n fast immer eines Rückhalts i n der öffentlichen Meinung. Sie müssen darum selbst i n das Licht einer möglichst großen Öffentlichkeit treten, sich ihr darstellen und sie zu gewinnen trachten. Die überaus rasche Entwicklung der sog. P u b l i c R e l a t i o n s i n allen demokratischen Ländern ist eine Konsequenz aus diesem erst jüngst entdeckten Sachverhalt. Selbst die Kartelle haben i n USA vor der Verfolgung durch die Antitrustbehörden die „Flucht i n die Öffentlichkeit" ergriffen, indem sie ihre Abreden und wirtschaftlichen Maßnahmen öffentlich begründen 4 1 . Ö f f e n t l i c h k e i t b r i n g t d i e I n t e r e s s e n i n s S p i e l . Von ihnen geht darum der stärkste Impuls zur Erweiterung der Publizität aus. a) Die Presse ist der große Protagonist und Prototyp der u m die Erweiterung dieses Bereiches kämpfenden Interessen. Die Pressefreiheit verkörpert das leidenschaftlich umkämpfte und schließlich durch Aufnahme i n den Grun-drechtskatalog verfassungsrechtlich gesicherte Anrecht auf diesen Bereich. Die Publizität des Politischen allein genügt aber heute nicht mehr. Die Gewerkschaften erstreben die Einbeziehung der gesamten Volkswirtschaft i n das Licht öffentlicher Kon40 Walther Lambach läßt in seinem Buch „Die Herrschaft der Fünfhundert" (Hamburg-Berlin 1926, S. 78) seinen Reichstagsabgeordneten sich darüber wundern, mit welcher Offenheit eine Gewerkschaft „ihre parlamentarische Position" (ihre Vertretung in den Fraktionen) aufzeigte. Er „fand aber eine Erklärung in der Jugend, mit der diese Gewerkschaften sich in der Politik betätigen, die ihnen den Wert der Verschleierung ihrer Machtstellung gegenüber ihren politischen Gegenspielern noch nicht genügend zum Bewußtsein gebracht hat . . . Und daneben fand er die U r sache im Wesen der Gewerkschaftsbewegung, die als Massenbewegung eigentlich nur mit offenen Karten spielen kann, wenn sie von ihren eigenen Anhängern begriffen werden will". 41 M i t einem beachtlichen Erfolg: Die Öffentlichkeit hat nun ihrerseits nur noch geringes Interesse an der Anti-Trust-Politik: „One has only to compare the feverish excitement created by „trust-busting" under Theodore Roosevelt with the polite boredom with which the public has been watching the anti-trust drives of the last few years . . . " (Drucker , Concept of the Corporation, S. 221).
2. Die öffentliche Meinung
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trolle. Sie fordern „eine wesentlich erweiterte Publizität der w i r t schaftspolitischen und wirtschaftspraktischen Arbeit von Verwaltung, Wirtschaft und Finanz durch Statistik, ausführliche Bilanzveröffentlichungen und sonstige geeignete Maßnahmen" 4 2 . Die Unternehmerseite fordert demgegenüber die Entschleierung der gewerkschaftlichen Finanzmacht, die ein wesentlicher Faktor des modernen Wirtschaftslebens und eines seiner bestgehüteten Geheimnisse ist 4 3 . Selbst gegenüber der eigentlichen Institution der Öffentlichkeit, der Presse, besteht Anlaß, zu verlangen, daß sie ihr Visier öffnet und über die hinter i h r stehenden und sie subventionierenden Wirtschaftsmächte Aufschluß gibt 4 4 . — Das gegenseitige Bemühen der organisierten Interessen, aufeinander und vor allem auf den Gegenspieler den Scheinwerfer der öffentlichen Aufmerksamkeit zu richten, hat eine beträchtliche Publizitätswirkung und ist am besten geeignet, unwürdige oder illegale Praktiken zu unterdrücken 4 5 . Die ungleiche Stärke der Interessengruppen und die ungleichen Bedingungen ihres Wirkens beeinträchtigen indessen den Erfolg dieses wechselseitigen Durchleuchtens. M i t unter hat es sogar den Anschein, daß selbst heterogene Interessen sich gegenseitig ihre politischen Kriegspfade konzedieren. Aber das ist die Ausnahme und n u r i n einem sehr elaborierten System der Interessenrepräsentanz möglich. Amerikanische Beispiele zeigen, daß von irgendeiner dadurch benachteiligten Seite, und wenn es die große Öffentlich42
Die wirtschaftspolitischen Grundsätze des DGB, Ziff. 3, Abs. 5, abgedruckt bei Brisch, Die Rechtsstellung der deutschen Gewerkschaften S. 126. I n dem einleitenden Satz wird das Prinzip der Publizität deutlich herausgestellt: „Die Sicherung einer demokratischen Wirtschaftsverfassung ist nicht nur eine Frage der Wirtschaftsordnung, sondern ebensosehr eine Frage der vorbehaltlosen, schnellen Unterrichtung der Öffentlichkeit über alle entscheidenden wirtschaftlichen Zustände und Vorgänge. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge darf nicht das Monopol einer kleinen Gruppe w i r t schaftlicher Machthaber sein." 43 Vgl. oben Teü I I , 1, Anm. 18. 44 K a r l Josef Partsch, Diskussionsbeitrag auf der am 27. Februar 1950 vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten veranstalteten Arbeitstagung „Die Beziehungen zwischen Presse und Behörden", in dem gleichnamigen, vom Institut herausgegebenen Bericht, Frankfurt 1950, S. 74 f. 45 Vgl. Griffith, Congress, Its Contemporary Role, S. 113; Linden , „Pressure Groups", Der Einfluß amerikanischer Interessenverbände auf die Regierung, S. 31; Moscow, Politics in the Empire State, S. 208; Hans Peter, Einführung in die politische Ökonomie, Stuttgart und Köln 1950, S. 10, empfiehlt ebenfalls als Mittel gegen deplazierte Interessenteneinflüsse „die Flucht in die Öffentlichkeit, die Schaffung einer neuen ,unabhängigen' Plattform für die Austragung des Streites". Vgl. auch Horace E. Read und John W. MacDonald, Cases and other Materials on Legislation, Brooklyn (Foundation Press) 1948, S. 630 ff. 15*
2 2 8 D i e Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
keit der Steuerzahler und Konsumenten ist, zwangsläufig die Forderung nach Publizität erhoben wird, der notfalls der Gesetzgeber Nachdruck verleiht 4 6 . b) Interessengruppen können i m Dunkeln verhandeln, ihre Interessen wahrnehmen und Druck ausüben, dabei i m einzelnen erhebliche Vorteile und Gewinne erreichen und auch zu politischen Ergebnissen (Maßnahmen der Verwaltung oder des Gesetzgebers) gelangen. Ohne Zweifel ist der Ausschluß der Öffentlichkeit diesem Wirken hinter den administrativen und legislativen Kulissen besonders förderlich; die Aussicht auf Geheimhaltung schafft das Klima, i n dem diese Interessenwahrung am besten gedeiht. Nichtsdestoweniger hängt ihr Erfolg zu einem großen Teil ab von der Einschätzung dieses Interesses durch die öffentliche Meinung oder besser von dem Einfluß, den eine Interessengruppe auf die Öffentlichkeit ausübt, von dem Maße, i n dem sie eine Stimmung erzeugen und das Publikum zu den von i h r gewollten Aktionen veranlassen oder einsetzen kann: zu Protesten und Demonstrationen, zu einer vorgeschriebenen Stimmabgabe oder Stimmenthaltung bei den Wahlen, zu Streiks oder Revolution. Jede Gruppe m i t politischen Ambitionen muß deshalb darauf bedacht sein, sich eine Öffentlichkeit zu schaffen und eine für sie günstige Öffentliche Meinung heranzubilden, d. h. das Interesse der Öffentlichkeit an ihrem Dasein und ihren Zielen zu wecken und wach zu erhalten. Das geschieht m i t allen M i t t e l n der Propaganda und Massensuggestion, über die schon gesprochen wurde. Die Organisationen stellen so die von ihnen vertretenen Interessen vor der Öffentlichkeit dar, r e p r ä s e n t i e r e n sie vor der Öffentlichkeit c) Darin liegt die große Bedeutung der Öffentlichen Meinung i n der modernen Demokratie. Die Öffentlichkeit, d. h. der Teil eines politischen Ganzen (einer Gemeinde, einer Stadt, einer Nation, einer Hemisphäre, und, i n ungleich geringerem Maße, auch der Welt 4 7 ) der sich 40 Uber die entsprechenden Bestimmungen des Congress Reorganization Act von 1946 wird unten, Teil I I I , 4, berichtet. 47 Dietrich Schindler sah in der internationalen öffentlichen Meinung „die wahre internationale Macht" und fand das durch den Völkerbundspakt bestätigt, der häufig, ζ. B. beim Vermittlungsverfahren (Art. 15 bs. 3 und 4) auf die Einwirkung der öffentlichen Meinung abstellte. Analog dazu sah das Schweizer Recht für den Kampf zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern vor, daß das Einigurigsamt nach dem Scheitern seiner Bemühungen statt eines eigenen obligatorischen Schiedsspruchs die Parteien dem Urteil der Öffentlichkeit aussetzen sollte, indem es seinen Vermittlungsantrag veröffentlichte (Werdende Rechte, a.a.O., S. 429, mit Nachweisen auch für das französische Recht).
2. Die öffentliche Meinung
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einem konkreten Vorgang oder Sachverhalt konfrontiert sieht, „hält den R i n g " 4 8 , i n dem vor ihren Augen das Ringen der organisierten Interessen u m Vorteile, Einfluß und Macht staatfindet. Sie wacht über die Einhaltung der Spielregeln, und indem sie den Kampf m i t Interesse begleitet, bildet sich öffentliche Meinung. Sie begünstigt und ermutigt die einen und hemmt die anderen. — I n der differenzierten industriellen Gesellschaft ist der Interessenwiderstreit jedoch so kompliziert, daß jenes B i l d nicht mehr viel hilft. Schon Ferdinand Tönnies sprach davon, daß sich das Publikum oft i n der Lage eines Zuschauers befinde, der, „ i n einer hohen Proszeniumsloge sitzend, nur die andere Hälfte der Bühne sieht" 4 9 . Häufig ist die Öffentlichkeit aber überhaupt einer unmittelbarer Wahrnehmimg gar nicht fähig, d. h. genügt die korrekte Nachrichtenvermittlung und Information nicht zur Bildung einer öffentlichen Meinung, sondern bedarf es der Kommentation und Interpretation. Wer aber sind die Kommentatoren und welchen Stimmen w i r d das P u b l i k u m sein Ohr leihen? Daß die beteiligten Interessen selbst sich als Interpreten anbieten, ist nicht verwunderlich. Sie bedienen sich dabei aller M i t t e l der öffentlichen Meinungsbildung und füllen den Anzeigen- und Werbeteil der Zeitungen und des Rundfunks. Was aber, wenn die Institutionen der öffentlichen Unterrichtung wie Presse, Rundfunk u n d F i l m vorgeben, objektiv zu kommentieren, i n Wirklichkeit aber (auch i m Leitartikel, nicht nur i m Anzeigenteil) i m Solde des einen oder anderen Interesses stehen? V I . Soweit erkennbar, ist nach dem Zusammenbruch i n Europa an zwei verschiedenen Orten, unabhängig voneinander, der Versuch unternommen worden, die Presse von allen Bindungen an partikuläre Interessen zu befreien: i n Frankreich und i n der Tschechoslowakei. Der ideell und organisatorisch entschiedenste Versuch wurde von der tschechoslowakischen Regierung unternommen. Sie wollte dabei sowohl staatliche wie private Monopolisierung vermeiden. I m M a i 1945 verbot sie jedes individuelle Eigentum an Zeitungen und periodisch erscheinenden Druckschriften. Diese durften sich n u r i m Eigentum von politischen Parteien, Gewerkschaften, Kooperativen und kulturellen Gesellschaften befinden. Ein Gremium, dessen Mitglieder den Parteien und anderen Organisationen entnommen wurden und das dem Unterrichtsministerium angegliedert w a r 5 0 , erließ Instruktionen i n den 48 Pendleton Herring, The Politics of Democracy, American Parties in Action, New York (Rinehart) 1940, S. 310. 49 Kritik der öffentlichen Meinung, S. 177. δ0 K a r l Mannheim nennt es „Board of Affairs of the Periodical Press"; ich
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
internen Angelegenheiten der Presse einschließlich ihrer Finanzierung. Es bestand keine Zensur, aber eine Organisation, deren Zeitung gegen die Entscheidungen jenes Gremiums verstieß, wurde mit Geldstrafen belegt. M i t dem kommunistischen Staatsstreich vom Februar 1948 fand dieses Experiment sein Ende. — I n F r a n k r e i c h stellte man nach 1944 den Aufbau der neuen Presse unter das Motto: „Décapitaliser la presse!" 51 . Die neuen Zeitungen wurden durch Gruppen der Résistance und von Comités de Libération herausgegeben; ihnen wurde auch das unter Sequesterverwaltung gestellte Vermögen der Kollaborationspresse zur Verfügung gestellt (Ordonnance vom 30. September 1944). Durch Gesetz vom 11. Mai 1946 wurde die Enteignung, „exorbitante du droit commun", ausgesprochen 52 ; aber das Gesetz kam zu spät und wurde unvollständig durchgeführt ( „ I I faut peut-être des juristes nouveaux pour un droit nouveau"). I m ganzen schwankte man zwischen einer Neuordnung und der Rückkehr zu den alten Gewohnheiten. Das Gesetz vom 2. A p r i l 1947 schuf die „société coopératives des messageries de la presse" und gab ihnen ein Statut 5 3 , das ihre Unabhängigkeit sichern und die gleiche Behandlung der verschiedenen Zeitungen gewährleisten sollte; nur die Eigentümer von Zeitungen und periodischen Druckschriften können Anteilseigner der Kooperativen sein und haben gleiches Stimmrecht. U m ihre Unabhängigkeit zu sichern, brachte das Statut sie i n Abhängigkeit vom Staat, der sich finanziell einschalten und den Rechnungshof mit der Kontrolle beauftragen kann und stänentnehme die Daten seiner schon mehrfach angef. Schrift „Freedom, Power, and Democratic Planning", S. 346, Anm. 67, wo er auf Kingsley Martin, The Press the Public wants, London 1947, S. 107, und The Manchester Guardian v. 11. November 1947 verweist (es war m i r nicht möglich, diese Quellen einzusehen). 51 „ . . . débarasser le plus possible l'entreprise d'édition proprement dite des contraintes du régime économique, organiser les services annexes de telle sorte qu'ils fussent entièrement et de façon impartiale au service de la presse dans son ensemble, et non le monopole ou le privilège de commerçants . . . ou de représentants d'intérêsts économiques particuliers, enclins à favoriser, dans leur activité professionnelle même, les politiques qui assuraient la prédominance de ces intérêts" (Fernand Daniel in dem Aufsatz „Une seule révolution économique, politique et morale? La presse 1944 —1950", veröffentlicht in der schon zitierten, der Presse gewidmeten Ausgabe der Monatszeitschrift „La Nef", 7, Nr. 67/68 [August—September 1950], S. 10). Das Programm war in geheimen Entwürfen der Widerständsbewegung vorgezeichnet, aus denen ebendort die kennzeichnenden Sätze angeführt sind; die übrigen, oben mitgeteilten Daten a.a.O., S. 10 ff.; ferner bei Georges Burdeau , Manuel de Droit Public, Les Libertés publiques, Les libertés sociaux, Paris (Librairie gén. de Droit et de Jurisprudence) 1948, S. 206 ff. und Georges Ripert, Le Déclin de Droit, 1949, S. 87 ff. 52 Vgl. dazu die detaillierte Darlegung bei Georges Burdeau, S. 219 ff. 53 Daniel spricht von einem „mythe de statut" (a.a.O., S. 15).
2. Die öffentliche Meinung
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dig durch einen Kommissar vertreten ist 5 4 . Was die Rechte der Presse angehe, so sagt Daniel, bleibe immer noch viel zu tun, u m sie wirksam wahrnehmen zu können. Die korporative Organisation der Presse und der Papierproduzenten führte während der langen Zeit der Papierknappheit zur Abhängigkeit der Presse 55 . Die i m Titel gestellte Frage ( „ U n ö seule Révolution?") w i r d verneint. Der Versuch hatte sich zu weit von den wirtschaftlichen Gegebenheiten entfernt, die vorherrschend blieben. Die Gesetze des Marktes und das Bedürfnis der Presse nach Privilegien und Protektionen siegten über das kühne Programm der Résistance. Die Presse ist und bleibt eine wirtschaftliche Unternehmung — neben und trotz ihrer öffentlichen Funktion 5 6 . Der allgemeine Bildungsstand und die technische Entwicklung haben i n den Demokratien die öffentliche Meinung zu einer Macht werden lassen, die nach einer verbreiteten Auffassung von den Interessengruppen die gleiche, wenn nicht sogar gronere Aufmerksamkeit verlangt als Parteien, Parlament und Regierung 57 . Schon James Bryce san i n i h r „the chief and ultimate power i n nearly all nations at nearly all times", „the most competent authority to determine the ends of national policy" . . . „which every one (in America) recognizes as the arbiter" 5 8 . Sie ist eine der politischen Größen, vor der organisierte Interessen dargestellt, repräsentiert werden können. Es t u t dem keinen Abbruch, daß die Interessengruppen selbst an der Bildung der öffentlichen Meinung großen A n t e i l haben und die individuellen Mitglieder der Gruppe selbst die interessiertesten Teile der angesprochenen Öffentlichkeit sind. A l l e organisierten Interessen 54
Burdeau, a.a.O., S. 211 f. Daniel, S. 16 f. und Pierre Raymond, Le papier de presse, La Nef, S. 95 ff., bes. S. 105 ff. 56 Vgl. dazu Tqnnies, K r i t i k der öffentlichen Meinung, S. 179 f. und die klugen Bemerkungen von Jacques Duhamel in dem Aufsatz „Propagande organisée et démocratie libérale", La Nef, a.a.O., S. 88 f., der in den bemerkenswerten Schlußsätzen die Beziehung des Staates zu Propaganda und öffentlicher Meinung ins Licht rückt: „L'erreur des démocraties est de ne pas savoir mesurer les menaces. Leurs grandes forces sont d'attente et d'optimisme. . . . La propagande est un instrument de sauvegarde qui n'est pas dignes d'elles: Pourtant, la vertu a besoin de se faire connaître et protéger. Car il n'y a plus aujourd'hui dans le monde de démocraties inviolables" (a.a.O., S. 90). 57 Pendleton Herring hält Propaganda darum für „the strongest weapon in the arsenal of the lobby" (Group Representation before Congress, S. 60); die Wendung wird zustimmend übernommen von David B. Truman, The Governmental Process, S. 214; Joseph S. Roucek and Associates charakterisieren die öffentliche Meinung als „the outstanding phenomenon of our time from the viewpoint of social control" (Social Control, S. 384). 58 The American Commonwealth, Bd. I I , a.a.O., S. 255, 364 f., 369. 55
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
können das Ohr der Öffentlichkeit erreichen und meinungsbildena wirken, und i m übrigen steht diese A r t der Selbstdarstellung i n vollem Einklang m i t dem demokratischen Prinzip der Identität. Die i n Organisationen u n d Institutionen verkörperten Interessen sind selbst hervorragende Artikulationsorgane der Öffentlichen Meinung 5 9 . Eine atomisierte Öffentlichkeit ist von Natur aus stumm, kann aber durch künstliche Methoden wie die der Meinungsbefragung, der Einrichtung der „Briefe an den Herausgeber" 60 u. dgl. zum Sprechen gebracht werden. Interessengruppen w i r d durch die öffentliche Meinung aber auch M a ß und G r e n z e gesetzt. Je mehr ihre Ziele m i t dem öffentlichen Interesse i n Einklang stehen, desto leichter und nachhaltiger vermögen sie die öffentliche Meinung zu prägen. Andererseits haben die Gruppen, deren Element die öffentliche Meinung ist, ein genuines Interesse daran, daß sie wirksam und leicht reagibel funktioniert. Es ist darum nicht erstaunlich, daß die großen und durch ihre Unabhängigkeit und Objektivität hervorragenden Organe der Presse, die Weltpresse, zumeist getragen werden von einer Reihe so profilierter und gewichtiger Interessen, wie sie die Wirtschaft eines Landes ausmachen; diese erblickt i n der Existenz eines überparteilichen Organs der öffentlichen Meinung eine notwendige Institution, analog denen von Regierung und Parlament. 3. Die politischen Parteien Staatsrecht und Staatslehre haben die Parteien lange Zeit ignoriert. I n zwei so bedeutenden Werken wie dem Representative Government 59 Mithilfe der in Amerika entwickelten, oft nach George Gallup benannten Methoden der Meinungsbefragung, den „Public Opinion Polls", hat man versucht, der öffentlichen Meinung neue, individuelle Äußerungsformen zu schaffen. Man ist dabei häufig so weit gegangen zu sagen: was Wahlen für die politischen Parteien, das sind Polls für die Pressure Groups. Die deutlichste, wenngleich in manchem übertriebene K r i t i k dieses Optimismus enthält die Schrift von Lindsay Rogers, The Pollsters, Public Opinion, Politics, and Democratic Leadership, New York (Knopf) 1949. Seitdem die technischen Methoden der Meinungsbefragung zu einer erstaunlichen Höhe entwickelt sind und ihre Ergebnisse allgemeine Beachtung finden, werfen deren Mißbrauch und Verfälschung heute die eigentlichen Probleme auf. Sie übertreffen häufig in ihrer Wirkung die Folgen einer ordinären Wahlfälschung bei weitem und verdienen deshalb entsprechende Ahndung. 60 I n England haben die „Letters to the Editor", namentlich an den Herausgeber der Times, seit sehr langer Zeit eine große Bedeutung. Sie wurden schon von Arthur F. Bentley hervorgehoben (The Process of Government, Α. Study of Social Pressures, Bloomington Ind. [Principia Press] 1908, 2. Neudruck 1949, S. 430).
3. Die politischen Parteien
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von John Stuart Mill 1 und dem Staatsrecht des Deutschen Reichs von Paul Laband 2 w i r d von ihnen nicht gesprochen. Jean-Jacques Rousseau spricht i n Buch I I Kap. 3 und i n Buch I V Kap. 1 seines Contrat social von „sociétés partielles", um zu erklären, daß es sie i n einem Staate nicht geben dürfe, w e i l sie den allgemeinen Willen verfälschen. Heinrich Triepel sah noch 1927 i n der Partei eine „extrakonstitutionelle Erscheinung", deren Beschlüsse, vom Standpunkt des Rechts aus gesehen, „unverbindliche und unmaßgebliche Äußerungen eines dem Staatsorganismus fremden sozialen Körpers" seien 3 . Soweit das Kaiserreich i n den Parteien nicht noch nach A r t des Biedermeier eine Gefahr für die Ruhe des Staates und eine moralische Verirrung erblickte, hielt man sie doch für Gebilde, die i n der staatlichen Herrschaftsordnung schlechterdings kleinen Platz haben. Darum war es nur konsequent, daß sie wie alle anderen politischen Vereinigungen dem allgemeinen Vereinsrecht der Länder und (seit 1908) des Reiches unterschiedslos unterworfen waren 4 . Denn sie galten als Organisationen der Gesellschaft, die i n den staatlichen Bereich nicht hineinragten. Für das Verständnis der organisierten Interessen und ihrer Stellung i n der Ordnung von Staat und Gesellschaft ist es unabdingbar, die wesentlichen Merkmale aufzuzeigen, i n denen sie sich von den Parteien unterscheiden, und ihre Beziehimg zu den Parteien zu bestimmen. Dabei hat man von der Position der Parteien i n dem gegenwärtigen politischen System auszugehen, der i n den letzten Jahren zahlreiche und hervorragende Studien gewidmet wurden 5 , während 1 Considerations on Representative Government, 2. Aufl., London (Parker, Son and Bourn) 1861. 2 1. Aufl., Tübingen 1876. 3 Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berliner Rektoratsrede vom 3. 8. 1927, Berlin 1928, S. 29 f. 4 Heute kann das Vereinsgesetz von 1908, wenn überhaupt, dann nur noch bedingt auf die Parteien angewandt werden, zumal das Grundgesetz ihren besonderen Status anerkannt hat; im einzelnen vgl. Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht, 2. Aufl., München 1954, S. 60 ff. 5 K a r l Buchheim, Der Ursprung der deutschen Weltanschauungsparteien, Hochland 43, 1950/51, S. 538 ff.; Ernst Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnung der Parteien, in der Sammlung „Die politischen Parteien i m Verfassungsrecht", Tübingen 1950, S. 5 ff.; Wilhelm Grewe, Zum Begriff der politischen Partei, in der Festgabe für Erich Kaufmann, Stuttgart-Köln 1950, S. 65 ff.; Ders., Parteienstaat — oder was sonst? in der Zeitschrift „Der Monat", 3, 1951 (September, Nr. 36) S. 563 ff.; Wilhelm Henrichs, Der Parteibegriff im deutschen Kommunalwahlrecht, DVB1., 67, 1952, S. 677 ff.; ferner die folgenden Beiträge von Gerhard Leibholz, Volk und Partei im neuen deutschen Verfassungsrecht, Deutsches Verwaltungsblatt, 1950, S, 194 ff.; Parteienstaat und Repräsentative Demo-
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
d i e systematische V e r a n k e r u n g der I n t e r e s s e n g r u p p e n noch k a u m v e r sucht w u r d e . I . D i e Region, i n d e r die P a r t e i e n u r s p r ü n g l i c h e x i s t i e r t e n u n d a l l e i n existieren sollten, w a r die Sphäre der ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g . I n Übere i n s t i m m u n g m i t der g a n z e n staatsrechtlichen T r a d i t i o n i s t das noch d i e These d e r V e r f a s s u n g s l e h r e v o n C a r l Schmitt:
„Es gibt keine Demo-
k r a t i e ohne P a r t e i e n , aber n u r , w e i l es k e i n e D e m o k r a t i e ohne ö f f e n t l i c h e M e i n u n g u n d o h n e das stets anwesende V o l k g i b t " 6 . s u n g v o n G e r h a r d Leibholz
Die Auffas-
ist h e u t e noch n i c h t sehr w e i t d a v o n e n t -
f e r n t : „ . . . m a n k a n n g e r a d e z u sagen, daß i n dieser F o r m der D e m o k r a t i e die P a r t e i e n das V o l k , s i n d ' " 7 . I m Gegensatz d a z u w u r d e schon o b e n i n d e r E i n l e i t u n g d i e These v e r t r e t e n , daß die P a r t e i e n i n e i n e m M a ß e z u s t a a t l i c h e n straturen,
Magi-
z u T e i l h a b e r n d e r s t a a t l i c h e n M a c h t u n d H e r r s c h a f t ge-
w o r d e n sind, das n i c h t e r l a u b t , v o n i h n e n noch als spezifisch
nicht-
staatlichen Organisationsformen
Diese
d e r Gesellschaft z u sprechen.
kratie a.a.O., 1951. S. 1 ff.; Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, in der Sammlung „Recht, Staat und Wirtschaft", Düsseldorf 1951, S. 99 ff.; Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, Verhandlungen des 38. Deutschen Juristentages, Teil C, Tübingen 1951, S. 2 ff.; Karl Loewenstein, Uber die parlamentarische Parteidisziplin im Ausland, in der angef. Sammlung „Die politischen Parteien im Verfassungsrecht", S. 25 ff.; Werner Matz, Die Vorschriften des Grundgesetzes über die politischen Parteien in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, a.a.O., S. 41 ff. (Die Abhandlungen von Forsthoff, Loewenstein und Matz sind auch in der Deutschen Rechtszeitschrift V, 1950, Heft 11, 12 und 14 veröffentlicht); Christian-Friedrich Menger, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der deutschen politischen Parteien, Arch. d. öff. Rechts, 78, 1952, S. 149 ff.; Günther Rabus, Die innere Ordnung der politischen Parteien im gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, Arch. d. öff. Rechts, 78, 1952, S. 163 ff.; Bundestagsabgeordneter Hans Reif, Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien (Korreferat), Verhandlgn. d. 38. Deutschen Juristentages. a.a.O., S. 30 ff.; vgl. auch die oben. Einleitung, Anm. 38, mitgeteilten Schriften von Hans Peter Ibsen und Werner Weber. 6 S. 202; vgl. aber die heute noch stark nachwirkende Diagnose in „Der Hüter der Verfassung", Tübingen 1931, S. 83 ff., wo die Wandlung des Parteibegriffs mit aller Deutlichkeit aufgezeigt ist. Neuerdings hat Maurice Dvverger in seinem Buch „Les Partis Politiques" (Paris, Armand Colin, 1951) Parteien und öffentliche Meinung in Beziehung gesetzt. Das Kapitel „Les Partis et la Représentation de l'Opinion" (S. 409 ff.) ist für unsere Frage aber kaum ergiebig, da das große Thema hauptsächlich unter Gesichtspunkten wie Verhältnis- oder Mehrheitswahl, Ein- oder Mehrparteiensystem abgehandelt wird. 7 Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, a.a.O., S. 10. Das liegt daran, daß Leibholz statt des Prinzips der Repräsentation das Rousseausche Prinzip der Indentität zugrundelegt und in dem modernen Parteienstaat nur ein Surrogat der direkten Demokratie erblickt. Die Entwicklung zur parteistaatlichen Massendemokratie ist in den Schriften von Leibholz mit großer Klarheit aufgewiesen worden.
3. Die politischen Parteien
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Auffassung findet sich auch in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. A p r i l 1952, i n dem es von den Parteien heißt, daß sie „ n i c h t wie andere soziale Gebilde nur i n einer verfassungsmäßig gesicherten Position d e m S t a a t e g e g e n ü b e r " stehen; gewiß seien sie keine formierten „obersten Staatsorgane" wie Landtag und Landesregierung, das schließe jedoch nicht aus, daß auch die Parteien Staatsorgane sind, „Kreationsorgane" i m Sinne Georg Jellineks, wie der Zweite Senat mit einem Zitat von Gustav Radbruch unterstreicht 8 . Gewiß tragen alle Parteien noch viele Spuren ihrer Herkunft aus dem sozialen Bereich an sich, um so mehr, je enger sie mit den Interessen der einen oder anderen Gesellschaftsschicht verbunden sind. Sie sind i n dem staatlichen Herrschaftsapparat auch nicht so starr befestigt wie die Behörden der Verwaltung und Justiz; vielmehr begeben sie sich immer wieder in die nicht-staatliche, soziale Sphäre, wenn dort Kräfte und Mächte auftauchen, deren politische Energien es der Parteimaschine zuzuführen gilt. Das ist periodisch zu den Zeiten der politischen Wahlen der Fall, wenn das souveräne Volk zu dem entscheidenden A k t der Zuweisung der politischen Macht auf die sich i h m präsentierenden Parteien erweckt wird. Das geschieht aber auch außerhalb der Wahlkampagnen immer und überall, wo i n der öffentlichen Meinung oder i n organisierten Interessen politisch relevante Kräfte und Mächte auftreten. Die Parteien versuchen, diese i n ihrem Sinn zu beeinflussen, zu führen und zu kanalisieren, u m sie i m eigenen Namen und i n der Regel auch unter eigener Verantwortung i n allen staatlichen Institutionen, vorzüglich auf dem Forum des Parlaments, zur Geltung zu bringen. Die Wurzeln ihrer Macht liegen i n der Gesellschaft, i n dem durch die geheime Einzelwahl zwar a t o m i s i e r t e n , aber nach Interessen gegliederten und o r g a n i s i e r t e n sozialen Ganzen. Sie versuchen, den ihnen erreichbaren Teil des sozialen Ganzen durch ein System von Hilfs- und Stützpunktorganisationen zu erfassen, indem sie sich mit Jugend-, Sport-, Berufs- und ähnlichen Verbänden umgeben. Sie bauen die Beziehungen zu Interessenorganisationen aus, unterwerfen sich deren Einfluß und versuchen, selbst Einfluß auszuüben, übernehmen von ihnen politische Aufträge und lassen 8 BVerfGE, I, S. 225 (als Antragsteller war in diesem Verfassungsrechtsstreit der Südschleswigsche Wählerverband aufgetreten und als sachlegitimiert anerkannt worden); Radbruch, Die politischen Parteien i m System des deutschen Verfassungsrechts, Handbuch des deutschen Staatsrechts, I, Tübingen 1930, S. 290; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914, S. 545 f. Vgl. auch die in der Einleitung, Anm. 39 angef. Literatur.
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
sich von ihnen finanzieren. Das alles deutet darauf hin, daß der Schwerpunkt der Parteien schon nicht mehr i n jenem nicht-staatlichen, sozialen Bereich der Nation liegt. Funktionell, organisatorisch und auch soziologisch sind die Parteien und ihre Bürokratie, mehr oder weniger stark ausgeprägt, Einrichtungen der von der Gesellschaft zu unterscheidenden staatlichen Herrschaftsapparatur. Das gilt schon innerhalb eines Staates nicht für alle Parteien i m gleichen Maße. Parteien, die lange Zeit die Regierungsmacht ausüben, verstaatlichen eher als die Opposition. Parteien, die i m Sinne der sozialistischen Doktrin für umfassende Staatsinterventionen und Kontrollen eintreten, tendieren stärker zum Einbau der Partei i n den Staatsapparat als Parteien des liberalen Bürgertums. Die deutschen Parteien der Mitte, des „juste milieu", die sich gern als die „staatstragenden" bezeichnen, und zwar Regierungskoalition u n d Opposition, haben sich, wie Werner Weber eindrucksvoll aufgewiesen hat 9 , i n einer Weise ins staatliche Regiment gebracht, wie es extremen Flügelparteien niemals gelingen kann, solange sie nicht selbst Regierungspartei sind. Es macht ferner einen Unterschied, wenn die englische Labourparty nahezu 6 Millionen eingeschriebene Parteimitglieder zählt 1 0 (und damit einen erheblichen Teil der Wahlberechtigten umfaßt) und wenn die deutschen Parteien insgesamt nur etwa 4 °/o der A k t i v bürger haben anziehen können. Das i m Ansatzpunkt völlig andere Verhältnis von Staat und Gesellschaft i n USA, von dem schon die Rede war, bewirkt endlich, daß dort erst die Anfänge dieses Prozesses zu beobachten sind, wo auch die Regierung erst beginnt, sich als ein der Gesellschaft transzendentes Herrschaftsgebilde herauszukristallisieren 11 . Dieser veränderten Stellung der Parteien i m Staat hat der Grundgesetzgeber dadurch Rechnimg getragen, daß er sie i n die verfassungsrechtliche Normierung einbezog (Art. 21 GG) 1 2 . Wenn i m Gegensatz dazu i n A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 („Sie [die Abgeordneten] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und 9 Spannungen und Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 20 ff. und 55. 10 Leibholz auf dem 38. Deutschen Juristentag, a.a.O., S. 10. 11 U m so bemerkenswerter ist die Feststellung von Dayton David McKean, daß auch die amerikanischen Parteien „in reality organs of government 14 sind (Party and Pressure Politics, S. 643). 12 Erstmalig hatte die Verfassung des Landes Baden die staatsrechtliche Stellung der Parteien umschrieben und Grundsätze für ihre innere Ordnung aufgestellt (Art. 118—121). Vgl. auch die italienische Verfassung von 1948, Art. 49. I m übrigen s. Einleitung mit Anm. 39 und 40.
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3. Die politischen Parteien
n u r i h r e m Gewissen u n t e r w o r f e n " ) t r o t z d e m n o c h l i b e r a l e m G e d a n k e n g u t e n t s t a m m e n d e r e p r ä s e n t a t i v e E l e m e n t e ü b e r n o m m e n w u r d e n , so i n erster L i n i e aus R ü c k s i c h t n a h m e a u f die Ressentiments d e r Ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g gegen d e n P a r t e i e n s t a a t 1 3 . E i n e w e i t e r e ,
aufschluß-
reiche K o n s e q u e n z aus d e r s t a a t s r e c h t l i c h e n P o s i t i o n d e r P a r t e i e n i s t wiederholt
i m Schrifttum
gezogen w o r d e n :
ihre
F i n a n z i e r u n g
a u s d e r S t a a t s k a s s e 1 4 . K e i n d e m o k r a t i s c h e r S t a a t h a t die P a r teien grundsätzlich
und
im
vollen
Umfang
ihrer
Bedürfnisse
mit
ö f f e n t l i c h e n M i t t e l n ausgestattet. A b e r es lassen sich zahlreiche F ä l l e der V e r w e n d u n g v o n Staatsmitteln zugunsten der Parteien anführen: die A b g e o r d n e t e n f ü h r e n e i n e n T e i l i h r e r D i ä t e n a n die ab
15
Fraktionen
; b e i d e n W a h l e n z u m ersten B u n d e s t a g w u r d e n d e n i n w i r t s c h a f t -
liche S c h w i e r i g k e i t e n g e r a t e n e n P a r t e i e n v o n d e n F i n a n z . n i n i s t e r n der L ä n d e r sog. W ä h l e r k r e d i t e z u r V e r f ü g u n g g e s t e l l t 1 6 ; f ü r u n d A b g e o r d n e t e w e r d e n erhebliche M i t t e l f ü r
Fraktionen
die E i n r i c h t u n g
von
13 Reif und Otto Küster, der für die entsprechenden Artikel des Herrenchiemsee-Entwurfs Berichterstatter war, auf dem 38. Deutschen Juristentag, a.a.O., S. 30 und 46. 14 Leibholz auf dem Juristentag, a.a.O., S. 26 (der Verwirklichung stehe jedoch Art. 38 entgegen), und lebhaft unterstützt von Küster, a.a.O., S. 51, denen von Nathusius, Referent i m Bundesinnenministerium für das geplante Parteigesetz, entgegenhielt, daß dieses „nach allgemeinen kameralistischen Grundsätzen" nur möglich sei, wenn man in die Finanzgebarung der Partei sehr eingehend eindringen würde, und der damit aus der Staatsfinanzierung zutreffend auf die Staatskontrolle schloß (a.a.O., S. 54). McKean hat die staatliche Finanzierung der amerikanischen Parteien vorgeschlagen, zwar nicht als Schlußfolgerung aus einer Überlegung über den politischen Status der Parteien, sondern aus einem hier bemerkenswerten praktischen Grund: es werde dann leichter sein, die in angelsächsischen Ländern übliche, gesetzliche Beschränkung der Parteifinanzierung durch Hintermänner durchzusetzen (Party and Pressure Politics, S. 643). Auch Theodor Maunz hat diesen Gesichtspunkt: Staatszuschüsse zur Vermeidung ungesunder finanzieller Abhängigkeit der Parteien hervorgehoben (Deutsches Staatsrecht, 3. Aufl., 1954, S. 64). Der Bundesfinanzminister Fritz Schäffer überraschte mit dem Vorschlag, die Parteien sollten je Mandat eine bestimmte Geldsumme erhalten, die der Bundesfinanzminister „gern zur Verfügung stellen" würde (Frankfurter Allgemeine Ztg. vom 9. Nov. 1954). Es fragt sich jedoch, ob in diesem Verteilerschlüssel, genau wie bei der Aufteilung nach dem Verhältnis der errungenen Stimmen bei der letzten Wahl, nicht eine Bevorzugung der gerade herrschenden Mehrheit liegt, die das Prinzip der gleichen Chance für den zukünftigen Wahlkampf beeinträchtigt. Noch problematischer wäre ein allgemeines V e r b o t v o n P a r t e i s p e n d e n , wie Schäffer es befürwortet. Es sollte jedem Staatsbürger und auch jeder Organisation grundsätzlich unbenommen sein, sich i m Sinne ihrer politischen Richtung auch durch finanzielle Zuwendungen zu betätigen. Den Auswüchsen entgegenzutreten ist Sache der Parteien untereinander und der Wahlberechtigten durch entsprechende Stimmabgabe. 15 Günther Rabus, a.a.O., S. 190 mit weiteren Angaben. 16 Leibholz, a.a.O., S. 26 mit weiteren Beispielen.
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Büros aufgewandt 1 7 ; i n England bezieht der Führer der Opposition ein staatliches Gehalt 1 8 ; das Abgeordnetenmandat hat heute den Charakter eines Staatsamt es 19 . Daraus ergibt sich ein wesentliches Merkmal für die Unterscheidung der Parteien von den Organisationen der Interessengruppen: Die Parteien sind aus der Region der nicht-staatlichen Gesellschaft abgewandert und zu Trägern der staatlichen Herrschaft geworden, „während das Volk unabänderlich Volk b l e i b t " 2 0 und sich mittels der von i h m herausgestellten Interessenorganisationen zu den Parteien fast wie zu sonstigen Staatsorganen i n Beziehung setzt. Zwischen beiden verläuft der Graben, der auf dem Kontinent immer noch Staat und Gesellschaft voneinander trennt. Er ist nicht mehr so tief wie i m 19. Jahrhundert und w i r d durch die intensive Wechselwirkung beider Bereiche aufeinander mehr und mehr überbrückt, während i n den Vereinigten Staaten von Amerika die Entwicklung von dem entgegengesetzten Ausgangspunkt der Identität von Staat und Gesellschaft i n umgekehrter Richtung auf eine Differenzierung von Staat und Gesellschaft h i n verläuft, so daß unsere Aussagen über das Verhältnis beider Bereiche zueinander und besonders über die Beziehungen zwischen Interessengruppen und Parteien für den amerikanischen sowohl wie für den europäischen Rechtskreis verifiziert werden können. Dieses vom Grundsätzlichen her und i n einem ersten Anlauf gewonnene Einteilungsprinzip, das die Relation Pressure Groups— Parteien auf den Gegensatz von Staat und Gesellschaft zurückführt und vereinfacht, bedarf i m einzelnen Fall und i n den Details zweifellos der Anpassung und Abwandlung, denn das politische Leben ist vielgestaltig und bunt wie die Natur, und seine Gruppierungen und Differenzierungen orientieren sich an anderen Gesichtspunkten als an einer a p r i o r i gezogenen linearen Trennungslinie. Aber das sind akzidentelle und teilweise ephemere Besonderheiten; die kategoriale Bedeutung unserer Kriterien w i r d durch sie nicht geschwächt. I m Gegenteil, es gibt ein Schibboleth, das unsere Unterscheidung und Lokalisie18 Es ist für die staatsrechtliche Stellung der Opposition in Deutschland charakteristisch, daß sich auch hier das A m t eines Führers der Opposition herauszubilden scheint. Die Kanzlergespräche mit dem Vorsitzenden der SPD und die offizielle Trauer beim Tode Kurt Schumachers liefern dafür in den Einzelheiten beachtenswerte Symptome. 10 Joseph A. Schumpeter , Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., München 1950, S. 435, Anm. 11. 20 Werner Weber, a.a.O., S. 22.
3. Die politischen Parteien
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rung der Parteien und der Interessengruppen i n einem erstaunlichen Maße bestätigt: Das ist ihre Haltung zur Presse und zur Pressefreiheit. Solange Parteien und Parlament Organe der Gesellschaft waren, hatte die Presse i n ihnen lebhafte und einsatzbereite Advokaten. Der erfahrene Staatsrat Theodor Eschenburg hat darauf hingewiesen, daß i m Kaiserreich und auch noch i n der Weimarer Republik die Parteien mit aller Energie für die Freiheit der Presse eingetreten sind, daß sich heute aber die Haltung der Parlamentarier gegenüber der Presse anscheinend erheblich gewandelt hat; Parteien, die einst die Vorkämpfer der Pressefreiheit waren, zeigten nun Neigung, sie einzuschränken, weil ihnen die Auswirkungen der Pressefreiheit unbequem seien. Solange sie „ i n Rivalität zur Staatsgewalt standen, waren sie die Verbündeten, ja die prädestinierten Verteidiger der Presse. Nachdem sie nun selber die Staatsgewalt innehaben, stehen sie der Presse zum Teil ablehnend gegenüber" 21 . I m Gegensatz dazu sind Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, die durch die Pressefreiheit mit ermöglicht und garantiert werden, i n steigendem Maße zu einem Lebenselement der organisierten Interessen geworden. Bedeutet das nun, daß die Interessengruppen i n der Sphäre der öffentlichen Meinung heute etwa denselben Platz einnehmen und die gleiche Funktion ausüben wie die politischen Parteien der liberalen Gesellschaft? Deren wesentlichstes K r i t e r i u m war, daß sie „auf f r e i e r W e r b u n g beruhende Vereinigungen" waren, wie vor allem Max Weber hervorgehoben hat 2 2 . Das hieß, daß sie sich m i t politischen Argumenten an alle wirtschaftlich freien und intellektuell selbständigen Staatsbürger als Träger von politischen M e i n u n g e n wandten, daß diese sich auf Grund ihres eigenen politischen Urteils für diese oder jene Partei entschieden und so zwischen den Parteien eine freie Fluktuation von Wählern, Anhängern und Mitgliedern stattfand 2 3 . 21 Referat auf der Arbeitstagung „Die Beziehungen zwischen Presse und Behörden", die vom. Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Frankfurt veranstaltet war; vgl. den schon angeführten Bericht, S. 47 ff. Auf der gleichen Tagung hat Ministerialdirektor K a r l Heinrich Knappstein die Erfahrung ausgesprochen, daß gegenüber der Presse „die Parlamentarier in merkwürdiger Weise fast immer auf der gleichen Linie wie die Beamten", und daß sie, zugespitzt ausgedrückt, an Pressefeindlichkeit „vielfach noch beamtlicher" seien als die Beamten (a.a.O., S. 17). Darin liegt nicht der geringste Grund für den allgemeinen Niedergang der Pressefreiheit, der keine deutsche Besonderheit ist. Für Frankreich vgl. die Bemerkungen von Georges Burdeau, Manuel de Droit Public, S. 206f.; Georges Ripert, Le Déclin de Droit, S. 88 f. 22 Wirtschaft und Gesellschaft, 3. Aufl., Bd. I, S. 167 f. 23 Johanna Kendziora hat in der sehr lesenswerten Berliner wirtschafts-
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Diese Voraussetzungen sind für die politischen Parteien seit langem nicht mehr gegeben, seitdem sie sich zu permanenten, kompakten und durchorganisierten Machtgebilden verfestigt haben 2 4 , zwischen denen sich fast nur noch das „Treibholz" und der „Flugsand" bewegt, Termini, die über die Geringschätzung der freien politischen Meinung und des selbständigen politischen Urteils Aufschluß geben. Pressure Groups sind ihrer Natur nach noch viel weniger auf freier Werbung beruhende Gruppierungen als die politischen Parteien. Zwar werfen sie große Beträge für öffentliche Werbung und Propaganda aus, aber sie werben i n der Öffentlichkeit nicht u m Beitritt i n ihre Organisation 2 5 , sondern u m Verständnis, u m die Billigung und Unterstützung ihrer Ziele durch die öffentliche Meinung. Ihre Mitgliedschaft ist durch ganz andere Merkmale als durch eine selbständige und unabhängige Auffassung über politische oder auch wirtschaftliche Angelegenheiten bestimmt: für sie ist ein bestimmtes ökonomisches, berufliches oder sonstiges I n t e r e s s e maßgebend, wie es sich aus der aktuellen Gliederung des Volkes i n wirtschaftliche, berufliche, religiöse und eine Vielzahl anderer Schichten und Sparten sowie der Stellung des einzelnen i n einer oder mehrerer dieser Ordnungen ergibt. Insofern sind sie keine freien politischen Bindungen wie die Parteien, sondern tragen vorzugsweise ständisches Gepräge 26 ; neben ihnen gibt es zahlreiche Organisationen, die wie die Bürgerrechtsverbände und Konsumentenvereinigungen ein so allgemeines Interesse vertreten, daß sie auf allgemeiner Werbung beruhen, an politischer Bedeutung stehen sie aber weit hinter den Verbänden mehr ständischen Charakters zurück. Ein Sektor m i t festumrissenen Grenzen konstituiert noch keine Öffentlichkeit, die immer irgendwie repräsentativ für das soziale Ganze sein muß. Mitgliederwerbung hat nur innerhalb jenes umschriebenen Personenkreises Sinn; ihr kommt i m Vergleich zur Kategorie des Interesses und i n dem von i h m gesetzten Rahmen nur sekundäre Bedeutung zu. Erst wenn sich innerhalb einer bestimmten Interessengruppe mehrere Organisationen bilden, deren Individuationsprinzip außerhalb wiss. Diss. „Der Begriff der politischen Partei im System des politischen Liberalismus", 1933 (gedruckt 1935), diese Merkmale besonders schön und deutlich herausgearbeitet. 24 Vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 83 ff. 25 Davon bilden die Gruppen eine Ausnahme, die ein mehr oder weniger allgemeines Interesse vertreten: Bürgerrechts-, Verbraucher- und Steuerzahlerverbände, Reformgruppen, patriotische und religiöse Vereinigungen usw. 26 Α. A. Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, a.a.O., S. 144.
3. Die politischen Parteien
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dieses Interesses liegt (ζ. B. konfessionell oder parteipolitisch ausgerichtete Gewerkschaften), und diese miteinander i n Konkurrenz treten, gewinnt die Mitgliederwerbimg auch innerhalb der Gruppe wieder größere Bedeutung. Sie steht dann aber unter anderen Vorzeichen als dem des spezifischen Gruppeninteresses. Das Interesse einer so bestimmten Gruppe, einer Pressure Group, ist etwas völlig anderes! als das „Interesse" einer Partei. Max Web\er sagt zwar, daß der Betrieb der Politik wegen der voluntaristischen (auf freier Werbung beruhenden) Grundlage der Parteien praktisch stets Interessentenbetrieb sei („wobei hier der Gedanke an »ökonomische' Interessenten noch ganz beiseite bleibt: es handelt sich u m p o l i t i s c h e , also ideologisch oder an der Macht als solcher orientierter Interessenten") 27 . Diese ein wenig umständlich qualifizierende Parenthese, die sich an anderer Stelle wiederholt 2 8 , zeigt aber deutlich, daß der Begriff des Interesses als solcher nicht geeignet ist, das Wesen der politischen Parteien auszudrücken. Es gibt gewiß kaum eine politische Relation, die sich nicht auch irgendwie m i t Hilfe des Terminus „Interesse" umschreiben ließe, aber dadurch büßt dieser wichtige Begriff, der beginnt, staatsrechtliches Profil anzunehmen, jede eindeutige Bestimmtheit ein. U m so wesentlicher ist i n der Definition der politischen Partei das auch von Max Weber herangezogene und durch Hervorhebung ausgezeichnete Element der politischen Macht. Politische Macht „als solche" ist Staatsmacht. Sie allein genügt aber noch nicht, u m eine wenigstens i m Grundsatz klare Abgrenzung zwischen Parteien und Interessengruppen aufzufinden. Denn auch die Interessengruppen haben eine genuine Beziehung zur staatlichen Macht; sie bedienen sich ihrer zur Förderung ihrer Interessen, üben alle A r t e n des Drucks (pressure) auf sie aus und beteiligen sich an dem Zustandekommen staatlicher Entscheidungen. Aber sie übernehmen für diese Entscheidung niemals die V e r a n t w o r t u n g . Sie handeln unverantwortlich i n staatsrechtlichem Sinn 2 9 . Eine Regierung kann gestürzt werden; die Legislaturperiode eines Parlaments läuft zu einem vorausbestimmten Zeitpunkt ab, sie kann außerdem durch Parlamentsauflösung beendet werden, und die Wähler entscheiden souverän über die Zusammensetzung 27
Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. I, S. 167. Ζ. B. schon auf S. 169. VgL oben Teil I I , 4, Anm. 51 a. — Damit ist natürlich nicht gesagt, daß sie nicht einer anderen, einer hohen sittlichen, religiösen usw. Verantwortung fähig wären. 28
29
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Kaiser, Repräsentation
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
eines neuen Parlaments, d. h. über Macht und Ohnmacht der i n ihm vertretenen Parteien. Die Führung einer Interessengruppe aber kann Maßnahmen, von der Tragweite eines Streiks oder eines Generalstreiks durchführen, die das Leben der Nation auf das empfindlichste i n M i t leidenschaft ziehen, ohne daß die Nation die Führer dieser gewaltigen Macht politisch zur Verantwortimg ziehen könnte (von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sprechen w i r hier nicht; sie ist an eng umschriebene Tatbestände gebunden, läßt sich nur i n einem komplizierten Verfahren realisieren u n d ist ihrer Natur nach absolut ungeeignet, politische Verantwortlichkeit zu ersetzen). Die Frage der internen Verbandskontrolle und -Verantwortlichkeit mag hier offen bleiben; politische Verantwortung für Aktionen von nationalem Belang ist entweder Verantwortimg vor der ganzen Nation, oder es gibt keine politische Verantwortung. Hier liegt darum das wichtigste K r i t e r i u m zur Unterscheidung der Parteien von den Interessengruppen. Für die Zwecke dieser Unterscheidung genügt folgende Formulierung: P a r t e i e n kämpfen um die A u s ü b u n g d e r s t a a t l i c h e n Entscheidungsgewalt unter ihrer eigenen Verantw o r t u n g oder um einen möglichst großen A n t e i l an der v e r a n t w o r t l i c h e n A u s ü b u n g der s t a a t l i c h e n Macht30. I n t e r e s s e n g r u p p e n verfolgen m i t unpolitischen und politischen M i t t e l n — einschließlich der Beeinflussung oder Herbeiführung staatlicher Entscheidungen — die W a h r u n g i h r e r p a r t i k u l ä r e n I n t e r e s s e n , o h n e aber jemals V e r a n t w o r t u n g f ü r d i e A u s ü b u n g d e r s t a a t l i c h e n M a c h t zu tragen. Auch hier kennt die politische Wirklichkeit alle Nuancen des Übergangs und der Verschleierung. Es gibt kaum ein Mittel, das nicht 50 U m es zu wiederholen: Diese Definition erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und w i l l andere Definitionen nicht ersetzen; es geht ihr allein um die Unterscheidung von Parteien und Pressure Groups. Sie besagt vor allem nichts darüber, ob nun schon eine Gruppe, die sich i m Kampf um die staatliche Macht zu beteiligen gedenkt, als politische Partei in dem anspruchsvollen Sinne unseres Verfassungsrechts anzusprechen ist. Für jene Unterscheidung ist es unerheblich, welche Anforderungen man an die äußere Organisation und die innere Ordnung einer Gruppe, ihre Erfolgsaussichten im Wahlkampf und ihre Verfassungsmäßigkeit usw. zu stellen hat, um von einer politischen Partei sprechen und ihr die Hechte einer Partei zubilligen zu können. Dazu vgl. außer der schon genannten Literatur vor allem die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 17. 12. 1927, 12. 5. 1928 und 7. 7. 1928 (Lammer s-Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, Bd. 1 1926/28, Berlin 1929, S. 341 ff., 411 ff. und 309 ff.).
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schon von Interessengruppen angewandt worden wäre, u m Einfluß auf die Ausübung der Staatsmacht zu erlangen und i h n zu sichern. Diese A r t der Interessenwahrnehmung tendiert ihrer Natur nach zur Verdunklung, und Verheimlichung der Einflußnahme. Es ändert aber nichts an ihrem Wesen, wenn die E i n w i r k i m g vor aller Öffentlichkeit vorgenommen wird, wenn etwa, wie geschehen, der Vertreter einer I n teressengruppe i n dem Parlament eines der 48 amerikanischen Einzelstaaten von der Publikumstribüne aus die Abstimmung von Abgeordneten dirigiert (der Führer der französischen Steuerzahlerbewegung, Powjade, schuf i m Frühjahr 1955 einen fast analogen Fall i n der französischen Nationalversammlung). Seine Einwirkung genoß i m Augenblick der Abstimmung eine außerordentliche Publizität (wenn sie auch später nicht i m Protokoll des Parlaments veröffentlicht wurde), aber ohne Frage dachte er nicht daran, an der Verantwortung zu parzipieren, die der Gesetzgeber, das Parlament und der einzelne A b geordnete, für seine Entscheidimg vor dem Volke trägt. Die Verantwortung ist das entscheidende Kriterium. I n allen möglichen Übergängen bezeichnet sie den Punkt, an dem aus einer Interessengruppe eine politische Partei w i r d (vorausgesetzt, daß diese Gruppe alle übrigen Erfordernisse erfüllt, die das Recht eines Staates jeweils i n bezug auf die Größe, Zusammensetzimg, Dauer, Treue zur Verfassung usw. enthält). Die Geburt einer Partei vollzieht sich nicht hinter den verschlossenen Türen von Beratungszimmern, sondern ist ein öffentlicher A k t par excellence. Sie läßt sich durch Beschlüsse und Resolutionen, durch Namensgebung und Propaganda weder herbeiführen noch ersetzen. Ein Verein entsteht durch formgerechte Vereinsgründung, eine Partei aber erst durch den effektiven E i n t r i t t i n die Arena des Wahlkampfs, d. h. durch die K a n d i d a t e n a u f s t e l l u n g . Alles andere ist Vorbereitung, Verteilung der Rollen und Staffage. Erst die Aufstellung von Kandidaten ist die wirksame und genügend konkretisierte Bekundimg des Willens zur eigenverantwortlichen Ausübung der staatlichen Macht. Neben diesem K r i t e r i u m können, wie gesagt, Verfassungsrecht und Verfassungstheorie noch weitere Kriterien entwickeln und höhere, aus dem Recht oder aus der Ethik begründete Anforderungen stellen, die erfüllt sein müssen, bevor sie eine Gruppe als Partei anerkennen. Die Kandidatenaufstellung kann an Bedingungen geknüpft, kann erschwert oder für bestimmte Gruppen unmöglich gemacht werden. Ob das jeweils m i t den Grundlagen der Demokratie i m Einklang steht, bedarf 16*
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
besonderer Prüfung i n jedem einzelnen Fall. Der hessische Innenminister hat 1948 i n einem Runderlaß das hessische Gemeinde Wahlgesetz dahingehend ausgelegt, daß als „demokratische Wählergruppen" nur solche Vereinigungen anzuerkennen seien, die allgemeine kommunalpolitische Ziele und nicht nur wirtschaftliche Sonderinteressen einzelner Bevölkerungsteile verfolgten. Diese Interpretation richtete sich gegen die Interessengruppen der Flüchtlinge und der Evakuierten. Es sollte ihnen nicht gestattet sein, eigene Listen aufzustellen. I n dem Verfahren vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof wurde geltend gemacht, daß auch die sozialdemokratische Partei und die kommunistische Partei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Sonderinteressen einzelner Bevölkerungsgruppen diene. Der Gerichtshof hat die ministerielle Auslegung i n dem U r t e i l vom 1. Dezember 1948 31 abgelehnt. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist es nicht unzulässig, sondern liegt i m Wesen der vom demokratischen Staat gewährleisteten, freien politischen Betätigung, „daß sich ganze Bevölkerungsgruppen zum Zwecke der Durchsetzimg ihrer wirtschaftlichen Interessen zusammenschließen, sei es i n politischen Parteien oder i n örtlich gebundenen Wählergruppen". Eine Wandlung des Parteibegriffes i n dem Sinne, daß die Verfolgung wirtschaftlicher Sonderinteressen m i t dem Charakter einer Partei nicht vereinbar sei, erkennt das Gericht nicht an, denn die Wirtschaftspolitik sei ein wesentlicher Teil der Gesamtpolitik und häufig für die politische Frontenbildung bestimmend 3 2 . I n der Abhandlung „ Z u m Begriff der politischen P a r t e i " 3 3 hat Grew e die These aufgestellt, „daß als Parteien i m Sinne des Verfassungsrechts nur solche Gruppen anzuerkennen sind, die i h r Machtstreben am Gemeinwohl zu legitimieren suchen". Das Postulat, daß die Parteien auf das Staatsganze ausgerichtet sind, findet so eine ethische Erhöhung. Unter dem Aspekt dieser Arbeit ist allein zu fragen, ob der Umstand, daß eine Gruppe „ i h r Machtstreben am Gemeinwohl zu legitimieren sucht", für sich schon ein K r i t e r i u m für die Unterscheidung von Parteien und Interessengruppen ist. Das Gemeinwohl ist i n der Tat ein so hohes und unmittelbar einsichtiges Gut, daß nicht nur Parteien, sondern, wie die Beobachtung lehrt, auch Interessengruppen ihr Streben nach Macht und Einfluß daran zu legitimieren suchen. I n 31 OS Nr. 128/48; Deutsche Verwaltung, 1949, S. 161, mit Anerkennung von C. H. Ule. 32 Glosse „Was ist eine »demokratische Wählergruppe'?", Archiv des öffentlichen Rechts, 75, 1949, S. 104 f.
33
a.a.O., S. 78 ff.
3. Die politischen Parteien
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USA haben Pressure Groups es sich zur Gewohnheit gemacht, i n immer neuen Slogans, zu denen sich die englische Sprache so vorzüglich eignet, i h r Streben nach Macht und Einfluß m i t dem Gemeinwohl zu identifizieren oder daran zu rechtfertigen 34 . Aber auch wenn man etwa die oben 3 5 auszugsweise wiedergegebene programmatische Erklärung des Deutschen Bauernverbandes zur Agrarpolitik oder die w i r t schaftspolitischen Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes 36 liest, stößt man immer wieder auf Identifikationen mit und Legitimationen an der abendländischen K u l t u r , der Existenz des deutschen Volkes, dem gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt, der friedlichen Zusammenarbeit der Völker usw. Die Gewerkschaften unterstreichen ihre Sorge u m das Gemeinwohl, indem sie sich i n ihren w i r t schaftspolitischen Grundsätzen ausführlich auch m i t der Produktivität der deutschen Landwirtschaft, der Not der Heimatlosen und Vertriebenen, dem Wiederaufbau des innereuropäischen Handels, dem Ausgleich der europäischen Handels- und Zahlungsbilanzen und der Wiedervereinigung Deutschlands befassen. I n zahlreichen jüngeren Erklärungen haben sie zu allgemeinen Fragen der Kulturpolitik, der Wiederbewaffnung usw. Stellung genommen und eine Auffassung vertreten, die sich keineswegs immer notwendig und konsequent aus ihrer Funktion, der Interessenvertretung der Arbeitnehmer, ergab und auch nicht aus ihrem speziellen, sondern aus dem Gesamtinteresse des deutschen Volkes begründet wurden. Für die Unterscheidung von Interessengruppen und politischen Parteien (der modernen Massendemokratie; der liberale Parteibegriff bleibt außer Betracht) läßt sich nunmehr zusammenfassend folgendes feststellen: I n der „bewußten Beeinflussung des Staatsganzen" 37 und i n dem Streben nach politischer Macht i m Sinne von staatlicher Macht 3 8 liegt noch kein unterscheidendes M e r k m a l der politischen Partei. Beides läßt sich auch für die Interessengruppen nachweisen 39 . 34 Vgl. statt anderer David B. Truman , The Governmental Process, S. 50 f. und 358 f. Für die Schweiz vgl. Hans Georg Giger, Die Mitwirkung privater Verbände bei der Durchführung öffentlicher Aufgaben, Bern 1951, S. 193. 35 S. Einleitung von Teil I I , 3. 30 Abgedruckt bei Ulrich Brisch, Die Rechtsstellung der deutschen Gewerkschaften, S. 122 ff. 37 Otto Koellreutter, Die politischen Parteien i m modernen Staate, Breslau 1926, S. 9. 38 Max Weber, a.a.O., S. 167 ff., Heinrich Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 12 f. 39 M a n darf eine Bestätigung dieser Auffassung in neueren Abhandlungen
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Ebensowenig läßt sich sagen, daß die Parteien das öffentliche Interesse vertreten oder vertreten müßten, während die Interessenverbände ihre Sonderinteressen vertreten und vertreten dürfen 4 0 . Wilhelm Grewe hat m i t Recht hervorgehoben, daß sich i m konkreten Fall kaum feststellen läßt, ob eine Machtgruppe bestrebt sei, i m Sinne des Gemeinwohls zu handeln, oder ob sie den Sonderinteressen ihrer M i t glieder und Anhänger diene 4 1 . Solche Kriterien lassen sich nicht verifizieren. Sie sind aber auch unzutreffend; auch Pressure Groups (ζ. Β. die Verbände der Steuerzahler und Verbraucher) dienen u. U. und i n Einzelfällen dem Gemeinwohl. Schließlich findet sich auch kein durchgreifendes Unterscheidungsmerkmal i n Thesen, die die Parteien i n ihren Programmen und i n ihrer ethischen Grundhaltung an die Gesamtordnung der Nation und das Gemeinwohl binden wollen: die politische Partei müsse aus ihrer spezifischen Situation zu einer Vorstellung von der Gesamtordnung des politischen Lebens durchstoßen; sie müsse i n ihrem Programm, i n ihren Kundgebungen usw. eine das ganze staatliche Leben umfassende Zielsetzung offenbaren; sie müsse i h r Machtstreben am Gemeinwohl zu legitimieren suchen 42 . Aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung und unter dem Zwang, infolge der zunehmenden Verflechtung der industriellen Gesellschaft sich an der Situation und an den Belangen des sozialen Ganzen zu orientieren, beziehen sich auch die Interessengruppen vielfach auf die Gesamtordnung und das Gemeinwohl. Gruppen- und Parteiprogramme werden so immer ähnlicher. Als maßgebliches K r i t e r i u m w i r d hier die B e r e i t s c h a f t z u r e i g e n v e r a n t w o r t l i c h e n Ausübung der staatlichen erblicken, welche die Demokratie durch den Konkurrenzkampf politischer Gruppen und Parteien um die politische Führung kennzeichnen; wenn auch der Begriff „politische Gruppen" nicht ohne weiteres mit „Interessengruppen" identisch ist, so deutet die Formulierung doch auf die Einbeziehung auch dieser Gruppen in den Prozeß der politischen Willensbildung (vgl. statt anderer Ulrich Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, a.a.O., S. 129 und 142; Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 428, 449 f.). 40 Walter Sulzbach, Die Grundlagen der politischen Parteibildung, Tübingen 1921, S. 104 ff. I n diesem Sinne wohl auch Gerhard Leibholz mit der Unterscheidung zwischen den politischen Zielen der Parteien und den partikular-egoistischen Sonderinteressen der Pressure Groups (Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, Recht, Staat, Wirtschaft, I I I , Düsseldorf 1951, S. 111 f.). 41 Z u m Begriff der politischen Partei, a.a.O., S. 79. 42 Giger, Die Mitwirkung privater Verbände, S. 193 f.; Grewe, a.a.O., S. 78 ff.; Koellreutter, a.a.O., S. 10 f.; Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien, Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932, S. 12 ff.
3. Die politischen Parteien
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M a c h t vorgeschlagen, wie sie sich konkret i n der Kandidatenaufstellung äußert. M i t diesem A k t begibt sich eine Gruppe auf den Weg, der sie nach erfolgreichem Wahlkampf aus dem nicht-staatlichen Bereich der Gesellschaft i n die staatliche Herrschaftsordnung führt und sie zu Trägern staatlicher Macht 4 3 — nicht auf Grund einer staatlichen Delegation, sondern auf Grund des Mandats — qualifiziert. II. Vor dem Hintergrund ihrer verschiedenartigen Stellung i m Staat bzw. in der Gesellschaft erscheint das Verhältnis von Parteien und Interessengruppen als eine natürliche Beziehung der Partnerschaft. Beide sind aufeinander angewiesen: Je mehr eine P a r t e i sich organisatorisch und funktionell i n die Staatsapparatur eingliedert, desto größer ist ihr Bedürfnis, sich an eine soziale Organisation anzulehnen, die der Partei Wählerstimmen zuführt oder Geldquellen erschließt bzw. selbst Subsidien zahlt (häufig sowohl Stimmen wie finanzielle Hi]fe einbringt); dabei hat es mitunter den Anschein, daß wäg- und zählbare Subsidien zur Finanzierimg der Propaganda, namentlich der Wahlkämpfe, auch der Sekretariate usw. noch mehr gesucht und geschätzt sind als die mehr oder weniger sichere (teilweise auch die auf Grund von Tradition und Gewöhnimg ohnehin gewisse) Aussicht auf Wählerstimmen 4 4 . 43 In diesem Zusammenhang ist eine Überlegung von Interesse, die Triepel (Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 28) an Art. 130 W R V („Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei") anknüpft. Er stellt diesen Satz in Parallele zu dem Satz des monarchischen Staatsrechts: Die Beamten sind Diener des Staates, nicht Diener des Fürsten, und schließt daraus auf eine Analogie der Beziehung Fürst-Staat und Partei-Staat. Das ist eine einleuchtende und vielsagende These, die Triepel leider nicht weiter verfolgt hat. Der berühmte Verfasser hat sich ihren Erkenntniswert allerdings verdunkelt durch die unrichtige Prämisse, der Fürst sei in jenem Satz als Privatperson gedacht; solches dem monarchischen Staatsrecht supponieren ist eine contradictio in adjecto. Es ist eine offene Frage, inwieweit die Folgerung aus jener Prämisse richtig ist: Die Weimarer Verfassung habe darum die Partei als etwas Nichtstaatliches betrachtet. Bedeutete nicht schon die bloße Erwähnung einen gewissen Bruch mit dieser Fiktion? 44 Die Bedeutung der Parteispenden führt leicht dazu, daß nicht Gruppen, sondern einzelne Wirtschaftsunternehmen wie Banken, Industriekombinate usw. erheblichen Einfluß gewinnen. Der Columnist Joseph Alsop hat dazu einige aufschlußreiche Angaben über die Verhältnisse in USA gemacht: There is even a softdrink company which has a Senator" (New York Herald Tribune, European Ed., 30. Nov. 1951). Das Grundgesetz sucht dem durch Art. 21 Abs. 1 entgegenzuwirken: „Die Parteien müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben." — Vgl. auch M a x Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, I I , S. 670 über die „krypto-plutokratische Machtverteilung" als Ergebnis des Parteimäzenatentums,
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Für die I n t e r e s s e n g r u p p e n ist das Bedürfnis zum Anschluß an eine Partei noch dringender als umgekehrt. Je mehr w i r uns von der liberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung entfernen, desto mehr nimmt die Macht des Staates über diesen Bereich zu, und desto notwendiger ist staatliche Hilfe zur Verwirklichimg der Gruppenziele, was immer auch i m einzelnen ihr Interesse sein mag. Für sie ist die Partei eine T ü r zum Hebelwerk der staatlichen Macht 4 5 ; wo Parteien den Staat beherrschen, sind sie der entschieden wichtigste Zugang zur staatlichen Macht 4 6 . Der Wert, den eine Partei für eine Interessengruppe darstellt, steigt und fällt nicht nur m i t dem Zunehmen und Abnehmen ihres Anteils an der Herrschaft, oder von den Aussichten, i n den Besitz der Macht zu gelangen, sondern hängt auch von der Energie ab, m i t der sie sich für die m i t ihr liierten Interessen einsetzt. Eine monolithische Klassenpartei m i t Klassenkampfideologie oder solchen Residuen pflegt mit größerem Elan für die m i t i h r assoziierten Interessen einzutreten als eine m i t liberalen Spuren behaftete bürgerliche Partei. Das Verhältnis von Partei und Interesse ist i n der Regel durch die Prärogative der Parteimacht charakterisiert; diese wächst meist mit dem Umfang der Staatsinterventionen i n den wirtschaftlichen und sozialen Bereich: darum die Stärke der Interessengruppen gegenüber den Parteien i n Ländern m i t relativ großer Selbständigkeit dieser Gebiete, besonders in U S A 4 7 . Wenn man einmal absieht von den mehr 45 Dazu namentlich David B. Truman , The Governmental Process, S. 264 bis 270. 46 Das ist die Situation der modernen Demokratie. I h r trägt das Grundgesetz dadurch Rechnung, daß es die Bestimmungen über die Parteien (Art. 21) aus dem I I I . Abschnitt „Der Bundestag", wohin sie der Entwurf von Herrenchiemsee verwiesen hatte, nach vorn in den I I . Abschnitt „Der Bund und die Länder" gezogen hat, der nun besser die Überschrift „Der Bund, die Parteien und die Länder" tragen würde. Denn der Parteienpluralismus und der mit ihm verschwisterte Interessenföderalismus ist für die Bundesrepublik mindestens ebenso kennzeichnend wie der regionale Föderalismus der Länder. 47 Der Aufstieg der Pressure Groups wird zeitlich häufig mit dem A b stieg der Parteiprogramme zu nichtssagenden „platforms" in Zusammenhang gebracht, eine These, die sich i m einzelnen jedoch kaum belegen läßt. Die Parteien indessen verwenden heute relativ wenig Sorgfalt auf ein profiliertes Programm, weil sie sehen, daß die Pressure Groups diese Funktion erfüllen, indem sie den Individuen und Gruppen Gelegenheit geben, ihre Interessen durch eine dieser Organisationen politisch zur Geltung zu bringen. Vgl. statt anderer Ε. E. Schattschneider, Pressure Groups versus Political Parties, The Annals Vol. 259, September 1948 (Parties and Politics) S. 17 ff.; Truman, The Governmental Process, S. 262 f f.; Harold Zink, Government and Politics in the United States, S. 262, und die oben, Teil I, 3, Anm. 1 angeführte Literatur.
3. Die politischen Parteien
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e p h e m e r e n K o n t a k t e n , d i e v o n P a r t e i g r ö ß e n z u V e r b ä n d e n u n d sons t i g e n Z e n t r e n w i r t s c h a f t l i c h e r M a c h t h e r g e s t e l l t w e r d e n , u m Spenden f ü r die P a r t e i k a s s e oder i r g e n d e i n e n D i s p o s i t i o n s f o n d z u e r h a l t e n , so w i r d m a n die I n i t i a t i v e z u r H e r s t e l l u n g v o n B e z i e h u n g e n i n der Regel a u f S e i t e n d e r I n t e r e s s e n g r u p p e z u suchen h a b e n 4 8 . F ü r d e n (häufig h a u p t b e r u f l i c h e n ) V e r t r e t e r eines Interesses m i t e n t s p r e c h e n d e m B ü r o u n d B u d g e t ist es i m m e r leichter, V e r b i n d u n g e n z u schaffen u n d ausz u b a u e n als f ü r
den i n Zeitnot befindlichen einzelnen
Abgeordneten
oder e i n P a r t e i b ü r o . D a v o n g i b t es w e n i g e A u s n a h m e n , d i e d u r c h die Macht
eines
o r g a n i s i e r t e n Interesses oder d u r c h die soziale S t e l l u n g
seiner V e r t r e t e r b e d i n g t s i n d , ζ. B . d i e g r o ß e n K i r c h e n u n d i h r K l e r u s 4 9 . Ich vermag nicht zu erkennen, wie mit dem amerikanischen Befund die Auffassung von F. A. Hermens in Einklang zu bringen ist: Unter dem Regime der Verhältniswahl sei der Einfluß der Interessengruppen in den Parteien größer als im System der Mehrheitswahl (in der verdienstvollen Schrift Democracy or Anarchy, A Study of Proportional Representation, Notre Dame 1941, S. 35 ff.) 48 Übereinstimmend Johanna Kendziora, die davon spricht, daß sich die Interessenverbände in den Parteien „einnisten" (a.a.O., S. 32). Α. A. Joseph A. Schumpeter , der glaubt, daß sich die Interessengruppen in der Regel nicht unmittelbar durchsetzen, sondern oft für Jahrzehnte latent bleiben, selbst wenn sie kräftig und bestimmt sind, bis sie von einem politischen Führer zum Leben erweckt werden; dieser verwandelt sie nach der Auffassung Schumpeters in politische Faktoren, indem er ihre Willensäußerungen organisiert. Die Organisation der Arbeiter durch Lassalle und Max Hirsch sind dafür Beispiele, aber für die Interessengruppen der letzten Jahrzehnte dürfte eine Passivität, wie sie Schumpeter vorauszusetzen scheint, kaum noch zutreffen. 49 Es kann hier nicht der Versuch unternommen werden, das Verhältnis von Parteien und organisierten Interessen im einzelnen darzustellen; es ist vielschichtig und widerspruchsvoll, so daß es schwer ist, allgemeine Regeln aufzustellen. Einige Bespiele mögen jedoch dazu dienen, diesen Komplex zu verdeutlichen. K a t h o l i s c h e und e v a n g e l i s c h e K i r c h e nehmen erheblichen Einfluß auf die Wahlen (vgl. oben Teil I I , 4 m i t Anm. 66 und 67). Die katholische Kirche begründet ihre Einwirkung aus der indirekten Gewalt (Ottaviani, Institutiones Iuris Publici Ecclesiastici Bd. I I , 3. Aufl., S. 169: vgl. auch S. 183 ff.); trotzdem wäre es falsch, eine einzelne politische Partei als ihr politisches Organ zu bezeichnen (übereinstimmend Paul Schempp, Die Stellung der Kirche zu den politischen Parteien, 1946, S. 31, in bezug auf das Zentrum), wenn sie auch oft ihr großes geistiges und politisches Gewicht auf die Waagschale der einen oder anderen Partei legt. Dabei ist sie nicht an einen bestimmten Parteityp gebunden. Sie kann sich jeder Ordnung anpassen und wird sub specie der ihr verheißenen Dauer immer „die compiexio alles Überlebenden" sein (Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923, S. 79 f.). Anders als auf dem europäischen Kontinent tendiert sie, wo sie in der Lage einer Minderheit ist wie in England und USA, zur Labourpartei und zu den Demokraten (für USA statt anderer Truman , The Governmental Process, S. 162). Jahrhunderte haben die e v a n g e l i s c h e Kirche auf der Seite des Staates und der von seiner Führung vertretenen vaterländischen Interessen
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Die Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
I m Mehr- oder Vielparteienstaat hat jede Interessengruppe grundsätzlich die Möglichkeit, sich selbst einen unmittelbaren Zugang zu dem Instrumentarium der Staatsmacht zu verschaffen, indem sie selbst gesehen. Nach dem Kriege wurden indessen zeitweise auch Brücken von der Bekennenden Kirche zur Sozialdemokratie geschlagen, was die Verwandlung Hessens in einen „sozialdemokratischen Musterstaat" begünstigt hat (F. R. Allemann, Das deutsche Parteiensystem, Der Monat, 5, Heft 52 — Januar 1953 — S. 371). Ein entschiedener Wille zur politischen Gestaltung äußerte sich in dem Referat des Dekan Haug, dessen Leitsätze im „Verordnungs- und Nachrichtenblatt, Amtliches Organ der Evangelischen Kirche in Deutschland" (I, Nr. 3, Januar 1946) veröffentlicht wurden. „1. Die christliche Gemeinde ist für das politische Geschehen in dem Volk, dem sie zugehört, mitverantwortlich 2. (Sie) hat im politischen Leben dafür einzutreten, daß die Gebote Gottes befolgt werden. Sie muß hierfür das ganze Volk, die Obrigkeit und alle Parteien in gleicher Weise in Anspruch nehmen. Trotzdem wird die christliche Gemeinde es nicht verhindern können, daß sie Partei im Volksganzen ist. Wenn sie ihrem Willen Gehör und Geltung verschaffen will, wird sie — auch unter den heutigen Verhältnissen — die Bildung einer christlichen Partei beiahen müssen" (unter Hinweis auf Schlatter; vgl. auch oben Teil I I , 4, Anm. 51 a). Mit diesem Selbstverständnis der Kirchen und dem allgemeinen Verhältnis der Gruppen zu den Parteien ist der sog. K a n z e l p a r a g r a p h nicht vereinbar und bedeutet eine einseitige Diskriminierung gegen die Kirchen. Die Vorschrift, daß ihre Einrichtungen und Veranstaltungen nicht „zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht" werden dürfen, beruht auf der liberalen Trennung der Sachbereiche (vgl. oben Teil I I I , 1 a. E.); ihr Wiederaufleben in der Verfassung von Württemberg-Baden vom 24. 11. 1946 (Art. 29 I I ) war ein Anachronismus. Interessengruppen erfüllen häufig die nützliche Funktion, daß sie den Parteiwillen teilweise präformieren, ihm in Detailfragen die Elemente liefern, indem sie den Willen der jeweils interessierten Schicht deutlich zum Ausdruck bringen. Sie haben diese Funktion vor allem dann, wenn die Parteiprogramme genügend Raum dazu lassen, wie in USA. Nicht selten haben sie aber auch eine desintegrierende Wirkung. Das galt ohne Zweifel für die sizilianische M a f i a , die dank ihrer straffen Organisation und ihrer namentlich auf Furcht und Schrecken gegründeten Herrschaft über die Bevölkerung bei den Wahlen über weit mehr Stimmen gebot, als sie M i t glieder zählte. Diese Macht der Mafia konnte nicht ignoriert werden, und in unmittelbaren Verhandlungen zwischen Vertretern der Regierung und der Mafia wurden dieser Zugeständnisse gemacht, die der Geheimbund mit der Lieferung von Wahlstimmen honorierte (Gaetano Mosca, Che Cosa é la Mafia, Vortrag aus dem Jahre 1900, veröffentlicht in Partiti e Sindacati nella Crisi del Regime Parlamentare, Bari [Laterza] 1949, S. 243 f. und passim). Die Macht einer Organisation über die Wahlstimmen ihrer Mitglieder sinkt in einer Gesellschaft mit großer sozialer Mobilität. Das tritt bei amerikanischen Wahlen immer wieder zutage. Selten haben a m e r i k a n i s c h e Gewerkschaften so eindeutig ihre hergebrachte Neutralität aufgegeben wie bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1952 (vgl. das C.I.O. Endorsement für den Kandidaten Adlai E. Stevenson, New York Times vom 15. 8. 1952). Der überragende Sieg Eisenhowers zeigt, wie wenig die Gewerkschaftsparole befolgt wurde. Noch erstaunlicher ist die ständige Wiederwahl des erklärten Gewerkschaftsgegners Robert Taft in einem Wahlkreis, dessen Bevölkerung vorwiegend aus Industriearbeitern besteht. Andererseits vermochten einige Funktionäre der C.I.O. den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Alben W. Barkley, Ende Juli 1952 auf dem Kongreß der demokratischen Partei in Chicago von der Ausübung seines passiven
3. Die politischen Parteien
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zur Partei wird, d. h. eigene Kandidaten aufstellt, einen Wahlkampf mit Erfolg besteht und durch eigene Abgeordnete i m Parlament vertreten -ist. Das Verhältniswahlrecht ist dazu eine fast unentbehrliche Wahlrechts abzuschrecken; er zog seine Kandidatur zurück, nachdem sie ihm erklärt hatten, sie würden seine Wahl zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten nicht unterstützen, da er mit 74 Jahren zu alt sei (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4. 8. 1952 und New York Times v. 25. 7. 1952). I m allgemeinen sind Pressure Groups die dynamischen Kräfte in und hinter den schwerfälligeren Parteien. Die beiden Hauptstützen der e n g l i s c h e n Labourparty, die Gewerkschaften und die Verbrauchergenossenschaften, sind ein Beispiel für das Gegenteil; sie haben seit Jahrzehnten einen entschieden m ä ß i g e n d e n Einfluß auf die Partei ausgeübt (das hat zeitweise auch für die deutschen Gewerkschaften in ihrem Verhältnis zu sozialistischen Parteiideologen gegolten). Man kennt die scharfe Gegnerschaft des Trades Union Congress gegen den von Bevan geleiteten radikalen Parteiflügel. Die Konsumgenossenschaften (veri, auch oben Teil I, 1, Anm. 25) verhinderten nach dem zweiten Weltkrieg die Verstaatlichung der Versicherungsgesellschaften, an denen sie finanziell stark beteiligt waren. Das Parteiprogramm sah darum statt Verstaatlichung „Mutualisation", den allmählichen Übergang des Eigentums in die Hände der Versicherungsnehmer, vor (William A. Robson, Nationalised Industries in Britain and France, American Political Science Review, 44, 1950, S. 308, Anm. 30). Wird eine Interessenorganisation übermächtig und stellt sie ein f e u d a l e s H e r z o g t u m i m S t a a t dar, ändert sich das Bild vollständig: Nun antichambrieren nicht mehr die Interessenvertreter bei den Parteien, sondern die P a r t e i e n k ä m p f e n u m d i e M a c h t i n e i n e r O r g a n i s a t i o n . fast wie sie um die Macht im St.^t kämpfen. D^s beste Beispiel ist die „Histadruth", der Gewerkschaftsbund in Israel, die wahrscheinlich die relativ mächtigste Gewerkschaft innerhalb eines Staates ist. Dementsprechend scharf sind die Parteigegensätze innerhalb der „Histadruth", in der die gemäßigte Regierungspartei „Mapai" und die extrem linke Minderheitspartei „Mapam" eine Auseinandersetzung führen, deren Schärfe an die Zeit der Religionskriege erinnert. Es ging so weit, daß sich ein Zusammenleben von Mitgliedern der beiden Parteien in den Gemeinschaftssiedlungen als unmöglich erwies (Neue Zürcher Zeitung v. 12. 11. 1951). — Es ist auch immer wieder das Schicksal der K i r c h e n gewesen, daß Parteien, vor allem autoritäre Parteien, versucht haben, sie zu erobern. Es mag genügen, auf das Schicksal der evinse]Jüchen Kirche und die Organisation der „Deutschen Christen" im Dritten Reich sowie auf den Kampf zwischen Staat und katholischer Kirche in den Ländern des Ostblocks hinzuweisen: die Gründung von retri™etreuen Priestervereinen innerhalb der katholischen Kirche in Jugoslawien ist eine gleichartige Erscheinung. Walther Lambach hat auf die Wechselwirkung zwischen dem Reichslandbund und den Parteien der Weimarer Republik hingewiesen (Die Herrschaft der Fünfhundert, Hamburg-Berlin 1926. S. 77). Vgl. dazu auch Heinrich Triepel, der glaubte, die Macht der Parteien sei noch so groß, daß sie alle ständisch oder sonstwie organisierten Gebilde „ebenso durchfressen würden, wie sie es mit den alten, naturgewachsenen, den Gemeinden und anderen, getan haben — es müßten denn jene auf einer so großen Einfachheit und einer so vollständigen Gleichheit der Interessen ihrer Mitglieder beruhen, daß es in ihrem Kreise keine Gegensätze gäbe, die von den politischen Parteien als Einbruchstelle benützt werden könnten" (Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, S. 35). Parteien, die i m Parlament keine oder nur eine minimale Operationsbasis finden (sei es, daß sie als verfassungswidrig verboten sind, sei es,
2 5 2 D i e Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Voraussetzung. Die Aufwertungspartei ist ein typisches Beispiel aus der Weimarer Zeit. Die Erfahrung dieser Epoche lehrt jedoch, daß die parlamentarische Vertretung einer Gruppe nicht viel nützt, wenn sie zahlenmäßig zu schwach ist, u m sich wirksam zur Geltung bringen zu können 5 0 . I n der Bundesrepublik war der B l o c k d e r H e i m a t v e r t r i e b e n e n u n d E n t r e c h t e t e n (BHE) ursprünglich ein typisches Beispiel für eine reine Interessenpartei. Er konnte seit 195051 vor allem i n den flüchtlingsreichen Ländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen bedeutende Erfolge erreichen, die i h n i n diesen Ländern schon früh zum E i n t r i t t i n die Regierungskoalition führten. Auch in Bayern und i n dem neuen Bundesland Baden-Württemberg konnte sich der Block an der Regierungsbildung beteiligen, und nach den Bundestagswahlen vom 6. September 1953 traten zwei Vertreter des B H E als Minister sogar i n die Bundesregierung ein. Es ist eine seltene Erscheinimg, daß ein singuläres, ökonomisches Interesse derart verschiedene soziale Elemente zu einer so erfolgreich operierenden Aktionseinheit zusammenschließt. M i t der Verabschiedung des Gesetzes über den Lastenausgleich vom 14. August 1952 52 ist nun das ursprüngliche Programm dieser Partei großenteils erfüllt. Je mehr i h r aber die Eingliederung der Heimatvertriebenen i n die westdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft gelingt, u m so schmaler w i r d die soziale Basis, auf die daß sie wie die Kommunistische Partei in der Bundesrepublik keine Wahlerfolge hat), konzentrieren ihre Agitation auf zahlenmäßig große Organisationen, vorzüglich die Gewerkschaften; das gilt besonders, wenn sie durch finanzielle Hilfe vom Ausland künstlich am Leben erhalten werden. (Vgl. ζ. B. über den Einfluß der Kommunisten in englischen Gewerkschaften Joseph Goldstein, The Government of British Trade Unions, A Study of Apathy and the Democratic Process in the Transport and General Workers Union, London (Allen and Unwin) 1952, S. 61 f., 186 ff., 216 f. und 259 f., und in größerem Zusammenhang Douglas Reed, Der große Plan der Anonymen (Ubers, v. „From Smoke to Smother", London 1949). Zürich (Thomas Verlag) o. J., S. 183 ff.). Viele Geheimdienste und Fünfte Kolonnen haben versucht, in dem politischen Zwielicht von Interessengruppen ihrem Ziel näher zu kommen, „to worm in", wie der bildkräftige englische Ausdruck lautet. 50 Vgl. Otto Koellreutter, Der deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat, Tübingen 1927, S. 25 f. 51 Die Besatzungsmächte ließen vorher reine Flüchtlingslisten nicht zu. Auch für Japan hatte die Far Eastern Commission mit Bezug auf die Gewerkschaften angeordnet, daß es ihnen gestattet sein solle „to take part in political activities and to support political parties". Der Supreme Commander in Tokio interpretierte die Anordnung mit gewohnter Selbständigkeit „as permitting non-partisan, pressure group activities in support of limited objectives"; Miriam S. Farley bedauert, daß man den Japanern nur dieses System offeriert habe, das am wenigsten zu ihrer Situation passe (Labor Policy in Occupied Japan, Pacific Affairs, 20, 1947, S. 139 f.). 52 BGBl. I, S. 446.
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sie sich stützt. Ihre Erfolge nehmen dem Sonderinteresse der Flüchtlinge, das sie organisiert und repräsentiert, den Boden; es t r i t t hinter den Interessen der Schicht zurück, i n die der Flüchtling jeweils hineinwächst. Es ist bemerkenswert, daß die einmal geschaffene Form trotzdem bestehen bleibt und nach neuen Inhalten verlangt. Die Parteiführung hat die Wiedervereinigung Deutschlands als neuen Programmpunkt der Partei proklamiert und sich i m November 1952 umbenannt i n „Gesamtdeutscher Block (BHE)". Der Wähler w i r d entscheiden, ob dies auf die Dauer ein genügendes K r i t e r i u m ist gegenüber den anderen Parteien, die ebenfalls der Wiedervereinigung zu dienen bestrebt sind. I n umgekehrter Richtung kann eine politische Partei zu einer Interessengruppe degenerieren, wenn sie sie Aussicht verliert oder darauf verzichtet, Parlamentssitze zu gewinnen. Sie mag sich dann darauf beschränken, ihren Anhängern die Unterstützimg einer anderen Partei zu empfehlen und versuchen, von dieser dafür politische Konzessionen einzuhandeln. Unter Umständen ist das der Weg, der den englischen Liberalen vorgezeichnet ist 5 3 . I m allgemeinen ziehen es die Interessengruppen i m Mehrparteienstaat vor, gleichzeitig i n verschiedenen Parteien vertreten zu sein und selbst i m Zweiparteiensystem der Vereinigten Staaten legen die großen Interessengruppen Wert auf gute Beziehungen zu beiden Parteien. I m ersten Bundestag der Bundesrepublik ist das Beispiel des Deutschen Gewerkschaftsbundes besonders eindrucksvoll; er ist überwiegend i n der SPD, aber auch i n der CDU vertreten 5 4 . Auch die Bundestagsabgeordneten, die sich als Interessenvertreter der Heimatvertriebenen betrachten und m i t dem BHE sympathisieren, sind teilweise i n ihren Fraktionen verblieben und haben den Einfluß, den sie dort ausüben, nicht zugunsten der Konstituierung einer kleinen eigenen Fraktion aufgeben wollen. I m ganzen dürften heute erheblich mehr Interessenvertreter Bundestagsmandate innehaben, als w i r gegen Ende der Weimarer Epoche i m Reichstag finden. Die Verbände sind heute so stark, daß sie i n 58
The Economist vom 1. M a i 1954, S. 355 f. Rupert Breitling hat unter der Leitung von Dolf Sternberger in der Politisch-Wissenschaftlichen Forschungsgruppe des Alfred-Weber-Instituts in Heidelberg verdienstvolle Untersuchungen über die Vertretung der I n teressen im Bundestag angestellt, die in absehbarer Zeit veröffentlicht werden sollen. I n der Weimarer Republik stieg die Vertretung der Interessengruppen im Reichstag von 1 °/o der Mandate i m Jahre 1919 auf 8 e /o 1930; vgl. im einzelnen Walther Lambach, Die Herrschaft der Fünfhundert, S. 75 ff. und Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien, S. 53, 62. 66, 104 und 107. 64
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
erheblichem Umfang Gewerkschaftsführer, Syndici, Landwirte usw. als die Sachwalter ihrer Interessen auf den Kandidatenlisten der großen Parteien unterbringen. Sie haben so ihre Vertreter als Abgeordnete i m Bundestag und i n den Landtagen, woraus man indessen keineswegs auf die Übernahme politischer Verantwortimg durch die Verbände schließen kann. Ihre Vertreter mögen i n den Parlamenten berufen sein (weil durch die Partei beauftragt), die Interessen des Verbandes wahrzunehmen, ihr Mandat erhielten sie jedoch als Kandidaten einer politischen Partei, nicht als die Vertreter eines Verbandes, und ihre Reden und Voten i m Parlament werden der Partei zugerechnet, so interessant es i m Einzelfall sein mag, sich der Verbandszugehörigkeit eines Abgeordneten zu erinnern. Das einschlägige Schrifttum der Weimarer Zeit, eine Fundgrube aktueller Erkenntnisse, stand unter dem Eindruck der großen Wandlung, die Parteien und Parteibegriffe unter dem Druck organisierter Interessen durchmachten. Die Entwicklung spiegelt sich i n den verfassungsrechtlichen Definitionen, u m gegen Ende der Epoche m i t erregendem Problembewußtsein aufgezeichnet zu werden 5 5 . Das vorherrschende Phänomen ist die Verfestigung der Partei u n d der Parteienpluralismus. Hinter ihnen treten die Organisationen der Interessengruppen noch zurück. Ihre Zeit war i n Deutschland und, wie es scheint, i n den übrigen Staaten des Kontinents noch nicht gekommen. Die Vielzahl der Interessen, deren jedes Individuum fähig und unabhängig teilhaftig ist, w a r keine Vielfalt selbständiger und unabhängig voneinander bestehender (wenn auch nicht gleichwertiger) Interessen, die man i n unabhängigen Organisationen pflegen kann; sie waren vielmehr eingebettet i n die gemeinsame Lebenslage einer jeweils bestimmten und definierbaren Bevölkerungsschicht. Die Schichten aber, die keineswegs nur ökonomisch bestimmt waren und die i n den größeren politischen Parteien ziemlich genau i n Erscheinung traten, hatten noch weitgehend den Charakter von Klassen. Von dort bestimmten sich die festen Grenzen der verschiedenen Organisationskomplexe, die u m einen politischen K e r n m i t wirtschaftlicher, patriotischer oder religiöser Grundtönung ein System von Jugend-, Berufs-, Erholungs-, Fortbildungs- und anderen Vereinen schufen, die das Leben der Schicht und jeden einzelnen i n i h r i n seiner Totalität zu erfassen suchten. Der 55
Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 83 ff.
4. Das Parlament
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Klassencharakter dieser Gesellschaft verhinderte, daß die verschiedenen Interessen der Gruppen und der Individuen sich von einer bestimmten kollektiven Lebenslage abhoben und als selbständige Kräfte ins Spiel kamen. Die Organisation der Klasse oder der Schicht erhob Anspruch auf den ganzen Menschen und suchte die Verselbständigung der Sachbereiche und der ihnen zugeordneten Interessen zu verhindern. Die Interessen so großer Gruppen wie der Arbeiter, der Unternehmer, der Bauern, religiöse und weltanschauliche Interessen usw. waren verfilzt m i t den verschiedenen Schichten und deshalb einer großen, einheitlichen und selbständigen Bewegung auch gegenüber den politischen Parteien nicht fähig. Die Zerschlagung der Schichten und die Abwanderung der Parteien i n den staatlichen Machtapparat öffneten ein weites, freies Feld zwischen Individuum und Staat, einen n e u e n i n t e r m e d i ä r e n B e r e i c h , i n dem die verselbständigten Interessen schnell zur Unabhängigkeit und Größe neuer intermediärer Gewalten aufgewachsen sind. Das ist ihre soziale und politische Position gegenüber der staatlichen Macht und Autorität, die ihnen i n den Parteien und i n den drei klassischen Gre walten, Legislative, Exekutive und Justiz, entgegentritt.
4. Das Parlament Auch i m Parlament sind primär die Parteien die Adressaten der Wahrnehmung organisierter Interessen. Sie sind es u m so mehr, je wirksamer Parteimaschine und Fraktionsführung den Abgeordneten gegenüber den außerparlamentarischen Kräften mediatisiert haben, je weniger der Abgeordnete noch Vertreter des ganzen Volkes und nur seinem Gewissen unterworfen ist (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) 1 . Zwar ist auch die ebendort herkömmlich postulierte Freiheit von der B i n dung an Aufträge und Weisungen faktisch weitgehend relativiert, aber — mindestens auf dem europäischen Kontinent — weniger zugunsten von Wählergruppen oder (was viel häufiger ist) von starken Interessen1 Uber den Widerspruch zwischen diesem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation und dem in Art. 21 legalisierten Parteienstaat vgl. Gerhard Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie, Deutsches Verwaltungsblatt, 1951, S. I f f . ; K a r l Loewenstein, Uber die parlamentarische Parteidisziplin im Ausland, in der Sammlung „Die politischen Parteien i m Verfassungsrecht", 1950, S. 25 ff.; Ulrich Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, a.a.O., S. 145, und den Bericht über die einschlägigen Verhandlungen des Parlamentarischen Rates von Werner Matz, in „Die politischen Parteien i m Verfassungsrecht", S. 46 f.
2 5 6 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Organisationen2, denen er nahesteht, angehört oder die seine Wahl unterstützt haben, sondern zugunsten des Parteivorstandes und der Fraktionsdisziplin. Die Adressaten der organisierten Interessenwahrnehmung sind vornehmlich die Parteien, aber auch das Parlament als Ganzes wie der 2 Eine gewisse persönliche B i n d u n g z w i s c h e n individuellen P a r l a m e n t a r i e r n und Organisationen über die Parteigrenzen hinweg ist nichtsdestoweniger vorhanden. Jeder größere Inter essen verband hat seine Vertrauensleute in den wichtigsten Ausschüssen des Parlaments, durch die er auf dem laufenden gehalten wird und die in Angelegenheiten von minderer Bedeutung auch seine Sprecher sind. Aus bedeutenderen A n lässen erfolgt der Einfluß dagegen immer über die Fraktions- oder Parteiführung oder die Parteiprominenz. Es wurde schon gesagt, daß jeder größere Verband in mehreren Parteien vertreten ist. Dadurch ergeben sich sog. Q u e r v e r b i n d u n g e n , die u. U. von großer Bedeutung für das Schicksal eines bestimmten Gesetzes und auch, wenn es sich um ein sehr labiles System handelt wie die Koalitionen der Weimarer Republik und oft auch der Dritten und Vierten Republik Frankreichs, für das Schicksal der Regierung sein können. Lambach hat diesen Querverbindungen viel Aufmerksamkeit gewidmet, und es kann hier auf ihn verwiesen werden (Die Herrschaft der Fünfhundert, S. 75—87). I n dem Vielparteiensystem des Reichstags hatten sie eine größere Bedeutung als unter den konsolidierten und integrierten Parteiblöcken des ersten und zweiten Bundestages der Bundesrepublik. Sie konnten dort eine große Macht entfalten, wenn es ihnen gelang, sich rein und geschlossen auszuwirken. Auch heute sind solche Querverbindungen noch wirksam. Der Führer des BHE, Linus Kather, hat ζ. B. alle Vertriebenen unter den Bundesabgeordneten s. Z. aufgefordert, eine „Gemeinschaft der Opposition" gegen den Entwurf der Regierung zum Lastenausgleichsgesetz zu bilden (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 2. 1951). Zuweilen sind es die leitenden Persönlichkeiten einer Organisation, die sich auf einer Liste der ihr nahestehenden Partei ins Parlament wählen lassen und dort u. U. eine führende Stellung einnehmen. Der Vorsitzende des österreichischen Gewerkschaftsbundes, Johann Böhm, ist beispielsweise Vizepräsident des Nationalrates. I n diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der K o m p a t i b i l i t ä t von Abgeordnetenmandat und Vertretung einer Interessengruppe. Das britische Unterhaus hat sie 1947 i m Fall des Mr. Brown, M . P., v e r n e i n t (House of Commons, Parliamentary Paper printed by Order of House, S. 118 [1946—47]. Brown hatte mit dem executive committee einer Gewerkschaft, der Civil Service Clerical Association einen Vertrag, auf Grund dessen er von der Gewerkschaft ein Gehalt empfing. Dieser Fall gab dem Unterhaus Gelegenheit, am 15. Juli 1947 zu dem Verhältnis zwischen pressure groups und Abgeordneten in einer Resolution Stellung zu nehmen; in ihr heißt es: „it is inconsistent w i t h the dignity of the House, with the duty of a Member to his constituents, and with the maintenance of the privilege of freedom of speech, for any Member of this House to enter into any contractual agreement with an outside body, controlling or limiting the Member's complete independence and freedom of action in Parliament or stipulating that he shall act in any way as the representative of such outside body in regard to any matters to be transacted in Parliament; the duty of a Member being to his constituents and to the country as a whole, rather than to any particular section thereof". Vgl. Thomas Erskine May's Treatise on the Law, Privileges Proceedings and Usage of Parliament, 15 t h ed. London 1950, S. 50.
4. Das Parlament
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einzelne Abgeordnete. Zum Zwecke einer möglichst intensiven Wahrnehmung ihrer Interessen unterhalten die Organisationen am Sitze des Parlaments und der Regierung eigene Delegationen, parlamentarische Verbindungsstellen, Büros, Klubräume, i n denen sie m i t den ihnen nahestehenden Abgeordneten, m i t Angehörigen der Ministerialbürokratie und u. U. (selten) m i t Vertretern anderer Interessen konferieren, oft auch nur eine einzelne Persönlichkeit, einen „Repräsentanten", wie man sich zu sagen gewöhnt hat; zuweilen sind sie auch nur für einen begrenzten Zeitraum vertreten, solange eine interessierende Materie i m Parlament zur Beratung ansteht. Für die Gesamtheit der Interessenvertreter hat sich i n Amerika der Ausdruck „Lobby" eingebürgert, der auch i n anderen Sprachen zunehmend Eingang findet, je mehr man sich dieses Phänomens bewußt wird. I n Deutschland ist es 6eit langem bekannt. Walther Lambach meinte dasselbe, wenn er von den „Benutzern des roten Teppichs i n der Wandelhalle des Reichstags" sprach 3 . Die Syndici aller industriellen Gruppen gehörten zu seinen ständigen Benutzern. A n einer Reihe von anderen Verbänden i l l u striert er Technik und W i r k u n g dieser Einflußnahme außerparlamentarischer Mächte: von den Landbundsyndici, die während bestimmter Gesetzesberatungen i m Hause m i t ihren Bundesangehörigen konferierten, bis zu den Vertretern der Aufwertungsverbände, die „immer zu fünfen einen Abgeordneten i n ihre Mitte und i n ihre konzentrierte Behandlung nahmen", den Weinbauern, die i m Reichstagsgebäude eine Weinprobe veranstalteten und den Vereinen Stolze-Schreyscher Stenographen, die ihre Abgeordneten i n Telegrammen aufforderten, die Einheitsstenographie abzulehnen 4 . Aus der Lektüre dieser Seiten w i r d deutlich, daß schon die Taktiken und Praktiken der Reichstagslobby sich i n ihrer A r t von den Gebräuchen der amerikanischen Lobby nicht unterschieden haben 5 . Gewiß kennen w i r auch heute i n Deutschland noch nicht den immensen Einsatz dieser M i t t e l und ihre ausgeklügelte Technik. Aber das begründet keinen Artunterschied; es ist i m wesentlichen nur der Unterschied zwischen einer reichen und einer armen Demokratie und eine Angelegenheit der Erfahrung i m Umgang m i t diesen Mitteln. 3 4
Herrschaft der Fünfhundert, S. 78. a.a.O., S. 77, 85 f.
5 Diese wurden oben Teil I, 3 dargestellt, und es erübrigt sich darum hier, darauf eingehend zurückzukommen.
17
Kaiser, Repräeentation
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
A r t h u r F. Bentley sprach schon 1908 i n seinem heute noch vielzitierten Werk „The Process of Government" 6 von Organisationen, die man als „substitute legislatures" bezeichnen könne, da sie einen vollständigen Gesetzentwurf ausarbeiten könnten und i h n nur zur bloßen „Ratifikation" dem Gesetzgeber zu übergeben brauchten 7 . Z u dieser Formulierung gibt es eine bemerkenswerte deutsche Parallele. A m 30. Januar 1951 erklärte der Sprecher der Bundesregierung zum M i t b e s t i m m u n g s g e s e t z , das Kabinett habe die von den Sozialpartnern ausgearbeitete und miteinander vereinbarte Vorlage zur Kenntnis genommen und an die parlamentarischen Instanzen weitergeleitet. Diese Formel wurde dahingehend interpretiert, die Regierung entspreche i n diesem Falle lediglich dem Wunsch der Gewerkschaften, das m i t den Arbeitgebern geschlossene Abkommen gesetzlich verankert zu sehen; die Regierung wolle sich anscheinend nur i n der Rolle eines Notars sehen, der einen Vertrag nur i n die juristische Form bringe, ohne damit selbst den Inhalt des Vertrages zu billigen. Der Regierungssprecher wurde am nächsten Tage vom Bundesarbeitsminister desavouiert 8 : die Sozialpartner seien Berater der Regierung gewesen; diese sei gewiß auf eine eigene A r t vorgegangen, aber ihr Vorgehen bedeute keine staatspolitische Unmöglichkeit. Trotzdem w i r f t die Erklärung des Regierungssprechers ein bezeichnendes Licht auf die Entstehung des Gesetzes über die Mitbestimmimg vom 21. M a i 19519. Sie ist gekennzeichnet durch eine Erklärung des Arbeitsministers, die er i n der ersten Parlamentarischen Debatte um das M i t bestimmungsgesetz am 27. J u l i 1950 vor dem Bundestag abgab: die angestrebte Verständigung zwischen den Sozialpartnern solle i n Gesetzentwürfen der Regierung ihre Fundamentierung finden; die Sozialpartner sollten dem Parlament Wege weisen, wie man zu einer neuen Sozialordnung kommen könne 1 0 . Es ist keine Seltenheit, daß Parteien β A Study of Social Pressures, zit. nach dem zweiten Neudruck, Bloomington (Principia Press) 1949. 7 „ . . . a purely voluntary organization may be formed, may work out legislation, and may hand it over completed to the legislature for mere ratification" (S. 432 f.). 8 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 1. und 1. 2. 1951. 9 BGBl. I, S. 347 ff.; vgl. dazu auch Götz Briefs, Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus, S. 106 ff. 10 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, I. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, S. 2969 f. „Wenn w i r auf diesem Gebiet politische Gesetze schaffen, die nicht von den Sozialpartnern anerkannt werden, werden sie ebensowenig wirksam werden wie die Gesetze, die w i r vor der Währungsreform wirtschaftspolitisch im damaligen Vereinigten Wirtschaftsgebiet erlassen haben" (S. 2970).
4. Das Parlament
259
Gesetzentwürfe i m Parlament einbringen, die von ihnen nahestehenden Interessengruppen ausgearbeitet sind; die Gewerkschaftsvorschläge zum Mitbestimmungsgesetz sind ζ. B. von der Fraktion der SPD i m Bundestag eingebracht worden. Aber es war das erste Mal, daß eine Regierungsvorlage m i t den Abmachungen zweier Interessengruppen identisch war. I n der für die gesamte Volkswirtschaft außerordentlich wichtigen Frage der Mitbestimmung sahen sich Parlament und Öffentlichkeit trotz heftigen Widerstrebens mit einer durchaus extra-konstitution eilen Form der staatlichen W i l l e n s b i l d u n g konfrontiert. Sie erfolgte nicht, wie es die traditionelle Lehre w i l l , i n der parlamentarischen Diskussion (für die von der Bürokratie allenfalls die Materialien geliefert werden), sondern maßgeblich i n den langen und heftigen Auseinandersetzungen zwischen den organisierten Interessen von Kapital und Arbeit. Der Staatswille war, wie i n diesem Fall m i t greller Deutlichkeit sichtbar geworden ist, inhaltlich nichts anderes als das zwischen den Interessen geschlossene, von den Interessenvertretern formulierte Kompromiß. Die staatliche Einheit gründete sich i n der Frage der Mitbestimmung auf die Balance heterogener Interessen. Der Vorgang ist eine wichtige Illustration zu der von Dietrich Schindler getroffenen Feststellung, daß i m modernen Staat selten ein wichtiges Gesetz zustande kommt, „ohne daß die Zustimmung großer Interessenkreise i n einer außerhalb der ordentlichen Rechtssetzimg bleibenden vertragsähnlichen Form gesichert i s t " 1 1 . Das erregende Moment i n der Entstehungsgeschichte des Gesetzes über die Mitbestimmung ist darum nicht der Umstand, daß es eine Ausnahme von der Regel bildet, sondern daß es eine von der Verfassung und der Verfassungslehre bislang ignorierte Regel i n besonders drastischer A r t und Weise zu allgemeinem Bewußtsein b r i n g t 1 2 . Die Verhandlungen der Sozialpartner, die schließlich unter M i t w i r k u n g des Bundeskanzlers stattfanden und i n denen der Inhalt der vom Bundestag zum Gesetz erhobenen Vorlage beschlossen wurde, 11
Werdende Rechte, a.a.O., S. 422. K a r l Loewenstein nimmt das zum Anlaß einer herben Kritik, die in anderem Zusammenhang (unten Teil I V , 3) eingehendere Würdigung verdient: „Es gibt kaum einen anderen Punkt, wo sich die U n Wirklichkeit und Lebensfremdheit der Nachkriegsverfassungen in so grellem Licht zeigt, wie bei der altmodischen Vernachlässigung und Nichtbeachtung dessen, was dem modernen Staatsbetrieb seinen pluralistischen Charakter gibt" (Verfassungsrecht und Verfassungsrealität, Arch. d. öff. Rechts, 77, 1951/52, S. 413). 12
n*
260
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
standen unter S t r e i k d r u c k .
Auch für die Zeit der
parlamenta-
rischen V e r h a n d l u n g h i e l t d e r Deutsche G e w e r k s c h a f t s b u n d d i e S t r e i k d r o h u n g a u f r e c h t . E r l e u g n e t e d e n p o l i t i s c h e n C h a r a k t e r des S t r e i k s u n d v e r m i e d es s o r g f ä l t i g ,
die F r a g e seiner B e r e c h t i g u n g z u r
Dis-
k u s s i o n z u stellen. S t a t t dessen berief e r sich a u f A r t . 9 A b s . 3 G G , d e r das K o a l i t i o n s r e c h t z u r W a h r u n g u n d F ö r d e r u n g d e r A r b e i t s - u n d Wirtschaftsbedingungen
gewähre,
und
auf
das
T a r i f Vertragsgesetz;
auch d i e M i t b e s t i m m u n g sei eine F r a g e d e r B e t r i e b s v e r f a s s u n g
(und
beide N o r m e n i m p l i z i e r t e n das S t r e i k r e c h t 1 3 ) . Das f ü r d i e staatsrechtl i c h e B e u r t e i l u n g eines S t r e i k s entscheidende M o m e n t ist a b e r n i c h t s e i n A n l a ß u n d n i c h t e i n m a l i n e r s t e r L i n i e das Z i e l , das m i t
ihm
e r r e i c h t w e r d e n s o l l 1 4 , s o n d e r n der A d r e s s a t , gegen d e n e r sich, u n mittelbar
oder m i t t e l b a r ,
richtet. Die Rechtsordnung hat einen
be-
s t i m m t e n u n d k l a r d e f i n i e r b a r e n R a u m ausgespart, i n d e m d i e M i t t e l des A r b e i t s k a m p f e s , S t r e i k u n d A u s s p e r r u n g z u r A n w e n d u n g k o m m e n d ü r f e n : das B e z i e h u n g s f e l d z w i s c h e n A r b e i t g e b e r u n d
Arbeitnehmer,
das e i n e r R e g e l u n g d u r c h A r b e i t s - u n d T a r i f v e r t r a g z u g ä n g l i c h i s t 1 5 . S t r e i k u n d A u s s p e r r u n g s i n d n u r r e c h t m ä ß i g , w e n n u n d solange sie 15 A.A. bzgl. Art. 9 GG. zu Recht Wernicke im Bonner Kommentar mit zahlreichen Nachweisen. Zu den in dem Briefwechsel Adenauer—Böckler vorgetragenen Argumenten vgl. W.G. in der Glosse „Streik als politisches Kampfmittel" im Arch. d. öff. Rechts, 76, 1950/51, S. 491 ff. Die Streikaktionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes hatten ein syndikalistisches Element, indem sie sich gegen die politische Autorität des Parlaments richteten. Alfred Weber machte sich die gewerkschaftliche Auffassung zu eigen, indem er behauptete, es gebe „natürlich eine Demonstrationsfreiheit, die Abgeordnete, die ihre Ohren verstopft haben, aufmerksam machen soll" (Gewerkschaftliche Monatshefte,. 3, 1952, S. 481). Diese Formulierung kommt dem sehr nahe, was Georges Sorel vom politischen Generalstreik dachte: „Elle peut-être de courte durée et pacifique, ayant pour but de montrer au gouvernement qu'il fait fausse route et qu'il y a des forces capables de lui résister" (Réflexions sur la Violance, Kap. V, Ziff. I, 11. Aufl., Paris 1950, S. 225). Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied. Für Sorel waren die Gewerkschaften viel zu sehr „en dehors de la politique", als daß er sich hätte vorstellen können, daß sie je aus eigener Initiative zum Mittel des politischen Streiks greifen würden. Er sah vielmehr die Absicht der sozialistischen Parlamentarier, durch eine „pression du dehors" parteipolitische Ziele zu verfolgen. Darum gab es für ihn zwischen dem politischen und dem proletarischen Streik einen unüberwindlichen Gegensatz (a.a.O., S. 228, 232). Z u m Folgenden vgl. auch meine Bonner Antrittsvorlesung Der politische Streik, Berlin 1955. 14 Davon gibt es eine Ausnahme: den Streik als Mittel zur Abwehr eines Angriffs auf die freie demokratische Ordnung, wie er gegen den KappPutsch zur Anwendung kam. 15 Vgl. oben Teil I I I , 1, Ziffer I I I . Es ergibt sich daraus, daß Streik und Aussperrung essentiell Kampfmittel zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele sind. — Α. A. Nipperdey, Das Recht des Streiks in Deutschland, SJZ 1949, S. 811.
4. Das Parlament
261
sich gegen den Sozialpartner richten 1 6 . Ein Streik gegen die verfassungsmäßigen Organe des Staates ist darum kein Streik i m Rechtssinn 1 7 . Dieser Streik und auch schon die Drohung m i t einem solchen Streik verletzt „das Recht des Volkes, die Staatsgewalt i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebimg, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben", einen jeder freiheitlichen demokratischen Verfassung inhärenten Grundsatz, der überdies durch § 88 Abs. 2 Ziff. 1 S t G B 1 8 unter strafrechtlichen Schutz gestellt ist. I m gleichen Sinne verfassungsrechtswidrig ist auch jede andere, gegen die übergeordnete Einheit des Staates gerichtete Kampfhandlung einer Gruppe, die das Parlament (oder ein Organ der vollziehenden Gewalt oder der Rechtsprechung) an der rechtmäßigen Ausübimg der Staatsgewalt hindert 1 9 . Das Beispiel des politischen Streiks zeigt, daß Vorschriften, wie die strafrechtliche Sicherung eines befriedeten Bereichs u m das Parlamentsgebäude und der Hausordnung i m Gebäude selbst, wie sie i n vielen Staaten üblich sind 2 0 , nicht mehr genügen, um die Freiheit der Volksvertretung von unerlaubten M i t t e l n des Drucks und der Beeinflussimg zu gewährleisten. Seit Jahren zeigt es sich m i t zunehmender Deutlichkeit, daß organisierte Interessengruppen i n der Lage und 16 Wie hervorgehoben, handelt es sich hier nur u m die staatsrechtliche Qualifikation eines Streiks. Die Frage seiner Sittenwidrigkeit, die sich sowohl aus dem Streikziel wie aus dem Mißverhältnis von Ziel und Mittel ergeben kann, und die zivilrechtliche Beurteilung bleiben hier außer Betracht. 17 W. G. in der Glosse, a.a.O., S. 495. Die Frage wurde i m Frühjahr 1952 durch die Streiks des DGB anläßlich der parlamentarischen Beratung des Betriebsverfassungsgesetzes aktuell. Der Vorsitzende des DGB, Christian Fette, hatte mit Schreiben vom 9. M a i 1952 dem Bundeskanzler den Entschluß des DGB mitgeteilt, „seine Mitglieder zu gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen aufzurufen für die Schaffung eines einheitlichen und fortschrittlichen Betriebsverfassungsgesetzes". Das schon in meiner Antrittsvorlesung herausgestellte Kriterium der Kampf r i e h t u n g , des Streika d r e s s a t e n , hat auch der Bundesgerichtshof für die Unterscheidung von Arbeitskampf und politischem Streik anerkannt (BGHZ 14, S. 347 ff.). 18 Eingefügt durch das Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. 8. 1951 (BGBl. I, S. 739). 19 I n der Frage der Widerrechtlichkeit eines politischen Streiks übereinstimmend: Forsthoff und Hueck in den Rechtsgutachten „Die politischen Streikaktionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes anläßlich der parlamentarischen Beratung des Betriebsverfassungsgesetzes, a.a.O., S. 29 f. und 38 ff.; Dittmar, Das Streikrecht nach den Länderverfassungen der US-Zone, Gutachten, Betriebs-Berater, 1948, S. 515 f.; Philipp Hessel, Probleme des Streikrechts, Betriebs-Berater, 1951, S. 85 ff.; Gerhard Müller, i m Recht der Arbeit, 1951, S. 249; Nikisch, Arbeitsrecht, S. 277. Dem ist auch die Rechtsprechung der ordentlichen und der Arbeitsgerichte in der Beurteilung der in Anm. 17 genannten, vom DGB geführten Streikaktionen gefolgt. 20 Vgl. §§ 106 a und 106 b StGB.
2 6 2 D i e Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
willens sind, durch die Androhung oder Herbeiführung großer Schäden für die Volkswirtschaft parlamentarische Entscheidungen zu erzwingen oder die Volksvertretung auf andere Weise, vorzüglich durch den maßlosen Einsatz finanzieller Mittel, zu überspielen. Darum sind besondere M a ß n a h m e n z u r A b w e h r oder zur, Kontrolle dieser Einflüsse notwendig, u m die Superiorität des dem ganzen Volke verantwortlichen Organs faktisch und i n jeder Situation sicherzustellen. Solche Vorrichtungen werden sich unterscheiden je nach den besonderen Gegebenheiten, die i n den einzelnen Staatswesen vorherrschend sind. I n den Vereinigten Staaten hat eine besonders hervorragende Organisation 21 , deren Reformvorschläge stets große Beachtung finden, die American Political Science Association, die Aufmerksamkeit des Kongresses und der Öffentlichkeit auf derartige Mißstände und Gefahren gelenkt. I h r Committee on Congress empfahl 1945 u. a. die Registrierung der „representatives of all interest groups appearing before congressional committees" 2 2 . Der Vorschlag ging 1946 i n erweiterter Form ein i n den Bericht des von beiden Häusern des Kongresses eingesetzten Joint Committee on the Organization of Congress 23 ; der größere Teil der i n dem Bericht empfohlenen Reformen, welche die lebhafte Unterstützung der öffentlichen Meinung fanden, wurde trotz zahlreicher Widerstände i m Kongreß noch i m gleichen Jahre Gesetz: Der Congress Reorganization Act enthält als I I I . T e i l den „Regulation of Lobbying A c t " 2 4 . Außer dieser bundesgesetzlichen Regelung ist i n 21 Sie ist eine der Organisationen, die im I I . Teil dieser Arbeit unter dem Titel „Steuerzahler und Verbraucher" zusammengefaßt sind. Sie rekrutiert sich vor allem aus Professoren und Dozenten der Political Science und anderen Persönlichkeiten, die ein wissenschaftliches Interesse für Regierung und Politik haben. I h r entspricht in Deutschland die 1951 gegründete Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik. 22 Der Ausschuß hat seine Empfehlungen nach vierjährigem Studium einstimmig beschlossen und veröffentlicht in: George B. Galloway and others, The Reorganization of Congress, A Report of the Committee on Congress of the American Political Science Association, Washington (Public Affairs Press) 1945. 28 Der Ausschuß hatte eine eigene Studiengruppe eingesetzt, zu deren Leiter der Vorsitzende des gen. Ausschusses der American Political Science Association, George B. Galloway , berufen wurde. 24 Public L a w 601 (Senate Bill 2177) 79th. Cong., 2nd. Sess., abgedruckt bei K a r l Schriftgießer, The Lobbyists, The A r t and Business of Influencing Lawmakers, Boston (Little, Brown & Co.) 1951, S. 255 ff. Vgl. dazu ferner die oben, Teil I, 3, Anm. 1 angegebene Literatur, soweit Sie nach 1946 erschienen ist, und außerdem W. Brooke Graves , Administration of the Lobby Registration Provision of the Legislative Reorganization Act of 1946, A n Analysis of Experience during the Eightieth Congress, hrsg. v. Legislative Reference Service der Library of Congress, Washington (Government Printing Office) 1949. Harvey Walker, The Legislative Process,
4. Das Parlament
263
35 Einzelstaaten das Lobbying, das i n der intimeren Atmosphäre der State Legislatures immer besondere Blüten getrieben hat, gesetzlichen Beschränkungen unterworfen worden 2 5 . Sie haben lange vor dem Congress Reorganization Act den Grundsatz statuiert, daß die Öffentlichkeit ein Recht hat zu wissen, erstens welche Personen sich als bezahlte Interessenvertreter am Sitz des Gesetzgebers aufhalten, und zweitens wer sie und ihre Aufwendungen bezahlt. Es hat immer besondere Schwierigkeiten bereitet, alle Lobbyists zu erfassen und eine dementsprechend weitgreifende Formulierung zu finden, die es keinem erlaubt, sich dem Gesetz zu entziehen. Der Regulation of Lobbying Act hat zu diesem Zweck folgenden umständlichen Wortlaut gewählt: Unter die Bestimmungen dieses Titels fällt „any person . . . who by himself, or through any agent or employee or other persons i n any manner whatsoever, directly or indirectly, solicits, collects, or receives money or any other thing of value to be used principally to aid, or the principal purpose of which person is to aid, i n the accomplishment of any of the following purposes: (a) The passage or defeat of any legislation by the Congress of the United States. (b) To influence, directly or indirectly, the passage or defeat of any legislation by the Congress of the United States" (sec. 307). Der Begriff „Person" ist am Anfang des Act folgendermaßen umschrieben: „The term 'person' includes an individual, partnership, committee, association, corporation, and any other organization or group of persons" (sec. 302, c). Dieser Versuch des Gesetzgebers, Lobbying und Lobbyists zu definieren, ist nach der übereinstimmenden Auffassung des Schrifttums wenig gelungen, und dieses U r t e i l erstreckt sidi auf den ganzen Lawmaking in the United States, N e w York (Ronald Press) 1948, S. 116 ff. Belle Zeller, The Federal Regulation of Lobbying Act, The American Political Science Review, 42, 1948, S. 239 ff. Ebendort auch über frühere gleichgerichtete Versuche des Bundesgesetzgebers, ferner Hinweise auf Gesetzesbestimmungen, die unmittelbar oder mittelbar dem gleichen Zweck zu dienen bestimmt sind. Ergänzend könnte noch auf den Taft Hartley Act hingewiesen werden, der Sonderbestimmungen für Gewerkschaften enthält. Außer der eidlichen Versicherung ihrer Funktionäre, daß sie keine Kommunisten sind und nicht die Regierung stürzen wollen (andernfalls keine Unterstützung durch den National Labor Relations Board), ist für die Gewerkschaften vorgeschrieben, sich beim Arbeitsminister registrieren zu lassen und ihm detaillierte Jahresberichte über ihre Finanzen und ihre Politik einzureichen. 25 Statt anderer Belle Zeller, State Regulation of Lobbying, Book of the States 1948—49, Chicago (Council of State Governments) 1948, S. 124 ff.
2 6 4 D i e Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
A c t 2 6 . Der Wortlaut des Gesetzes und seine Handhabung haben es Anwaltsbüros, Public Relations Counsel, Legislative Reporters von Firmen und Verbänden, allen Inside Lobbyists 2 7 und anderen Personen und Organisationen möglich gemacht, seine Wirkungen mehr oder weniger von sich fernzuhalten, obwohl sie tatsächlich zur Lobby gehören. Stephan Kemp Bailey, der aus unmittelbarer Anschauung an der Entstehungsgeschichte eines umstrittenen Gesetzes die Praxis des Lobbying dargestellt hat 2 8 , schockierte i m Frühjahr 1950 einen zur Untersuchung des Lobbying eingesetzten Ausschuß des House of Representatives (Buchanan Committee) m i t einer bis dahin nicht gehörten Definition: „Lobbying can be unterstood only as the reflection of interests shared by shifting coalitions made up by Members of Congress, outside pressures, and executive agencies" 29 . Die Problematik jedes Versuchs, den Kreis der Lobbyists zu umschreiben, w i r d hieraus deutlich. I m einzelnen ist jeder Lobbyist verpflichtet, über Einnahmen und Ausgaben Rechnung zu führen (sec. 303), dem Clerk of the House vierteljährlich i n einem Finanzbericht u. a. Namen und Adresse der Personen mitzuteilen, die mehr als 500 $ gespendet haben oder an die mehr als 10 $ ausgezahlt worden sind (sec. 305); vor Beginn seiner Tätigkeit hat er sich bei dem Secretary of the Senate und dem Clerk of the House einzuschreiben und u. a. mitzuteilen: Namen und Adresse des Arbeitgebers, i n dessen Interesse er auftritt oder arbeitet, die Höhe des i h m zustehenden Entgelts, A r t und Höhe der Spesen und Namen und Adresse dessen, der zahlt. I n einem vierteljährlichen Bericht an beide Stellen sind außerdem anzugeben: alle Einnahmen und Ausgaben, Empfänger u n d Zweck der Ausgaben, die Namen von Zeitungen, Magazinen und anderen Veröffentlichungen, i n denen auf seine Veranlassung A r t i k e l oder Leitartikel erschienen sind, schließlich die anstehenden Gesetze, die er zu unterstützen oder denen er entgegenzutreten beauftragt ist (sec. 308 lit. a). A l l e Berichte und Erklärungen 2e ) „It seems to be unfortunately true that the act is so drawn that no one who studies it is able to develop in his own mind any assurance that he knows What it means" (Graves , a.a.O., S. 28, siehe auchi S. 37 f.); vgl. ferner ζ. Β. Griffith, Congress, Its contemporary Role, S. 114; Schriftgießer, The Lobbyists, S. 132 ff.; Zeller, The Federal Regulation of Lobbying Act, a.a.O., S. 244 ff. 27 Dazu s. oben Teil I, 3, Anm. 51, Abs. 2. 28 Congress makes a Law, The Story behind the Employment Act of 1946, New York (Columbia University Press) 1950. 29 Das Zitat und die dadurch ausgelöste Kontroverse innerhalb des Ausschusses sind angeführt bei Schriftgießer, a.a.O., S. 135 f.
265
4. Das Parlament
s i n d d u r c h E i d z u b e k r ä f t i g e n (sec. 309) u n d k ö n n e n v o n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t eingesehen w e r d e n (sec. 306 b); sie w e r d e n v i e r t e l j ä h r l i c h sog a r i m Congressional R e c o r d v e r ö f f e n t l i c h t u n d n a h m e n ζ. B . i m J u l i 1950 176 S e i t e n i n A n s p r u c h 3 0 . S c h l i e ß l i c h i s t d a f ü r Sorge getragen, daß d i e B e s t i m m u n g e n i n sec. 308 l i t . a. n i c h t d e n f r e i e n Z u t r i t t des B ü r g e r s z u d e n C o m m i t t e e H e a r i n g s u n d seine S t e l l u n g n a h m e f ü r oder gegen e i n Gesetz b e h i n d e r n ;
auch auf
die Presse
finden
sie
keine
A n w e n d u n g (sec. 308 a). B e i a l l e r K r i t i k a n d e n E i n z e l h e i t e n dieser B e s t i m m u n g e n , auf d i e h i e r n i c h t eingegangen z u w e r d e n b r a u c h t , w i r d i h n e n e i n gewisser E r f o l g n i c h t b e s t r i t t e n ; n i e m a n d g l a u b t , daß d i e v i e l f a c h s e h r h a r m l o s abgefaßten
Erklärungen
die
Wirklichkeit
korrekt
wiedergeben31.
N i c h t s d e s t o w e n i g e r i s t i n i h n e n v i e l M a t e r i a l e n t h a l t e n , das v o n J o u r nalisten zuweilen aufgegriffen
und i n Ergänzung zu ihren
Wahrnehmungen
wird32.
öffentlicher
ausgewertet
Kontrolle.
Bis
zu einem
Das
bedeutet
gewissen G r a d e
ein wird
eigenen Minimum jeweils
sichtbar, w e l c h e I n t e r e s s e n sich i m K a p i t o l z u r G e l t u n g b r i n g e n u n d w i e hoch i h r personeller u n d
finanzieller
E i n s a t z ist. Das m a g u. U .
e i n A l a r m z e i c h e n f ü r e i n entgegenstehendes Interesse sein, i n ä h n l i c h e r Weise a k t i v z u w e r d e n . Das Ganze ist e i n K o n k u r r e n z k a m p f
der I n -
30 Was allein 14.432 $ Druckkosten verursachte (Schriftgießer, a.a.O., S. 121). 31 „Es hat den Anschein, daß alle in ihren Büros oder Hotelzimmern sitzen und meditieren . . . und sich niemals auch nur für einen Augenblick herablassen würden zu etwas so Gemeinem und Ordinärem wie Lobbying" (Graves, a.a.O., S. 21). 32 Auch Schriftgießer hat in seiner Schrift nützliche Informationen aus der gewaltigen Berichtsmasse benutzt. Graves hat einige instruktive Erklärungen abgedruckt: eine (National Fisheries Institute Inc.) ironisiert das ganze Verfahren, indem sie nur wenige Dollar Auslagen für Tais angibt; eine andere (Independent Bankers Association) ist erstaunlich offen, berichtet von einem Essen, an dem 23 Senatoren teilgenommen haben, über Konferenzen mit Senatoren, Aussagen vor Banking Committees, entstandene Kosten usw. (a.a.O., S. 11 f.). Es tritt hier auch eine R e l i g i o n s g e m e i n s c h a f t als Pressure Group auf, deren Bericht als Beispiel wiedergegeben sei: Joseph Martin Dawson vom Joint Conference Committee on Public Relations, Baptists of the United States, hat am 26. Juli 1948 folgende Angaben gemacht: I n the case of Federal aid to education, I did write letters and send literature to some Congressmen urging amendment to Taft and McCowen bills with a view to amending said bills so as to prevent application of Government tax funds to nonpublic schools; also, in response to official resolutions adopted by Northern an Southern Baptist conventions, I appeared before Senate Military Committee in opposition to universal military training. I n addition, I attended citizens' committees in behalf of admitting displaced persons and renewing Reciprocal Trade Agreements Act, following which I wrote a few letters to congressional committees in behalf of these measures (a.a.O., S. 11).
2 6 6 D i e
Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
teressen, der m i t dem Konkurrenzkampf i n der wirtschaftlichen Sphäre nutzbringend verglichen werden kann 3 3 . Die Forderungen und der Streit der Interessen werden so zu einem der stärksten Motoren der Gesetzgebung 34 . Für die kontinental-europäische Staatsvorstellung ist es wesentlich, daß diese Motoren sich a u ß e r h a l b d e s P a r l a m e n t s befinden. Das ruft Bedenken hervor, die nicht dadurch beseitigt werden, daß die Einwirkung organisierter Interessen auf den Gesetzgeber gewissen gesetzlichen Beschränkungen unterworfen und dadurch, wie m i t Recht von amerikanischen Senatoren hervorgehoben wurde, als rechtmäßig a n e r k a n n t , legalisiert wurde, so daß schon von den „konstitutionellen Rechten" der Lobbyists gesprochen werden kann 3 5 . Zwar haben die Abgeordneten seit langem ihre Freiheit bis zu einem gewissen Grade an die Parteien verloren, aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn die Abgeordneten durch sozial mächtige Organisation, „durch eine E i n w i r k i m g von außen her", i n der freien Ausübung ihres Mandats unmittelbar und oft entscheidend beeinflußt werden 3 6 . Der Unterschied zwischen dem Parlament der modernen Massendemokratie und dem klassischen Parlamentarismus 3 7 w i r d durch zwei Faktoren bestimmt: A u f der einen Seite ist es die öffentliche Meinung, die i n 83 Joseph A. Schumpeter hat das in bezug auf den Konkurrenzkampf der Parteien betont (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 430); der Konkurrenzkampf um die politische Führung ist für Schumpeter die demokratische Methode schlechthin (S. 427). 84 Gesetzgebung wird zu einem „business in which you do something, then wait to see who hollers, and then relieve the hollering as best you can to see who else hollers" (nach einem Ausspruch von William James, zit. von Alfred de Grazia , Public and Republic, S. 170). 85 Schriftgiesser, a.a.O., S. 123, 125. 36 Forsthoff, Die politischen Streikaktionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Rechtsgutachten, a.a.O., S. 30. Die Problematik zeigt sich in ihrer äußersten Schärfe, wenn die freie Mandatsausübung durch Streikdruck beeinträchtigt wird — davon spricht Forsthoff; sie tritt aber auch da schon zutage, wo versucht wird, die Volksvertretung mit anderen Mitteln mehr oder weniger zu überspielen — die Notwendigkeit eines Regulation of Lobbying in USA zeigt das in aller Deutlichkeit. Es ist allerdings zu bedenken, daß auch die Partei durchaus nicht eine innerparlamentarische Institution ist, wie z. B. die Diskussion um die Vorteile und Nachteile einer Inkompatibilität von Abgeordnetenmandat und Parteiamt zeigt (Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnung der Parteien, a.a.O., S. 22 f.). Auch sie wirkt u. U. „von außen" in das Parlament hinein. Aber dieses Bedenken wird dadurch gemildert, daß die Parteien wie das Parlament in dem Antagonismus von Staat und Gesellschaft hauptsächlich auf der Seite des Staates stehen. 87 Wie ihn Carl Schmitt dargestellt hat (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München-Leipzig 1926).
5. Regierung und Verwaltung
267
den Stadtstaaten und Landsgemeinden einer unmittelbaren Äußerung fähig gewesen war, i n den europäischen Flächenstaaten der Neuzeit aber der Repräsentation durch das Parlament bedurfte, die heute jedoch durch die technischen Hilfsmittel instand gesetzt wird, sich i n wachsendem Maße wieder unmittelbar zu äußern, und so als eine selbständige Macht gegenüber dem Parlament auftritt. A u f der anderen Seite sind es die organisierten Interessen, die gegenüber dem Parlament zur Größe intermediärer Gewalten aufgewachsen sind. I n der ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g und in den I n t e r e s s e n o r g a n i s a t i o n e n k o n f r o n t i e r t sich die i n d u s t r i e l l e Gesellschaft den P a r t e i e n , dem P a r l a m e n t , dem Staat. Als 1789 die französischen Generalstände zusammentraten, trugen die Abgeordneten die Meinung ihrer Wahlkörper nach ständischem Brauch i n den „cahiers" m i t sich: ein imperatives Mandat. Aber die „cahiers" wurden für unwirksam und nicht bindend erklärt. A u f der anderen Seite gab es mächtige Korporationen, die städtische und staatliche Organe zu beeinflussen suchten. Sie wurden 1791 durch die L o i Le Chapelier aufgelöst und verboten. Damit war die parlamentarische Repräsentation vollkommen. „Les hommes de la Révolution qui ont créé le puissance législative avaint bien v u que, pour être souveraine, elle devait être seule" 3 8 . Es sind immer i n den Parlamenten auch I n teressen vertreten worden und zu Wort gekommen; dieser Umstand allein konnte seine Position nicht erschüttern. Aber seitdem sie sich außerhalb des Parlaments zu intermediären Gewalten organisiert haben, ging es seiner einzigartigen Stellung verlustig.
5. Regierung und Verwaltung Der auf Parteien und Parlament ausgeübte Einfluß und Druck organisierter Interessen setzt sich durch das Medium dieser Institutionen fort i n Regierung und Verwaltung. Indem Parteien und Parlament die Zusammensetzimg der Exekutive, i n erster Linie ihrer Spitze, determinieren und ihre Tätigkeit durch legislative Akte regulieren oder sonstwie auf informelle A r t und Weise dirigieren, bringen sie auch die i n ihnen vertretenen Interessen zur Auswirkung; deren Beziehung zur Exekutive ist darum vorbestimmt durch das Verhältnis Pressure Group — Parteien und Pressure Group — Parlament sowie 38
Georges Ripert,
Le Déclin du Droit, Paris 1949, S. 27.
268
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
durch die Position der ihnen nahestehenden Partei (oder einer Mehrzahl von Parteien) innerhalb der Regierung und Verwaltung bzw. in der Opposition. Dabei ist bemerkenswert, daß auch die nicht an der Regierungsbildung beteiligten Parteien sich regelmäßig auf Anhänger i n der Verwaltung stützen und dort mehr oder weniger wirksam Einfluß ausüben können. Jedenfalls erweisen sich auch i n der Exekutive die parteipolitischen Kräfte als die eigentlich wirksamen Größen. Das macht die Schlüsselstellung der Parteien i m Staat aus, der das Grundgesetz durch die Einordnung des A r t . 21 über die Parteien unter die allgemeinen Bestimmungen über Bund und Länder Rechnung getragen hat. Nichtsdestoweniger richtet sich organisierte Interessenwahrnehmung vorwiegend auf die Exekutive als das Zentrum der staatlichen A k t i v i tät. Die Parteien selbst können ihr Programm nicht durchführen, ohne daß sie in der Regierung Fuß gefaßt haben 1 . Das Parlament setzt zwar nach wie vor die entscheidenden Richtpunkte der Politik, aber die Gesetzgebung ist heute ihrem Inhalt und Gegenstand nach mehr denn je das Werk der Bureaukratie, und das Parlament ist, wie schon Erich Kaufmann hervorgehoben hat, „ i m letzten Grunde ein Organ der Approbation und der Reprobation" 2 . U m so mehr sind die Interessengruppen gezwungen, sich gegenüber und i n der Exekutive zur Geltung zu bringen; denn alle Interessenwahrnehmung tendiert auf den Gravitationspunkt der staatlichen Macht 3 . Darum verlagert sich die Geltendmachung von Interessen, das Austragen von Interessenkonflikten und die Herbeiführung von Kompromissen seit langem von dem Schauplatz des Parlaments i n die diskreten Verhandlungsräume der Exekutivorgane 4 (oder vor das Forum der öffentlichen Meinung). Einwirkungen auf Parteien und Parlament sind darum häufig nur das 1 „Dans les démocraties libres d'aujourd'hui, l'importance créatrice de la lutte électorale consiste à obtenir le Ministère" (Jacques Donnedieu de Vabres , L'Organisation de l'Etat, Heft 1, Paris [Les cours de droit] 1947—1948, S. 160). 2 Zur Problematik des Volkswillens, Berlin-Leipzig 1931, S. 13. 3 V. Ο. Key bemerkt, daß vor etwa 50 Jahren, „in the heyday of the lobbyist", sich in den Vereinigten Staaten für Pressure Groups noch kaum die Notwendigkeit ergab, die Verwaltung zu bearbeiten, weil sie ihre Ziele bequemer und einfacher durch den Gesetzgeber verwirklichen konnten. Nun aber „administrators become legislators, and the agents of pressure groups inevitably direct their activities to the point in the governmental machinery at which authority to make decisions is lodged. Where power rests there influence will be brought to bear" (Politics, Parties, and Pressure Groups, S. 192).
5. Regierung und Verwaltung
269
M i t t e l einer Interessenwahrnehmung, deren Adressat letzten Endes die Exekutive ist. Vielfältig und vielgestaltig wie der Aufbau Und die Aufgaben der Exekutivgewalt sind auch die M i t t e l und Wege, deren sich die Gruppen zur Wahrnehmung ihrer Belange bedienen. Sie erfolgt grundsätzlich gegenüber allen Stufen der öffentlichen Verwaltung, soweit dort eigene Interessen berührt werden, konzentriert sich aber naturgemäß bei der Landes- und Bundesexekutive und dort jeweils bei den Behörden ihres Sachgebiets, während sie i m übrigen meist das Feld den Parteien überlassen und sich ihrer allenfalls als Medien einer beabsichtigten Einwirkung bedienen. Das ist schon eine Konsequenz des „demokratischen Zentralismus", von dem schon die Rede war 5 , und der Spezialisierung und Aufsplitterung der Verwaltung i n Ressorts und Sonderbehörden, die den einzelnen Lebens- und Interessenbereichen der Nation zugeordnet sind 6 . Für die Ziele dieser Darstellung genügt es, zwei Arten der Interessenwahrnehmung zu unterscheiden: Erstens die Einwirkung von außen; sie entspricht noch am ehesten der Vorstellung von Staat und Gesellschaft, welche die Entwicklung des modernen Kontinentalstaates begleitet hat, und bietet sich einem organisierten Interesse als die nächstliegende Möglichkeit der Einflußnahme auf die Exekutive an. Zweitens die Einwirkung von innen; wenn man einmal von der hierzulande ungewöhnlichen Figur des „Inside-lobbyist" absieht, ist sie nur denkbar, wenn das Interesse i n irgendeiner Form dem Staatsapparat institutionell eingegliedert ist. Solche Gebilde haben i n der Regel ständisch-korporative Züge und relativieren den Unterschied von Staat und Gesellschaft. I. Die Beziehung zwischen Behörden und Interessengruppen kann sehr unformell und trotzdem höchst wirksam sein. Vom Standpunkt 4 Otto Kirchheimer, Changes in the Structure of Political Compromise, in Studies in Philosophy and Social Science, 9, 1941, S. 264 ff., und zustimmend A. R. L Gurland, Politische Wirklichkeit und Politische Wissenschaft, in Sammelband „Faktoren der Machtbildung", Berlin 1952, S. 37. Vgl. auch, Alexander H. Pekelis in dem Exposé „Full Equality in a Free Society, A Program for Jewish Action" (Law and Social Action, S. 257 f.), der es als Fehler ansah, die Gesetzgebung als das beste oder gar als einziges Mittel sozialer Reform anzusehen; er verspricht sich größeren Erfolg von der Technik erzieherischer Einflüsse auf Verwaltung und Justiz, die die Haltung der Beamten und Richter verändern. 5 Oben Teil I I , 2, mit A r n 6 I n den Landkreisen treten darum die organisierten Interessen kaum in Erscheinung, wie Werner Weber hervorgehoben hat (Staats- und Selbstverwaltung in der Kreisinstanz, DVB1. 67, 1952, S. 8 r. Sp.).
2 7 0 D i e
Adressaten der organisierten Interessen Wahrnehmung
der Verwaltung aus gesehen liegt i h r Wert vor allem i n dem S a c h v e r s t a n d , den sie für die Erfüllung der staatlichen Aufgaben erschließen. Das ist grundsätzlich nichts Neues; seit langem bedienen sich ζ. B. die Gerichte zur Erforschimg von Handelsgebräuchen (§§ 346 und 359 HGB) und dgl. der Stellungnahmen wirtschaftlicher Verbände und der Gutachten der Industrie- und Handelskammern. Aus ähnlichen Gründen ist die Verwaltung häufig auf die Mitarbeit der beteiligten oder betroffenen Bevölkerungsgruppe — d. h. deren Interessenorganisation — angewiesen, da sie trotz aller Spezialisierung nicht ein solches Maß von Sachkunde entwickeln kann, wie sie es bei den Vertretern der durch eine Maßnahme berührten Interessen voraussetzen darf. So wenig sie m i t einer ungegliederten Masse von Interessenten jeweils i n Verbindung treten u n d deren Auffassung erforschen könnte, so bequem und nützlich ist es für sie, die beauftragten und kompetenten Vertreter von Organisationen heranzuziehen, die nicht nur eigene Erfahrung und persönliches Wissen, sondern oft auch ein eigenes Büro m i t Hilfskräften und i n jedem Fall die Möglichkeiten ihrer Organisation zur Verfügung haben, um der Verwaltung einschlägige Informationen zu unterbreiten und sie vor allem m i t den Gesichtspunkten und Wünschen der von ihnen repräsentierten Bevölkerungsschicht bekannt zu machen. Wenn der Verwaltung natürlich auch die Beurteilung des i h r vorgelegten Materials auf seine Richtigkeit und Zuverlässigkeit nicht abgenommen werden kann, so sind solche Kontakte nichtsdestoweniger geeignet, sachfremde Entscheidungen hintanzuhalten. Darüberhinaus haben sie für die zuständige Behörde den politischen Vorteil, daß sie frühzeitig nicht n u r die sachliche Wirkung einer Maßnahme, sondern auch die möglichen Reaktionen der betroffenen Gruppe kennenlernt und sich, falls sie auf der Entscheidung beharrt, auf entsprechende Gegenmaßnahmen seitens der Gruppe, der Parteien oder des Parlaments einrichten kann. Sehr häufig setzen darum Beratungen mit den Vertretern der i n Frage kommenden Interessen über Gesetzentwürfe schon bei den Vorarbeiten für den Referentenentwurf an, lange bevor sie dem Kabinett und den gesetzgebenden Instanzen zugeleitet werden 7 . Auch m i t den 7 Vgl. schon Walther Lambach, Die Herrschaft der Fünfhundert, Hamburg-Berlin 1926, S. 86; ferner V. O. Key , a.a.O., S. 193 ff. Ihren Nutzen betont u. a. Zink „ . . . it is probable that there is more incentive on the part of the employees of these organizations to dig out the latest and most pertinent facts than there is for the staff members of libraries and legislative bureaus" (Government and Politics in the United States, S. 228), die
5. Regierung und Verwaltung i n F r a g e k o m m d e n Parlamentsausschüssen i m d gegebenenfalls m i t d e n zuständigen Referenten
der Länderministerien werden vor
Einbrin-
g u n g eines G e s e t z e n t w u r f s Besprechungen g e f ü h r t . N i c h t s e l t e n l i e g e n aber die B e r a t u n g e n m i t d e n I n t e r e s s e n g r u p p e n z e i t l i c h f r ü h e r
und
sind vor allem intensiver. A u c h hier k a n n d e m Interessenföderalismus f a k t i s c h größeres G e w i c h t z u k o m m e n als d e n b e i d e n a n d e r e n s t a a t lichen S t r u k t u r p r i n z i p i e n , d e r n a t i o n a l e n E i n h e i t u n d d e m r e g i o n a l e n Föderalismus,
w e n n seine Ü b e r l e g e n h e i t
a u c h n i c h t so k l a r
in
Er-
scheinung t r i t t u n d sich k a u m so e i n d e u t i g nachweisen l ä ß t w i e e t w a i m K o n f l i k t u m das M i t b e s t i m m u n g s g e s e t z . D e r Gedankenaustausch zwischen d e r B ü r o k r a t i e u n d d e n V e r t r e t e r n k o m p e t e n t e r I n t e r e s s e n i s t eine E i n r i c h t u n g unseres ungeschriebenen Verfassungsrechts. Sie e r f ü l l t i n Staaten, i n d e n e n d i e A u s a r b e i t u n g v o n G e s e t z e n t w ü r f e n w e i t g e h e n d A u f g a b e d e r E x e k u t i v e ist, i n e t w a die F u n k t i o n der „ P u b l i c H e a r i n g s " d e r a m e r i k a n i s c h e n P a r l a m e n t e i m B u n d u n d i n d e n E i n z e l s t a a t e n 8 . D e r H a u p t u n t e r s c h i e d l i e g t d a r i n , daß jene
Beratungen
nicht
öffentlich
sind,
während
zu
den
„Public
H e a r i n g s " die Ö f f e n t l i c h k e i t Z u t r i t t h a t u n d d i e Presse i h n e n o f t eine große P u b l i z i t ä t
verleiht.
als Gesetzgebungsdienste häufig an der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen beteiligt werden. 8 Ein anschauliches Beispiel sind die Vorverhandlungen zum nordrheinwestfälischen Feiertagsgesetz vom 16. Oktober 1951 (Gesetz- und Verordnungsbl., Ausgabe A, Nr. 43 vom 18. 10. 1951), über die das Erzbischöfliche Generalvikariat Köln in dem „Kirchlichen Anzeiger für die Erzdiözese Köln" vom 1. 12. 1951 (91, 1951, S. 538 f.) seinem Klerus berichtet hat. Danach sind Regierung und Landtag sowohl wie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkreise an die Kirchen herangetreten und haben die Dringlichkeit einer Neuregelung des staatlichen Feiertagswesens vorgetragen. Die Einrichtung von partiellen Feiertagen, die vom Staat nur in katholischen bzw. nur in evangelischen Mehrheitsgebieten anerkannt waren, hatte zu Komplikationen für die Wirtschaft und den Verkehr (Einsatz von Werktags- oder Sonn- und Feiertagszügen) geführt, nachdem die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse mancherorts durch die Bevölkerungsbewegung seit 1945 unübersichtlich geworden waren. Die zuständigen Erzbischöfe und Bischöfe prüften die Lage, um die Gewissensnot von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu beseitigen, die sich aus der Kollision der Pflichten der religiösen Sonn- und Feiertagsheiligung einerseits und der Berufsarbeit andererseits ergab. I n innerkirchlichen Vorbesprechungen, an denen auch die Vorstände katholischer Organisationen beteiligt waren, wurden eine Reihe von kirchlichen Grundsätzen und Wünschen formuliert. „Auf der Basis dieser Grundsätze wurden Verhandlungen mit dem Landtag und der Landesregierung geführt, an denen auch die evangelischen Kirchenleitungen, die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände beteiligt waren. Inzwischen mußte auch mit der Bundesregierung und dem Bundestag verhandelt werden. Denn die Frage der Lohnzahlung an den gesetzlichen Feiertagen wurde als eine Bundesfrage anerkannt" (Bundesgesetz über die Lohnzahlung an gesetzlichen Feiertagen vom 2. 8.
2 7 2 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Derartige F u n k t i o n e n der Interessengruppen sind i n unserer differ e n z i e r t e n Gesellschaft n ü t z l i c h u n d u n v e r z i c h t b a r . V i e l e p a t r i o t i s c h e , R e f o r m - u n d B ü r g e r r e c h t s g r u p p e n b e t r a c h t e n es sogar als i h r e H a u p t aufgabe, d u r c h die Pflege u n d V e r t r e t u n g i h r e s besonderen Interesses an
einer
bestimmten
Form
der
Kommunalverwaltung
(ζ. B .
City
M a n a g e r - P l a n ) , a n e i n e r R e f o r m des W a h l r e c h t s , a n der Wissenschaft v o n d e r P o l i t i k u s w . z u m g e m e i n e n W o h l b e i z u t r a g e n 9 . A b e r sie s i n d n i c h t t y p i s c h u n d s t e h e n ü b e r a l l i m Schatten der g r o ß e n ö k o n o m i s c h e n u n d w e l t a n s c h a u l i c h - r e l i g i ö s e n Interessen. Diese ü b e n i n g r o ß e m U m f a n g j e n e u n e n t b e h r l i c h e n , n u t z b r i n g e n d e n F u n k t i o n e n aus; sie s i n d aber, w o r a n h i e r n u r D r u c k -
erinnert
zu werden
braucht,
i n erster
Linie
u n d M a c h t Organisationen. Sie s i n d w i l l e n s u n d i n
Lage, m i t großer W i r k s a m k e i t
auf Verwaltungsorgane Druck
der
auszu-
ü b e n u n d so i h r e n W i l l e n durchzusetzen, z u d r o h e n , z u ü b e r w a c h e n u n d z u k o n t r o l l i e r e n 1 0 . I n t e r e s s e n o r g a n i s a t i o n e n h a b e n i n verschiede1951, BGBl. I, S. 479 ff.). Das Ziel der Verhandlungen war die Beseitigung der partiellen Feiertage. Die katholische Kirche machte folgenden KompromißVorschlag: Wenn außer den bisher allgemein anerkannten Feiertagen auch Fronleichnam und Allerheiligen in den Katalog der gesetzlichen Feiertagt aufgenommen würden, dann würde die katholische Kirche die gebotenen Feste „Epiphanie", „Peter und Paul" und „Unbefleckte Empfängnis" auf den jeweils nachfolgenden Sonntag legen, d h. die Pflicht zum Besuch des Gottesdienstes und zur Arbe'itsruhe an diesen Festen aufheben (aber die feierliche Gestaltung des Gottesdienstes solle beibehalten werden). Die evangelischen Kirchenleitungen verlangten die Anerkennung des Karfreitags und des Büß- und Bettags und waren bereit, dem Reformationstag nur den Charakter eines kirchlichen Feiertags zu belassen. Dieses Kompromiß zwischen den Konfessionen und die Forderung der Gewerkschaften, den 1. M a i als gesetzlichen Feiertag anzuerkennen, wurden in dem genannten Feiertagsgesetz (§ 2 Abs. 1) mit der Autorität des Gesetzgebers umkleidet. Auch in dem ausgedehnten Feiertagsschutz, den das Gesetz vorschreibt (§§ 3 und 9), hat sich der Standpunkt der Kirchen wirksam durchsetzen können. 9 Die Anti-Saloon League war i m zweiten und dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine der mächtigsten Pressure Groups in Washington und setzte im Verein mit gleichgerichteten Gruppen sogar eine Verfassungsänderung durch: das im X V I I I . Amendment enthaltene Alkoholverbot. Es wurde 1917 angenommen und durch das X X I . Amendment 1933 wieder aufgehoben. 10 Georges Ripert hat die gelegentliche Machtlosigkeit staatlicher Regeln und Verbote angesichts der Übertretungen durch die betreffenden Gruppen hervorgehoben (Le Déclin du Droit, S. 45 f.). Die Existenz Schwarzer Märkte ist ein eindringliches Beispiel. Eine Kapitulation der Staatsautorität vor der Praxis der Interessenten w a r i m Frühjahr 1951 die von dem Bundesernährungsminister den Preisbildungsstellen empfohlene stillschweigende Duldung der Überschreitung von Höchstpreisen für Getreide. Etwa zwei Wochen lang wußten weder amtliche Stellen noch der Getreidehandel oder die Mühlen, welche Preise rechtens waren, was zu einem ausgesprochenen Durcheinander auf dem Markt führte. Gegenüber der Kritik des Bundestages hat die Bundesregierung kaum versucht, ihre Haltung rechtlich zu
273
5. Regierung und Verwaltung n e n S t a a t e n schon R e g i e r u n g s k r i s e n geblich
am
Sturz
der
Regierung
herbeigeführt beteiligt11.
Mit
und waren derartigen,
außen" a u f R e g i e r u n g u n d P a r l a m e n t ausgeübten E i n w i r k u n g e n
maß„von von
großer T r a g w e i t e t r e t e n die I n t e r e s s e n g r u p p e n i n K o n k u r r e n z z u d e n politischen Parteien. noch als i n d e n P a r t e i e n k ö n n e n
sich
Pressure G r o u p s i n der E x e k u t i v e „ e i n n i s t e n " , u m „ v o n i n n e n "
I I . Besser u n d w i r k s a m e r
ihre
Interessen i n der V e r w a l t u n g w a h r z u n e h m e n . E i n besonderes probates Mittel
ist
die Ä m t e r p a t r o n a g e ,
die
es i h n e n
erlaubt,
trauensleute i n die ihnen wichtigen Verwaltungsstellen
zu
Ver-
bringen.
Das geschieht i n g r o ß e m U m f a n g ü b e r d i e P a r t e i e n 1 2 , i n z u n e h m e n d e m M a ß e aber auch auf das u n v e r m i t t e l t e V e r l a n g e n d e r V e r b ä n d e selbst. Es ist schlechterdings u n m ö g l i c h , a u c h n u r a n n ä h e r n d U m f a n g
und
W i r k u n g eines Einflusses abzuschätzen, d e n eine G r u p p e oder Schicht i n s t r u m e n t a l schon d u r c h A n g e h ö r i g e dieser G r u p p e oder Schicht u n d n a m e n t l i c h d u r c h P e r s ö n l i c h k e i t e n i h r e s besonderen V e r t r a u e n s i n n e r h a l b e i n e r B e h ö r d e auszuüben v e r m a g . Diese b r a u c h e n sich d a b e i n i c h t e i n m a l k l a r b e w u ß t z u sein, daß sie i n diesem oder j e n e m besonderen begründen, und hat am 7. März 1951 eine Abstimmungsniederlage im Bundestag erlitten, der die offizielle Duldung von strafbaren Zuwiderhandlungen gegen eine geltende Norm mißbilligte (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, I. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, Bd. V I , S. 4719 ff.). Aus Anlaß einer geplanten Erhöhung der Posttarife gab der Bundespostminister dem Deutschen Industrie- und Handelstag die Zusage, mit Vertretern dieser Organisation noch vor der Beschlußfassung i m Kabinett die Frage der Gebührenänderung zu besprechen und ihnen erstmalig auch d e n H a u s h a l t s p l a n der Bundespost für das kommende Jahr — Monate vor der Einbringung i m Parlament — v o r z u l e g e n (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. und 25. 7. 1952). Für solche Erscheinungen wurde in Frankreich der Begriff des „L'Etat envahi" geprägt; vgl. Paul Delouvrier in dem aufschlußreichen Sammelband der christlich-sozialen Semaines sociales mit dem Titel „Crise du Pouvoir et Crise du Civisme", Paris (Gabalda) 1954, S. 75 ff. 11 Die besonders starken Organisationen der französischen Landwirtschaft haben mehrfach diese Rolle gespielt. Der finnische Landwirtschaftsverband hat i m Oktober 1952 den Rücktritt des Kabinetts veranlaßt (Neue Zürcher Zeitung vom 21. 10. 1952, Fernausgabe Nr. 290). 12 Zur Personalpolitik der Parteien i m Weimarer Staat vgl. Theodor Eschenburg, Der Beamte in Partei und Parlament, S. 45 ff., mit der kennzeichnenden Feststellung, die Fraktionen hätten einen eigenen Personalreferenten gehabt, der über eine große Macht verfügt habe, „weil ihm die Favoriten gelegentlich auch über Mißstände in ihrer Verwaltung und Fehler ihrer Minister berichteten, die dann gerne in Form von Anfragen gelegentlich auch als Pressionsmittel verwandt wurden" (S. 47). Es liegt auf der Hand, daß ähnliches für die Interessengruppen und ihre Vertrauensleute gilt. 18
Kaiser, Repräsentation
2 7 4 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Interesse handeln, w e n n sie sich n u r durch ihre soziale H e r k u n f t oder
durch persönliche Wert Vorstellungen und Leitbilder bestimmen lassen, die m i t denen einer I n t e r e s s e n g r u p p e übereinstimmen.
Aber dieses ist erst eine A r t mittelbarer Machtausübung 13 . Die organisierten Interessen drängen jedoch zu u n m i t t e l b a r e m Regierungs- und Verwaltungseinfluß. Eine Möglichkeit dazu bietet sich ihnen in Sonderämtern, -referaten, -abteilungen, ja u. U. i n besonderen Ministerien, die primär nicht immer unter dem Gesichtspunkt einer zweckmäßigen Verteilung der Statsaufgaben geschaffen werden, sondern von Verbänden gefordert, i n ihrem Interesse errichtet werden und deren Leitung ehemaligen Verbandsfunktionären anvertraut wird; der Rang, den ein solches A m t und sein Leiter i n dem Stufenbau der staatlichen Bürokratie einnehmen, bestimmt sich ebenfalls nicht immer nach A r t und Umfang der von Staats wegen wahrzunehmenden Aufgaben, sondern eher nach dem politischen Gewicht der betreffenden Gruppe. Diese pflegt i n solchen Ämtern legitime Einrichtungen für ihre direkten Regierungs- und Verwaltungsaktionen zu sehen und in vehemente Protestdemonstrationen auszubrechen, wenn „ i h r " Regierungsvertreter — kraft einer „ L i s t " des Amtes oder einfach m i t Rücksicht auf die ihm übertragene allgemeine Verantwortung gegenüber Parlament und Gesamtnation — das gemeine Wohl über das partikuläre Interesse stellt 1 4 . Die Auffassung, daß solche Ämter i n der Tat berufen sind, die Belange des ihnen zugeordneten Sachgebiets wahrzunehmen, hat sich seit langem durchgesetzt 15 . Sie w i r d bestätigt durch den Umstand, daß Kompromisse zwischen den Interessenblöcken häufig zwischen den zuständigen Ministerien ausgehandelt werden. Vor allem i n den Vereinigten Staaten hat man sich daran gewöhnt, das A m t m i t den in i h m wirksamen Interessen weitgehend zu identifizieren; „Bureaucracy as a Political Force, as a Pressure Group" meint sowohl die spezifischen Beamteninteressen als auch die Interessen und Anstrengungen 13
Vgl. dazu die Ausführungen über die indirekte Gewalt, oben, Teil I I , 4. I m Frühjahr 1952 veranstaltete der „Bund der vertriebenen Deutschen" Mißtrauenskundgebungen gegen den Bundesminister der Heimatvertriebenen, Hans Lukaschek, weil er die Kabinettssolidarität höher geachtet habe als die Solidarität mit den Vertriebenen. Der Bund forderte den Rücktritt des Ministers und seine Ersetzung durch einen Nachfolger, der von dem Vertrauen der Vertriebenen getragen sei. 15 Es darf jedoch daran erinnert werden, daß zu Beginn des Kulturkampfes die katholische Abteilung i m preußischen Kultusministerium aufgehoben wurde unter dem Vorwurf, sie habe an Stelle der staatlichen Interessen die die der Katholischen Kirche vertreten. 14
5. Regierung und Verwaltung
275
einer Behörde i m Hinblick auf die ihr übertragene Aufgabe, etwa des Department of Agriculture an einer landwirtschaftsfreundlichen Gesetzgebimg, an der bevorzugten Zuweisung von Haushaltsmitteln für die Durchführung von Programmen zur Förderung der Landwirtschaft usw. Das führt zu Rivalitäten zwischen den einzelnen Departments, wie man sie so ausgeprägt sonst nicht k e n n t 1 6 (obwohl auch i n der Bundesrepublik, namentlich i n einigen Ministerien, die nicht zu den klassischen zählen, Tendenzen hervortreten, die i n eine ähnliche Richtung weisen). Man darf in dieser A r t Spezialisierung der amerikanischen Departments auf das von ihnen vertretene Ressortinteresse einen Grund dafür erblicken, daß es bisher trotz aller Bemühungen nicht gelungen ist, das Kabinett i n größerem Umfang an den A u f gaben des Präsidenten zu beteiligen. Der Abstand zwischen den partikulären Interessen, die i n den Departments und anderen Bundesbehörden residieren, und dem allgemeinen, nationalen Interesse, unter dessen Gesetz die Entscheidungen des Weißen Hauses stehen müssen, ist offenbar zu groß 1 7 . Eine angelsächsische Eigenart sind die sog. „ B o a r d s", Gremien, die zur temporären oder ständigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben geschaffen und von der eigentlichen Exekutive wie vom Parlament weitgehend unabhängig sind. W i r finden sie m i t typischen Verwaltungsaufgaben wie auch mit der Leitung öffentlicher Wirtschaftsunternehmen betraut; w i r treffen sie an i n Verbindung m i t amerikanischen „Government Corporations" wie i n den nationalisierten I n dustrien Englands, i n seinen „Public Corporations", sowie auf den Gebieten der Marktregelung, der Kulturverwaltung usw. I n England wie i n den Vereinigten Staaten haben sie außerdem eine große Bedeutung erlangt als Schlichtungsorgane i m Kampf von Kapital und Arbeit. I m einzelnen unterscheiden sich nicht nur die englische und die amerikanische Praxis, sondern auch innerhalb der beiden Länder bestimmt sich die Rechtsstellung eines „Board", seine Zusammensetzung und das Maß seiner Unabhängigkeit aus dem i h n konstituierenden A k t , der sowohl ein Gesetz wie ein Verwaltungsakt sein kann 1 8 . 16
Vgl. McKean, Party and Pressure Politics, S. 597 ff. A n Stelle des Kabinetts finden w i r darum das sogenannte „KitchenCabinet" der persönlichen Berater des Präsidenten. 18 Black* s Law Dictionary (4. Aufl., St. Paul 1951, S. 219) gibt u. a. folgende Definition: „A committee of persons organized under authority of law in order to exercise certain authorities, have oversight or control of 17
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276
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
M a n k a n n diesen n u a n c e n r e i c h e n K o m p l e x n i c h t a u f eine konstitutionelle
Formel
bringen.
Seine B e z i e h u n g z u r
einzige
organisierten
I n t e r e s s e n w a h r n e h m u n g steht außer S t r e i t . E i n e aufschlußreiche P a r a l l e l e z u d e n b i s h e r g e n a n n t e n F o r m e l n e r ö f f n e t s i c h u n t e r d e m Ges i c h t s p u n k t , d e n de Grazia m i n i s t r a t i v e
seinen D a r l e g u n g e n z u g r u n d e l e g t :
Pluralism"
1 9
.
Zahlreiche
Boards
m e h r als d e r Reflex o r g a n i s i e r t e r I n t e r e s s e n auf d e r Ebene.
sind
wenig
administrativen
Es h a n d e l t sich t e i l w e i s e u m O r g a n e der b e r u f l i c h e n
v e r w a l t u n g 2 0 , teilweise u m Behörden für
„Ad-
Selbst-
M a r k t r e g e l u n g u n d Preis-
f e s t s e t z u n g 2 1 , u m Organe, d i e Regierungszuschüsse v e r t e i l e n u n d d i e certain matters, or discharge certain functions of a magisterial, representative, or fiduciary character." Vgl. für Ε η g 1 a η d : E. C. S. Wade and G. Godfrey Phillips , Constitutional Law, 4. Aufl., 1950, S. 205 ff.; Lincoln Gordon, The Public Corporation in Great Britain, London (Oxford University Press) 1938; William A. Robson, ed., Public Enterprise, London (Allen & Un win) 1937; Sir Arthur Street, Quasi-Government Bodies since 1918, in dem Sammelwerk „British Government since 1918", London (Allen & Unwin) 1950, S. 157 ff. — Vgl. auch oben Teil I I , 6, mit Anm. 15—19. Für U S A vgl. Marshall E. Dimock, Government Corporations, A Focus of Policy and Administration, American Political Science Review, 43, 1949, S. 899 ff. und 1145 ff. ; ferner den Abschnitt „Government Corporations", in Arnold Brecht, Three Topics in Comparative Administration, Public Policy, hrsg. v. Friedrich und Mason, I I , 1941, S. 298 ff., mit einem Vergleich der Government Corporations mit der Vereinigten Industrie-Unternehmungen A. G. des Deutschen Reichs; ferner V. O. Key, Government Corporations, in Fritz Morstein Marx, ed., Elements of Public Administration, New York 1946, S. 236 ff. Unter dem Gesichtswinkel dieser Arbeit sind von besonderer Bedeutung Avery Leiserson, Administrative Regulation, A Study in Representation of Interests, Chicago (University of Chicago Press) 1942, bes. S. 100 f., und Alfred de Grazia , Public and Republic, Political Representation in America, New York [Knopf] 1951, bes. S. 234 ff. 19 a.a.O., S. 234. 20 Ihre Kompetenz überschritt früher häufig den Rahmen der eigenen Organisation: Ein extremes Beispiel ist noch der State Board of Health von Alabama, der mit dem Vorstand einer einzigen privaten Organisation, der Medical Association des Staates, identisch ist (Ernst Freund, Administrative Powers over Persons and Property, Chicago, University of Chicago Press, 1928, S. 47, hält das für „inconsistant with modern principles of public law", angef. bei Leiserson, a.a.O., S. 116). Solche Monopole haben zu Mißbräuchen geführt. Ärzteverbände weigerten sich beispielsweise, Kandidaten zu Examina zuzulassen, die nicht an von ihnen anerkannten Fakultäten studiert hatten, und suchen heute noch den Nachwuchs zu beschränken (Leiserson, a.a.O., S. 117). Dem suchen Gesetze und Statuten entgegenzuwirken. — Solche Boards gibt es für Ärzte und Anwälte, für Friseure, Klempner und viele andere Berufe. 21 Z. B. die National Bituminous Coal Commission, die 1937 im Department of the Interior gebildet wurde. Sie bestand aus sieben Mitgliedern, die vom Präsidenten, „by and with the advice and consent of the Senate", ernannt wurden und von denen zwei Erfahrungen als Bergwerksunternehmer und zwei solche als Grubenarbeiter haben mußten, die aber keine eigenen finanziellen Interessen haben durften, die mit Förderung, Verkauf,
277
5. Regierung und Verwaltung für
Subventionen geforderten
V o r a u s s e t z u n g e n p r ü f e n 2 2 u. d g l .
Die
N a t i o n a l R e c o v e r y A d m i n i s t r a t i o n d e r J a h r e 1933 bis 1935 e n t h ä l t B e i spiele f ü r
d e n V e r s u c h der R e g i e r u n g , e i n gigantisches
Wirtschafts-
p r o g r a m m d u r c h z u f ü h r e n , i n d e m sie m a n g e l s e i n e r eigenen ausreichenden Bürokratie rischer
und
wurde
in rund
den Interessenorganisationen
administrativer
Kompetenzen
500 K l a s s e n e i n g e t e i l t ; f ü r
eine F ü l l e
übertrug.
Die
jede w u r d e
gesetzgebeWirtschaft ein
Staats-
kommissar („administrator") u n d ein Board („code-authority") bestellt, i n d e n e n U n t e r n e h m e r , G e w e r k s c h a f t e n u n d die Ö f f e n t l i c h k e i t
pari-
tätisch v e r t r e t e n w a r e n . Seine A u f g a b e w a r es, f ü r j e d e n W i r t s c h a f t s z w e i g e i n e n „ c o d e " auszuarbeiten, der B e s t i m m u n g e n ü b e r Preise u n d L ö h n e , A r b e i t s z e i t , V e r b o t v o n K i n d e r a r b e i t , L o h n v e r h a n d l u n g e n u. dgl. e n t h i e l t . W e n n d e r „ c o d e " d u r c h die M a j o r i t ä t der U n t e r n e h m e r b z w . d e r e n O r g a n i s a t i o n e n a n g e n o m m e n w a r , h a t t e er nach G e n e h m i g u n g 2 3 d u r c h d e n P r ä s i d e n t e n die K r a f t eines Gesetzes f ü r d e n ganzen W i r t schaftskreis, u n d seine B e f o l g u n g w u r d e d u r c h hohe G e l d s t r a f e n zwungen
24
er-
. Das E x p e r i m e n t i s t a n seinen Ü b e r t r e i b u n g e n u n d a n d e m
Transport usw. der Kohle verbunden waren. Es ist kennzeichnend, daß die Kommission 1939 aufgelöst und ihre Aufgaben einer Abteilung des Innenministeriums übertragen wurden, weil die Kommission nicht ihren Aufgaben hatte gerecht werden können, da sie von Gruppeninteressen beherrscht war (Leiserson, a.a.O., S. 107 ff.). 22 Der Federal Board of Vocational Education, der 1917 durch den SmithHughes Act ins Leben gerufen wurde, kann als Beispiel dienen; zu seinen Mitgliedern zählten die Secretaries of Agriculture, Commerce und Labor, der Commissioner on Education und drei Privatleute als „representatives" für die Interessen von Industrie und Handel, Landwirtschaft und Arbeit (Leiserson, a.a.O., S. 109 f.; dort auch über das Schicksal dieses Board, der seine Arbeiten eingestellt hat). 23 I m Ergebnis eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung. 24 Der Inhalt der „codes" wurde praktisch zwischen den Vertretern der Wirtschaft und der Gewerkschaften ausgehandelt; sie sicherten sich gegenseitig bedeutende Vorteile zu: den Gewerkschaften wurden auf dem Gebiet der Löhne und der Arbeitsbedingungen Zugeständnisse gemacht; Industrie und Handel sicherten sich eine umfassende Marktkontrolle durch Mindestpreise, Produktionsquoten, die Abgrenzung von Absatzmärkten usw., im Ergebnis eine staatlich geförderte und sanktionierte, mit den Gewerkschaften vereinbarte Kartellisierung, die bald heftige Proteste des Kleingewerbes, der Landwirtschaft und der Verbraucherorganisationen hervorrief. Die öffentliche Verwaltung verlor bald jede Ubersicht, und die Entwicklung trieb einem administrativen Chaos zu. Als der Supreme Court um Vorlage aller „Codes" ersuchte, war die Verwaltung nicht einmal dazu in der Lage. Der Gerichtshof enthob den Präsidenten der Pflicht, das Versagen der ganzen Aktion zuzugeben und den National Industrial Recovery Act aufzuheben, indem er einstimmig das Gesetz für verfassungswidrig erklärte (in dem berühmten Fall Schechter Poultry Corporation v. United States, 295 U. S. 495, 1935). An der Ära der National Recovery Administration können wie an einem Modell die Folgen einer exzessiven Selbstverwaltung der Sozialpartner und
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Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
M a n g e l einer w i r k s a m e n K o o r d i n a t i o n u n d K o n t r o l l e d u r c h d e n Staat gescheitert; seine L e h r e n h a b e n b l e i b e n d e n W e r t 2 5 . Für E n g l a n d
g r u p p i e r e n Wade
a n d Phillips
20
d i e Boards
nach
solchen, d i e echte V e r w a l t u n g s f u n k t i o n e n ausüben (ζ. B . N a t i o n a l A s s i stance B o a r d u n d W a r D a m a g e Commission), O r g a n e n der
Kultur-
pflege, d i e s t a a t l i c h s u b v e n t i o n i e r t s i n d ( B r i t i s h C o u n c i l , A r t s C o u n c i l of Great B r i t a i n u n d die B r i t i s h B r o a d c a s t i n g
Corporation 27);
eine
w e i t e r e G r u p p e b i l d e n die l e i t e n d e n Organe d e r v e r s t a a t l i c h t e n I n d u s t r i e n ( N a t i o n a l Coal B o a r d , C e n t r a l Gas C o u n c i l usw.); eine v i e r t e G r u p p e u m f a ß t G r e m i e n , die m i t A u f g a b e n d e r M a r k t r e g e l u n g b e t r a u t s i n d 2 8 . D i e englische J u r i s p r u d e n z b e g i n n t , sich d e r
staatsrechtlichen
P r o b l e m a t i k solcher E i n r i c h t u n g e n b e w u ß t z u w e r d e n u n d s t e l l t die Frage, ob h i e r n e b e n E x e k u t i v e , L e g i s l a t i v e u n d Justiz eine
vierte
G e w a l t , „ a f o u r t h a r m of g o v e r n m e n t " , i n E n t w i c k l u n g b e g r i f f e n sei, ob neben d e m „ C i v i l S e r v i c e " u n d d e m „ l o c a l g o v e r n m e n t service" eine w e i t e r e F o r m des ö f f e n t l i c h e n Dienstes sichtbar w e r d e 2 9 . der Wirtschaftsstände studiert werden. Dazu gehören auch die Rivalitäten, die zwischen den einzelnen Wirtschaftsgruppen durch die übermäßige Organisation zutage traten. Zum Ganzen vgl. namentlich den Bericht „National Recovery Administration", Report of the President's Committee on I n dustrial Analysis, Washington (Government Printing Office) 1937. 25 I n diesem Zusammenhang müssen auch solche „Boards" und „Commissions" genannt werden, für die nur solche Personen als Mitglieder qualifiziert sind, die keinerlei eigene wirtschaftliche Interessen an den Gegenständen ihrer offiziellen Tätigkeit haben und auf deren Ernennung die in Frage kommenden Interessen nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen keinen Einfluß haben; ζ. B. der National Labor Relations Board, die Interstate Commerce Commission, die Federal Communications Commission usw. Auch für die Mitglieder dieser Gremien gilt, daß sie „by an informal understanding must be »cleared' with the great union organizations" ( Griffith , Congress, Its contemporary Role, 1951, S. 107; vgl. auch de Grazia , a.a.O., S. 215) bzw. mit den übrigen Interessenorganisationen, auf deren Sachgebiet sie tätig werden (vgl. auch Leiserson, a.a.O., S. 102 ff.). 26 Constitutional Law, S. 209. 27 Sie fällt in diese Gruppe, soweit sie der Unterhaltung und Belehrung dient und nicht, wie in den Auslandssendungen, ein staatliches Programm sendet. 28 Von ihnen ist oben, Teil I I , 6, mit Anm. 15—19, eingehender gesprochen worden. 29 a.a.O., S. 209 f., 211. Vgl. auch William A. Robson, Administrative Law in England, 1919—1948, in der mehrfach zit. Sammlung „British Government since 1918", S. 96; W. J. M. Mackenzie (The Structure of Central Administration, a.a.O., S. 76) schreibt indessen: „This is a jungle in which the theoretical student is at a loss for clues. Its inhabitants are, he knows, competent and well-intentioned persons; it is to be hoped that they are familiar with the jungle paths which link their little plots of cultivation... But if they do not, there is nothing anyone outside can do to help them, because no one outside the jungle can hope to understand it." Zur Frage der Abgrenzung von öffentlichem Dienst und privatem Dienst vgl. Adolf Schule in der oben, Teil I I , 5, Anm. 13, zit. Abhandlung.
279
5. Regierung und Verwaltung
D i e E i n r i c h t u n g e n d e r v i e r t e n G r u p p e s i n d häufig auf I n i t i a t i v e der betreffenden
Wirtschaftszweige
entstanden, d i e i n i h n e n
regelmäßig
v e r t r e t e n sind. A u c h i n d e n verschiedenen B o a r d s des s t a a t l i c h e n G e sundheitsdienstes, die i m U n t e r s c h i e d z u d e n g e n a n n t e n G r u p p e n n i c h t u n a b h ä n g i g sind, s o n d e r n u n t e r u n m i t t e l b a r e r m i n i s t e r i e l l e r K o n t r o l l e stehen, s i n d V e r t r e t e r d e r Ä r z t e u n d a n d e r e r B e r u f e v e r t r e t e n . Diese haben darum, w i e die vergleichbaren amerikanischen Boards m i t u n m i t t e l b a r e r I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g , e i n e n ausgesprochen s t ä n d i s c h - k o r p o r a t i v e n C h a r a k t e r , sie s t e l l e n d e n „ g u i l d t y p e " d a r 3 0 . I m ü b r i g e n s i n d s o w o h l i n E n g l a n d 3 1 w i e i n A m e r i k a die G r u p p e n n u r ausnahmsweise k r a f t Gesetzes an der Z u s a m m e n s e t z u n g der B o a r d s b e t e i l i g t . I n den V e r e i n i g t e n S t a a t e n w e r d e n sie jedoch k r a f t H e r k o m m e n s hinzugezogen32.
I n solchen F ä l l e n i n k o r p o r i e r e n
w i e jene des „ g u i l d t y p e " , das P r i n z i p k o n t i n u i e r l i c h e r der I n t e r e s s e n g r u p p e n i n d i e V e r w a l t u n g
33
regelmäßig
auch diese Boards, Intervention
.
30 Street, a.a.O., S. 166, 176; Wade and Phillips, a.a.O., S. 211; de Grazia , a.a.O.. S. 236 und passim,; J. A. Grant , The Guild returns to America, Journal of Politics, 4, 1942, S. 303 ff. 31 William A. Robson, Nationalised Industries in Britain and France, American Political Science Review, 44, 1950, S. 315. Eine Ausnahme macht der Port of London Authority; vgl. Gor don, a.a.O., S. 25 ff. 32 Auch in England wird sorgfältig darauf geachtet, daß die Boards sozial ausgewogen sind. Aus den Gewerkschaften und anderen interessierten Organisationen wird jeweils ein Mitglied berufen, das jedoch mit dem Eintritt in den Board aus seinem Verband ausscheiden muß. 33 Alles deutet darauf hin, daß die zwar nicht völlig neuartigen, aber doch erst in jüngerer Zeit zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung aufgestiegenen Boards und die Public Corporations zu unentbehrlichen Mitteln der modernen Staatsverwaltung werden. Sie sind in unserer polyzentrischen Gesellschaftsordnung eine angemessene Verwaltungseinheit und entsprechen dem Bedürfnis nach Dezentralisation, ohne die notwendige Verbindung mit der Inneren Verwaltung verlieren zu müssen, die sie wie Trabanten umgeben. Wie es scheint, bahnt sich in D e u t s c h l a n d in den von Ernst Rudolf Huber sogenannten „beliehenen Verbänden" (DVB1. 67, 1952, S. 456 ff. und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., I, 1953, S. 103, 533 ff.) eine vergleichbare Entwicklung an. I n den s e r v i c e s p u b l i c s des französischen Rechts finden die Public Corporations eine teilweise Entsprechung. Bernard Chenot (La notion de service public dans la jurisprudence économique du Conseil d'Etat, in den Etudes et Documents des Conseil d'Etat, Heft 4, Paris [Imprimerie Nationale] 1950, S. 77 ff.) und Roman Schnur (Die Krise des Begriffs der services publics i m französischen Verwaltungsrecht, Arch.d.öff.Rechts 79, 1953/54, S. 418 ff.) haben die Affinität der services publics und der Aktivität organisierter Interessen, vor allem soweit sie den Charakter berufsständisch-korporativer Selbstverwaltung hat, deutlich aufgewiesen. Hermann Kutsch und Eberhard von Krakewitz stellen die Frage; Übernahme des Begriffs „service public" ins deutsche Recht? (in dem so betitelten Aufsatz i m Arch.d.öff.Rechts, a.a.O., S. 431 ff.) und beantworten sie negativ. Demgegenüber hat Forsthoff die Bedeutung dieser Kategorie des französischen Verwaltungsrechts auch im Hinblick auf die deutsche Lage
280
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Dieser Grundsatz ist auch für die Zusammensetzung des Verwaltungsrats der Deutschen Bundesbahn maßgebend gewesen. Ohne Frage hat die Erinnerung an die Rechtsstellung der Reichsbahn nach dem ersten Weltkrieg, ihre außerordentliche Verselbständigung zugunsten der Reparationsgläubiger 34 , die gegenwärtige Regelung erleichtert 3 5 . Das Bundesbahngesetz vom 13. Dezember 195 1 3 6 hat für dieses „Sondervermögen des Bundes" (§ 1) einen zwanzigköpfigen Verwaltungsrat geschaffen (§ 10), der nach den Worten des Gesetzes „vier Gruppen" von je fünf Mitgliedern umfaßt: „Gruppe A : Bundesrat, Gruppe B: Gesamtwirtschaft, Gruppe C: Gewerkschaften, Gruppe D: Sonstige M i t glieder". Sämtliche Mitglieder werden von der Bundesregierung ernannt; die Benennung der Gruppen A bis C läßt erkennen, wer vorschlagsberechtigt ist. Unter Gesamtwirtschaft versteht das Gesetz die „Spitzenverbände der gewerblichen Wirtschaft, des Handels, der Landwirtschaft, des Handwerks und des Verkehrs". Für die Gruppen Β und C waren für -die erste Konstituierung des Verwaltungsrates je zehn Vorschläge vorzulegen, aus denen die Bundesregierung je fünf auswählte. -Man darf daraus schließen, daß auch bei der Wahl von Ersatzmännern für jeden vakanten Sitz zwei Personen vorzuschlagen sind. -Die Mitglieder der Gruppe D werden von dem Bundesminister für Verkehr nominiert. Sie dürfte vor allem Eisenbahnfachleute, Praktiker, enthalten 8 7 , denn man kann nicht voraussetzen, daß die übrigen Gruppen den Sachverstand repräsentieren 38 ; i m Gegenteil, sie vermiit Recht hervorgehoben (Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I, 3. Aufl., 1953, S. 285), nur daß es sich bei der französischen Rechtsfigur nicht mehr um eine präzise juristische Institution, sondern u m ein diffuses „régime de droit" (Chenot, a.a.O., S. 80 f.) handelt. 84 Das Reichsbahngesetz vom 30. August 1924 war in dem Londoner Abkommen vom 16. August über den Dawes-Plan (RGBl. I, S. 289) völkerrechtlich verankert. M i t Rücksicht auf die Reparationslast von jährlich 660 M i l lionen R M hatte sie das Gesicht einer Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 15 Milliarden R M erhalten. Der achtzehnköpfige Verwaltungsrat wurde je zur Hälfte von der Regierung und von dem ausländischen Treuhänder als dem Vertreter der Reparationsschuldverschreibungen ernannt und umfaßte vier Ausländer. Der Young-Plan milderte die Trennung zwischen Reichsregierung und Reichsbahn (im einzelnen s. das Reichsgesetz v. 13. März 1930, RGBl. I I S. 359; Adolf Sarte r und Theodor Kittel, Die Deutsche Reichsbahngesellschaft, 2. Aufl., 1927; dies., Die Deutsche Bundesbahn, ihr Aufbau und ihre Arbeitsgrundlagen, 1952, S. 2 ff.). 35 Für die Post vgl. Hans Peters, Postverwaltung und Demokratie, DÖV., 4, 1951, S. 225 ff., und das Postverwaltungsgesetz vom 24. Juli 1953 (BGBl. I, 5. 676), besonders § 5. 3(5 BGBl. I S. 955 ff. 37 Ebenso Sarter-Kittel, Die Deutsche Bundesbahn, S. 76. 38 Das Gesetz begnügt sich mit der Qualifikation: „erfahrene Kenner des Wirtschaftslebens o d e r Eisenbahnsachverständige" (§ 10 Abs. 3).
5. Regierung und Verwaltung
281
treten die Belange der Landschaften und die verschiedenen ökonomischen Interessen innerhalb der Bundesrepublik, wobei bemerkenswert ist, daß der Interessenföderalismus doppelt so stark repräsentiert ist wie der regionale Föderalismus. Das Ziel dieser Bestimmungen ist nicht Entpolitisierung 3 9 . Diese Forderung fand zur Zeit der Weimarer Republik allgemein eine große Resonanz, und man konnte von der Reichsbahn wie von der Reichsbank sagen, daß ihr Sinn gerade darin liege, „ i m Gegensatz zu dem Koalitions-Parteien-Staat unabhängige, neutrale Größen zu sein" 4 0 . Dieser Gedanke hat heute hier wie auf allen anderen Gebieten des öffentlichen Lebens keine rechte K r a f t mehr und äußert sich nur in einer allgemeinen, unartikulierten Apathie gegen den Parteienbetrieb an sich. Es gibt nicht mehr die früher selbstverständliche Inkompatibilität zwischen Verwaltungsratsposten und Abgeordnetenmandat, vielmehr wurden Politiker als Präsidenten und Vizepräsidenten berufen 4 1 , und selbst die Vorschrift, daß Verwaltungsratsmitglieder nicht einer Regierung oder Verwaltung des Bundes oder der Länder angehören sollen, ist nur eine Sollvorschrift und nicht zwingend. Das wesentliche Merkmal ist: wenigstens die Hälfte der Mitglieder sind Interessenvertreter, wobei die Gruppen A und D durchaus die Möglichkeit bieten, noch diesen oder jenen Wirtschaftszweig zum Zuge kommen zu lassen, der i n den anderen Gruppen nicht berücksichtigt worden ist 4 2 . Zwar heißt es i n § 10 Abs. 4 des Gesetzes, daß die Mitglieder „ i h r A m t nach bestem Wissen und Gewissen zum Nutzen des deutschen Volkes, der deutschen Wirtschaft und der Deutschen Bundesbahn" zu versehen haben. „Sie sind an keinerlei Aufträge oder Weisungen gebunden." Das ist eine Nachbildung der bekannten Verfassungsnorm, die das freie Abgeordnetenmandat garantiert (Art. 38 Abs. 1 GG); ähnliche Formulierungen finden w i r auch i m ausländischen Recht. Ihre Wirkung ist aber noch viel problematischer als die W i r kung jenes Verfassungssatzes gegenüber Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, zumal das Gesetz selbst gewiß nicht zufällig von den 39
Gegen Sarter-Kittel, S. 72 f. Carl Schmitt, Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates, Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer zu Berlin v. 10. M a i 1930, S. 474 f. 41 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 3. 1952. 42 Ebenso Sarter-Kittel, S. 76, für Gruppe D. Die Presse hat seinerzeit die Berücksichtigung der Grundstoffindustrie in der Bundesratsgruppe verlangt, nachdem der Bundesrat u. a. zwei Länderminister und zwei Vertreter der Kleinbahnen (ein Wirtschaftszweig mit einem sehr ausgeprägten Interesse an der Bundesbahn) vorgeschlagen hatte (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 2. 1952). 40
2 8 2 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
vier Gruppen als Teilen des Verwaltungsrates und nicht von den Gruppen der Vorschlagsberechtigten spricht. Die Bestimmung bietet u. U. einen gewissen, wenn auch problematischen Schutz gegen ungehörigen Druck einer Organisation auf das von ihr nominierte Mitglied des Verwaltungsrates und ist so etwas wie ein ethischer Appell; aber sie kann die Tatsache nicht verschleiern, daß die großen wirtschaftlichen Interessengruppen ihre Mandanten i n dem höchsten Organ der Deutschen Bundesbahn haben. Sie können zwar nicht abberufen werden, aber die Bundesregierung kann feststellen, daß ein wichtiger Grund gegeben ist, der das Ausscheiden rechtfertigt (§ 10 Abs. 7); dazu dürfte schon der Wegfall der für die Berufung maßgebenden Stellung i n Politik oder Wirtschaft zählen 4 3 , die durch Ausschluß aus dem Verband herbeigeführt werden kann. Das kommt einer mittelbaren Abberufung ziemlich nahe. I m übrigen gestattet die fünfjährige Amtsdauer den Verbänden, ihren Vertrauensmann auszuwechseln, indem sie das ausgeschiedene Mitglied nicht für die Wiederernennung vorschlagen. I m ganzen ist der Verwaltungsrat der Bundesbahn das Modell einer wirksamen Beteiligung mächtiger Interessengruppen an einem Zweig der staatlichen Verwaltung und könnte als Vorbild dienen, wenn der Gesetzgeber dem Drängen der Gruppen nach einem weiteren Engagement auf der administrativen Ebene nachgeben sollte. Es erübrigt sich hier, i n extenso von der S o z i a l e n S e l b s t v e r w a l t u n g zu sprechen. Man faßt unter diesem Oberbegriff i m allgemeinen das Tarifwesen, von dem schon die Rede w a r 4 4 , ferner die Sozialversicherung und die Arbeitslosenversicherung zusammen. Die umfassende Kompetenz der Verbände macht eine Interessenwahrnehmung gegenüber Regierung und Verwaltung überflüssig und läßt ihr, ζ. B. gegenüber einem staatlichen Aufsichtsorgan, nur beschränkten Raum 4 5 . 43 Hans Joachim Finger (Eisenbahngesetze, 3. Aufl., München-Berlin 1952, Ziff. 12 zu § 10 Bundesb.-Ges., S. 254) erwähnt als Beispiel das Ausscheiden eines Gewerkschaftsvertreters aus der Gewerkschaft. 44 45
S. oben, Teil I I I , 1, Ziffer I.
Vgl. das Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung vom 22. Februar 1951 (BGBl. I S. 124 ff.) und das Gesetz über die Errichtung einer Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 10. März 1952 (BGBl. I S. 123 ff.).
5. Regierung und Verwaltung
283
I I I . Es sind nur die beiden extremen Gestaltungsmöglichkeiten des Verhältnisses von Interessengruppen und Verwaltung, von denen bisher die Rede war: einerseits Druck und Einfluß von außen und andererseits Eingliederung i n die staatsunmittelbare Verwaltung und Übernahme von Verwaltungsfunktionen 4 6 . Die Nachteile und Gefahren beider Extreme sind offensichtlich: I m ersten Fall ist es ein ordnungsund regelloser Aufwand, der bei massivem, persönlichem und finanziellem Einsatz entsprechende Abwehrreaktionen einer gesunden Regierung und Verwaltung auslösen muß; das bedeutet Reibung, Leerlauf, Kraftvergeudung und ist i n großem Stil nur i n einer reichen Demokratie möglich. Diese sprühende Interessenvitalität ist i m zweiten Fall eingefroren i n ein starres administratives System m i t Staatsaufsicht. Es gibt innerhalb des Stufenbaus der staatlichen Verwaltung nur eine einzige Möglichkeit der Existenz: den S t a a t s d i e n s t . Jede Person und jede Gruppe, die hier Funktionen übernimmt, unterwirft sich dem Gesetz des Dienstes am Staat, d. h. am politischen Ganzen. Es ist eine Tautologie und trotzdem nicht überflüssig, zu sagen, daß i n einer Demokratie nur die Gesamtnation als politische Ganzheit herrschen kann. Sie und ihre politische Repräsentation sind souverän. M i t dem Eintritt i n den Staatsdienst tauscht ein Beamter einen Teil seiner Freiheit ein gegen die spezifische Treupflicht des öffentlichen Dienstes. Das gilt ebenso für eine organisierte Gruppe. Wenn sie Funktionen der öffentlichen Verwaltung übernimmt, v e r l i e r t sie ipso f a c t o e i n e n T e i l d e r F r e i h e i t , die sie i m sozialen Bereich besitzt und ändert damit ihre Qualität. Qui mange du pape d'en meurt. Die Entwicklung der Parteien hat das in einer unwiderleglichen Weise gezeigt. Jede Organisation, die Teile des Staatsapparates okkupiert, muß ihre innere Ordnimg demokratischen Normen und öffentlicher Kontrolle unterwerfen, andernfalls würde der Staat selber den Charakter einer Demokratie verlieren, und die Sozialpartner und andere Interessengruppen könnten dann die Haut und das Fleisch des Leviathan unter sich aufteilen 4 7 . 46 Art. 38 Abs. 3 der Hessischen Verfassung ist ein Markstein auf dem in dieser Richtung eingeschlagenen Weg; er überträgt den Gewerkschaften und den Vertretern der Unternehmer „gleiches Mitbestimmungsrecht in den vom Staat mit der Durchführung seiner Lenkungsmaßnahmen beauftragten Organen". Art. 70 der Verfassung von Rheinland-Pfalz garantiert „gleichberechtigte Mitwirkung der Vertretungen von Unternehmern und Arbeitnehmern". 47 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938, bes. S. 117 f.
2 8 4 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
I n keinem F a l l kann der Staat der industriellen Massengesellschaft auf die M i t w i r k u n g organisierter Interessen verzichten. Der i n ihnen beheimatete Sachverstand ist für ihn immer von Wert und i n allen wichtigen Situationen unentbehrlich, ob er sich zügellos verschwendet oder sich i n das Prokrustesbett eines staatlichen Funktionalismus begibt. Die beigebrachten Beispiele dienten dazu, diese These zu erhärten. Aber es geht keineswegs und nicht einmal i n erster Linie um den Sachverstand, es geht vielmehr darum, ob die i n den Interessengruppen organisierten Energien zum Wohle des Ganzen beitragen oder ob sie den Staat, die politische Ordnung der Nation, i n Stücke reißen. Es ist eine Frage der verfassungsrechtlichen Gestaltung, die gegebene und notwendige Relation von Interessengruppen und Staat ihrer Gefahren für Staat und Organisationen zu entkleiden und sie konstitutionell i n Form zu bringen, ihnen eine Ordnung zu geben. Das ist die Verfassungsfrage des 20. Jahrhunderts. W i r glauben Ansätze zu ihrer Lösimg i n allen Institutionen zu sehen, die der k o n s u l t a t i v e n M i t w i r k u n g der Interessengruppen dienen. I n jedem Land lassen sich dafür mühelos Beispiele auffinden. Doch sind sie i n verschiedenem Maße entwickelt. W i r haben i n D e u t s c h l a n d eine große Zahl von Ausschüssen und Beiräten dieses Typs, die i m einzelnen sehr verschieden strukturiert sind; andere sind i m Aufbau begriffen oder geplant. A u f sie ist wiederholt hingewiesen worden 4 8 , und es genügt, einige zu nennen, um den Typ als solchen hervortreten zu lassen. Sehr deutlich ist er i n dem Beirat ausgeprägt, den der Gesetzentwurf über die Bundesnotenbank vorsieht 4 9 . Das ist kein Zufall. Die Bundesbank ist nicht nur Bank des 48
Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem. S. 52 f.; ders., Staats- und Selbstverwaltung in der Kreisinstanz, DVB1. 67, 1952, S 8. 49 I n der Form, wie er am 22. Januar 1953 vom Bundeskanzler dem Bundestag übersandt wurde (Drucksache Nr. 4020, § 23 Abs. 5 und § 27). Der Beirat soll dem Regierungsentwurf zufolge keine Standesinteressen gegenüber der Notenbank vertreten; seine Mitglieder sollen vielmehr als Sachverständige „in beratender und gutachtlicher Tätigkeit eine unmittelbare Verbindung der Bundesbank mit den Gregebenheiten und Auffassungen der Wirtschaft" herstellen. Für die einzelnen Wirtschaftszweige sind keine Quoten festgelegt. Nur der FDP-Entwurf sieht vor, daß mindestens ein Drittel der M i t glieder aus dem Kreditgewerbe stammen (Drucksache Nr. 3929, § 8). Erwähnung verdient ferner der Verwaltungsrat der L a s t e n a u s g l e i c h s b a n k , die durch das Gesetz vom 28. Oktober 1954 (BGBl. I, S. 293) als Anstalt des öffentlichen Rechts „zur wirtschaftlichen Eingliederung und Förderung der durch den Krieg und seine Folgen betroffenen Personen, insbesondere der Vertriebenen, Flüchtlingen und Kriegsgeschädigten" (§ 1) errichtet wurde. I m Verwaltungsrat sitzen neben 19 Vertretern deutscher Behörden ein Vertreter des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen
285
5. Regierung und Verwaltung
Staates u n d H ü t e r i n d e r W ä h r u n g , s o n d e r n auch die l e t z t e u n d w i c h tigste Liquiditätsquelle der Wirtschaft.
I m übrigen w i r k t
auch h i e r
d i e T r a d i t i o n d e r W e i m a r e r Z e i t noch nach. D i e U n a b h ä n g i g k e i t d e r Reichsbank w a r w i e d i e der Reichsbahn a u ß e n p o l i t i s c h u n d
völker-
r e c h t l i c h g r u n d g e l e g t u n d d u r c h I n k o m p a t i b i l i t ä t e n gegen p a r l a m e n t a rische u n d Regierungseinflüsse a b g e s c h i r m t 5 0 . Das B e i s p i e l d e r B u n d e s b a h n zeigte, w i e diese ehemals n e u t r a l i s i e r t e n Gebiete v o n d e n I n t e r essengruppen u n d d e n p o l i t i s c h e n P a r t e i e n g e m e i n s a m o k k u p i e r t w e r den. I m F a l l d e r B u n d e s b a n k g i b t es d a g e g e n auch h e u t e noch eine einzige Sicherung, d i e d e n K e r n b e r e i c h gegen das· V o r b r i n g e n d e r P a r tei- u n d Interessenpolitik verteidigt: nicht eine völkerrechtliche Garant i e oder V e r p f l i c h t u n g w i e z u r W e i m a r e r Z e i t , s o n d e r n d i e ö f f e n t l i c h e M e i n u n g , d i e h e u t e n u r e i n e m „ n e u t r a l e n G e l d " v e r t r a u t , das d u r c h das P r e i s s y s t e m
die „ P l ä n e "
der z a h l l o s e n B e t r i e b e u n d
Haushalte
k o o r d i n i e r t u n d so eine O r d n u n g s t i f t e t , d i e sich n o r m a l e n K o n j u n k t u r s c h w a n k u n g e n a u t o m a t i s c h a n p a ß t oder d u r c h d i e b e k a n n t e n d e r m o n e t ä r e n T e c h n i k w i e Z i n s u n d D i s k o n t s a t z angepaßt k a n n 5 1 . Das ist e i n b e m e r k e n s w e r t e s R e s i d u u m der f r ü h e r
Mittel werden
mächtigen
für Flüchtlinge in Deutschland, sieben Vertreter der Organisationen der Vertriebenen, Geschädigten und Flüchtlinge, drei Vertreter des Bankgewerbes und fünf „weitere sachverständige Mitglieder". Letztere werden vom Bundestag gewählt; die Vertreter der unmittelbar interessierten Gruppen werden auf Vorschlag des Hohen JKommissars bzw. der beteiligten Organisationen von der Hauptversammlung (die Anteile sind weit überwiegend i m Eigentum des Bundes — Sondervermögen der Bundesrepublik Deutschland [Ausgleichsfond]) gewählt (§ 7). Vgl. auch die Zusammensetzung des Verwaltungsrats der Deutschen G e n o s s e n s c h a f t s k a s s e , § 7 des Gesetzes i. d. F. vom 28. Oktober 1954 (BGBl. I, S. 330). Die F a m i l i e n a u s g l e i c h s k a s s e n , die als Träger der Kindergeldzahlung selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, w u r den bei den Berufsgenossenschaften errichtet (§ 15 des Kindergeldgesetzes vom 13. November 1954, BGjBl. I, S. 336). Diese Lösung liegt ganz in der Linie des Korporativismus und wurde von der C D U in einer Kampfabstimmung durchgesetzt. 50 Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Tübingen 1953, S. 134 ff.; Carl Schmitt, Das Problem der innenpolitischen Neutralität des Staates, a.a.O., S. 475. Das Bewußtsein von der notwendigen Neutralität der Reichsbank war so sehr Allgemeingut, daß an ihr auch die Reichsfinanzverwaltung partizipierte, die „sich das Ansehen einer von Parteipolitik unabhängigen technischen Sonderverwaltung des Reiches erwarb und wahrte" (Ottmar Bühler, Finanzgewalt i m Wandel der Verfassungen, in Festschrift für Richard Thoma, 1950, S. 8). 51 Es ist hier nicht von den Grenzen zu sprechen, die auch einer mit drastischen Mitteln arbeitenden systematischen Bankpolitik gesetzt sind, noch von der unerläßlichen Abstimmung der Notenbankpolitik mit der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Regierung (wie sie z. B. verankert ist in § 1 Ziff. 6 a des Ubergangsgesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Er-
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
286
F o r d e r u n g nach E n t p o l i t i s i e r u n g , des V e r t r a u e n s a u f d e n Sachverstand u n d des saint- simonistischen
Glaubens, daß die D i n g e sich selbst v e r -
w a l t e n k ö n n t e n . Es g e s t a t t e t d e n I n t e r e s s e n g r u p p e n n i c h t eine B e t e i l i g u n g a n der V e r w a l t u n g , s o n d e r n n u r eine k o n s u l t a t i v e M i t w i r k u n g i n e i n e m B e i r a t , i n d e m I n d u s t r i e , H a n d e l , L a n d w i r t s c h a f t , das K r e d i t gewerbe, d i e V e r s i c h e r u n g e n , das k o m m u n a l e F i n a n z w e s e n , das H a n d w e r k , die G e w e r k s c h a f t e n , d i e f r e i e n B e r u f e u n d d i e Wissenschaft v e r t r e t e n s e i n sollen. I h r e V e r t r e t e r schaftlern, Merkmale sind;
im
s i n d , abgesehen v o n d e n W i s s e n -
keine „Sachverständige" gerade N e u t r a l i t ä t Gegenteil,
i m herkömmlichen Sinn,
u n d überparteiliche
sie v e r t r e t e n
zweiges. Daß dieses w i r k s a m n u r
das Interesse
deren
Uninteressiertheit ihres
Wirtschafts-
geschehen k a n n , w e n n sie selbst
B a n k e x p e r t e n sind, bedarf keiner H e r v o r h e b i m g ; i m ü b r i g e n
wurde
schon a u s g e f ü h r t , daß auch d i e I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g f ü r die V e r w a l t u n g eine Q u e l l e w e r t v o l l e r u n d u n v e r z i c h t b a r e r S a c h k e n n t n i s i s t 5 2 . richtung der Bank Deutscher Länder vom 10. August 1951, BGBl. I S. 509). Demgegenüber ist die bezeichnete Auffassung der öffentlichen Meinung eine selbständig wirksame, politische Kraft; sie ist nicht zuletzt in zahlreichen Presseveröffentlichungen zum Ausdruck gekommen und lag auch der bemerkenswerten Abhandlung von Richard Merton , „Eine europäische Zentralbank" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 6. 1952) zugrunde. 62 Ein anderes Beispiel ist der am 2. April 1952 gegründete Produktivitätsrat, dem unter dem Vorsitz des Bundesministers für Wirtschaft u. a. Vertreter des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber verbände, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Industrie-Gewerkschaften Bergbau sowie Chemie, Papier, Keramik angehören (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 4. 1952). Er hat die Aufgabe, nach amerikanischem Vorbild einen Produktivitätsdrive durchzuführen, an dem auch das Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft (vgl. oben, Teil I I , 2, Anm. 14) mitwirkt. Dem Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft, das mit Gesetz vom 9. Oktober 1954 (BGBl. I, S. 281) errichtet wurde, kann der Bundesminister für Wirtschaft beratende Sachverständigenausschüsse beiordnen. Ihre Mitglieder werden nach Anhörung der beteiligten Wirtschaftskreise (Industrie, Handwerk, Handel) und der Gewerkschaften (§ 5, I I ) bestellt und abberufen. Sie versehen ihre Aufgaben ehrenamtlich, erhalten aber Reisekostenentschädigung wie Ministerialräte (§ 5, I I I ) und unterliegen den Bestimmungen der Verordnung über Bestechung und Geheimnisverrat nichtbeamteter Personen (§ 6, II). Andere vergleichbare Einrichtungen sind sowohl Beratungsorgan der Regierung wie des Parlaments. Das gilt für die Hauptwirtschaftskammer Rheinland-Pfalz, die aus je 13 Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sowie drei von ihnen zugewählten (neutralen) Wirtschaftssachverständigen besteht. Sie hat das Recht der Gesetzesinitiative (vgl. Art. 71 ff. der Landesverfassung und das Landesgesetz vom 21. 4. 1949, GVB1. Rheinland-Pfalz, S. 141). Ähnliches trifft für die Bremer Wirtschaftskammer zu, die aus je 18 Vertretern der Sozialpartner besteht und ebenfalls das Recht der Gesetzesinitiative hat (vgl. Bremisches Wirtschaftskammergesetz vom 23. 6. 1950, GBl. der Freien Hansestadt Bremen, S. 71).
287
5. Regierung und Verwaltung N i c h t s d e s t o w e n i g e r ist die U n t e r s c h e i d u n g
von
interessierten
unparteiischen Sachverständigen v o n grundsätzlicher Bedeutung. i s t i n d e r v e r d i e n s t v o l l e n V o r t r a g s r e i h e , die das F r a n k f u r t e r
und Sie
Institut
zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten unter dem M o t t o „ M o b i l i s i e r u n g des Sachverstandes" v e r a n s t a l t e t h a t 5 3 , v o n G e r h a r d mit
aller
Klarheit
herausgestellt
worden.
Einrichtungen,
Weisser
die
„der
M o b i l i s i e r u n g v o n G r u p p e n i n t e r e s s e n " dienen, d a m i t sie staatsmännisch gewürdigt Weissers
w e r d e n k ö n n e n , s i n d nach d e r p o i n t i e r t e n „etwas
verstandes'"54.
völlig
anderes
als
die
Formulierung
,Mobilisierung
des Sach-
I n d e n a n d e r e n B e i t r ä g e n dieser Reihe i s t d i e Grenze
53 Die Vorträge, die auf den folgenden Seiten noch mehrfach herangezogen werden, und ein Bericht über die Diskussion sind vom Institut veröffentlicht in der Schrift „Ratgeber von Parlament und Regierung", Frankfurt 1951. 54 Er sieht in ihnen vielmehr den Versuch, gewisse Eigenschaften des Ständestaates mit der Demokratie zu verbinden (Die Problematik des Sachverständigenrates in politischen Angelegenheiten und die Funktion der wissenschaftlichen Beiräte bei den Bundesministerien, a.a.O., S. 37). Als w i s s e n s c h a f t l i c h e Beiräte gibt es bei den zuständigen Ministerien einen wirtschaftswissenschaftlichen Beirat, einen Verkehrsbeirat, einen finanzwissenschaftlichen und einen agararwissenschaftlìchen Beirat. Der letztere besteht aus Männern der landwirtschaftlichen Praxis und der Verwaltung. Sonst wurden überwiegend Hochschullehrer als Mitglieder berufen. Für die Auswahl hatten nicht partei- oder interessenpolitische, sondern wissenschaftliche Gesichtspunkte ausschlaggebend zu sein. Dabei ist es von Bedeutung, daß die verschiedenen Schulen und Forschungsrichtungen in einem Beirat vertreten sind. Nur dann ist er für eine bestimmte Disziplin „repräsentativ". Vgl. i m übrigen die Einleitung des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard in der Schrift „Der Wissenschaftliche Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes", Göttingen 1950. Als ein weiteres, umfassenderes „Sachverständigengremium der Bundesregierung" gibt es den „ D e u t s c h e n F o r s c h u n g s r a t". Er umfaßt Vertreter der Geisteswissenschaften, der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung sowie der angewandten Forschung und strebt eine möglichst paritätische Vertretung dieser drei Gruppen an. Seine Mitgliederzahl ist auf 25 beschränkt; davon scheiden regelmäßig in einem in der Satzung festgelegten Turnus ein Teil aus, die vakanten Sitze werden durch Kooptation wieder besetzt. Er bildet Fachausschüsse, zu denen auch Nichtmitglieder, meist im Einvernehmen mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften, berufen werden. I h m steht ein fachwissenschaftlicher Beirat zur Seite, in dem 68 wissenschaftliche und technischwissenschaftliche Spitzenorganisationen vertreten sind (dazu vgl. den Bericht des Vizepräsidenten des Forschungsrates, Hellmut Eickemeyer, „Die Bedeutung des Deutschen Forschungsrates als Sachverständigen-Gremium der Bundesregierung", a.a.O., S. 94 ff.). Der Deutsche Forschungsrat w i l l eine freie, unabhängige und ehrenamtlich tätige Vertretung der gesamten Forschung sein, dessen Rat „moraliches Gewicht besitzt, das in entscheidenden Augenblicken moralische Macht sein soll" (a.a.O., S. 102). Es geht ihm in erster Linie darum, aus dem Fundus aller Disziplinen die Bundesregierung zu beraten. Er sieht es aber als sein R e c h t an, die Politik zu beraten und dadurch mitzubestimmen; das Mitglied Professor Otto Hahn hat ausdrücklich ein politisches Mitbestimmungsrecht der Wissenschaft gefordert (a.a.O., S. 97; vgl. auch S. 106). Auf Anregung des Forschungsrates hat die Bundesregierung ein
2 8 8 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
n i c h t i m m e r m i t d e r gleichen Schärfe gezogen, s o n d e r n v i e l f a c h v o r ausgesetzt w o r d e n , daß m a n h i e r i n e r s t e r L i n i e a n d e n Sachverstand der I n t e r e s s e n g r u p p e z u d e n k e n h a b e 5 5 . D i e Frage, w i e m a n i h r e k o n sultative M i t w i r k u n g institutionell u n d verfahrensmäßig formalisieren k ö n n e , ist i n der T a t das entscheidende P r o b l e m , f ü r das es i n Deutschl a n d noch k e i n e ü b e r z e u g e n d e L ö s u n g
gibt.
D i e I n t e r e s s e n g r u p p e n i n E n g l a n d b i e t e n e i n B i l d , das d e m amer i k a n i s c h e n ä h n l i c h ist, z w a r n i c h t i n d e r Z a h l d e r O r g a n i s a t i o n e n u n d i h r e m n u m e r i s c h e n U m f a n g , aber i n der W e i t e des Feldes, das sie beackern. D e r H a u p t u n t e r s c h i e d l i e g t d a r i n , daß es k e i n e lobby w i e i n U S A u n d anderen Staaten gibt. wesentlichen n u r
die Alternative,
durch
So
Parlaments-
bleibt
Abgeordnete
im
ihnen
im
House
of
C o m m o n s v e r t r e t e n z u s e i n ( u n d sich d o r t d e r s t r e n g e n P a r t e i d i s z i p l i n zu unterwerfen)
oder die g e r i n g e n C h a n c e n eines p r i v a t e m e m b e r
in
K a u f z u n e h m e n 5 6 oder aber E i n f l u ß a u f R e g i e r u n g u n d V e r w a l t u n g eigenes Referat geschaffen, das die Forschungsreferate der einzelnen M i nisterien koordiniert und auf Seiten der Verwaltung gewissermaßen die „opposite number" des Forschungsrates ist, der die Arbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Beiräte koordinieren will. Der Forschungsrat kann auch nachprüfen, was jeweils mit seinen Anträgen geschieht. Wenn das zuständige Ressort seine Vorschläge ablehnt, kann er um Begründung bitten (S. 114). I m Unterschied zu den wissenschaftlichen Beiräten der Ministerien ist der Forschungsrat nicht eine Schöpfung der Administration, sondern eine Art S e l b s t o r g a n i s a t i o n der Wissenschaft. Er wurde von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, den Akademien der Wissenschaften in Göttingen und Heidelberg und der Max-Planck-Gesellschaft gegründet, noch bevor die Bundesrepublik ins Leben trat; seine Satzung datiert vom 10. März 1949. M a n kannte bis dahin schon das umstrittene Phänomen einer „littérature engagée"; dazu hat sich nun das soziologisch und wissenschaftsgeschichtlich nicht weniger interessante Phänomen einer „engagierten Wissenschaft" gesellt, und zwar einer Wissenschaft, die sich selbst, aus politischer Verantwortung, politisch (dazu Gerhard Weisser, a.a.O., S. 36) engagiert und nicht erst auf den Anruf der Politik gewartet hat, um aus den olympischen Höhen der reinen Forschung und Lehre herabzusteigen. Der Forschungsrat will die politische „Repräsentation der deutschen Forschung" (Eickemeyer, S. 124) sein. 55 Es sind natürlich Mischformen denkbar: konsultative Gremien, die sowohl unabhängige wie von Interessengruppen nominierte Experten umfassen, wie ζ. B. die Hauptwirtschaftskammer Rheinland-Pfalz (s. Anm. 52). I n Nordrhein-Westfalen ist in den Sachverständigenausschüssen des Kultusministers Mitgliedern der Schulpflegschaft (Erziehungsberechtigte und Lehrer) Gelegenheit zur Mitberatung und Stellungnahme zu geben (§ 15 des Ersten Gesetzes zur Ordnung des Schulwesens im Lande Nordrhein-Westfalen vom 8. April 1952, GVB1. für das Land Nordrhein-Westfalen, Teil Α., S. 61 ff.). 5β Nur in seltenen Fällen haben private member bills Erfolg. Von dieser Regel gibt es vor allem eine Ausnahme: Sie sind aussichtsreich und finden meistens keine Opposition (so daß sie ohne Debatte durchgehen), wenn sie
5. Regierung und Verwaltung
289
auszuüben. Dias erste ist nichts Ungewöhnliches: einer recht erheblichen Anzahl Abgeordneter beider Parteien ist der Wahlkampf von Interessengruppen finanziert worden. Da aber das gesetzgeberische Programm des Parlaments zum weitaus größten Teil i n den Händen der Regierung liegt 5 7 , kommt der Einwirkung auf Kabinett und Ministerien die größere Bedeutimg zu 5 8 . Diese Einwirkung ist aber kein extrakonstitutioneller Vorgang wie i n Deutschland und anderen Staaten, i m Gegenteil, die Konsultation der bedeutenderen Interessen, die jeweils durch ein Gesetz berührt werden, ist „ein wesentlicher Teil des Gesetzgebungsverfahren" . A u f echt englische A r t vollzieht sich die organisierte Interessenwahrnehmung großenteils i n dem Rahmen von Institutionen, die älter sind als sie selbst, und ist dadurch i n hohem Maße stilisiert. Die englische Regierungspraxis kennt drei A r t e n von Konsultativorganen: „Royal Commissions", „Departmental Committees" und „Consultative Committees"; die beiden erstgenannten blicken auf eine lange Tradition zurück. Royal Commissions werden für Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit eingesetzt, zumal wenn über die zu ergreifenden Maßnahmen i n der Öffentlichkeit oder unter Interessengruppen noch Streit besteht, und ihre Tätigkeit erstreckt sich meist über längere Zeiträume. Sie werden durch „ r o y a l warrant" konstituiert und erfreuen sich ungewöhnlichen Ansehens. Departmental Committees werden durch den zuständigen Minister berufen und sind eine häufigere Erscheinung. Bei beiden A r t e n von Gremien gehört die Mehrzahl der Mitglieder nicht dem C i v i l Service an. Die Frage, ob es besser sei, neutrale Experten oder sachkundige Interessenvertreter zu berufen, w i r d grundsätzlich wohl zugunsten der letzteren entschieden 59 ; praktisch werden dagegen fast i n jeden Ausschuß u. a. auch die Vertreter organisierter Interessen berufen 6 0 ; denn diese Ausschüsse dienen nicht n u r der Erforschung bestimmter Probleme, der vom Tierschutzverein (Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals) befürwortet werden. 57 Uber die Herrschaft des Kabinetts über das Parlament s. auch Ernst Wolff , Das britische Kabinettssystem, JZ, 1951, S. 547 ff. 58 Wade and Philipps , Constitutional Law, S. 45; vgl. auch S. 112 ff.; ferner W. Ivor Jennings , Parliament, Cambridge (University Press) 1948, bes. S. 171 ff.; J. A. Cordy, Elements of Democratic Government, New York (Oxford University Press) 1947, S. 224 f f.; Herman Finer , Theory and Practice of Modern Government, rev. ed. 1949, S. 448 f., 463 ff. δβ Finer , a.a.O., S. 448, unter Bezugnahme auf den „Report of the Departmental Committee on the Procedure of Royal Commissions" von 1910, Cd. 5235, S. 6. eJ Nachweise bei Finer , a.a.O., S. 203 f. 10
Kaiser, Repräsentation
290
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Sammlung von Informationen, sondern sollen praktikable Gesetzesvorschläge machen und darum, heute mehr als früher, auch den i n Mitleidenschaft gezogenen Interessen Gelegenheit bieten, sich frühzeitig zur Geltung zu bringen. Sie sind keine Formen, sondern arbeiten i n aller Stille (was ohne Zweifel ein wesentlicher Grund für i h r erfolgreiches Wirken ist) u n d beschließen ihre Arbeiten m i t einem Bericht; nur relativ selten kommt es zu einem Mehrheits- und einem Minderheitsbericht. Die meisten ihrer Vorschläge gehen i n Gesetzentwürfe der Regierung ein 6 1 . Die Übung, permanente Beratungsorgane, „Consultative Committees", einzusetzen, ist besonders i n den letzten Jahrzehnten entwickelt worden. Während die übrigen Gremien ausschließlich zur Vorbereitung der Gesetzgebung dienen, bearbeiten diese auch, teilweise ausschließlich, Verwaltungsmaßnahmen. I h r wesentlicher Zweck ist, „ t o bring the public into organized relations w i t h the executive as an administrative body" 6 2 . Es liegt i n der Regel i m Ermessen des M i nisters, sich solche Organe zu schaffen und anzuhören. 1949 gab es rund 700 solcher Ausschüsse 63 . I n Einzelfällen ist der Minister zur Anhörung eines solchen Gremiums oder auch einer Interessenorganisation gesetzlich verpflichtet, bevor er bestimmte Maßnahmen ergreift 6 4 . So hat der National Insurance Act von 1946 dem National Insurance Advisory Committee eine bevorrechtigte Stellung eingeräumt und hat auf diese Weise dem besonderen Interesse der beteiligten Gruppen an der Sozialversicherung Rechnung getragen, dem i n Deutschland durch 01
Jennings , a.a.O., S. 202 mit Anm. 1. Harold Laski, A Grammar of Politics, Neudruck der 3. Aufl., 1950, S. 375. Laski hat sich mit besonderem Nachdruck für diese beratenden Ausschüsse eingesetzt (a.a.O., S. 375—387). Er betont ihren ausschließlich beratenden Charakter. Sie müssen, was ihre Zusammensetzung betrifft, „repräsentativ" sein, d. h. „those who attend there must be persons who command the confidence of the interests which are affected by the work of the particular department" (S. 378). Die Interessenvertreter können für ihre Organisation keine bindenden Erklärungen abgeben (S. 377). Sie sollen jedoch in der Lage sein, auch vertrauliche Beratungen mit dem Minister und seinen Beamten zu pflegen (S. 380). 63 Wade and Phillips, a.a.O., S. 213. 64 Der Education Act von 1944 (7 & 8 Geo. 6. Ch. 31) schrieb ζ. Β. die Errichtung von zwei Central Advisorz Councils (für England bzw. für Wales und Monmouthshire) vor. Ihre Mitglieder werden vom Minister berufen und sollen die verschiedenen (staatlichen und nichtstaatlichen) Schulsysteme repräsentieren. Die Councils können dem Minister aus eigener Initiative Gutachten über Theorie und Praxis des Erziehungswesens unterbreiten und haben Fragen zu bearbeiten, die dieser ihnen vorlegt (sec. 4). Der Minister hat jährlich über die Zusammensetzung und die Tätigkeit dieser Councils dem Parlament zu berichten (sec. 5). 62
291
5. Regierung und Verwaltung die
Selbstverwaltung
der
Sozialpartner
Genüge
getan
ist.
Dem
A d v i s o r y C o u n c i l müssen v o m M i n i s t e r a l l e „ r e g u l a t i o n s " i m E n t w u r f v o r g e l e g t w e r d e n ; das G u t a c h t e n des Ausschusses i s t m i t d e m m i n i s t e r i ellen E n t w u r f
dem Parlament
zuzuleiten. I n
Fällen, i n denen
der
M i n i s t e r d e n E m p f e h l u n g e n des Ausschusses n i c h t f o l g t , h a t e r ü b e r dies d e m P a r l a m e n t d i e G r ü n d e seiner a b w e i c h e n d e n A u f f a s s u n g d a r z u l e g e n 6 5 . A u c h h i e r h a t d e r Ausschuß n u r b e r a t e n d e n C h a r a k t e r , aber seinem V o t u m ist d u r c h diese V o r s c h r i f t e i n besonderes G e w i c h t v e r liehen.
Andererseits
tritt
die
souveräne
Entscheidungsbefugnis
P a r l a m e n t s h i e r d e u t l i c h h e r v o r . Sie w i r d n i c h t b e e i n t r ä c h t i g t
des durch
d e n noch z u n e h m e n d e n E i n f l u ß der I n t e r e s s e n g r u p p e n , d e r sich d a r i n äußert, daß es sich b e i d e n R e g i e r u n g s v o r l a g e n n i c h t s e l t e n u m „ a g r e e d measures" h a n d e l t 6 6 . D e n n es i s t e i n u n b e s t r i t t e n e r V e r f a s s u n g s g r u n d satz, daß d i e M i t w i r k i m g d e r O r g a n i s a t i o n e n s t r i k t k o n s u l t a t i v i s t 6 7 / 6 8 . 65
Wade and Phillips, S. 214. a.a.O., S. 46; vgl. auch die eindrucksvolle Aufstellung „Who made the Laws in 1936—7?" bei Jennings , S. 510 ff. 67 Das Zusammenwirken der englischen Regierung mit den Interessengruppen ist deshalb nicht weniger intensiv. Das gilt vor allem für die britische Außen- und Handelspolitik von den Zeiten der Ostindischen Kompanien bis auf unsere Tage. Ein lehrreiches Beispiel ist das Abkommen der Federation of British I n dustries mit der Reichsgruppe Industrie, das am 16. März 1939, am Tage nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag, in Düsseldorf unterzeichnet wurde. Es war ein Rahmenvertrag, den die beiden Spitzenverbände abschlossen, innerhalb dessen die einzelnen Fachgruppen der beiden Länder besondere Abkommen treffen sollten. Dazu ist es anscheinend nicht mehr gekommen. Die vorausgehenden Verhandlungen zwischen den beiden Industrieverbänden sind wirksam unterstützt worden durch einen Besuch des Leiters der Wirtschaftsabteilung des Foreign Office in Berlin und sollten weiter gefördert werden durch die „private" Reise zweier britischer Minister, Sir Oliver Stanley und Robert S. Hudson, nach Berlin; diese wurde jedoch wegen der politischen Ereignisse abgesagt. Vgl. dazu die materialreiche Studie von Louis H. Or zack, The Düsseldorf Agreement, A Study of the Organization of Power and Planning, in der Political Science Quarterly, 65, 1950, S. 393—414. Uber die Beziehungen der Federation of British Industries zur Regierung vgl. auch Robert A. Brady , Business as a System of Power, New York (Columbia University Press) 1947, S. 174 ff. 68 Das englische System ist wie kein anderes geeignet, die Vorteile solcher Beratungsorgane erkennen zu lassen. I h r größter Nachteil ist die Verlangsamung und mitunter die Erschwerung der Staatswillensbildung, die Verzögerung einer politischen Entscheidung. I n England wie sonst wo werden beratende Gremien deshalb besonders gern dann eingeschaltet, wenn die Exekutive eine Entscheidung für unopportun hält und hinausschieben will. Konsultativorgane können auch zu einem Grab jeder echten Verantwortung und Entscheidung werden. Das hat Francis Hekking auf Grund eigener Erfahrung in der französischen Verwaltung der Dritten Republik mit viel Ironie dargestellt (Réflexions sur la Mécanique administrative, New York, Maison Française, 1943, S. 206 ff.). Für U S A vgl. die Kritik von Avery Leiserson in der angef. vorzüglichen Studie „Administrative Regulation, A Study in Representation of Interests", 1942, S. 187 f. 68
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Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Die Beziehung zwischen Interessengruppen und Staat ist vor allem eine Beziehung zwischen Interessengruppen und Regierung. Sie ist der Hauptadressat aller organisierten Interessenwahrnehmung. Dafür mögen abschließend noch zwei weitere Fakten angeführt werden: Die amerikanischen Wirtschafts- und Finanzkreise hatten 20 Jahre lang auf die Rückkehr der Republikaner i n die Administration gewartet. Z u r allgemeinen Überraschung war aber nach dem Sieg Dwight D. Eisenhowers die Reaktion der Börse keineswegs stürmisch; die Aktienkurse bewegten sich nur zaghaft nach oben. Eine lebhafte Bewegung der Kurse war erst i n der ersten Dezemberwoche 1952 zu verzeichnen, nachdem bekannt geworden war, aus welchen Persönlichkeiten sich die Berater und das Kabinett des Präsidenten rekrutieren würden und die amerikanische Privatwirtschaft m i t einer Reihe bedeutender Businessmen zum Zuge gekommen war. Der Sieg des Generals bedeutete für die Wirtschaft noch viel mehr als der Sieg der Republikanischen Partei. Als entscheidend erwies sich jedoch nicht, welche Partei, sondern welche Persönlichkeiten die Administration übernahmen. Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten, zunächst mehr Pressure Group als Partei, hat i m politischen Spektrum der Bundesrepublik keinen festen Standort. Soziologisch wohl eher der Opposition (der Besitzlosen gegen die Besitzenden) zugehörig, drängen seine Vertreter trotzdem überall i n die Regierungen, i n denen sie sich grundsätzlich m i t jeder anderen Partei koalieren. Der Grund leuchtet ein: A m Hebel der Exekutive können sie ihre Interessen sehr viel w i r k samer befördern als i n einer wenig ergiebigen Opposition 6 9 . Aus ihrer Stellung zur bzw. i n der Exekutive gewinnt diese i m deutschen Parteisystem sonst nicht unterzubringende Gruppe ihren politischen Standort. 6. Die Justiz Die Gerichtsbarkeit steht unter dem Postulat imbedingter Neutralität und Unparteilichkeit. Gewiß g i l t diese Forderung für den Staat als Ganzes, aber angesichts der Beherrschung des Staatsapparates durch Parteien und des Einflusses organisierter Interessen vermag man letztlich n u r noch i m Staatsoberhaupt und i n den Gerichten einen letzten 09
Auf diesen Sachverhalt hat F. R. Allemann in einem lesenswerten Aufsatz „Das deutsche Parteiensystem", im 52. Heft der Zeitschrift „Der Monat", 5, 1953, S. 386, hingewiesen.
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Hort der Neutralität, eine über den Parteien und Interessen stehende neutrale Instanz, zu erblicken. Die Justiz ist das letzte Refugium, wie i m Streit der politischen Parteien, so auch i m Streit der Interessengruppen. Nach Montesquieu, ,.en quelque façon nulle" 1 , w i r d sie wie eine A r t deus ex machina auf die Bühne der ökonomisch-politischen Auseinandersetzimg der Sozialpartner bemüht, wenn deren Vertreter i n den Aufsichtsräten der Kohle und Eisen schaffenden Industrie bzw. i n den Vermittlungsausschüssen sich für die Vorstände der Unternehmen auf keine Kandidaten einigen können, die von dem Wahlorgan akzeptiert werden 2 . Die hergebrachten Garantien der Unabhängigkeit des Richters verwehren den Interessengruppen irgendeine Einflußnahme auf die Rechtsfindimg des ordentlichen Gerichts. Die Sondergerichte dagegen, namentlich die Arbeitsgerichte, beruhen auf einer sehr ausgedehnten Berücksichtigung und M i t w i r k u n g der einschlägigen Interessen und ihrer Organisationen. Auch die politische Spitze der Justizverwaltung, der Justizminister, ist wie die übrigen Kabinettsmitglieder den Forderungen und dem Druck der Organisationen ausgesetzt. So haben die Verbände der belgischen Veteranen und Widerstandskämpfer den Rücktritt des Justizministers Pholien am 3. September 1952 durchgesetzt, w e i l er zwei Kollaborateure begnadigt hatte; Pholien war der dritte Justizminister, der sein A m t aufgeben rnußte, w e i l er bei Begnadigungen auf den Widerstand der öffentlichen Meinung stieß 3 ' 4 . 1
Dazu vgl. unten Anm. „ . . . ex machina legis" ist man versucht zu sagen, nämlich des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. M a i 1952, § 8, BGBl. I, S. 348 f. Der Justiz ist so betriebswirtschaftliche Verantwortung übertragen worden, nachdem sie durch die justizstaatlichen Einrichtungen des Bonner Grundgesetzes schon in die Verantwortung für politische Entscheidungen einbezogen war. Werner Weber hat die Gefahren, die sich daraus für die Justiz ergeben, deutlich gekennzeichnet: „Dann verlangen die politischen Kräfte auch Einfluß auf die Justiz und heischen sie von ihr Verantwortung, wodurch die Justiz alsbald in ihrem Wesen verletzend getroffen wird" (Spannungen und Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 33). 8 Neue Züricher Zeitung vom 2. und 5. September 1952 (Fernausgaben Nr. 242 und 245). 4 Theodor Eschenburg hat das Verdienst, i n seiner Schrift „Verfassung und Verwaltungsaufbau des Südweststaates", Stuttgart 1952, S. 45 f. und 75 ff., einen Weg zur Neutralisierung der Justizverwaltung aufgewiesen zu haben: er w i l l den Minister durch einen Chef der Justizverwaltung (oder ein dreiköpfiges Kollegium) ersetzt wissen, der von den Richtern i m Präsidentenrang, den Dekanen und Prodekanen der juristischen Fakultäten und den Vorständen der Anwaltskammern bzw. der Rechtsanwaltsvereine gewählt wird. I h m sollen auch die Spezialgerichte unterstellt werden, so daß 2
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Neben solchen Einzelfällen einer flagranten Druck- und Machtausübung gibt es den verschwiegenen und stetigen Einfluß der verschiedenartigsten Interessengruppen auf das Justizressort mit dem Ziel, die primär i n seine Kompetenz fallende Gesetzgebung, ζ. B. das Strafrecht und vor allem das Nebenstrafrecht, zu beeinflussen. I. Die Gewerkschaften haben in der Einrichtung von Arbeitsgerichten eine ihrer bedeutendsten Errungenschaften gefeiert 5 . Das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 1926, an das auch die geltenden gesetzlichen Regelungen anknüpfen 6 , hat eine ihrer entschiedensten Forderungen erfüllt. Als die Vorzüge der Arbeitsgerichtsbarkeit werden i n der Regel die Betrauung speziell erfahrener Richter, die Heranziehung von Laienrichtern und die Vereinfachimg, Beschleunigung und Verbilligung des Verfahrens genannt. Ihre Besonderheit liegt darin, daß die Arbeitsgerichtsbehörden auch ressortmäßig aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit ausgegliedert und dem Arbeitsminister unterstellt sind, der heute i n der Regel ein Exponent der Gewerkschaften ist; sie liegt vor allem i n der maßgeblichen Beteiligung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände an der Zusammensetzung der Arbeitsgerichte. Die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden werden nach Beratung m i t Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen ernannt. Ihre Amtsdauer beträgt mindestens ein Jahr; nach dreijähriger Amtszeit müssen sie, wiederum nach Beratimg m i t Vertretern der Sozialpartner, entweder auf Lebenszeit ernannt oder entlassen werden (§ 18). Sie haben also nicht ohne weiteres die wichtigste Garantie richterlichen Unabhängigkeit, die lebenslängliche Anstellung. Die Vorsitzenden der ersten Instanz bedürfen nicht zwingend der Befähigung zum Richteramt nach § 2 GVG. Als Arbeitsrichter w i r k e n je ein Vertreter der Arbeitgeber u n d der Arbeitnehmer mit. Sie werden ebenfalls von der obersten Arbeitsdie gesamte Justiz gewissermaßen aus dem Bereich der Regierung ausgeklammert wird. Vgl. auch Paulus van Husen, Die Entfesselung der Dritten Gewalt, Arch, d. öff. Rechts, 78, 1952, S. 49 ff., mit einer Darstellung des Obersten Justizrats in Frankreich (Art. 83 der franz. Verfassung von 1946) und in Italien (Art. 104 der italienischen Verfassung von 1947). 5 Ihre Forderung entsprang ursprünglich der typisch syndikalistischen Ablehnung der „Klassenjustiz"; vgl. oben Teil I, 1 mit Anm. 44 über die Haltung der französischen Syndikate. 6 Sie beruhten auf dem Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30. 3. 1946 und einzelnen Ländergesetzen; vgl. Arthur Nikisch, Arbeitsrecht, S. 457f. Heute ist das Arbeitsgerichtsgesetz vom 3. September 1953 (BGBl. I, S. 1267) maßgebend.
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behörde des Landes (im Falle des Bundesarbeitsgerichts durch den Bundesminister für Arbeit) auf Grund von Listen berufen, die von den Organisationen aufgestellt sind. Diese sind auch allein berechtigt, ihren Mitgliedern Prozeßbevollmächtigte und Beistände für die erstinstanzliche Verhandlung zur Verfügung zu stellen; Rechtsanwälte sind von der Prozeßvertretung i n der ersten Instanz ausgeschlossen, es sei denn, der Vorsitzende verfügt ihre Zulassung, w e i l die Wahrung der Rechte der Parteien dies notwendig erscheinen läßt, oder der Streitwert mindestens 300 D M beträgt (§ 11). Für den zweiten und dritten Rechtszug besteht Anwaltszwang, der aber zugunsten der Organisationen durchbrochen ist, deren Vertreter auch vor der zweiten Instanz (nicht vor der dritten Instanz) auftreten können, wenn i h r Verband oder ein Verbandsmitglied Partei ist 7 . Die Verbände haben für diese Aufgaben besonders geschultes Personal zur Verfügung. Die Benachteiligung der nicht organisierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist offensichtlich. Die Arbeitsgerichte sind ein besonders markantes Beispiel für M i t w i r k u n g der einschlägigen Interessen an der Rechtsprechung. Ähnliche Forderungen sind von den Gewerkschaften für die Sozialgerichtsbarkeit angemeldet und durchgesetzt worden 8 . Schon die Reichsversicherungsordnung kannte die M i t w i r k u n g von Arbeitgebern und Versicherten i n ihren Behörden namentlich i m Spruchverfahren (§§ 1636 ff.; es ging dort hauptsächlich u m die Ansprüche auf Versicherungsleistungen) 9 . Schließlich eröffnet die Einrichtung der ehrenamtlichen Mitglieder der Verwaltungsgerichte 1 0 die Möglichkeit, i n diesem Laien7
Über die weitere Mitwirkung der Verbände Nikisch, a.a.O., S. 462. Franz Lepinski, Die Sozialgerichtsbarkeit, in „Soziale Sicherheit, Die Sozialpolitische Monatszeitschrift der Gewerkschaften", I. 1952, S. 232 ff. Art. 96 Abs. I GG. fordert für das Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit die Errichtung eines oberen Bundesgerichts. Vgl. auch August Teutsch, Die Sozialgerichtsbarkeit und die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit, DÖV. 3, 1950, S. 168 ff., und nunmehr das Sozialgerichtsgesetz vom 3. September 1953, BGBl. I, S. 1239 ff. 9 Vgl. auch Carl Schmitt, Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates (Mitteilungen der Industrie- und Handelskammer zu Berlin vom 10. M a i 1930, S. 471 ff.) über das Reichswirtschaftsgericht, das Kartellgericht und das Schlichtungswesen, mit bedeutungsvollen Ausführungen über die Stellung der sachkundigen Interessenten, die sich bei der Unterscheidung wirtschaftlicher Gegensätze und Konflikte natürlicherweise als Parteien gegenüberstehen (S. 474). 10 §§ 13 ff. des in den Ländern Bayern, Württemberg-Baden und Hessen geltenden Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit; §§ 18 ff. der in der britischen Zone geltenden Verordnung Nr. 165 der brit. Militärregierung; dazu vgl. Paul van Husen, Aufbau und Zuständigkeit der neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, in Recht, Staat, Wirtschaft, I I , 8
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element die i n Interessen gegliederte Gesellschaft an der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu beteiligen, wenn auch die ehrenamtlichen Mitglieder nicht wie bei den Arbeits- und Sozialgerichten als Vertreter eines bestimmten Interesses i n Erscheinung treten. I n jedem Fall handelt es sich u m echte Gerichtsbarkeit, die den rechtsstaatlichen Grundsätzen unterworfen ist, wie sie Ernst Friesenhahn eindringlich dargelegt h a t 1 1 . — Hier müssen endlich auch noch die Entnazifizierungsbehörden genannt werden. Nach dem Zusammenbruch gewannen die Gewerkschaften teilweise Einfluß auf die Zusammensetzung der Entnazifizierungsausschüsse. A u f Befehl der Besatzungsmacht figurierten sie neben den politischen Parteien als Wahlkörper 1 2 . W i r sind gewohnt, m i t dem Begriff der Rechtsprechung die Vorstellung einer staatlichen Institution zu verbinden. Daneben kommt aber der Standes- und Ehrengerichtsbarkeit zahlreicher Organisationen eine wachsende Bedeutung zu. Die bedeutendste englische Darstellung dieser Materie, die w i r W i l l i a m A. Robson verdanken, belegt die Organe dieser Verbandsgerichtsbarkeit mit dem Terminus „Domestic Tribunals" und stellt sie den „Courts of Justice" und den „Administrative Tribunals" gegenüber 13 . Sie üben sehr weitgehende „judicial powers" über ihre Mitglieder aus. Die schwerste Strafe, die sie verhängen können, besteht i m Ausschluß aus dem Verband. Das kann eine peinliche soziale Diskriminierung sein, kann aber auch schwer1950, S. 285 f. mit zutreffender Kritik an dem weiten Umfang, in dem sie herangezogen werden. 11 Die rechtsstaatlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts, in „Recht, Staat, Wirtschaft", I I , 1950, S. 239 ff. Vgl. auch Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung, Festschrift für Richard Thoma, Tübingen 1950, S. 36 und 48 über den einheitlichen Begriff der Rechtsprechung, wie er dem Art. 92 ff. GG. zugrunde liegt. Vgl. ferner die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Oktober 1954 betr. das ärztliche Berufsgericht in Niedersachsen. 12 August Dresbach berichtet in einem Aufsatz „Als alles noch verworren war, Ein Zeitalter wird besichtigt" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. 10. 1952), daß er, damals Landrat des Oberbergischen Kreises, bei der britischen Besatzungsmacht gegen die einseitige Heranziehung der Gewerkschaften vorstellig geworden sei. „Alle meine Vorstellungen, daß dann ein ständiges Gegenstück in Vertretern der selbständigen bäuerlichen und handwerklichen Bevölkerung und der industriellen Arbeitgeberschaft gegeben werden müßte, verhallten vor tauben oder zugehaltenen Ohren." Das ist keine vereinzelte, sondern eine typische Parallele zu der oben, Teil I I I , 1, dargestellten amerikanischen Besatzungspolitik. 13 Justice and Administrative Law, A Study of the British Constitution, 2. Aufl. London (Stevens) 1947, S. 219 ff. „All these organs of authority, armed with power; essentially j u d i c i a l i n i t s n a t u r e to hear and determine an immense number of questions closely affecting the rights and duties of individual members, may be designated domestic tribunals... (a.a.O., S. 225 f.; Sperrung durch mich).
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wiegende wirtschaftspolitische Folgen nach sich ziehen, wenn beispielsweise die Zugehörigkeit zu dem betreffenden Verband die Voraussetzung für die Ausübimg eines bestimmten Berufes ist 1 4 . Daneben gibt es viele andere A r t e n von Verbandsstrafen. Das House of Lords hat wiederholt den Wirtschaftsverbänden das Recht zuerkannt, M i t glieder und Nichtmitglieder dadurch zu bestrafen, daß ihre Namen auf einer sog. „stop list" veröffentlicht werden 1 5 ; für die Verbandsmitglieder bedeutet das die Aufforderung zum Boykott, deren Befolgung wiederum durch ähnliche Maßnahmen eingeschärft werden kann. Die ordentlichen Gerichte haben sich zur Nachprüfung der Entscheidung eines „Domestic Tribunal" für zuständig erklärt, falls durch sie ein Eigentumsrecht des Mitglieds berührt wird. Das ist häufig der Fall, wenn die Organisation Beiträge erhebt; darunter fällt insbesondere auch die Beeinträchtigimg oder die Untersagung der Berufsausübung, die eine Maßnahme der Verbandsgerichtsbarkeit mit sich bringt. Unter dieser Voraussetzung prüfen sie nach, ob die Grundsätze der „natural justice" gewahrt sind. Dazu gehören die elementaren Verfahrensgrundsätze wie „audiatur et altera pars", daß die urteilenden Verbandsorgane nicht eigenen Interessen folgten oder sonstwie befangen waren u. dgl. Davon abgesehen ist das „Domestic Tribunal" jedes Verbandes autonom und frei von jeder außenstehenden Kontrolle, gleichgültig, ob die Verfassung der Organisation i n einem Act of Parliament, i n einer Charter from the Crown oder i n einer einfachen Verbandssatzung grundgelegt ist. I n Frankreich haben die Berufsverbände, namentlich die „ordres professionnels" der medizinischen Berufe, weitgehende reglementierende, rechtsprechende und Disziplinarbefugnisse und „ordnen" das Verhältnis der Mitglieder zu ihren Klienten, zu ihren Berufsgenossen (Konkurrenten) und zum Staat. Die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung über die Ausübung der den Verbänden vom 14
Mitgliedschaft in einem der Inns of Court ist ζ. B. Voraussetzung für die Ausübung des Anwaltsberufes; Mitgliedschaft in einem Wirtschaftsverband als Voraussetzung, um in einer Branche Handel treiben zu können, die von dem Verband kontrolliert wird, ist ein weiteres von Robson angef. Beispiel (S. 220). „There is a growing tendency for Parliament to enact legislation recognising professions and establishing a representative organ for regulating the conditions of entry, qualifications and conduct of practising members. The usual method of enforcing discipline ist by a domestic tribunal." (S. 235.) Zum Ganzen vgl. auch die Darstellung des Marketing Board Movement seit 1930 und den Bericht über das Falmouth Committee von 1939 (a.a.O., S. 242 ff. und 247 ff.). 15
a.a.O., S. 225.
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Staat verliehenen Prärogativen ist nach Ausweis eines erfahrenen Conseiller d'Etat gekennzeichnet durch die Furchtsamkeit, die Inkompetenz und den Minderwertigkeitskomplex der Staatsbeamten 16 . I n dieser Lage bewährt sich die große Tradition der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit: wie bisher schon die Exekutive so w i r d nimmehr auch der neue „pouvoir professionnel" unter analoger Anwendung der überlieferten Prinzipien der richterlichen Kontrolle unterworfen. Der Conseil d'Etat und die Verwaltungsgerichte erweisen sich als die berufenen Hüter der individuellen Freiheit gegenüber den Berufsverbänden wie gegenüber dem Staat. Auch i n Deutschland beruht die Standes- und Ehrengerichtsbarkeit der Verbände auf einer alten Tradition, die i n den Organisationen der freien Berufe besonders starke Wurzeln hat. Sie dient berufsständischen Zwecken und w i r d i m Interesse des Verbandes ausgeübt. Sie hat auch hier eine besondere Bedeutung, wenn es sich u m eine Organisation handelt, deren Mitglied jemand sein muß, der einen bestimmten Beruf ausüben w i l l , die Zugehörigkeit zu dem Verband also dem einzelnen eine bestimmte Rechtsstellung und Kompetenz verleiht 1 7 ; die Rechtsnatur der Verbandsgerichtsbarkeit ist i m einzelnen unklar und umstritten, vor allem, soweit die Organisationen öffentlich-rechtliche Gebilde sind. Die Frage, ob es sich u m besondere Verwaltungsgerichte handelt, w i r d von der Rechtsprechung und i m Schrifttum nicht einheitlich beantwortet 1 8 . Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat beispielsweise den ärztlichen Berufegerichten die Eigenschaft von „Gerichten" i m Sinne der Verfassung abgesprochen, da ihren rechtskundigen Mitgliedern die persönliche richterliche Unabhängigkeit fehle 1 9 ; 16 Raymond O dent, L e contrôle du Conseil d'Etat sur le® ordres professionnels, Archives de Philosophie du Droit, 1953/54 (in dem der „Déontologie et Discipline professionnelle" gewidmeten Band), S. 112. Vgl. ferner André Heïlbronner, Le Pouvoir professionnel, und Hervé Detton . La Protection par le Conseil d'Etat des Droits de l'Individu dans l'Organisation professionnelle, beide Aufsätze in dem Sammelband Conseil d'Etat, Etudes et Documents, Paris (Imprimerie Nationale) 1952, S. 33 ff. bzw. 53 ff. 17 Vgl. ζ. Β. §§ 64 ff. der Reichs-Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 über die Ehrengerichtsbarkeit und das ehrengerichtliche Verfahren für Rechtsanwälte und Anwaltsassessoren. 18 Vgl. u. a. Hans Peters, Lehrbuch der Verwaltung, Berlin 1949, S. 202 f.; H. Rutkowski, Die Rechtsnatur der deutschen Ehrengerichtsbarkeit, Berliner jur. Diss., 1938; Wolff , Die Voraussetzungen eines besonderen Verwaltungsgerichts, Monatsschrift f. Deutsches Recht, 1951, S. 67 ff.; ferner Xaver Schoen, Zeit- und Streitfragen des Verwaltungsprozesses, DÖV. 4, 1951, S. 396 f., und die dort nachgewiesene Literatur, sowie die von Franz Hufnagel, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der amerikanischen und britischen Zone, Berlin-München 1950, S. 129 f., wiedergegebenen Entscheidungen. 19 Entscheidung vom 20. 7. 1951, Bayr. GVB1. 1951, S. 139.
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sie sind deshalb auch keine besonderen Verwaltungsgerichte. Das gilt auch für die Berufsgerichte der Zahnärzte und Dentisten bayerischen Rechts und eine Reihe von anderen Kammern, Spruchbehörden u. dgl. 2 0 . Die Ehrengerichte u n d der Ehrengerichtshof der Rechtsanwaltskammern der Britischen Zone sind dagegen gesetzlich zugelassene besondere Gerichte i m Sinne der §§ 13, 14 G V G 2 1 . I m ganzen ist die Rechtslage auch hinsichtlich der Kaufmanns-, Gewerbe- und ähnlicher Gerichte uneinheitlich u n d i m Fluß. Der Ehrengerichtsbarkeit der deutschen Wirtschafts verbände sind durch die Kartellbestimmungen enge Grenzen gesetzt. Verurteilungen dürfen nicht zu einer Benachteiligung i m Wettbewerb oder zum Ausschluß vom M a r k t führen. Nach der Auffassung der amerikanischen Dekartellierungsbehörde ist der Mitgliedsausschluß ebenso wie die Annahmeverweigerung nur dann statthaft, wenn dem Betroffenen durch Gerichtsurteil oder Verwaltungsanordnung die Ausübimg eines Berufes i n der Branche des Wirtschaftsverbandes untersagt ist 2 2 . Sanktionen einer Organisation, die nichts anderes sein dürfen als Reflex und Begleitumstand einer auf Grund des staatlichen Wirtschaftsstrafrechts durch ein Staatsorgan verhängten Strafe können natürlich nicht als Emanationen einer Verbandsgerichtsbarkeit angesprochen werden 2 3 . Etwas· anderes ist die Aufnahme einer Schiedsklausel i n die Verbandssatzung, die für alle Mitglieder wirksam ist, ohne daß es des A b schlusses eines besonderen Schiedsvertrages zwischen ihnen bedarf. Das Verfahren bestimmt sich nach §§ 1025—1048 ZPO. 20
Vgl. Friedrich Hübner, Die besonderen Verwaltungsgerichte in Bayern und die persönliche Unabhängigkeit ihrer Richter, DÖV. 5, 1952, S. 257 ff. 21 Urteil des Ehrengerichtshofs der Rechtsanwaltskammern der Britischen Zone vom 4. 9. 1951, das sich auf §§ 78 ff. der Rechtsanwaltsordnung für die Britische Zone stützt, die an die Stelle der Reichs-Rechtsanwaltsordnung getreten ist (DVB1. 67, 1952, S. 371 f.). 22 Albrecht Spengler, Grenzen und Gefahren der Wirtschaftsverbände im Hinblick auf das Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen, in RWP-Blattei (Forkel, Stuttgart) 8 Wi-R. D, Wirtschaftsverbände v. 28. 5. 1952 und 27. 9. 1950. 23 Die hier aufgeführten Beispiele einer Verbandsgerichtsbarkeit ließen sich um zahlreiche weitere vermehren. Hier sei abschließend bemerkt, daß es in den V e r e i n i g t e n S t a a t e n die Gewerkschaften sind, die auf Grund des closed shop und des union shop jemanden durch die Verweigerung der Aufnahme oder durch Ausschluß daran hindern können, sein tägliches Brot zu verdienen. Dazu statt anderer Peter F. Drucker, Labor in Industrial Society, Annais, March 1951, S. 147 f., mit der Feststellung: Jene Einrichtungen legen in die Hände der Gewerkschaften „power over the individual's civic rights — over his political convictions, his political activity, even his political opinion. Already, union members have been expelled for political opinions or activity" (S. 148).
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Es ist dem Ansehen und der Autorität der ordentlichen Gerichte zweifellos dienlich gewesen, daß man sie von den ursprünglich klassenkämpferischen Auseinandersetzungen der Sozialpartner befreit hat und für diese und andere Interessenkämpfe wirtschaftsnahe Spezialgerichte m i t Repräsentanten der organisierten Interessen geschaffen oder eine eigene Verbandsgerichtsbarkeit sich hat entwickeln lassen. Die Einrichtung von Arbeitsgerichten hat viel dazu beigetragen, die Justiz dem Vorwurf, sie sei Klassenjustiz, d. h. das politische Instrument einer Interessengruppe, zu entrücken. A u f der anderen Seite droht die Gefahr, daß die organisierten Interessen auch die Rechtsprechung Stück für Stück unter sich aufteilen, nachdem Parlament, Beamtentum und andere Zentren staatlicher A k t i v i t ä t ihnen schon zu einem erheblichen Teil als Beute anheimgefallen sind. Solange die staatlichen Berufsrichter i n den Spezialgerichten das Übergewicht haben, solange die Sprüche der Verbandsgerichtsbarkeit einer wirksamen Nachprüfung durch staatliche Gerichte unterliegen und so alle traditionellen Garantien einer objektiven Rechtsfindimg und einer lückenlosen Verwirklichimg der Gerechtigkeit gewahrt sind, scheint diese Gefahr gebannt. Sie erhebt aber i n dem Augenblick wieder i h r Gorgonenhaupt, in dem die Justiz auf irgendeine Weise i n die Auseinandersetzung zwischen den mächtigen Blöcken organisierter Interessen hineingezogen wird. Dann ist sie nicht mehr „en quelque façon nulle" — was sie sein muß, wenn sie ihre Funktion getreulich soll erfüllen können —, sondern sie w i r d zu einer politischen Macht unter anderen politischen Mächten und ist damit dem Machtdruck und -geschiebe, der politischen Erosion und dem Substanzverschleiß, unmittelbar ausgesetzt. Das würde der seit Montesquieu gültigen europäischen Vorstellung vom Staat und von der Rolle der Justiz i m Staat widersprechen 24 . II. I m Gegensatz zur europäischen (einschließlich der englischen) Gerichtsbarkeit ist die Justiz i n dem amerikanischen Verfassungssystem der „checks and balances" bewußt und gewollt ein politischer Faktor; sie ist die „judicial branch of the Government", das i m ganzen, einschließlich der Justiz, eine Funktion der Gesellschaft ist. Gewiß residieren die Gerichte i n einer erheblichen „Entfernung" von den sozialen Vorgängen; sie sind nicht so stark wie Legislative und Exekutive dem Druck und den Einflüssen der sozialen Mächte unterworfen, 24 Dazu vgl. Scheuner, Der Bereich der Regierung, in Festschrift für Rudolf Smend, S. 274, 275: die Rechtsprechung darf nur gegebenes Recht finden, nicht aber politisch gestaltend entscheiden.
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Die Justiz aber sie s i n d f ü r diese doch n i c h t u n e r r e i c h b a r . D i e D i s t a n z
zwischen
J u s t i z u n d Gesellschaft i n A m e r i k a ist n i c h t z u v e r g l e i c h e n m i t Gegensatz
dem
z w i s c h e n Gesellschaft u n d S t a a t i n E u r o p a . H i e r
ist
d i e V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g gekennzeichnet d u r c h das R i n g e n d e r G e sellschaft
mit
der i m M o n a r c h e n v e r k ö r p e r t e n s t a a t l i c h e n
Autorität
u m eine K o n s t i t u t i o n . D e r S u p r e m e C o u r t dagegen e n t w i c k e l t e seit C h i e f Justice J o h n Marshall situationsgerechte politische lichen
Rolle
Kräften
Auswirkungen
die a m e r i k a n i s c h e V e r f a s s u n g d u r c h eine
Interpretation in
bewußter
und der
u n d wirtschaftlicher
und
spielte
Korrespondenz
Mächten25.
Sie
innenpolitischen Interessen, w e i l
diese
bedeutende
den
gesellschaft-
mit
unterliegt
notwendig
Auseinandersetzung
den
politischer
sie e i n p o l i t i s c h e r F a k t o r ist.
D e r D r u c k der o r g a n i s i e r t e n Interessen a u f d i e a m e r i k a n i s c h e J u s t i z unterscheidet sich deshalb n u r i n d e r I n t e n s i t ä t , n i c h t i n d e r A r t dem auf Parlament u n d V e r w a l t u n g ausgeübten Interessendruck E r äußert sich i n erster L i n i e b e i d e r B e r u f i m g d e r R i c h t e r .
von 26
. Die
M i t g l i e d e r des S u p r e m e C o u r t w e r d e n v o m P r ä s i d e n t e n „ b y a n d w i t h t h e A d v i c e a n d Consent of t h e S e n a t e " e r n a n n t . Es s i n d
genügend
25 „We may think, we have the Constitution all before us; but for practical purposes the Constitution is that which the Government in its several departments and the people in the performance of their duties as citizens recognize and respect as such, and nothing else . . . " (Judge T. M . Cooley , zit. bei Binkley-Moos , A Grammar of American Politics, S. 62). Vgl. besonders auch Arthur F. Bentley > The Process of Government, S. 389 ff. „The people" — das ist die ö f f e n t l i c h e M e i n u n g , deren Bedeutung für die Rechtsprechung auch von Michael Polanyi gewürdigt ist: „Beyond the purely legal references, he (the judge) senses the entire contemporary trend of opinions, the social medium as a whole" (Economic and intellectual liberties, Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss., 106, 1950, S. 417). 26 Bentley , a.a.O., S. 388 und besonders David Β. Truman , The Governmental Process, S. 479 ff. „From the beginning of our history the judiciary has been a party to the struggles over policy and power. B e c a u s e i t s o w n p o w e r s a r e g r e a t a n d i t s d i s c r e t i o n b r o a d , i t is clearly a part of the stream of conflicting interests as any other segment of the institution of government" (S. 482 — Sperrung durch mich). Auch McKean hebt den unlösbaren Zusammenhang zwischen der politischen Funktion der Justiz und den Einwirkungen organisierter Interessen hervor und führt dafür Beispiele an. Als Präsident Herbert Hoover 1930 den Richter John H. Parker für einen Sitz i m Supreme Court nominierte, protestierte die American Federation of Labor heftig und forderte ihre 35 000 Lokalorganisationen auf, die Senatoren ihres Staates unter Druck zu setzen, mit dem Erfolg, daß der Senat mit knapper Mehrheit die Bestätigung der Ernennung verweigerte (Party and Pressure Politics, S. 622). Vgl. auch Dimock-Dimock, American Government in Action, Neudruck 1947, S. 314, de Grazia , Public and Republic, S. 216 f., über den Einfluß der Bar Association auf die Richterwahlen und namentlich Edward M . Martin, The Role of the Bar in Electing the Bench in Chicago, Chicago (University of Chicago Press) 1936.
302
Die Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
Aussprüche u n d M a ß n a h m e n v o n Präsidenten überliefert, die deutlich zeigen, waren
27
welche .
Interessen
für
die
Ernennungen
ausschlaggebend
I m übrigen entspricht der politischen Position der Justiz i n
U S A d i e R i c h t e r w a h l d u r c h das V o l k . D i e große M a j o r i t ä t d e r Richter i n d e n E i n z e l s t a a t e n e r l a n g t i h r A m t d u r c h d i e S t i m m e des W ä h l e r s 2 8 37 S t a a t e n lassen a l l e o d e r die m e i s t e n R i c h t e r d u r c h das V o l k w ä h l e n . E i n e Reihe
v o n Pressure G r o u p s ,
Bauernverbände,
namentlich Gewerkschaften
w a r e n v o r dem ersten W e l t k r i e g die
und
Hauptträger
e i n e r B e w e g u n g , d i e sich d i e A b b e r u f u n g v o n R i c h t e r n , j a sogar die Kraftloserklärung
von
rechtskräftigen
Urteilen
(Recall
of
Judges,
R e c a l l of Decisions) d u r c h d i e W ä h l e r z u m Z i e l gesetzt h a t t e . Es w a r dieses die R e a k t i o n a u f e i n e Rechtsprechung, d i e i m Interesse der gew e r b l i c h e n U n t e r n e h m e r d e n G r u n d s a t z des „laissez f a i r e " z u e i n e m D o g m a des Verfassungsrechts e r h o b 2 9 . T h e o d o r e Roosevelt
m a c h t e sich
1912 i n seiner W a h l k a m p a g n e d e n R u f nach d e m „ R e c a l l of J u d g e s " zu
eigen,
und
ein
knappes
Viertel
der
Staaten
ließ
ihn
Gesetz
werden30/31. 27 Statt anderer Zeugnisse vgl., wie Präsident Theodore Roosevelt die Qualifikation des Richters Horace H. Lurton für die Ernennung zum Justice of the Supreme Court beurteilte: „He is right on the negro question; he is right on the power of the Federal Government; he is right on the insular business; he is right about corporations, he is right about labor. On every question that would come before the bench, he has so far shown himself to be in much closer touch with the policies in which you and I believe than even White, because he has been right about corporations, where White has been wrong" (in einem Brief an Senator Lodge von September 1906) angef. bei David B. Truman , a.a.O., S. 491, unter Berufung auf Homer Cummings und Carl McFarland, Federal Justice, New York (Macmillan) 1937, S. 527. Weitere Beispiele bei Truman t a.a.O., S. 491 ff.; ferner Daniel S. McHargue, President Taft's Appointments to the Supreme Court, Journal of Politics, 12, 1950, S. 478 ff. 28 Vgl. Harold Zink, Government and Politics in the United States, 3. Aufl., New York (Macmillan) 1951, S. 831 f.; ebendort, S. 826, über den politischen Einfluß in den niederen Magistraten oder Police Courts. 29 Der Einfluß der Industrie auf die Rechtsprechung zeigte sich vor allem in der „Injunction"-Praxis, den gerichtlichen Streikverboten, die seit 1880 in Übung kamen und von den Gewerkschaften als die schärfste Waffe der Unternehmer gefürchtet waren. Zahlreiche Mißbräuche zu Lasten der A r beiter sind heute unbestritten, und das Schlag wort „Government by I n junction" ist kennzeichnend. Viele Injunctions sind durch den Firmenanwalt aufgesetzt und von dem Richter nur unterschrieben worden. Vgl. Carroll R. Daugherty, Labor Problems in American Industry, Boston (Houghton Mifflin) 1933, S. 396—405, bes. S. 400 f.; de Gracia , The Governmental Process, S. 496; Lieberman, Unions before the Bar, S. 29 (über den PullmanStreik), und Lloyd G. Reynolds , Labor Economics and Labor Relations, Neudruck, New York (Prentice Hall) 1950, S. 256. 30 James Willard Hurst, The Growth of American Law, The Law Makers, Boston (Little, Brown & Co.) 1950, S. 139. W. F. Willoughby, The Govern-
Die Justiz
303
Eine Einrichtung des amerikanischen Prozeßrechts verdient noch Erwähnung, die es den Interessenorganisationen erlaubt, i n Verfahren, i n denen sie nicht Partei sind, trotzdem vor Gericht zu erscheinen und ihre Interessen geltend zu machen. Das Gericht kann einer Einzelperson oder einer Gruppe gestatten, als „ a m i c u s c u r i a e " mündlich oder schriftlich über Rechts- u n d Tatsachenfragen Auskunft zu geben oder auch Ausführungen zu machen und Beweis anzutreten, die allein der Wahrnehmimg eigener Belange dienen 3 2 . So haben die American Civil Liberties Union und die International Juridical Association einer Gewerkschaft Prozeßhilfe geleistet, indem sie sich für das Recht der Gewerkschaften auf die Absperrung eines bestreikten Betriebes durch „Picketing" einsetzten 33 . Eine große Zahl von „amici curiae" meldeten sich auch i n dem Fall zu Wort, der zur Aufhebung des ersten A g r i cultural Adjustment Act führte. Die Verbände der Landwirtschaft verteidigten die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes {u. a. die American Farm Bureau Federation, die National Beet Growers' Association und die Farmers* National Grain Corporation); auf der anderen Seite intervenierten die Organisationen der Industrie (z. B. die National Association of Cotton Manufactures und einzelne Unternehmen) 3 4 . Es handelt ment of Modern States, Rev. ed., New York (Appleton Century) 1936, S. 291 f. Uber die Institution des „Recall" i m allgemeinen vgl. Zink, a.a.O., S. 221 f. 31 Die R i c h t e r w a h l wirft immer und überall ihre besonderen Probleme auf, ob es sich um die Wahl von niederen Zivil- und Strafrichtern oder um die Mitglieder eines höchsten Gerichtshofes handelt, ob die Wahl durch das Volk, das Parlament oder ein besonders zu diesem Zweck konstituiertes Organ vollzogen wird. Die Übertragung politischer Verantwortung auf ein Gericht und das Gewicht politischer Gesichtspunkte für die Wahl der Richter stehen in einem unlöslichen Zusammenhang. Zu der Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 GG, der Mitwirkung von Richterwahlausschüssen nach Art. 95 Abs. 3 und 98 Abs. 4 vgl. u. a. die Entschließungen der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten, Monatsschrift f. Dtschs. Recht, 1940, S. 352, und des Deutschen Richterbundes, a.a.O., S. 252; ferner Werner Weber, Spannungen und Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 31 ff. und die Glosse „Die Zusammensetzung der Richterwahlausschüsse", Arch. d. öff. Rechts 76, 1950, S. 232 ff. Die Nachteile der Wahl der Bundesrichter durch die Bundesversammlung in der S c h w e i z , namentlich die von den verschiedenen Volkskreisen erhobenen Ansprüche, die Entwicklung zu einem „freiwilligen Proporz" und die Bevorzugung der in der Bundesversammlung sitzenden Kandidaten beklagt Werner Kägi in dem Aufsatz „Grundsätzliche Bemerkungen zu den Bundesrichterwahlen", Neue Zürcher Zeitung vom 26. 10. 1952, Fernausgabe Nr. 295. 32 Ladue v. Goodhead, 181 Mise. 807, 44. N. Y. S. 2d 783, 787. 33 Senn v. Tile Layers Protective Union, 301 U.S. 468 (1937); vgl. auch Liebermann, Unions before the Bar, S. 176. 84 U.S. v. Butler, 297 U.S. 1 (1936); Truman , The Governmental Process,
3 0 4 D i e
Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
sich b e i d e m I n s t i t u t des „ A m i c u s C u r i a e " u m eine A r t vention;
w ä h r e n d aber f ü r
die N e b e n i n t e r v e n t i o n
nach
Nebeninterdeutschem
Recht (§§ 66 ff. Z P O ) e i n rechtliches Interesse vorausgesetzt w i r d , ist d i e I n t e r v e n t i o n des „ A m i c u s C u r i a e " n i c h t e i n m a l a n d e n N a c h w e i s eines i r g e n d w i e g e a r t e t e n e i g e n e n Interesses g e b u n d e n ;
das
wenig
f o r m a l i s i e r t e I n s t i t u t e r ö f f n e t d e n Pressure G r o u p s e i n e l e g a l e M ö g lichkeit
zur
Vertretung
ihrer
Interessen auch v o r
G e r i c h t ; daß
i n das E r m e s s e n des R i c h t e r s g e s t e l l t ist, d e n S t a t u s des
es
„Amicus
C u r i a e " z u g e w ä h r e n oder v o r z u e n t h a l t e n , ist eine Prozeßregel, a u f d i e e i n geordnetes V e r f a h r e n n i c h t v e r z i c h t e n k a n n . S i e u n t e r s t r e i c h t d i e unabdingbare
Unabhängigkeit
des Richters
von allen Gruppen
und
p a r t i k u l ä r e n I n t e r e s s e n d e r Gesellschaft. D i e U n a b h ä n g i g k e i t d e r europäischen J u s t i z r u h t h e r k ö m m l i c h
auf
d e r scharfen U n t e r s c h e i d u n g der r i c h t e r l i c h e n G e w a l t u n d d e r i n i h r e Zuständigkeit fallenden Materien von den politischen Gewalten
der
Legislative u n d der E x e k u t i v e u n d deren Wirkungsbereich. Die richterliche G e w a l t i s t d a r u m
e i n a l i u d u n d deshalb „ e n
quelque
façon
n u l l e " , u n s i c h t b a r u n d n i c h t v o r h a n d e n f ü r d i e P o l i t i k 3 5 . Sie k a n n u n d S. 495. Vgl. auch Edward M. Martin, The Role of the Bar in Electing the Bench in Chicago, S. 336 f., über die ungewöhnlich starke Stellung der Bar Association bei dem Illinois Supreme Court in von ihr initiierten Disziplinprozessen gegen ihre Mitglieder. 35 Montesquieu, De l'Esprit des Lois, 1748, X I . Buch, Kap. 6; in der von Ernst Forsthoff besorgten Übersetzung Bd. I, Tübingen 1951, S. 220, ist die Stelle übersetzt: „Von den drei Gewalten . . . ist die richterliche in gewisser Weise gar nicht vorhanden. Es bleiben also nur zwei übrig." Erich Kaufmann hat hervorgehoben, daß für Montesquieu bei seiner U n terscheidung von puissance exécutrice und puissance de juger vor allem ihre verschiedene formelle Stellung zum Gesetz als der volonté générale entscheidend sei (Artikel Verwaltung, Verwaltungsrecht, § 5, in StengelFleischmann, Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. I I I , 2. Aufl., Tübingen 1914, S. 692). Diese Unterscheidung der Justiz von der volonté générale des Volkes ist das wesentliche und unvergängliche Moment, und so haben die europäischen Verfassungsgesetzgeber der Neuzeit Montesquieu verstanden. Demgegenüber tritt die Frage zurück, welche Vorstellungen sich Montesquieu von der gesellschaftlichen Stellung der Richter und der Dauer ihres Amtes gemacht hat (dazu vgl. M a r t i n Draht, Die Gewaltenteilung i m heutigen deutschen Staatsrecht, in „Faktoren der Machtbildung", Berlin 1952, S. 107 ff.). Sie sind zeitbedingt. Da Montesquieu über die englische Verfassung handeln wollte, hat er wohl an die englischen Geschworenen gedacht, die i m Gegensatz zu den französischen Gerichtshöfen keine permanente Körperschaft und kein corps intermédiaire waren (Carl Schmitt, Die Diktatur, Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 2. Aufl., München und Leipzig 1928, S. 109). Desungeachtet wird man jene Stelle so verstehen müssen, daß Montesquieu die richterliche Gewalt unabhängig und getrennt von der Formulierung des Volkswillens sehen wollte, daß sie ihre Existenz nicht
Die Justiz
806
darf als solche n i c h t Adressat einer organisierten Interessenwahrnehmung sein. Die Unabhängigkeit der amerikanischen Justiz ruht auf ihrer Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung. A l l e i n der heftige Widerstand der Öffentlichkeit hinderte 1937 Franklin D. Roosevelt daran, sich mit seiner Court Reorganization B i l l einen gefügigen Supreme Court zu schaffen 36 . Gleichzeitig paßte sich aber der Gerichtshof in einer Reihe von Entscheidungen der öffentlichen Meinimg an, indem er Gesetze des New Deal billigte, die Maßnahmen enthielten, die er vorher f ü r verfassungswidrig erklärt hatte 3 7 . Es ist darum richtig, zu sagen, daß der Gerichtshof wenigstens so viel dem Volke schuldet, wie das Volk i h m verdankt 3 8 . Als politischer Faktor ist die amerikanische Justiz n o t w e n d i g Adressat organisierter Interessenwahrnehmung Hier w i r d der große und bisher zu wenig gewürdigte Unterschied zwischen europäischer und amerikanischer Gewaltenteilung sichtbar I n Europa wurde das Prinzip i n der i h m von Montesquieu gegebenem Prägung auf den Staat des absoluten Monarchen angewandt, der sich i n einer Jahrhunderte währenden, erfolgreich fortschreitenden Bemühung als eine souveräne und neutrale Macht der Gesellschaft und ihren inneren Antagonismen zwischen den Konfessionen, Ständen, Klassen, Stadt und Land usw. entgegengesetzt hatte. Gewaltenteilung war die Beteiligung dieser Gesellschaft an der staatlichen Herrschaft, zunächst durch ihre Repräsentation i m Parlament, schließlich auch i n der Exekutive. Die Justiz ist der Teil des Staates, den die Gesellschaft noch nicht erobert hat, sie ist der noch neutrale K e r n des Staates, von dem die sozialen Mächte i n der Form von Sonder- u n d Sozialgerichten erst einige Partikel absplittern konnten. — Die verfassunggebende Versammlung von Philadelphia hat sich enthusiastisch zu dem Grundsatz der Gewaltenteilung bekannt. Aber auf dem kolonialen Boden der Neuen Welt wurde daraus ein rein architektonisches Prinzip. Das ermöglichte die von Europäern oft bewunderte stilreine Unterscheidung aus der volonté générale des Volkes ableitet, daß sie „keine eigene p o l i t i s c h e Existenz hat, weil sie ganz i m Normativen aufgeht" (Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 185, Anm. 1). 3e „Perhaps never in the history of the country had more interest been stirred up in proposed legislation; certainly recent generations had not witnessed such a display of emotions in connection with a domestic institution" (Zink, a.a.O., S. 450). 37 Nach dem berühmten Ausspruch von Mr. Justice Roberts „Switch in time that saved nine". 58 Alexander H. Pekelis, Law and Social Action, S. 202. 20
Kaiser, Repräsentation
3 0 6 D i e Adressaten der organisierten Interessenahrnehmung
von Legislative, Exekutive und Justiz und ein gut funktionierendes System von Balancen und Kontrollen. Aber der ganze Bau des Staates i n allen seinen Teilen, einschließlich der Justiz, ist eine Kreation der amerikanischen Gesellschaft und ist noch heute nichts als i h r Expositum. I n ihrer erhabenen Höhe und i m ter der Verpflichtung gegenüber den höchsten Prinzipien des Rechts ist die Justiz, namentlich der Supreme Court, allerdings den Emotionen des Tages entrückt, die i m Kongreß und i n der Exekutive m i t heftigen Pendelausschlägen registriert werden. Sie ist darum wie i n Europa vor allem das Refugium dessen, der i n der Zahl oder i m Gebrauch der legislativen und administrativen Machtmittel unterlegen ist. Aber sie ist und bleibt eine Institution der Gesellschaft und der öffentlichen Meinung. Trotz des Konstruktionsprinzips der Gewaltenteilung ist ihre Stellung und Funktion darum den Gedankengängen Rousseaus 39 viel näher als denen Montesquieus. Solange auf dem europäischen Kontinent die Justiz nur der Mund sein soll, der die Worte des Gesetzes ausspricht, und sie darum für die Politik „en quelque façon nulle" ist, sind ihr rechtsgestaltende Aufgaben fremd 4 0 . Es ist Sache der Exekutive oder der Legislative 4 1 , den Streit der organisierten Interessen zu entscheiden und vor allem dort einzugreifen, wo ihre Autonomie versagt 4 2 und die Interessen selbst die Entscheidung des Staates anrufen, w e i l ihre paritätische Vertretung sie auf den toten P u n k t der Entscheidungslosigkeit geführt hat. Wo immer der Staat sich dann, wie i m § 8 des Gesetzes über die M i t bestimmung, i n die Justiz zurückzieht, ist die Folge entweder eine 39
Vgl. Contrat Social, I I . Buch, Kap. 4, Abs. 7. Für die Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 12 ff. und Ulrich Scheuner, Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit, Deutsches Verwaltungsblatt, 67, 1952, S. 295 f. J. J. Boasson, La Justice et les Intérêts, in „Gegenwartsprobleme des I n ternationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie", Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1953, S. 465 ff., ist für unsere Fragestellung unergiebig; „justice" wird dort mit „droit moral" und „droit idéal" gleichgesetzt. 41 Die staatliche Schlichtung und die Verbindlicherklärung von Schiedssprüchen sind die üblichen Mittel der Exekutive. Für eine vereinfachte Gesetzgebung mit abgekürzten Fristen hat sich ein entschiedener Vorkämpfer der sozialen Selbstverwaltung, Friedrich Sitzler, ausgesprochen (Diskussionsbeitrag, Verhandlungen auf der 1. Hauptversammlung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, „Soziale Autonomie und Staat", Berlin Î951, S. 61). 42 Zur Frage des Ausmaßes dieses Versagens vgl. Wilhelm Herschel in dem Referat „Soziale Selbstverwaltung vom Blickfeld des Staatswesens aus" und die nachfolgende Kontroverse mit Erich Bührig vom DGB, Verhandlungen auf der 2. Hauptversammlung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, „Soziale Selbstverwaltung im demokratischen Staat", Berlin 1952, S. 27 ff., 46 f. 40
Die Justiz
307
revolutionierende W a n d l u n g der Justiz, v o r der w i r heute m e h r denn j e z u r ü c k s c h r e c k e n 4 3 , oder aber d e r S t a a t ist gegenüber d e n o r g a n i sierten G r u p p e n selber —
„en quelque façon n u l " .
43 Die politische Justiz, für die Motive der Staatsräson den Ausschlag geben, ist eine nach schmerzlichen Erfahrungen wohldiagnostizierte Krankheit, „die seit 1918 von Krise zu Krise fortschritt, in den Jahren von 1925 bis 1930 in ein erstes, von 1933 bis 1935 in ein zweites akutes Stadium eintrat und dann von 1942 bis 1945 und 1945 bis 1949 uns in ein wahres Chaos führte" (Friedrich Grimm, Politische Justiz, die Krankheit unserer Zeit, Bonn 1953, S. 151; vgl. auch Hans Dombois, Politische Gerichtsbarkeit, mit einem Nachwort von Hermann Ehlers, Gütersloh 1951). Die Gefahr einer Politisierung der Justiz, die heraufbeschworen wird, wenn auch grundsätzlich nichtj ustiziable Konflikte politisch relevanter I n teressengruppen durch den Richter entschieden werden, ist jedoch noch kaum bewußt geworden.
20*
Vierter
Teil
Organisierte Interessenwahrnehmung als Repräsentation Die Verfassungsfrage des 20. Jahrhunderts, die uns aufgegebene Ordnung des Verhältnisses von Staat und organisierten Interessen, ist i m Kern dieselbe wie die Verfassungsfrage des 19. Jahrhunderts: die Beziehung von Staat und Gesellschaft. Die beiden Faktoren dieser Relation haben sich allerdings sehr verwandelt. Der Staat des konstitutionellen Monarchen ist zum demokratischen und bürokratischen Staat geworden. Damit ist gesagt, daß sich die Nation i n ihm unmittelbarer politisch manifestiert als i n dem Symbol der Krone und der Person des Königs; es bedeutet aber auch, daß der Staat nichtsdestoweniger ein aliud ist, daß er als Herrschaftsapparat von dem herkömmlich „Gesellschaft" genannten, sozialen Bereich unterschieden werden muß 1 . Die Gesellschaft, auf der anderen Seite, ist nicht mehr die individualistische Gesellschaft der besitzenden und gebildeten Bürger, sondern die Gesellschaft der industriellen Massen, vor denen sich das 19. Jahrhundert so sehr gefürchtet hat. Aber die einstmals anonymen Massen haben viel von ihrem Schrecken verloren für den, der ihre Gliederung erkennt und sieht, wie sie Gestalt und Gesicht annehmen. Das Gliederungsprinzip ist das je besondere Interesse, das sich i n der Form des organisierten Interesses gegenüber dem Staat und der Gesamtnation zur Geltung bringt. Die konstitutionelle Aufgabe dieses Jahrhunderts kann nicht vom Theoretischen her und vor allem nicht durch die Restauration von Theorien gelöst werden. Sie muß von den konkreten Gegebenheiten ausgehen („interroger les faits" 2 ) und versuchen, i n ihnen die Elemente 1 Diese These wird, um es zu wiederholen, durch die Entwicklung in USA bestätigt, die von dem entgegengesetzten Ausgangspunkt der Einheit von Staat und Gesellschaft zu einer deutlich erkennbaren Differenzierung beider Größen führt. 2 Georges Burdeau hat diese Forderung an den Anfang seiner Überlegungen über das Verhältnis von Staat und Gruppen gestellt. Denn „ce n'est, pas l'examen de la réglementation législative ou administrative qui permet de discerner leur force effective, pas plus qu'il ne définit la place exacte qu'ils occupent par rapport à l'Etat. Pour apprécier cette force, pour situer cette place, il faut interroger les faits". (Manuel de Droit public, Paris 1948, S. 175.)
Organisierte Interessenwahrnehmung als Repräsentation
309
und Strukturen einer politischen Ordnung zu finden; sonst werden sich Verfassungsnorm und soziale Wirklichkeit immer mehr voneinander entfernen 3 . Die vorliegende Arbeit sollte eine Reihe solcher Gegebenheiten aufzeigen und i n ihrer Darstellung die Strukturen einer sich langsam entwickelnden Ordnung von Staat und organisierter Gesellschaft sichtbar werden lassen. Jedem Leser werden noch eine Anzahl anderer Fakten und Organisationsgebilde bekannt sein, die an Stelle der hier m i t geteilten Sachverhalte stehen könnten und geeignet sind, das hier entworfene B i l d zu ergänzen und i n den Details zu korrigieren. Solche Korrekturen sind notwendig, schon w e i l sich diese Ordnung noch i n einem Stadium rapiden Wachstums befindet und i n verschwenderischer Fülle täglich neue Gebilde hervorbringt. I h r Erscheinungsbild w i r d sich darum von heute auf morgen ändern 4 , aber die i h r immanenten Strukturformen haben Bestand. Sie an einem ausgewählten Material aufzuweisen, war das Ziel dieser Arbeit. Die Befundnahme ergibt einen Komplex sozialer und politischer Machtgruppen mit einem Geflecht von Macht- und Einflußbeziehungen unter den Gruppen und zwischen Gruppen und Staat, der die Eigenart hat, außerhalb des geschriebenen Verfassungsrechts zu stehen, obwohl er verfassungsrechtlich höchst relevant ist. Aber nicht nur das geschriebene Recht, sondern auch die Rechtslehre von Staat und Gesellschaft hat noch keine Kategorien entwickelt, die jenen sozialen und 3 Es ist darum nicht überraschend, daß sich in den letzten Jahren sehr deutliche Stimmen gegen überlieferte Ideen ausgesprochen haben, die zu den bisher unantastbaren Grundlagen der Demokratie gehörten. Wilhelm Grewe schrieb: „Wir sollten uns endlich entschließen, das ideologische Gerümpel des 18. Jahrhunderts über Bord zu werfen, und sollten zugeben, daß es einen Volks willen i m Sinne der Rousseauschen „volenté générale" nicht gibt" (Parteienstaat — oder was sonst? in Heft 36 der Zeitschrift „Der Monat", 3, 1951, S. 577). Karl Loewenstein erklärte die Hypothese, daß der Abgeordnete einem imperativen Mandat nicht unterworfen sei, für eine faustdicke Lüge (Uber die parlamentarische Parteidisziplin i m Ausland, in der schon zit. Sammlung „Die politischen Parteien i m Verfassungsrecht", S. 25). Noch viele Äußerungen ähnlicher A r t ließen sich aus dem wissenschaftlichen Schrifttum unserer Zeit anführen. 4 Der Versuch, es in jeder Einzelheit wie auf einer photographischen Platte festzuhalten, ist eine Sisyphusarbeit, der sich die amerikanische Wissenschaft mit bewundernswerter Zähigkeit und mit erstaunlichem Einsatz von Forschern und Forschungsmitteln täglich von neuem unterzieht. Wir Europäer sollten wissen, daß wir darin mit ihnen kaum konkurrieren können. Wollte sich unsere neu knospende Wissenschaft von der Politik auf solche Aufgaben beschränken, würde sie aus dem alten, europäischen Stamm dieser Wissenschaft nur mühsam Blüten hervortreiben können, die neben den Hervorbringungen der amerikanischen Political and Social Sciences bestehen könnten.
310
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
politischen Machtträgern vollständig gerecht würden und ihre Position i n unserer Staats- und Gesellschaftsordnung deutlich erkennen ließen. Z u r Lösung dieser Aufgabe w i l l die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, indem sie den Begriff der Repräsentation organisierter Interessen an einem ausgebreiteten Material entwickelt und zur Diskussion stellt. Dieser Begriff steht i n Widerspruch m i t der überlieferten und fast ausnahmslos herrschenden Auffassung der deutschen Staats- und Verfassungslehre, die daran festhält, daß Interessen nicht repräsentiert werden können. Die Auseinandersetzung m i t diesem Schrifttum kann hier nicht i n extenso geführt werden. A u f den folgenden Seiten sollen vor allem die Positionen aufgezeigt werden, von denen aus diese Auseinandersetzung geführt werden muß. Gleichzeitig soll i n einem Ausblick auf die kategorialen und institutionellen Ansätze hingewiesen werden, auf die sich die verfassungsrechtliche Bewältigung jenes Komplexes sozialer und politischer Mächte gründen kann und gründen muß. I n der gesamten amerikanischen und englischen Literatur w i r d der Begriff der „representation of interests" verwandt, ohne, soweit ich sehe, auch nur i m geringsten als problematisch empfunden zu werden 5 . Diese Tatsache mag Veranlassung geben, die Grundlagen unseres deutschen Repräsentationsbegriffs zu überprüfen, aber sie berechtigt uns weder zur unbesehenen Übernahme dieses Wortgebrauchs, noch lassen sich aus i h r immittelbare Argumente für unsere verfassungsrechtliche Aufgabe herleiten. W i r haben unsere Begriffe und Institutionen m i t dem Blick auf die Gegebenheiten und Bedürfnisse unserer Gegenwart, aus den Wurzeln unseres eigenen Rechtsdenkens sowie unserer eigenen Rechtsentwicklung zu gewinnen, und diese sind gesund und stark. W i r wären schlecht beraten, wollten w i r zur Deutung unserer politischen und gesellschaftlichen Lage unterschiedslos englische und 5 Für das französische Schrifttum läßt sich der Begriff „représentation des intérêts" ebenfalls nachweisen, sowohl bei Maurice Hauriou , der sie für verderblich hält (Précis de Droit constitutionnel, 1923, S. 616 ff.), wie bei Jacques Donnedieu de Vabres, der sie befürwortet (L'Organisation de l'Etat, fase. I I I , Paris, Les Cours de Droit 1947—48, S. 592 ff.); vgl. namentlich auch Jean Cahen-Salvador, La Représentation des intérêts et les services publics, Paris (Sirçy) 1935. Der französische Begriff der Repräsentation hat noch eine größere Nähe zu dem privatrechtlichen Begriff der Stellvertretung (vgl. dazu audi Emile Giraud, La Crise de la Démocratie et les Réformes nécessaires du Pouvoir législatif, Paris [Giard] 1925, S. 59 f.). Er geht darum sehr viel leichter in die Verbindung „représentation des intérêts" ein als die entsprechende Kategorie des deutschen Verfassungsrechts.
Organisierte Interessenwahrnehmung als Repräsentation
311
amerikanische Vorstellungen heranziehen, die i n einem ganz anderen sozialen und politischen Milieu gewachsen sind. Gewiß, es ist auf den vorausgehenden Seiten itìit Absicht immer wieder darauf hingewiesen, daß das europäische und das amerikanische System nicht nur i n dieser und jener Einzelheit, sondern i m ganzen einander näherkommen und ähnlicher werden, und ein Begriff wie „Pressure Groups" drängt sich geradezu auf, u m bestimmte hervorstechende Merkmale unserer I n teressengruppen ins Auge zu fassen und zu erklären. Aber der gegenwärtige Stand der Entwicklung erlaubt es uns noch nicht, einfach i n das andere System hinüberzuspringen und von dorther einen Gesamtplan für die noch vor uns liegende Aufgabe der verfassungsrechtlichen Ordnung von Staat und Gesellschaft zu gewinnen. W i r können aus den amerikanischen Erfahrungen für uns unschätzbaren Gewinn ziehen und
an den amerikanischen
Franzose Alexis de Tocqueville
Institutionen
lernen,
wie schon der
und der Engländer James Bryce aus
ihren Beobachtungen i n den Vereinigten Staaten entscheidende A n regungen gewannen. Es ist auch gewiß kein Zufall, daß sie die bedeutendsten Werke über die Demokratie der Massen und ihre Einrichtungen geschrieben haben, die w i r besitzen, u n d daß beide Bücher über die amerikanische Demokratie handeln: „De la Démocratie en Amérique" (1835/1840) und „The American Commonwealth"
(1888).
Es ist aber ebensowenig ein Zufall, daß diese beiden von Europäern geschriebenen Bücher noch heute, selbst i n Amerika, als die bedeutendsten Werke über dieses Thema gelten. Sie sind für Amerika und f ü r Europa Marksteine auf ihren Wegen zueinander, an deren Ende eine einheitliche okzidentale Staatenstruktur und Staatslehre stehen werden. Eine vorzeitige, illusionäre Vermischimg und Verwechslung heterogener Elemente führt nur zu Konfusion und Enttäuschung. Die Wege müssen auf beiden Seiten ausgeschritten werden, und i n diesem Stadium der Entwicklung steht es noch keineswegs fest, ob das System, an dem w i r von beiden Seiten bauen und i n dem sich die K r a f t des europäischen Geistes und die Vitalität
amerika-
nischer Institutionen begegnen, i n seiner Wölbung mehr atlantische oder mehr kontinentale, mehr maritime
oder mehr terrene
Züge
tragen wird. Die Ordnung der westlichen Hemisphäre w i r d durch die Dialektik
von Land und Meer bestimmt; sie w i r d eine Synthese
der beiden Elemente sein, die sich i n der dritten Dimension, i m L u f t raum, aufheben.
312
Organisierte Inter essen Wahrnehmung als Repräsentation
Vorerst stehen w i r kontinentale Systems6.
noch ganz u n t e r d e m E i n d r u c k des i n unsere
Ordnung
und
Dieses E r e i g n i s 7
Unordnung
eingebrochenen
ist d a s außenpolitische
und
atlantischen militärische
P e n d a n t z u d e m E i n b r u c h d e r i n d u s t r i e l l e n Massen i n d i e u n d U n o r d n u n g der b ü r g e r l i c h e n Gesellschaft
8
Ordnung
u n d i n das i m m e r b e -
w u n d e r n s w e r t e r a t i o n a l e S y s t e m des europäischen Flächenstaates d e r Neuzeit. Sie liegen i n der L i n i e einer Bewegung, die m i t der F r a n zösischen R e v o l u t i o n b e g i n n t , u n d bezeichnen d i e Z ä s u r , d i e uns h e u t e schon v o n d e r N e u z e i t t r e n n t u n d d i e , w i e v i e l e n g r o ß e n E u r o p ä e r n b e w u ß t w a r 9 , n u r m i t der Z e i t e n w e n d e v e r g l i c h e n w e r d e n k a n n , d e r e n entscheidendes m i l i t ä r i s c h e s E r e i g n i s d i e Seeschlacht v o n A c t i u m
im
J a h r e 31 v. C h r . w a r , i n d e r O c t a v i a n ü b e r A n t o n i u s u n d K l e o p a t r a siegte. E i n e Z e i t u n d i h r e p o l i t i s c h e n I n s t i t u t i o n e n gehen n i e ganz u n t e r . Tocqueville
unternahm
in
seinem
zweiten
Hauptwerk
„L'Ancien
ö Es gibt dafür keine schöneren Zeugnisse als die letzten Beiträge des unvergeßlichen Serge Maiwald in den Jahrgängen 1949—1951 seiner Zeitschrift „Universitas"; s. namentlich den Aufsatz „Das atlantische System im permanenten Ausnahmezustand", Universitas, 6, 1951, S. 333 ff. Vgl. auch die oben Teil I I , 6, Anm. 1, angef. Schriften. 7 Es setzte mit dem Ersten Weltkrieg ein, war auch für den Ablauf der ganzen Zwischenkriegszeit mitbestimmend und offenbarte im deutschen Zusammenbruch 1945 und in den nachfolgenden Jahren die ganze Tragweite seiner Konsequenzen. 8 Sie war Unordnung, insofern sie die Revolution legalistisch und konstitutionalistisch erstickt hat, aber nicht imstande war, die 1848 auch in Deutschland aufgebrochenen sozialen, politischen und geistigen Fragen zu lösen. Diese Ereignisse werfen ihre Schatten schon tief in das 19. Jahrhundert voraus. Die berühmte Prognose Tocquevilles über den „plötzlichen" Aufstieg der Vereinigten Staaten und Rußlands auf die ersten Plätze unter den Völkern der Welt ist dafür ein sehr eindeutiges Dokument (De la Démocratie en Amérique, I, S. 430). Jene Schatten haben sich selbst in einem so konservativen Buch wie dem von Rudolf von Gneist, „Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassen Wahlsystem", 1894, niedergeschlagen. Der Befürworter des Dre'iklassenwahlrechts hat schon eine klare Vorstellung von unserem Problem: „So entsteht allmählich auch in Deutschland ein Zustand, in welchem an die Stelle der großen Parteien mit ihren Idealen der bürgerlichen Freiheit und der staatlichen Ordnung g e s e l l s c h a f t l i c h e I n t e r e s s e n g r u p p e n treten". Er erkennt auch den Vorsprung der westlichen, „in der Entwicklung der freien Erwerbsgesellschaft uns vorangegangenen Nationen". Sie sind „reicher als wir in den Erfahrungen, wie diese sozialen Parteikämpfe verlaufen", und Gneist beruft sich auf seine Beobachtungen in diesen Ländern, um die verschiedenen Stadien der Interessenkämpfe zu skizzieren, wie sie sich ihm darstellen (S. 235). Die Einsicht in die außenpolitischen und militärischen Momente dieser Entwicklung waren dem preußischen Staatsrechtslehrer verschlossen.
• Daran hat Carl Schmitt erinnert (Der Nomos der Erde, S. 32 f.).
1. Pluralistische Diagnosen und Konstruktionen
313
R é g i m e et l a R é v o l u t i o n " 1 0 d e n Nachweis, daß d i e Französische volution
kein völliger
Bruch
war,
sondern
Re-
eine schon i m
Ancien
R é g i m e vorgegebene T e n d e n z realisierte. D i e W a n d l u n g d e r
bürger-
l i c h e n Gesellschaft
weniger
i n d i e i n d u s t r i e l l e Gesellschaft
ist noch
e i n v o l l s t ä n d i g e r B r u c h m i t d e n K a t e g o r i e n der R e v o l u t i o n u n d des d u r c h sie h e r a u f g e f ü h r t e n p o l i t i s c h e n Systems, d a erst m i t d e r D e m o k r a t i e der Massen d i e d u r c h d i e R e v o l u t i o n ausgelöste B e w e g u n g d e r allgemeinen Demokratisierung i h r Z i e l erreicht.
1. Pluralistische Diagnosen und Konstruktionen I n e i n e m w e i t e n S i n n ist jede Gesellschaft p l u r a l i s t i s c h u n d i s t es i m m e r gewesen. Sie i s t k e i n m o n o l i t h i s c h e r B l o c k , s o n d e r n eine M e h r h e i t oder V i e l h e i t funktionalen
v o n Schichten u n d Klassen, v o n r e g i o n a l e n
Gruppierungen,
dici" und „konkreten 1
M a u r i c e Hauriou ,
von
Ordnungen".
S a n t i Romano
2
„institutions",
„ordinamenti
und giuri-
I n d i e s e m S i n n e s i n d also auch u n d C a r l Schmitt 3
Pluralisten.
W e n n w i r h e u t e d e m E p i t h e t o n „ p l u r a l i s t i s c h " h ä u f i g begegnen, so ist d a m i t m e i s t a u f d i e o r g a n i s i e r t e P l u r a l i t ä t d e r Gesellschaft B e z u g 10
Erste Aufl. 1856. Es ist nicht möglich, in wenigen Sätzen eine Vorstellung von dem Reichtum des Begriffes der Institution zu geben, der in jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit entwickelt wurde. Es genügt in dem hier gegebenen Zusammenhang, die Institution als „chose sociale objective" zu erkennen, die durch das juristische Mittel der „opération représentative" lebt. Jede Institution wirkt wie ein magnetisches Kraftfeld, rekrutiert eine unbestimmte Zahl von Individuen, die sich in den Dienst ihrer Idee stellen. Sie ist in dem Bewußtsein unbestimmt vieler und in einem sozialen Milieu verstreuter Individuen enthalten und wird dadurch eine „chose sociale objective", ein objektives Element der individualistischen Ordnung. — Dieser Aspekt tritt in einem der letzten Werke, dem Précis de Droit constitutionnel, 1923, hervor (S. 74 ff.). Vgl. ferner u. a. L'Institution et le Droit statutaire, Paris (Recueil Sirey) 1906, und La Théorie de l'Institution et de la Fondation, in La Cité moderne et les Transformations de Droit, Bd. I V der Cahiers de Nouvelle Journée, Paris 1925. 2 L'Ordinamento Giuridico, Neudruck der 2. Aufl., Firenze (Sansoni) 1951. I m zweiten Teil dieses Buches handelt Romano von der „Pluralità degli ordinamenti giuridici e le loro relazioni". Ein solcher „ordinamento" kommt ζ. Β. auch in dem Tarifvertrag zwischen den Sozialpartnern zum Ausdruck; vgl. S. 127 ff. und 198 ff. „La disciplina nasce non dal patto contrattuale, ma dall'organizzazione interna dell'impresa, di cui si viene a far parte previo tale patto: organizzazione che il diritto statuale non prende in considerazione diretta" (S. 200). 3 Uber die drei Arten des Rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934. Die konkrete, innere Ordnung einer Institution, ζ. B. der Familie, widersteht jedem Versuch restloser Normierung und „stellt jeden Gesetzgeber und jeden, der das Gesetz anwendet, vor das Dilemma, entweder die mit der Institution gegebenen, konkreten Rechtsbegriffe zu übernehmen und zu verwenden, oder aber die Institution zu zerstören" (a.a.O., S. 20). 1
314
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
genommen, deren Darstellung auf den vorausgehenden Seiten versucht wurde. Dabei kann es sich u m eine wertneutrale Feststellung handeln, die weder für noch gegen diese Gestalt der Gesellschaft etwas aussagen w i l l . Die Hervorhebung ihrer pluralistischen Struktur deutet jedoch oft darüber hinaus auf einen Konflikt zwischen staatlicher Einheit und ge^ sellschaftlicher Vielheit und geschieht i n der Absicht, i n diesem Konflikt Stellung zu nehmen. Diagnosen dieser A r t können sich zu großen verfassungspolitischen Perspektiven weiten und werden dann zu einem wichtigen Ansatzpunkt f ü r die konstitutionelle Bewältigung jener außerhalb der Verfassung stehenden sozialen und politischen Machtträger. Werner Weber stellt i n seiner Analyse „Spannungen und Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem" 4 die Frage nach den eigentlichen politischen Potenzen, die i n den aus der Überlieferung übernommenen Institutionen des Grundgesetzes durchschlagen und die Herrschaftsorganisation Westdeutschlands bestimmen. Die A n t w o r t lautet: „Ein Pluralismus (d. h. eine ungeordnete Vielzahl) oligarchischer Herrschaftsgruppen" 5 . Ein solches „System letztinstanzlicher, i m übrigen ungeordnet koordinierter Oligarchien" verträgt sich schwerlich m i t der demokratischen Staatsform, die einer klaren Verantwortungs- und Vertrauensbeziehung zwischen Regierenden und Regierten bedarf 6 . Carl Schmitt hat i n dem zweiten T e i l seines Buches „Der Hüter der Verfassung" 7 die konkrete Verfassungslage der Weimarer Republik i n ihrem letzten Stadium als pluralistisches System charakterisiert. Pluralismus bezeichnet danach „eine Mehrheit festorganisierter, durch den Staat, d. h. sowohl durch verschiedene Gebiete des staatlichen Lebens, wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder und Gebietskörperschaften hindurchgehender, s o z i a l e r Machtkomplexe, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein"; Pluralismus meint hiernach die Macht dieser sozialen Größen über die staatliche Willensbildung 8 . Sein Schauplatz ist vor allem das nach dem Verhältniswahlsystem zusammengesetzte Parlament, i n dem sich jene fest organisierten Gebilde instrumental mittels der Parteien politisch zur 4
Stuttgart 1951. a.a.O., S. 49. β a.a.O., S. 62. 7 Tübingen 1931, S. 71 ff. * a.a.O., S. 71. 5
1. Pluralistische Diagnosen und Konstruktionen
315
Geltung bringen. Die Darstellung führt so zu einer Auseinandersetzung mit dem P a r t e i e n p l u r a l i s m u s , der aus der Volksvertretung einen Reflex der pluralistischen Struktur der Gesellschaft macht und den Staat selbst zu einem pluralistischen Gebilde deformiert. Dabei bildet sich ein Pluralismus von Treueverpflichtungen gegenüber den verschiedenen Gruppen, unter denen nun die Loyalität gegenüber dem Staat nur als ein Fall neben vielen anderen Bindungen erscheint 9 . Wenngleich von dem Pluralismus i n dem soeben definierten Sinn unterschieden, sind „die Polykratie in der öffentlichen Wirtschaft" und der regionale Föderalismus weitere Erscheinungsformen der pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung, die Carl Schmitt i n diesem Zusammenhang darstellt 1 0 . Das „pluralistische Auseinanderbrechen" des Weimarer Staates traf nun mit einer höchst intensiven Entwicklung des Staates zum Wirtschaftsstaat zusammen, der i n einer abnorm schwierigen wirtschaftlichen Situation, u m überhaupt weiterbestehen zu können, einheitliche Richtlinien und umfassende Wirtschafts- und Finanzpläne durchzuführen gezwungen war. I n einer solchen Situation erhält der Konflikt zwischen Pluralismus und der Einheit des staatlichen Ganzen eine besondere Intensität. Die Ausführungen gipfeln in der so präzisierten Frage, ob pluralistischer Parlamentarismus und moderner Wirtschaftsstaat miteinander vereinbar sind, und die Frage w i r d verneint 1 1 . Die materialreiche und m i t großer Eindringlichkeit gestellte Diagnose kam kaum noch zu unmittelbarer verfassungspolitischer Auswirkung, weil sie m i t ihrem Gegenstand, dem Weimarer System, durch die Ereignisse des Jahres 1933 gewissermaßen überrollt wurde. Nachdem der politische Pluralismus entfallen oder überwältigt war, waren die konstruktiven Vorschläge dieser Studie, die namentlich die neutrale Gewalt des Reichspräsidenten und die Unabhängigkeit des Berufsbeamtentums betrafen, gegenstandslos geworden. Der kritische Teil der Schrift, die Auseinandersetzung m i t dem Parteienpluralismus, ist denn auch sehr viel nachhaltiger i n dem wissenschaftlichen Bewußtsein der Zeit haften geblieben. Seine Nachwirkungen sind heute noch außerordentlich stark. Er hat den Begriff des Pluralismus für den deutschen Sprach- und Verfassungsbereich so entscheidend geprägt, daß β
a.a.O., S. 90. Dabei ergibt sich allerdings, daß sich der Föderalismus nicht notwendig mit dem Pluralismus verbünden muß, sondern ein starkes Gregengewicht sein kann (S. 95 f., 107 f.). 11 a.a.O., S. 94. 10
316
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
diesem Terminus heute noch i n jedem beliebigen Zusammenhang mehr oder weniger bewußt eine K r i t i k an dem pluralistischen Parteienstaat subintelligiert wird. Dieser Sachverhalt gerade zeigt, wie wenig i n Deutschland eine Theorie und Ideologie beachtet worden ist, die m i t dem Namen des Pluralismus genau die entgegengesetzten Vorstellungen verband: nicht eine Abwertung und K r i t i k der pluralistisch genannten Staats- und Gesellschaftsordnung, sondern ihre Verherrlichung als die Staatsform der Zukunft. Das ist u m so erstaunlicher, als diese Lehre ursprünglich aus deutschen Quellen geschöpft hat: F. W. Maitland übernahm Gierkes Idee von der leiblich-geistigen Natur der „Gesamtperson" sozialer Ganzheiten 12 , ging aber noch weit darüber hinaus, indem er sie auf die Gruppen der englischen Gesellschaft anwandte und von diesen behauptete, sie seien lebende Organismen und wirkliche Personen, mit eigenem Leib und eigenen Gliedern, i n ihrer physischen und rechtlichen Existenz völlig unabhängig vom Staat, ja dem Staat ethisch und metaphysisch prinzipiell überlegen: „the ultimate normal u n i t " 1 3 . Das ist die Basis, von welcher der Pluralismus i n der angelsächsischen Welt seinen Ausgang n i m m t 1 4 . Die G e w e r k s c h a f t e n sind der Prototyp der außer- und widerstaatlichen Gruppe. Aber schon am Anfang dieser großen Bewegung werden neben den Rechten der Gewerkschaften auch die Rechte der K i r c h e n gegen den Staat proklamiert. Seitdem J. Neville Figgis diesen bemerkenswerten Schritt unternahm 1 5 , sind es i n der nachfolgenden Literatur immer wieder Kirchen und Gewerkschaften, an deren Macht die Ohnmacht des Staates exemplifiziert wird. Dieses Thema ist vor allem aufgenommen und fortgeführt worden von Harold J. Laski 16, der wie kein anderer 12
Vgl. oben, Einleitung mit Anm. 1. So vor allem in dem Essay „Corporate Personality" im 3. Bd. seiner Collected Papers, hrsg. ν . H. A. L. Fisher, Cambridge 1911. Vgl. auch die anderen Essays dieses Bandes und die Einleitung Maitlands in die von ihm besorgte Übersetzung von Gierkes Genossenschaftsrecht, „Political Theories of the Middle Age", Cambridge 1900. 14 Über den Pluralismus vgl. statt anderer Ernest Barker, Political Thought in England 1848 to 1914, 4. Neudruck der 2. Aufl., London (Oxford University Press) 1942, S. 175—183 (1. Aufl. 1915); Francis W. Coker, Recent Political Thought, New York (Appleton-Cetury-Crofts) 1934. S. 497—520; W. Y. Elliott, The Pragmatic Revolt in Politics, Syndicalism, Fascism, and the Constitutional State, New York (Macmillan) 1928; Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, in Kantstudien, 35, 1930, S. 41 ff., und in Positionen und Begriffe, 1940, S. 133 ff. 15 Churches in the Modern State, London 1913. 18 Eines seiner bevorzugten Beispiele ist die Niederlage Bismarcks im Kulturkampf: s. Kap. V seines Buches „Problem of Sovereignty", London 19
1. Pluralistische Diagnosen und Konstruktionen
317
für diesen Pluralismus repräsentativ ist. M i t i h m ist etwas von Bakuninscher Berserkerwut i n den englischen Pluralismus eingezogen, die i h m sonst fremd ist. Laski hat i n immer neuen Anläufen den A n griff gegen die Suprematie des Staates geführt. Z u welchen Vereinigungen sich Individuen auch zusammenfinden mögen, diese Gruppen sind für Laski ebenso real wie der Staat und sind dem Staat ebenbürtig; er ist nur eine A r t unter vielen A r t e n von Verbänden. Weder der Staat noch ein einzelner anderer Verband erschöpfen das Assoziationsbedürfnis des Individuums 1 7 , dieses steht vielmehr zwischen und über ihnen als die letzte juristische und moralische Instanz. Der einzelne Mensch w i r d weder durch den Staat noch durch die Kirche noch durch irgend eine andere Gemeinschaft i n Dienst und i n Pflicht genommen, denn er entscheidet i n jedem Augenblick selbst, ob er sich unterwerfen w i l l , und es wäre höchst unsittlich, wenn der Staat durch Zwang oder Strafe Gehorsam erzwingen würde. Der Einzelne ist es, der vor allem auch die unvermeidlichen Konflikte entscheidet, die sich aus den Loyalitätsansprüchen der verschiedenen Verbände ergeben, zu denen er gehört. Er hat praktisch n u r Rechte und keine Pflichten, i m Gegenteil, Rebellion ist eine ständige Bürgerpflicht 1 8 . Es ist nicht schwer, i n Laskis Gedankengängen Widersprüche aufzudecken, und man vermag kaum einzusehen, wie jemand gleichzeitig die Souveränität der Gruppe und die Souveränität des Individuums proklamieren kann 1 9 . Sein Werk ist von einem tiefen gesellschaftlichen Pessimismus bestimmt, ohne eine positive Grundlinie. Es steckt voller Dynamit französisch-syndikalistischen Ursprungs und ist ganz unenglisch. „ I h m fehlte ganz das Vertrauen zu der britischen Tradition 2 0 ." Aber eines w i r d man i h m nicht absprechen können und darin besteht seine unverminderte Aktualität: auch seine extremen Thesen und Postulate liegen noch ganz i n der Linie und Logik des Pluralismus, (Oxford University Press) 1947, und Authority in the Modern State, 1919, S. 45 f. 17 „He is a centre from which there radiate outward lines of contact with the groups to which his experience calls him" (À Grammar of Politics, Neudruck der 4. Aufl., 1950, S. 256; vgl. auch S. 67 und Authority in the Modern State, S. 65). 18 Grammar of Politics, S. 289, ähnlich auch S. 29. 19 Darauf hat Elliott , a.a.O., S. 152, aufmerksam gemacht. 20 George Catlin, „Harold Laski", Frankfurter Hefte, 1950, S. 701, wo auch auf den Bruch hingewiesen wird, der sich Anfang der 30er Jahre ereignete und der wissenschaftlich einen Abstieg, politisch eine Radikalisierung im Sinne marxistisch-kommunistischer Theorien bedeutet. Vgl. auch Carrol Hawkins , „Harold J. Laski: A. Preliminary Analysis", Political Science Quarterly, 65, 1950, S. 376 ff.
318
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
u n d z w a r eines P l u r a l i s m u s , d e r m i t j e n e r angelsächsischen B e w e g u n g w e d e r erst b e g o n n e n h a t noch m i t i h r ins G r a b g e s u n k e n ist, d e r i n der dialektischen E n t w i c k l u n g der Staaten u n d der Staatstheorien ein unvergängliches
Element
ist:
er
ist
die
Antithese
des
politischen
Monismus, der überspannten Zentralisierung u n d U n i f o r m i e r u n g L a s t e n d e r gesellschaftlichen G r u p p e n u n d
zu
Organisationen21.
Der Pluralismus ist d a r u m auch ein unentbehrliches Element jeder verfassungsrechtlichen Ü b e r l e g u n g , die sich u m d i e E r f a s s u n g d e r b i s l a n g e x t r a k o n s t i t u t i o n e l l e n sozialen M ä c h t e b e m ü h t . D a sie e m p i r i s c h vorgehen muß,
ist d e r P l u r a l i s m u s
zunächst
e i n Stück
B e g l e i t e r , dessen V e r d i e n s t es ist, d e m m o n i s t i s c h e n
Weges
ihr
Normativismus
der p o s i t i v i s t i s c h e n S t a a t s t h e o r i e das P l u r i v e r s u m d e r sozialen W i r k l i c h k e i t entgegengesetzt z u h a b e n . Sie w i r d i h m n i c h t f o l g e n , w o er p r a g m a t i s t i s c h aus d e m p l u r a l i s t i s c h e n B e f u n d eine — das soziale u n d p o l i t i s c h e Ganze d e s i n t e g r i e r e n d e — p l u r a l i s t i s c h e Staats- u n d Gesellschaftslehre k o n s t r u i e r t u n d p o s t u l i e r t . A b e r der Pluralismus h a t nicht n u r den Blick f ü r die realen S t r u k turen
der
Gesellschaft
geöffnet,
er
hat
auch schon sehr
früh
die
21 Zu dem englischen Pluralismus gehört auch der manchmal von ihm unterschiedene „ G u i l d S o c i a l i s m " , wie er vor allem von G. D. H. Cole literarisch vertreten wurde (u. a. The Future of Local Government, London 1921; Guild Socialism Restated, London 1920). Die Bewegung war nur von relativ kurzer Lebensdauer, hat aber weite Kreise gezogen, und manche ihrer Ideen sind heute noch lebendig. Maßvoller als Laskis Pluralismus, bestreitet sie nicht die Prärogative des Staates vor allen anderen Gruppen und Organisationen, w i l l aber seine Funktionen erheblich beschneiden. Cole tritt vor allem für „functional representation" ein, für die ihm der mittelalterlicher Staat das Vorbild ist. Die Wirtschaft soll weder von den Eigentümern noch vom Staat verwaltet werden, sondern von autonomen Organisationen der einzelnen Branchen, zu denen sich alle in einem Wirtschaftszweig Beschäftigten („Produzenten") zusammenschließen sollen. I m ganzen ist es unverkennbar, daß auch diese Richtung des englischen Pluralismus aus kontinentaleuropäischen Quellen schöpft, und in der Verschiedenheit ihrer geistigen Ahnherrn liegt, wie mir scheint, der wesentliche Unterschied zum Pluralismus Laskis. Während dieser dem französischen Syndikalismus verpflichtet ist, sprechen sich im „Guild Socialism" alte, saint-simonistische Ideen aus, und gerade darin liegt m. E. seine eigentliche Bedeutung, daß er für die anglo-amerikanische Welt dieses Gedankengut aufbereitet hat, dessen Herkunft ihr kaum bewußt ist (Zum „Guild Socialism" vgl. außer den schon genannten Schriften auch die Kritik von Herman Finer , Theory and Practice of Modern Government, rev. ed., 1949, S. 543 ff.). Luigi Sturzo erinnert daran, daß nach dem ersten Weltkrieg die Katholiken in Frankreich den Pluralismus als Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft akzeptiert haben, „um das Prinzip der Freiheit zu befestigen"; er sieht in dem Pluralismus der modernen Gesellschaft eine zentrifugale Dynamik, die notwendig sei, um der zentripetalen Dynamik das Gegengewicht zu halten (Die philosophischen Hintergründe der christlichen Demokratie, in der Monatsschrift „Die neue Ordnung" [Heidelberg] I I I , 1949, S. 25).
1. Pluralistische Diagnosen und Konstruktionen
319
äußeren Konsequenzen der sozialen und politischen Differenzierung aufgewiesen, die u m so bedrohlicher sind, je mehr dieser Vorgang durch Organisation intensiviert ist; er hat gezeigt, daß, wie schon Tocqueville gewußt hat 2 2 , jeder Pluralismus sich letzten Endes mit dem Anarchismus berührt. I n diesem Desintegrationsprozeß, der sich heute vor unseren Augen vollzieht und selbst vor der Statsgewalt nicht haltmacht, gibt es nach Ausweis der Lasfcischen Theorie nur eine unzerstörbare Einheit: die Einzelperson. Sie ist unzerstörbar, aber sie kann, was Laski nicht gesehen hat, durch die von ihm verabsolutierten Gruppen i n ihrer Freiheit eingeengt, geknechtet und mißhandelt werden, wenn sie ihnen schutzlos preisgegeben ist. Das ist erst eine Möglichkeit, aber es gibt i n allen Lebensbereichen und i n allen Demokratien der westlichen Welt viele Symptome dafür, daß w i r uns i n dieser Richtimg bewegen. Dann w i r d die Frage aktuell: Wer ist der Hüter der individuellen Freiheit gegen die Macht intermediärer Gewalten? Q u i s c u s t o d i e t ? Einer der sensibelsten englischen Denker unserer Zeit, Sir Ernest Barker, der Laskis Tutor i n Oxford war und der i m Jahre 1915 der geistigen Lage i n der vielzitierten Uberschrift eines Aufsatzes „The Discredited State" 2 3 Ausdruck gegeben hatte, hat gleichzeitig jene Gefahr gesehen und nach dem Staat gerufen, u m sie abzuwehren 24 . Der englische Staat des Jahres 1915 und die anderen europäischen Nationalstaaten der gleichen Zeit haben dem Individuum auf Anruf diesen Schutz i n einer höchst wirksamen Weise gewährt, wenn sie auch miteinander i n einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt waren. Inzwischen sind aber die von Maxime Leroy angekündigten, durch den Ansturm der organisierten Gruppen bewirkten „Transformations de la Puissance publique" 2 5 i n einem Maße Wirklichkeit geworden, daß 22 „On ne peut se dissimuler que la liberté illimitée d'association, en matière politique, ne soit de toutes les libertés, la dernière qu'un peuple puisse supporter. Si elle ne le fait pas tomber dans l'anarchie, elle la lui fait pour ainsi dire toucher à chaque instant" (De la Démocratie en Amérique, I, S. 198). 25 Veröffentlicht in der amerikanischen Zeitschrift Political Quarterly. Bd. 2, Febr. 1915. 24 Obwohl Ernest Barker den Theorien Maitlands nahestand, betonte er doch in seiner Schrift English Political Thought from Spencer to To-Day (1. Aufl. 1915, 2. Aufl., unter dem Titel „Political Thought in England from 1848 to 1914", 4. Neudruck, 1942, S. 178 f.): „ . . . our doctrine will not exempt such associations from the control of the State. The State, as a general and embracing scheme of life, must necessarily adjust the relations of associations to . . . their own members, in order to preserve the individual from the possible tyranny of the group". 25 Das ist der Titel der schon mehrfach angef. Schrift aus dem Jahre 1907.
3 2 0 O r g a n i s i e r t e Interessenahrnehmung als Repräsentation
die Effektivität des staatlichen Schutzes gegen die von Werner Weber treffend sog. „oligarchischen" 26 Mächte des intermediären Bereiches fragwürdig geworden ist; denn diese Gewalten haben sich selbst des Staates bemächtigt, haben zumindest Teile des Staatsapparates okkupiert und sich, i n den Parteien oder durch die Parteien, selbst als Staat instituiert, so daß insoweit der Schutzherr und der, gegen den beschützt werden soll, identisch sind 2 7 . I n dieser Lage kommt jedem einzelnen Staatsbürger und der Nation i n ihrer Gesamtheit die Notwendigkeit einer übergeordneten politischen Gemeinschaft unabweisbar zum Bewußtsein. Die Umstände sind einzigartig, was die Größenordnung der intermediären Machtballungen, die Wirksamkeit ihrer Machtmittel und den Umfang der betroffenen Bevölkerung und des regionalen Bereichs anlangt. Aber wie jede geschichtliche Situation ist auch diese Lage nicht ohne Beispiel. Sie hat ihre Vorbilder i n jenem Jahrhundert, i n dem Jean Bodin für die europäischen Nationalstaaten die berühmte Formulierung fand, die zu seiner Zeit auch erst ein Postulat war: „. . . superiorem i n terris non recognoscentes", und in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution, in denen die Staaten Bürger und Bauern aus ständischen und korporativen Fesseln befreiten und ihnen die Weite und den freien Bewegungsraum ihres Staates öffneten. Es gibt n u r e i n e n G a r a n t e n f ü r d i e F r e i h e i t d e s I n d i v i d u u m s gegenüber intermediären Oligarchien: die übergeordnete politische Gemeinschaft, die communitas communi ta tum, d e n S t a a t . 2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen Dem anglo-amerikanischen Pluralismus entspricht auf dem europäischen Kontinent die ständisch-korporative Idee. Beide weisen erhebliche Unterschiede voneinander auf und widersprechen sich i n den Details, aber sie dienen dem gleichen Ziel: Organisation und politisches Engagement der sozialen Gruppen und Energien. Sie erfüllen diese Funktion i n zwei prinzipiell voneinander verschiedenen Staats- und Gesellschaftssystemen, und allein daraus resultieren die zahlreichen sie unterscheidenden Momente. 26
Spannungen und Kräfte i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 55 ff. und passim. 27 Für solche fatalen Situationen hat die Volksweisheit in Lafontainesdtien und anderen Fabeln treffende Bilder aus dem Tierreich gefunden; das deutsche Sprichwort handelt vom Bock, der zum Gärtner gemacht wurde.
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
321
I. Stände und Korporationen haben den Staat als solchen niemals i n Frage gestellt oder seine Suprematie geleugnet. Denn sie befinden sich i n einer Gesellschaft, die den Staat nicht als ihre eigene Kreation und i h r Expositum ansieht, sondern die ihm, als einer faktisch und theoretisch vorgegebenen, i m Ursprung „von Gottes Gnaden" gegebenen Institution untergeordnet ist bzw. i n jüngerer Zeit gegenübersteht 1 . Das ist das typische M i l i e u und die geistige Atmosphäre, i n der Stände und Korporationen existieren und allein existieren können. Die übergeordnete politische Gemeinschaft und Herrschaftsordnung mag ein sehr verschiedenes Gesicht haben. Die Herrschaft mag zeitweise praktisch abwesend sein w i e i m Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, oder sie mag m i t solcher Unmittelbarkeit und Wucht präsent sein wie i m Faschismus und Nationalsozialismus, aber geleugnet oder i n Frage gestellt w i r d sie nie. I m Mittelalter und i m modernen korporativen Staat ergibt sich der Status des Standes und der Korporation allein aus der umgreifenden politischen Ordnung, der Verfassung 2 ; sie sind keine Gebilde aus eigenem Recht. Es gibt Herrschaftsstände, aber deren Legitimität ist bodenbezogen, sie ruht in der grundherrschaftlichen Verfassung. Man kann darum nur cum grano salis von unseren Interessengruppen als Ständen sprechen, da sich ihre Position i n Staat und Gesellschaft, 1 Was hier vereinfachend mit dem Begriff „Staat" ausgedrückt ist, sind in der geschichtlichen Wirklichkeit natürlich so verschiedene Institutionen wie der König, die Krone, der Principe, der absolutistische und der moderne Staat. Die Unterscheidung von S t a a t und bürgerlicher G e s e l l s c h a f t entwickelt sich erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert (vgl. Otto Brunner, Land und Herrschaft, 3.Aufl., Brünn-München-Wien 1943, S. 127 ff, 139). Diese Gesellschaft ist „ j ü n g e r a l s d e r S t a a t". Das ist der große Unterschied zwischen der atlantischen, anglo-amerikanischen und der kontinental-europäischen Gesellschaft. Diese ist „jünger als der Staat und von diesem aus sich entlassen. Ihre Entstehung ist daran gebunden, daß die alte ständische Gliederung, auf der der Staat des Mittelalters ruht, für einen bestimmten Bezirk des öffentlichen Lebens überwunden und durch ein Aggregat von Individuen ersetzt wird. Diesen Bezirk eben nennen w i r die Gesellschaft, und die Ü b e r w i n d u n g d e r a l t e n s t ä n d i s c h e n G l i e d e r u n g i s t d a s W e r k d e s m o d e r n e n S t a a t e s " (Paul Joachimsen, Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens, Die Dioskuren, Jb. f. Geisteswissenschaften, 1, 1922, S. 109, 119 ff. Vgl. auch O. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949, S. 111; Sperrung durch mich). 2 Vgl. Brunner, Land und Herrschaft, S. 451 ff. und oben Kap. I , 2. Der tiefe Unterschied zwischen mittelalterlichen und modernen Ständen soll im übrigen nicht verwischt werden. Die Unterscheidung wird nur dort relativiert, wo der Begriff des Standes, wie in der Schule von Othmar Spann, als Norm auftritt, „von der aus gesehen alle geschichtlich wirklichen Ständeordnungen irgendwie fehlerhaft erscheinen müssen" (Brunner, a.a.O., S. 455,
Anm. 1).
21
Kaiser, Repräeentation
322
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
i h r „ S t a n d " , n i c h t aus e i n e m u n i v e r s a l e n O r d o , s o n d e r n aus R i c h t u n g und Stoßkraft
i h r e s Interesses b e s t i m m t . M i t
dieser
Einschränkimg
l i e f e r t d e r B e g r i f f des Standes j e d o c h e i n e b r a u c h b a r e K a t e g o r i e , die der
staatsrechtlichen
Apperzeption
unserer sozialen u n d
politischen
W i r k l i c h k e i t d i e n l i c h ist. Es ist v o r a l l e m e i n F a k t u m , das d i e P a r a l l e l e z u d e n m i t t e l a l t e r l i c h e n Z u s t ä n d e n k o n s t i t u i e r t : d e r A r b e i t s k a m p f , g e n a u e r gesagt: die Rechtmäßigkeit
von Streik u n d Aussperrung.
Es ist e i n
erregendes
Schauspiel, z u v e r f o l g e n , w i e d i e r a t i o n a l e u n d p e r f e k t i o n i e r t e Rechtso r d n i m g des n a t i o n a l e n Flächenstaates a u f b r i c h t vollendeten
Systems
von
Regeln
und
und inmitten
Sicherungen
plötzlich
eines einen
R a u m f r e i g i b t , i n d e m sie d i e F e h d e d e r o r g a n i s i e r t e n I n t e r e s s e n z u läßt. M i t t e n i m Staat entsteht e i n t h e a t r u m b e l l i en m i n i a t u r e ,
das
eine f r a p p i e r e n d e Ä h n l i c h k e i t m i t d e m d u r c h das europäische V ö l k e r recht
umschriebenen
Dietrich
Schindler
theatrum
hat
belli
eine R e i h e
der Nationalstaaten der
daraus
aufweist 3.
resultierenden
Ent-
s p r e c h u n g e n v o n V ö l k e r r e c h t u n d A r b e i t s r e c h t n a m h a f t gemacht. E r g i b t d i e s e n E r s c h e i n u n g e n schon i m T i t e l seines i m m e r n o c h s e h r a k tuellen Schindler
Aufsatzes
eine
definitive
Deutung:
„Werdende
Rechte"4.
s i e h t i n d e m Z u r ü c k w e i c h e n des Rechts v o r d e n S e l b s t h i l f e -
3 Auch dieser Vorgang hat in das 19. Jahrhundert seine Schatten vorausgeworfen (vgl. oben I V , Anm. 8), bis in den einflußreichen Kreis um die Brüder Ernst Ludwig und Leopold von Gerlach, welcher der Träger der pietistisch-lutherischen Erweckung in Preußen war und zu dem auch Friedrich Julius Stahl gehörte. Diesem Kreis ging es um die Erhaltung der „ewigen", feudalen Ständeordnung, deren Schutz gegen die Revolution Hauptaufgabe des Staates war. Ludwig von Gerlach konnte darum den Bürgerkrieg als eine Äußerung gesunder, innerstaatlicher Kräfte preisen: „Nie kann der Soldat wie der Landwehrmann, nie der aufgebotene Bürger und Bauer mit so fröhlichem Gewissen auf den Feind schießen oder einhauen, als wenn er im Bürgerkrieg die gerechte Sache verficht" (nach G. Lüttke, Die politischen Anschauungen des Generals und des Präsidenten von Gerlach, Diss., Leipzig 1907, angef. von Georg Wünsch, Evangelische Ethik des Politischen, Tübingen 1936, S. 293, A n m 1; zum Ganzen vgl. Wünsch, S. 287 ff.). Das Aufbrechen der staatlichen Mitte i m Arbeitskampf, der ein auf die w i r t schaftliche Ebene transponierter Bürgerkrieg ist, erscheint hiernach fast wie das Aufplatzen einer überreifen Frucht. Die Fronten und die Gefahrenpunkte haben sich seitdem verschoben, aber an der Gesamtlage ändert das wenig. I n diesen Zusammenhang gehört das Urteil eines wohlinformierten Amerikaners, Clark Kerr: „ . . . German Trade Union movement is less concerned with collective bargaining on behalf of the daily needs of its members than with class representation at high political levels. This mild form of class war with the employer group over broad questions of societal organization focuses attention on and concentrates power in the top councils of the union movement" (Collective Bargaining in Postwar Germany, Industrial and Labor Relations Review, 5, 1952, S. 330). 4 Festschrift für Fritz Fleiner, Tübingen 1927, S. 400 ff.
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
323
aktionen der Arbeitsmarktparteien keinen Bruch, sondern nur „ein Anwachsen der kollidierenden, einer Regelung bedürftigen Interessen", das vor allem durch die schnelle Industrialisierung verursacht ist und dem die Rechtsordnung nicht i m gleichen Tempo zu folgen vermag; aber das Recht ist seiner Meinung nach schon i m Begriff, sich auszudehnen: ein neues Arbeitsrecht und ein neues Völkerrecht seien „ i m Werden" 5 . Man hat den Eindruck, daß diese hoffnungsvolle Prognose des Schweizer Verfassers durch den offiziellen Völkerbundsoptimismus jener Jahre mitbestimmt war, und man kann nicht u m h i n zu fragen, ob vorerst der Arbeitskampf nicht eine ähnliche Entwicklung genommen hat w i e der Krieg: er w i r d m i t größerer Intensität geführt und zieht weitere Kreise der Wirtschaft u n d des öffentlichen Lebens und sogar den privaten Haushalt i n Mitleidenschaft. F ü r unsere These spricht vor allem auch die Tatsache, daßi die Gesetzgeber ausdrücklich die Rechtmäßigkeit des Streiks anerkannt haben oder bereit waren, es zu tun 6 , aber völlig außerstande sind, eine gesetzliche Regelung und Beschränkimg des Streikrechts vorzunehmen. Das ist nun eine weitere, erstaunliche Entsprechung von Streik und Krieg, Versagen des innerstaatlichen Rechts und des Völkerrechts. Sie muß gesehen werden i n der Perspektive einer größeren Entsprechung von weltweitem Ausmaß, an der sie partizipiert: des Einbruchs der industriellen Massen i n unsere soziale, innerstaatliche Ordnung und des m i t diesem Vorgang korrespondierenden Einbruchs des atlantischen Systems i n die Ordnung unseres europäischen Kontinents 7 . Der Pluralisierungsvorgang offenbart i m Kampf der Sozialpartner seine staatszerstörende Kraft, aber er ist nicht auf das Arbeitsverhältnis beschränkt. Wie i m Mittelalter alle politischen und gesellschaftlichen Ganzheiten ständisch gegliedert waren und es nicht nur Reichs- und Landstände gab, sondern auch i n Städten, Grundherr5
S. 403, 422 f. Der Grundgesetzgeber hatte zunächst die Absicht, das Streikrecht „im Rahmen der Gesetze" anzuerkennen. Eine Regelung unterblieb schließlich, da man sich nicht einigen konnte, ob man auch den wilden Streik gegen den Willen der Gewerkschaftsführung zulassen solle (vgl. Wernicke im Bonner Kommentar, Ziff. I zu Art. 9). Auch die französische Verfassung von 1946 proklamiert i n der Präambel die Rechtmäßigkeit des Streiks „dans le cadre des lois qui le réglementent"; solche Gesetze sind noch nicht erlassen worden, obwohl die öffentliche Meinung, ζ. B. während des Streiks der Pariser Verkehrsbetriebe Ostern 1951, nachdrücklich ein Streikgesetz gefordert hat. 7 Davon ist in der Einleitung zu Teil I V schon gesprochen worden. 6
2
324
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
Schäften und Dörfern ständische Schichtungen bestanden, so ergreift auch die moderne Feudalisierung alle staatlichen u n d kommunalen Gebilde und alle Sachgebiete. W i r begegnen darum auch i m ausländischen Schrifttum immer wieder dem Vergleich m i t den Ständen des ausgehenden Mittelalters 8 . Wo m i t Bewußtsein diese Parallele gezogen wird, ist aber mit dem Begriff des Standes und der Korporation auch immer die Frage gestellt, wie die ständische Pluralität durch den Staat überhöht und wirksam zu einer umfassenden politischen Einheit gestaltet werden soll 9 . II. Die Diagnose unseres gesellschaftlichen und politischen Zustandes kommt ohne eine Zuhilfenahme ständisch-korporativer Kategorien kaum aus. Das ist eine Angelegenheit des empirischen Befundes und bis zu einem, gewissen Grade auch der Terminologie. Etwas anderes ist es, die so charakterisierte, soziale und politische Realität nun auch i m Sinne der ständisch-korporativen Idee n o r m i e r e n zu wollen und eine ständische V e r f a s s u n g zu fordern. Das ist eine Frage des verfassungspolitischen Ideals und der staatsmännischen Gestaltung. A u f das reiche Gedankengut, das von den Anhängern einer ständisch-korporativen Ordnung entwickelt und tradiert wird, braucht i n diesem Zusammenhang nicht zurückgegriffen zu werden 1 0 . Hier interessieren n u r konkrete Realisationen, ständisch-korporative Verfassungen und die Bedingungen ihrer Entstehung. Es ist bemerkenswert, daß w i r die einzigen lebenden Beispiele i n Staaten finden, die von dem Einbruch des atlantischen Systems nicht betroffen wurden und sich seinem Eindringen teilweise widersetzen: Portugal und Spanien, von denen hier vor allem gesprochen werden soll, und Jugoslawien, das noch kaum erkennbare Ansätze z u korporativen Gebilden eigener A r t entwickelt. Das Regime des Ministerpräsidenten Antonio de Oliveira Salazar i n P o r t u g a l und seine Verfassung von 1933 sind sowohl eine Reaktion 8 Vgl. statt anderer Charles A. Beard , The Economic Basis of Politics, Neudruck der 3. Aufl., New York (Knopf) 1947, S. 45; J. A. C. Grant , The Guild returns to America, Journal of Politics, I V , 1942, S. 303 ff.; de Grazia , Public and Republic, S. 235; Key, Politics, Parties and Pressure Groups, S. 144 ff.; G. M . Young , Government, in „The Character of England", hrsg. von Ernest Barker , Oxford (Clarendon Press) 1947, S. 106 und passim; vgl. auch das oben, Kap. I, 2 angef. französische Schrifttum. 9 Vgl. namentlich Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, in dem Kapitel „Der Einbruch politischer Stände in die Demokratie", S. 39 ff., bes. S. 57 ff. 10 S. oben, Teil I, 2.
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
326
gegen den liberaldemokratischen Individualismus wie gegen den revolutionären Marxismus. Sie begann m i t der D i k t a t u r eines Militärdirektoriums; von 1926 bis 1933 11 und fand ihren Ausdruck i n der am 19. März 1933 durch Volksentscheid angenommenen Verfassimg 12 . Die besonderen Merkmale dieser Verfassung, die von der Gelehrsamkeit ihres Schöpfers, Professor Salazar, Zeugnis ablegt, sind ein klares Übergewicht der Exekutive, das Korporativsystem und ein ausgiebiger Katalog bürgerlicher Grundrechte. Portugal „ist eine unitarische und korporative Republik; sie beruht auf der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, auf dem freien Zugang aller Klassen zu den Wohltaten der Zivilisation u n d auf der Beteiligung aller strukturellen Elemente der Nation an der Verwaltung (vida administrativa) u n d an dem Z u standekommen der Gesetze" (Art. 5). Die Wirtschaft ist das eigentliche und ursprüngliche Feld der korporativen Organisation, und die korporative Theorie ist i n erster L i n i e eine Lehre von der Ordnung der Wirtschaft und ihrer politischen Relevanz. I n Portugal ist das Prinzip der korporativen Gliederung jedoch auf alle Lebensgebiete der Nation ausgedehnt 13 . Vor allem ist die Familie als Fundament der korporativen Organisation anerkannt u n d i n sie eingebaut 1 4 . Daneben kommt den kommunalen und regionalen Einheiten eine hervorragende Bedeutung zu. Es ist darum richtig, wenn es heißt, daß der gesamte 11 Die vorausgehende demokratische Epoche (seit 1911) hatte schwere Erschütterungen des Staatslebens mit sich gebracht und ist durch häufigen Regierungswechsel und politische Attentate gekennzeichnet. 12 Constituiçâo Politica da Repùblica Portuguesa, ed. rev., hrsg. von Alfonso Rodrigues Queiro, Coimbra 1951; auszugsweise übersetzt und abgedruckt bei Bodo Dennewitz, Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. I I I , Hamburg 1948, S. 190—200. Die einschlägigen Gesetze finden sich bei José Joaquim Teixeira Ribeiro, Legislacäo Corporativa, Coimbra 1946. Vgl. ferner Marcello Caetano, Ο Sistema Corporativo, Lisboa 1938; J. Pires Cardoso , Corporativismo, Vol I, Introduçâo, Ediçâo do Autor, 1950; Emilia Α. Ferreira , Corporativismo Portugês, Doutrina e Aplicaçâo, Coimbra 1951; José Joaquim Teixeira Ribeiro , Licöes de Direito Corporativo, I, Introduçâo, Coimbra 1938; ders., Ο Destino do Corporativismo, Coimbra 1945. Ich danke auch an dieser Stelle den Herren Dr. Antonio José Brandao und Professor Teixeira Ribeiro für eine hilfreiche und liebenswürdige Einführung in das Recht und die Arbeit der Korporationen. 13 Das gilt nicht für den kirchlichen Bereich, da nach der Verfassung der Katholizismus zwar Staatsreligion, Kirche und Staat aber getrennt sind (Art. 45). 14 S. dazu die ausführlichen Vorschriften über den Schutz und die Ordnung der Familie, die auch die kleinste Wirtschaftseinheit darstellt, mit dem Grundsatz der Familiensteuer und des Familienlohnes (Art. 12—15); vgl. auch die grundsätzlichen Ausführungen von Teixeira Ribeiro in seinen „LiçÔes", S. 87 f.
326
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
„soziale Pluralismus" i n der korporativen Struktur des Landes organisiert worden sei 1 5 . Die Familien haben das ausschließliche Recht, die Kirchspielvertretungen zu wählen; es w i r d von dem Familienoberhaupt ausgeübt (Art. 19). Die Kirchspielvertretungen und die lokalen berufsständischen Korporationen wählen die übergeordnete Munizipalkammer, diese und die Korporationen auf entsprechender Ebene wählen die Provinzialvertretung. Die drei Stufen der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung haben administrative und· finanzielle Autonomie, unterliegen aber einer Staatsaufsicht m i t weitreichenden Eingriffsrechten (Art. 127 ff.). I n den Korporationen sollen alle Berufe- und Wirtschaftszweige „organisch repräsentiert" sein (Art. 20) 16 . Es gibt Korporationen, die wissenschaftlichen, künstlerischen, sportlichen, Wohlfahrts- und mildtätigen Zwecken gewidmet, und solche, die auf technische Vervollkommnung und die Solidarität der Interessen gerichtet sind (Art. 17). Diese letzte Bezeichnung ist eine (etwas euphemistische) Umschreibimg der wichtigsten Gruppe, der wirtschaftlichen Korporationen 1 7 , i n denen sich Kapital und Arbeit vereinen. Deren Grundelemente sind die „Gremios" (Unternehmerverbände) und die „Sindicatos" (Arbeitnehmerverbände), grundsätzlich m i t Mitgliedschaftszwang 18 . Die lokalen „Gremios" und „Sindicatos" bilden auf regionaler und nationaler Ebene Föderationen, die sich innerhalb eines größeren Wirtschaftszweiges zu Unionen zusammenschließen. So gibt es also i n jedem 15 Luis Sânchez Agesta, El derecho Constitucional en Inglaterra, Estados Unidos, Francia, URSS y Portugal, Granada 1948, S. 260. 16 Die Rechtsgrundlagen sind weit überwiegend durch zahlreiche, mit Gesetzeskraft erlassene Regierungsdekrete und nur i n Einzelfällen durch Gesetz geschaffen worden. Die wichtigste Ergänzung der Verfassungsbestimmungen ist der ebenfalls durch Regierungsdekret erlassene „Estatuto do Trabalho Nacional" vom 23. September 1933, auf dem die übrigen Regelungen aufbauen; s. die wohlgeordnete, von Teixeira Ribeiro besorgte Sammlung „Legislaçâo Corporativa". 17 Ursprünglich trug dieser Abschnitt der Verfassung die Überschrift „Das corporaçôes morais e económicas". Sie wurde später in „Das organismos corporativos" abgewandelt. 18 Es bestehen außerdem in den ländlichen Kirchspielen „Casas do Povo" und in den Küstenstrichen „Casas dos Pescadores", denen die Familienväter und sonstige männliche Anwohner bzw. die Fischer angehören. Den „Casas" sind Aufgaben der sozialen Fürsorge, der Berufserziehung, der öffentlichen Hygiene und dgl. übertragen; sie sind namentlich auch berufen, die hergebrachten Sitten und Gebräuche zu wahren, s. z. B. Gesetz Nr. 1:953 vom 11. März 1937, Base I I , über die Aufgaben der „Casas dos Pescadores" (Teixeira Ribeiro, Legislaçâo, S. 194 f.). I m übrigen ist die Sozialversicherung Sache der Korporationen (Art. 48 f. des Estatuto do Trabalho Nacional, a.a.O., S. 14 f.).
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen W i r t s c h a f t s z w e i g eine U n t e r n e h m e r - u n d eine A r b e i t e r u n i o n , d i e z u s a m m e n e i n e K o r p o r a t i o n b i l d e n ; diese s i n d „ e i n e e i n h e i t l i c h e O r g a n i sation der Interessen"
Produktionskräfte 19
und
repräsentieren
integrierend
ihre
.
D i e K r ö n u n g des k o r p o r a t i v e n A u f b a u s i s t d i e K o r p o r a t i v e K a m m e r ( „ C ä m a r a C o r p o r a t i v a " ) . S i e setzt s i c h z u s a m m e n aus e i n e r gesetzlich n i c h t festgelegten Z a h l v o n V e r t r e t e r n d e r K o r p o r a t i o n e n , d e r k o m m u n a l e n u n d r e g i o n a l e n S e l b s t v e r w a l t u n g u n d des ö f f e n t l i c h e n I n t e r esses. A u f rativo",
die Berufung
ein
der Mitglieder
interministerielles
Komitee,
hat der
„Conselho
Corpo-
sehr großen Einfluß 20. D i e
K a m m e r h a t das Hecht, B e r i c h t e u n d G u t a c h t e n z u e r s t a t t e n ü b e r a l l e Gesetzentwürfe versammlung
und (das i n
internationalen direkter
Wahl
Verträge, gewählte
bevor
die
Parlament)
Nationaldarüber
b e r ä t . D i e ü b l i c h e F r i s t v o n 30 T a g e n k a n n d u r c h d i e R e g i e r u n g o d e r die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v e r k ü r z t werden. D i e A b l e h n i m g einer V o r 19
Art. 41 Abs. 4 des Estatuto do Traballio Nacional (a.a.O., S. 12). Zur ersten Gruppe zählen die Präsidenten aller Korporationen; außerdem so viele und geeignete weitere Vertreter der Korporationen, „daß eine angemessene Repräsentation der in ihnen integrierten Interessen gewährleistet ist" (Art. 2 des Decreto-lei No. 29 : 111 vom 12. November 1938, a.a.O., S. 273). Das ist ein allgemeiner Grundsatz, wie er allen Gremien dieser Art zugrunde liegt und auch die Zusammensetzung des deutschen Vorläufigen Reichswirtschaftsrats bestimmt hat. Das schwierigste Problem aller dieser Einrichtungen, die angemessene Zahl der Vertreter jedes Interesses zu finden, ist hier dadurch gelöst, daß man es der Exekutive überläßt, sie von Fall zu Fall zu bestimmen. Sie hat größte Ermessensfreiheit, da weder die Zahl der auf die einzelnen Korporationen entfallenden Vertreter noch der Gesamtumfang der Kammer durch die Verfassung oder durch ein Gesetz fixiert sind (Art. 2 und 7). Überdies ist die Bedeutung dieses Problems dadurch relativiert, daß die Kammer nur beratenden Charakter hat. Der interministerielle „Conselho Corporativo" bestimmt die Zahl der weiteren Mitglieder, durch die jede Korporation in der Kammer vertreten ist. Er bestimmt auch die Persönlichkeiten, die er den Korporationsräten entnimmt. Dabei hat er immer die Bedeutung der „Aktivität", die sich in der Korporation darstellt, und die Vertretung der Arbeitgeber- und A r beitnehmerinteressen i m Auge zu behalten (Art. 2 § 2). Der „Conselho Corporativo" ernennt auch die Angehörigen der Verwaltung, die in der Korporativen Kammer das öffentliche Interesse vertreten. Sie sollen in der Ausarbeitung von Gesetzen besonders befähigt sein und sich in den Fragen der öffentlichen Verwaltung gut auskennen. Ihre Zahl darf die der Korporationenvertreter nicht übersteigen (Art. 3). Unter den Vertretern der Selbstverwaltung befinden sich immer die Präsidenten der Munizipalkammern der beiden Großstädte Lissabon und Porto, Die übrigen Mitglieder dieser Gruppe werden durch besondere, von den Selbstverwaltungskörperschaften gebildete Wahlorgane gewählt (Art. 11). Die Bestimmungen über die Vertretung der „Casas do Povo" und „Casas dos Pescadores" sowie der vier Syndikate der Juristen, Mediziner, Ingenieure und der Landwirtschafts- und Forstwissenschaftler und Veterinäre können hier außer Betracht bleiben. 20
328
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
läge durch die Korporative Kammer bindet weder Parlament noch Regierung. Wenn sie die Ablehnung m i t einem eigenen Vorschlag verbindet, so hat das keine andere Wirkimg, als daß dieser von der Regierung und jedem Abgeordneten aufgegriffen werden kann. Sie hat nicht das Recht der Gesetzesinitiative. Sie kann aber, gemäß einer Verfassungsänderung vom 11. Juni 1951, der Regierung Maßnahmen vorschlagen, die sie für angebracht oder notwendig hält (Art. 105 § 2). Die Regierung kann der Kammer Verordnungen, bevor sie publiziert werden, zur Begutachtung vorlegen 2 1 . Dem kommt angesichts des ausgedehnten Verordnungsrechts der Regierung (Art. 109) besondere Bedeutung zu, und es ist eine Auszeichnung der Kammer gegenüber dem Parlament 2 2 . Die Kammer hält Plenarsitzungen oder — das ist die Regel — Ausschußsitzungen; diese sind nicht öffentlich, Plenarsitzungen können dagegen öffentlich sein 2 3 . — Die „Cämara Corporativa" repräsentiert die kulturellen und wirtschaftlichen Interessen des Landes gegenüber Regierung und Parlament. Aber der überragende Regierungseinfluß bei der Berufung ihrer Mitglieder und die hohe Zahl von Regierungsvertretern i n ihren Reihen verbieten es, sie eine Zweite Kammer zu nennen. Sie ist ein hervorragendes Beratungsorgan der Regierung u n d des Parlaments, nicht mehr 2 4 . Nach A r t . 16 der Verfassimg ist es Sache des Staates, alle Korporationen zu „autorisieren" („autorizar"). Dieser Terminus trat 1935 an 11
Dazu bemerkt Salazar in einer in französischer Übersetzung vorliegenden Rede vom 12. Dezember 1950: „II convient que l'on puisse élargir l'intervention effective des Procureurs (Mitglieder der Korporativen Kammer) dans l'étude et la préparation des avis, ce qui donnera une base représentative plus large à la discussion des intérêts en cause et mettra un plus grand nombre de secteurs de la Chambre en contact avec les problèmes du Gouvernement" (Au Seuil de l'Année politique, Gouverner en orientant la conscience nationale, Lissabon [Editions S. Ν. I.] 1951, S. 13). 22 I m allgemeinen sind die Sitzungsperioden des Parlaments und der Korporativen Kammer von gleicher Dauer. Die Regierung kann aber auch unabhängig davon einen oder mehrere Ausschüsse oder das Plenum der K a m mer einberufen. 23 Erst seit der genannten Verfassungsänderung ist von Plenarsitzungen die Rede (Art. 104). Die frühere Formulierung besagte, daß die Kammer in spezialisierten Abteilungen tagt, „doch können sich zwei oder mehr oder sämtliche Abteilungen vereinigen, wenn die in Frage stehende A n gelegenheit es verlangt". Dieser „horror pieni" liegt i m Wesen der Sache und hat auch die Tätigkeit des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates gekennzeichnet. 24 Es würde zu weit führen, hier noch von der inneren Ordnung der Korporationen und ihrem großen Aufgabenbereich zu sprechen. Salazar selbst bezeichnet sie in gewisser Hinsicht als den verlängerten A r m des Staates, „un prolongement, ou un développement des services de l'Etat qui s'est ainsi déchargé d'une part de compétences onéreuses" (a.a.O., S. 18 f.).
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
die Stelle des ursprünglichen Wortlauts „anerkennen" („reconhecer") 25 . M i t Pereira dos Santos 26 darf man hierin eine Verstärkung des staatlichen Charakters der Korporationen erblicken. Der Vorgang ist für die gesamte Entwicklung des korporativen Staates i n Portugal kennzeichnend. Nach der unveränderten Absicht seines genialen Schöpfers hat der Oktroi des Korporationensystems durch den Staat vor allem den Zweck, die genuinen Kräfte eines Volkes, das gegenüber dem korrumpierten liberaldemokratischen System i n politische Apathie verfallen war, zu wecken, zu koordinieren und nutzbringend einzusetzen. Die Initiative des Staates hatte den Sinn einer Initialzündung; sie war und ist darauf gerichtet, sich selbst überflüssig zu machen. Daß sich diese Erwartungen noch nicht i n ausreichendem Maße erfüllten, es i m Gegenteil notwendig war, die staatliche A k t i v i t ä t auf verschiedenen Gebieten zu intensivieren, ist gewiß durch anormale Zeitumstände und vielleicht auch durch den Charakter eines großenteils noch i n bukolischen Verhältnissen lebenden Volkes mitbestimmt. Man muß sich andererseits fragen, ob die mit größerer Spontaneität und eigener K r a f t hervorbrechenden sozialen Kräfte i n einem so kunstvollen und verästelten System ineinandergreifender Institutionen auf die Dauer kanalisiert werden könnten oder ob sie nicht vielmehr versuchen würden, sich außerhalb der offiziellen Kanäle m i t größerer Unmittelbarkeit a n den jeweiligen Schwerpunkten ihres Interesses zur Geltung zu bringen. Dieses Bedenken mindert nicht unsere Bewunderimg für ein Verfassungswerk von ungewöhnlich einheitlicher S t r u k t u r und hoher formaler Schönheit, das dem Lande den Frieden gegeben und es zu kulturellem und wirtschaftlichem Aufstieg geführt hat. Die Entwicklung des s p a n i s c h e n Verfassungsrechts ist von einem großen spanischen Juristen unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation dargestellt und i n den weiten Horizont europäischen, vor allem des deutschen Rechtsdenkens gerückt worden 2 7 . Es gibt hiernach nur e i n e n Repräsentanten der spanischen Nation aus ursprünglichem Recht: den Caudillo. Sein A m t und seine Autorität haben i m Bürgerkrieg ihren Ursprung, i n dem sich alle Macht i n seiner Hand 25 Die Verfassung hat zahlreiche solcher Änderungen erfahren, die sie jeweils den neuen Gegebenheiten des sich entwickelnden korporativen Staates anpassen, die teilweise aber auch kaum mehr als redaktionelle Verbesserungen sind und den Korrekturen eines Autors gleichen, der an seiner wissenschaftlichen Arbeit feilt. 29 Ohne Quelle angef. von Sanchez Agesta, a.a.O., S. 259. 27 Francisco Javier Conde, Representación politica y Régimen Espanol, Madrid 1945.
3 3 0 O r g a n i s i e r t e Interessenahrnehmung als Repräsentation
konzentriert und m i t dessen Ende die erste Etappe des neuen spanischen Verfassungsrechts abschließt. Die zweite Etappe (1939 bis 1942) bringt das A m t des Caudillo, die Caudillaje, zu voller Entfaltung. Es gibt außer i h m repräsentative Organe nur „omo por reflejo", aus ihnen vom Caudillo übertragenem Recht und „insofern sie dazu beitragen, die politische Einheit zu aktualisieren" 2 8 . M i t der Schaffung eines solchen Organs beginnt die dritte Etappe: die -Erneuerung der spanischen Cortes durch den Staatschef steht an ihrem Anfang und ist, wie es i n der Präambel des Gesetzes über die Cortes 2 9 ausdrücklich heißt, ein A k t der Selbstbeschränkung der in der Jefatura del Estado ruhenden Macht. „Die Cortes sind das höchste Organ, i n dem das spanische Volk an den Aufgaben der Regierung teilnimmt" (Art. 1). Z u ihren Mitgliedern zählen 3 0 an erster Stelle die Inhaber der höchsten staatlichen und politischen Ämter: die Minister, die Nationalräte der Falange, die Präsidenten des Staatsrats, des höchsten Gerichtshofes und des höchsten Militärgerichts; ferner die Vertreter der „Sindicatos Nacionales" 3 1 , doch darf ihre Zahl ein D r i t t e l der Gesamtzahl der Cortes nicht überschreiten; die Bürgermeister der 50 Provinzhauptstädte und andere Vertreter der kommunalen Selbstverwaltung; die Rektoren der Universitäten und die Vertreter der großen wissenschaftlichen Institute 3 2 ; die gewählten Vertreter der Vereinigungen der freien Berufe und der Handelskammern und schließlich bis zu 50 Personen, die vom Staatschef wegen ihrer Stellung i n der kirchlichen Hierarchie, i n der Wehrmacht, Verwaltung oder der Gesellschaft oder wegen ihrer Verdienste ernannt werden 3 3 . Der Staatschef ernennt auch den Präsidenten 34 , die Vizepräsidenten und die Sekretäre. 28
a.a.O., S. 126. Gesetz vom 17. Juli 1942, in der Sammlung „Leyes Fundamentales de Espana", Madrid o. J. (1947), S. 45 ff. 30 Gemäß Art. 2 in der Fassung des Gesetzes vom 9. März 1946 (a.a.O., S. 55 ff.), das die der „Bewegung" vorbehaltenen Sitze bis auf die der Nationalräte der Falange beschnitt und die Vertretung der freien Berufe erweiterte. 31 Es handelt sich um Korporationen, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinigt sind. Sie sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, unterliegen staatlicher Leitung und sind berufen, die Wirtschaftspolitik des Staates durchzuführen (vgl. den X I I I . Abschnitt des Fuero del Trabajo vom 9. März 1938, Leyes Fundamentales, S. 39 ff.). 32 Der Präsident des Instituto de Espafia und zwei gewählte Mitglieder der in ihm vereinigten Königlichen Akademien; ferner der Präsident des Consejo Superior de Investigaciones Cientificas und zwei weitere Vertreter, die ebenfalls von den Mitgliedern aus ihrer Mitte gewählt werden. 33 Soweit die Mitgliedschaft in den Cortes kraft eines Amtes erworben 20
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
I m Gegensatz zur portugiesischen Korporativen Kammer sind die Cortes ein Organ der Gesetzgebung. Ihre Hauptaufgabe ist „die Vorbereitung und Ausarbeitung der Gesetze". Aber sie sind nicht Gesetzgeber, denn alle ihre A k t e bedürfen der „Sanktion" durch den Staatschef (Art. 1), der auch weiterhin das Recht behält, unabhängig von den Cortes allgemeinverbindliche Normen zu setzen (Präambel) 35 . Die einzige Ausnahme bilden, soweit ich sehe, Steuergesetze, die nach A r t . 9 des Grundrechtskatalogs 36 von den Cortes beschlossen (und vom Staatschef sanktioniert) sein müssen. I n die Zuständigkeit der Cortes fallen außerdem Gegenstände w i e der Staatshaushalt, wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen von großer Tragweite, Staatsangehörigkeits- und Fremdenrecht, lokale Selbstverwaltung und Unterricht. Die Regierung kann den Cortes weitere Materien zur Beratung und Beschlußfassung unterbreiten (Art. 10); auch können sie aus eigener Initiative ihre Kompetenz erweitern, wenn eine Sonderkommission so beschließt 37 . Das macht die Cortes zu einem Gebilde, i n dem verschiedenartige Strukturformen verbunden sind: Die Vertreter der Falange stellen das Element einer politischen Partei; die vom Staatschef ernannten Persönlichkeiten geben ihnen den Charakter eines Senats 38 , darin mischen sich die Vertreter der kommunalen Selbstverwaltung aus den verschiedenen Landesteilen, die einen föderativen Zug hineinbringen, und das korporative Element der Syndikate und der anderen berufsständischen Verbände, die den Cortes überdies den Charakter eines Zentralwurde, endet sie auch mit diesem Amt. Die von dem Staatschef ernannten Mitglieder können von diesem entlassen werden. Das Mandat der gewählten Mitglieder erstreckt sich auf drei Jahre; Wiederwahl ist zulässig. 34 Der Präsident der Cortes hat eine außerordentlich starke Stellung: u. a. bestimmt er i m Einvernehmen mit der Regierung die Tagesordnung des Plenums und der Kommissionen, ernennt die Präsidenten der Kommissionen und kann in ihnen nach Gutdünken selbst das Präsidium übernehmen (Art. 11 ff. des Gesetzes vom 5. Januar 1943 über die Vorläufige Geschäftsordnung, Leyes Fundamentales, S. 101 ff.). 35 Davon wird jedoch anscheinend nicht häufig Gebrauch gemacht. Nach dem Gesetz über die Cortes von 1942 war das Gesetz über die Einführung des Referendums vom 22. Oktober 1945 der erste Gesetzgebungsakt des Staatschefs ohne Beteiligung der Cortes; vgl. Conde, a.a.O., S. 142. »· Fuero de los Espanoles vom 17. Juli 1945, Leyes Fundamentales, S. 69 ff 37 Sie besteht aus dem Präsidenten, einem von der Regierung beauftragten Minister, einem Nationalrat der Falange, einem Reditsgelehrten („con titulo de Letrado"), dem Präsidenten des Staatsrats und des höchsten Gerichtshofs (Art. 12). 38 M a n darf jedoch nicht verkennen, daß darunter auch Vertreter mächtiger Interessen sind, wie die Formulierung „por su jerarquia eclesiâstica . . . ο social" erkennen läßt.
3 3 2 O r g a n i s i e r t e Interessenahrnehmung als Repräsentation
organs der durch den Staat begründeten und geleiteten Interessenorganisationen geben. Das Ganze 3 9 n i m m t seinem Namen und Tagungsort nach, wie m i t seiner Aufgabe, i n etwa den Platz eines Parlaments e i n 4 0 ; es kann die Gesetzgebung i n Gang setzen, ist aber selbst weder Gesetzgeber, noch kann es die Exekutive kontrollieren, sondern ist m i t der Staatsführung auf mancherlei Weise, namentlich durch die Anwesenheit der Inhaber hoher Staatsämter 4 1 und durch zahlreiche Geschäftsordnungsbestimmungen, weitgehend gleichgeschaltet. Die Cortes sind so eine originelle Schöpfung innerhalb eines autoritären Regimes. F ü r ihre Position i m spanischen Verfassungsbau sind indessen nicht nur die Gesetze über die Cortes, sondern auch die „Ley de Sucesion en la Jefatura del Estado" 4 2 bedeutsam. I m Falle der Vakanz übernimmt ein dreiköpfiger Regentschaftsrat (Consejo de Regencia) die Macht: Er setzt sich zusammen aus dem Präsidenten der Cortes als Vorsitzendem, ferner dem höchsten, dem „Consejo de Reino" 4 3 angehörenden Prälaten und dem Befehlshaber der Land-, See- und L u f t streitkräfte (Art. 3). Sie verkörpern die durch staatliche Organisationen, wie Falange und Korporationen erfaßte Gesellschaft, die Kirche und das Militär, die drei Basen der politischen Macht i n Spanien, die sich m i t der Autorität des Caudillo verbindet. Nachdem die Jefatura del Estado vakant geworden ist, gedenkt sich Spanien einen König oder Regenten zu geben 44 . Die geeignete Persönlichkeit vorzuschlagen, ist das Recht des Caudillo, das nach E i n t r i t t der Vakanz auf den Regentschaftsrat übergeht. Den Cortes k o m m t es zu, den Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen (Art. 6 und 8). Erst ihre Zustimmung verschafft dem Nachfolger des Caudillo die Legalität seiner Herrschaft 4 5 . 8e
Nach der jüngsten mir zugänglichen Quelle umfassen die Cortes insgesamt 438 Mitglieder, „Procuradores" genannt. Darunter sind 13 Minister und die 103 Mitglieder des Nationalrats der Falange (The World Book Encyclopedia, Bd. 15, Chicago [Field Enterprises] 1950, S. 7618). 40 Vgl. dazu Conde, a.a.O., S. 132 ff. 41 Hier hat die Anwesenheit der Minister eine andere Bedeutung als im parlamentarischen System, wo sie in der Regel aus dem Parlament hervorgegangen und zumindest vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragen sind. 42 Von den Cortes am 7. Juni 1947 angenommen (Leyes Fundamentales, S. 92 ff.). 43 Ein nach Art. 4 des Gesetzes über die Nachfolge gebildeter 14köpflger Rat, der vom Caudillo bei bestimmten Anlässen gehört wird. 44 Zur Frage der staatsrechtlichen Tragweite dieses Vorgangs vgl. die eindrucksvolle Vorrede zu den „Leyes Fundamentales", S. 15 ff. 45 Nach diesen beiden Beispielen einer ständisch-korporativen Ordnung bedarf es in dieser Arbeit, die dem geltenden Recht gewidmet ist, nicht der Heranziehung weiterer Beispiele aus der Vergangenheit. Zur Abrundung des Bildes sei hier nur noch ein Blick auf die Korporationen des faschisti-
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen Die
jugoslawischen
Produzentenräte
sind keine
ständisch-
k o r p o r a t i v e n Gebilde. Sie müssen aber t r o t z d e m h i e r genannt werden, d e n n auch sie s i n d e i n V e r s u c h , d i e M a c h t des Staates d u r c h d i e M a c h t o r g a n i s i e r t e r G r u p p e n z u b e g r e n z e n u n d t e i l w e i s e z u ersetzen, u n d als solche s i n d sie e i n seltenes u n d , s o w e i t e r k e n n b a r , u n g e w ö h n l i c h a u f richtiges P e n d a n t z u m S t ä n d e s t a a t . S t a t t d e r S t ä n d e s i n d es d i e K l a s sen, d i e i n i h n e n w i r t s c h a f t l i c h e u n d p o l i t i s c h e F u n k t i o n e n
überneh-
m e n , a l l e n v o r a n d i e A r b e i t e r k l a s s e . T r o t z a l l e r Z i t a t e aus Marx
und
Engels, m i t d e n e n d i e E i n f ü h r u n g d e r P r o d u z e n t e n r ä t e b e g l e i t e t w u r d e , s i n d sie das E r g e b n i s e i n e r gewissen D i s t a n z i e r u n g des j u g o s l a w i s c h e n K o m m u n i s m u s v o n d e n ü b e r l i e f e r t e n D o g m e n des M a r x i s m u s u n d e i n e H i n w e n d u n g z u d e n I d e e n Proudhons
und
Saint-Simons.
D i e E n t w i c k l u n g w u r d e e i n g e l e i t e t d u r c h das Gesetz ü b e r d i e L e i t u n g d e r s t a a t l i c h e n W i r t s c h a f t s b e t r i e b e d u r c h A r b e i t e r r ä t e v o n 1950 4 6 . B i s d a h i n w u r d e n d i e i n d u s t r i e l l e n P r o d u k t i o n s m i t t e l als Staatseigent u m a n g e s e h e n 4 7 ; sie w u r d e n d u r c h S t a a t s b e a m t e als D i r e k t o r e n v e r schen I t a l i e n und die Gliederungen des nationalsozialistischen D e u t s c h l a n d geworfen. Bei allem Unterschied in der Staatsauffassung und dem System der berufsständischen Organisation hatte diese i n beiden Ländern doch nur den Sinn, die Bereiche der Wirtschaft und der Kultur möglichst rasch und vollkommen der politischen Führung zu unterwerfen. Die Deutsche Arbeitsfront, der Reichsnährstand, die sieben Reichsgruppen der gewerblichen Wirtschaft (Industrie, Handwerk, Handel, Banken, Versicherungen, Energiewirtschaft und Fremdenverkehr)* die Reichskulturkammer (in der die Einzelkammern für Schrifttum, Presse, Rundfunk, Theater, M u sik, bildende Künste und F i l m zusammengefaßt waren), die Reichsrechtsanwalts- und die Reichsärztekammer hatten nur ein beschränktes Eigenleben (der Vollständigkeit halber seien noch die Reichsnotarkammer, die Patentanwaltskammer, die Reichstierärzte- und die Reichsapothekerkammer erwähnt). Die politische Ordnung baute sich nicht aus ihnen auf, noch nahmen sie als solche an der politischen Führung des Reiches teil, sondern waren ihr als ausführende Organe mit einem begrenzten Selbstverwaltungsrecht untergeordnet (vgl. Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg o. J. (1939), S. 457 ff.; ders., Die Selbstverwaltung der Berufsstände, bei Hans Frank, Deutsches Verwaltungsrecht, M ü n chen 1937, S. 239 ff.). Die vielfältigen Versuche, Vorstellungen der politischen Romantik, des katholischen Solidarismus oder der Hegeischen Philosophie, Ideen des Syndikalismus oder des christlichen Ständestaates heranzutragen (vgl. die von Ernst Rudolf Huber gegebene Übersicht in der Sammelbesprechung „Ständisches Recht" in Zeitschr. f. d. ges. Staatswissenschaft, 99, 1939, S. 351 ff.), waren zum Scheitern verurteilt. 46 Loi Fondamentale sur la gestion des entreprises économiques d'Etat et de groupements économiques supérieurs par les collectifs ouvriers, ohne genaueres Datum veröffentlicht in dem von der Juristenvereinigung der Volksrepublik Jugoslawien in französischer und englischer Sprache herausgegebenen Bulletin „Le Nouveau Droit Yougoslave", 1, 1950, Nr. 2—3, S. 82 ff. 47 Vgl. Art. 14 der Verfassung vom 31. Januar 1946: „Die Produktionsmittel sind entweder allgemeines V o l k s e i g e n t u m , d. h. E i g e n t u m i n d e n H ä n d e n d e s S t a a t e s , oder Eigentum von Genossenschaften
334
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
waltet, die ausschließlich übergeordneten Staatsorganen, namentlich den zuständigen Ministerien, verantwortlich waren. Durch die Ausführung jenes Gesetzes soll nun dieses Staatseigentum allmählich i n allgemeines Volkseigentum überführt werden; das Grundrecht auf unmittelbare Selbstverwaltung der Betriebe durch die i n ihnen tätigen Arbeiter soll dafür konstitutiv sein 4 8 . M a n sieht, w i e wenig der Begriff des Volkseigentums erst entwickelt ist. M i t aller Deutlichkeit ist aber zu erkennen, daß dieser Vorgang an einer größeren westeuropäischen Bewegung partizipiert, die sich von den hergebrachten Methoden der Verstaatlichung entfernt und an ihre Stelle andere Formen von „Gemeineigentum" setzen w i l l 4 9 u n d die, bei aller Unklarheit i n den Einzelheiten, letzten Endes darauf abzielt, die organisierten Gruppen stärker ins Spiel zu bringen. I n Jugoslawien bedient man sich dazu der Arbeiterräte, deren Mitglieder durch die Belegschaft f ü r n u r ein Jahr gewählt werden und von i h r abberufen werden können; von ihnen kann höchstens ein D r i t t e l f ü r ein weiteres Jahr wiedergewählt werden („damit jeder einmal drankommt" 5 0 ). Ihnen sind die Direktoren unterstellt, die aber weiterhin von einem außerbetrieblichen Komitee oder einer Staatsbehörde ernannt werden und dieser auch verantwortlich sind 5 1 . Das wirtschaftspolitische Ergebnis ist die allmähliche Liquidation der totalen Planwirtschaft sowjetrussischen Musters. A n ihre Stelle sucht man eine Marktwirtschaft zu setzen, i n der die Betriebe miteinander i n Konkurrenz treten, die Produzenten selbst über des Volkes oder aber Eigentum von natürlichen oder juristischen Personen" (in Nr. 1 der Sammlung „Collected Yugoslav Laws", Beograd 1951, S. 2). 48 Das ist aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu erkennen, ist aber in der als authentisch anzusprechenden Vorrede zu Heft 1—2 des Bulletin „Le Nouveau Droit Yougoslave", 1952, S. 3 f., nachdrücklich hervorgehoben worden. 49 Vgl. A r t 40 f. der Hessischen Verfassung mit der Definition „Gemeineigentum ist Eigentum des Volkes"; ferner die wirtschaftspolitischen Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (abgedruckt bei Brisch, Die Rechtsstellung der deutschen Gewerkschaften, S. 122 ff.) mit ihrer Forderung, die Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen. Daß audi der Begriff des Gemeineigentums keineswegs geklärt ist, wurde bereits ausgeführt (s. oben, Teil I I , 1, mit Anm. 14); der französische „Tripartisme", die Verwaltung der verstaatlichten Industrien durch Vertreter des Staates, der Gewerkschaften und der Verbraucher, ist ein weiteres Zeugnis jener Bewegung (dazu oben, Teil I I , 6, mit Anm. 10—14). 60 Jovan Djordjevië , Traits caractéristiques essentiel du nouveau système de radministrations des entreprises économiques d'Etat et des associations économiques supérieures, L e Nouveau Droit Yougoslave, 1950, Heft 2—3, S. 20. 51 U m eine sachgemäße Leitung sicherzustellen und nur solange, als nichts anderes bestimmt ist ( A r t 8 Abs. 2).
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
36
das Sozialprodukt verfügen und mittels des freien Marktes seine Verteilung besorgen 52 . Dieses i m ökonomischen Bereich beheimatete und nur aus i h m verständliche Räteprinzip ist n u n auf die politische Ebene übertragen worden. Nach dem Gesetz über die comités populaires (Gemeindevertretungen) vom 1. A p r i l 1952 53 bestehen diese höchsten Organe der öffentlichen Gewalt i n den Gemeinden, Bezirken und Städten aus zwei Kammern; von ihnen soll die erste von allen Anwohnern durch allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlen gewählt werden, während die zweite, der Produzentenrat, von den Arbeitern und Angestellten, den Kolchose- (Sadruga-) Bauern, den Mitgliedern der Genossenschaften selbständiger Bauern und den Mitgliedern der Handwerkskammern u n d -genossenschaften, unmittelbar oder durch ihre Organisationen u n d ebenfalls geheim, gewählt werden soll 5 4 . Die „Produzenten" verfügen dadurch über zwei Stimmen, während alle übrigen Staatsbürger, die nicht i n eine der Produzentenklassen fallen, nur eine Stimme besitzen. Die Produzentenstimmen sind jedoch nicht gleichwertig, sondern jeder Wirtschaftszweig ist n a c h M a ß g a b e s e i n e s A n t e i l s a m S o z i a l p r o d u k t i m Produzentenrat vertreten (Art. 4, 7 und 33). I m Ergebnis bedeutet das eine Privilegierung der Arbeiterklasse, die schon i n A r t . 1 dieses Gesetzes, wie auch bei allen übrigen Gelegenheiten 55 , m i t Auszeichnimg vor den anderen Klassen genannt wird. Die dogmatische Grundlage ist eine kompro52 Über das Maß, in dem man die Planwirtschaft allmählich abzubauen gedenkt, unterrichtet die „Loi sur la gestion planifiée de l'économie nationale" vom 19. Dezember 1951; vgl. die Zusammenfassung, a.a.O., 1952, Heft 1—2, S. 53 ff. 58 Loi générale sur les comités populaires, a.a.O., S. I ff. 54 Beide Kammern werden in Gemeinden auf drei Jahre gewählt, in Bezirken und Städten die Erste Kammer auf vier Jahre, der Produzentenrat auf zwei Jahre; die Wahlen für den letzteren werden innerhalb der einzelnen Organisationen abgehalten (Art. 7, 35). Sämtliche Abgeordneten können abberufen werden, wenn sie das Vertrauen ihrer Wähler verlieren (Art. 41 ff.). Der Produzentenrat soll in der Regel nur halb so viel Mitglieder umfassen wie die Erste Kammer (Art. 31). I n den Gemeinden erledigen die Mitglieder beider Kammern alle anfallenden Aufgaben in gemeinsamer Sitzung und sind völlig gleichberechtigt. I n Bezirken und Städten ist der Produzentenrat der Ersten Kammer in Fragen der Geschäftsordnung, des Haushaltswesens und in wirtschaftlichen und Versicherungsangelegenheiten gleichgestellt. Wenn sich beide nicht einigen können, entscheidet das Parlament des Gliedstaates mit bindender Wirkung (Art. 44 ff.). Die Wahl der Bezirks- bzw. städtischen Angestellten und der Richter erfolgt in gemeinsamer Sitzung ( A r t 48). 55 Vgl. ζ. B. Edvard Kardelj in seinem Bericht über dieses Gesetz vor dem Parlament, a.a.O., S. 19 ff., unter dem Titel „Du rôle dirigeant de la classe ouvrière".
336
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
mißlose Unterscheidung zwischen dem „citoyen", dessen Begriff von der Gleichheit der politischen Rechte und Pflichten nicht zu trennen ist, und dem „citoyen-producteur", dessen Begriff nicht nur eine ungleiche Behandlung der Produzenten gestattet, sondern, gemäß der Ungleichheit des Produkts, geradezu herausfordert. Die Bemessung der politischen Berechtigung nach dem A n t e i l am Sozialprodukt ist deshalb nur konsequent 56 . Die marxistische Auffassung von der Gesellschaft, die den Grundsatz der Gleichheit Aller von Rousseau und der französischen Revolution übernommen hat, ist damit des a voilier t. Während Marx den Übergang des Eigentums auf die Gesellschaft forderte, proklamiert der Kommunismus Titos den Übergang der Produktionsmittel i n das Eigentum der Produzenten. Dabei geht auch die marxistische Verelendungstheorie über Bord, und der' Begriff der Klasse erhält einen ganz neuen Sinn. Er hat m i t dem Unterschied von Kapital und Arbeit nichts mehr zu tun, sondern bezeichnet die wirtschaftliche Ungleichheit, die durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Sparten der Produktion, zu verschiedenen Wirtschaftszweigen begründet wird. So gibt es die Klassen der Arbeiter, Bauern, Handwerker usw. Diese Klassenideologie hat den Vorzug, nicht durch das Malaise einer Verelendungstheorie oder die wirtschaftliche Entwicklung ins Unrecht gesetzt zu werden, sondern findet — als Gliederungsprinzip — ihre Rechtfertigung und Bestätigung i n der natürlichen Differenzierung der Volkswirtschaft. Insofern berührt sie sich m i t der ständisch-korporativen Idee. Und doch gibt es einen unverkennbaren Unterschied zwischen Arbeiterstand und A r beiterklasse, zwischen Bauernstand und Bauernklasse. Das Gesetz der K l a s s e ist der materielle Vorgang der P r o d u k t i o n ; das Gesetz des S t a n d e s ist die spezifische S t a n d e s e h r e . Die Klasse ist eine 50 Diese dem Begriff des „citoyen-producteur" immanente Logik ist stärker als der in Art. 21 der Verfassung vom. 31. Januar 1946 übernommene liberaldemokratische Gleichheitssatz: „Alle B ü r g e r . . . sind vor dem Gesetz gleich und erfreuen sich gleicher Rechte ohne Rücksicht auf Nationalität, Rasse und Glaubensbekenntnis" („Collected Yugoslav Laws", a.a.O., S. 4). Die Schärfe der Unterscheidung zwischen Bürgern und Bürger-Produzenten kann auch nicht verdeckt werden durch die utopische Meinung, die Gesellschaft werde bald nur noch aus Produzenten bestehen, so daß jene U n terscheidung dann von selbst obsolet werde. Das Ergebnis einer solchen Entwicklung wäre nicht die Rückkehr zu der dem Begriff des „citoyen" inhärenten Gleichheit der Rechte, sondern im Gegenteil die endgültige und restlose Aufgabe dieses Prinzips, da die Produzenteneigenschaft dann der allein determinierende Faktor wäre und die Ungleichheit des Produkts eine grundsätzliche und totale Ungleichheit der politischen Berechtigung zur Folge haben würde.
2. Ständisch-korporative Deutungen und Lösungen
337
Erscheinung der industriellen Massengesellschaft und hat, auch i m System des jugoslawischen Kommunismus, einen anarcho-syndikalistischen Z u g 5 7 ; der Stand ist das Gliederungsprinzip einer feudalen Ordnung m i t universalistischer Grundhaltung und begreift sich als Teil eines höheren Ganzen. Der Marxismus hat die Überwindung der Klassen durch die klassenlose Gesellschaft angestrebt. Der jugoslawische Kommunismus hat dagegen zugunsten der Arbeiterklasse die Gliederung der arbeitsteiligen Wirtschaft zu Klassenunterschieden verfestigt, die politisch i n einem Klassenwahlrecht i n Erscheinung treten: i n der W a h l der Produzentenräte durch die einzelnen Wirtschaftsgruppen gemäß ihrem Beitrag zum Nationaleinkommen. Der wichtigste Unterschied zum preußischen Dreiklassenwahlrecht besteht darin, daß es nicht I n d i viduen sind, die nach ihrem Beitrag veranlagt werden, sondern die gesamte Klasse als solche, i n der die Einzelperson untertaucht. Das jugoslawische System ist darum i n höherem Grade ein Klassenwahlrecht, und der Belgrader Abgeordnete Professor Moskovljevitsch hat denn auch von einem Rückfall i n das System der Zensusdemokratie gesprochen 58 . Die i n dem Gesetz vom 1. A p r i l 1952 entworfenen Produzentenräte der Gemeinden, Bezirke und Städte sind nach den Kommunalwahlen von November/Dezember 1952 ins Leben getreten. Diese Form der M i t w i r k u n g organisierter Gruppen an der politischen Willensbildung bleibt jedoch nicht auf die Lokal Verwaltung beschränkt, sondern soll i m ganzen jugoslawischen Staatsaufbau verwirklicht werden. Der anläßlich des Nationalfeiertages vom 29. November 1952 veröffentlichte Verfassungsentwurf sieht auch i n den Gliedstaaten und i m Bund Produzentenräte als Zweite Kammern vor, die i n Fragen der Verfassungsänderung und der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung, i m Bund auch bei der W a h l des Staatsoberhauptes, der Ersten Kammer gleichberech57 Es steht außer Frage, daß die entscheidende Wendung vom Staatskapitalismus zu weitgehender Dezentralisierung durch die hypertrophe Vergrößerung der zentralen Bürokratie und damit auftretende Mißstände wesentlich mitverursacht war. Dieses Argument nimmt in der Begründung des Gesetzes einen breiten Platz ein und steigert sich zu einem betont antistaatlichen Affekt (vgl. ζ. B. Kxrdelj, a.a.O., S. 20 [der Staat ist nur eine Waffe in der Hand der Arbeiterklasse] und S. 38), der andererseits die Abgrenzung vom Anarchismus notwendig macht (Kardelj, englische Übersetzung, S. 20: „ . . . we do not indulge in petty-bourgeois anarchist Utopias"; in der französischen Ausgabe fehlt das Epitheton „anarchistisch"). 58 Dieses Bedenken wurde in einer Parlamentskommission vorgebracht und zurückgewiesen, und von der jugoslawischen Presse wurde darüber berichtet (Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe, vom 16. 1. 1953).
22 Kaiser, Repräsentation
338
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
tigt sein sollen 51 '. Einer der Schöpfer dieses neuen Verfassungsrechts, Jovan Djordjevic, hat schon i n bezug auf das Gesetz über die Arbeiterräte von 1950 die große Eigenart dieses Staatsrechts hervorgehoben 60 ; das gilt i n noch höherem Maße von der jüngsten Entwicklung. 3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen Die Freiheit des Individuums und seine soziale Sicherheit sind unter den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft nur unter zwei Voraussetzungen gewährleistet: erstens müssen staatsunabhängige Organisationen in der Lage sein, die Interessen der Einzelperson und der Gruppen gegenüber anderen Gruppen und gegenüber der Staatsgewalt wahrzunehmen, und zweitens muß der Staat stark genug sein, den einzelnen gegen die willkürliche Handhabimg der Organisationsmacht und die nationale Gemeinschaft gegen den Machtmißbrauch einer Minorität zu schützen. Wie muß ein Staat verfaßt sein, der diese Voraussetzungen schaffen und erhalten will? Die Dialektik von Staat und Gesellschaft ist die Grundlage der staatsbürgerlichen Freiheit. Wo sie aufgehoben wird, weil die Gesellschaft sich mit dem Staat identifiziert oder der Staat m i t eigenen Organisationen die Gesellschaft erfaßt und sich unterwirft, wo also der Staat zum totalen Staat wird, ist die Freiheit des einzelnen in Gefahr. Sie ist nicht minder bedroht, wo eine schwache Staatsgewalt den Auswüchsen übermächtiger Organisationen nicht wehren kann. Jene polare Beziehung, deren Modell das Verhältnis von König und Volk ist, versteht sich auch i n Europa nicht mehr von selbst, seitdem der Staat nicht mehr etwas der Gesellschaft Vorgegebenes ist, sondern im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Gesellschaft erobert wurde 1 und nun aus ihr selbst konstituiert werden muß. I n Deutsch59
Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe, vom 2. 12. 1952. a.a.O., S. 29. Ich danke Herrn Prof. Djordjevic für ein sehr informatives Gespräch in Belgrad. 1 Seit der Französischen Revolution ist dieser Vorgang in mehreren Wellen, auf verschiedenen Gebieten und mit unterschiedlichen Mitteln vorgetragen worden. Er wird häufig mit dem allgemeinen Terminus „Demokratisierung" belegt, der jedoch noch nicht viel besagt, denn es ist nie der ganze, anonyme und in der Kategorie der politischen Egalität vorgestellte Demos, der diese Bewegungen mit der Kraft einer alle Widerstände aufzehrenden Brandung speist, sondern jeweils nur bestimmte, einander ablösende und von wechselnden Eliten getriebene Schichten und Klassen, die in ihrer Zeit jeweils „d i e Gesellschaft" darstellen. Die ruhelose Dialektik 60
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
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land w a r die Weimarer Nationalversammlung der Ort, wo sich dieser A k t zum erstenmal und m i t vollem Bewußtsein vollzog 2 . Aber über die Verfassungsgesetzgebung hinaus handelt es sich u m einen Vorgang, welcher der Nation als tägliche Aufgabe gestellt ist, solange sie den Einzelnen und den Gruppen die Freiheit zur Selbstentfaltung und Selbstgestaltung gewährleistet und nicht i n einem autoritären und totalitären System erstarrt. Ernest Renan hat diesen Imperativ i n die berühmte Formel des „plébiscite de tous les jours" gekleidet. Der Dualismus von Staat und Gesellschaft ist eine spannungsreiche Beziehung innerhalb der Nation. Der S t a a t ist grundgelegt i n dem Bewußtsein der Nation von ihrer politischen Einheit; i m Zustand ihrer sozialen Differenziertheit und Verschiedenheit befindet sich die Nation jedoch i m Gegensatz zum Staat und ist G e s e l l s c h a f t . Es ist, anders ausgedrückt, der dialektische Gegensatz zwischen staatlicher Autorität und einer A r t Naturzustand sozialer Freiheit. Die dem zugrundeliegende Unterscheidung dessen, w o r i n sich eine Nation einig ist, von dem, was sie teilt und einen Pluralismus sozialer Strömungen und Kraftfelder hervorruft, geht allen anderen Unterscheidungen wie der sog. Trennung der Gewalten voraus. Das i n jener Unterscheidung enthaltene Problem des Aufbaus der Staatsordnung aus den Potenzen der Gesellschaft, den man m i t Rudolf Smend als Integration bezeichnen kann, ist das „erste Problem einer Verfassung" 3 . Der soziale Pluralismus und seine politische Relevanz sind verschieden benannt, bewertet und gedeutet worden. Stände, Korporationen und Klassen sind seine exemplarischen, aber zeit- und systembedingten Erscheinungsformen. I n den westlichen Demokratien gliedert sich die Gesellschaft nach I n t e r e s s e n 4 . Dieser Begriff hat i n der dieses Vorgangs offenbart sich auch darin, daß die im Kampf um die Teilhabe an der Staatsgewalt von der Gesellschaft geschaffenen Instrumente und Institutionen immer wieder zu Bestandteilen der staatlichen Apparatur, zu Staatsorganen werden, wenn sich ihre Schöpfer in den Besitz der staatlichen Macht gesetzt haben. 2 Daß dabei erhebliche Residuen des monarchistischen Staates, vor allem im Beamtenkörper, aber auch im allgemeinen Staatsbewußtsein übernommen werden konnten (vgl. Theodor Eschenburg, Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik, Laupheim 1954, S. 31 ff.), erleichterte die Situation, ändert aber nichts an der Grundbedeutung jenes Ereignisses. 3 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München-Leipzig 1928, S. 24. 4 Schon Lorenz von Stein, der dem Studium der jüngeren französischen Geschichte ungewöhnliche Einsichten und seinem Aufenthalt im Paris der frühen 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts konkrete Erfahrungen zu diesem Thema verdankte, machte den Begriff des Interesses zur Grundkategorie seines großen Werkes über die soziale Bewegung in Frankreich (Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 22*
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3 Bände, Leipzig 1850; im folgenden ist die von Gottfried Salomon besorgte, 3921 in München erschienene Ausgabe benutzt). Er, der Jurist, unternahm in dessen erstem Band „den ersten Versuch", „den Begriff der Gesellschaft als einen selbständigen hinzustellen und seinen Inhalt zu entwickeln" (Vorwort, S. 6). Dabei ergibt sich für Lorenz von Stein„daß alle Bewegungen der Gesellschaft notwendig durch das I n t e r e s s e beherrscht werden" (a.a.O., Bd. I, S. 137). Es ist das „alle menschliche nach außen gerichtete Tätigkeit beherrschende, allgegenwärtige, in jedem einzelnen lebendige, seine ganze gesellschaftliche Stellung bedingende Bewußtsein". Und dieses Interesse, „indem es den Mittelpunkt der Lebenstätigkeit j e d e s einzelnen in Beziehung auf jeden anderen mithin der ganzen gesellschaftlichen Bewegung abgibt, ist daher d a s P r i n z i p d e r G e s e l l s c h a f t " (a.a.O., Bd. I , S. 40 ff., Zitat: S. 42 f.). Lorenz von Stein hat die ein wenig abstrakten, nodi vom Atem des deutschen Idealismus durchwehten Begriffsbestimmungen seiner Einleitung mit einer Fülle konkreten Erfahrungsmaterials unterbaut und erhärtet. A u d i M a x Weber hat dem gesellschaftlichen Phänomen der Interessen und Interessenlagen aufschlußreiche Ausführungen gewidmet. I n seiner Darstellung soziologischer Grundbegriffe (Kap. I des Ersten Teils von W i r t schaft und Gesellschaft, i m Grundriß der Sozialökonomik, I I I . Abtig., 3. Aufl., Tübingen 1947, S. I f f . ; abgedruckt i n Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre von M a x Weber, 2. Aufl., besorgt von Johannes Winkelmann, Tübingen 1951, S. 527 ff.) hebt er die wichtige O r d n u n g s f u n k t i o n der Interessen hervor, die sie neben Brauch, Sitte, Konvention und Redit ausüben (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 15 f.; Gesammelte Aufsätze, S. 557 f.). Zahlreiche Regelmäßigkeiten des Ablaufs sozialen Handelns, „insbesondere (aber nicht nur) des wirtschaftlichen Handelns", beruhen danach „keineswegs auf Orientierung an irgend einer als ,geltend* vorgestellten Norm, aber auch nicht auf Sitte, sondern lediglich darauf: daß die Art des sozialen Handelns der Beteiligten, der Natur nach, ihren normalen, subjektiv eingeschätzten, I n t e r e s s e n so am durchschnittlich besten entspricht und daß sie an dieser subjektiven Ansicht und Kenntnis ihr Handeln orientieren". M a n weiß, welche große Bedeutung i m System M a x Webers der Vorstellung der fortschreitenden Differenzierung und Rationalisierung des Lebens, dem immer mehr um sich greifenden Vergesellschaftungsprozeß, zukommt (vgl. z. B. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 335, 382; Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 472 ff.; Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, S. 1 ff., 265 f.; in dem Vortrag Wissenschaft als Beruf sieht M a x Weber den wissenschaftlichen Fortschritt als Bruchteil „jenes Intellektualisierungsprozesses, dem w i r seit Jahrtausenden unterliegen"; Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 577). Eine wesentliche Komponente dieser Rationalisierung des Handelns sieht M a x Weber in der zweckrationalen, planmäßigen Anpassung an gegebene Interessenlagen: Sie setzt sich zunehmend an die Stelle der inneren Einfügung in eingelebte Sitten und bringt Gleichartigkeiten, Regelmäßigkeiten und Kontinuitäten der Einstellung und des Handelns hervor, „welche sehr oft weit stabiler sind, als wenn Handeln sich an Normen und Pflichten orientiert, die einem Kreise von Menschen tatsächlich für verbindlich gelten. Diese Erscheinung: daß Orientierung an der nackten eigenen und fremden Interessenlage Wirkungen hervorbringt, welche jenen gleich stehen, die durch Normierung — und zwar sehr oft vergeblich — zu erzwingen gesucht werden", habe besonders auf wirtschaftlichem Gebiet große Aufmerksamkeit erregt; „sie war geradezu eine der Quellen des Entstehens der Nationalökonomie als Wissenschaft". Die „Stabilität der Interessenlage" beruhe darauf, daß, wer sein Handeln nicht an dem Interesse der andern orientiere, deren Widerstand herausfordere oder einen von ihm nicht gewollten und nicht vorausgesehenen Erfolg habe, jedenfalls Gefahr laufe, an eigenem Interesse Schaden zu nehmen (Wirtschaft und
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Gesellschaft, a.a.O., S. 15 f.; Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 558 f.). Immer und überall, wo sich Handeln an „Spielregeln", i m eigentlichen oder übertragenen Sinn, orientiert, spielt die Erwartung, daß die Partner, im Rahmen ihrer Qualifikation für ein bestimmtes „Spiel", zweckmäßig, d. h. ihren Interessen gemäß handeln, eine grundlegende Rolle. M a x Weber kommt incidenter zu dieser Feststellung, wo er die Analogie zwischen Spielregel und Rechtsregel am Beispiel des Skats durchführt, in seinem Aufsatz „R. Stammlers »Überwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung", aus dem Jahre 1907, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 337 ff. Das ist ein elementarer, geseUschaftswissenschaftlicher Befund. Er verschafft einen Eindruck von der Funktion, die Interessen, namentlich w i r t schaftliche, materielle Interessen, als Ordnungsfaktoren in den privaten und privatrechtlichen Beziehungen des gesellschaftlichen Verkehrs ausüben. Das P r i v a t r e c h t und seine Wissenschaft haben denn auch dem Komplex der Interessen ihre Aufmerksamkeit nicht versagt. Dabei handelte es sich um den Gründsatz der Unterscheidung von Interesse und Recht, die wesentlich aus dem Gegensatz von Gesellschaft und Staat, von sozialem Gefüge und spontanem Kräftespiel auf der einen Seite und formaler, durch den Staat gewährleisteter Rechtsordnung auf der anderen Seite, entspringt. Es geht dabei um die Geltendmachung der Interessen gegenüber den Normen des staatlich gesetzten Rechts und ihre Berücksichtigung durch das gesetzte Recht. Dieses die Rechtswissenschaft so sehr beschäftigende Anliegen und ihr Vordringen i n dieser Richtung ist eine unmittelbare Parallele zu dem Vordringen der Gesellschaft i m politischen Raum, das hier als die Eroberung des Staates durch die Gesellschaft bezeichnet wurde. Die Beziehung zwischen R e c h t und I n t e r e s s e wird i m allgemeinen so dargestellt, daß die Interessen als das naturgegebene, gesellschaftliche Element erscheinen, das der rechtlichen Regelung vorausgeht und an die Rechtsordnung fordernd herantritt (vgl. ζ. B. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. I I I , 1, Leipzig 1871, S. 332 ff. Alfred Manigk bezeichnet die Interessen als die „biologischen Elemente" der rechtlichen Regelung; Art. „Interesse" i m Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, herausgegeben von Fritz Stier-Somlo und Alexander Elster, I I I . Bd., Berlin und Leipzig 1928, S. 307). Dabei ist das Recht weder imstande noch berufen, alle Interessen zu dem Rang von subjektiven Rechten oder Rechtsnormen zu erheben und sie durch Gebot und Verbot zu schützen. Das Recht ist seiner Natur nach formal, in seiner Struktur von logischer Konsequenz und auf Dauer angelegt. Interessen als die Triebkräfte menschlichen Handelns und Verhaltens sind dagegen elementar und spontan, stehen oft zueinander in Widerstreit und wandeln sich häufig mit den sich ändernden Umständen. So kann nur dem kleineren Teil der zahllosen Interessen Rechtsschutz zuteil werden, wie in der Regel auch nur gewichtige oder als Typus wiederkehrende Interessenkonflikte durch den Gesetzgeber entschieden werden. Die meisten sind der Regelung durch Konvention und Sitte anheimgegeben, falls nicht, wie M a x Weber richtig gesehen hat, Interessen und Interessenlagen als solche schon ordnungsstiftend wirken. Seit Rudolf von Jhering hat die deutsche und kontinentale Jurisprudenz der Beziehung von Redit und Interesse mehr Aufmerksamkeit geschenkt als je zuvor. Seine These „Rechte sind rechtlich geschützte Interessen" (Geist des Römischen Rechts, a.a.O., S. 328 ff.; Der Zweck im Recht, Bd. I, 5. Aufl., S. 35 ff.; Jherings Jahrbücher, Bd. X X X I I , 1893, S. 65 ff.) war Stimulans und Stein des Anstoßes zugleich; sie war es u m so mehr, als Jhering hier wie sonst häufig seine Gedanken aperçuhaft aufklingen läßt oder auch die eine oder andere Seite vortrefflich zur Anschauung bringt, i m ganzen aber darauf verzichtet, vorhandene Widersprüche abzugleichen, und eine systematische Zusammenfassung seiner oft eigenwilligen Gedankengänge nicht immer ernstlich versucht (ähnlich urteilte schon Adolf Merkel in seinem
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Nachruf, Jherings Jahrbücher, Bd. X X X I I [1893], S. 24). Das Bürgerliche Gesetzbuch setzt sich von jener These ab, insofern es die Rechtsausübung nicht ausnahmslos davon abhängig macht, daß sie einem nachweisbaren Interesse entspricht, wenn es auch mit seinem Schikaneverbot (§ 226) dem Zusammenhang von Rechtsausübung und vernünftigem Interesse besonderes Gewicht verleiht. Rudolf von Jherings Lehre von den Interessen als der Grundlage der Rechtsnormen, hat einer bestimmten Richtung der deutschen Rechtswissenschaft, der sogenannten I n t e r e s s e n j u r i s p r u d e n z , den Weg gewiesen. Unter diesem Namen hat sich nach der Jahrhundertwende eine methodische Bewegung entwickelt, die den Bedürfnissen des Lebens dadurch gerecht werden wollte, daß sie jedes Rechtsverhältnis unter dem Gesichtspunkt der beteiligten Interessen ansah. Sie war namentlich angeführt von einer Avantgarde, die man als „Tübinger Schule der Privatrechtslehre" bezeichnet hat; ihre bedeutendsten Namen sind Philipp Heck, Max Rümelin, Heinrich Stoll und Arthur Benno Schmidt Unter ihren Vertretern ragen im übrigen Rudolf Müller-Erzbach, und soweit sie sich auch auf das Strafrecht erstreckte, Franz von Liszt und Robert von Hippel hervor. Selbst Heinrich Triepel wird dann und wann für sie reklamiert, seitdem er in seiner Berliner Rektoratsrede „Staatsrecht und Politik" im Recht „nichts als einen Komplex von Werturteilen über Interessenkonflikte" gesehen hatte (Berlin-Leipzig 1927, S. 37). Nach Philipp Heck ist die Einsicht, daß jede Rechtsnorm einen Interessenkonflikt entscheidet, von grundlegender Bedeutung. Er schreibt dem Recht darum „Interessenwirkung" und „Interessengehalt" zu. Jenes im Recht enthaltene Werturteil führt er zurück auf die Vorstellung einer zu erstrebenden „Ordnung", auf ein „konkretes soziales Ideal" (Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932, S. 41). Hinter der großen Bedeutung, die das Interesse i m privatrechtlichen Rechtsdenken besonders seit Jhering gespielt hat, steht die Anteilnahme der Juristen des ö f f e n t l i c h e n R e c h t s an der systematischen Erfassung dieses Begriffs, von Ausnahmen abgesehen, zurück. I n Deutschland sind es in den letzten Jahrzehnten namentlich Vertreter des V ö l k e r r e c h t s , die den Begriff des Interesses vor allem der Unterscheidung von Staatsinteressen und Völkerrecht und den Beziehungen zwischen beiden Komplexen, ihre Aufmerksamkeit zuwandten. I m Privatrecht, im öffentlichen innerstaatlichen Recht wie im Völkerrecht tritt dabei die Rolle, die Interessen, ihre Richtungen und Formationen spielen, u m so d e u t l i c h e r in Erscheinung, j e s c h w ä c h e r d i e i n t e g r i e r e n d e Kraft des i h n e n z u g e o r d n e t e n R e c h t s s y s t e m s ist. Heinrich Geffcken, dem w i r die älteste der hier aufzuführenden Arbeiten verdanken, bezeugt im Vorwort zu seiner Schrift „Das Gesamtinteresse als Grundlage des Staats- und Völkerrechts", Prolegomena eines Systems, Leipzig 1908, daß er in den Spuren Rudolf von Jherings wandelt. Er beklagt den Mangel eines geschlossenen Systems des öffentlichen Rechts und setzt sich zum Ziel, unter einem einzigen beherrschenden Gesichtspunkt: der Lehre von den Interessen, ein solches System zu bauen. Die Schrift fesselt auf manchen Seiten durch eine eigenartige Mischung fortschrittlicher und reaktionärer Gedanken. (In anderen Teilen wirkt dieser Versuch einer Systematik etwas gezwungen und weniger eindrucksvoll. Das im Anhang — S. 58—61 — beigefügte „Schema einer Systematik des Staats- und Völkerrechts vom Standpunkt der Interessenlehre", namentlich dessen völkerrechtlicher Teil, ist von Herbert Kraus zutreffend als recht lückenhaft bezeichnet worden — in Anm. 2 seines unten zitierten Aufsatzes.) Staatszweck und Gesamtinteressen des Staatsvolks sind identisch, und Recht ist das Destillat aus den vordrängenden konkreten Bedürfnissen der materiellen und geistigen Kultur des Staatsvolks, gewonnen auf dem Wege logischer Abstraktion (a.a.O., S. 11, 19). Geffcken sieht den Konflikt zwischen Gesamt-(Staats-) interesse und Sonderinteressen. Er löst ihn, grundsätzlich mit den Metho-
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den und in der Terminologie des aufgeklärten Polizei- und Wohlfahrtsstaates, durch die „Obrigkeitsverwaltung des Staatsinteresses" (wobei er beklagt, daß der alte Polizeibegriff außer Kurs geraten ist. der negativ Gefahrenverhütung — Polizei i m heutigen Sinn — und positiv Fürsorge bedeutete. S. 27). Dabei schenkt er aber den „Sonderinteressen der Untertanen und Untertanenverbände" ein ungewöhnliches Maß an Aufmerksamkeit. Sie dürfen auf staatlichen Schutz und staatliche Förderung rechnen, soweit sie „höhere öffentliche Interessen komponieren". Der liberale Vorbehalt: fördernde Staatstätigkeit nur dort, wo sich die private Initiative als unzureichend erweist, gewinnt in diesem Gedankengang keine rechte Überzeugungskraft. Der Schwerpunkt liegt i m ganzen auf der obrigkeitlich dekretierten und „konkretisierten" staatlichen Wohlfahrtspflege, für die das von ihr festgestellte Gesamtinteresse — „oder ein mit ihm sachlich übereinstimmendes innerstaatliches Sonderinteresse" (a.a.O., S. 28) — den Ausgangspunkt bildet. Der Gedankengang dieser Stelle gewinnt durch den H i n weis auf den „über kurz oder lang fortschreitenden Staatssozialismus" (a.a.O., S. 28) ein ungewöhnlich aktuelles Kolorit. Herbert Kraus hat Begriff und Funktion der Interessen im zwischenstaatlichen Bereich zum Gegenstand einer scharfsinnigen Untersuchung gemacht (Interesse und zwischenstaatliche Ordnung, Niemeyers Zeitschrift für internationales Hecht, X X X X I X . Bd. (1934), S. 22—65. Zur Ergänzung vgl. auch den Vortrag „Staatsinteressen im internationalen Leben", Heft 9 der Schriftenreihe der Hochschule für politische Wissenschaften München, M ü n chen 1951, und die in der dortigen Vorbemerkung verzeichneten Schriften des gleichen Autors). Die Beschränkung auf die zwischenstaatliche Ordnung hat den Vorteil, daß der i m allgemeinen so diffuse Komplex von Interessen, Trägern und Gegenständen der Interessen leichter in eindeutige, klar bestimmbare Größen gegliedert werden kann. Staaten und staatsähnliche Gebilde sind die einzigen Interessensubjekte, auf die das Licht dieser Untersuchung fällt, was nicht ausschließt, daß über die innere Struktur dieser Völkerrechtssubjekte incidenter wichtige Bemerkungen fallen. So beobachtet Kraus zutreffend, daß die Stärke eines außenpolitischen staatlichen Interesses nicht selten in keinem Verhältnis zum wirklichen Wert seiner Befriedigung für das Volksganze steht, was besonders oft in solchen Staaten zutreffe, bei denen die staatliche Willensbildung aus den Wünschen von Interessengruppen herauswachse (Interesse und zwischenstaatliche Ordnung, a.a.O., S. 46). — Das Feld des zwischenstaatlichen Verkehrs, wie es Kraus zeichnet, bietet das Bild eines ständigen und durch Rechtsnormen nur relativ wenig vermittelten und gedämpften Ringens um Interessengestaltung. Dieser Umstand und die genannte thematische Beschränkung ermöglichen die präzisen Analysen und Klassifizierungen dieses Aufsatzes. Ihnen kommt, großenteils über das Gebiet der zwischenstaatlichen Ordnung hinaus, für Begriff und Funktion der Interessen auch i m innerstaatlichen Raum exemplarische Bedeutung zu. Ein Teil dieser an internationalem Material erarbeiteten Thesen kann auf innerstaatliche Interessen, Interessengruppen, auf die Frage nach Inhalt und Rang innerstaatlicher Interessen und ihrer ordnungsstiftenden Kraft unmittelbar oder analog angewandt werden. Wilhelm Wengler unternimmt in seinen „Prolegomena zu einer Lehre von den Interessen im Völkerrecht" (Die Friedenswarte, Bd. 50, 1950, S. 108—129) vor allem eine psychologische und soziologische Grundlegung des rechtlich relevanten Interessenbegriffs, wobei er im Anschluß an Franz Oppenheimer (System der Soziologie, I I I , 1, Jena 1923, S. 16) „finale" und „modale" Interessen unterscheidet. I m Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ist es notwendig, auf Wenglers Auffassung von der Zurechenbarkeit der Interessen näher einzugehen. Der Ausgangspunkt seiner Lehre liegt in der Prämisse: „Jedes Interesse ist ich-bezogen", d. h. es wird, wie der Fortgang jener Studie ausweist, auf ein menschliches, individuelles Ich bezogen, letzten Endes auf einen
3 4 4 O r g a n i s i e r t e Interessenahrnehmung als Repräsentation „innerpsychischen Vorgang von Lust- und Unlustgefühlen und ihre Bewertung" (a.a.O., S. 111); jedes Interesse hängt somit nur vom Individuum und seinen subjektiven Wertvorstellungen ab. Dieser Satz hat weittragende Konsequenzen für die Bestimmung der Gruppen- und Staatsinteressen. Da Organisationen von Menschen keine Individualpsyche haben, hält es Wengler für unzulässig, ihnen Interessen zuzuschreiben, wie ihnen etwa subjektive Rechte zugerechnet werden. Wenn eine Mehrzahl von Menschen die Befriedigung gleichartiger, untereinander nicht kollidierender Interessen durch gemeinsames Auftreten erleichtert, so entsteht bei jedem einzelnen ein zusätzliches, modales Interesse an der gemeinschaftlichen Durchführung der Einzelinteressen; und es ist nur die „Zusammenballung" dieser modalen Interessen, die der personifizierten Gruppe als Gruppeninteresse zugeschrieben werden (a.a.O., S. 112). Unter Staatsinteresse w i l l Wengler deshalb „zunächst einmal einfach alle diejenigen Interessen verstehen, die mit Hilfe des Staatsapparates von denjenigen Menschen zu verwirklichen gesucht werden, die in der Lage und bereit sind, Interessen unter Anwendung des Staatsapparates zur Befriedigung zu bringen. Das Kriterium, welches die Staatsinteressen von anderen menschlichen Interessen unterscheidet, ist also nur das Mittel, mit dem die Interessen zu verwirklichen gesucht, werden". Das Staatsinteresse, das dermaßen auf den psychologischen Begriff des Interesses zurückgeführt ist, wird so zur Resultante aus zahlreichen neben- und gegeneinanderstrebenden Einzelinteressen der Staatsbürger, „in der Sprache der Mathematik, eine Funktion der Interessen zahlreicher Staatsbürger". Ebenso seien es im internationalen Bereich die Individualinteressen, die für das Völkerrecht relevant seien (a.a.O., S. 115 ff.). Das Ganze liegt in der Linie der individualistischen Konstruktion des Völkerrechts, wie sie namentlich Georges Scelle vertritt: „Les individus seuls sont sujets de droit en droit international p u b l i c . . . Une déclaration unilatérale de volonté, un traité, un acte illicite dont on dit qu'ils engagent l'Etat, sont t o u j o u r s des actes émanant d'individus..." (Précis de Droit des Gens, Princips et Systématique, I, Recueil Sirey, Paris 1932, S. 42). Die auffallende Konstanz angeblicher Staats'interessen (modaler Individualinteressen) i m zwischenstaatlichen Raum sucht Wengler durch den Hinweis auf die Konstanz des Staatsgebiets und der inneren politischen und wirtschaftlichen Struktur der Staaten zu erklären (a.a.O., S. 115 ff.) Es ist eine verbreitete Neigung, zur Deutung kollektiver Tatbestände Methoden und Ergebnisse der Indiv'idualpsychologie zu Hilfe zu ziehen. Das ist sinnvoll, soweit es sich darum handelt, hervorstechende individuelle Einflüsse auf Gesamtverhalténsweisen — wie namentlich die von Führern, Eliten, Funktionären, aber auch die des Wählers an der Wahlurne usw. — zu analysieren. So mag man bedeutsame Erkenntnisse von den psychischen Bedingtheiten einzelner Verbandsmitglieder gewinnen, die selbst bestimmte Typenbildungen erlauben. W i r halten aber die Kategorien der Individualpsychologie grundsätzlich für ungeeignet, Maßgebliches über die Interessen und das Handeln von Kollektiven, Gruppen, von Verbandspersonen, auszusagen. Ihre analoge Anwendung mag zu Feststellungen von begrenzter Gültigkeit führen; unmittelbar angewandt atomisieren sie den Gegenstand und beschwören die Gefahr nominalistischer Entleerungen gegebener Wollens- und Wirkeinheiten. Deren Realität ist aber einer schlichten Befundnahme unmittelbar einsichtig und drängt sich ihr mit großer Evidenz auf. Aus ihr schöpften die berühmte Konzeption Hegels vom objektiven Geist unserer Verbände wie die sogenannte organische Lehre Otto von Gierkes und anderer von den Verbandspersonen als einheitlichen Lebensträgern leiblich-geistiger Natur ihre suggestive Kraft, von der auch noch jüngere Vorstellungen vom „Group-mind" (zu den bedeutendsten zählen: William McDougall, The Group Mind, New York, London [G. P. Putman's Sons] 1920, und John Elif Boodin, The Social Mind, New York [Macmillan] 1939) und dergleichen zehren. Sie ist auch die Grundlage jener „Morphologie sociale", die Emile Durkheim , und ihm folgend die zahlrei-
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen chen französischen Soziologen der sogenannten realistischen Schule, die Gruppen als selbständige Gegebenheiten, als „faits sociaux", erkennen ließ, die auf die von Individualpsychologie und Biologie untersuchten Erscheinungen nicht zurückgeführt werden können (Emile Durkheim , Les Règles de la Méthode sociologique, l l m e éd., Paris [Presses Universitaires de France] 1950, S. 100 ff., und passim). Uber das Verhältnis von Psychologie und Soziologie sagt Durkheim a.a.O., S. 103, es gebe zwischen ihnen „la même solution de continuité qu'entre la biologie et les sciences physicochimiques. Par conséquent, toutes les fois qu'un phénomène social est directement expliqué par un phénomène psychique, on peut être assuré que l'explication est fausse"). Unser Begriff des o r g a n i s i e r t e n I n t e r e s s e s stützt sich auf einen solchen eindeutigen soziologischen und politischen Befund und auf einen hergebrachten Sprachgebrauch von internationaler Geltung. Was letzteren angeht, so erweist sich die Sprache hier in der Tat als untrüglicher Spiegel gesellschaftlicher und politischer Vorgänge. Indem wir ihren Inhalten nachgehen, folgen wir einem Grundsatz jener französischen soziologischen Schule: bei der Erforschung des Wesens von Gruppen zunächst aufzuweisen, als was sich diese Gruppen in dem Bewußtsein ihrer eigenen Mitglieder darstellen. Schon die Vertreter der Interessenjurisprudenz haben in diesem Sinne stets großes Gewicht darauf gelegt, „Interesse" in seinem schlichten alltäglichen Wortsinn zu verstehen. Stoll und Heck gebrauchen das Wort „in dem weitesten Sinne, in dem es heute üblich ist" (Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., Tübingen, 1932, S. 29: Heinrich Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre von der Interessenjurisprudenz, a.a.O., S. 67, Anm. 1), während Müller-Erzbach noch darüber hinausgeht, indem er der Abstraktion des Interessenbegriffs das Lebenselement Interesse und dessen rechtsbildende Kraft gegenüberstellt und ihm die wahrhaft neuen Einsichten zuschreibt (Die Rechtswissenschaft im Umbau, a.a.O., S. 13). Jener umfassende Sinngehalt des Interessenbegriffes, wie er nicht nur dem deutschen, sondern auch dem übrigen europäischen und angelsächsischen Sprachgebrauch vertraut ist, darf einerseits nicht dazu führen, daß die wesentliche Unterscheidung zwischen Interessen und den für die politische oder richterliche Entscheidung eines Interessenkonflikts maßgebenden Wertungs- und Ordnungsgrundsätzen verwischt wird. Diese können nicht generell aus sozialen Interessen abgeleitet oder als solche deklariert und interpretiert werden, sondern beruhen letztlich auf dem ethisch fundierten Prinzip der Gerechtigkeit. Die Interessenjurisprudenz hat diese qualitative Verschiedenheit nicht immer deutlich genug erkannt, worauf auch Walter Schmidt-Rimpler in seinem Nachruf auf Hans Wüstendqrjer (Archiv f. d. civilistische Praxis, 151, 1951, S. 489 f.), der darin klarer sah als Heck, aufmerksam machte. Andererseits mußte jener Interessenbegriff indessen immer wieder gegen die Gleichsetzung von Interesse mit materiellem, ökonomischem Interesse abgeschirmt werden (vgl. Rudolf Jhering, Geist des römischen Rechts, a.a.O., I I I , 1, 328; Philipp Heck und Heinrich Stoll, a.a.O., Rudolf Müller-Erzbach, Die Rechtswissenschaft i m Umbau, a.a.O., S. 40 ff., wo der Terminus „Interessen" teilweise durch „Bedürfnisse" ersetzt ist; Manigk, Art. Interesse, a.a.O., S. 301; Herbert Kraus, Interesse und zwischenstaatliche Ordnung. a.a.O., S. 35 (Interesse der Staaten an der Einhaltung der obersten Moralgebote im zwischenstaatlichen Verkehr); Wilhelm Wengler, Prolegomena zu einer Lehre von den Interessen im Völkerrecht, a.a.O., S. 120, Anm. 11 a. E.; Franz Klein, Das Organis at ions wesen der Gegenwart, Berlin 1913. S. 64. 297. Abweichend Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie. 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 22, wo er von den Interessengruppen sagt, daß „es sich dort nur um m a t e r i e l l e Interessen handeln kann".). Diese Gleichsetzung mag einem verbreiteten modernen Lebensgefühl entsprechen und hat, bewußt oder unbewußt, ihre wissenschaftliche Wurzel in
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Jurisprudenz wie i n der Soziologie eine große und eindrucksvolle Geschichte, an die hier kurz erinnert werden muß. Er w i r d dem Differenzierungsbedürfnis und der Mobilität der industriellen und demokrader sog. materialistischen Geschichtsauffassung, die Max Weber in seiner großen Kontroverse mit Rudolf Stammler auf folgenden Nenner gebracht hat: Sie behaupte „die eindeutige Bedingtheit der »historischen' Vorgänge durch die jeweilige Art der Beschaffung und Verwendung »materieller', d. h. ökonomischer, Güter und insbesondere auch die eindeutige Determiniertheit des ,historischen' Handelns der Menschen durch materielle, d. h. ökonomische Interessen" (in dem Aufsatz „R. Stammlers »Überwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" aus dem Jahre 19C7, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., S. 314). Jene Identifikation steht aber sowohl mit dem überlieferten Sprachgebrauch, wie er sich aus der Tiefe eines die Grenzen des Nationalen überschreitenden allgemeinen Bewußtseins formt, als auch mit der hergebrachten spezifisch juristischen Intention des Begriffes in Widerspruch. Vor allem bleibt festzuhalten, daß er auch immaterielle, wie ethische, religiöse und kirchliche Interessen umfaßt, die bzw. deren Organisationsformen stets mitgemeint sind, wenn hier von Interessen und organisierten Interessen die Rede ist. Ein schönes Beispiel für diese juristische Terminologie verdanken wir Maurice Hauriou, der von dem „gouvernement des intérêts éternels des âmes" der geistlichen Gewalt und dem „gouvernement des intérêts de la vie civile actuelle" der weltlichen Gewalt, mit ihren spezifischen, spirituellen bzw. zeitlichen Sanktionen, spricht (Précis de Droit Constitutionnel, Paris [Recueil Sirey] 1923, S. 151). Daraus ergibt sich, daß die Qualifizierung einer Gruppe, einer Gemeinschaft oder einer Organisation als Interessenverband kein abwertendes U r teil bedeutet. Sie k o m p r o m i t t i e r e n s i c h n i c h t , wenn sie glauben, ihren Interessen, selbst wenn diese ganz anderen Bereichen entstammen, auch durch Betätigung in der politischen Arena dienen zu sollen — es sei denn durch die A r t der Methoden, die sie für ihre politische Aktivität wählen; aber grundsätzlich kompromittieren sie sich dadurch ebensowenig wie einzelne oder Gruppen, die aus originärem politischen Interesse Politik treiben, d. h. das öffentliche Leben ihres Gemeinwesens mitgestalten. I n stitutionen mit ausgesprochenem Öffentlichkeitscharakter wie beispielsweise die Kirchen und seit einigen Jahrzehnten die Gewerkschaften haben deshalb aus sich heraus, trotz ihres religiösen bzw. ökonomischen Ursprungs, eine evidente politische Affinität. Wie das Politische seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen kann (vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Hamburg 1936 [erstmalig veröffentlicht 1927], S. 21; für einen konkreten Fall des Verhältnisses von Staat und Kirche habe ich daraus in meiner Arbeit „Die Politische Klausel der Konkondate", Berlin und München 1949, S. 110 ff., die Konsequenzen gezogen), so können sehr verschiedenartige Interessen durch politische Vorgänge in M i t leidenschaft gezogen und zu eigenen politischen Aktionen und Reaktionen stimuliert werden. Die damit gegebene Wechselbeziehung zwischen politischen Instanzen und ihrer Herkunft nach unpolitischen Organisationen gewinnt in dem gegenwärtigen, weltgeschichtlichen Vorgang fortschreitender Vergesellschaftung erhöhte und, wenn nicht alles täuscht, noch zunehmende Aktualität, die sich in zahlreichen Fällen zu einer unverkennbaren Notwendigkeit konkretisiert. Für Politik und Recht unserer Tage gilt deshalb a fortiori der Hegelsdie Satz „Es k o m m t n i c h t s o h n e I n t e r e s s e z u s t a n d e " (System der Philosophie, 3. Teil, Die Philosophie des Geistes, § 475, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, X . Bd., Stuttgart 1942, S. 376 f., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 122, a.a.O., Bd. V I I , Stuttgart 1938, S. 180, und Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, §§ 394, 395, a.a.O., Bd. V I , Stuttgart 1938, S. 278).
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tischen Gesellschaft voll gerecht. Die aktuelle Erscheinungsform des sozialen Pluralismus ist hier die Interessenorganisation. Die Integration der politischen Einheit ist i n dieser Gesellschaftslage und unter den gegenwärtigen Voraussetzungen des europäischen Parlamentarismus i n erster Linie Aufgabe der p o l i t i s c h e n P a r t e i e n 5 . Das Parlament ist der Ort, i n dem die Nation als politische Einheit repräsentiert werden muß, und zwar durch die Institution als Ganzes; es ist kaum noch der einzelne Abgeordnete, der dem Fraktionszwang unterliegt, noch auch eine einzelne Fraktion, die häufig i n eine bestimmte Frontstellung eingeklemmt ist, die der Repräsentation der nationalen Einheit fähig wären. Aber die Parteien sind notwendige Zwischenglieder, Integrationsfaktoren, m i t denen der Parlamentarismus steht und fällt 6 . Sie sind darum die b e r u f e n e n H ü t e r d i e s e s I n t e g r a t i o n s v o r g a n g s und haben alle desintegrierenden Einwirkungen der Pressure Groups entschlossen abzuwehren. I n dieser ihnen eö ipso aufgegebenen Auseinandersetzung m i t den Interessengruppen haben sie einen i m wahrsten Sinne des Wortes entscheidenden Verbündeten: den e i n z e l n e n Staatsbürger und Wahlberechtigten, den Konsumenten und Steuerzahler, zu dessen Lasten alle exzessive Interessenwahrnehmung geht. I n dem Kampf der nationalen gegen die partikularen Interessen ist er, i n grundlegenden Entscheidungen jedenfalls, ein geeigneter Schiedsrichter, falls er nur wohlinformiert und deshalb einer öffentlichen Meinungsbildung fähig ist. Nach dem deutschen Zusammenbruch hat das starke und aktive Interesse am nationalen Gesamtschicksal, das sich i n hoher Wahlbeteiligung und opferbereiter Aufbauarbeit bekundet hat, den einzelnen Staatsbürger als sicheren Garanten der politischen Einheit ausgewiesen. Es ist außerdem nicht weniger symptomatisch, daß der Staat i n Fällen öffentlicher Notstände, die durch exzessive Interessenwahrnehmung (etwa durch Streiks 7 ) hervorgerufen sind, des individu5 Davon geht auch Fritz Morstein Marx aus in seinen lebensnahen Betrachtungen zum amerikanischen Parteiwesen, Archiv d. öffentl. Rechts, 79, 1954, S. 276 und passim, die von den konventionellen Vorstellungen mit Recht abrücken. 6 Anhänger des Korporativismus wie Ignaz Seipel berufen sich demgegenüber auf die Enzyklika „Quadragesimo Anno" und sind der Meinung, daß die Parteien dort deshalb nicht erwähnt wurden, weil sie keine organischen Glieder der Gesellschaft seien. „Es wird nichts für und nichts gegen sie gesagt, denn sie haben mit der neuen Gesellschaftsordnung keinen inneren Zusammenhang" (Die soziale Botschaft des Papstes, Vorträge über „Quadragesimo Anno", Wien 1931, S. 89). 7 Dazu vgl. meine Studie „Der politische Streik", Berlin 1955, S. 21 ff.
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eilen, i n der Technischen Nothilfe organisierten Staatsbürgers bedarf, u m die Gesamtnation vor dem Machtmißbrauch einer Minderheit zu schützen. Nicht seine Mediatisierung, sondern seine Aktivierung und Privilegierung sollte darum das Ziel der Parteien sein, während sie gegenüber den Pressure Groups größere Distanz wahren sollten. Erst dann kann es gelingen, die sozialen Interessenkämpfe allmählich aus dem Parlament i n den Bereich der Gesellschaft zu verlagern. Das ist eine unumgängliche Notwendigkeit, wenn die Parteien i m Parlament der ihnen aufgegebenen Integrations auf gäbe gerecht werden sollen 8 . Dieser Sachverhalt läßt deutlich erkennen, daß das Parlament heute nicht mehr primär ein Organ der Gesellschaft ist und daß die Parteien keineswegs „das V o l k sind" 9 . I n dem Dualismus von Staat und Gesellschaft, der keine statische Juxtaposition, sondern eine höchst dynamische Relation ist, sind sie mehr und mehr i n die staatliche Machtapparatur eingegangen und nehmen dort die Schlüsselstellung ein 1 0 . Es gibt i m demokratischen Staat nur eine Alternative zur Integration durch politische Parteien: Wenn sie an ihrer Aufgabe versagen, indem sie sich i n die Abhängigkeit von bestimmten Interessengruppen begeben oder selbst zur Pressure Group herabsinken, w i r d die Integration der politischen Einheit über sie hinwegschreiten und i n p l e b i s z i t ä r e n Institutionen Gestalt gewinnen 1 1 . Der auf diese oder jene Weise konstruierte Staat muß — und kann allein — die Grundordnung setzen u n d erhalten, innerhalb deren die organisierten Interessen sich auswirken können 1 2 . Sie w i r d u m so s Ähnlich Kurt Georg Kiesinger in „Soziale Autonomie und Staat", Verhandlungen auf der ersten Hauptversammlung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, Berlin 1951, S. 42. 9 Wie G. Leibholz glaubt (u. a. in „Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien", Verhandlungen des 38. Deutschen Juristentages, Staatsrechtliche Abteilung, Tübingen 1951, S. 10). 10 Dank der starken Integrationswirkung des durch Volkswahl besetzten Präsidentenamtes und der von ihm getragenen Exekutive kann in USA der Kongreß, ohne die nationale Einheit zu gefährden, in weit größerem Maße als europäische Parlamente ein Spiegelbild des Interessenwiderstreites sein. Es wird darum namentlich die Ersetzung der inhaltsarmen party platforms durch gehaltvolle und konkrete Parteiprogramme verlangt; vgl. u. a. den Bericht des Committee on Political Parties der American Political Science Association, „Toward a More Responsible Two-Party System", Supplement der American Political Science Review, 44, 1950, No. 3, Part 2, S. 19 f. 11 Es ist natürlich auch eine Verbindung beider Integrationstypen möglich, wie sie beispielsweise in den Vereinigten Staaten gegeben ist. 12 Übereinstimmend Carlo Schmid t in „Soziale Autonomie und Staat", a.a.O., S. 30.
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
349
engmaschiger sein, je größer die Gefahren sind, die einer Nation aus innerer oder äußerer Not und Bedrängnis erwachsen. Unter diese Grundordnung fällt auch das Verhältnis der organisierten Interessen zum Staat. Sie bildet den Rahmen, innerhalb dessen sie auf die staatlichen Instanzen Druck und Einfluß ausüben und an der politischen Willensbildung partizipieren können. Der Staat stiftet und gewährleistet diese Ordnung i n der Verantwortung vor der gesamten Nation, die i n seinen maßgeblichen Institutionen als politische Einheit repräsentiert wird. Welcher A r t w i r d nun unter den Bedingungen der Massendemokratie die Grundordnimg eines Staates sein müssen, welcher der nach ihren Interessen gegliederten und organisierten Gesellschaft einen möglichst großen A n t e i l an der res publica verschaffen und ihre Potenzen zum allgemeinen Nutzen politisch aktivieren w i l l , der aber auch stark genug sein muß, u m den einzelnen gegen die Organisationen und die Gesamtheit gegen eine organisierte Minderheit oder eine schwache Minderheit gegen die D i k t a t u r der Mehrheit zu schützen? Die rund fünfzig Verfassungen, die seit dem zweiten Weltkrieg entworfen wurden 1 3 , geben auf diese Frage keine eindeutige A n t w o r t , da sie i n erstaunlicher struktureller Übereinstimmung den überlieferten Verfassungsprinzipien folgen u n d die sozialen Machtgruppen ignorieren oder ihnen, wie i n den Bestimmungen über das Vereins- und Koalitionsrecht, Institutionen liberalen und individualistischen Ursprungs und Sinngehalts zur Verfügimg stellen, die auf die hochgradig organisierten und disziplinierten intermediären Gewalten einfach nicht passen 14 . Die neuen Verfassungsschöpfungen haben keinen überzeugenden Versuch gemacht, jene Gewalten i n ihre Normierungen einzubeziehen 15 . I n fast allen Diskussionen u m dieses Thema spielt die Einrichtung einer Zweiten oder Dritten Kammer, i n der die Interessengruppen 13 K a r l Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungsrealität, Beiträge zur Ontologie der Verfassungen, Archiv des öffentlichen Rechts, 77, 1951/52, S. 387. 11 Carlos Ollero spricht darum mit Recht von einer „flagrante disparidad entre su texto y la forma con que se ejercita el poder por las mismas fuerzas politicas constituyentes" (El Derecho Constitucional de la Postguerra, Apuntes para su Estudio, Barcelona [Bosch] 1949, S. 11). 15 K a r l Loewenstein hat daran besonders deutlich Kritik geübt: „Es gibt kaum einen andern Punkt, wo sich die Unwirklichkeit und Lebensfremdheit der Nachkriegsverfassungen in so grellem Licht zeigt, wie bei der altmodischen Vernachlässigung und Nichtbeachtung dessen, was dem modernen Staatsbetrieb seinen pluralistischen Charakter gibt" (a.a.O., S. 413).
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Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
v e r t r e t e n s e i n sollen, eine h e r v o r r a g e n d e R o l l e 1 6 . D e r R e i c h s w i r t s c h a f t s r a t
Vorläufige
der Weimarer Republik und der fran-
zösische C o n s e i l N a t i o n a l E c o n o m i q u e s i n d d i e v i e l g e n a n n ten Beispiele17. Der b a y e r i s c h e
Senat
ist heute i n Deutschland
d i e einzige E i n r i c h t u n g d i e s e r A r t 1 8 ; sie h a t d i e g r o ß e n a u f sie gesetzten E r w a r t u n g e n nicht
erfüllt 19.
Es m a g i m E i n z e l f a l l s e h r v i e l f ü r d i e E i n r i c h t u n g d e r a r t i g e r K a m m e r n sprechen: sie s i n d e i n u. U . n ü t z l i c h e s r e t a r d i e r e n d e s
Element
i m V e r f a h r e n d e r S t a a t s w i l l e n s b i l d u n g , d i e d a d u r c h versachlicht w e r d e n k a n n ; sie s i n d geeignet, a u f eine angemessene
Berücksichtigung
landschaftlicher Besonderheiten z u drängen u n d landsmannschaftliche Gegensätze ü b e r w i n d e n z u h e l f e n ; d i e z ü g e l l o s e n „ p r e s s u r e finden
politics"
i n i h n e n eine gewisse B ä n d i g u n g , w e n n es a u f diese Weise
lü Hier sind auch Projekte zu nennen, die eine Kammer sachverständiger Interessenvertreter mit größtmöglicher Unabhängigkeit vom Parlament ausstatten wollen; vgl. ζ. B. Friedrich Lütge, Die Sachverständigenkammer als Bestandteil des politischen Lebens; ferner Justus Wilhelm Hedemann, Der Wirtschaftsabgeordnete, beide in der vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten hrsg. Schrift „Ratgeber von Parlament und Regierung", Frankfurt 1951, S. 72 ff. bzw. 153 ff. 17 Friedrich Glum, Der deutsche und der französische Reichswirtschaftsrat, Ein Beitrag zu dem Problem der Repräsentation der Wirtschaft im Staat, Berlin-Leipzig 1929; Hauschild, Der vorläufige Reichswirtschaftsr at 1920—1926, Denkschrift, Berlin 1926; Walter Strauss, Die Erfahrungen mit dem vorläufigen Reichswirtschaftsrat und der Wirtschaftsenquête, in „Ratgeber von Parlament und Regierung", S. 45 ff. 18 Er besteht aus 60 Mitgliedern, davon entfallen 11 Vertreter auf die Land- und Forstwirtschaft, 5 auf Industrie und Handel, 5 auf das Handwerk, 11 auf die Gewerkschaften, 4 auf die freien Berufe,'je 5 auf Genossenschaften, Religionsgemeinschaften und Wohltätigkeitsorganisationen, 3 auf die Hochschulen und Akademien, 6 auf Gemeinden und Gemeindeverbände (Art. 35 Bayer. Verfassung). Sie werden von den zuständigen Körperschaften nach demokratischen Grundsätzen gewählt bzw. von den Religionsgemeinschaften bestimmt (Art. 36 Abs. 1). 19 Vgl. ζ. B. die Ausführungen ihres Präsidenten Josef Singer, Die Bedeutung und die Aufgaben des Bayerischen Senats, in „Ratgeber von Parlament und Regierung", S. 9 ff. Theodor Eschenburg hat für Baden-Württemberg einen selbständigen und wohldurchdachten Vorschlag für die Einrichtung eines Senats, „Landesrat" genannt, gemacht (Verfassung und Verwaltungsaufbau des Südweststaates, Stuttgart 1952, S. 46 ff. und 76 ff.). Seine Mitglieder sollten ähnlich wie die bayerischen Senatoren ihr Mandat von den großen Organisationen und Einrichtungen des öffentlichen Lebens erhalten. Die Sitzungen des Landesrats sollten grundsätzlich n i c h t ö f f e n t l i c h sein (S. 48 und 84). Eine seiner Hauptaufgaben sollte die Ausgleichung des württembergisch-badischen Gegensatzes in dem neuen Bundesland sein. Die Gedanken Eschenburgs wurden von der Öffentlichkeit günstig aufgenommen; u. a. hat sich die Arbeitsgemeinschaft der badisch-württembergischen Industrie- und Handelskammer für einen Senat ausgesprochen. Ein entsprechender Antrag der CDU-Fraktion fand in der Verfassunggebenden Landesversammlung keine Mehrheit.
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
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gelingt, die Interessengruppen und vor allem ihre Vorstände, die nicht selten den Charakter ambitiöser Funktionärsoligarchien haben, i n die politische Verantwortung zu ziehen; m i t einer erfolgreichen Institutionalisierung geht immer auch eine Formalisierung und Rationalisierung einher, die i n das Dunkel hintergründiger Interessenbeziehungen und -einflüsse Licht zu bringen vermag und den Organisationen Mühe und Kosten erspart. Die Einwände, die sich auf die Formel Verlangsamung, Verteuerung und Komplizierung des Staatsapparates bringen lassen, wiegen demgegenüber nicht so schwer wie die Schwierigkeiten der praktischen Durchführung, der Bewertung und Unterscheidung der einzelnen Berufszweige und Interessengruppen, der Sitz- und Stimmenberechnung und Verteilung der politischen Macht auf der Grundlage der w i r t schaftlichen und sonstigen Bedeutung usw. Es w i r d niemals möglich sein, das jeweilige soziale, wirtschaftliche und politische Gewicht einer Gruppe i m Volksganzen exakt zu bestimmen. Man w i r d auch die Struktur einer solchen Kammer nicht so flexibel halten können, daß sich Veränderungen jenes Gewichts i n ihr ebenso wirksam und nachhaltig abzeichnen, w i e i m Parlament die Stärke der politischen Parteien mittels der allgemeinen Wahlen dem jeweiligen Volkswillen angeglichen wird. Schwerste Bedenken müßte die durchgängige Spaltung eines solchen Gremiums i n zwei präzis gleiche Blöcke von Arbeitnehmern und Arbeitgebern hervorrufen 2 0 . Sie würde seine Funktions20 Die Fraktion der SPD hat in ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Wirtschaft (Antrag vom 25. Juli 1950, Bundestagsdrucksache Nr. 1229) Vorschläge für die Struktur und die Aufgaben eines B u n d e s w i r t s c h a f t s r a t e s gemacht, dessen wichtigstes Merkmal jene vorbedachte, durchgängige Spaltung ist. Er soll 150 Mitglieder umfassen, von denen 58 aus der Industrie, 20 aus Handel, Banken und Versicherungen, 20 aus Landwirtschaft, Forsten und Fischerei, 16 aus dem Handwerk und 18 aus Verkehr und öffentlichen U n ternehmungen stammen sollen, während nur 18 Sitze für die Vertreter der Wissenschaften und der freien Berufe sowie für wirtschaftlich oder sozialpolitisch besonders verdiente Personen vorgesehen sind. Die eine Hälfte der jeweils auf die einzelnen Wirtschafts- oder Tätigkeitsgebiete entfallenden Mitglieder sollen gemeinschaftlich von „den wirtschaftlichen Verbänden der Unternehmungen" (ζ. B. Gemeinschaftsausschuß der deutschen Industrie) bzw. den Ministerien, dem Städtetag usw., die andere Hälfte von den Gewerkschaften benannt werden. (Dieser Antrag der SPD ist fast völlig identisch mit einem entsprechenden Entwurf, den vorher der Deutsche Gewerkschaftsbund ausgearbeitet hat.) Andere Probleme können hier nur angedeutet werden: daß die Gewerkschaften, u m sie hier nur als Beispiel zu nennen, mit ihren rund 7 Millionen Mitgliedern mindestens 17 Millionen unselbständig Beschäftigte vertreten würden, daß sie durch ihren politischen Einfluß über Partei und Parlament u. U. auch auf die von den Ministerien zu bestellenden Arbeitgebervertreter einwirken könnten; ein Beispiel dafür berichtet William A. Robson aus dem
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Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
fähigkeit wesentlich beeinträchtigen und zu Entscheidungen führen, bei denen i m Einzelfall uninteressierte und unkompetente Mitglieder den Ausschlag geben. Eine derart zweigeteilte Einrichtung wäre auch kein getreues Abbild, keine Repräsentation der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte eines Volkes, die sich nicht sämtlich und nicht zu genau gleichen Teilen auf jene beiden Nenner bringen lassen. Diese das Für und Wider abwägende Argumentation dringt jedoch noch nicht bis zum K e r n der Problematik vor. Er besteht darin, daß hier versucht wird, n a c h A n a l o g i e d e s P a r l a m e n t s ein weiteres R e p r ä s e n t a t i v o r g a n zu schaffen, das aber nicht die politische Einheit, sondern eine Vielheit, nämlich die i n Interessengruppen gegliederte und gespaltene Gesellschaft, gegenüber der staatlichen Administration und Legislative repräsentieren soll. Diese dezidierte Absicht, eine Einrichtung für die R e p r ä s e n t a t i o n der organisierten Interessen zu schaffen, t r i t t heute i m bayerischen Senat wie früher i m Vorläufigen Reichswirtschaftsrat eindeutig zutage. Sie ergibt sich k l a r aus der Übernahme der schon i m Parlament zu einer F i k t i o n entleerten Bestimmung, daß die Mitglieder bei Ausübung ihres Amtes n u r ihrem Gewissen verantwortlich und an Aufträge nicht gebunden sind 2 1 . Das ist eine eindrucksvolle Bestätigung der These, daß es keinen Staat gibt ohne Repräsentation 22 und daß insbesondere die indufranzösischen „Tripartisme", wo die Gewerkschaften tatsächlich auch die Auswahl der Arbeitgebervertreter (durch ihre Beteiligung an der Verwaltung der nationalisierten Industrien) und der Vertreter der öffentlichen Hand beeinflußt haben, so daß sie sich von allen drei Seiten dieser Dreieckskonstruktion die Bälle zuwerfen konnten (Nationalised Industries in Britain and France, American Political Science Review, 44, 1950, S. 317 f.). 21 Art. 5 Abs. 1 der Vero dnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat v. 4. M a i 1920 (RGBl. 1, S. 858) und § 24 des Gesetzes über den Senat vom 31. Juli 1947 (Bayer. Ges. u. V.O.B1. S. 162). Der Präsident des bayerischen Senats, Josef Singer, bestätigt das u. a. mit dem Satz: „Der Senat r e p r ä s e n t i e r t also, anders als der Landtag, das Volk nicht in seiner politischen, sondern gerade in seiner nichtpolitischen, natürlichen Gliederung" (a.a.O., S. 12; Sperrung durch mich); vgl. auch a.a.O., S. 14 und 29: der Nachdruck liegt nicht auf den im Senat vertretenen Organisationen, sondern „auf den Persönlichkeitswerten der Senatoren"). Es ist bekannt, daß der Präsident in den Senatsdebatten jedes „Wir" rügt, wenn der Sprecher damit zum Ausdruck bringen will, daß er die Meinung der von ihm vertretenen Interessengruppe vorträgt. Dazu vgl. Glum in dem Kapital „Bedeutung des Reichswirtschaftsrats als Repräsentation der Wirtschaft für den Staat", a.a.O., S. 45 ff. Auch der in Anm. 20 genannte Entwurf der SPD besagt, daß die M i t glieder des Bundeswirtschaftsrats „Vertreter der Wirtschaftsinteressen des gesamten Volkes", „nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sein sollen. 22 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 205 ff.
3. Di© repräsentative Funktion organisierter Interessen
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strielle Massengesellschaft zu ihrer politischen Existenz der Repräsentation bedarf. Da die parlamentarische Repräsentation unter dem Druck der Parteien und der Interessengruppen problematisch geworden ist, versucht man, neben dem Parlament und zu seiner Ergänzung neue repräsentative Einrichtungen zu schaffen. Das Parlament repräsentiert nicht mehr absorptiv 2 3 ; die Interessengruppen treten zu i h m i n Konkurrenz. Die alte Forderung „no taxation without representation" gewinnt für die Interessengruppen eine neue Aktualität. Für sie gilt, was Rudolf von Gneist vom „Privatmann" sagte: „Daß er einen Beruf zur Theilnahme a m Staat hat, folgt ja schon daraus, daß er ein Interesse dafür h a t " 2 4 . Die Konstruktion des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates und des bayerischen Senats beruht auf der Voraussetzung, daß organisierte Interessen repräsentiert werden können und repräsentiert werden müssen 25 . Sie ist nicht einer vorgefaßten Meinung oder Ideologie entsprungen, sondern — gegen die herrschende Meinung der deutschen Staatsrechtslehre — von der Wirklichkeit des politischen Lebens diktiert. Aber das zwingt oder rechtfertigt noch nicht, die Repräsentation der i n Interessengruppen organisierten Gesellschaft auf dieselbe institutionelle Weise zu realisieren wie die Repräsentation der noch i m wesentlichen homogenen bürgerlichen Gesellschaft. I m Gegenteil, die bürgerliche und die moderne Massengesellschaft sind, wie hier immer wieder hervorgehoben wurde, zu verschieden, als daß ein und dasselbe politische Formprinzip unbesehen auf sie Anwendung finden könnte. Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat und teilweise auch der bayerische Senat sind vielmehr das Ergebnis einer u n z u l ä s s i g e n Ü b e r t r a g u n g eines k o n k r e t e n und zeitgebundenen 18 Das ergibt sich z. B. aus der Erkenntnis, „daß die staatliche Gesetzgebung in Grundfragen der Arbeitsordnung und in der Regelung der Stellung des arbeitenden Menschen in der Wirtschaft sich ihrer wesensgemäßen Schranken bewußt bleiben muß und der Ergänzung durch Vereinbarungen der beiderseitigen Verbände bedarf" (Kurt Ballerstedt, Rolf Dahlgrün, Ernst Forsthoff, Otto A. Friedrich, Carl Neumann, H. Premer und Theodor Steltzer in dem Gutachten „Mitbestimmungsrecht und Bundeswirtschaftsrat, Vorschläge für ihre Regelung", als Manuskript gedruckt. S. 5). 24 Die nationale Reditsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlsystem, 1894, S. 2. 25 Art. 5 der VO. über den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat beginnt mit dem Satz: „Die Mitglieder des Reichswirtschaftsrats sind Vertreter der w i r t schaftlichen Interessen des ganzen Volkes"; vgl. ferner Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems, Berlin-Leipzig 1929, S. 191 ff., wo mit Recht auf den inneren Widerspruch in der Stellung des Reichswirtschaftsrats hingewiesen ist.
23 Kaiser, Repräsentation
Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
Re p r ä s e n t a t i o n s m o d u s a u f e i n e h e t e r o n o m e s o z i a l e R e a l i t ä t , die seinen Funktionsweisen schlechterdings unzugänglich ist 2 6 . Durch die praktischen Erfahrungen mit beiden Einrichtungen w i r d diese These bestätigt. Es ist darum erstaunlich, wie selbst i n den jüngsten Entwürfen auch der Sozialisten Errungenschaften einer bürgerlich-individualistischen Welt nicht n u r konserviert werden, sondern, i n einer disparaten Situation, auch noch als beispielgebende Leitbilder wirksam sind. Dabei schreckt man n i ä i t einmal vor der F i k t i o n eines freien Mandats der Interessenvertreter zurück, obwohl die Funktionäre der Gewerkschaften und die Syndici der Arbeitgeberverbände natürlich die Interessen ihrer Organisationen wahrzunehmen haben 2 7 , auch wenn sie diese Rolle i n der Senatorentoga spielen u n d m i t parlamentarischer Immunität und m i t Diäten aus dem allgemeinen Steueraufkommen ausgestattet sind. Das zähe Festhalten an Institutionen und Projekten dieser A r t wäre aber nicht voll verständlich, wenn man darin nicht auch eine überaus deutliche Manifestation der konstitutionellen Notwendigkeit einer Repräsentation der organisierten Interessen erblicken müßte. Die Repräsentation der politischen Einheit kann grundsätzlich nur innerhalb der substanziellen Gleichartigkeit der Nation 2 8 und nur durch Institutionen (Monarchie, Krone, Parlament) verwirklicht werden. Der Interessenpluralismus der modernen Gesellschaft ist dagegen der Repräsentation durch eine nationale Institution grundsätzlich nicht fähig. Vielmehr ist die o r g a n i s i e r t e I n t e r e s s e n w a h r n e h m u n g a l s s o l c h e , i n der unendlichen Vielfalt ihrer Formen und 26 Der bayerische Senat versucht diesem Dilemma dadurch zu entgehen, daß er mit einem gewissen Erfolg den Akzent auf den einzelnen Senator legt und die Momente eines echten Senators hervorkehrt (das Mindestalter beträgt beispielsweise 40 Jahre). Ähnliches gilt für das Projekt Theodor Eschenburgs mit Rücksicht auf die Aufgaben des von ihm vorgeschlagenen Landesrats (namentlich Überwindung des württembergisch-badischen Gegensatzes). I m übrigen finden solche Institutionen in dem Milieu dieser Länder noch günstigere Existenzbedingungen als in anderen Ländern und auf der Rundesebene, wo die Interessenkämpfe mit größerer Intensität und Erbitterung geführt werden. Die Möglichkeit einer repräsentativen Verbändekarnmer wird, i m Ergebnis übereinstimmend, auch von Rupert Breitling bestritten; vgl. seine kürzlich erschienene verdienstvolle Studie „Die Verbände in der Rundesrepublik, ihre Arten und ihre politische Wirkungsweise", Meisenheim 1955 (S. 79), die ich leider nicht mehr i m vollen U m fang berücksichtigen konnte. 27 Vgl. z. B. die Interessenvertretung i m Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn, oben Teil I I I , 5 mit Anm. 36 ff. 28 Zum Problem des Schwundes der politischen Homogenität vgl. meinen Aufsatz „Finanz — ,un mot d'esclave' (Rousseau), Zur Verfassungskrise der Vierten Republik", DÖV., 1, 1948, S. 76 f.
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
355
gegenüber den verschiedenen Adressaten, selbst e i n e A r t R e p r ä s e n t a t i o n , keine institutionelle, sondern eine faktische Repräsentation, eine „représentation de f a i t " 2 9 . Die empirische Darstellung dieses Faktums ist auf den vorausgehenden Seiten versucht worden. Denn eine wahre Verfassung kann nach einer bemerkenswerten Formulierung Saint-Simons nicht erfunden, sondern nur beobachtet werden 3 0 . Das Ziel der hier auf begrenztem Raum unternommenen juristischen und soziologischen Befundnahme könnte nicht besser formuliert werden. Sie erweist die repräsentative Funktion der nach ihren Interessen organisierten Gruppen als ein konstitutives Element unserer „wahren \ r erfassung" 3 1 . Die Gruppen tragen dieses Merkmal nicht als akzidentelle Zutat, sondern sind ihrem Wesen nach auf Repräsentation angelegt 3 2 . Wie jede Repräsentation so beruht auch die Repräsentation organisierter Interessen auf der Unterscheidung und der Polarität von Gesellschaft und Staat. Und der Raum, i n dem Staat und Gesellschaft sich begegnen, i n dem i h r Gegensatz ertragen und dessen dialektische Spannung ausgetragen wird, ist die Ö f f e n t l i c h k e i t . Sie ist der i m weitesten Sinne politische Bereich, i n dem das Volk seiner Einheit als Nation bewußt und gewiß wird, i n dem die Gesellschaft sich i n den Staat integriert. Auch die Repräsentation organisierter Interessen kann sich daher nur i n der Sphäre der Öffentlichkeit vollziehen 3 3 und nicht i n den ge29
Der Begriff ist dem französischen „gouvernement de fait" nachgebildet. Du Système industriel, 2e partie, Paris 1821, S. 54; zit. bei Maxime Leroy , Les Tendances du Pouvoir et de la Liberté, S. 71. 31 Ulrich Scheuner hat die Verfassung als eine von der Gesamtheit getragene gemeinsame Grundlage des Rechts definiert, „die feste Schranken setzt, aber auch weiterführende Gestaltung zuläßt" (Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, DVB1. 1952, S. 293 f.). Dagegen hat Hans J. Wolff (Rechtsgrundsätze und verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, in „Forschungen und Berichte aus dem öffentl. Recht", Gedächtnisschrift f. Walter Jellinek, München 1955, S. 51, Anm. 67) polemisch die Frage aufgeworfen, in wessen Funktionsbereich die weiterführende Gestaltung jener Grundlage oder die Beseitigung von Rissen und Unebenheiten fällt. Darauf gibt es nur eine A n t wort: Es ist Sache des Inhabers der verfassunggebenden Gewalt, des souveränen Staatsvolkes (z. B. durch Gewohnheitsrecht) und aller Institutionen, die von ihm eine derartige Kompetenz ableiten (Parlament, Verfassungsgericht usw.). 32 Darum ist das Streben nach Repräsentation kein Kriterium für ihre Unterscheidung von den politischen Parteien, wie Rüdiger Altmann glaubt (Das Problem der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die moderne Demokratie, Marburger jur. Diss. 1955, S. 15). 33 Darum die wesenhafte Beziehung von organisierter Interessenvertretung und öffentlicher Meinung (vgl. oben Teil I I I , 2). 30
2
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Organisierte Inter essenwahmehmung als Repräsentation
heimen Beratungszimmern von Ausschüssen und Wirtschaftsräten. Öffentlichkeit ist dabei nicht nur ein Raum allgemein möglicher Kenntnisnahme und Zugänglichkeit, sondern vor allem der Bereich des organisierten Volks, des Volks als Gemeinde und Staat, wie Rudolf Smend aufgewiesen hat* 4 , und, wie man hinzufügen muß, mehr denn je der Bereich der nach Interessen pluralistisch gegliederten und organisierten Gesellschaft. I n der frühkonstitutionellen Zeit war Öffentlichkeit i n erster Linie ein Grundrecht des einzelnen zur Sicherung seiner Freiheitsrechte und seines Anteils an der Staats Willensbildung; heute ist sie eine konsolidierte Institution nicht nur der Staats-, sondern auch der Gesellschaftsordnung. Man kann darum die Öffentlichkeit weder m i t dem Bereich des Staatlich-Politischen gleichsetzen 35 , noch ist es angängig, sie i n vollem Umfang n u r bestimmten Gesellschaftsgruppen, etwa den Kirchen und Gewerkschaften, zuzuerkennen, von den Verbänden der Arbeitgeber beispielsweise zu sagen, für sie sei Öffentlichkeit nichts Existentielles, und den Öffentlichkeitsanspruch der Landwirtschaftsverbände zu ignorieren 3 0 . Gewiß ist der Öffentlichkeitsgrad der Verbände fast so verschieden wie der Gegenstand ihres Interesses, aber als Pressure Groups haben sie immer eine unleugbare Affinität zum öffentlichen Bereich. Denn die Öffentlichkeit ist i n einer wohlfunktionierenden Demokratie die letzte nichtorganisierte Instanz 3 7 und auf lange Sicht der Schiedsrichter aller Interessenkonflikte. Ihrer Unterstützung oder mindestens Duldung können die Interessenorganisationen nicht entraten. Die D e m o n s t r a t i o n , die öffentliche Manifestation ihrer Ziele und der i n ihnen verkörperten Werte, ist darum ein wesentliches Element ihrer A k t i v i t ä t und darüberhinaus ein Bestandteil ihrer Definition 3 8 . M Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, in der „Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht" betitelten Gedächtnisschrift f. Walter Jellinek, München 1955, S. 12. a5 Die für den Begriff der Öffentlichkeit besonders bedeutsame Verfassungslehre von Carl Schmitt erweckt diesen Eindruck durch die strenge Zuordnung von Öffentlichkeit zu politischer Diskussion und Repräsentation als Momenten der Staatswillensbildung (z. B. S. 208 f., 243 f., 316); vgl. andererseits C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 47 ff., wo Öffentlichkeit auch als Qualität der von den staatlichen Einrichtungen unterschiedenen Gesellschaft (ζ. B. als Meinungsund Pressefreiheit) aufgefaßt wird. Rüdiger Altmann, a.a.O. S. 102 f. Seiner These steht schon das Faktum der Tariffähigkeit der genannten Verbände entgegen. a7 So etwa Smend, a.a.O. S. 16, mit dem Hinweis auf Dietrich Schindler, Über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie, Zürich 1921, S. 63 f. Es ist das Verdienst Rüdiger Altmanns, a.a.O. S. 67 ff., die Demonstration als Begriffsmerkmal organisierter Interessen klar herausgearbeitet zu
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
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Vor der Öffentlichkeit als der letzten nichtorganisierten Instanz einer Demokratie hat sich aber nicht nur jede einzelne Pressure Group zu bewähren, die Ö f f e n t l i c h k e i t ist vielmehr auch der A d r e s s a t der Repräsentation organisierter Interessen. Es braucht nicht wiederholt zu werden, daß Öffentlichkeit nicht immer identisch ist m i t der Totalität der Staatsbürger, sondern m i t der Bedeutung des Gegenstandes stark v a r i i e r t 3 9 , wenn auch der allgemeine Bildungsstand und die Informationstechnik sie potentiell fast allumfassend machen. Natürlich beschränkt sich die Wahrnehmung eines einzelnen Interesses häufig darauf, einen begrenzten Personenkreis anzusprechen, auf die Sozialpartner und andere Interessengruppen einzuwirken, auf die Parteien und Fraktionen, auf Regierung und Verwaltung oder sogar auf die Justiz Einfluß auszuüben. Solche Einzelakte sind für sich genommen noch keine Repräsentation, ebensowenig wie die einzelnen Adressaten jener Einflußnahmen individuell schon die Öffentlichkeit darstellen. Nur das soziale G a n z e kann repräsentiert werden 4 0 ; darum ist nicht schon die Vertretung eines einzelnen Interesses, sondern erst das Z u s a m m e n s p i e l , die K o n k u r r e n z und die B a l a n c e der organisierten Interessen Repräsentation. Erst das gesamte Spektrum organisierter Interessen ergibt also ein Ganzes, das der Repräsentation fähig ist, und die Öffentlichkeit ist Adressat dieser Repräsentation. Öffentlichkeit ist auch ein notwendiges A t t r i b u t der Repräsentation organisierter Interessen. Für sie gilt i n vollem Umfang, was haben. Er definiert Demonstration im Unterschied zu Propaganda als „organisierte K r i t i k und Diskussion". Der öffentliche Charakter der Verbände rechtfertigt es trotzdem nicht, von ihnen als „öffentlichen Korporationen" zu sprechen, wie Theo Pirker vorgeschlagen hat (Die Gewerkschaften als politische Organisation, Gewerkschaftliche Monatshefte, I I I , 1952, S. 76 ff.). Der Begriff der Korporation ist einerseits durch den staatsrechtlichen Terminus „Korporation des öffentlichen Rechts", andererseits durch den oben Teil I, 2 und I V , 2 dargelegten ständestaatlichen Bedeutungsgehalt zu sehr festgelegt, als daß er hier in einem andersartigen politischen System noch mit Nutzen verwendet werden könnte. Die Darlegungen Pirkers zeigen nichtsdestoweniger besonders deutlich den Öffentlichkeitsanspruch einer einzelnen Interessengruppe. i 9 » S. oben Teil I I I , 2; bes. Ziff. I I I . 40 Es ist ein wesentliches Merkmal des deutschen Repräsentationsbegriffs, daß nur eine Ganzheit repräsentiert werden kann; vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre. S. 212; Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 46 ff. — Was die Stellung der tatsächlich „Repräsentanten" genannten InteressenVertreter betrifft, fordert Forsthoff für die Vertreter der Sozialpartner in einem Wirtschaftsrat eine gewisse Selbständigkeit gegenüber ihren Organisationen und empfiehlt, die gebundene Votierung zumindest nicht gesetzlich festzulegen (Die Wirtschaftsverfassung, in „Ratgeber von Parlament und Regierung", S. 139).
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Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
Carl August von Weimar für die parlamentarische Repräsentation 1819, zu Beginn ihrer Ära, proklamierte, als er die Öffentlichkeit der Landtags Verhandlungen vorschlug: die Öffentlichkeit scheine das einzige M i t t e l zu sein, „durch welches ein freier Verkehr zwischen den Vertretern des Volkes und dem Volke selbst hergestellt, der Zweck einer repräsentativen Verfassung vollständig erreicht werden k a n n " 4 1 . Die Massendemokratie würde ohne die Öffentlichkeit der Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten zu einer neofeudalen, oligarchischen Bonzenherrschaft entarten 4 2 . Noch i n anderer Hinsicht stimmen parlamentarische Repräsentation und Repräsentation organisierter Interessen überein: Beide sind Motoren einer unaufhaltsamen Z e n t r a l i s i e r u n g , wie sie auch Träger einer fortschreitenden Demokratisierung sind. Zentralisierung und Demokratisierung sind Momente ein und desselben geschichtlichen Vorgangs; seit 150 Jahren sind sie Gegenstand aller großen politischen Prognosen und Diagnosen 43 . So sehr sich jene beiden Momente entsprechen und i n ihrer W i r k u n g steigern und beschleunigen, so wenig vollzieht sich diese Entwicklung jedoch i n absoluter Eindeutigkeit und Gleichläufigkeit. Der Zerfall der homogenen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts i n einen Pluralismus sozialer Gruppen und Verbände war i m Gegenteil Auflösung und Desintegration, was aber nicht hindern konnte, daß der Prozeß der Zentralisierung alsbald und m i t verstärkter K r a f t i n den verschiedenen Interessenbereichen wieder einsetzte. Die Verbände sind, wie schon Friedrich Engels bemerkte 4 4 , i n der Regel um so stärker, je besser ihnen die Überwindung und das Überspielen der Bezirks- und Ländergrenzen und -kompetenzen gelingt. I m Bundesstaat ziehen sie es schon aus Gründen der K r a f t - und Arbeitsersparnis vor, ihren Einfluß auf die Bundesinstanzen m i t dem Ziel einer gleichförmigen Regelung zu konzentrieren statt i h n i n den 41 K a r l Heinrich L. Pölitz, Europäische Verfassungen, I, 2, Leipzig 1847, S. 777 f. 42 Die Zeichen der Zeit finden bei Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951, eine Deutung, wenn er die Interessengruppen als „politische Stände" bezeichnet. Eugen Kogon ging in der vom Deutschen Gewerkschaftsbund aus Anlaß der Ruhrfestspiele 1955 veranstalteten Diskussion „Gewerkschaften und Parlament" so weit, schon von einer „geschlossenen Gesellschaft" innerhalb der Bundesrepublik zu sprechen (vgl. sein Eröffnungsreferat und meine Entgegnung in dem vom DGB demnächst herausgegebenen Sammelband). 48 S. o. Einleitung, Anm. 3, 15 und 20 und das dort angef. Schrifttum. 44 S. o. Teil I I , 2 mit Anm. 34. Vgl. dazu auch Hans Huber, Soziale Verfassungsrechte?, Die Freiheit des Bürgers i m Schweizerischen Recht, Festgabe zur Hundertjahrfeier der Bundesverfassung, Zürich 1948, S. 159.
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
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Ländern zu zersplittern 4 5 (es sei denn sie sind i n einem oder mehreren Ländern i n einer besonders günstigen Lage und erwarten von einer Bundesregelung eher eine Erschütterung als eine Ausdehnung dieser Position). So gibt es i m Bundesstaat außer der Konkurrenz und Balance der Interessen sowie dem ebenfalls zum Gleichgewicht strebenden Widerstreit der Länder noch einen echten und täglich wahrnehmbaren A n t agonismus zwischen Ländern und Verbänden, zwischen regionalem Föderalismus und funktionalem Pluralismus, mit ähnlich balancierender Wirkung. Die Faktoren dieser Balancen verkörpern soziale und politische Macht. Ihre Gewichte wirken darum auch auf die entscheidende, von der klassischen Gewaltenteilungslehre beschriebene und postulierte Balance von Legislative, Exekutive und Justiz. Eine i n guter Verfassung befindliche Demokratie unserer Epoche, weit entfernt von den Vorstellungen Rousseaus, bietet darum das B i l d verschiedenartiger Gleichgewichtssysteme 46 m i t ihren allseitigen Abhängigkeiten und typischen Gefährdungen. Die Waagschalen dieser Balancen hängen i n den Händen des Souveräns, von dem alle demokratische Staatsgewalt ausgeht: dem Volk. Es ist mit seiner öffentlichen Meinung ständig anwesend und beteiligt, wenn i m konkreten Fall eines Konfliktes zwischen irgendwelchen Machtfaktoren die Entscheidung zunächst auch bei den Gewalten liegt, die entsprechend der Verfassung i m Namen der Gesamtnation zu sprechen berufen sind — bis das Volk selbst durch legale M i t t e l (ζ. B. durch Wahl) oder durch einen revolutionären A k t die Entscheidung fällt. Das sind die nach A r t und Rang verschiedenen Integrationsweisen von Gesellschaft und Staat. Ihnen entsprechen die Repräsentationsmodi unserer Demokratie. Sie lassen sich nicht beliebig vermischen oder auswechseln, denn sie beruhen auf zwei verschiedenartigen und 45 Die nordamerikanischen Gewerkschaften befürchten andererseits mit Recht starke Einbußen ihres Einflusses von der Tendenz der Republikaner, die Zuständigkeit für „Labor relations" zunehmend von Bundesorganen wie dem National Labor Board auf die Gouverneure der Einzelstaaten zu übertragen (The Economist, London, vom 2. Oktober 1954, S. 40); s. auch oben Teil I I , 2 mit Anm. 35. 46 „Equilibre fondamental" — das man in den Plural abwandeln möchte — „qui soit en faveur de la liberté, tout en assurant le développement régulier de l'Etat lui-même", ist nach Maurice Hauriou Sinn und Zweck einer Verfassung (Précis de droit constitutionnel, Paris (Sirey) 1923, S. 2). — Für den Bereich der Wirtschaft, namentlich für die Beziehungen der Sozialpartner zueinander, hat John Kenneth Galbraith den anschaulichen Begriff der „countervaüing power" als ein „self-generating force" eingeführt (American Capitalism, The Concept of Countervailing Power, Boston [Houghton Mifflin] 1952, S. 114 ff.).
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Organisierte Interessen Wahrnehmung als Repräsentation
ungleichwertigen Prinzipien: auf der staatsbürgerlichen G l e i c h h e i t einerseits und dem auf U n g l e i c h h e i t beruhenden sozialen Interessenpluralismus andererseits, die einander polar entgegengesetzt sind. A u f das Prinzip der Gleichheit gründet sich die Verwirklichung der Volkssouveränität i m Bund und i n den Ländern: es ist das demokratische Fundament der politischen Herrschaft, des Staates. Die Ungleichheit des Interessenpluralismus kann i n diesem System eine politische Herrschaft weder begründen noch rechtfertigen und ist darum f ü r den Aufbau des S t a a t e s ein grundsätzlich unzulässiges Prinzip. Sie ist vielmehr das Prinzip der G e s e l l s c h a f t , die als solche i n ihrer jeweiligen Gestalt, d. h. heute: als pluralistische Gesellschaft, der Repräsentation gegenüber dem Staat bedarf 4 7 . Volkssouveränität und Gruppenherrschaft sind darum nicht identisch und grundsätzlich auch nicht miteinander vereinbar. Darum gibt es keinen Ersatz der parlamentarischen Demokratie durch einen Ständestaat, auch nicht auf Teilgebieten, es sei denn durch einen Umsturz der Verfassung. Von beiden Prinzipien hat das Prinzip der Gleichheit den absolut höheren Rang. Das durch gleiche Wahlen berufene und so die Einheit der Nation repräsentierende Parlament ist darum nächst dem Staatsvolk die entscheidende Instanz 4 8 . I h r und den anderen, politische Herr47 Diese Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist i m Kern die gleiche wie zur Zeit der konstitutionellen Monarchie. Von ihr sagt Otto Hintze mit Recht, daß dem Monarchen als Repräsentanten der Staatseinheit die Stände „als die Repräsentanten der mannigfaltigen Interessen" gegenüberstanden. „Diese Dualität ist grundlegend für die Repräsentativverfassung. I m modernen Staatsleben erscheint sie in der Polarität von ,Staat' und »Gesellschaft', von Einheit und Mannigfaltigkeit der Interessen innerhalb des Volksverbandes" (Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung; Historische Zeitschrift, 143, 1931, S. 1 f.). I m Sinne dieser Unterscheidung habe ich Bundespräsident Theodor Heuss verstanden, wenn er in seiner Silvesterrede vom 31. Dezember 1955 die Verbände als legitime Organe der Gesellschaft bezeichnete. Zur Frage der Möglichkeit und zum Begriff der Repräsentation von Interessen vgl. Robert von Mohl, Der Gedanke der Repräsentation i m Verhältnisse zu der gesammten Staatenwelt, in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, I, Tübingen 1860, S. 3 ff. Zur Entwicklungsgeschichte des Repräsentationsbegriffes vgl. außer der angef. Literatur die verdienstvolle, unter der Leitung von Carl Schmitt entstandene jur. Diss, von Emil Gerber, Der staatstheoretische Begriff der Repräsentation in Deutschland zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution, Neunkirchen-Saar 1929. Die Abgrenzung der Repräsentation von der Vertretung ist darin besonders überzeugend durchgeführt. 4S Die Lehre von der Repräsentation organisierter Interessen soll darum die S t e l l u n g d e s P a r l a m e n t s nicht beeinträchtigen, wie die Neue Zürcher Zeitung (Morgenausgabe v. 13. Dezember 1955, Blatt 4) in einem meiner Bonner Antrittsvorlesung „Der politische Streik" (Berlin 1955) gewidmeten Artikel annahm, sondern im Gegenteil mit der Einheit der Staats-
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schaft (Hoheitsgewalt) ausübenden Staatsorganen gegenüber ist das Kaleidoskop der i n Verbänden organisierten Interessen eine wahre und echte Repräsentation. Diese A r t der Repräsentation organisierter Interessen w i r d der Differenziertheit und Mobilität unserer Gesellschaftsstruktur allein gerecht. Jeder einzelne kann prinzipiell den verschiedenartigsten Organisationen angehören, dort sogar einander ausschließende Interessen verfolgen und danach seinen Ort i m politischen und sozialen Gefüge selbst bestimmen. Diese Bewegungsfreiheit des Individuums bedarf indessen, woran hier n u r erinnert zu werden braucht, des staatlichen Schutzes gegen den Machtmißbrauch intermediärer Oligarchien. Die institutionelle Verfestigung und Legalisierung der Macht der Funktionäre durch die Einrichtung von Wirtschaftsräten und dgl. ist geeignet, die dem individuellen Freiheitsbereich drohenden Gefahren zu verschärfen. A l l e Institutionen dieser A r t führen notwendig, ob man es w i l l oder nicht, i n die unmittelbare Nähe der ständisch-korporativen Gebilde m i t ihren einschneidenden Beschränkungen der staatsbürgerlichen Freiheit. Diese durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte vielfach bestätigte Gefahr w i r d nicht schon dadurch aus dem Wege geräumt, daß jene Konsequenz von den Befürwortern solcher Institutionen einfach bestritten w i r d . Sie w i r d auch durch die traditionellen individuellen Freiheitsrechte nicht gebannt, da diese nicht gegen die zu sozialen Gewalten ausgewachsenen Interessengruppen, sondern gegen die Staatsgewalt aufgerichtet wurden und darum gegenwärtig jedenfalls noch ihre Schießscharten nur auf einer Seite haben 4 0 . Bei allem Willen zur Formalisierung u n d Systematik ist es darum nicht möglich, den notwendigen Prozeß der Repräsentation organisierter Interessen i n eine einzige Institution zu bannen. Das schließt jedoch nicht aus, daß jener Vorgang auf Teilgebieten durch Institutionen wesentlich gefördert und erleichtert werden kann, wie w i r sie beispielsweise i n den temporären „Royal Commissions", „Departmental Committees" und den über 700 ständigen „Consultative Committees" gewalt die Würde des Parlaments bewahren und die Herrschaftsansprüche der Verbände beschneiden helfen. I n der gegenwärtigen Lage sehe ich nur eine Alternative zur Repräsentation der organisierten Interessen: die Verbands h e r r s c h a f t . 49 Ähnlich Emil Küng in dem Sammelheft „Die Frage einer schweizerischen Kartellgesetzgebung", Eine Artikelreihe der Neuen Zürcher Ztg., Zürich 1955, S. 15 f. Vgl. auch Theodor Eschenburg, Staatsautorität und Gruppenegoismus, Düsseldorf 1955, S. 35.
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Organisierte Interessenahrnehmung als Repräsentation
i n England 5 0 sowie der holländischen „Stichting van den A r b e i d " 5 1 vorfinden 5 2 . Sie müssen indessen Raum lassen für die ständige Anpassung an das sich rasch verändernde System der intermediären Gewalten, deren Interesse jeweils an- und abschwillt und deren Kompetenz, Argumenten und Ansprüchen nicht immer das gleiche Gewicht zukommt. Für ihre permanente, statische Präsenz i n einem W i r t schaftsrat oder Senat m i t ein für allemal fixierter Sitz- und Machtverteilung besteht um so weniger ein Bedürfnis, als solche Institutionen i n Augenblicken ungewöhnlich hoher Interessenfrequenz doch nicht ausreichen werden und die interessierten Gruppen genau wie heute den unmittelbaren Kontakt m i t der entscheidenden Instanz, namentlich m i t der Regierungsspitze, suchen und finden werden. Zentrale Wirtschaftsräte sind der Dynamik organisierter Interessenwahrnehmung nicht gewachsen, die jedes starre System überspült; nur ein autoritärer Staat kann erfahrungsgemäß die Wahrnehmung der Interessen institutionell kanalisieren. I m gegenwärtigen Stadium der Entwicklung verdient eine bescheidenere aber elastischere Gestalt den Vorzug, und der Ehrgeiz, glanzvolle Institutionen von kompletter sozialer und politischer Symmetrie und intellektueller Perfektion ins Leben zu rufen, ist fehl am Platz. Solenne Formulierungen können erst die Krone langer Erfahrung und ausgiebigen Experimentierens sein. Nachdem Lorenz von Stein das Prinzip der Gesellschaft i n ihren Interessen erkannt hatte, w a r dieser Begriff das dynamische Element einer Bewegung, welche die Eroberung des Staates durch die Gesell30
S. oben Teil I I I , 5, mit Anm. 60—69. Sie wurde 1945 als privatrechtliche Organisation der Sozialpartner begründet und von der Regierung als beratendes Organ anerkannt. Sie trat an die Stelle des 1920 von der Regierung ins Leben gerufenen Hohen Rates der Arbeit, der formell weiterbestand, und hat i h m gegenüber die Zusammenarbeit entformalisiert und dadurch intensiviert (J. J. M . Veraart, Die soziale Neuordnung in den Niederlanden nach dem Kriege, Vortrag, gehalten vor der Sozialakademie Dortmund i m Juli 1949 [hektographiertl, S. 5 f., vgl. auch den von der „Stichting van den Arbeid, Verslag over de Werkzaamheden in het Jaar 1948). Durch das Gesetz über die öffentlich-rechtliche Organisation der Wirtschaft vom 27. Januar 1950 sind in Holland dagegen die Grundlagen für ein ständisch-korporatives System besonderer A r t geschaffen worden. (Vgl. Ursula Niemann, Die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Niederlanden, Mitteilungen des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaft, Köln, 4. September 1931, Nr. 9, S. 7 ff., und den Artikel „De Stichting van den Arbeid in nieuve styl" in der Zeitschrift „Sociale Veerlichting", 6, 1950, S. 89 ff.) 52 I n Teil I I I , 5, sind eine Reihe weiterer Institutionen dieser Art angeführt. Sie tragen dazu bei, den „Zwischenbau", von dem Rudolf von Gneist gern als Gelenkbändern zwischen Staat und Gesellschaft spricht, zu verstärken und zu ergänzen, was einer mehrfach von ihm erhobenen Forderung entspricht (Die nationale Rechtsidee von den Ständen, S. 180, 182, 255 u. 262). 51
3. Die repräsentative Funktion organisierter Interessen
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schaft — u m diese Abbreviatur wieder zu benutzen — auf den Gebieten des Privatrechts vollzog. Dieser Vorgang ist seit langem abgeschlossen. Sein Träger war die individualistische bürgerliche Gesellschaft, und ihre Interessen waren private, individuelle Interessen. Die (im Raum des öffentlichen sich vollziehende) Repräsentation dieser Gesellschaft gegenüber dem Staat 5 3 und die Wissenschaft von dieser Repräsentation mußten darum daran festhalten, daß Interessen wohl privatrechtlich vertreten, aber nicht öffentlich-rechtlich repräsentiert werden können 5 4 . Diese Wissenschaft ist retrospektiv, und es ist ein Zeugnis für ihre Größe, daß auf sie i n vollem Sinn das große Wort Hegels von der Eule der Minerva zutrifft, die „erst m i t der einbrechenden Dämmerung" ihren Flug beginnt 5 5 . Darum konnte sie m i t solcher Vollendung i n der Systematik von ihrem Gegenstand handeln; darum die hohe und bewundernswerte formale Schönheit ihres Systems, die einer auf das Gegenwärtige und seine Improvisationen gerichteten Analyse unerreichbar ist. Es gibt Archetypen menschlicher Bewußtseinsinhalte, die auf dem Grunde alles politischen Lebens wirksam sind: die E h r e gab der Monarchie und der feudal-ständischen Ordnung ihren Gehalt und ihren Glanz 5 6 ; die T u g e n d war die Zierde der Republik 5 7 . Das Gewicht der I n t e r e s s e n scheint das konstitutionelle Merkmal unserer gegenwärtigen Weltstunde zu sein 5 8 . Es ist ein ganz unromantisches 53 Z u m Begriff des Adressaten der Repräsentation vgl. Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 45, und Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 44; ferner Leibholz, a.a.O., S. 40 ff. 64 Vgl. u. a. Leibholz, a.a.O., S. 182 ff.; Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 98 Anm.; Forsthoff, Die Wirtschaftsverfassung, in Ratgeber von Parlament und Regierung, S. 132 und 137, und in Forsthoff, Loewenstein, Matz, Die politischen Parteien i m Verfassungsrecht, S. 8; Grewe, Parteienstaat — oder was sonst? in „Der Monat", 3, 1951 (Heft 36), S. 573. Ulrich, Scheuner hat dagegen schon hervorgehoben, daß die R e p r ä s e n t a t i o n und Ausbalanzierung der verschiedenen politischen und sozialen Kräfte . . . bei den Parteien und I n t e r e s s e n g r u p p e n liegt (Der Bereich der Regierung, in der Festgabe für Rudolf Smend, 1952, S. 280; Sperrung durch mich). 55 Α. E. der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts. 56 Vgl. statt anderer Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 55 und 84. 57 Vgl. Montesquieu, V o m Geist der Gesetze, Vorerinnerung (in der von Ernst Forsthoff besorgten Ausgabe, Bd. I, S. 3) und Buch I I I , Kap. 3 (a.a.O., Bd. I, S. 34 ff.), vgl. auch Kap. 5 ff. (S. 38 ff.) über die Ehre als Prinzip der Monarchie; Forsthoff, Der moderne Staat und die Tugend, Tymbos für W i l helm Ahlmann, Berlin 1951, S. 80 ff.; vgl. auch Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, München 1851, S. 182, wo die Tugend als Prinzip der Repräsentativdemokratie erscheint. 58 Wichtiger als die Tugend der Regierenden sind schon für Tocqueville ihre Interessen, die denen des Volkes nicht entgegenlaufen dürfen (De la Démocratie en Amérique, I, S. 243; vgl. oben I I , 5, Anm. 6).
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Organisierte Interessenwahrnehmung als Repräsentation
und keineswegs heroisches Prinzip. Man mag davor zurückschrecken, wie man vor den nackten Formen der abstrakten Malerei, den sachlich-nüchternen L i n i e n der modernen Architektur, den atonalen Klangfiguren der Zwölftonmusik und der Autonomie ihrer Dissonanzen erschrecken kann. Die Staats- und Verfassungslehre darf ihre Augen vor i h m nicht verschließen, denn Interessen, organisierte Interessen, sind eine politische Macht und eine konstitutionelle Realität.
Personenregister (Die Zahlen bedeuten die Seiten; kursiv gesetzte Zahlen verweisen auf Anmerkungen.) Abel, Wilhelm 113, 116, 121 Acheson, Dean 174 Adenauer, Konrad 260 Adorno, Theodor W. 114 Allemann, F. R. 250, 292 Alsop, Joseph 247 Altmann, Rüdiger 355 f. Apelt, K u r t 105, 108, 188 Arias, G. 65 Arnold, Franz Xaver 60, 133 f. Arnold, Thurman 70 Arzet, Robert 177 Asmussen, Hans 124 Atatürk, Kemal 149 Attila 122 Auburtin, Angèle 175, 176 /. Augustin, Gisela 122 Augustinus 65, 135 Bailey, Stephan Kemp 66, 264 Bakke, E. Wight 193 Bakunin, Michael 51, 52, 197 Ballerstedt, K u r t 91, 353 Barker, Sir Ernest 316, 319 Barkley, Alben W. 250 Barnhart, John D. 114 Barth, K a r l 127, 144 Baudin, Louis 64 f. Bayer, Hans 108 Beard, Charles A 66 f., 324 Bebel, August 42, 47, 208 Beischlag, Willibald 144 Bellarmin, Robert Kardinal 133 ff., 141 Bendix, Reinhard 186, 186 Bentley, Arthur F. 232, 258, 301 Berelson, Bernard 207 Berggrav, Eivind 59, 127, 127, 132, 144 Berth, Edouard 50 f. Bevan, Aneurin 197, 251 Billot, Louis 135 Binkley, Wilfred E. 72, 74, 76, 78 ff., 301 Bismarck, Otto von 108, 316
Blank, Martin 220 Bluntschli, Johann Caspar 363 Boasson, J. J. 306 Bodin, Jean 320 Böckler, Hans 86, 260 Böhm, Franz 178, 196 Böhm, Johann 256 Bogdanow, A. 10 Bold, Gottfried 93 Bonnett, Clarence E. 109 Boodin, John E. 344 Bopp, Eberhard 205 Borch, Herbert von 154 Bottai, Giuseppe 64 Bouvier-Ajam, Maurice 54, 57 Brady, Robert A. 13, 109, 291 Braun, Adolf 42, 208 Braun, K u r t 183 Brauweiler, Heinz 59 Brecht, Arnold 276 Breitling, Rupert 253, 354 Briand, Aristide 50, 158, 202 Briefs, Goetz 42, 44, 96, 166, 174, 193, 195, 195 f., 206, 258 Brinkmann, Carl 11 Brisch, Ulrich 24, 33, 185, 227, 245 > 334 Brunner, Otto 321, 363 Bryce, James 66, 78, 221, 223, 231, 311 Bûchez, P. J. Β. 33, 36 Buchheim, K a r l 233 Bühler, Ottmar 285 Bührig, Erich 306 Bullock, Alan 196 Burckhardt, Jacob 11, 182 Burckhardt, Walther 12, 119 Burdeau, Georges 230 f., 239, 308 Caetano, Marcello 325 Cahen-Salvador, Jean 310 Cardoso, J. Pires 35, 325 Carl August von Weimar 358 Cassau, Theodor 42 f., 57 Catlin, George 317 Chase, Stuart 66 f., 70, 72, 76, 82
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Personenregister
Chenot, Bernard 279 Childs, Harwood L. 214 Clauss, M a x Walter 149 Coker, Francis W. 316 Colbert, Jean Baptiste 33 Cole, G. D. H. 318 Commons, John R. 35 Comte, Auguste 47 Conde, Francisco Javier 329, 331 f. Cooke, Morris L. 193 Cooley, T. M . 301 Corry, J. A. 69, 289 Cortés, Donoso 11 Costamagna, Carlo 64 Coughlin, Father 77 Crawford, Kenneth G. 66, 72 Cummings, Homer 302 Dabin, Paul 139 Dahlgrün, Rolf 353 Dalley, F. W. 186 Daniel, Fernand 230, 231 Daugherty, Caroli R. 302 Dawson, Joseph Martin 265 Delouvrier, Paul 273 Detton, Hervé 298 Dewey, Thomas E. 76 Dibelius, Martin 132, 145 Dibelius, Otto 126, 127, 142, 146 Diehm, Hermann 144 Diem, Harald 144 Dimock, Gladys Ο. 301 Dimock, Marshall E. 14, 276, 301 Dinkelbach, Heinrich 196 Dittmar, Erwin 261 Djordjevic, Jovan 334, 338 Dolléans, Edouard 49, 53 Dollfuss, Engelbert 61 Dombois, Hans 307 Donnedieu de Vabres, Jacques 24, 154, 158, 268, 310 Doob, Leonard W. 214 Douglas, Paul H. 109 Draht, Martin 304 Dresbach, August 296 Drucker, Peter F. 12, 15, 96, 110, 184, 193, 203, 226, 299 Duguit, Léon 33 Duhamel, Jacques 231 Dunoyer, Charles 87 Durkheim, Emile 344 f. Duverger, Maurice 234
Eban, Abba 93 Ebel, Richard 203 Ebers, Godehard Joseph 140 Ehlers, Hermann 125, 307 Eickemeyer, Hellmut 287 Eisenhower, Dwight D. 250, 292 Eldersveld, Samuel J. 66 Elisabeth I. von England 136 Elliott, W. Y. 316 f. Engels, Friedrich 37, 39, 108, 333, 358 Erdmann, Rolf 10 Erhard, Ludwig 287 Eschenburg, Theodor, 100, 152, 157, 159, 239, 273, 293, 339, 350, 354, 361 Estep, Samuel D. 66 Eulenburg, Franz 11, 13, 20 Fahlbeck, Pontus E. 182 Fairless, Benjamin F. 110 Farley, M i r i a m S. 185, 204, 252 Fechner, Erich 189 Feine, Hans Erich 150 Ferreira, Emilia Α. 325 Fette, Christian 261 Fienburgh, Wilfried 171 Figgis, J. Neville 316 Fine, Nathan 115 Finer, Herman 289, 318 Finger, Hans Joachim 282 Fischbach, O. G. 163 Fischer, Anton, Kardinal 44 Forsthoff, Ernst 26, 104, 153, 200 ff., 216, 233, 261, 266, 279, 353, 357, 363 Franckel, Leo 52 Franco, Francisco 61, 329 ff. Frantz, Konstantin 60 Friedmann, Werner 212 Friedrich II., dtsch. Kaiser 136 Friedrich, Carl J. 218 Friedrich, Otto A. 353 Friesenhahn, Ernst 191, 296 Frings, Joseph Kardinal 123 f. Galbraith, John Kenneth 359 Galenson, Walter 197 Galloway, George B. 262 Gallup, George H. 220, 232 Gambetta, Léon 52 Garcia-Pelayo, Manuel 67 Gaudet, Hazel 207 Geffcken, Heinrich 342 f. Geiger, Theodor 86, 94, 117, 119, 216 f.
Personenregister Gemmel, Jakob 135 Gentile, Giovanni 64 Gerber, Emil 360 Gerber, Hans 160 Gerlach, Ernst Ludwig von 322 Gerlach, Leopold von 322 Giacometti, Zaccaria 136 Gierke, Otto von 9, 32, 316, 344 Gieseke, Paul 191 Giger, Hans Georg 192, 245 f. Gillmann, Franz 133 Giraud, Emile 310 G-leiss, Alfred 112 Glum, Friedrich 350, 352 Gneist, Rudolf von 131, 203, 312, 353, 362 Görres, Joseph 138 Goetz-Girey, Robert 34, 50, 54 Golden, Clinton S. 183 Goldstein, Joseph 252 Gompers, Samuel 90, 193 Gordon, Lincoln 276, 279 Gothein, E. 116 Grabendorff, Walter 163, 206 Grant, J. A 279, 324 Graves, W. Brooke 262, 264 f. Grazia, Alfred de 66, 266, 276, 276, 278 f., 301 f., 324 Greaves, H. R. G. 159 Gregor V I I . 136 Grewe, Wilhelm 160, 163, 178, 233, 244, 246, 309, 363 Griffith, Ernest S. 66, 68, 72, 81 f., 227, 264, 278 Griffuelhes, Victor 49 Grimm, Friedrich 307 Gross, Herbert 197 Grunwald, Günter 186 Guesde, Jules 47 Gurland, A. R. L. 269 Gurvitch, Georges 11 Hagge, Johannes 104 Hagmann, Hans Joachim 147 Hahn, Otto 287 Hall, William G. 40 Haller, Friedrich 205 Harper, Floyd A. 118 Hartmann, Gustav 42 Hartnett, Robert C. 216 Haug·, Martin 143, 250 Hauriou, Maurice 137, 177, 180, 310, 313, 346, 359
Hauschild, Harry 350 Hawkins, Carrol 317 Haynes, Fred E. 115 Heck, Philipp 342, 345 Heckel, Johannes 148 Hedemann, Justus Wilhelm 350 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 21, 27, 57, 112, 151, 219, 333, 344, 346, 363 Heidegger, Martin 11 Heilbronner, André 298 Heinemann, Gustav 22 Heinrich I V . 136 Heinrich, Walter 59 Heinrichsbauer, August 100, 188 Hekking, Francis 175, 291 Helms, E. Allen 78 Henrichs, Wilhelm 233 Hergenröther, Joseph 134 Hermens, Ferdinand A. 249 Herrfahrdt, Heinrich 59, 67 Herring, Pendieton 66, 174, 229, 231 Herschel, Wilhelm 306 Hessel· Philipp 261 Heuss, Theodor 360 Heydt, Fritz von der 144 Heyland, Carl 160 High, Stanley 145 Hill, Lee H. 193 Hintze, Otto 360 Hippel, Robert von 342 Hirsch, M a x 249 Hitze, Franz 42 Hobbes, Thomas 10, 165 Hook, Charles R. 193 Hoover, Herbert 28, 174, 301 Hubatsch, Walther 127 Huber, Ernst Rudolf 24, 65, 105, 192, 279, 285, 333 Huber, Hans 213, 358 Hudson, Robert S. 291 Hübner, Friedrich 299 Hueck, Alfred 189, 191, 201, 261 Hufnagel, Franz 298 Hurst, James Willard 302 Husen, Paulus van 294 f. Innozenz I V . 136 Ipsen, Gunther 118 Ipsen, Hans Peter 26, 104, 234 Jacobi, Erwin 191 James, William 20, 266
368
Personenregister
Jarres 196 Jaspers, K a r l 11 Jefferson, Thomas 113 Jellinek, Georg 138, 235 Jennings, Sir Ivor 289 ff. Jess, Edmund 155 Jhering, Rudolf von 341 f., 345 Joachimsen, Paul 321 Judkins, C. J. 22
Krummacher, F. W. 126 Küng, Emil 361 Küster, Otto 237 Kutsch, Hermann 279
Laband, Paul 233 L a Folette, Robert M . 115 L a Guardia, Fiorello H. 75 f. Lambach, Walther 226, 251, 253, 256, 257, 270 Kägi, Werner 303 Lamberet, Renée 54 Kardelj, Edvard 335, 337 Lamennais, Félicité de 138 Kaschani, Ayatulla 149 Lammers, Clemens 108 Kaskel, Walter 24, 188, 191, 201 Landshut, Siegfried 220 Kaster, H. L. 149 Lanzillo, Agostino 64 Kather, Linus 256 Laufenberg, H. 208 Kaufmann, Erich 268, 304 Lazarsfeld, Paiul F. 207 Kautsky, K a r l 38, 208 Laski, Harold J. 62, 87, 95, 158, 159, Kelsen, Hans 345 180, 194, 197, 202, 216, 290, 316 f., Kendziora, Johanna 239, 249 318, 319 Kent, F. R. 77 Lassalle, Ferdinand 41 f., 249 Kerr, Clark 185, 186, 189 ff., 193, 322 Lasserre, Georges 35, 58, 61 Lasswell, Harold D. 81 Kessler, E.J. 193 Latreüle, André 143, 150 Kessler, Gerhard 108 Laufenberg, H. 43 Ketteier, Wilhelm Emmanuel von Lazarsfeld, Paul F. 207 42, 60 Key, Vladimir O. 16, 66 ff., 98, 113 ff., Le Chapelier 32, 35 f. Lechtape, Heinrich 188 217, 268, 270, 276, 324 Lederer, Emil 42 Kiesinger, JKurt Georg 348 Lee, Alfred McClung 218 Kingsley, J. Donald 162 Leener, G. de 11 Kirby, John 19 f. Kirchheimer, Otto 18, 163, 269 Lefranc, Georges 36, 44, 49, 54, 216 Kissling, Johannes B. 144 Legien, K a r l 42, 47, 188 Kittel, Theodor 280 f. Lehr, Robert 27 Klein, Franz 10,13 f., 17, 345 Leibholz, Gerhard 26, 233, 234, 236 f., Klickovié, Sava 17 246, 255, 348, 353, 357, 363 Klinkhammer, Carl 124 Leibrock, O. 108 Kluth, Heinz 223 Leipart, Theodor 188 Knappstein, K a r l Heinrich 239 Leiserson, Avery 66, 276 ff., 291 Knur, Alexander 191 Lenin 119 Koellreutter, Otto 245 f., 252 Lens, Sidney 84, 87 König, René 120 Leo I . 122 Leo X I I I . 132, 133 Röttgen, Arnold 140, 148, 152, 160 Leonetti, Alfonso 54 Kogon, Eugen 358 Lepinski, Franz 295 Kohler, Josef 20 Leroy, Maxime 45 ff., 50 f., 53, 58, 83, Kolping, Adolf 42 87, 119 f., 154, 155 f., 158, 158, 160 f., Konstantin X I . 127 179, 319, 355 Korchin, Sheldon J. 207 Leslie, Shane 128, 129 Korum, Michael Felix 147 Lewis, Wyndham 51, 212 jKrakewitz, Eberhard von 279 Lieberman, Elias 107, 302 f. Kraus, Herbert 167, 342 f., 345 Liebknecht, Wilhelm 42, 108 Kriesberg, M a r t i n 207 Lilje, Hanns 146 Kronstein, Heinrich 98
Energiewirtschaft Linden, Heinz 67, 73 f., 77, 227 Lippmann, Walter 218 List, Friedrich 11 Liszt, Franz von 342 Lodge, Henry Cabot 302 Loewenstein, Karl 234, 255, 259, 309, 349, 363 Ludlow, J . M . 37 Ludwig X I V . 33 Lütge, Friedrich 350 Lüttke, G. 322 Lukaschek, Hans 274 Lurton, Horace H. 302 Luther, Martin 144 f. Lynd, Robert S. 13 Maccarone, Michele 151 MacDonald, D. F. 186 MacDonald, Ramsay 40 MacDougall, Curtis D. 212 Maclver, Robert M. 70, 81 Mackenzie, W . J . M . 278 Madison, James 67 Mäher, Ahmed 148 Maitland, F. W. 316, 319 Maiwald, Serge 165, 312 Makarios, Erzbischof 128 Man, Hendrik de 120, 179 Mandel, Milton M . 162 Mangoldt, Hermann von 200 Manigk, Alfred 341, 345 Mannheim, E. 213 Manning, Henry Edward Kardinal Manning, Henry Edward, Kardinal 128 f. Manoilesco, Mihail 57 Mansfield, Harvey C. 66, 162 Marbach, Fritz 120 Marshall, John 301 Martin, Edward M . 301, 304 Martin, Kingsley 230 Martini, Winfried 212 Marx, K a r l 37, 39, 41, 90, 97, 109, 190, 333, 336 Mason, Alpheus T. 20 Matz, Werner 234, 255, 363 Maunz, Theodor 233, 237 May, Thomas Erskine 256 McArthur, Dougla 184, 204 McCune, Wesley 115 McDonald, John W. 66, 227 McDougall, William 344 McEntee, Georgiana P. 128 24
Kaiser, Repräsentation
369
McFarland, Carl 302 McHargue, Daniel S. 302 McKean, Dayton David 21 f., 28, 66 ff., 109, 113, 115 ff., 131, 145, 174, 206, 218, 236 f., 275, 301 Meinhold, Wühelm 117 Menger, Christian-Friedrich 234 Merkel, Adolf 341 Merkl, Adolf Julius 60, 60, 179 Merry del Val, R. 133 Merton, Richard 286 Messner, Johannes 57, 60, 63 f. Michells, de 63 Michels, Robert 11 Mill, John Stuart 233 Milne-Bailey, W. 34, 159 Mohammed I I . 127 Mohl, Robert von 360 Möhler, Armin 17 Montesquieu 293, 300, 304, 305 f., 363 Moore, Wilbert 11 Moos, Malcolm C. 72, 74, 76, 78 f., 81 f., 301 Moran, William T. 204 Morrison, Herbert 171 Morstein Marx, Fritz 157, 162, 276, 347 Mosca, Gaetano 24, 250 Moscow, Warren 22, 66, 74/., 174, 227 Mosher, William E. 162 Moskovljevitsch 337 Mowinkel, M. 127 Muckermann, Richard 104 Müller, Gerhard 261 Müller, Hermann 42 Müller-Erzbach, Rudolf 342, 345 Müller-Hermann, Ernst 220 Murat, Auguste 64 Murray, Philip 110, 193 Mussolini, Benito 63 Myers, Charles A. 197 Namrn, Benjamin H. 197 Napoleon I. 34, 150 Napoleon I I I . 45, 47 Nasser, Gamal Abdel 148 Natbusius, von 237 Nebinger, Robert 201 Nell-Breuning, Oswald von 60, 196 Nestriepke, Siegfried 42 f. Neumann, Carl 353 Neumann, Sigmund 246, 253 Newcomer, Mabel 164 Niemann, Ursula 362
370
Personenregister
Niemöller, Martin 142 Nikisch, Arthur 24, 189 ff., 192, 200 f., 261, 294 f. Nipperdey, Hans Carl 23, 189, 201, 260 Nokraschi Pascha 148 Nürnberger, Richard 145 Odegard, Peter H. 66, 78 Odent, Raymond 298 Ogle, Marbury Bladen 214 Olivier-Martin, M. 33 Ollero, Carlos 349 O'Mahoney, Joseph C. 98 Ortega y Gasset, José 11 Orzack, Louis H. 291 Osman, Amin 148 Ottaviani, Alaphridus 132 ff., 137 f., 138, 249
1341,
Padberg, K u r t 116 Papovic, M . J . 128 Parker, John H. 301 Partsch, K a r l Josef 227 Pasdermadjian 13 Pekelis, Alexander H. 149, 269, 305 Pelloutier, Fernand 50 Périer, Casimir 154 Perlman, Selig 90 f., 193 Peron, Evita 212 Perroux, François 63 Pétain, Henri Philippe 61 Peter, Hans 227 Peters, Hans 134, 280, 298 Phillips, G. Godfrey 157, 276 , 278, 279, 289 ff. Pholien, Joseph 293 Pietzsch, Albert 105 Pinay, Antoine 180 Pirker, Theo 357 Pirou, Gaétan 50 Pius V. 136 Pius V I I . 34 Pius I X . 133 Pius X. 136 Pius X I . 59, 138, 138 Pius X I I . 96, 124, 137, 139 Poincaré, Raymond 156 Polanyi, Michael 301 Pollock, James K. 66, 175 Pouget, Emile 49 Poujade, Pierre 243 Pound, Roscoe 20 Premer, H. 353
Proudhon, Pierre Joseph 41, 45 ff., 51, 120, 333 Purcell, Edmund Sheridan 128 Quarck, M a x 42 Queiro, Alfonso Rodrigues 325 Quesnay, François 33 Quisling, Vidkun 127 Rabus, Günther 234, 237 Radbruch, Gustav 235 Ramadier 179 Ramsay, John G. 99 Rathenau, Walter 11 Raymond, Pierre 231 Read, Horace E. 227 Redeker, Κ . 105 Redlich, Joseph 177 Reed, Douglas 252 Reif, Hans 234, 237 Reining, Henry 162 Renan, Ernest 339 Reuther, Walter P. 91 Reynolds, Lloyd G. 302 Riesmann, David 214 Ripert, Georges 64, 158, 213, 230, 239, 267, 272 Roach, J. O. 157, 160 Roberts, Justice 305 Robson, William A. 169, 170, 194, 251, 276, 278 f., 296, 297, 351 Roche, M. J. 158 Röpke, Wilhelm 103 Rogers, Lindsay 232 Rogin, Lawrence 99, 182 Romano, Santi 313 Romberg, W. 191 Roosevelt, Franklin D. 28, 75, 77, 162, 305 Roosevelt, Theodore 226, 302, 302 Rosenstiel, Frederick H. 118 Roucek, Joseph S. 214, 231 Rousseau, Jean-Jacques 31 f., 218 f., 221, 233, 234, 306, 309, 336, 359 Roux, P.C. 33, 36 Rümelin, Max 342 Rutkowski, H. 298 Saint-Simon, Henri de 47, 87, 168, 170, 286, 333, 355 Salazar, Antonio de Oliveira 61, 63, 65, 324 f., 328 Sânchez Agesta, Luis 326 Santos, Peirera dos 239
Personenregister Sarter, Adolf 280 f. Sauvy, Alfred 211 f. Say re, Wallace S. 162 Sceüe, Georges 61, 62, 64, 170, 179, 344 Schäfer, Hans 201 'Schäffer, Fritz 237 Schattschneider, Elmer E. 66, 72, 248 Scheler, Max 55, 58, 60 Schelsky, Helmut 223, 224 Schempp, Paul 141, 249 Scheuner, Ulrich 125, 160 f., 178, 199, 200, 203, 222, 240, 246, 255, 300, 306, 355, 363 Schiefer, Jack 42
Small, Albion W. 21 Smend, Rudolf 140, 339, 356 Smith, Adam 35, 97, 98, 100, 106 Sohm, Rudolf 144 Sombart, Werner 10, 38, 41, 42, 50, 55, 58 Sorel, Georges 45, 48, 50, 51, 54, 260 Spann, Othmar 55, 56, 57, 58, 321 Spencer, Herbert 13 Spengler, Albrecht 100, 102, 299 Spengler, Oswald 11 Spirito, Ugo 64 Spranger, Eduard 131 Stadtmüller, Georg 128 Schindler, Dietrich 161, 201, 202, 220, Stahl, Friedrich Julius 146 224, 228, 259, 322 f., 356 Stahl, O. Glenn 162 Schlatter, Adolf 142, 250 Stammler, Rudolf 20, 346 Schmid, Carlo 20, 186, 348 Stanley, Sir Oliver 291 Schmidt, Arthur Benno 342 Steck, K a r l Gerhard 124 Schmidt-Rimpler, Walter 191, 345 Stein, Lorenz von 67, 339 f., 362 Schmitt, Carl 11, 31, 51, 90, 130 ff., Steltzer, Theodor 353 150, 152, 160, 182, 207, 207, 210, 212, Sternberger, Dolf 253 218, 220, 221, 225, 234, 240, 249, 254, Stevenson, Adlai E. 250 266, 281, 283, 285, 295, 304, 306, 312, Stinnes, Hugo 188 313 ff., 316, 346, 352, 356 f., 360, 363 Stödter, Rolf 123 Schmölders, Günther 174 f., 177, 179 Stoll, Heinrich 342, 345 Schmoller, Gustav 13 Stone, Julius 20 Schnur, Roman 279 Strakosch, Siegfried 23, 116, 122 Schnutenhaus, Otto R. 10, 13 Strauß, Walter 350 Schoen, Xaver 298 Street, Sir Arthur 171 f., 276, 279 Schönfeld, Walther 130 Strickrodt, Georg 104 Schriftgiesser, Karl 66, 262, 264 ff. Sturzo, Luigi 318 Schüle, Adolf 156, 199, 278 Stutz, Ulrich 150, 210 Schultz, Theodore W. 118 Süsterhenn, Adolf 147, 201 Schulze-Delitzsch, Hermann 41 Sulzbach, Walter 246 Schumacher, Kurt 95, 238 Tänzler, Fritz 108, 188 Schumpeter, Joseph A. 214, 238, 246, Taft, Robert 250 249, 266 Schweitzer, Jean Baptiste von 41 Tannenbaum, Frank 110 Tatarin-Tarnheyden, Edgar 59 Schwer, Wilhelm 60 Taube, Otto von 149 Seidel, Richard 42 Teixeira Ribeiro, José Joaquim 35, 55, Seipel, Ignaz 347 58, 62, 63, 179, 3 2 5 1 Sharp, Dame Evelyn 157 Teutsch, August 295 Shaw, George Bernard 40 Thadden-Trieglaff, Reinold von 146 Shawcross, Sir Hartley 204 Thielicke, Helmut 145 Sieburg, Friedrich 213 Thomas von Aquin 135 Siegfried, André 113, 145 Thygesen, Engdahl 127 Siéyès, Emmanuel 32, 45 f. Timpe, Ernst 133 Simon, Herbert A . 1 3 Tito 61, 336 Singer, Josef 350, 352 Tocqueville, Alexis de 11, 17, 18 f., 66, Sitzler, Friedrich 306 68 f., 70, 79, 81, 153, 311 f., 312, 319, Sixtus V. 134 363 Slichter, Sumner H. 95
372
Personenregister
Tönnies, Ferdinand 11, 58, 212, 229, 231 Törnvall, Gustav 144 Tolain 216 Triepel, Heinrich 233, 245, 247, 251, 342 Troeltsch, Ernst 11, 132, 144 Trotabas, Louis 164 Truman, David B. 21, 66, 84 f., 105, 109, 175, 206 f., 231, 245, 248 f., 301 ff. Truman, Harry S. 110 Turegg, Kurt Egon von 105 Turner, Julius 71 Ule, Carl-Hermann 244 Umbreit, Paul 42 Upson, Lent D. 174 f. Urban V I I . 134 van der Velden, Josef 60 Veraart, J. J. M . 362 Voegelin, Erich 131
Weber, Alfred 260 Weber, Max 11, 51, 56 f., 58, 106, 120, 153, 239, 241, 245, 247, 340 f., 346 Weber, Werner 26, 91, 123, 131, 139, 151 f., 213, 215, 217, 234, 236, 238, 269, 284, 293, 303, 314, 324, 358 Wehr, Matthias 147 Wehrhahn, Herbert 215 Weisser, Gerhard 287 Wengler, Wilhelm 343 ff. Wernicke, Kurt Georg 200, 260, 323 Wessel, Helene 22 White, Allen 82 Wiese, Leopold von 20 Willoughby, William F. 302 Wilson, Woodrow 73 Wissel, Rudolf 32 Wolf, Ernst 144 Wolff, Ernst 289, 298 Wolff, Hans J. 355 Wolgast, Ernst 182 Wünsch, Georg 144, 322
Yalçin, Selçuk 24 Wade, E. C. S. 157, 276, 278, 279, 289 ff. Young, G. M. 324 Waldeck-Rousseau, René 53 Zeller, Belle 66, 263 f. Walker, Harvey 262 Webb, Sidney und Beatrice 33, 34 ff., Zink, Harold 66, 71, 74, 76 f., 79, 213, 39, 84, 193 248, 270, 302 f., 305 Weber, Adolf 117,217 Znaniecki, Florian 11, 20 f.
Sachregister (Die Zahlen bedeuten die Seiten; kursiv gesetzte Zahlen verweisen auf Anmerkungen) Absolutismus 63, 151 action directe 49, 84 f., 161, 201 Ägypten 148 f. Akklamation 218 f., 225 Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein von 1863 41 Allgemeinverbindlicherklärung 189 ff., 192, 277 American Bar Association 21, 76 American Federation of Labor (AFL) 75, 84, 90, 109, 163, 167 American Political Science Association 262 Antiklerikalismus 150 Arbeiterbewegung 37 ff., 83, 109; -klasse, -stand 10, 57 f., 85 ff., 92, 184, 191, 225; -revolten 39 Arbeitgeber 21 ff., 58, 60, 85, 96-112, 184 ff., 208; Staat kein -verband 161 Arbeitsgerichtsbarkeit 155, 293 ff. Arbeitskampf 36, 39, 41, 49, 92 ff., 108, 161, 182, 322 f. (s. auch Streik und Aussperrung) Arbeitsorganisation, Internationale (International Labor Organization — I L O —) 167 Argentinien 212 Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung 178 f. Aussperrung 182, 200-203, 204, 260, 322 Bankgewerbe 97, 111, 179 Bauern, -stand 10, 22, 86, 106, 112-122; -verbände in Deutschland 120 f., 188; -verbände in U S A 72, 77, 80, 115, 173, 302 f. Bayerischer Senat 350, 352 f. Beamtenstand 73, 144, 151-164; -gewerkschaft 155 ff.; -hierarchie 176; Bundesbeamtengesetz von 1953 156, 161; Deutscher Beamtenbund 87, 155, 217
Belgien 53, 293 Berufsstände 57 ff. (s. auch Stand) Betriebsverfassungsgesetz von 1952 16, 164, 261 Boards 171 ff., 194, 198, 275 ff. Bundesnotenbank 284 f. Bundesverband der Deutschen Industrie 101, 110, 112, 168 Bundesverfassungsgericht 137, 235, 303 Bürgerrechtsbewegung 21 f., 240, 272; American Civil Liberties Union 21, 303; Deutscher Bund für Bürgerrechte 160, 178 Bürgertum 50 ff., 84 f., 86 (s. auch Dritter Stand) Bürokratie 15, 109, 164, 274 f. Calv'inismus 145, 175 Christlich Demokratische Union (CDU) 115, 253 Clayton Act von 1914 107 Congress of Industrial Organizations (CIO) 81, 110, 163, 250 Congress Reorganization Act von 1946 228, 262 f. Dänemark 117 Demokratie 12, 19, 20, 28 f., 71, 81 f., 90, 92, 130, 138, 146, 150, 152 f., 180, 197, 224, 243 f., 311, 313, 360; unmittelbare — 218 f.; Demokratisierung 11, 152, 358 Demonstration 35, 214, 228, 356; -sfreiheit 260 Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) 87, 101 Deutsche Bundesbahn 155 f., 280 ff., 285 Deutsche Bundespost 280 Deutscher Bauernverband 120 f. Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) 16, 86, 87, 88, 92 f., 95 f., 101, 110, 194, 216 f., 245, 253, 260, 261
874
Sachregister
Deutscher Industrie- und Handelstag
101, 110, 112
Deutscher Haiffeisenverband 122 Dritter Stand 34, 36, 45 f., 56 Drittes Reich 113, 150, 208, 251, 332 f. (s. auch Nationalsozialismus) Ehre 9, 57 f., 336, 363 Ehrengerichtsbarkeit 296 ff. Eisenbahnergewerkschaft 155; -streiks 158, 202 Elite 15 f., 209 England 28, 128, 238, 317 ff.; Arbeiterbewegung 33 ff., 39 ff., 87; Boards 170 ff., 193 f., 275, 278 f.; Civil Service 156 f., 159 f., 194, 289; Commissions und Committees 289 ff., 361 f ; Generalstreik von 1926 159, 204; Gewerkschaften 36 f., 39 f., 52, 58, 84, 85, 92, 94 t, 193 f., 196, 252; Guild Socialism 318; House of Commons 72, 288; House of Lords 16; Industrie 170 ff.; Labourparty 39, 40, 236, 249, 251; Landwirtschaft 117; Steuerzahler 177 Entnazifizierung 296 Enzykliken 208; „Gravissimo Officii" 136; „Quadragesimo anno" 57, 59 ff., 347; „Rerum novarum" 57; „Vehementer Nos" 136 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 167 f., 173 Evangelische Kirche in Deutschland (EyKD) 123 f., 142 f. Evangelischer Bund 22, 143, 144 Exekutive 213, 225, 267-292, 306 Faschismus 61, 64, 321, 332 Fernsehen 222 F i l m 93, 198, 212, 214, 218, 229; -Selbstkontrolle 104, 198 Finnland 273 Föderalismus 18, 22, 109 Frankreich 31 ff., 67 f., 194, 197; Charbonnages de France 168 ff.; compagnonnages 44 f., 62; Conseil National Economique von 1925 170, 350; Eisenbahnerstreik von 1910 202; Generalstreik von 1920 161; Industrie 100, 168 ff., 173; Kirche 136, 147; Korporativismus 58, 61 f., 279; Landwirtschaft 113, 117, 119; öffentlicher Dienst 163; Presse
und öffentliche Meinung 179 f., 212, 213, 229 ff.; Steuerzahler 177, 243; Syndikalismus 44 ff., 84, 90, 154, 158 f.; tripartisme 196; Verbandsgerichtsbarkeit 297 f. Französische Revolution von 1789 18 f., 30 f., 33 f., 36, 51, 56, 63, 120, 267, 312 f. Frauen ver bände 22, 198 Freimaurerei 79 f. Fünfte Kolonne 79, 136, 252 Gemeineigentum 334 (s. auch Verstaatlichung) General Combination Act von 1799 34, 35 Generalstreik 36, 49 ff., 53 f., 83, 85, 128, 201, 204, 242, 260 (s. auch Streik) Genossenschaften 14, 39, 44, 48, 118, 121 f., 166; Erzeuger- 48 (s. auch Verbrauchergenossenschaften) Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) 22 Gesamtdeutscher Block, Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) 252 f., 256, 292 Gesellschaft und Staat 28, 69 f., 93, 131, 153 f., 267, 269, 308 ff., 338 f., 355, 359 f., 362 f. Gewaltenteilung 304 ff., 359 Gewerbe 22, 96 ff., 111, 114f., 117, 179, 188 Gewerkschaften 10, 14, 21 ff., 27, 57, 58, 60, 83-96, 225, 294; christliche — 42, 44; Einheitsgewerkschaft 38; — und Gemeinwohl 245; Geschichte 37 ff.; Stellung in der Gesellschaft 115, 131; Hirsch-Dunckersche — 42; Verhältnis zu Kirche und Parteien 205 f., 208 f., 241; Kultur- und Schulungsarbeit 95 f., 216 f.; — und Landwirtschaft 116, 118 f.; — des öffentlichen Dienstes 155 ff.; Einfluß der — auf die öffentliche Meinung 213 f.; — und (Öffentlichkeit 226 ff.; parteipolitische Neutralität der — 208, 250, 254; — und Staat 41, 161, 316 f.; — und Streik 41, 47, 128, 204; — und Unternehmer 105 f t , 161, 182 ff