Die rechtzeitige Unterrichtung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen: Eine interdisziplinäre Untersuchung im Lichte der deskriptiven Entscheidungstheorie [1 ed.] 9783428545896, 9783428145898

Robert Rentsch widmet sich der interdisziplinären Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs »rechtzeitig« und dami

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German Pages 286 Year 2015

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Die rechtzeitige Unterrichtung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen: Eine interdisziplinäre Untersuchung im Lichte der deskriptiven Entscheidungstheorie [1 ed.]
 9783428545896, 9783428145898

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 326

Die rechtzeitige Unterrichtung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen Eine interdisziplinäre Untersuchung im Lichte der deskriptiven Entscheidungstheorie

Von

Robert Rentsch

Duncker & Humblot · Berlin

ROBERT RENTSCH

Die rechtzeitige Unterrichtung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Jacobs, Hamburg Prof. Dr. Rüdiger Krause, Göttingen Prof. Dr. Sebastian Krebber, Freiburg Prof. Dr. Thomas Lobinger, Heidelberg Prof. Dr. Markus Stoffels, Heidelberg Prof. Dr. Raimund Waltermann, Bonn

Band 326

Die rechtzeitige Unterrichtung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen Eine interdisziplinäre Untersuchung im Lichte der deskriptiven Entscheidungstheorie

Von

Robert Rentsch

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Göttingen hat diese Arbeit im Wintersemester 2013/2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-14589-8 (Print) ISBN 978-3-428-54589-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84589-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Hat der Mensch einmal eine Meinung angenommen, […], so zieht er alles heran, um diese zu bestätigen und mit ihr zusammenzustimmen. Und selbst wenn sich für das Gegenteil mehr und weit bessere Beweise anbieten, so wird er diese mit großer und schädlicher Voreingenommenheit ignorieren, verdammen oder sie durch Spitzfindigkeiten als irrelevant betrachten, auf dass die Autorität seiner ersten Annahme ungeschmälert erhalten bleibe.“ Francis Bacon (1620), The new organon, Aphorism 46

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Rüdiger Krause und wurde im Wintersemester 2013/2014 von der juristischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Sie berücksichtigt die Rechtsprechung und Literatur, die bis zum November 2014 veröffentlicht wurde. Ganz herzlich danken möchte ich zunächst meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Rüdiger Krause, für die schöne und lehrreiche Zeit an seinem Lehrstuhl und seine umfassende Unterstützung meines Promotionsvorhabens. Ebenfalls möchte ich Herrn Prof. Dr. Olaf Deinert für seine hervorragenden Einführungsvorlesungen zum Betriebsverfassungsrecht und für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens danken. Ich hatte zudem das große Glück, zu Beginn der Promotionszeit meine Partnerin Alena Becker kennenzulernen, die die Auseinandersetzung mit der deskriptiven Entscheidungstheorie vorgeschlagen und weitere wichtige fachliche Anregungen gegeben hat. Dafür und auch für ihre verständnisvolle Unterstützung während der Entstehung der Arbeit bin ich ihr zu tiefem Dank verpflichtet. Ich widme die Arbeit meinen Eltern, Adelheid Rentsch und Dr. Detlef Rentsch, die mich mein ganzes Leben lang bedingungslos und liebevoll unterstützt haben und denen ich mehr verdanke, als ich es hier mit Worten auszudrücken vermag. Frankfurt im März 2015

Robert Rentsch

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Zentrale Aspekte und Eingrenzung der Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 § 2 Allgemeiner Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 A. Methodische Grundlagen der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe . . . . 21 I. Juristische Methodenlehre als Fachhermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Rechtserkenntnis und Rechtschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Die Rationalität der Normkonkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Die Legitimation richterlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Objektive Werterkenntnis und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 IV. Wirklichkeit in der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. „Normtatsachen“ im Obersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Grenzen der Wirklichkeitsrezeption bei der Normbildung . . . . . . . . . . . . 47 3. Exkurs: Prozessuale Rahmenbedingungen von Normtatsachen . . . . . . . . 48 a) Amtsermittlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Freibeweisverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 V. Zusammenfassung der methodischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Grammatikalische und systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 III. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Zweck der rechtzeitigen Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Konkretisierung der grundlegenden Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Entgegenstehende Interessen des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Normtatsachen: Entscheidungsprozesse aus betriebswirtschaftlicher und psychologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Eingrenzung der relevanten Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 65

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Inhaltsverzeichnis b) Grundstruktur unternehmerischer Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . 67 aa) Entscheidungen als kognitive Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 bb) Empirische Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 cc) Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes . . . . . . . . . . . . . . . 72 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 c) Betriebswirtschaftliche Planungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 d) Deskriptive Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) Gegenstand der deskriptiven Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . 80 (1) Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 (2) Abgrenzung: Behavioral Law and Economics . . . . . . . . . . . . . 83 (3) Gesetzgeberisches Verhaltensmodell und Fokus der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Theoretischer Hintergrund und empirische Nachweise . . . . . . . . . 86 (1) Individualentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (a) Dissonanzphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (aa) Post decisional dissonance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 (bb) Dissonanz vor der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 (cc) Selektive Informationssuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (dd) Verzerrte Informationsbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (b) Sunk-cost-effect . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (c) Urteilsheuristiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (2) Gruppenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (a) Kollektive Defensivstrategien: groupthink . . . . . . . . . . . . 101 (b) Gescheiterte Integration verteilten Wissens: hidden profile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (3) Symptomatik im Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (4) Arbeitsteilige Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (a) „Atomisierung“ von Entscheidungsprozessen . . . . . . . . . 110 (b) Interdependenz der Subprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 (c) Determinierung des Finalentschlusses . . . . . . . . . . . . . . . 112 cc) Gesamtschau: Hindernisse für die Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (1) Defensivstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (2) Betriebswirtschaftliche Hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Unterrichtung nach dem Entschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Nach der Alternativenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Vor der Alternativenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Inhaltsverzeichnis

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d) Unterrichtung vor der Alternativenermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Beginn der Alternativenermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Entschluss zur Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 bb) Arbeitgeberinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 § 3 Besonderer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Beschäftigungspolitische Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Mitbestimmung als Instrument der Wirtschaftsförderung . . . . . . . . . . 131 b) Normative Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Normtext und Erwägungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Gesetzesmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 II. Die Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses gemäß § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Funktion des Wirtschaftsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Der Einfluss der Rahmenrichtlinie 2002/14/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Umsetzungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Unterrichtungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Meinungsstand zum Unterrichtungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (1) Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (2) Bundesarbeitsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (a) Entscheidungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (b) Keine weitere Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (3) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 cc) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (1) Ergebnisbezogene Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (2) Prozessbezogene Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 aa) Argumente für eine ergebnisbezogene Mitbestimmung . . . . . . . . . 155 bb) Unterrichtung nach dem „Abschluss der Vorüberlegungen“ . . . . . 156 cc) Anforderungen an die Möglichkeit zur Einflussnahme . . . . . . . . . 158 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

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Inhaltsverzeichnis III. Die Unterrichtung über Anteilsveräußerungen gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Hintergrund und Regelungsvorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Rechtslage vor der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4. Einflusspotential des Wirtschaftsausschusses und Beratungspflicht . . . . . 166 a) Inhabergeführte Unternehmen (Familienunternehmen) . . . . . . . . . . . . 166 b) Freiwillige Einbeziehung der Unternehmensleitung . . . . . . . . . . . . . . . 167 c) Keine Einbeziehung der Unternehmensleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Kenntniserlangung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Beratung mit dem Wirtschaftsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 d) Zusammenfassung und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5. Unterrichtungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Einbezogene Unternehmensleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Bieterverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (1) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (a) Interessenbekundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (b) Verhandlungsexklusivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (c) Finale Verhandlungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 bb) Exklusivverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Ausgeschlossene Unternehmensleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 IV. Unterrichtungszeitpunkt bezüglich geplanter Betriebsänderungen (§ 111 S. 1 BetrVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 aa) Rechtsprechung der sechziger und siebziger Jahre . . . . . . . . . . . . 185 bb) Rechtsprechung ab 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (1) Wechsel zur ergebnisbezogenen Mitbestimmung . . . . . . . . . . . 187 (2) Umfang des erforderlichen Beteiligungsverfahrens . . . . . . . . . 189 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 aa) Ergebnisbezogene Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 bb) Prozessbezogene Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Gegenstand der Unterrichtungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 aa) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 bb) Verhältnis zum Wirtschaftsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 cc) Entscheidungsträger und Konkretisierungsgrad des Beschlusses . . 197

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dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 b) Mindestzeitraum bis zur Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 aa) Zwei Wochen vor Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 bb) Orientierung an § 112 Abs. 2 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Unterrichtungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Mehrstufige Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 d) Der Einfluss der Richtlinie 2002/14/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 V. Der Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 VI. Die Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 90 Abs. 1 BetrVG . . . . . . . . . 209 VII. Personalplanung und der Zeitpunkt der Betriebsratsunterrichtung (§ 92 BetrVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Personalplanung in betriebswirtschaftlicher Forschung und Praxis . . . . . 212 2. Personalplanung im Sinne des § 92 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Die Beratung im Sinne von § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Unterrichtungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Unterrichtung nach dem Abschluss der Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Unterrichtung über den Entschluss zur Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 VIII. Die Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 105 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . 219 B. Vorschriften außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 I. Zeitpunkt der Unterrichtung über Massenentlassungen gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Die Urteile des EuGH zum Beginn des Konsultationsverfahrens . . . . . . . 222 a) Rechtssache „Junk“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Rechtssache „Fujitsu Siemens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 aa) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 bb) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Der Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 II. Die Unterrichtung Europäischer Betriebsräte gemäß §§ 29, 30 EBRG . . . . . 231 1. Die Vorgaben der RL 2009/38/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Unterrichtungszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 III. Die Unterrichtung von SE und SCE-Betriebsräten (§§ 28, 29 SEBG und SCEBG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

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Inhaltsverzeichnis C. Spannungsverhältnis mit der Kapitalmarktpublizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 I. Die Ad-hoc-Publizität nach § 15 Abs 1 WpHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. Kursbeeinflussungspotential arbeitsrechtlich relevanter Maßnahmen . . . . 239 2. Planungen als Insiderinformation i. S. v. § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG . . . . . 240 3. Befreiung von der Publizitätspflicht und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . 241 II. Konflikte mit arbeitsrechtlichen Unterrichtungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . 243 III. Auflösung des Spannungsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Vorverlagerung des Beteiligungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Selbstbefreiung von der Publizitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Berechtigte Interessen des Emittenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 b) Keine Irreführung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 c) Gewährleistung der Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

§ 4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 A. Allgemeiner Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 B. Besonderer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

§ 1 Einleitung Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist der unbestimmte Rechtsbegriff „rechtzeitig“, der in einer Vielzahl von Vorschriften1 den Zeitpunkt für die Beteiligung des Betriebsrates2 kennzeichnet. Erfasst ist ein breites Spektrum unternehmerischer Entscheidungen. Die Bandbreite reicht von Unfallverhütungsmaßnahmen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) über den Erwerb einer Kontrollmehrheit am Unternehmen (§ 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG) bis hin zu Massenentlassungen (§ 17 Abs. 2 S. 1 KSchG). Dabei handelt es sich fast ausnahmslos3 um Mitwirkungsvorschriften. Führt der Arbeitgeber ein ordnungsgemäßes Beratungsverfahren durch, kann er seine Entscheidung auch gegen den Willen des Betriebsrates umsetzen. Von Rechts wegen4 steht letzterem zur Wahrung von Arbeitnehmerinteressen somit lediglich die Kraft seiner im Rahmen des Beratungsverfahrens vorgebrachten Argumente zur Verfügung. Rechtsprechung und Literatur sind sich deswegen im Ausgangspunkt einig: Die Unterrichtung ist nur rechtzeitig, wenn der Betriebsrat die Entscheidung des Arbeitgebers noch beeinflussen kann5.

A. Problemaufriss Es ist offensichtlich, dass die vorstehende Definition einer Konkretisierung bedarf, um in der Lebenswirklichkeit eine rechtssichere Lösung zu ermöglichen. Die Frage, wann eine Einflussnahme noch möglich ist, stellt den Interpreten in Anbetracht der Vielgestaltigkeit und Komplexität unternehmerischer Entscheidungsprozesse aber vor erhebliche Schwierigkeiten.

1

§§ 80 Abs. 2 S. 1, 90 Abs. 1 und 2, 92 Abs. 1 S. 1, 105, 106 Abs. 2 S. 1 (vgl. auch § 109 S. 1), 111 S. 1 BetrVG; 17 Abs. 2 S. 1 KSchG; 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 1 EBRG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SEBG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SCEBG. 2 Aus Vereinfachungsgründen wird im Rahmen der Einleitung und des Allgemeinen Teils lediglich vom Arbeitgeber auf der einen und vom Betriebsrat auf der anderen Seite gesprochen. 3 Lediglich die Unterrichtung gem. §§ 80 Abs. 2 S. 1, 87 Abs. 1 BetrVG fällt aus diesem Rahmen heraus. 4 Es ist allerdings denkbar, dass der Betriebsrat neben dem gesetzlich vorgesehenen Beratungsverfahren noch weitere, gegebenenfalls „informelle“ Wege nutzt, um Einfluss auf den Arbeitgeber auszuüben. Vgl. dazu § 2 B. III. 4. d) (aa) (3). 5 Vgl. dazu § 2 B. III. 1. und die Untersuchung der einzelnen Unterrichtungsvorschriften im Rahmen des Besonderen Teils § 3.

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§ 1 Einleitung

Trifft der Arbeitgeber etwa die Entscheidung, Massenentlassungen vorzunehmen, so ist diese nur das Ende einer oft langen Kausalkette: Auslöser kann beispielsweise der Entschluss gewesen sein, eine gestiegene Produktnachfrage nicht durch die Erweiterung der bestehenden Kapazitäten, sondern durch den Kauf eines zusätzlichen Werkes im Ausland abzudecken. Ein Jahr später wird die Entscheidung getroffen, das Nachfolgerprodukt nicht mehr im Inland, sondern in dem ausländischen Betrieb herstellen zu lassen. Sechs Monate später schließt der Arbeitgeber dann die dem inländischen Betrieb zugehörige Forschungsabteilung. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Perspektiven des Betriebes entscheidet der Arbeitgeber zwei Jahre danach, sich von dem Betrieb zu trennen und begibt sich auf die Suche nach möglichen Käufern. Einige Monate später erteilt er seinen Planungsstäben zudem den Auftrag, Ablauf und Kosten einer Betriebsstilllegung zu prüfen. Zwei Konkurrenzunternehmen zeigen Interesse an einem Kauf des Werkes. Die gebotenen Kaufpreise liegen allerdings deutlich unter dem zu erwartenden Verkaufserlös der Produktionsmittel abzüglich der voraussichtlichen Sozialkosten. Der Arbeitgeber entscheidet sich deswegen, den Betrieb stilllegen zu lassen. Auf Grundlage dieser Entscheidung beschließt er dann, sämtliche Arbeitnehmer zu entlassen. Jede Entscheidung, die im Verlauf dieses Prozesses getroffen wurde, hat die Wahrscheinlichkeit für die Betriebsstilllegung bzw. die damit verbundenen Massenentlassungen schrittweise erhöht und damit zugleich die Chancen auf eine erfolgreiche Einflussnahme des Betriebsrates verringert. Die Auffassungen, in welchem Stadium dieses Prozesses der Arbeitgeber den Rubikon überschreitet, unterscheiden sich allerdings oftmals erheblich. Dies soll anhand des Meinungsbildes hinsichtlich der Auslegung von zwei vorliegend einschlägigen Beteiligungsvorschriften exemplarisch verdeutlicht werden: Zum einen ordnet § 111 S. 1 BetrVG eine rechtzeitige Unterrichtung und Beratung über die Stilllegung des Betriebes (Nr. 1) an. Das ArbG Stuttgart interpretiert die Norm dahingehend, dass der Betriebsrat bereits über den Entschluss des Arbeitgebers zu unterrichten ist, das Nachfolgerprodukt im Ausland herstellen zu lassen6. Das BAG knüpft das Einsetzen der Unterrichtungspflicht hingegen erst an den Stilllegungsbeschluss7 und damit an ein Ereignis, das möglicherweise erst mehrere Jahre später eintreten wird. Ähnlich große Differenzen bestehen zum anderen hinsichtlich der Frage, wann der Arbeitgeber den Betriebsrat in die Planung von Massenentlassungen einzubeziehen hat. Der EuGH legt die Massenentlassungsrichtlinie in dem Sinne aus, dass der Betriebsrat zu unterrichten ist, nachdem der Arbeitgeber den Entschluss gefasst hat, sich von dem Betrieb zu trennen8. Die herrschende Meinung 6 ArbG Stuttgart v. 15. 7. 2004 – 21 BV 175/04 – NZA-RR 2004, S. 537 f.; vgl. dazu unten § 2 B. III. 5. d). 7 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39; BAG v. 30. 03. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47; BAG v. 30. 05. 2006 – 1 AZR 25/05 – AP InsO § 209 Nr. 5.; Vgl. dazu unten § 3 A. IV. 1. a) bb). 8 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 48 f.; vgl. dazu unten § 3 B. I. 1. b) aa).

B. Zentrale Aspekte und Eingrenzung der Thematik

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in der Literatur erachtet es im Rahmen des § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG hingegen als ausreichend, wenn der Betriebsrat zwei Wochen vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige unterrichtet wird9. Die vorstehend skizzierten Unterschiede bei der Konkretisierung der Rechtzeitigkeit und damit der Beantwortung der Frage, zu welchem Zeitpunkt eine Einflussnahme des Betriebsrates noch möglich ist, sind exemplarisch für alle anderen, hier relevanten Beteiligungsvorschriften. In Rechtsprechung und Literatur lassen sich dabei grob zwei Strömungen unterscheiden, von denen die erste eine ergebnisbezogene und die zweite eine prozessbezogene Mitbestimmung10 für erforderlich hält. Bei einer ergebnisbezogenen Mitbestimmung setzt die Beteiligung erst ein, nachdem der Arbeitgeber eine Entscheidung getroffen hat. Im Rahmen einer prozessbezogenen Mitbestimmung erhält der Betriebsrat auch Zugriff auf den vorgelagerten Entscheidungsprozess.

B. Zentrale Aspekte und Eingrenzung der Thematik Die geschilderte Kontroverse existiert seit dem Erlass des BetrVG im Jahre 1972. Welche neuen Erkenntnisse kann eine Untersuchung nach 40 Jahren also überhaupt noch liefern? In erster Linie fehlt es der bisherigen Diskussion an einem ausreichenden Bezug zur empirischen Wirklichkeit. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu den realen Strukturen unternehmerischer Entscheidungsprozesse spielen in Judikatur und Literatur bislang fast keine Rolle. Mehrere Versuche der betriebswirtschaftlichen Forschung in den 70er und 80er Jahren zur Aufnahme eines interdisziplinären Dialogs wurden weitestgehend ignoriert. Zugleich wird bei der Auslegung der betreffenden Vorschriften der Konkretisierungsprozess von der allgemeinen gesetzlichen Zweckbestimmung hin zum konkreten Unterrichtungszeitpunkt meist nicht offengelegt. Es wird deshalb nicht deutlich, weshalb gerade der jeweils präferierte Zeitpunkt erforderlich ist, um dem Betriebsrat noch die Beeinflussung der Entscheidung des Arbeitgebers zu ermöglichen. Die dahinter stehenden Erwägungen können oftmals nur erahnt werden und man gewinnt den Eindruck, dass tatsächlich politische Präferenzen oder Alltagstheorien den Ausschlag geben. In Anbetracht des Rationalitätsgebotes richterlicher und wissenschaftlicher Rechtsfindung, das den Interpreten verpflichtet, den schöpferischen Anteil seiner Rechtsarbeit so weit wie möglich zurückzudrängen, bestehen gegen diese Vorgehensweise allerdings erheb9

HWK/Molkenbur, KSchG, § 17 Rn. 21; KDZ-Deinert, KSchG, § 17 Rn. 39; KR/Hauck, KSchG, § 17 Rn. 29; KR-Weigand, KSchG, § 17 Rn. 57; MüKo-Hergenröder, KSchG, § 17 Rn. 40; SES-Schrader, KSchG, § 17 Rn. 43; vgl. dazu unten § 3 B. I. 2. 10 Die Bezeichnungen entstammen der betriebswirtschaftlichen Literatur: vgl. Gerum, Grundfragen der Arbeitsgestaltungspolitik, S. 219; ders., ZfP 1997, S. 183, 189; Osterloh, AuR 1986, S. 332, 334.

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§ 1 Einleitung

liche Bedenken. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist deswegen eine wissenschaftliche Reflektion der Strukturen unternehmerischer Entscheidungsprozesse. Einen umfangreichen Wissensschatz bietet dafür die deskriptive Entscheidungstheorie. Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff für Forschungsansätze innerhalb verschiedener Fachdisziplinen (insbes. Betriebswirtschaftslehre und Psychologie), die sich dem Ziel verschrieben haben, realitätsnahe Hypothesen über das Verhalten von Individuen, Gruppen und Organisationen aufzustellen. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse soll realitätsnah ermittelt werden, bis zu welchem Zeitpunkt der Betriebsrat eine Entscheidung des Arbeitgebers noch sinnvoll beeinflussen kann. Auch der Einfluss des Europarechts bedarf einer intensiveren Untersuchung als bisher. So ist bei der Auslegung der betriebsverfassungsrechtlichen Unterrichtungsund Beratungspflichten mittlerweile die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG zu berücksichtigen. Deren zeitliche Vorgaben für das Beteiligungsverfahren und die daraus resultierenden Konsequenzen für das nationale Recht wurden allerdings noch nicht hinreichend herausgearbeitet. Ähnliches gilt für § 17 KSchG, dessen langjährige richtlinienwidrige Auslegung der EuGH dem BAG und der herrschenden Literaturauffassung in der Rechtssache Junk inzwischen vor Augen geführt hat11. Ferner ist im Jahre 2008 mit § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG eine Norm hinzugekommen, die die Beteiligung bei share-deals und damit bei einem Sachverhalt anordnet, der sich oftmals der Entscheidungsgewalt des Arbeitgebers entzieht. Die Auslegung der Vorschrift wirft deswegen erhebliche Probleme auf und ist mit den bisherigen Argumentationsmustern nicht zu bewältigen. Im Übrigen bedarf das Spannungsverhältnis zwischen arbeits- und kapitalmarktrechtlichen Informationspflichten näherer Betrachtung, in dem sich börsennotierte Unternehmen befinden, seit die ad-hocPublizitätspflicht gem. § 15 Abs. 1 WpHG durch das AnSVG12 vorverlagert wurde. Eine Vielzahl hoch umstrittener und praktisch relevanter Fragestellungen ergibt sich zudem in Konzernsachverhalten, wenn Informationspflichtiger und Informationsträger auseinanderfallen. So ist es keine Seltenheit, dass bedeutende unternehmerische Maßnahmen von der (in- oder ausländischen) Konzernspitze ohne Wissen des abhängigen Unternehmens detailliert geplant und beschlossen werden. Der Arbeitgeber ist in diesen Fällen erst nach erfolgter Weisung in der Lage, den Betriebsrat hinzuzuziehen. Zugleich hat der Betriebsrat keinen unmittelbaren Anspruch gegen die Konzernleitung, da die relevanten Auskunftsansprüche betriebs- bzw. unternehmensbezogen ausgestaltet sind13. Die zur Bewältigung dieser Problematik vorgeschlagenen Lösungswege sind vielfältig und Gegenstand eigener Dissertationen14. Sie reichen von einem Informationsdurchgriff auf die Konzernleitung15 bis hin 11

a). 12

EuGH v. 27. 1. 2005 – Rs. C-188/03 Junk – Slg. 2005, I-00885; Vgl. dazu unten § 3 B. I. 1.

Anlegerschutzverbesserungsgesetz, BGBl. vom 29. 10. 2004 (Nr. 56) S. 2630 ff. Vgl. dazu insbesondere § 3 A. III. 3. 14 Bitsch, Die konzerndimensionale Durchsetzbarkeit betriebsverfassungsrechtlicher Auskunftsansprüche; Gertler, Betriebsverfassungsrechtliche Auskunftsansprüche im Konzern; vgl. 13

C. Gang der Untersuchung

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zur Konstruktion von Unterlassungsansprüchen16. Obwohl die geschilderte Thematik vereinzelt im Rahmen der Rechtzeitigkeit angesprochen wird17, ist sie vom vorliegenden Untersuchungsgegenstand abzugrenzen. Für die Eingrenzung des gesetzlich gebotenen Unterrichtungszeitpunktes spielt es nämlich keine Rolle, auf welcher Leitungsebene die beteiligungspflichtige Angelegenheit entschieden wird. Entscheidend ist allein die Frage, in welchem Stadium des Entscheidungsprozesses der Betriebsrat einzubeziehen ist, damit er noch Einfluss auf die Entscheidung nehmen kann. Hält man dafür eine Einbeziehung des Betriebsrates von Anbeginn der Planung für erforderlich, so ist es einerlei, ob die Unterrichtung durch die planungsverantwortliche Konzernleitung oder den Arbeitgeber durchgeführt wird. Eine Beteiligung in einem fortgeschrittenen Stadium der Planung oder nach deren Abschluss wäre in jedem Fall verspätet. Dasselbe gilt, wenn man die Beeinflussung eines bereits gefassten Beschlusses für ausreichend hält. Die Unterrichtung des Betriebsrates durch den Arbeitgeber wäre dann auch noch rechtzeitig, wenn die betreffende Maßnahme bereits durch die Konzernspitze beschlossen wurde. Die Bedenken gegen das Auseinanderfallen von betriebsverfassungsrechtlicher Zuständigkeit und tatsächlicher Entscheidungsgewalt betreffen deswegen nicht den Zeitpunkt der Unterrichtung, sondern vielmehr die Frage nach dem richtigen Ansprechpartner für den Betriebsrat. Trotz naher Verwandtschaft ist die konzerndimensionale Durchsetzbarkeit eines Unterrichtungs- und Beratungsrechts deswegen nicht mehr vom vorliegenden Untersuchungsgegenstand umfasst.

C. Gang der Untersuchung Im Rahmen der Arbeit soll eine umfassende Analyse aller relevanten Beteiligungsvorschriften erfolgen. Deren große Anzahl macht aber eine gestufte Vorgehensweise erforderlich. Um die Bearbeitung möglichst übersichtlich zu gestalten und überdies auch Synergieeffekte auszunutzen, sollen zunächst in einem Allgemeinen Teil (§ 2) die Gemeinsamkeiten einer Auslegung des Begriffs „rechtzeitig“ herausgearbeitet und damit gleichsam vor die Klammer gezogen werden. Auf deren Grundlage soll dann eine allgemein anwendbare Definition zur Kennzeichnung des richtigen Unterrichtungszeitpunktes erstellt werden.

außerdem Diller/Powietzka, DB 2001, S. 1034 ff.; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 338 ff. 15 Vgl. nur DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 91 f.; § 111 Rn. 160; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 339. 16 Bitsch, Die konzerndimensionale Durchsetzbarkeit betriebsverfassungsrechtlicher Auskunftsansprüche, S. 167 ff.; Gertler, Betriebsverfassungsrechtliche Auskunftsansprüche im Konzern, S. 174 ff. 17 Vgl. Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 146; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 174 f.

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§ 1 Einleitung

Diese Definition wird aber zunächst nur vorläufiger Natur sein. Es ist nämlich etwas völlig anderes, ob der Betriebsrat rechtzeitig über einen Fabrikneubau (§ 90 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) oder über die Stilllegung eines Betriebes (§§ 111 S. 1 i.V.m. 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG) informiert werden soll. Sowohl die Interessenlage als auch die dahinterstehenden wirtschaftlichen Prozesse sind nicht miteinander vergleichbar. Eine endgültige Definition wird deshalb für jede Norm gesondert im Rahmen des Besonderen Teiles (§ 3) erstellt. Nur so ist eine sachgemäße Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmals möglich, die den unterschiedlichen Zwecken und der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Normen Rechnung trägt.

§ 2 Allgemeiner Teil Bevor sich die Untersuchung der Frage nach der Rechtzeitigkeit der Unterrichtung zuwendet (B.), sollen zunächst einige methodische Grundlagen zur Strukturierung des folgenden Konkretisierungsprozesses verdeutlicht werden. Dabei soll hier weder „das Rad neu erfunden werden“, noch eine umfassende Abhandlung von Entwicklung und Gestalt der Methodenlehre erfolgen. Dies würde nicht nur den vorliegenden Rahmen sprengen, sondern hätte auch im Hinblick auf die Vielzahl der bereits existierenden Abhandlungen keinen wissenschaftlichen Mehrwert. Ziel ist es vor allem, die Analyse der tatsächlichen Strukturen unternehmerischer Entscheidungsprozesse in ein solides methodisches Fundament einzubetten. Dies betrifft zum einen die Frage, warum die Berücksichtigung der Realität bei der Normbildung überhaupt erforderlich ist. Zum anderen werden die folgenden Ausführungen zeigen, wann und auf welche Art und Weise „Wirklichkeit“ bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe einfließen kann.

A. Methodische Grundlagen der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe Der „Subsumtionsautomat“1 ist eine in der Praxis sehr selten anzutreffende, wenn nicht sogar bereits ausgestorbene Spezies. Sein bisher einziger wirklich artgerechter deutscher Lebensraum, das Preußische Allgemeine Landrecht mit seinen 19.000 Paragraphen, wurde 1900 durch das deutlich abstraktere und damit auch unwirtlichere Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst. Der schlichte Gesetzesvollzug, bei dem im Wege des klassischen Syllogismus2 unmittelbar aus der Subsumtion des Tatbestandes unter den Obersatz ein eindeutiges Ergebnis produziert wird, ist seitdem praktisch nicht mehr anzutreffen3. Eindeutige Rechtsquellen in diesem Sinne existieren schlechthin nicht, da fast jede Rechtsanwendung eine konkretisierende Auslegung voraussetzt4. Ein wesentlicher Grund ist darin zu sehen, „daß die vom ein1

Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat; Treffend dazu das Zitat von Bockelmann, FS Smend, S. 26: „Die richterliche Gesetzesanwendung soll … funktionieren wie ein Automat, mit der einzigen Besonderheit, dass der funktionierende Apparat kein mechanischer sondern ein logischer Automatismus ist.“ 2 Vgl. dazu stellvertretend für viele Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 92 ff. 3 Ausnahmen stellen z. B. die Zahlbegriffe (Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 140) oder auch Fristenregelungen (Diederichsen, FS Flume I, S. 283, 286) dar. 4 Diederichsen, FS Flume I, S. 283, 287; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 606; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 94: „Was den Obersatz betrifft, so darf man freilich nicht

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§ 2 Allgemeiner Teil

zelnen konkreten Fall abstrahierende Gesetzesregel zu einer Distanz und damit Differenz zwischen Normtext und Konfliktswirklichkeit führt.“5 „Dies liegt im Wesen der Abstraktion, die konkrete Merkmale weglassen muss.“6 Der Gesetzgeber geht diesen Weg, um trotz der Vielfalt der existierenden sozialen Prozesse Verhaltensnormen aufstellen zu können, aber den Rechtsanwender nicht mit einer Flut von Einzelvorschriften und Sonderregelungen zu überfluten7. Auch werden Vorschriften mit der Intention erlassen, dem Wandel der sozialen Lebensverhältnisse und dem naturwissenschaftlichen Fortschritt standzuhalten und nicht bereits nach wenigen Legislaturperioden von der Wirklichkeit überholt zu werden. Mit der geschilderten Problematik sieht sich auch der Rechtsanwender konfrontiert, der auf Grundlage des unbestimmten Rechtsbegriffes8 „rechtzeitig“ den gebotenen Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrates ermitteln will. Aufgrund seiner abstrakt-generellen Formulierung weist dieser Begriff eine erhebliche Distanz zu den unternehmerischen Willensbildungsprozessen auf, an die er in den einzelnen Vorschriften anknüpft. Die Feststellung des korrekten Unterrichtungszeitpunktes erfordert daher mehr als die bloße Ermittlung und Subsumtion des Sachverhaltes unter die Norm und stellt den Rechtsanwender vor besondere Schwierigkeiten. Um den „Brückenschlag“9 vom Normtext zum konkreten Fall zu erleichtern und „den Prozeß der Rechtsanwendung in seinem Fortgang von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe“10 zu begleiten, bietet die juristische Methodenlehre ein reiches Instrumentarium. Überdies dient sie dazu, eine größtmögliche Rückbindung an gesetzliche Vorgaben sicherzustellen. Insofern kommt ihr selbst normativer Charakter zu11. Allerdings gibt es nicht die juristische Methodenlehre, sondern eine Vielzahl von Schulen und Variationen, zwischen denen es vielfältige Überschneidungspunkte gibt12. Als deren gemeinsamer Nenner kann lediglich die Orientierung an dem in seinen Grundzügen auf Savigny13 zurückgehenden vierstufigen Kanon herausgeannehmen, er könne einfach aus dem Gesetztestext übernommen werden. Vielmehr bedarf jedes Gesetz der Auslegung (…)“. 5 Zöllner, FS Tübinger Juristenfakultät, S. 131, 142. 6 Zöllner, FS Tübinger Juristenfakultät, S. 131, 143. 7 BVerfG v. 18. 12. 1953 – 1 BvL 106/53 – BverfGE 3, 225, 243; BVerfG v. 12. 11. 1958 – 2 BvL 4, 26, 40/56, 1, 7/57 – BverfGE 8, 274, 326. 8 Vgl. nur BAG v. 14. 08. 1986 – 2 AZR 561/85 – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 43; GKBetrVG/Oetker, § 109 Rn. 2; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301; Rieble, BB 1991, S. 471, 472. 9 Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, S. 4. 10 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 346. 11 Vgl. etwa Esser, Grundsatz und Norm, S. 116 ff.; Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 196; Scheuerle, AcP 1963 (1964), S. 429, 431. 12 Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 65. 13 v. Savigny (System des heutigen römischen Rechts I, S. 213, 216 ff.) unterschied zwischen 4 Elementen der Auslegung: Dem grammatischen, dem logischen, dem historischen und

A. Methodische Grundlagen der Konkretisierung

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schält werden. Um den Inhalt der Norm zu konkretisieren, stehen danach folgende Kriterien zu Verfügung: Die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung14, wobei durch manche Autoren noch weitere Schritte hinzugefügt werden15. Diese Kriterien bilden allerdings nur das Grundgerüst der Auslegung und werden von jeder methodischen Strömung (und auch von den der Strömung zugehörigen Autoren) in ihren Feinheiten anders interpretiert und mit weiteren Besonderheiten angereichert. Deshalb ist es angezeigt, vor Anwendung der canones ein stabiles dogmatisches Fundament entsprechend des hiesigen Verständnisses zu errichten.

I. Juristische Methodenlehre als Fachhermeneutik Allgemein-wissenschaftstheoretisch wird die Methodenlehre als Lehre vom planmäßigen Erreichen wissenschaftlicher Ziele verstanden16. Allen Methodenlehren, gleich welcher Wissenschaftsdisziplin, ist ein rationelles, reflektiertes Vorgehen bei der Untersuchung ihres Erkenntnisgegenstandes gemeinsam. Gegenstand der juristischen Methodenlehre ist nach kontinentaleuropäischer Rechtstradition das Recht in dessen regelmäßiger Erscheinungsform eines autorativen Textes. Wissenschaftstheoretisch handelt es sich bei der Rechtswissenschaft demnach um eine dogmatisch17-hermeneutische18 Textwissenschaft19. Es geht ihr im Wesentlichen „um das Verstehen von sprachlichen Äußerungen, des ihnen zukommenden nordem systematischen Element. Umstritten ist innerhalb der Literatur ob die canones einem originär juristischen Kontext entstammen, oder von v. Savigny nur aus der allgemeinen Hermeneutik des Theologen Schleiermacher (1768 – 1834) rezipiert wurden. Vgl. dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 332 Fn. 268; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 118; Dagegen: Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, S. 38 Fn. 78. 14 Vgl. nur Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 91 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 192 f.; Palandt/Heinrichs, Einl. Rn. 40 ff.; MüKo-BGB/Säcker, Einl. Rn. 118 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 436 ff. 15 So z. B. die verfassungskonforme Auslegung bei Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 159 ff. und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung bei Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 443 ff. 16 Tilch/Arloth, Deutsches Rechts-Lexikon II, S. 2849. 17 Mit der Theologie teilt die Rechtswissenschaft die starke Ausprägung des dogmatischen Aspektes. Vgl. Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, S. 36: „Die Dogmatik strebt nicht eine freie Untersuchung der Wahrheit an, sondern will einen juristischen (oder theologischen) Stoff, der ihr autoritär vorgegeben ist, ordnen und begreifen…“; vgl. auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 119. 18 Die „Hermeneutik“ ist ein Sammelbegriff für die Methoden des Verstehens von Texten. Vgl. dazu allgemein: Gadamer, Wahrheit und Methode. 19 Albert, Kritischer Rationalismus, S. 66; Diederichsen, FS Flume, S. 283, 298; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 42 ff.; Horn, Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, Rn. 46; Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, S. 23.

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mativen Sinnes.“20 Mit den anderen Geisteswissenschaften teilt sie deshalb die methodologische Basis der Hermeneutik21, die in den letzten Jahrzehnten maßgeblich durch Hans-Georg Gadamer22 geprägt wurde23. Die „hermeneutische Methode“ rechtswissenschaftlicher Prägung wurde im Zuge eines umfangreichen Diskurses zum Sammelbecken verschiedener Konzeptionen. Trotz der teilweise erheblichen Unterschiede haben aber alle Prägungen die gleichen wissenschaftstheoretischen Wurzeln. Angesprochen ist damit der Prozess methodischen Verstehens, der am treffendsten mittels des „hermeneutischen Zirkels“24 veranschaulicht wird. Dabei handelt es sich nicht um einen „Zirkelschluss“, sondern um einen Weg zu höherer Erkenntnis25, weshalb Hassemers Metapher von der „hermeneutischen Spirale“26 eigentlich treffender ist. Jede methodische Textanalyse beginnt danach mit einem Vorverständnis27 des Interpreten vom Gesamtzusammenhang des Interpretationsobjektes. Dieses Vorverständnis wird sowohl durch dessen Ausbildung und berufliche Erfahrung, aber auch durch soziale und kulturelle Einflüsse geformt28. Es bezieht sich dabei „auf die sozialen Zusammenhänge, auf die Interessenlagen, die Strukturen der Lebensverhältnisse“29, an die die jeweiligen Rechtsnormen anknüpfen. Diese Prägung des Interpreten ist zwar durchaus einer Korrektur zugänglich und kann auch durch die Ausgestaltung der Methode begrenzt werden, allerdings ist es nicht möglich, sie ganz aus dem Erkenntnisprozess zu tilgen30. Vorverständnis und Textverständnis greifen im hermeneutischen Zirkel ineinander. Da Gesetze nicht nur die juristisch gebildete Sphäre ansprechen sollen, müssen sie in einer allgemein verständlichen und gebräuchlichen Sprache abgefasst werden und können sich nicht 20

Larenz, Methodenlehre, S. 204. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, S. 5; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 1; Picker, JZ 1988, S. 1, 3 f. und die Nachweise in Fn. 23. 22 Gadamer, Wahrheit und Methode. 23 Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, S. 277. 24 Dieser wurde insbesondere durch Josef Esser rezipiert und in die rechtswissenschaftliche Diskussion eingeführt. Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 136 ff.; Ebenfalls dazu Betti, Allgemeine Auslegungslehre, S. 204 ff., 613 ff; Coing/Honsell in: Staudinger, Eckpfeiler, S. 24 ff.; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250 ff., 275 ff.; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 42 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 206 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 121. 25 Klöhn, Das System, S. 17. 26 Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 104. 27 Gadamer verwendete den Ausdruck „Vorurteil“, wollte diesen aber wertneutral verstanden wissen (Wahrheit und Methode, S. 275). Es ist Essers Verdienst, das „Vorurteil“ in „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ durch das „Vorverständnis“ ersetzt und damit die Rezeption der Hermeneutik in der Rechtswissenschaft deutlich befördert zu haben. 28 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 10. 29 Larenz, Methodenlehre, S. 209. 30 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 7 ff.; Köndgen, JZ 2001, S. 807, 809 f. 21

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einer mathematisch exakten Wissenschaftssprache bedienen. Der Umgangssprache wohnt aber aufgrund ihrer Flexibilität und permanenten Evolution zwangsläufig immer eine gewisse Unschärfe inne. Deshalb ist das Verstehen eines Textes nur vor dem Hintergrund eines gegebenen Vorverständnisses und des Sinnzusammenhangs des ganzen Textes möglich. Das daraus resultierende Textverständnis beeinflusst das Vorverständnis, das wiederum in modifizierter Form an den Text herangetragen wird. Dieser Prozess des „Vor- und Zurückblickens“31 vollzieht sich so lange, bis sich eine Übereinstimmung ergibt. Die aufgezeigten Verbindungslinien zur allgemeinen Hermeneutik sollen deutlich machen, dass die juristische Methodenlehre, ebenso wie andere geisteswissenschaftliche Fachhermeneutiken, aufgrund der Unschärfe menschlicher Sprache keinem naturwissenschaftlichen Rationalitätsmaßstab entsprechen kann. Ob BGB, StGB, Bibel, Koran oder Talmud – jede Textauslegung ist bis zu einem gewissen Grad immer auch abhängig vom Standpunkt des Interpreten.

II. Rechtserkenntnis und Rechtschöpfung Die Rezeption der Erkenntnisse der allgemeinen Hermeneutik verstärkte den Auflösungsprozess der rationalistischen „Begriffsjurisprudenz“32. Lange wurde die deutsche Rechtswissenschaft von deren Prämisse beherrscht, Auslegung sei ausschließlich ein Akt der Rechtserkenntnis33. Diese Auffassung resultierte aus einem damals vorherrschenden streng „positivistischen“34 Wissenschaftsbegriff, der sich am „Ideal der Mathematik und Naturwissenschaften“35 orientiert. Als wissenschaftlich seien demnach lediglich logische und empirische Erkenntnisprozesse, nicht aber wertorientiertes Denken anzusehen36. Alle für die Lösung des konkreten Rechtsfalles erforderlichen Vorgaben seien bereits in der relevanten Norm vorhanden und ihr auf logisch-deduktivem Weg zu entnehmen. Der Richter müsse als „viva vox legis“ lediglich „seinen Verstand, nicht aber seinen Willen in Bewegung“37 setzen. Demnach könne die Anwendung einer Rechtsnorm auf den konkreten Fall auch nur 31

Klöhn, Das System, S. 17. Vgl. Picker, JZ 1988 S. 1, 3 ff.; Die im Zivilrecht namhaftesten Vertreter waren Friedrich Puchta, Bernhard Windscheid und der frühe Rudolf von Jhering. Vgl. statt aller die Darstellung bei Larenz, Methodenlehre, S. 19 ff. 33 Vgl. nur Laband, Das Staatsrecht II, S. 178; Riezler, Das Rechtsgefühl, S. 178 ff.; Saleilles, Einführung, S. 90 ff.; Schack, FS Laun, S. 278, Anm. 4. 34 Larenz, Methodenlehre, S. 36; Ausführlich zum Einfluss des positivistischen Wissenschaftsbegriffs auf Rechtstheorie und Methodenlehre: Larenz, Methodenlehre, S. 36 ff.; vgl. ebenfalls Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 20 ff.; Diederichsen, FS Flume, S. 283, 285 ff.; v. Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, S. 196 ff. 35 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 21. 36 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 21; Diederichsen, FS Flume, S. 283, 284; Larenz, Methodenlehre, S. 36. 37 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 349. 32

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eine richtige Entscheidung produzieren. Die juristische Forschung dürfe, sofern sie einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, nicht „auf das strenge Kriterium der Wahrheit oder Falschheit rechtswissenschaftlicher Aussagen verzichten.“38 Die Möglichkeit eines Entscheidungsspielraums bei der Auslegung wurde somit nach traditioneller Sichtweise schlichtweg negiert. Diese Auffassung, die in der anglo-amerikanischen Rechtslehre unter dem Stichwort der Dworkinschen „right-answer-thesis“39 diskutiert wird, darf innerhalb der deutschen Methodenlehre40 und auch der Rechtsprechung41 schon seit langem als „überholt“42 gelten. Eine der zentralen Erkenntnisse der jüngeren Diskussion ist, dass auch die Auslegung oft schöpferische Züge trägt und nur wenige Richtersprüche lediglich aus dem Gesetz deduziert werden können. Unabhängig von der verwendeten Methode werden sich widersprüchliche, aber dennoch „vertretbare“ Resultate deshalb regelmäßig nicht vermeiden lassen43. Kelsen vergleicht gar die Aufgabe, aus dem Gesetz das allein richtige Urteil zu gewinnen, mit derjenigen aus der Verfassung die allein richtigen Gesetze zu schaffen44. Diese Prämisse spiegelt sich ferner im Grundgesetz wider, wo Art. 95 Abs. 3 GG einen gemeinsamen Senat zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung vorsieht, der nach Auffassung der Be38

Schreiber, NJW 1967, S. 1441, 1445. Dworkin ist der Auffassung, dass es auch im Recht immer nur eine allein richtige Entscheidung geben kann. Diese sei allerdings nur für einen „Herkules-Richter“ mit übermenschlichen Erkenntnisfähigkeiten und viel Zeit ermittelbar. Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 211 ff. 40 Vgl. nur Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 281, Canaris, Lücken im Gesetz, S. 23; Systemdenken und Systembegriff, S. 20 ff.; Christensen, NJW 1989, 3194, 3197; Diederichsen, FS Flume, S. 283, 285 ff.; Dreier, Was ist und wozu allgemeine Rechtstheorie?, S. 18; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 332; Engisch, Einführung, S. 164; Gusy, Richterrecht und Grundgesetz, DÖV 1992, 461, 462; Ipsen, DVBl. 1984, S. 1102 ff.; Hassold, FS Larenz, S. 199, 216; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 347 f.; Kirchhof, NJW 1986, S. 2275; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 53; Larenz, Methodenlehre, S. 315; Roxin, Strafrecht AT I, § 5 Rn. 27; Röthel, Normkonkretisierung, S. 21; Rüthers, Rechtstheorie, S. 807; Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, S. 38; Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 10 I. 41 Vgl. dazu nur BVerfG v. 12. 2. 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 24, S. 269, 287: „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen … in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen … Diese Aufgabe und Befugnis des Richters zu „schöpferischer Rechtsfindung“ ist dem Richter … im Grundsatz nie bestritten worden.“ 42 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 21. 43 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 53. 44 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 350 f. 39

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griffsjurisprudenz gar nicht erforderlich wäre. Auch der einfache Gesetzgeber erkennt einen Entscheidungsspielraum des Rechtsanwenders ausdrücklich an. Dies zeigt sich an § 132 Abs. 4 GVG, der die Rechtsfortbildung ausdrücklich als Instrument richterlicher Tätigkeit bezeichnet. Auch § 30 Abs. 2 S. 1 BVerfGG, der es den Richtern des Bundesverfassungsgerichtes gestattet, den Entscheidungen abweichende Sondervoten anzufügen, kann nur vor diesem Hintergrund erklärt werden. Diese Diagnose lässt sich neben der Unschärfe des juristischen Erkenntnisgegenstandes auch auf die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln zurückführen, die dem adressierten Rechtsanwender die abschließende „Interpretations- und Konkretisierungskompetenz“45 und damit die Kompetenz zur Rechtsetzung übertragen46. Zur Bewältigung dieser „hard cases“47 kann der logische Syllogismus nichts mehr beitragen. Erforderlich ist vielmehr eine wertende Berücksichtigung verschiedener Argumente. Dieser Prozess und damit die „eigentlich entscheidenden juristischen Denkakte vollziehen sich außerhalb des Bereichs der formalen Logik“48, da „Werturteile nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig sind.“49 Gleichwohl dürfen diese Aussagen nicht so verstanden werden, dass Werturteilen überhaupt nicht mit den Mitteln objektiver Erkenntnis näherzukommen ist. Tatsächlich aber enthalten sie immer auch ein irrationales Moment, das sich jedweder Logik entzieht. Bei der Wertung handelt es sich um einen vielseitig schillernden Begriff, da „alles Recht auf Werten begründet“50 ist. Grob vereinfacht kann man Wertungen als „Vorzugsregeln“51 bezeichnen. Larenz sieht in ihnen einen „Akt der inneren Stellungnahme“: „Der zu bewertende Gegenstand wird darin als erstrebenswert, billigenswert oder nicht billigenswert, einem anderen vorzuziehen oder hinter ihn zurückzusetzen beurteilt.“52 Blaupause dieser Stellungnahme ist die Gerechtigkeitsidee, bzw. die Vorstellung des Gesetzgebers von einem gerechten Interessenausgleich. Im Gegensatz zum verwaltungsrechtlichen Ermessen sind Werturteile aber nicht als ein subjektives und mehrere Entscheidungsalternativen eröffnendes Tatbestandselement zu verstehen53. Richterliche Werturteile erheben immer Anspruch auf objektive Richtigkeit. Deshalb müssen die Wertungen des Gesetzgebers so weit wie möglich nachvollzogen werden. Die eigene Wertung des Rechtsanwenders ist 45

Kirchhof, NJW 1986, S. 2275. Vgl. dazu ausführlich unten § 2 A. III. 2. 47 Dworkin, Law’s Empire, S. 39. 48 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 22 f. 49 Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 2. 50 Starck, Freiheit und Institutionen, S. 9 f. 51 Podlech, AöR 1970, S. 185, 195; Starck, Freiheit und Institutionen, S. 11; kritisch dazu Priester in: Rechtstheorie, S. 38. 52 Larenz, Methodenlehre, S. 290. Ähnlich Starck, Freiheit und Institutionen, S. 9: „Inhaltlich sind Werte Aussagen (Prädikate), durch die etwas Materielles oder etwas Geistiges als gut oder wertvoll – evtl. in gestufter Relation zu anderem – beurteilt oder eingeschätzt wird.“ 53 Engisch, Einführung, S. 164 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 290; Ule, GS Jellinek, S. 322. 46

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nur „ein Glied in der Reihe vieler gleichberechtigter Wertungen, mit denen er sie zu vergleichen und mit denen er sie unter Umständen zur berichtigen hat.“54 Dieser Prozess kann ebenso wie bei jeder anderen Fachhermeneutik nur so weit wie möglich durch ein allgemein anerkanntes methodisches Verfahren eingehegt und dadurch objektiviert werden. Die endgültige Entscheidung für eine Auslegungsalternative und damit die Lösung des Rechtsproblems kann aber keine mathematischnaturwissenschaftliche Überzeugungskraft beanspruchen, da sie immer auch durch den Interpreten geprägt wird. Die Qualität des Resultats besteht vielmehr in dessen methodischer Nachvollziehbarkeit und damit auch Vertretbarkeit55. Bei jeder Auslegung verbindet sich demnach die „erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechtes mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“56

III. Die Rationalität der Normkonkretisierung Einigkeit herrscht hinsichtlich der Qualifizierung des Tatbestandsmerkmales „rechtzeitig“ als unbestimmter Rechtsbegriff57. Diese Normkategorie kann wiederum in deskriptive und normative Rechtsbegriffe unterteilt werden58. Deskriptiv sind Begriffe, deren Inhalt zum „sinnvollen Gegenstand einer Tatsachenfeststellung“ gemacht werden kann und die „wirkliche oder wirklichkeitsartige, grundsätzlich wahrnehmbare oder sonstwie erfahrbare Objekte“ beschreiben59. Ob eine Unterrichtung rechtzeitig ist, kann freilich nicht unmittelbar Gegenstand einer Wirklichkeitsbetrachtung sein. „Rechtzeitig“ ist demzufolge ein normativer Rechtsbegriff. Maßgebliches Merkmal dieser Normklasse ist nach ganz herrschender Ansicht das Erfordernis einer Wertung bei der Rechtsanwendung60. Dem Anwender der Rechtsnorm wird dadurch die „Ermächtigung zu ihrer näheren Ausfüllung“61 verliehen. Ausgehend von dieser Erkenntnis stellt sich nunmehr die Frage, welche 54

Engisch, Einführung, S. 167. Hassold, FS Larenz, S. 211, 213; Larenz, Methodenlehre, S. 346; Meier-Hayoz, JZ 1981, S. 417, 419; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 612; Schmidt, FS Esser, S. 139, 150. 56 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 351. 57 Vgl. nur BAG v. 14. 08. 1986 – 2 AZR 561/85 – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 43; GKBetrVG/Oetker, § 109 Rn. 2; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301; Rieble, BB 1991, S. 471, 472. 58 Vgl. dazu Engisch, Einführung, S. 142 ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 134; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 59 f.; Röthel, Normkonkretisierung, S. 27 ff. 59 Engisch, Einführung, S. 142. 60 Engisch, Einführung, S. 144: „wertausfüllungsbedürftige Begriffe“; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 109, 114 ff.: „ausfüllungsbedürftiger Wertungsmaßstab“; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 183: „Wertbegriffe“; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 60; Looschelders/ Roth, Juristische Methodik, S. 135 f.: „ausfüllungsbedürftige Wertbegriffe“. 61 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 60. 55

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Schlussfolgerungen Wissenschaft und Rechtsprechung daraus für die Rechtsanwendung zu ziehen haben. 1. Der Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz Die Erkenntnis vom Willensmoment der Rechtsanwendung wird trotz ihrer breiten Konsentierung im Wesentlichen nur im methodischen Schrifttum und auf einem hohen Abstraktionsniveau thematisiert62. Bei der Lösung konkreter Rechtsprobleme wird eine eventuell bestehende rechtswissenschaftliche „terra incognita“ nicht mehr angesprochen, denn jeder Verfasser einer juristischen Abhandlung behauptet, dass diese „zutreffende“63 Aussagen über die untersuchte Rechtsnorm enthalte. Insbesondere Kelsen hat das rechtswissenschaftliche Schrifttum für diese Vorgehensweise kritisiert. So spricht er einer Auslegung, die sich von einem subjektiven Standpunkt aus gegen eine andere logisch ebenso mögliche Interpretation entscheidet, den Wissenschaftscharakter ab64. Eine wahrhaft „wissenschaftliche“ Vorgehensweise müsse sich darin erschöpfen, einen wertfreien Rahmen und die daraus resultierenden Auslegungsalternativen nur darzustellen. Wertungen sind für Kelsen nur Rechtspolitik, zu denen der Wissenschaftler lieber schweigen solle. Sein Tätigkeitsfeld sei nur das Recht und nicht die Gerechtigkeit65. Folgt man dem positivistischen Wissenschaftsbegriff, ist dieser Gedanke in der Tat nicht nur folgerichtig sondern sogar „unangreifbar“66, da lediglich logisch-mathematische Schlussfolgerungen als „wahrhaft wissenschaftlich“ anzusehen sind. Ausgehend davon ist die Auffassung Kelsens auch sehr redlich: Kann die Rechtswissenschaft aufgrund der zwangsläufigen Unschärfe ihres Erkenntnisobjektes keine ausschließlich „wahren“ Ergebnisse produzieren, muss sie ihre Grenzen deutlich machen, um ihrem Ethos als rationale Wissenschaft gerecht zu werden. Durch die Kennzeichnung des Zeitpunktes, an dem der Bereich strikt logischen Denkens verlassen und zu wertungsmäßigem Denken übergegangen wird, wird ein falscher 62 Dazu trägt sicher auch die „methodenarme“ deutsche Juristenausbildung bei. Trotz der schon lange mahnenden Stimmen (vgl. die Äußerung der Dekane der rechtswissenschaftlichen Fakultäten JZ 1969, S. 227) spielt die Methodenlehre aktuell immer noch keine bedeutende Rolle in der Lehre. Vgl. Adomeit, ZRP 1970, S. 176, 177: „Immer noch wird naiv die Möglichkeit vorausgesetzt, ,das‘ richtige Ergebnis deduktiv zu gewinnen, und die Fähigkeit, individuelle und soziale Bedenken und Entscheidungsmomente sprachlich zum Verschwinden zu bringen, wird geradezu antrainiert.“ Widersprechen würde da wahrscheinlich der methodenskeptische Radbruch (Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 253): „Wie Menschen, die sich durch Selbstbeobachtung quälen, meist kranke Menschen sind, so pflegen aber Wissenschaften die sich mit ihrer eigenen Methodenlehre zu beschäftigen Anlass haben, kranke Wissenschaften zu sein; der gesunde Mensch und die gesunde Wissenschaft pflegt nicht viel von sich selbst zu wissen.“ 63 Larenz, Methodenlehre, S. 197. 64 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 353 f.; a. A. Larenz, Methodenlehre, S. 315; vgl. allgemein zur Kritik am Wissenschaftsanspruch der Jurisprudenz: Diederichsen, FS Flume, S. 283 ff. 65 Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 65. 66 Adomeit, ZRP 1970, S. 176, 179 (Fn. 21); Larenz, Methodenlehre, S. 80.

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Schein von Objektivität vermieden und der persönliche Anteil des Rechtsanwenders offengelegt67. Dass sich die Forderung Kelsens trotz seiner stringenten Argumentation in der deutschen Jurisprudenz nie durchgesetzt hat, liegt in der Prämisse seiner Argumentationskette, dem positivistischen Wissenschaftsbegriff, begründet68. Dieser ist für eine hermeneutische Wissenschaft nicht geeignet, weshalb auch der Versuch scheitern musste, ihn „der Jurisprudenz … aufzuzwingen.“69 Die Methode einer Wissenschaft muss sich nach ihrem Erkenntnisgegenstand richten70 und dies sind nun einmal von Menschen gemachte Texte, die Inhalte, Werte und Ideen transportieren, die mit den Mitteln der Logik nicht abschließend ergründet werden können. Die Defizite und Konsequenzen, der von Kelsen geforderten wissenschaftlichen „Selbstverstümmelung“, zeigen sich bereits ganz deutlich an der Spitze der deutschen Rechtsordnung, der Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG. Hier ist es noch nicht einmal sinnvoll möglich, einen wertfreien Rahmen zu bestimmen, der die Grenzen „wissenschaftlicher“ Tätigkeit markieren soll. Viel schwerer wiegt allerdings, dass die Konkretisierung und damit Realisierung dieser überragenden Grundentscheidung ganz und gar der Rechtsprechung überlassen würde. Wie diese Entscheidung ausfällt, bliebe allerdings in deren Belieben gestellt, da eine rationale Methodik dazu nichts beitragen könne. Mit Recht wurde deshalb darauf hingewiesen, dass sich dieser reine „Voluntarismus“71 mit der Funktion der Rechtsprechung in einem Verfassungsstaat nur schlecht verträgt72. Zwar fasziniert die apodiktische Dichotomie zwischen dem Bereich objektiv-logischer und subjektiv-wertender 67

Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 65. Diese Diskussion ist ein Spezialfall eines allgemein-wissenschaftstheoretischen „Positivismusstreits“ über die Methodik der Sozialwissenschaften, der insbesondere in den 1960er zwischen den Vertretern der „kritischen Theorie“ (T. W. Adorno, J. Habermas) und des kritischen Rationalismus (K. R. Popper, H. Albert) ausgetragen wurde. Die genannten Akteure führten damit die 1913 von Max Weber angestoßene „Werturteilsdiskussion“ fort. Während die Vertreter des kritischen Rationalismus Werturteile und wissenschaftliche Arbeit für unvereinbar halten, sehen die Vertreter der kritischen Theorie darin eine Abkopplung von der Realität und unzulässige Selbstbeschränkung der Sozialwissenschaften durch scientistischen Methodenzwang (vgl. dazu Dahms, Positivismusstreit). Aus der Distanz betrachtet, handelt es sich um eine weitere Episode einer „die ganze abendländische Geistesgeschichte durchziehenden Grundsatzkontroverse (…) Sie ist gekennzeichnet durch Schlagwörter und Namen wie Dezisionismus und Rationalismus, Hobbes und Locke, autoritäre Entscheidung und parlamentarische Diskussion (…) Die große theologisch-philosophische Kontroverse um die Frage, ob etwas nur deshalb gut ist, weil Gott es will, oder ob Gott es will, weil es gut ist, hat letztlich zum Gegenstand die vernünftige Einsehbarkeit des Guten, und dem entspricht auf der säkular-juristischen Ebene die Frage, ob es eine der rationalen Argumentation zugängliche Rechtsvernunft gebe.“ (Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 54 Fn. 54). 69 Ernst in: Das Proprium der Rechtswissenschaft, S. 3, 22 f.; Heller, Die Souveränität, S. 102. 70 Vgl. nur Ernst in: Das Proprium der Rechtswissenschaft, S. 3, 22 f.; Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 17 ff. 71 Starck, JZ 1972, S. 609, 611. 72 Larenz, Methodenlehre, S. 80. 68

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Rechtsarbeit durch ihre gedankliche Klarheit. Aber auch wenn in manchen Grenzfällen persönliche Überzeugungen des Rechtsanwenders den Ausschlag geben können, unterschätzt sie die Leistungsfähigkeit einer geordneten und diskursiven (methodischen) Argumentation, die in der Lage ist, den Wertungsprozess in weiten Teilen zu rationalisieren73. Beendet wäre damit auch der fruchtbare Diskurs zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft. In einem Geschäft, in dem „Wertungen … in allen halbwegs problematischen Entscheidungen die zentrale Bedeutung“74 haben, könnte eine so verstandene Wissenschaft zur Lösung schwieriger Rechtsprobleme nichts mehr beitragen und bloß Rahmendaten liefern. Eine Rechtswissenschaft die keine „vernünftig und gerecht erscheinenden Lösungen konkreter Rechtsfragen fördert“75 und Wertungen ausblendet, wäre deshalb „weder praktisch noch real.“76 Die Einhaltung der Grenzen, die der positivistische Wissenschaftsbegriff für die Jurisprudenz zieht, ist demnach nicht Voraussetzung für die Qualifikation als Wissenschaft, sondern führt im Gegenteil zum Verlust dieses Ranges. Denn was ist eine Wissenschaft wert, die nur rudimentäre Aussagen über ihr Erkenntnisobjekt treffen kann und bei den wirklich bedeutsamen Fragen in falsch verstandener Selbstbescheidung zurückschreckt? Auch wenn es unerreichbar ist, sollte das Ideal vollkommener Rationalität und Objektivität der Rechtswissenschaft aber zumindest als Orientierungspunkt dienen. Es muss das Ziel jeder Wissenschaft sein, denn „Wissenschaft ist Wahrheitssuche.“77 Auch wenn die Suche nach absoluten Wahrheiten aufgrund der Besonderheiten des juristischen Forschungsobjektes scheitern muss, kann auch nur die bloße Suche Wissenschaft sein. Diesen Titel verdient nicht nur diejenige Disziplin, die mit empirisch-mathematischen Mitteln scheinbar unangreifbare Ergebnisse produziert, sondern auch diejenige Disziplin, die danach strebt, die Grenzen rationaler Erkenntnis zu erreichen, die ihr Forschungsgegenstand mit sich bringt. Rechtswissenschaftliches Arbeiten erfordert demnach das Streben nach größtmöglicher Rationalität78. Dieses Streben muss sich durch „Folgerichtigkeit, Widerspruchslosig73

Larenz, Methodenlehre, S. 80. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 9. 75 Starck, JZ 1972, S. 609. 76 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 275; ebenso Adomeit, ZRP 1970, S. 176, 179 (Fn. 21); Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 85. 77 Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 51. 78 Adomeit, ZRP 1970, S. 176, 179 (Fn. 21); Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 277; Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 67; v. Mettenheim, Recht und Rationalität, S. 106 ff.; Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 82; Zippelius, JZ 1999, S. 112 ff.; angesprochen ist damit ein altes humanistisches Bildungsideal, das Sokrates („Ich weiß, dass ich fast nichts weiß, und kaum dieses“, zitiert nach Gschwend, Der Weltgesellschaftsvertrag, S. 18.) bzw. seinem Vordenker Xenophanes („Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen; Über die Götter und all die Dinge, von denen ich spreche. Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden, Wissen könnt‘ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung.“ Zitiert nach Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 50) zugeschrieben wird und Arthur Kaufmann als „rationale Reflexivität“ 74

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keit, Stringenz der Argumentation und Systembezug auszeichnen…“79 Nur eine so verstandene Rechtsgewinnung ist geeignet, eine Wahl zu rechtfertigen, „die in Ansehung der verfügbaren Alternativen auch hätte anders ausfallen können.“80 Dass bei der endgültigen Entscheidung nach Ausschöpfen aller rationalen Überlegungen letztendlich doch noch das „Vorverständnis“ des Rechtsanwenders den Ausschlag gibt, lässt sich wie gezeigt oft nicht vermeiden und schmälert auch nicht die Wissenschaftlichkeit des Ergebnisses. Entscheidend ist nur, dass das Vorverständnis und die „Dezision“ kraft rationaler Erwägungen so weit wie möglich zurückgedrängt wird, um die Rechtsgewinnung nicht „willkürlicher, ideologie, -interessen- und machtgeleiteter Entscheidung“81 zu überlassen. In genau dieser „Reflexion auf ihre wahren Strukturen“ liegt die „Wissenschaftlichkeit der Rechtsgewinnung“82. 2. Die Legitimation richterlicher Entscheidungen Der Begriff der Delegation wird gemeinhin als die „zulässige Weitergabe einer im Regelfall bei einem anderen Organ befindlichen Kompetenz“83 verstanden. Ein dafür in Betracht kommendes Mittel sind die Kompetenznormen, „die eine Stelle im Stufenbau der Rechtsordnung ermächtigen, nachrangige Rechtsnormen zu setzen.“84 Diese Kompetenznormen und damit die Delegation von Rechtsetzungsmacht durch die Legislative an die Judikative hatte Justus Wilhelm Hedemann im Sinn85, als er seine mittlerweile geflügelten Worte von den Generalklauseln als „Stück offen gelassener Gesetzgebung“86 zu Papier brachte. Der Richter erscheine durch sie „neben bezeichnet. Auch Karl Popper (vgl. nur Popper/Kreuzer, Offene Gesellschaft, S. 13) und Jürgen Habermas (Habermas, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S. 42 f.) betonten immer wieder die Notwendigkeit der Reflektion des Nichtrationalen als Grundlage jeglichen rationalen Handelns. Rationale Reflexivität fordert eine stetige Vergegenwärtigung der rationalen Grenzen wissenschaftlicher Arbeit. Anders gewendet ist es ein Gebot der Rationalität, dass man auch dann wenn man nur nichtrational handeln kann, sich zumindest dessen bewusst ist. 79 Ernst in: Das Proprium der Rechtswissenschaft, S. 3, 25. 80 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 346. 81 Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 81. 82 Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 74; vgl. dazu auch Alexy in: Verantwortetes Recht, S. 47 ff. 83 Möllers, Gewaltengliederung, S. 178. 84 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 237. 85 Vorher bereits Heck, Grundriss des Schuldrechts, § 4, 1: „Delegationsnormen“. 86 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln: Eine Gefahr für Recht und Staat, S. 58. Das Werk erschien nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933. Tatsächlich bewahrheitete sich die bereits im Titel anklingende Befürchtung Hedemanns, der die Rechtssicherheit durch zu große richterliche Freiräume gefährdet sah: Die Generalklauseln wurden aufgrund ihrer Offenheit zum bevorzugten Durchsetzungsinstrument der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie. Hedemann vollzog allerdings eine Kehrtwende und äußerte sich später sogar zustimmend zur Pervertierung der Generalklauseln im Sinne der

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seiner Richterherrlichkeit bald wie ein Gesetzgeber, bald wie ein gestaltender Verwaltungsbeamter (…) so dass an dieser Stelle Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung ineinander überfließen.“87 Die Diskussion im rezipierenden Schrifttum88 konzentrierte sich auch zunächst auf die Generalklauseln. Erst Josef Esser89 erweiterte später den Fokus auf alle Fälle „ausfüllungsbedürftiger gesetzlicher Unbestimmtheit“90, was seitdem zum juristischen Allgemeingut zählt91. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Vorgehensweise ist mittlerweile anerkannt. Dem Grundgesetz ist keine strikte Gewaltenteilung, sondern eher eine „Gewaltenverschränkung“92 zu entnehmen. Freilich hat die Rechtsprechung das Normsetzungsprimat der Gesetzgebung in den ihr zugewiesenen Bereichen zu respektieren93. Allerdings statuiert die Verfassung keinen allumfassenden Vorrang des Parlaments und damit gleichsam eine „Monopolisierung“ von Staatsfunktionen94. Vielmehr erstellt es eine gewaltenteilende Kompetenzordnung, innerhalb derer allen drei Gewalten weitreichende Kompetenzen zugewiesen werden95. Vom „Rechtsetzungsmonopol“ ist daher die „Rechtsetzungsprärogative“ der Volksvertretung abzugrenzen96. Ein Aspekt dieser verfassungsrechtlichen Grundentscheidung ist die Kompetenz des Parlaments, „jede generelle Rechtsfrage im Rahmen der Verfassungsordnung an sich zu ziehen und für alle anderen Organe verbindlich zu entscheiden.“97 Sie ermöglicht es dem Parlament aber auch, innerhalb der durch die damals herrschenden Staatsdoktrin. Vgl. dazu ausführlich Stolleis/Simon, Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, S. 140 ff. 87 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln: Eine Gefahr für Recht und Staat, S. 58. 88 Vgl. Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 183; Wieacker, Zur Rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 16; zum Ganzen auch Röthel, Normkonkretisierung, S. 49 ff. 89 Esser, Grundsatz und Norm, S, 65, 150 f. 90 Röthel, Normkonkretisierung, S. 50. 91 Vgl. nur Bydlinsky, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 583: „bewußte Ermächtigung an die Entscheidungsorgane“; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 27 der von „einer Art delegierter Gesetzgebungsgewalt“ spricht; Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 347 ff.; Kirchhof, NJW 1986, S. 2275 ff.: „Konkretisierungskompetenz“; Rüthers, Rechtstheorie, S. 124: „Ermächtigungsnormen“; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 237: „Kompetenznormen“; Sander, Normtatsachen, S. 92 f.; Schmidt, Konkretisierung, S. 20 f.; Teubner, Standards und Direktiven, S. 61. 92 Vogel, NJW 1996, S. 1505. 93 Larenz, Methodenlehre, S. 376. 94 BVerfG v. 8. 8. 1978 – 2 BvL 8/77 – BverfGE 49, 89, 124. 95 BVerfG v. 12. 11. 1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 – BVerfGE 96, 375, 394. 96 Vgl. dazu Kriele, Einführung, S. 86: „Wenn der Staat das Rechtsetzungsmonopol hat, so kann niemand außer ihm Recht schaffen, es sei denn aufgrund einer staatlichen Delegation. Wenn der Staat nur die Rechtsetzungsprärogative hat, so kann er zwar andere rechtschöpfende Kräfte gelten lassen; er kann aber jede Rechtsfrage zur Entscheidung an sich ziehen. Soweit er davon Gebrauch macht, ist seine Entscheidung bindend und hat Vorrang vor anderen Rechtsquellen.“ 97 Kriele in: VVDStRL 29 (1971), S. 46, 64.

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Wesentlichkeitstheorie gezogenen Grenzen98, Rechtsetzungsbefugnisse auf Exekutive und Judikative zu delegieren. Die endgültige Konkretisierung der Norm wird dann in dem durch die Gesetzgebung vorgegebenen Rahmen durch diese beiden Gewalten durchgeführt. Das Gesetz erfüllt dadurch „eine kompetenzverwirklichende und eine kompetenzzuweisende Aufgabe.“99 Das Verhältnis beider Aufgaben zueinander ist gradueller Natur und bemisst sich nach dem Grad der Bestimmtheit der Norm. Im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung und das aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierende allgemeine Bestimmtheitsgebot begegnet eine solche Vorgehensweise keinen grundsätzlichen Bedenken. Der Gesetzgeber ist ermächtigt, Rechtsvorschriften nur „so genau zu fassen, wie dies nach Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist.“100 Will der Gesetzgeber eine Erscheinung des sozialen Lebens zum Gegenstand einer rechtlichen Regelung machen, so ist er nicht zur Verwendung unmittelbar anwendbarer Tatbestandsmerkmale gezwungen101. Vielmehr ist der Gebrauch offener Klauseln zur Regelung komplexer und dynamischer Regelungsmaterien und aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit oft sogar unabdingbar, da es schlicht unmöglich ist, alle denkbaren Fallkonstellationen tatbestandlich genau zu erfassen. Die Terminologie von der „delegierten Gesetzgebung“ darf aber nicht den Blick dafür trüben, dass die Verfassung an die richterliche Normsetzung strengere Anforderungen stellt als an den Gesetzgeber. Im Gegensatz zum in den Prozessordnungen detailliert geregelten äußeren Ablauf des gerichtlichen Verfahrens existieren für die Rechtsanwendung, bzw. -setzung aber keinerlei einfachgesetzliche Vorgaben102. An geschriebenem Recht steht den Gerichten deshalb lediglich das Grundgesetz zur Verfügung, dem als normativer Blaupause der Rechtsordnung nicht nur Vorgaben zur parlamentarischen Rechtsetzung zu entnehmen sind, sondern auch zur Umsetzung dieses Rechts im konkreten Einzelfall103. Als relevante Normen kommen 98 Vgl. dazu BVerfG v. 27. 11. 1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, S. 130, 142: „Rechtsstaatsprinzip verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen.“; BVerfG v. 09. 05. 1972 – 1 BvR 518/62, 1 BvR 308/64 – BVerfGE 33, S. 125, 158; BVerfG v. 10. 10. 1972 – 2 BvL 51/69 – BVerfGE 34, S. 52, 60; BVerfG v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77 – BVerfGE 49, S. 89, 127. 99 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 58. 100 BVerfG v. 17. 11. 1992 – 1 BvL 8/87 – BVerfGE 87, S. 234, 263; BVerfG v. 09. 08. 1995 – 1 BvR 2263/94 u. a. – BVerfGE 93, S. 213, 238, BVerfG v. 8. 3. 2000 – 1 BvR 1127/96 – NJW 2000, S. 2187. 101 BVerfG v. 17. 11. 1992 – 1 BvL 8/87 – BVerfGE 87, S. 234, 263. 102 Im Gegensatz z. B. zur Schweiz, wo sich in Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB Regeln zur richterlichen Rechtsfortbildung finden. 103 Vgl. nur BVerfG v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – BverfGE 34, 269, 289 ff.; Göldner, FS Larenz, S. 199 ff.; Gusy, JZ 1991, S. 213, 217; Hassemer, ZRP 2007, S. 213 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 603; Röthel, JuS 2001, S. 424 ff.; Rüthers, JZ 2006, S. 53, 60; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 704 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 207 ff.

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dabei vor allem die Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), der Grundsatz der Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) in Betracht. Diese Grundentscheidungen sind Ausgangspunkt aller Überlegungen der Methodenlehre104. Ihnen entspringt die zentrale Forderung der Verfassung an den Richter, eigene Wertungen soweit wie möglich zurückzustellen. Wertungen als Ausfluss gerechtigkeitsorientierten Interessenausgleichs sind in einer parlamentarischen Demokratie zuvorderst Aufgabe der demokratisch gewählten Volksvertretung. Ihnen liegen immer rechtspolitische Erwägungen zugrunde und sie sind Ausdruck der Herrschaft des Gerechtigkeitsempfindens der Mehrheit über eine Minderheit. Sie zwingen dem Bürger oft Entscheidungen über Recht und Unrecht auf, die seinen Überzeugungen zuwiderlaufen, die er aber trotzdem hinzunehmen hat. Rechtfertigung für diesen Konflikt ist die demokratische Legitimation des Parlaments, die diesem (innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen) einen großen Spielraum zur Gestaltung der Rechtsordnung überträgt. Diese Legitimation steht dem Richter aber nicht zur Verfügung und sie kann ihm auch nicht durch das Parlament übertragen werden. Der Richter zieht die Legitimität seiner Entscheidung vielmehr aus deren Rationalität, bzw. aus der Rationalität ihrer Begründung105. Die Rationalität des normkonkretisierenden Richters ist die Rationalität der Herleitung des aufzustellenden Rechtsatzes aus der vorgegebenen Norm. Da sich Willenselemente wie aufgezeigt nie ausschließen lassen, muss präziser von dem Streben nach größtmöglicher „intersubjektiver Überzeugungskraft“106 der Begründung gesprochen werden. Das „Roma locuta“107 des Richters darf danach nur die ultima ratio richterlicher Tätigkeit sein, nachdem alle Möglichkeiten rationaler Erkenntnis ausgeschöpft wurden. Jeder Richter ist verpflichtet, „den Anwendungsbereich dieses Verfahrens möglichst hinauszuschieben.“108 Nur ein solches Vorgehen legitimiert 104

Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 706. Vgl. BVerfG v. 14. 2. 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 34, S. 269, 287: „Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht, oder nur unvollständig zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen … Der Richter schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.“ Diese Aussage bezog sich zwar auf die Grundsätze der richterlichen Rechtsfortbildung, kann aber ebenso auf die Normkonkretisierung übertragen werden. Vgl. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 15, 24; Jost, Soziologische Feststellungen, S. 27; Kriele, Die Theorie der Rechtsgewinnung, S. 182 ff.; Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 84; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125 ff. 106 Adomeit, ZRP 1970, S. 176, 177. 107 Schmidt in: FS Wassermann, S. 807, 810. 108 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 129 Fn. 307: „Das deckt sich freilich mit der ,richterlichen Eigenwertung‘ HECKs, deren subsidiäre Unvermeidlichkeit als nicht mehr rationales Rechtsfindungsverfahren im äußersten Notfall allgemein anerkannt und nicht als Kennzeichen einer bestimmten Strömung betrachtet werden sollte. Es geht nur darum, den Anwendungsbereich dieses Verfahrens möglichst hinauszuschieben.“ 105

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einen gegebenenfalls am Ende dieses Prozesses stehenden Willensentschluss. Im Umkehrschluss bedeutet dies zudem, dass jede Rechtsgewinnung auch rechtfertigungsbedürftig ist. Der Richter muss sich immer die Frage gefallen lassen, wieso er eine nicht intersubjektiv nachprüfbare „Abkürzung“ auf dem Weg von der gesetzlichen zur richterlichen Wertung genommen hat. 3. Objektive Werterkenntnis und ihre Grenzen Mit der Erkenntnis der vorhergehenden Feststellungen ist die eigentliche Problematik benannt, deren Lösungsversuche mittlerweile „ganze Bibliotheken“109 füllen: Wie kann das Rationalitätsgebot von Wissenschaft und Rechtsprechung am besten eingelöst werden? Allgemeiner Konsens sämtlicher Schulen und Variationen der juristischen Methodenlehre ist zunächst die Orientierung an dem auf Savigny110 zurückgehenden vierstufigen Kanon. Dieser ist allerdings auch nicht mehr als ein Minimalkonsens, da der der Kanon aufgrund seiner Offenheit nur ein Grundgerüst bildet. Dieses Gerüst muss durch den Rechtsanwender erst noch ausgefüllt werden und bietet damit viel Raum für subjektive methodische Präferenzen. Als Regelwerk können die canones zur Herleitung und Begründung von Rechtsätzen deswegen zwar einen Beitrag leisten, sind aber insofern noch nicht als hinreichend, sondern lediglich als hilfreich anzusehen111. Den Schwerpunkt jeder Normkonkretisierung bildet regelmäßig die teleologische Auslegung der Norm. Bis zum heutigen Tage ist umstritten, ob zur Bestimmung der ratio des Gesetzes auf den Willen des historischen Gesetzgebers abzustellen ist (subjektiv-teleologisch), oder ob der „geltungszeitliche“ normative Sinn des Gesetzes112 (objektiv-teleologisch) den Ausschlag geben soll. Der ganz überwiegende Teil der juristischen Fachwelt hat sich mittlerweile für einen Vorrang der objektivteleologisch Auslegungsmethode entschieden113. Die subjektiv-teleologische Auslegung hat zwar immer noch ihren Platz im Methodenkanon und kann ein hilfreiches Mittel zur Konkretisierung der Norm sein. Die den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmende Bedeutung ist aber für den Interpreten nicht bindend, soweit sie nicht in der betreffenden Norm erkennbar zur Ausprägung gekommen ist. Dieser geltungszeitliche Sinn ist ein Sammelbecken für normative Erwägungen, wie die konkreten, auf den geregelten Lebensbereich bezogenen Zwecke, deren 109 Rüthers, Rechtstheorie, S. 375. Nicht deutlich wird allerdings, wieso Rüthers das Methodenproblem an der angegebenen Stelle trotzdem als „eine der vernachlässigten Grundsatzfragen der deutschen Gerichtspraxis und Literatur“ bezeichnet. 110 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, S. 213, 216 ff. 111 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 20. 112 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428. 113 Vgl. nur BVerfG v. 17. 5. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – BverfGE 11, 126, 130; BVerfG v. 11. 06. 1980 – 1 PBvU 1/79 – BverfGE 54, 277, 298; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 154; a. A. vor allem Rüthers, Rechtstheorie, S. 457 ff.

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Förderung und Erfüllung der eigentliche Grund für den Erlass der Rechtsnorm waren. Zudem sind dies allgemeine Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen, in die diese Zwecke eingebettet werden müssen, da jede Norm „als Teil einer gerechten und zweckmäßigen Ordnung zu verstehen ist“114. Die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts errichteten Denkgebäude, die dieses „normative Sammelbecken“ strukturieren wollen, werden unter dem Begriff „Wertungsjurisprudenz“ zusammengefasst. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter ist Karl Larenz, dessen „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ mittlerweile vor allem in der Rechtsprechung den Status eines „book of authority“115 genießt und dessen Werk wie kein anderes die Diskussion geprägt hat und immer noch prägt. Der gemeinsame Oberbegriff darf zwar nicht über die vereinzelt erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Strömungen hinwegtäuschen. Trotzdem sollen hier einige Gemeinsamkeiten herausgeschält werden: Genealogisch entwickelte sich diese Rechtsschule aus der „Interessenjurisprudenz“. Deren Vertreter sahen das Recht als „Interessenschutz“ und stellten die im Konfliktfall bestehenden Interessengegensätze in den Vordergrund. Die Interessenjurisprudenz scheiterte aber unter anderem an der Unschärfe des Begriffs „Interesse“116, der die bedeutsame Gerechtigkeitsidee zwar nicht ausblendete, aber zumindest oft in den Hintergrund treten ließ117. Ein weiterer Kritikpunkt war die schwerpunktmäßige Konzentration auf die Erforschung der Vorstellungen des historischen Gesetzgebers, die oft zur Ausfüllung von Gesetzeslücken nicht viel beitragen konnten118. Die Vertreter der Wertungsjurisprudenz stellen hingegen die ge-

114 Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn. 46. Verfassungsrechtliche Erwägungen, denen z. B. Larenz (Methodenlehre, S. 339 ff.) eine eigene Stufe im Auslegungskanon einräumt, werden nach hiesigem Verständnis ebenfalls im Rahmen der objektiv-teleologischen Auslegung geprüft. 115 Krause in: Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, S. 451, 452. 116 Vgl. die Kritik von Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 118): „Sie litt jedoch unter der unklaren Verwendung des Ausdrucks ,Interesse‘: dieses wurde einmal als den Gesetzgeber motivierender ,Kausalfaktor‘, zum anderen als Gegenstand der von ihm vorgenommenen Bewertung und gelegentlich sogar als Bewertungsmaßstab verstanden.“ 117 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 123 ff.; Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, S. 16: „So wesentlich die Interessenbewertung ist … so ist ihr weder für die Auslegung noch für den rechtskulturellen Wert der Norm das entscheidende Gewicht beizumessen. Die bloße Interessenbewertung mag zwar den Einzelstreit zu entscheiden und im großen Feld des sozialen Lebens gestaltend zu wirken, isoliert gesehen bleibt sie aber bloßer Machtanspruch, der den Menschen nicht innerlich zu lösen oder zu binden vermag … Dazu bedarf es vielmehr der Gründung auf eine tiefere Schicht, die die Norm vom nackten Machtanspruch abhebt; das ist die Bezugnahme auf die Gerechtigkeitsidee, die, – so sehr sie sich auch einer nur formellen Begriffsbestimmung entzieht – als eine der höchsten Werte menschlichen Seins seit je gegolten hat.“ 118 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 127; Fikentscher, Methoden III, S. 405.

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setzlichen Bewertungsmaßstäbe als „Folgerungen aus der Gerechtigkeitsidee“119 in den Vordergrund. Gesetze regeln nach diesem Verständnis zwar Interessenkonflikte, sind aber nicht von diesen Interessen abhängig, sondern erheben einen eigenen Anspruch gerechter Bewertung. Der Richter hat diese Wertungen, die durchaus über die historische ratio legis des Gesetzgebers hinausgehen können, objektiv nachzuvollziehen. Ein eigener Willensanteil wird nur „in dem ordnenden Werten und wertenden Ordnen durch das Urteil“120 gestattet. Im Gegensatz zu Westermann, der eine „gesetzesimmanente Wertungsjurisprudenz“121 propagiert und zur Ermittlung von Werten nur auf das positive Recht zurückgreift122, erweitert Larenz den Blick auf die „Rechtsordnung als einem Sinnganzen“123 („rechtsfortbildende Wertungsjurisprudenz“124) und will neben positivierten Prinzipien auch außergesetzliche Bewertungsmaßstäbe für die Rechtsgewinnung verwenden125. Larenz geht es dabei im Sinne Hegels126 um einen übergeordneten rechtsphilosophischen und ethischen Sinnzusammenhang, der positives Recht nicht nur ergänzen, sondern sogar auch abändern kann. Er befindet sich damit auf einer Linie mit dem Bundeverfassungsgericht, das auch den Verfassungsgeber an die „jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze“127 bindet. Diese sind Teil der „verfassungsmäßigen Ordnung als einem Sinnganzen“128. Schöpferische Rechtsfindung hat somit nach „Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertesystems“129 zu erfolgen. Das Rationalitätsgebot der Rechtsfindung erfordert dabei „das Offenlegen der erfor119

S. 17. 120

S. 12. 121

Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht,

Fikentscher, Methoden III, S. 406. Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, S. 14 ff., v. a. S. 31: „Aber wie die Auslegung und die Analogie ist auch die Rechtsschöpfung letztlich auf die erkennende Ableitung von Einzelwertmaßstäben aus gesetzlich normierten Wertungen beschränkt.“ 123 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 368. 124 Fikentscher, Methoden III, S. 406 ff. Fikentscher nennt überdies noch die „gesellschaftsimmanente“ (vor allem Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts) und „die Gesellschaft transzendierende“ Wertungsjurisprudenz (Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte). 125 Zu weiteren Ansätzen der Wertungsjurisprudenz vgl. nur Fikentscher, Methoden III, S. 406 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 128 ff. 126 Vgl. zum (Neu)Hegelianismus: Lepsius, Die gesetzesaufhebende Begriffsbildung, S. 271 ff. 127 BVerfG v. 23. 10. 1951 – 2 BvG 1/51 – BVerfGE 1, S. 14, 61. 128 BVerfG v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 34, S. 269, 287. 129 BVerfGE v. 1. 8. 1978 – 2 BvR 1013 et al – BVerfGE 49, S. 24, 56; vgl. ebenfalls BVerfG v. 26. 05. 1970 – 1 BvR 83/69 et al – BVerfGE 28, S. 243, 261; BVerfG v. 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/ 69 et al – BVerfGE 30, S. 1, 19; BVerfG v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 34, S. 269, 287; BVerfG v. 05. 06. 1973 – 1 BvR 536/72 – BVerfGE 35, 202, 225. 122

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derlichen und tatsächlich erfolgenden Wertungen“130 und deren rationale und nachvollziehbare Verarbeitung. Objektive Wertungen dürfen nicht einfach behauptet, sondern müssen nachvollziehbar hergeleitet werden. Mit diesem hier grob skizzierten „Zusammenspiel objektiver Rechtsprinzipien“131 ist aber lediglich ein erster Schritt in Richtung einer rationalen Rechtsgewinnung getan. Der Abstraktionsgrad der vorstehend skizzierten Konzepte deutet bereits an, dass auch die Orientierung an „objektiven“ Werten der Rechtsfindung oft noch einen erheblichen Freiraum lässt. Dies gilt freilich für die Gewinnung der Werte an sich, aber auch für deren Konkretisierung durch „Subprinzipien“132, um zu einem subsumierbaren Obersatz zu gelangen. Sieht sich der Interpret trotz objektiver Werterkenntnis noch Interpretationsspielräumen gegenüber, so hat er in Anbetracht des Rationalitätsgebotes nach weiteren Erkenntnisquellen Ausschau zu halten, die eine rationale und intersubjektiv vermittelbare Reduktion des Abstandes zwischen Normtext und konkretem Rechtsfall ermöglichen. Eine solche, besonders für die vorliegende Untersuchung bedeutsame, Erkenntnisquelle ist die Struktur und Eigenart des geregelten Lebensbereiches133, an die die Norm anknüpft. So kann die Kenntnis der Tatsachen bei der Einengung der prinzipiell unendlichen Wertungsmöglichkeiten assistieren und eine sachgerechte Konkretisierung ermöglichen134. Die Sachgerechtigkeit der Wertungskonkretisierung ist wiederum eng mit deren intersubjektiver Überzeugungskraft (Objektivität) verknüpft. Zwar wäre es vermessen zu behaupten, dass die (hypothetische) vollständige Informiertheit über einen Lebensbereich immer auch zu einem Gleichlauf der diesen betreffenden Wertungen führen würde135. Die Kenntnis der Realität kann aber jedenfalls einen Beitrag leisten, den Wertungsprozess zu objektivieren und damit für die gesamte Rechtsgemeinschaft einsichtig zu machen. So ist die Entscheidung einer Gesellschaft, ob sie zur Energiegewinnung die Atomkraft nutzen möchte, letztlich eine Wertungsentscheidung über die Frage, ob sie das statistisch nur marginale136 Risiko, das dieser Technik innewohnt, hinnehmen 130

Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 275. Krause in: Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, S. 451, 454. 132 Schenke, Rechtsfindung im Steuerrecht, S. 39. 133 Larenz, Methodenlehre, S. 333. 134 Fikentscher, Methoden IV, S. 193: „Übrig bleiben bei guter tatsächlicher Aufklärung der Entscheidung nur wenige Winkelgrade des ,Wertungsfächers‘ in der Mitte.“ 135 „Aus dem Sein folgt kein Sollen.“ Vgl. dazu ausführlich sogleich unter § 2 A. IV. 136 Die großangelegte „Deutsche Risikostudie Atomkraftwerke – Phase B“ kam bei der Berechnung des sogenannten Restrisikos für Reaktor Biblis B zu dem Ergebnis, dass mit einer Kernschmelze die zu bedeutenden Belastungen des Sicherheitsbehälters führen, aller 1.000.000 bis 100.000.000 Jahre zu rechnen ist. Diese Wahrscheinlichkeit berücksichtigt noch nicht die anderen deutschen Atomkraftwerke. Die Studie weist selbst darauf hin, dass aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeiten Abweichungen denkbar sind. Dementsprechend sind die Zahlen auch umstritten. Verdeutlicht werden soll hier insofern nur, dass das Risiko sehr gering ist. Vgl. Riesenhuber, Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke – Phase B, S. 83 f. 131

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will oder nicht. Diese Wertungsentscheidung ist nicht mehr rational nachprüfbar und in demokratischen Staaten eine Entscheidung der jeweiligen politischen Mehrheit. Während es in Deutschland seit jeher eine sehr starke Anti-Atomkraftbewegung gab, die mittlerweile den Ausstieg aus dieser Technologie erreicht hat, hat Frankreich derzeit über 58 Reaktoren in Betrieb und weitere in Planung und es sind noch keine bemerkenswerten Protestbewegungen erkennbar137. Die französische Gesellschaft bewertet das Risiko offenkundig anders als die deutsche. Bei der Risikobewertung handelt es sich in diesem verschwindend geringen Wahrscheinlichkeitsbereich deshalb um eine subjektive, nicht nachprüfbare Wertentscheidung. Dies zeigt ganz deutlich, dass sich ein Werturteil nie in einer reinen Tatsachenbehauptung erschöpft, denn „damit geht gerade der Wertcharakter verloren.“138 Man stelle sich aber den hypothetischen Fall vor, dass ein geologisches Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass in Europa innerhalb der nächsten 5 Jahre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gravierende tektonische Verwerfungen, verbunden mit schweren Erdbeben, bevorstehen, denen die Sicherheitssysteme der Meiler nichts entgegenzusetzen hätten. Eine solch sprunghafte Erhöhung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Super-GAUs würde freilich auch auf die Wertung über die Akzeptanz des Risikos durchschlagen. Es würde sich niemand mehr finden lassen, der unter diesen Umständen das Risiko noch als akzeptabel bewertet. Die gesetzliche Erlaubnis zum Betreiben von Atomkraftwerken wäre wohl sogar verfassungswidrig gem. Art. 2 Abs. 2 GG. Wertungen können demnach ganz offensichtlich nicht ohne Rücksicht auf den Gegenstand getroffen werden, den sie als billigenswert oder nicht billigenswert auszeichnen139. Insofern liegt der Gedanke auf der Hand, dass die individuellen Wertungen in dem Maße konvergieren, in dem ihre Wissensgrundlagen über den betreffenden Regelungsgegenstand zunehmen140. Diese Konvergenz stößt wie gesehen an Grenzen, ist aber so weit wie möglich voranzutreiben, um den Kreis der möglichen Wertungen einzuengen141. Wenn die Kenntnis der Realität zur Objektivierung von Wertungen beitragen kann, ist der Interpret durch das Rationalitätsgebot verpflichtet, diese Möglichkeit wahrzunehmen und sie seiner Wertungsentscheidung zugrundezulegen. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, inwiefern die Rechtsfindung durch die Wirklichkeit rationalisiert werden kann und welche Grenzen dieser Prozess zu respektieren hat.

137

Mez/de Haan/Gerhold, Atomkraft als Risiko, S. 17. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, S. 198; ebenso Podlech, AöR 1970, S. 185, 195 ff. 139 Fikentscher, Methoden IV, S. 192. 140 Vgl. Jost, Soziologische Feststellungen, S. 23; Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 84, 207. 141 Fikentscher, Methoden IV, S. 193. 138

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IV. Wirklichkeit in der Rechtsfindung Seit David Hume142 gilt, dass aus dem Sein kein Sollen folgt. Diese Erkenntnis hat ihren Weg über Kant143 zu Radbruch144 und Kelsen145 gefunden, deren Interpretation dieser Formel großen Einfluss auf die deutsche Rechtswissenschaft nahm. Unbestritten ist auch heute noch, dass Fakten allein keine normative Bedeutung erlangen können. Erforderlich ist dafür in einer parlamentarischen Demokratie immer eine legitimierende Willensäußerung des Gesetzgebers. Es wäre trotzdem lebensfremd, Recht als realitätsautarkes System verstehen zu wollen. Recht gestaltet eine Wirklichkeit, die der Gesetzgeber als defizitär und deshalb gestaltungsbedürftig angesehen hat146. Es ist deshalb gerade Kennzeichen von Normativität, dass „sie bestimmte Wirklichkeiten bekämpft und neue (bessere) Wirklichkeiten fördert.“147 „Bei aller Eigenständigkeit der Norm gegenüber der Wirklichkeit … ist die Wirklichkeit für die Normativität gleichwohl von konstituierender Bedeutung.“148 Je offener die Norm und die ihr immanente Wertung ausgestaltet ist, desto „informationsempfindlicher“149 ist sie auch. Sowohl Ursachen als auch intendierte Wirkungen von Rechtsnormen können deshalb nicht ohne Kenntnis der Realität erfasst werden, die sie formen wollen150. Das Rationalitätsgebot methodischer Rechtsfindung verpflichtet zu diesem Vorgehen. Wo rationale rechtliche Begründungsmaßstäbe an ihre Grenzen stoßen, „können und müssen außerrechtliche Maßstäbe zur Anwendung gelangen.“151 Ein dichotomes Verständnis des angesprochenen Begriffspaars darf aus diesen Gründen schon seit geraumer Zeit als überwunden gelten152. Im Schrifttum führte maßgeblich die Auseinandersetzung mit Kelsens „Reiner Rechtslehre“, die bisher am pointiertesten die Trennung zwischen empirischer und normativer Realität propagierte, zur Durchsetzung der Erkenntnis, dass beide Sphären nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Dies zeigt sich mittlerweile in einer un-

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Hume, A Treatise of Human Nature, S. 172. Vgl. nur Kant, Kritik der reinen Vernunft, Rz. 369 ff. 144 Radbruch, Rechtsvergleichende Schriften, S. 154: „Nimmermehr läßt sich aus dem Sein das Sein-Sollende ableiten, gleichviel ob ein gegenwärtiges oder vergangenes oder ob ein wahrscheinliches künftiges Sein in Frage steht.“ 145 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5: „Niemand wird leugnen, daß daraus, daß etwas ist, nicht folgen kann, daß es sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist.“ 146 Gusy, JZ 1991, S. 213, 216; Starck, JZ 1972, S. 609, 612. 147 Starck, JZ 1972, S. 609, 612. 148 Starck, JZ 1972, S. 609, 612. 149 Fikentscher, Methoden IV, S. 194. 150 Vgl. BSG v. 16. 08. 1973 – 4 RJ 361/72 – SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO. 151 Gusy, JZ 1991, S. 213, 218. 152 Gusy, JZ 1991, S. 213; Larenz, Methodenlehre, S. 132. 143

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§ 2 Allgemeiner Teil

übersehbaren Vielzahl von „höchst anspruchsvollen rechtstheoretischen Formulierungen des gleichen Ergebnisses.“153 Diese Entwicklung ist untrennbar mit dem wissenschaftlichen Werk Friedrich Müllers154 verbunden, der mit seiner „strukturierenden Rechtslehre“ als wohl bedeutendster Vertreter der nachpositivistischen Rechtstheorie gilt155. In besonders konsequenter Weiterentwicklung der Erkenntnis, dass die für die Lösung des konkreten Rechtsfalles erforderlichen Vorgaben der jeweiligen Norm nicht allein auf logisch-deduktivem Wege zu entnehmen sind, weist Müller dem zur Entscheidung berufenen Richter die originäre Aufgabe der Normbildung auf Grundlage des Normtextes zu156. Die Normbildung habe dabei unter Berücksichtigung des jeweils betroffenen Ausschnittes aus der Lebenswirklichkeit („Normbereich“) zu erfolgen157. Müller setzt sich damit für eine Aufgabe der Entgegensetzung zwischen Sein und Sollen ein und ermöglicht den Weg zu einer rationalen Synthese dieser scheinbaren Antipoden. Auch das prozessuale158 Schrifttum hat sich der Problematik angenommen. Aus dessen Perspektive spielen vor allem beweisrechtliche Aspekte eine Rolle und damit die Frage, welche Möglichkeiten für die Gerichte bestehen, Tatsachen im Prozess zu ermitteln und in den Normkonkretisierungsprozess einfließen zu lassen. Trotz vielfältiger Überschneidungen haben beide Seiten bisher erstaunlicherweise nur wenig Notiz voneinander genommen. So beklagt sich Hergenröder, der die bisher umfangreichste Untersuchung zur prozessualen Berücksichtigung normrelevanter Tatsachen vorgelegt hat159, über ein weitgehend enttäuschendes „Schweigen der traditionellen Methodenlehre.“160 Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, die Ergebnisse beider Diskussionen in einen gemeinsamen dogmatischen Rahmen einzuordnen. Auf Seiten der Rechtsprechung fand bisher überwiegend nur eine eingeschränkte methodische Reflexion dieser Problematik statt. Eine Ausnahme stellt allerdings die

153 Gusy, JZ 1991, S. 213; vgl. dazu Fikentscher, Methoden IV, S. 192; Larenz, Methodenlehre, S. 334 f. 154 Vgl. vor allem Müller, Normstruktur und Normativität; ders., Strukturierende Rechtslehre; ders. Juristische Methodik I. 155 Forgó/Somek, Neue Theorien des Rechts, S. 253, 264; vgl. aber auch die neueren Beiträge von Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens und Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung. 156 Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 66 f., 437 f.; kritisch insofern Larenz (Methodenlehre, S. 134), nach dessen Auffassung der Anteil der Gesetzgebung durch Müller als zu gering eingeschätzt wird. 157 Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 132 ff., 231 ff. 158 Vgl. dazu unten § 2 A. IV. 3. 159 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen. 160 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 351.

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Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes zu „generellen Tatsachen“ dar161. Vor allem dessen Entscheidung vom 24. 3. 1973162 ist eine vorbildliche Anleitung für eine rationale Synthese von Recht und Realität. Ungeachtet der methodischen Defizite existieren aber unzählige Beispiele aus der Spruchpraxis, in denen empirische Erkenntnisse (mehr oder weniger offenkundig) in die Rechtsfindung eingeflossen sind163. Die Gefahren, die mit einer solchen Vorgehensweise einhergehen, liegen auf der Hand: Es ist für die Verfahrensbeteiligten nur schwer nachvollziehbar, wann und anhand welcher Kriterien sich die Rechtsprechung empirischer Daten bedient. Dadurch wird rationale Kritik an den verwendeten Fakten und das Einbringen eigener Erkenntnisse durch die Parteien erheblich erschwert. Außerdem kann der Richter versucht sein, statt objektiver Daten „Alltagstheorien“164 zur Konkretisierung einer Norm zu verwenden. Diese Erfahrungssätze sind oft nur schwer angreifbar, da ihre Ermittlungsgrundlage nicht vollkommen offen gelegt wird. Während demnach das „Ob“ der Berücksichtigung von Wirklichkeit bei der Obersatzbildung mittlerweile 161

Die methodisch tiefgründigste Reflexion von Wirklichkeit bei der Rechtsfindung kann dem Bundessozialgericht und seiner Rechtsprechung zu den „generellen Tatsachen“ attestiert werden: Vgl. nur BSG v. 16. 08. 1973 – 4 RJ 361/72 – SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO; BSG v. 05. 07. 1994 – 2 RU 24/93 – SozR 3 – 2200 § 548 Nr. 20; BSG v. 16. 12. 1986 – 6 RKa 3/85 – SozR 2200 § 368 f Nr. 12 ; BSG v. 15. 06. 2004 – B 2 U 71/04 B; BSG v. 02. 04. 2009 – B 2 U 9/ 08 R – SozR 4 – 2700 § 9 Nr. 14. 162 BSG v. 16. 08. 1973 – 4 RJ 361/72 – SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO: Streitgegenstand war ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Maßgeblich war dabei die Frage, ob der relevante Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Antragstellung für die Klägerin als verschlossen gelten konnte. Das Gericht kritisierte dabei die realitätsferne Tatsachengrundlage der Landesversicherungsanstalt und stellte ein umfassendes Konzept zur sachgemäßen Konkretisierung dieses Rechtsbegriffs auf. 163 Vgl. BVerfG v. 12. 2. 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 24, S. 269, 288: „Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Ansschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln.“; BVerfG v. 24. 3. 1987 – 1 BvR 147, 478/86 – BVerfGE 74, S. 297, 350: „Inhalt und Tragweite verfassungsrechtlicher Begriffe und Bestimmungen hängen (auch) von ihrem Normbereich ab; ihre Bedeutung kann sich bei Veränderungen in diesem Bereich wandeln … Soll die Rundfunkfreiheit in einer sich wandelnden Zukunft ihre normierende Wirkung bewahren, dann kann es nicht angehen, nur an eine ältere Technik anzuknüpfen…“; Zur Frage, ob „eheähnliche Gemeinschaften“ als sozialtypisch anzusehen sind: BVerfG v. 3. 4. 1990 – 1 BvR 1186/89 – BVerfGE 82, S. 6, 13; vgl. auch die gerichtsinterne Auseinandersetzung über die Strukturen der aktuellen Medienlandschaft BVerfG v. 24. 1. 2001 – 1 BvR 2623/95, 622/99 – BVerfGE 103, S. 44, 66 f., 73 f.; weitere Nachweise bei Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 102 Fn. 218; BGH v. 28. 06. 1990 – 4 StR 297/90 – NJW 1190, S. 2393: „Die Entscheidung der Frage, ab welchem Grenzwert alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers … anzunehmen ist, läßt sich nur unter Heranziehung medizinisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnisse treffen. Soweit diese in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als richtig anerkannt werden, sind sie für den Richter bindend.“ 164 Vgl. dazu Bürkle, Richterliche Alltagstheorien; Jost, Soziologische Feststellungen; Stein, Das Private Wissen des Richters.

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unumstritten ist165, hat sich bzgl. des „Wie“ noch kein Konsens herausgebildet. Im Folgenden soll demnach auf die Frage eingegangen werden, an welchen Punkten des Konkretisierungsprozesses von unbestimmten Rechtsbegriffen Tatsachen eine Rolle spielen können und welche Grenzen dieser Prozess zu respektieren hat. 1. „Normtatsachen“ im Obersatz Im Rahmen der Rechtsanwendung und damit des überkommenen Syllogismus166, sind für den Juristen Tatsachen in zweierlei Hinsicht relevant und müssen deswegen ermittelt werden. Zunächst bei der Aufklärung des Sachverhaltes, der unter die betreffende Norm subsumiert wird. Diese Tatsachen werden vielfach unter dem Begriff „Subsumtionstatsachen“167, „Einzeltatsachen“168 oder auch „adjuctative facts“169 geführt. Darunter werden solche Tatsachen verstanden, die „im Sinne des Beweisrechts für die Anwendung einer bestehenden Rechtsnorm erheblich sind.“170 Dies betrifft schlicht und einfach die Frage, ob im konkreten Sachverhalt die tatsächlichen Voraussetzungen einer Rechtsnorm vorliegen, um diese zur Anwendung zu bringen. Die Ermittlung des konkreten Sachverhaltes gehört zum juristischen Standardprozedere und ist im Gerichtsverfahren durch eine Vielzahl von Beweisregeln prozessual eingehegt. Soweit die Subsumtion dieser Tatsachen unter die anwendbare Rechtsnorm ein eindeutiges Ergebnis produziert und der Norm selbst somit hinreichend konkrete Angaben zur Lösung des konkreten Rechtsfalles zu entnehmen sind, ist kein weiterer Blick des Rechtsanwenders in die außerrechtliche Realität mehr erforderlich. Das positive Recht steckt insoweit grundsätzlich171 einen klaren Rahmen ab. Direkt proportional zum Abstraktionsniveau der betreffenden Vorschrift steigt aber auch die Anzahl der Interpretationsmöglichkeiten, so dass nur mithilfe des syllogistischen Schlusses vielfach keine eindeutige Lösung zu erzielen ist. In diesem Anwendungsbereich der offenen Normprogramme erlangt regelmäßig eine weitere Gruppe von Tatsachen Bedeutung. Dabei handelt es sich um die sogenannten „Normtatsachen“172. Normtatsachen sind diejenigen Tatsachen, die der Installierung 165

Vgl. nur Gusy, JZ 1991, S. 213, 214. Vgl. dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 92 ff. 167 Dieser Begriff geht auf Hugo Seiter (FS Baur, S. 573 ff.) zurück. Dazu überdies Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 285; Hirte, ZZP 104 (1991), S. 11, 47, 53; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 408; Konzen, FS Gaul, S. 335, 340; Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, S. 55. 168 Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, S. 342. 169 Lepsius, JZ 2005, S. 1. 170 Seiter, FS Baur, S. 573, 574. 171 Ausnahme ist bei offensichtlich zweckwidrigen Ergebnissen die teleologische Reduktion. 172 In die Diskussion eingeführt wurde dieser Terminus durch Eike Schmidt in: RuP 1980, S. 106, 109 und FS Wassermann, S. 807 ff. Er wurde daraufhin sukzessive von weiteren Autoren 166

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bzw. Operationalisierung von Rechtsnormen bei unvollständiger Programmierung durch den Gesetzgeber dienen173. Oder einfacher ausgedrückt: Fakten, die das Gericht zur Bildung juristischer Obersätze und Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe oder Blankettnormen kennen muss174. Synonym verwendet werden ebenfalls die Begriffe „Rechtsfortbildungstatsachen“175, „generelle Tatsachen“176, „Normbildungstatsachen“177 oder auch „legislative facts“178. Normtatsachen finden ihre Bedeutung innerhalb des Syllogismus nicht im Untersatz, sondern dienen der Bildung oder Konkretisierung eines abstrakten Rechtsbefehls und damit des Obersatzes179. Die Gesamtheit der Normtatsachen, die für die Konkretisierung eines juristischen Obersatzes bedeutsam sind, werden in der allgemeinen Methodenlehre als „Strukturen des geregelten Sachbereichs“180 bzw. als „Normbereich“181 bezeichnet. rezipiert (Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, S. 341 ff.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 408; Konzen, FS Gaul, S. 335 ff.; Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, S. 57 ff.; Musielak, ZPO, § 284 Rn. 3; Sander, Normtatsachen im Zivilprozess). Vgl. für die Verwendung von Normtatsachen in England und den USA: Maultzsch, Streitenscheidung und Normbildung, S. 403 ff. 173 Schmidt, FS Wassermann, S. 807, 811; vgl. auch die Definition von Rüssmann in: Elemente einer juristischen Begründungslehre, S. 358: „Meistens geht es dabei um generelle Informationen über die Welt, die man zu benötigen glaubt, um gerade normativ noch nicht durchstrukturierte Bereiche aus Anlaß konkreter Streitfälle mit handhabbarer Regelungsdichte zu versehen: Es geht um richterliche Rechts(fort)bildung.“ 174 Musielak, ZPO, § 284 Rn. 3. 175 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 329 ff. Hergenröder (Zivilprozessuale Grundlagen, S. 348 ff.) setzt die genannten Begriffe mit den Normtatsachen gleich, tut dies allerdings auf Grundlage eines prozessualen Rechtsfortbildungsbegriffs. Dieser baut auf dem Gedanken auf, dass in prozessualer Hinsicht jegliche neue Erkenntnis des geltenden Rechts eine Fortbildung desselben darstelle, auch wenn sie methodisch als bloßer Gesetzesvollzug oder als Auslegung zu qualifizieren ist (Zivilprozessuale Grundlagen, S. 145 ff.); vgl. auch MüKo-ZPO/ Prütting, § 291 Rn. 20; Seiter, FS Baur, S. 573 ff. 176 Bender, ZIP 1985, S. 451; Lepsius, JZ 2005, S. 1; Dieser Begriff wird vor allem vom BSG verwendet. Vgl. nur BSG v. 16. 08. 1973 – 4 RJ 361/72 – SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO; BSG v. 05. 07. 1994 – 2 RU 24/93 – SozR 3 – 2200 § 548 Nr. 20; BSG v. 16. 12. 1986 – 6 RKa 3/ 85 – SozR 2200 § 368 f Nr. 12 ; BSG v. 15. 06. 2004 – B 2 U 71/04 B; BSG v. 02. 04. 2009 – B 2 U 9/08 R – SozR 4 – 2700 § 9 Nr. 14. 177 Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, S. 396 ff. 178 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 285; Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, S. 7 m. w. N.; Seiter, FS Baur, S. 573, 574. 179 MüKo-ZPO/Prütting, § 291 Rn. 20; Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 306 Fn. 8. 180 Larenz, Methodenlehre, S. 333. 181 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 244 ff., 526 ff.; Hoffmann-Riem, FS Raiser, S. 515, 525 verwendet den Terminus „Realbereich der Norm“, verweist dabei aber auf Müller/Christensen und meint soweit ersichtlich das gleiche. Mittlerweile hat auch das BVerfG die Terminologie Müllers übernommen. Vgl. BVerfG v. 24. 3. 1987 – 1 BvR 147, 478/86 – BVerfGE 74, S. 297, 350: „Inhalt und Tragweite verfassungsrechtlicher Begriffe und Bestimmungen hängen (auch) von ihrem Normbereich ab.“; vgl. auch BverfG v. 3. 4. 1990 – 1 BvR 1186/89 – BVerfGE 82, S. 6, 13.

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Der Normbereich kann als „die Grundstruktur des Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, den sich das Normprogramm als Regelungsfeld ausgesucht und/oder häufig erst geschaffen hat“182, umschrieben werden. Damit ist zugleich die maßgebliche Verbindungslinie zwischen der prozessualen und der allgemeinen methodischen Forschung aufgezeigt: Die Normtatsachen konstituieren den Normbereich und dessen Strukturen. Bei gänzlich rechtserzeugten Normbereichen (Vorschriften über Fristen, Termine, Formalien) spielen Tatsachen keine Rolle183. Dort wo die Sollensnorm aber zum Beispiel an die soziale, wirtschaftliche oder medizinisch-technische Realität anknüpft, sind auch deren Strukturen in den Blick zu nehmen. Normtatsachen betreffen nicht nur den konkreten Rechtsstreit. Dieser bietet für ihre Verifikation lediglich den Anlass, aber nicht den Grund, der vielmehr in der nicht ausreichenden Programmierung der rechtlichen Problematik besteht184. Ihr Standort „im Zwischenfeld zwischen abstrakter Rechtsnorm und zu subsumierender Einzeltatsache“185 führt deswegen dazu, dass sie über den konkreten Rechtsstreit hinaus Bedeutung für eine Vielzahl weiterer ähnlich oder gleich gelagerter Fälle haben. Normtatsachen haben demnach mit der reinen ungefilterten Wirklichkeit zunächst einmal nichts zu tun. Diese muss für die rechtliche Rezeption erst aufbereitet werden. Unter Aufbereitung ist hier die Übersetzung von Wirklichkeit in abstrakte Regeln oder auch „Sätze über Wirklichkeit“186 gemeint. Wenn die betreffende Rechtsnorm für eine unendliche Vielzahl von Konstellationen Geltung beansprucht, muss dies ebenso für die Aussage über die Wirklichkeit gelten, um normative Wirkung entfalten zu können. Das Besondere an Normtatsachen ist demnach, dass sie nicht nur wie die Subsumtionstatsachen an der „geläufigen justiziellen Retrospektive“187 teilnehmen, sondern überdies einen zukunftsgerichteten Charakter aufweisen. Sie beziehen sich nicht auf einzelne Menschen oder Sachen, sondern „auf eine Klasse von Menschen oder Sachen.“188 So spielen bei der Beurteilung, ob der behandelnde Arzt bei einer fehlgeschlagenen Operation die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (§ 276 Abs. 1 S. 2 BGB) beachtet hat, die konkreten Umstände des Einzelfalles für die Bildung des Obersatzes keine Rolle. Entscheidend sind für die Konkretisierung des Haftungsmaßstabes die für die konkrete Behandlungsmethode erforderlichen „Regeln der ärztlichen Kunst“ und damit „die – objektivierbaren – Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“189. Dabei wird nicht nur darauf abgestellt, was faktisch praktiziert wird. Es 182

Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 527. Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 527. 184 Schmidt, FS Wassermann, S. 807, 811. 185 BSG v. 16. 08. 1973 – 4 RJ 361/72 – SozR Nr. 114 zu § 1246 RVO. 186 Gusy, JZ 1991, S. 213, 214. 187 Schmidt, FS Wassermann, S. 807, 811. 188 Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, S. 162. 189 Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 53 Rn. 22; vgl. ebenso BSG v. 7. 11. 2006 – B 1 KR 24/06 R – NZS 2007, S. 534; BGH v. 29. 11. 1994 – VI ZR 189/93 – NJW 1995, S. 776 f. 183

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wird vielmehr normativ wertend auf das anerkannt Richtige, das „in Wissenschaft und Praxis als erforderlich angesehene Normalverhalten“190, Bezug genommen. Diese Erkenntnisse gelten als Beurteilungsmaßstab für alle weiteren Behandlungen gleichen Typs, bis der wissenschaftliche Fortschritt eine Neubewertung notwendig macht. Das Beispiel sollte noch einmal verdeutlichen, dass die Realität nie in ihrer Reinform in den Normbildungsprozess einfließen kann, da sie in diesem Aggregatzustand noch keinen rechtlich erheblichen Aussagewert hat191. Die Wirklichkeit darf immer nur durch die „normative Brille“ der betreffenden Vorschrift betrachtet werden, die entscheidet, welche Fakten in welcher Form rechtserheblich sind. Verwendbar sind nur beschreibende Aussagen über Wirklichkeit in Anbetracht der normativen Prämissen. Um eine „wahllose Fakteneinbringung“192 zu vermeiden, ist in letzter Instanz demnach immer ein juristisches Urteil erforderlich, um die empirischen Fakten in rechtlich verwertbare Kategorien zu transformieren. 2. Grenzen der Wirklichkeitsrezeption bei der Normbildung Die Grenzen der Wirklichkeitsrezeption ergeben sich aus Art. 20 Abs. 3 bzw. Art. 97 Abs. 1 GG und damit aus Recht und Gesetz. Diese Aussage bedarf freilich noch der Konkretisierung. Die Frage nach den Grenzen der Wirklichkeitsrezeption ist zunächst eine nach deren Möglichkeiten. Insofern gilt ein deutliches Subsidiaritätsprinzip. Die Rationalität der Normbildung ist primär die Rationalität der Ableitung aus dem geschriebenen Recht und überpositiven Rechtsprinzipien. Dies gilt vor allem für Wertungen ohne unmittelbaren Tatsachenbezug. So musste der BGH bei der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Schutzgut des § 823 Abs. 1 BGB keine Tatsachenbetrachtung anstellen193. Ein durch vorgegebene Wertungen determiniertes Ergebnis bedarf keiner tatsächlichen Erwägungen mehr. Aber auch in anderen Fällen kann die Orientierung an der Rechtsordnung einen erheblichen Beitrag zur Verringerung der Entscheidungsmöglichkeiten bieten. Erst wenn dieser Ableitungsprozess an seine Grenzen stößt, können auch außerrechtliche Erwägungen berücksichtigt werden. Die traditionelle Auslegung steckt somit den Rahmen ab, innerhalb dessen außerrechtliche Argumente Verwendung finden können. Mit einer solchen Vorgehensweise kann man auch der Befürchtung Max Webers begegnen, dass „die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden (wird), wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer 190

Katzenmeier, Arzthaftung, S. 279. Vgl. dazu auch Starck, JZ 1972, S. 609, 613. 192 Jost, Soziologische Feststellungen, S. 165. 193 Ständige Rspr. des BGH seit dem 25. 05. 1954 – I ZR 211/53 – BGHZ 334, 338; bestätigt durch BVerfG v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 34, S. 269 ff.; Beispiel bei Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 356. 191

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Begriffe treten.“194 Außerrechtliche Räsonnements sollen juristische Begriffe gerade nicht ersetzen, sondern lediglich ihren Wirklichkeitsbezug erhellen. Eine präzisere tatsächliche Erkenntnis setzt sich demnach auch in präziserer juristischer Arbeit fort. Neben dem Subsidiaritätsgrundsatz beschränkt freilich das geltende Recht die Möglichkeiten der Rezeption. Insbesondere bei der Auslegung von Normen mit starkem Wirklichkeitsbezug hat sich der Interpret immer den kontrafaktischen, gestaltenden Charakter normativer Rechtsbegriffe zu vergegenwärtigen. Es ist gerade deren Funktion, einen als ungenügend angesehenen Realitätsausschnitt umzugestalten195. Der tatsächliche Realitätszustand kann deswegen das Sollen zunächst einmal nicht beeinflussen. Die Empirie kann nur bei dem Verständnis der gestaltungsbedürftigen Realität assistieren, um die noch unfertige Sollensanordnung im Sinne des Normzweckes so sachgerecht wie möglich zu konkretisieren. Normtatsachen können demnach nur Berücksichtigung finden, wenn sie nicht dem geltenden Recht zuwiderlaufen und wenn die Möglichkeiten genuin rechtlicher Argumentation erschöpft sind. 3. Exkurs: Prozessuale Rahmenbedingungen von Normtatsachen Die Rechtsprechung ist – im Gegensatz zur Literatur – bei der Normbildung mit Hilfe von Normtatsachen an die Vorgaben des Prozessrechts gebunden. Die praktische Relevanz der vorstehenden methodischen Überlegungen hängt deshalb ganz entscheidend davon ab, ob das Prozessrecht Möglichkeiten bereitstellt, um Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften einfließen zu lassen. Die folgende Betrachtung ist auf die Verfahrensordnungen beschränkt, die bei Streitigkeiten um die Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes zur Anwendung kommen. Die entsprechenden Verfahren werden im Wesentlichen vor den Arbeitsgerichten im Wege des Urteilsverfahrens gem. § 2 ArbGG und des Beschlussverfahrens gem. § 2 a ArbGG ausgetragen. Mit bestimmten Besonderheiten, gilt für beide Verfahren gem. §§ 46 Abs. 2, 80 Abs. 2 S. 1 ArbGG die ZPO. In Betracht kommt überdies ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gem. § 121 BetrVG, das vor den Strafgerichten geführt wird und auf das demzufolge die StPO anwendbar ist. Die Verfahrensordnungen sind lediglich auf Subsumtionstatsachen zugeschnitten, da nach traditionellem Verständnis der Richter das Recht zu kennen hat196. Normtatsachen werden hingegen an keiner Stelle erwähnt. In der Rechtsprechung hat bisher fast keine prozessrechtliche Einordnung von Normtatsachen stattgefunden. Wenn tatsächlich einmal die empirischen Grundlagen der Normbildung aufgearbeitet werden, erblicken die Gerichte „ganz unbefangen eine richterliche Aufgabe.“197 Dabei gibt es aufgrund der Konzentration der Prozessordnungen auf Sub194 195 196 197

Weber, Rechtssoziologie, S. 346. Gusy, JZ 1991, S. 213, 216. Konzen, FS Gaul, S. 335, 347. Konzen, FS Gaul, S. 335, 345.

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sumtionstatsachen einige Problemkreise, die der Erörterung bedürfen. Aufschluss kann hier wieder nur das Schrifttum geben, innerhalb dessen sich mittlerweile auch einige gefestigte Positionen herauskristallisiert haben. a) Amtsermittlungsgrundsatz Für die Ermittlung von Tatsachen gilt sowohl für das Beschluss(§ 83 Abs. 1 ArbGG) als auch für das Ordnungswidrigkeitenverfahren (§ 244 Abs. 2 StPO) der Untersuchungsgrundsatz, der das Gericht zur eigenständigen Aufklärung verpflichtet. Innerhalb der strafprozessualen Literatur ist die Erhebung von Normtatsachen bisher ein blinder Fleck. Festgehalten werden kann hier nur, dass die StPO nach Auffassung der Rechtsprechung die Einführung von Normtatsachen in den Prozess ermöglicht. Prominenteste Beispiele dafür sind die Entscheidungen des BGH zur Festlegung der Promillegrenze im Rahmen von § 316 StGB198. Der BGH setzte sich in den genannten Entscheidungen ausführlich mit den neuesten medizinisch-naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen auseinander und konkretisierte auf deren Grundlage den Rechtsbegriff der „absoluten Fahruntüchtigkeit.“ Er stellte sogar fest, dass die entsprechenden Forschungsergebnisse „soweit diese in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als richtig anerkannt werden“199, für den Richter bindend sind. Obwohl die erkennenden Senate diese Vorgehensweise nie prozessual reflektierten, kann von deren Zulässigkeit auch im Strafbzw. Ordnungswidrigkeitenprozess ausgegangen werden. Auf den ersten Blick problematischer stellt sich die Lage im Rahmen der ZPO und damit auch im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren dar, wo für Tatsachen grundsätzlich der Beibringungsgrundsatz gilt. Diese Prozessmaxime gilt nach ganz überwiegender Auffassung aber lediglich für die Subsumtionstatsachen. Normtatsachen werden hingegen auch im Anwendungsbereich der ZPO von Amts wegen ermittelt200. Dies ist auch nur folgerichtig, da es bei der Ermittlung von Normtatsachen nicht um die Ergründung des Sachverhaltes, sondern um die Bildung der anwendbaren Rechtsnorm geht. Da es dabei nicht nur um die Interessen der Prozessbeteiligten, sondern auch vieler anderer Rechtsunterworfenen geht, wäre der Beibringungsgrundsatz offensichtlich ungeeignet. Zwar werden die Beteiligten ihre privaten Angelegenheiten durchaus überblicken können. Ob und inwieweit generelle Tatsachen aber nach Auffassung des Gerichtes für die Bildung der Rechtsnorm er-

198 BGH v. 09. 12. 1966 – 4 StR 119/66 – BGHSt 21, S. 157, 159; BGH v. 19. 08. 1971 – 4 StR 574/70 – BGHSt 24, S. 200, 203; BGH v. 29. 10. 1981 – 4 StR 262/81 – BGHSt 30, S. 251, 252 f. BGH v. 17 – 07 – 1986 – 4 StR 543/85 – BGHSt 34, S. 133, 134; BGH v. 28. 06. 1990 – 4 StR 297/ 90 – NJW 1190, S. 2393 ff. 199 BGH v. 28. 06. 1990 – 4 StR 297/90 – NJW 1190, S. 2393. 200 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 397 ff., 485; Konzen, FS Gaul, S. 335, 347 ff.; Schmidt, FS Wassermann, S. 807, 812; zurückhaltend kritisch Musielak/Foerste, ZPO, § 284 Rn. 3.

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§ 2 Allgemeiner Teil

forderlich sind, ist für die Parteien nur schwer erkennbar201. Dies schließt freilich nicht aus, dass die Verfahrensbeteiligten Normtatsachen in den Prozess einführen. Das Gericht muss den Argumenten der Beteiligten aber auch bei einem übereinstimmenden Vortrag nicht folgen, da diese ansonsten die Rechtsentwicklung sachwidrig beeinflussen könnten202. Da es sich bei den Normtatsachen um Rechts- und nicht um Tatfragen handelt, ist das Revisionsgericht überdies nicht an die instanzgerichtlich ermittelten Tatsachen im Sinne von § 559 ZPO gebunden203. Ebenso ist es möglich, Normtatsachen erst in der Revisionsverhandlung in den Prozess einzuführen204. b) Freibeweisverfahren Die Erhebung von Normtatsachen ist nach herrschender Meinung nicht an eine bestimmte Form gebunden und kann im Wege des Freibeweises erfolgen205. Das Gericht kann demnach alle ihm geeignet erscheinenden Beweismittel heranziehen. Aufgrund der engen Verwandtschaft von Normtatsachen zu Erfahrungssätzen wird als normativer Anknüpfungspunkt innerhalb der ZPO oft § 293 ZPO analog herangezogen206. Das Maß der erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen soll das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen im Spannungsfeld von Entscheidungsrationalität und Zeit- beziehungsweise Kostenaufwand festlegen207. Die denkbaren Quellen sind vielfältig. Die wichtigste Rolle spielt dabei wohl die unmittelbare prozessuale Einbeziehung externen Sachverstandes208. Abgesehen von der eigentlichen Sachkenntnis hat das Gericht dabei vor allem auf die Objektivität und Neutralität der Quellen als Merkmale „sachgerechter Expertenbeteiligung“209 zu achten. Am geeignetsten sind demnach immer Sachverständige aus der Wissenschaft. Der Richter kann sich aber auch das Fachwissen von Interessenvertretern und Verbänden zunutze machen210. Er muss sich dabei aber immer auch der gegebenenfalls verminderten

201

Konzen, FS Gaul, S. 335, 348. Schmidt, FS Wassermann, S. 807, 812; Seiter (in: FS Baur, S. 573, 590) fände es mit Recht „unerträglich, wenn die Parteien eines bestimmten Rechtsstreits durch die Disposition über rechtsfortbildungserhebliche Tatsachen die Rechtsentwicklung determinieren könnten.“ 203 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 433 ff.; Konzen, FS Gaul, S. 335, 350 f.; Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, S. 71; Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, S. 396; Schneider, Rechtsfortbildungstatsachen, S. 132 ff.; Seiter, FS Baur, S. 573, 591; vorsichtige Zustimmung auch bei Musielak/Foerste, ZPO, § 284 Rn. 3. 204 MüKo-ZPO/Prütting, § 291 Rn. 20. 205 Schmidt, FS Wassermann, S. 807, 812. 206 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 4389 f.; Hilger, FS Larenz, S. 109, 119; Hirte, ZZP 1991, S. 11, 62; Konzen, FS Gaul, S. 335, 348; Lames, Rechtsfortbildung als Prozeßzweck, S. 57 f. 207 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 403, 485; Seiter, FS Baur, S. 573, 588. 208 Vgl. Röthel, Normkonkretisierung, S. 89. 209 Di Fabio, VerwArch. 1990, S. 193, 211. 210 Hirte, ZZP 1991, S. 11, 54. 202

A. Methodische Grundlagen der Konkretisierung

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Objektivität dieser Stellungnahmen bewusst sein und diese kritisch hinterfragen211. Überdies in Betracht kommen historisch-politische Dokumente, Auskünfte privater und staatlicher Stellen, Meinungsumfragen, Datenbanken oder Hearings212. Insbesondere die Bundesgerichte können zudem auf einen Stab von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Referendaren zur Entscheidungsvorbereitung zurückgreifen213. Aber auch der informelle Austausch mit Praktikern kann wertvolle Informationen liefern und den Richtern helfen, die rechtstatsächlichen Aspekte ihrer Entscheidungen besser zu erfassen214. Dass derartige informelle Quellen aber immer auch überprüft und im Prozess offengelegt werden müssen, versteht sich von selbst215. Der Richter kann sich freilich auch eigenständig einen Überblick über das Schrifttum der jeweiligen Fachdisziplin verschaffen216. Das hätte den großen Vorteil, dass er als „Normkonstrukteur“ selbst die notwendigen Normbauteile ermitteln könnte. Ein derartiges Selbststudium ist aber oft mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden. Die bekanntermaßen hohe Auslastung der Gerichte wird einer eigenständigen vertieften Einarbeitung des Richters in komplexe Problematiken wohl meist entgegenstehen. Zudem birgt ein solches Vorgehen die Gefahr von Rezeptionsfehlern. Damit ist zunächst der Fall angesprochen, dass der Richter relevante Erkenntnisse schlicht übersieht, da er nicht weiß, wo er suchen muss. Aber auch wenn er auf passende Informationen stößt, ist zu befürchten, dass er als Fachfremder diese fehlinterpretiert oder bereits widerlegte Forschungsergebnisse verwendet. Potentiell bessere Voraussetzungen für ein Selbststudium der jeweiligen Fachdisziplin hat die Rechtswissenschaft. Sie steht zunächst nicht unter dem Zeitdruck eines gerichtlichen Verfahrens, das gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG innerhalb einer angemessenen Zeit zu entscheiden ist217 und hat deswegen auch die Möglichkeit, sich umfassend und vertieft in eine fremde Materie einzuarbeiten. Ein weiterer großer Vorteil ist das akademische Umfeld der Universitäten. Kollegen verschiedenster Fachrichtungen sind oft nur einen Fußweg entfernt und können Hilfestellung leisten. Die Rechtswissenschaft ist deswegen in der Pflicht, diese günstigen Umstände auch zu nutzen, um die Rechtsprechung bei der Rechtsfindung zu unterstützen.

211 Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, S. 398 f.; Röthel, Normkonkretisierung, S. 89. 212 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen, S. 485; Konzen, FS Gaul, S. 335, 353. 213 Schneider, Rechtsfortbildungstatsachen, S. 112 f. 214 Hirte, ZZP 1991, S. 11, 54. 215 Vgl. dazu auch Rieble, RdA 2009, S. 280, 283. 216 Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, S. 400. 217 Vgl. nur BVerfG v. 26. 02. 1954 – 1 BvR 537/53 – BVerfGE 3, S. 359, 364.

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§ 2 Allgemeiner Teil

V. Zusammenfassung der methodischen Grundlagen Die juristische Methodenlehre kann ebenso wie andere Fachhermeneutiken nur selten ein zweifelsfrei richtiges Auslegungsergebnis produzieren. Die Norminterpretation stößt aufgrund der oft großen Differenz zwischen Normtext und Lebenswirklichkeit regelmäßig an die Grenzen der Rationalität, weshalb jede Auslegung immer auch durch den Interpreten geprägt wird. Methodisch korrektes Arbeiten ist deshalb das Streben nach größtmöglicher Rationalität. Subjektive Werturteile dürfen dabei aber immer nur die ultima ratio der Auslegung sein. Nur eine so verstandene Rechtsarbeit verleiht der Jurisprudenz ihren Wissenschaftscharakter und der Judikative ihre rechtsstaatliche Legitimation. Diese Erkenntnis ist innerhalb des methodischen Schrifttums mittlerweile eine Banalität. Ihre Implikationen müssen sich aber auch im juristischen Alltagsgeschäft bei der konkreten Rechtsfindung materialisieren. Ein Ansatz, um diese Forderung einzulösen, ist die Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit, an die die konkretisierungsbedürftige Norm anknüpft. Mögen Wertungen immer auch einen Kern haben, der mit den Mitteln rationaler Logik nicht mehr erfasst werden kann, so sind sie doch immer auch von dem Bereich der Realität geprägt, den sie formen sollen. Wenn der Brückenschlag vom Normtext zur Wirklichkeit kein eindeutiges Ergebnis produziert, muss deshalb umgekehrt versucht werden, sich von der Wirklichkeit dem Normtext zu nähern, um die gegenseitige Distanz zu überbrücken. Ein solches Vorgehen bedarf einer Transformation der reinen Wirklichkeit in Normtatsachen, die die Strukturen des geregelten Lebensbereiches sichtbar machen. Erst in diesem Aggregatzustand kann Wirklichkeit bei der Konkretisierung einer Rechtsnorm assistieren. Diese Rezeption hat aber immer auch den kontrafaktischen Charakter des Rechts zu respektieren. Normtatsachen können deswegen immer nur dabei helfen, die durch das Recht offen gelassenen Lücken mit Rationalität aufzufüllen. Der methodische Grundlagenteil soll ebenso wie die gesamte Arbeit zugleich auch als Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen verstanden werden. Damit wird freilich keiner Degradierung der Jurisprudenz zur Hilfswissenschaft das Wort geredet. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass die Rechtsordnung die Rechtfertigungslast auf die Schultern desjenigen legt, der sich trotz anderer ergiebiger Erkenntnisquellen bei der Ausfüllung rechtlicher Freiräume nur auf sein eigenes dezisionistisches Urteil stützt. Interdisziplinäre Rechtsfindung ist deswegen oftmals nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern vielmehr eine Pflicht. Die „betriebswirtschaftliche Sicht“218 (oder die jeder anderen Fachdisziplin) wird dann zugleich zur rechtlichen Perspektive.

218 BAG v. 06. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 620 Fn. 11.

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon Im Folgenden sollen nun die Gemeinsamkeiten bei der Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes der betreffenden Vorschriften219 herausgearbeitet werden. Als methodisches Grundgerüst wird dabei auf den auf den klassischen vierstufigen Kanon zurückgegriffen. Um den Inhalt der Norm zu konkretisieren, stehen danach folgende Kriterien zu Verfügung: Die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung220. Dies ist zuvorderst dem Anspruch der Arbeit geschuldet, eine (rechts-)anwendungsorientierte Darstellung zu liefern, die als Blaupause für die Auslegung aller hier in den Blick genommenen Vorschriften dienen kann. Zudem soll verdeutlicht werden, dass die auf den ersten Blick „exotische“ Berücksichtigung von Normtatsachen auch mit dem klassischen methodischen Rüstzeug bewältigt werden kann.

I. Grammatikalische und systematische Auslegung Die Auslegung einer Rechtsnorm beginnt regelmäßig mit ihrer grammatikalischen Interpretation221. Ziel ist die Ergründung des Wortsinnes einer Norm, ausgehend von deren Wortlaut, um „den Inhalt des Gesetzes zum Bewusstsein zu bringen“222. Der Wortsinn steckt dabei den Rahmen ab, innerhalb dessen die Bedeutung der Rechtsnorm zu suchen ist223. Ein durch Auslegung ermittelter eindeutiger Wortsinn ist grundsätzlich bindend. Da im Allgemeinen Teil die Gemeinsamkeiten einer Vielzahl von Normen betrachtet werden sollen, kann sich der Fokus zunächst nur auf das Wort rechtzeitig richten. Grundsätzlich ist einer aus dem Kontext herausgelösten semantischen Analyse rechtlicher Termini stets mit Vorsicht zu begegnen. Trotzdem bieten sich hier schon einige Anhaltspunkte, die auch auf diesem Abstraktionsniveau vorsichtige Näherungsversuche erlauben. 219 §§ 80 Abs. 2 S. 1, 90 Abs. 1 und 2, 92 Abs. 1 S. 1, 105, 106 Abs. 2 S. 1 (vgl. auch § 109 S. 1), 111 S. 1 BetrVG; 17 Abs. 2 S. 1 KSchG; 29 Abs. 1, 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 1 EBRG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SEBG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SCEBG. 220 Vgl. nur Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 91 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Palandt/Heinrichs, Einl. Rn. 40 ff.; MüKo-BGB/Säcker, Einl. Rn. 118 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 436 ff. 221 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 320; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 130; Pawlowski, Methodenlehre, S. 172. 222 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, S. 216. 223 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141; Müller, Fallanalysen zur juristischen Methodik, S. 9; Im Zuge der Auslegung muss sich der Rechtsanwender demnach für eine vom Wortlaut noch getragene Deutungsvariante entscheiden. Kritisch dazu äußert sich Depenheuer (Der Wortlaut als Grenze, S. 17 ff.), der feststellt, dass Sprache aus sich heraus aufgrund des ständigen Wandels ihres Bedeutungspotenzials nicht zur Begrenzung der Interpretationsmöglichkeiten von Normtexten geeignet sei. Er schlägt stattdessen eine subjektiv-historisch unterfütterte Betrachtungsweise vor, um die sprachliche Bedeutung präziser aus ihrer jeweiligen Zeit heraus bestimmen zu können.

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§ 2 Allgemeiner Teil

Der Duden umschreibt rechtzeitig mit „zur rechten Zeit (sodass es noch früh genug ist)“224 und macht damit deutlich, dass die Verwendung des Wortes immer mit zwei Bezugspunkten einhergeht, die es zum Zwecke eines bestimmten Erfolges miteinander verknüpft: Dabei kann es sich einerseits sowohl um einen absolut bestimmten Zeitpunkt (z. B. vor Dienstag 9 Uhr) als auch um ein bestimmtes Ereignis (z. B. vor dem Vorstandsbeschluss) handeln225. Zweiter Bezugspunkt ist immer eine Handlung, die noch vor dem Zeitpunkt oder Ereignis stattfinden muss, um nicht verspätet zu sein. Der bezweckte Erfolg kann immer nur aus dem jeweiligen Kontext entnommen werden. Der erste Bezugspunkt ist hier der Gegenstand des Unterrichtungsrechtes. Da dieser in abstrakt-generellen Regelungen nicht mittels eines konkreten Zeitpunktes gekennzeichnet werden kann, bezieht sich das Gesetz immer auf bestimmte Ereignisse. Zweiter Bezugspunkt ist die Unterrichtung und teilweise auch Anhörung oder Beratung mit den Arbeitnehmern. Verallgemeinernd kann daraus zumindest geschlossen werden, dass die Kommunikation mit den Arbeitnehmervertretern vor Durchführung der Maßnahme stattzufinden hat, an die die Unterrichtungspflicht anknüpft, da andernfalls auf die Anordnung der Rechtzeitigkeit verzichtet werden könnte. Überdies markiert der Begriff „rechtzeitig“ unmittelbar nicht nur einen bestimmten Zeitpunkt für die Unterrichtung. Vielmehr werden eine Mehrzahl von Unterrichtungszeitpunkten bzw. ein bestimmter Zeitraum auf einer Zeitgeraden gekennzeichnet, in dem eine Unterrichtung noch früh genug erfolgt ist. Dieser Zeitraum kann als das „beteiligungsfreie Vorfeld der Überlegungen“226 des Arbeitgebers bezeichnet werden. Innerhalb dieses Zeitfensters ist es dem Arbeitgeber freigestellt, ob und wann er den Betriebsrat in seinen Entscheidungsprozess einbeziehen möchte. Eine Unterrichtung wäre zwar rechtzeitig, aber nicht verpflichtend. Erst wenn dieser beteiligungsfreie Vorraum der Entscheidung endet, entsteht auch die Pflicht zur Unterrichtung. Kommt der Arbeitgeber dieser Pflicht nicht unverzüglich227 nach, ist die Unterrichtung verspätet.

Genau genommen kennzeichnet der Begriff „rechtzeitig“ demnach den beteiligungsfreien Anfangsteil eines Entscheidungsprozesses. Maßgeblich ist hier das Ende 224

Stolze-Stubenrecht, Duden Bd. 7, S. 3129. Ehmann, Betriebsstillegung, S. 22. 226 Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1303. 227 Unverzüglich soll hier im Sinne von § 121 Abs. 1 S. 1 BGB als „ohne schuldhaftes Zögern“ verstanden werden. 225

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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dieses Zeitraumes, da es mit dem Entstehen der Unterrichtungspflicht einhergeht. Zielsetzung der Untersuchung ist demnach nicht die Ermittlung und Konkretisierung des „richtigen“ Unterrichtungszeitpunktes, sondern desjenigen Zeitpunktes, an dem die Unterrichtungspflicht einsetzt. Sollte im folgenden Text vom „Unterrichtungszeitpunkt“ gesprochen werden, so ist dieser Zeitpunkt gemeint. Die systematische Auslegung einer Norm nähert sich deren Bedeutung ausgehend von ihrer Einordnung in den Bedeutungszusammenhang des Gesetzes. Der Sinn einer Rechtsnorm erschließt sich oft erst, wenn man ihn in Beziehung zu dem Regelungskomplex setzt, dem er angehört228. Dies gilt zum einen für das Verhältnis der Unterrichtungspflichten innerhalb eines Gesetzes, wie vor allem den Unterrichtungspflichten des BetrVG, die immer nur punktuell und auf bestimmte Bereiche beschränkt eine Kommunikation mit der Arbeitgeberseite anordnen und sich teilweise ergänzen bzw. überschneiden. Aber auch das Verhältnis der verschiedenen Gesetze und deren Unterrichtungspflichten zueinander müssen berücksichtigt werden, da der der Gesetzgeber auch in dieser Hinsicht ein widerspruchsfreies und sachgemäßes Gesamtkonzept bezweckt. Weitergehende Aussagen können an dieser Stelle noch nicht getätigt werden.

II. Historische Auslegung Sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang einer Norm noch Spielraum lassen, können auch die Erkenntnisse der historischen Interpretation hilfreich sein. Ziel ist es, den gesetzgeberischen Willen anhand der historischen Entwicklung und Gesetzgebungsmaterialien der Norm zu ergründen229. Der unbestimmte Rechtsbegriff „rechtzeitig“ tauchte in der deutschen Gesetzgebungsgeschichte in einer Unterrichtungsvorschrift zum ersten Mal im BetrVG von 1952 in den §§ 61 Abs. 1 und 65 auf, wo die Unterrichtung bei Einstellungen im Allgemeinen (§ 61 Abs. 1 BetrVG 1952) und von leitenden Angestellten (§ 65 BetrVG 1952) geregelt wurde. Davon abgesehen, fand sich im BetrVG 1952 lediglich in § 66 Abs. 2 eine Vorgabe hinsichtlich des Unterrichtungszeitpunktes. In der Vorschrift, die Vorbild für § 17 KSchG war, wurde eine Unterrichtung des Betriebsrates bei Massenentlassungen „so früh wie möglich“ angeordnet. Die Vorschriften über die Unterrichtungsansprüche des Wirtschaftsausschusses (§ 67 Abs. 2 BetrVG 1952) und des Betriebsrates bei Betriebsänderungen (§ 72 Abs. 1 BetrVG 1952) enthielten damals noch keine Vorgaben hinsichtlich des Zeitpunktes der 228

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 324 f. Einige Autoren bezeichnen die Auslegung anhand der historischen Entwicklung als historische Auslegung und anhand der Gesetzgebungsmaterialien als genetische Auslegung, vgl. zur Differenzierung: Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 291 und Müller/ Christensen, Juristische Methodik, S. 336. Mehr als nur begriffliche Unterschiede können dieser Differenzierung allerdings nicht entnommen werden. 229

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§ 2 Allgemeiner Teil

Unterrichtung230. Im Betriebsrätegesetz der Weimarer Republik231 fand sich lediglich in § 74 S. 1 eine zeitliche Vorgabe. Der „Urahne“ der Vorschriften über die Unterrichtung bei Betriebsänderungen ordnete an, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, sich mit dem Betriebsrat „ (…) möglichst längere Zeit vorher (…) ins Benehmen zu setzen.“ Eine Kontinuität kann dieser Entwicklung ebenso wenig entnommen werden wie eine ausdrückliche Diskontinuität232. Ergiebiger könnten aber gegebenenfalls die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers sein, die im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gekommen sind233. Mittels dieser Vorstellungen soll im Wege der subjektiv-teleologischen Auslegung bestimmt werden, wie der damalige Gesetzgeber den Inhalt der betreffenden Norm verstanden wissen wollte und welche Zwecke mit der Norm verfolgt werden sollten. Da der Gesetzgeber in einer parlamentarischen Demokratie durch einen kollektiven Willensentschluss der Abgeordneten tätig wird, ist es freilich nicht möglich, nach den Vorstellungen aller beteiligten Personen zu forschen. Der historische gesetzgeberische Wille ist deswegen nur „die zutage liegende Grundabsicht des Gesetzgebers und diejenigen Vorstellungen, die in den Beratungen der gesetzlichen Körperschaft oder ihrer zuständigen Ausschüsse zum Ausdruck gebracht und ohne Widerspruch geblieben sind.“234 Nach umstrittener Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes sind diese Überlegungen aber für den Rechtsanwender nicht verbindlich, da der Wille des Gesetzgebers nur soweit Berücksichtigung finden kann, als er sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt235. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift könne deswegen nur insofern Bedeutung zukommen, „als sie die Richtigkeit einer (…) ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Wege allein nicht ausgeräumt werden können“236. Dies müsse umso mehr gelten, als nicht davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber im Zeitpunkt der Verabschiedung einer Rechtsnorm bereits deren gesamte Reichweite und Bedeutung erfasst237. Insofern gelte die Maxime, dass das Gesetz mitunter eben klüger sein kann als seine Mütter und Väter238. Je weiter sich der zeitliche Abstand zwischen 230 Das BAG übertrug allerdings in den Entscheidungen vom 20. 1. 1961 – 1 AZR 53/60 – BAGE 10, 329 ff. und vom 18. 7. 1972 – 1 AZR 189/72 – BAGE 24, S. 364 ff. den Unterrichtungszeitpunkt aus § 66 Abs. 2 BetrVG 1952 auch auf § 72 Abs. 1 BetrVG 1952. 231 Vom 4. 2. 1920 (RGesBl. S. 147) in der Fassung der Gesetze vom 29. 4. 1923 (RGesBl. S. 258) und vom 28. 2. 1928 (RGesBl. S. 46). 232 Zur Unterscheidung Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 338 ff. 233 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 291; Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 336. 234 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 329. 235 BVerfG v. 17. 5. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – BVerfGE 11, 126, 130; BVerfG v. 11. 06. 1980 – 1 PBvU 1/79 – BVerfGE 54, 277, 298. Vgl. dazu auch oben unter § 2 A. III. 3. 236 BVerfG v. 21. 4. 1952 – 2 BvH 2/52 – BVerfGE 1, 299, 312. 237 BVerfG v. 11. 06. 1980 – 1 PBvU 1/79 – BVerfGE 54, 277, 298; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 154. 238 BVerfG v. 29. 1. 1974 – 2 BvN 1/69 – BVerfGE 36, 342, 362.

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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Normsetzung und Normanwendung vergrößere und je weniger aussagekräftig und tiefgründiger die Gesetzesmaterialien seien, umso mehr verliere die subjektiv-teleologische Auslegung an Bedeutung239. Die Gesetzesmaterialien ergeben ob der Vielfalt der betreffenden Vorschriften freilich ein heterogenes Bild. In den Materialien zum BetrVG 1952 findet sich lediglich im Bericht des an der endgültigen Gesetzesfassung maßgeblich beteiligten Ausschusses für Arbeit eine Erläuterung zu § 65 BetrVG 1952. Hinsichtlich dieser Norm, die im Wesentlichen § 105 BetrVG 1972 entspricht, wird eine Unterrichtung dann als rechtzeitig erachtet, wenn der Betriebsrat noch vor Einstellung des leitenden Angestellten die Möglichkeit hat, etwaige Bedenken vorzutragen240. Innerhalb der Materialien zum BetrVG 1972 variiert die Begründungs- und Erläuterungsdichte hinsichtlich der Rechtzeitigkeit ebenfalls von Vorschrift zu Vorschrift. Die ausführlichste Erläuterung hinsichtlich des Unterrichtungszeitpunktes findet sich zu § 92 BetrVG. Sowohl der Regierungsentwurf241, als auch der Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung242 wollten mit der Schaffung des Gesetzes in personellen Angelegenheiten eine „(…) angemessene Beteiligung des Betriebsrates im Planungsstadium zum Zwecke einer möglichst frühzeitigen Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen (…)“ sicherstellen. Hinsichtlich § 90 BetrVG und § 111 BetrVG wird eine Unterrichtung im „Planungsstadium“ der Entscheidung als rechtzeitig erachtet243. In der Begründung des Regierungsentwurfs für das 2. Änderungsgesetz zum Kündigungsschutzgesetz wird lediglich lapidar erwähnt, dass die in § 17 Abs. 2 KSchG angeordnete Unterrichtungspflicht bereits nach bestehender Rechtslage vorgesehen war und auf die §§ 92, 111 BetrVG 1972 verwiesen244. Auch die Materialien zu den europarechtlich determinierten Umsetzungsgesetzen EBRG, SEBG, SCEBG sind nicht aufschlussreicher. Wesentlich mehr Begründungsaufwand wurde hingegen auf europäischer Ebene bei der Erstellung der Beteiligungsrichtlinien betrieben245. Auf Details soll im Rahmen des Allgemeinen Teils noch nicht eingegangen werden. Ein Gesichtspunkt sei allerdings herausgegriffen, der den gemeinsamen Nenner aller untersuchten Gesetzgebungsmaterialien auf den Punkt bringt: Die Unterrichtung muss zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem die Arbeitnehmervertretung noch Einfluss auf die unternehmerische Entscheidung nehmen kann246.

239

Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, S. 23 f. Ausschussbericht zum BetrVG 1952, BT-Drucks. 1/3585, S. 13. 241 BT-Drs. 6/1786, S. 32, 50. 242 Schriftlicher Bericht zu BT-Drs. 6/2729, S. 5. 243 Regierungsentwurf, BT-Drs. 6/1786, S. 32 f.; Ausschussbericht zu BT-Drs. 6/2729, S. 5, 8. 244 BT Drs. 8/1041, S. 5. 245 Vgl. dazu vor allem § 3 A. I. 246 Vgl. auch die Begründung zum Reformgesetz 2001: BT-Drs. 14/5741, S. 52. 240

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§ 2 Allgemeiner Teil

III. Teleologische Auslegung Zentrales und wichtigstes Kriterium ist die Auslegung einer Norm nach ihrem Sinn und Zweck bzw. ihrer ratio. Im Fokus der Betrachtung dieser auch als „Krone der Auslegung“247 bezeichneten Rechtsfindungsmethode steht nicht der Wille des historischen Gesetzgebers, sondern der „geltungszeitliche“ normative Sinn des Gesetzes248. Dies sind zum einen die konkreten, auf den geregelten Lebensbereich bezogenen Zwecke, deren Förderung und Erfüllung der eigentliche Grund für den Erlass der Rechtsnorm waren. Zum anderen sind dies allgemeine Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen, in die diese Zwecke eingebettet werden müssen, da jede Norm „als Teil einer gerechten und zweckmäßigen Ordnung zu verstehen ist“249. Der auf diesem Wege ermittelte Gesetzeszweck dient dem Rechtsanwender als Kompass für die Auswahl unter den denkbaren Interpretationsmöglichkeiten. Insofern ist diejenige Auslegung zu wählen, die dem Gesetzeszweck am wirkungsvollsten Geltung verschafft. Dem Gesetzgeber ist dabei immer die Absicht zu unterstellen, dass er eine „sachgemäße“ Regelung schaffen wollte250. Sollte die ratio der Norm noch keine zwingende Antwort auf die Frage nach der richtigen Auslegungsalternative geben, sind deshalb überdies die „Strukturen des geregelten Sachbereichs“251, bzw. der „Normbereich“252 der betreffenden Vorschrift zu analysieren253. Damit soll die Konstruktion eines subsumtionsfähigen Obersatzes ermöglicht werden, der dem Gesetzeszweck in dem zu formenden Realitätsausschnitt am wirkungsvollsten zur Geltung verhilft. Um dem Rationalitätsgebot der Rechtsfindung gerecht zu werden, sind dafür vor allem wissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen. Die teleologische Auslegung ist demnach das „trojanische Pferd, mit dem Konzepte der Nachbarwissenschaften in das Recht eindringen.“254 In einem ersten Schritt soll zunächst untersucht werden, ob aus der Fülle der relevanten Unterrichtungsvorschriften eine gemeinsame ratio legis extrahiert werden kann. Ausgehend davon sollen die Normtatsachen unternehmerischer Willensbildungsprozesse herausgearbeitet werden. Damit kann objektiver und auch präziser beurteilen werden, welche Auslegung des Begriffes „rechtzeitig“ den ermittelten Normzweck am effektivsten in der Realität verwirklicht.

247

Jeschek/Weigend, Strafrecht AT, § 17 IV 1 b, S. 156; Vogel, Juristische Methodik, S. 124. BVerfG v. 17. 5. 1960 – 2 BvL 11/59, 11/60 – BverfGE 11, 126, 130; BVerfG v. 11. 06. 1980 – 1 PBvU 1/79 – BverfGE 54, 277, 298; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428. 249 Palandt/Heinrichs, BGB, Einl. Rn. 46. 250 Larenz, Methodenlehre, S. 333. 251 Larenz, Methodenlehre, S. 333. 252 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 222 ff., 478 ff. 253 Vgl. zum Ganzen oben unter § 2 A. IV. 254 Engel, JZ 2005, S. 581, 582. 248

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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1. Zweck der rechtzeitigen Unterrichtung Übergeordneter Zweck sowohl der betrieblichen als auch der unternehmerischen Mitbestimmung ist die Begrenzung der wirtschaftlichen und persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers innerhalb einer fremdbestimmten Organisation255. Dieses Grundprinzip ist Ausfluss einer Verfassung, „die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt.“256 Das Recht der betrieblichen Mitbestimmung ist deswegen einerseits Arbeitnehmerschutzrecht257. Darüber hinaus dient es aber auch der Teilhabe an den Entscheidungen des Arbeitgebers258. Die Arbeitnehmer sollen aus ihrer „Objektstellung“259 befreit werden und die Möglichkeit erhalten, ihre individuellen und kollektiven Interessen in den grundsätzlich auf Rentabilität ausgerichteten unternehmerischen Entscheidungsprozess einfließen zu lassen260. Die daraus abgeleitete, spezifische ratio legis

255 Benda, RdA 1987, S. 181; ErfK/Koch, BetrVG, § 1 Rn. 1; DKKW/Däubler, BetrVG, Einl. Rn. 47; FESTL, BetrVG, § 1 Rn. 2; Gamillscheg, KollArbR II, S. 22 f.; GK-BetrVG/ Wiese, Einl. Rn. 72; Loritz, ZfA 1991, S. 1, 7; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, S. 458. 256 BVerfG v. 20. 12. 1960 – 1 BvL 21/60 – BVerfGE 12, S. 45, 53 (Wehrpflichtentscheidung); Bericht der Mitbestimmungskommission, BT-Drs. VI/334, S. 65; ErfK/Koch, BetrVG, § 1 Rn. 1; DKKW/Däubler, BetrVG, Rn. 47; FESTL, BetrVG, § 1 Rn. 4; GK-BetrVG/Wiese, Einl. Rn. 72; Loritz, ZfA 1991, S. 1, 7; Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, S. 487; v. Hoyningen-Huene, Betriebsverfassungsrecht, S. 6. 257 Vgl. nur BAG v. 13. 3. 1973 – 1 ABR 16/72 – AP BetrVG 1972 § 87 Werkmietwohnungen Nr. 1; BAG v. 20. 11. 1990 – 1 AZR 643/89 – AP BetrVG 1972 § 77 Regelungsabrede Nr. 2; DKKW/Däubler, Einl. Rn. 75; FESTL, BetrVG, § 1 Rn. 4; Gamillscheg, KollArbR II, S. 22; GK-BetrVG/Wiese, Einl. Rn. 77 m. w. N.; Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, S. 153 ff.; WPK/Preis, BetrVG, § 1 Rn. 4; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, S. 458; kritisch insofern Richardi/Richardi, BetrVG, Einl. Rn. 139: „Die Gesetzesregelung über die Betriebsverfassung ist aber kein Arbeitnehmerschutzrecht … Sie verteilt Regelungsmacht auf der Betriebs- und Unternehmensebene des Arbeitslebens.“ 258 Bericht der Mitbestimmungskommission, BT-Drs. VI/334, S. 73 f., 102; Blanke/Rose, RdA 2008, S. 65, 66; DKKW/Däubler, BetrVG, Einl. Rn. 47; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, S. 551. 259 Benda, RdA 1987, S. 181. 260 BAG v. 18. 4. 2000 – 1 ABR 22/99 – AP BetrVG 1972 § 87 Überwachung Nr. 33; BAG v. 11. 06. 2002 – 1 ABR 46/01 – AP BetrVG 1972 § 87 Ordnung des Betriebes Nr. 38; ErfK/Koch, BetrVG, § 1 Rn. 1; FESTL, BetrVG, § 1 Rn. 1; Gamillscheg, KollArbR II, S. 30 f.; GKBetrVG/Wiese, Einl. Rn. 77 m. w. N.; v. Hoyningen-Huene, Betriebsverfassungsrecht, S. 6; ders., NZA 1991, S. 7, 8; Konzen, NZA 1995, S. 865, 870; WPK/Preis, BetrVG, § 1 Rn. 4; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, S. 458; es ist kein Widerspruch zur (zumindest mittelbaren) individualgrundrechtlichen Herkunft der Schutz- und Teilhabefunktion, wenn deren Verwirklichung dem Betriebsrat überantwortet wird (ErfK/Koch, BetrVG, § 1 Rn. 1; Gamillscheg, KollArbR II, S. 26 f.; GK-BetrVG/Wiese, Einl. Rn. 73; Raab, ZfA 2001, S. 31, 36 f.; kritisch aber Rieble, Zukunft der Unternehmensmitbestimmung, S. 9, 14). Damit wird organisatorischen Erfordernissen und zudem der Tatsache Rechnung getragen, dass die Arbeitnehmer innerhalb einer arbeitsteiligen Organisation tätig werden. Dies erfordert oftmals einen Ausgleich der divergierenden Einzelinteressen und die Definition eines gemeinsamen Interesses, was nur durch eine kollektive Vertretung ermöglicht werden kann.

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§ 2 Allgemeiner Teil

rechtzeitiger Unterrichtung ist in Rechtsprechung261 und Literatur262 im Grundsatz unumstritten und auf einer Linie mit den untersuchten Gesetzgebungsmaterialien: Der Betriebsrat soll zu einem Zeitpunkt unterrichtet werden, in dem er die ihm obliegenden Aufgaben noch ordnungsgemäß wahrnehmen kann263. Die dem Betriebsrat obliegende Aufgabe ist fast immer die Beratung über den betreffenden Beteiligungsgegenstand. In deren Rahmen soll ein gleichgewichtiger und gleichberechtigter Meinungsaustausch stattfinden und Gründe und Gegengründe der beteiligungspflichtigen Maßnahme miteinander abgewogen werden264. In diesen Fällen kann die eben genannte Zweckbestimmung noch weiter konkretisiert werden: Dem Betriebsrat soll durch die Beratung die Möglichkeit gewährt werden, Einfluss auf die entsprechenden Willensbildungsprozesse des Arbeitgebers nehmen zu können. Eine Unterrichtung ist demnach rechtzeitig, wenn sie zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem der Betriebsrat noch Einfluss auf die Entscheidung des Arbeitgebers nehmen kann265. Die §§ 80 Abs. 2, 105 BetrVG fallen aus diesem Rahmen heraus, da bei ihnen keine Beratung angeordnet wird. § 80 Abs. 2 BetrVG nimmt auch noch in weiterer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Während es sich bei allen anderen relevanten Normen nur um Mitwirkungsrechte handelt, enthält die Vorschrift auch die Unterrichtung über die echten Mitbestimmungsrechte aus § 87 Abs. 1 BetrVG. Der Arbeitgeber unterliegt in deren Anwendungsbereich einem betriebsverfassungsrechtlichen Einigungszwang266 und kann den Betriebsrat somit auch durch eine sehr späte 261

BAG v. 20. 11. 1984 – 1 ABR 64/82 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 3; BAG v. 9. 8. 1985 – 1 AZR 323/83 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 13; BAG 17. 3. 1987 – 1 ABR 59/85 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 29; BAG v. 23. 8. 1988 – 1 AZR 276/87 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 17; BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 63; LAG Baden-Württemberg v. 27. 9. 2004 – 4 TaBV 3/04 – NZA-RR 2005, S. 195; BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – NZA 2001, S. 402, 405. 262 ErfK/Kania, § 80 BetrVG Rn. 19; § 90 BetrVG Rn. 6, 8; § 92 BetrVG Rn. 8; § 105 BetrVG Rn. 3; § 106 BetrVG Rn. 4; ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn. 21; DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 BetrVG Rn. 97; DKKW/Klebe, BetrVG § 90 BetrVG Rn. 27; DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 39; DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 7; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 43; § 111 BetrVG Rn. 132; FESTL, BetrVG, § 80 BetrVG Rn. 55, § 90 BetrVG Rn. 9, § 92 BetrVG Rn. 28, § 105 BetrVG Rn. 6, § 111 BetrVG Rn. 107; HWGNRH/Rose, BetrVG, § 90 Rn. 51; HWGNRH/Schlochhauer, BetrVG, § 105 Rn. 13; HWGNRH/Hess, BetrVG § 111 Rn. 70; HWK/Schrader, § 80 BetrVG Rn. 69; § 90 BetrVG Rn. 9, 13; HWK/Ricken, § 92 BetrVG Rn. 11; § 105 BetrVG Rn. 3; HWK/Willemsen/Lembke, § 106 BetrVG Rn. 34; HWK/ Hohenstatt/Willemsen, § 111 BetrVG Rn. 61; HWK/Molkenburg, § 17 KSchG Rn. 21; HWK/ Giesen, EBRG Rn. 14; HWK/Hohenstatt/Dzida, SEBG Rn. 7; KDZ/Kittner, § 105 BetrVG Rn. 7; KDZ/Kittner/Deinert, § 17 KSchG Rn. 31. 263 Vgl. für eine globale Zweckbestimmung rechtzeitiger Unterrichtung auch Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 631. 264 BAG v. 20. 11. 1984 – 1 ABR 64/82 – NZA 1985, S. 432, 433; BAG v. 22. 01. 1991 – 1 ABR 38/89 – NZA 1991, S. 649, 650; BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – NZA 2001, S. 402, 405; Rumpf/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 39. 265 Vgl. Fn. 261, 262. 266 Vgl. nur BAG v. 19. 09. 1995 – 1 AZR 208/95 – AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 61; Richardi/ Richardi, BetrVG, § 87 Rn. 103.

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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Unterrichtung nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Der Unterrichtungszeitpunkt im Rahmen des § 87 Abs. 1 BetrVG ist deswegen gesondert von den Mitwirkungsrechten zu beurteilen, in denen der Betriebsrat in einer deutlich schwächeren Position ist267. Ebenfalls separat zu behandeln ist der durch das Risikobegrenzungsgesetz vom 12. 08. 2008268 eingefügte § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG, der die Unterrichtung und Beratung über den Kontrollwechsel in einem Unternehmen anordnet. Die Besonderheit ist hier, dass die Unterrichtung und Beratung mit dem Unternehmer angeordnet wird, obwohl dieser formal an der Entscheidung über den Übergang der Anteilsrechte gar nicht beteiligt ist. Prima facie ist deswegen eine Einflussnahme auf den Kontrollerwerb gar nicht möglich. Aufgrund dieser signifikanten Unterschiede verbietet sich eine gemeinsame Behandlung dieser Vorschriften mit den übrigen des gezogenen Kreises. Um den Konkretisierungsprozess aber hier nicht schon abbrechen zu müssen, werden die §§ 80 Abs. 2, 105, 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG deshalb zunächst ausgeklammert und erst wieder im Besonderen Teil aufgegriffen, wo die genannten Besonderheiten besser berücksichtigt werden können. 2. Konkretisierung der grundlegenden Definition Wendet man sich nun konkret der Frage zu, wann der Betriebsrat noch Einfluss auf die Entscheidung des Arbeitgebers nehmen kann, so ist zunächst offensichtlich, dass die Unterrichtung zu erfolgen hat, bevor bereits Maßnahmen zu deren Umsetzung getroffen wurden. Es wäre unstreitig269 zwecklos, über einen Gegenstand zu beraten, mit dessen Umsetzung bereits begonnen wurde. Vor Realisierung einer Entscheidung wäre deren Beeinflussung jedenfalls formal möglich, da sie immer noch im gegenseitigen Meinungsaustausch analysiert und auch modifiziert oder gar revidiert werden. Lässt man dies genügen, so wäre die Unterrichtung rechtzeitig, solange zwischen Unterrichtungszeitpunkt und dem Beginn der Umsetzung der Entscheidung noch ausreichend Zeit zur Durchführung eines Beratungsverfahrens verbleibt. Fraglich ist allerdings, ob sich die Anordnung der Rechtzeitigkeit tatsächlich in der Pflicht zur Gewährung einer bloß formalen Möglichkeit zur Einflussnahme erschöpft. Aufschlussreich ist insofern ein Blick auf die verwendete Regelungstechnik. Wenn man von der unbestrittenen Prämisse ausgeht, dass eine Beratung über eine irreversible Entscheidung zwecklos ist, so enthält deren Anordnung bereits das Erfordernis einer zumindest hypothetischen Möglichkeit zur Einflussnahme. Dies ergibt sich auch daraus, dass für den mit der Beratung bezweckten Meinungsaustausch erforderlich ist, dass sich der Betriebsrat auch eine eigene Meinung bilden 267 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 31; GK-BetrVG/Oetker, § 80 Rn. 70. 268 BGBl. vom 12. 08. 2008 (Nr. 36) S. 1666, 1668. 269 Vgl. dazu der Besondere Teil § 3.

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§ 2 Allgemeiner Teil

konnte270. Die Anordnung der Beratung enthält somit bereits denknotwendig die Verpflichtung, den Betriebsrat zu einem Zeitpunkt zu unterrichten, zu dem diesem noch ausreichend Zeit bleibt, sich eine Meinung über die Angelegenheit bilden und den Arbeitgeber in dessen Auffassung beeinflussen zu können. Würde man dem Begriff rechtzeitig gleichwohl nur die Bedeutung zuschreiben, die bloß formale Möglichkeit zur Einflussnahme zu sichern, so wäre dieser überflüssig und hätte keinen eigenständigen Regelungsgehalt mehr. Dies wird deutlich, wenn man das Wort „rechtzeitig“ streicht und davon ausgehend den Unterrichtungszeitpunkt bestimmt. Zeitlicher Orientierungspunkt für die Unterrichtung wäre ebenfalls die Beratung, deren Vorbereitung sie dienen soll. Die Unterrichtung müsste nach dieser fiktiven Norm somit spätestens zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem noch keine Umsetzungsmaßnahmen erfolgt sind und die nachfolgende Beratung deshalb noch möglich ist. Auch ohne die Anordnung der Rechtzeitigkeit würde man deshalb zum gleichen Unterrichtungszeitpunkt gelangen. Zur Verdeutlichung hätte dann aber die Anordnung von Unterrichtung und Beratung vor der Durchführung einer Entscheidung, wie beispielsweise in den §§ 99 Abs. 1 S. 1, 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG, völlig ausgereicht. Zeitliche Abgrenzungsprobleme würden sich dann überhaupt nicht stellen. Durch die Verwendung eines komplexen normativen Sammelbeckens wie dem Begriff „rechtzeitig“ wird hingegen zum Ausdruck gebracht, dass mehr als nur die bloße Möglichkeit zur Beeinflussung gewährt wird271. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den vorliegenden Beteiligungstatbeständen um bloße Mitwirkungsvorschriften handelt, bei denen dem Betriebsrat nach der Vorstellung des Gesetzes lediglich die Kraft seiner Argumente zur Verfügung steht, um die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Wenn aber keine realistische Möglichkeit mehr besteht, dass diese auch berücksichtigt werden, werden Unterrichtung und Beratung zur leeren Hülle. Mindestens ebenso bedeutsam wie die rein formale Möglichkeit zur Beeinflussung ist demnach die Frage, ob nach dem materiell-inhaltlichen Stand des Entscheidungsprozesses eine Beeinflussung auch noch sinnvoll, bzw. realistisch möglich ist272. Damit ist noch nicht gesagt, dass die Einbeziehung des Betriebsrates kurz vor der Realisierung der betreffenden Entscheidung keine materiell sinnvolle Einflussnahme mehr ermöglicht. Dies lässt sich aber nur durch eine genaue Betrachtung der Strukturen unternehmerischer Entscheidungsprozessese beantworten. Eine überragende Rolle spielen in diesem Rahmen vor allem betriebswirtschaftliche Erwägungen, da der Arbeitgeber vorwiegend wirtschaftlich und damit gewinnorientiert entscheidet. Kein noch so gutes Argument wird dessen Gehör 270

Ebenso Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 111. A. A. ausdrücklich Heinze, NZA 1985, S. 555, 556. 272 Ebenso BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 Bl. 530; LAG Frankfurt a. M. v. 3. 11. 1993 – 5 TaBV 27/92 – BB 1993, S. 1948. 271

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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finden, wenn es aus finanziellen oder zeitlichen Gründen keine Berücksichtigung mehr finden kann. Die Einflussnahme muss demnach zum Unterrichtungszeitpunkt noch betriebswirtschaftlich sinnvoll sein273. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt ist die Tatsache, dass der Arbeitgeber kein kühl rechnender Computer, sondern ein Mensch, bzw. eine Gruppe von Menschen mit den dazugehörigen Schwächen ist. Die Einflussnahme auf den Arbeitgeber hat demnach immer auch eine psychologische Komponente, die es zu berücksichtigen gilt. Ehmann bezeichnet es zwar als „Binsenweisheit, daß auch gute Argumente, wenn sie zu spät vorgetragen werden, ein schon festgefügtes Meinungssystem, insbesondere wenn es von vielen getragen wird, nicht mehr zu bewegen vermögen.“274 Trotzdem wurde die psychologische Seite in der bisherigen Diskussion vernachlässigt. Die Unterrichtung über Planungsvorhaben ist somit rechtzeitig, wenn sie vor deren Umsetzung und zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem eine Einflussnahme auf die Entscheidung des Arbeitgebers noch betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvoll ist275. Man könnte den Konkretisierungsprozess nun an diesem Punkt beenden und die konkrete praktische Anwendung den Betriebsparteien, bzw. den Gerichten überlassen. Da sich komplexe unternehmerische Entscheidungsprozesse über einen sehr langen Zeitraum erstrecken können, begegnet diese Vorgehensweise im Hinblick auf die Rechtssicherheit aber erheblichen Problemen. Ein positiver Aspekt wäre zwar, dass wie bei allen Generalklauseln eine flexible Lösung möglich wäre. Es könnte in jedem Fall den Besonderheiten des konkreten Prozesses Rechnung getragen und eine sachgemäße Lösung produziert werden. Zweifelhaft ist allerdings bereits, ob dies den entscheidenden Gerichten im Streitfall jedes Mal gelingt. Aber auch wenn man den Gerichten das nötige Fachwissen und die Fähigkeit unterstellt, den Stand des unternehmerischen Entscheidungsprozesses auf rationale Art und Weise und unabhängig vom eigenen Standpunkt im Sinne der genannten Formel zu klassifizieren, so geht diese Lösung trotzdem an den Bedürfnissen der Praxis vorbei. Das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber ist trotz des Grundsatzes vertrauensvoller Zusammenarbeit durch signifikante Interessengegensätze geprägt276. Der Arbeit273 KG Berlin – 9 Ta BV 1/78 – DB 1979, S. 112, 113; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44; Richardi/Annuß, BetrVG, § 106 Rn. 24; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 327; Wutschka, BB 2010, S. 825, 830; auf diesen Aspekt weist zu § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG auch das BAG hin; vgl. BAG v. 17. 3. 1987 – 1 ABR 59/85 – AP § 80 BetrVG 1972 Nr. 29. 274 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 24 f. 275 Ähnlich auch BAG v. 17. 3. 1987 – 1 ABR 59/85 – AP § 80 BetrVG 1972 Nr. 29 Bl. 821 R.: „§ 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG schreibt daher ausdrücklich vor, daß der Betriebsrat rechtzeitig zu unterrichten ist, d. h. zu einem Zeitpunkt, in dem er seine Aufgaben am sinnvollsten noch wahrnehmen kann und daran nicht faktisch dadurch gehindert wird, daß eine Änderung bestehender und als endgültig betrachteter Zustände regelmäßig nur schwer und unter zusätzlichen Kosten möglich ist.“ 276 Vgl. nur ErfK/Koch, BetrVG, § 2 Rn. 1 .

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§ 2 Allgemeiner Teil

geber wird sich bis zuletzt darauf berufen, dass er sich noch nicht festgelegt hat, während aus Sicht des Betriebsrates der „Zug bereits abgefahren“ ist. Beide Seiten benötigen einen konkreteren Anhaltspunkt als diese vage Formel, wenn der Zeitpunkt der Unterrichtung nicht eine stetige Quelle betrieblicher Konflikte sein soll. Der Konkretisierungsprozess von der grundlegenden und allgemein anerkannten Definition rechtzeitiger Unterrichtung hin zu einer präziseren und auch von der Praxis beherrschbaren Formel ist allerdings mittlerweile an die Grenzen rein rechtlicher Rationalität gestoßen. Der hier vorgeschlagene Weg, um den Abstand von der klassischen Definition zur konkreten Lebenswirklichkeit rational zu verringern, ist die wissenschaftliche Reflektion der Strukturen unternehmerischer Entscheidungsprozesse. Mit anderen Worten sind die Normtatsachen rechtzeitiger Unterrichtung zu ermitteln. Eingegrenzt wird der Fokus der folgenden Untersuchung durch die in diesem Abschnitt ermittelte Definition. Die zentrale Frage ist demnach, wie lange die Einflussnahme auf den Arbeitgeber noch betriebswirtschaftlich und auch psychologisch sinnvoll ist und ab wann das Gesetz zwingend eine Einbeziehung des Betriebsrates gebietet. 3. Entgegenstehende Interessen des Arbeitgebers Ebenfalls zu berücksichtigen sind die entgegenstehenden Interessen des Arbeitgebers. Im Vordergrund steht dabei dessen Geheimhaltungsinteresse277. Je früher der Betriebsrat Kenntnis von einer Planung erhält, desto größer dabei ist auch das Risiko, dass die Überlegungen des Arbeitgebers nach außen dringen. Vor allem wird er die Verbreitung unausgegorener Gedankenspiele innerhalb der Belegschaft vermeiden wollen. Dies kann zu Unruhe führen und das Betriebsklima erheblich beeinträchtigen. Zudem können sich Wettbewerber durch die frühzeitige Kenntnis von Interna einen Vorteil verschaffen278. In den falschen Händen können „durchgesickerte“ Informationen einen Marktvorsprung des Arbeitgebers zunichtemachen und großen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Aufgrund der starken gewerkschaftlichen Vernetzung vieler Betriebsratsmitglieder besteht überdies die Gefahr, dass Informationen an die Gewerkschaften gelangen und dass bei sozial belastenden Vorhaben bereits während der Planung eines Vorhabens Gegenmaßnahmen wie Streiks eingeleitet werden oder öffentlicher Druck über die Medien oder die Politik aufgebaut wird. Ferner ist ein nicht unerheblicher Zeitaufwand erforderlich, um den Betriebsrat auf den aktuellen Stand des Prozesses zu bringen und sich überdies noch mit dessen Argumentation auseinanderzusetzen. Dadurch wird die Planung des Arbeitgebers verzögert und die Flexibilität und Reaktionsfähigkeit des Unternehmens be277 Vgl. dazu auch Ehmann, Betriebsstilllegung und Mitbestimmung, S. 25 ff.; die Stellungnahme der Mitbestimmungskommission BT-Drs. VI/334, S. 54. 278 ErfK/Kania, BetrVG, § 79 Rn. 1; GK-BetrVG/Oetker, § 79 Rn. 8.

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schränkt279. Je eher man die Unterrichtungspflicht ansetzt, desto stärker wird dieser Effekt hervortreten. Dies ergibt sich daraus, dass eine frühere Einbeziehung auch mehr Beratungen erforderlich macht, da der Betriebsrat bei maßgeblichen Änderungen erneut konsultiert werden muss280. Eine frühe Unterrichtung würde freilich keinen Sinn machen, wenn der Betriebsrat über den weiteren Verlauf des Prozesses im Unklaren gelassen wird. Parallel zum Zeitaufwand steigen überdies die Kosten der Mitbestimmung. Der Arbeitgeber muss für die Vorbereitung und Durchführung der Beratungen, sowohl die Mitglieder seines eigenen Planungsstabes als auch die Betriebsratsmitglieder vergüten. Ein zusätzlicher Kostenfaktor kommt auf den Arbeitgeber zu, wenn der Betriebsrat zur Unterstützung Sachverständige gem. §§ 80 Abs. 3, 111 S. 2 BetrVG, 39 Abs. 2 EBRG, 32 SEBG, 32 SCEBG heranzieht, für deren Vergütung ebenfalls der Arbeitgeber aufzukommen hat. 4. Normtatsachen: Entscheidungsprozesse aus betriebswirtschaftlicher und psychologischer Perspektive a) Eingrenzung der relevanten Forschungsergebnisse Die potentielle Fruchtbarkeit der Betrachtung von unternehmerischen Entscheidungsprozessen aus betriebswirtschaftlicher und psychologischer Perspektive wird deutlich, wenn man sich deren jeweiliges Selbstverständnis vergegenwärtigt. Besonders evident ist dies bei der Betriebswirtschaftslehre, da unternehmerische Entscheidungen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen281. „Ihre wissenschaftliche Durchdringung bildet den Kern der Betriebswirtschaftslehre.“282 Es ist demnach offensichtlich, dass die Konkretisierung des Rechtzeitigkeitsbegriffes eine wichtige Schnittstelle zwischen Betriebswirtschaftslehre und Arbeitsrechtswissenschaft darstellt283. Keine Aufmerksamkeit haben im vorliegenden Kontext bisher psychologische Forschungsergebnisse erfahren. Dies ist umso erstaunlicher, als auch die psychologische Forschung einen ganz erheblichen Teil ihres Wirkens der Untersuchung aller Aspekte menschlichen Entscheidungsverhaltens widmet284. Eigentlich „lässt sich fast jedes Thema der Psychologie unter diesem Gesichtspunkt behandeln.“285 Die Ergiebigkeit beider Disziplinen hat allerdings auch eine Kehrseite. Es gilt, zwei enorm ausdifferenzierte und nicht an Landesgrenzen gebundene Wissen279

EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 45. Vgl. dazu ausführlich unten § 2 B. III. 4. b) cc). 281 Vgl. nur Heinen, Betriebswirtschaftslehre, S.22; Gutenberg, Betriebswirtschaftslehre, S. 39; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 1, S. 23. 282 Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 1, S. 23. 283 Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, 1301. 284 Für einen ausführlichen Überblick vgl. Jungermann/Pfister/Fischer, Die Psychologie der Entscheidung. 285 Sader, Psychologie der Gruppe, S. 205. 280

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schaftsdisziplinen auf Erkenntnisse zur Struktur von menschlichen bzw. unternehmerischen Entscheidungsprozessen zu untersuchen und diese Erkenntnisse auch zu strukturieren. Diesen Suchprozess kann man sich bildlich als eine Matrix von beliebig hintereinandergeschalteten Filtern vorstellen, mittels derer diejenigen Forschungsergebnisse extrahiert werden sollen, die vorliegend tatsächlich relevant sind. Zunächst werden drei Filter präsentiert, die allen weiteren Darstellungen vorangestellt sind. Im Rahmen der spezifischen Forschungsgebiete werden gegebenenfalls noch weitere Filter hinzugefügt, um eine weitere Eingrenzung vorzunehmen. Der erste Filter ist auf den vorliegenden inhaltlichen Fokus zugeschnitten. Angesprochen sind damit die Strukturen von Entscheidungsprozessen und die Möglichkeit zu deren Beeinflussung. Der zweite Filter betrifft den Abstraktionsgrad der jeweiligen Befunde. Aufgrund der eingenommenen „multinormativen“ Perspektive und der Vielgestaltigkeit der erfassten Entscheidungsprozesse können lediglich Erkenntnisse berücksichtigt werden, die entweder für alle menschlichen Entscheidungsprozesse oder zumindest für alle unternehmerischen Entscheidungsprozesse gelten. Die Beschränkung einer Theorie auf spezifische Lebensbereiche führt somit zu deren Ausschluss. Der dritte und zunächst letzte Filter ist zugleich der heikelste. In ihm sollen sich gewisse Anforderungen an den Grad der Akzeptanz und empirischen Fundierung der ausgesuchten Ergebnisse materialisieren. Die rechtswissenschaftliche Forschung kann keine Streitigkeiten und Unstimmigkeiten der Nachbarwissenschaften lösen. Theorien und die zu deren Nachweis geführten empirischen Erkenntnisse können deshalb nur Bedeutung für die Auslegung von Rechtsnormen erlangen, wenn deren elementaren Aussagen innerhalb ihrer wissenschaftlichen Herkunftssphäre im Wesentlichen unumstritten sind. Dies bedeutet wiederum nicht, dass die entsprechenden Erkenntnisse in jedem Standardlehrbuch auftauchen müssen. Eine solche Anforderung würde spezifischere Erkenntnisse von vornherein ausschließen. Erforderlich sind Forschungsergebnisse, die von mehreren Autoren über einen Zeitraum von mehreren Jahren in den entsprechenden Fachpublikationen thematisiert wurden und nicht auf grundlegenden Widerspruch gestoßen sind. Es schadet dabei nicht, wenn eine Theorie in ihrer Peripherie, bzw. in einzelnen Gesichtspunkten umstritten ist, während ihre Grundstruktur und die daraus resultierenden Implikationen allgemein anerkannt sind. In derartigen Fällen sind alle zweifelhaften Aspekte abzutragen, bis man den allgemein konsentierten Kern herausgeschält hat. Dies gilt allerdings nur, soweit dies nicht die Standfestigkeit der Kernaussage und deren Aussagekraft für die juristische Fragestellung beeinträchtigt. Die Forderung nach vollständiger wissenschaftlicher Eintracht würde die Anforderungen an die Nachbardisziplinen freilich überspannen und eine Rezeption bis auf wenige Einzelfälle verhindern. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse können nie die absolute Sicherheit eines mathematischen Nachweises erreichen. Abweichende Meinungen sind deswegen ebenso wie in der Rechtswissenschaft immer denkbar. Der juristische Rezipient darf aber höchs-

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tens über Widerspruch im marginalen Bereich hinwegsehen286. Es ist zuzugeben, dass eine derartige Klassifizierung nicht immer trennscharf möglich sein wird. Etwaige Grenzfälle sollten im Zweifel trotzdem vorzugsweise dem wissenschaftlichen Diskurs überantwortet werden, wo sie immer noch ausgeschlossen werden können. b) Grundstruktur unternehmerischer Entscheidungsprozesse Eine taugliche zeitliche Konkretisierung der Unterrichtungspflicht muss sich an Strukturen orientieren, die allen unternehmerischen Entscheidungsprozessen gemein sind. Deshalb sollen im Folgenden zwei exemplarische Modelle vorgestellt werden, die die entsprechenden Ablaufschritte verdeutlichen. Ferner sollen anhand empirischer Untersuchungen die Grenzen solcher Phasenschemata aufgezeigt werden. Davon ausgehend wendet sich die Untersuchung dann der Frage zu, ob Phasenschemata zur Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes verwendet werden können. aa) Entscheidungen als kognitive Prozesse Unter einer Entscheidung wird ganz „allgemein die (mehr oder weniger bewußte) Auswahl einer von mehreren möglichen Handlungsalternativen verstanden.“287 Die Bedeutung der letztendlichen Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen darf aber nicht überschätzt werden. Sie ist gewissermaßen nur die Spitze des (Entscheidungs-)Eisbergs und wird dementsprechend von der modernen Entscheidungstheorie auch nur als Entschluss bezeichnet. Wesentlich bedeutsamer für das Verständnis von Entscheidungen ist der Ablauf geistiger Aktivitäten, der den Entschluss vorbereitet288. Dieser Ablauf wird als Entscheidungsprozess bezeichnet. Entscheidungen vollziehen sich tatsächlich in mehreren zeitlich nacheinander ablaufenden und voneinander abgrenzbaren Phasen „unterschiedlichen Denk- und Tätigkeitsgehalts.“289 Zur Darstellung dieser logischen Struktur wurde eine Vielzahl von Schemata entwickelt, die sich sowohl hinsichtlich ihres Differenzierungsgrades als auch hinsichtlich der Bezeichnung der einzelnen Phasen unterscheiden. Die Entscheidungs- und Planungsforschung hat bei deren Entwicklung weitgehend auf Erkenntnisse der denkpsychologischen Forschung zurückgegriffen. Insofern lassen sich alle Strukturierungen, so unterschiedlich sie auch im Detail ausgestaltet sind, auf die bereits 1910 von Dewey durchgeführte Analyse von Denkprozessen zurückführen290. Die Schemata wurden 286 Um in juristischen Kategorien zu sprechen: Es sollte sich mindestens um die ganz herrschende Meinung innerhalb der jeweiligen Fachdisziplin handeln. 287 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, S. 3. 288 Adam, Planung und Entscheidung, S. 31; Biehl, Investition und Innovation, S. 28; Witte, Innovative Entscheidungsprozesse, S. 200. 289 Witte, ZfbF 1968, S. 625. 290 Dewey, Wie wir denken, S. 75 ff.; vgl. die diesbezüglichen Nachweise bei Witte, ZfbF 1968, S. 625, 626 (Fn. 5).

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zunächst zur Darstellung von Individualentscheidungsprozessen entwickelt und erst später auch auf multipersonale arbeitsteilige Entscheidungsprozesse übertragen291. Bei allen weiteren Ableitungen handelt es sich um Modifikationen, die das allgemeine Modell menschlicher Entscheidungen den Erfordernissen der jeweiligen Fragestellungen ihrer Fachdisziplinen angepasst haben292. Die ursprünglichen Ablaufschritte werden dafür aufgeteilt und anders bezeichnet, um die Besonderheiten und neuralgischen Punkte des spezifischen Prozesses deutlich zu machen. Dies soll im Folgenden anhand der Gegenüberstellung zweier Modelle verdeutlicht werden. Das erste Modell293 stammt aus der kognitionspsychologischen Forschung und darf für alle menschlichen Entscheidungsprozesse als stellvertretend gelten294, während das zweite Modell aus der betriebswirtschaftlichen Forschung stammt und speziell für unternehmerische Planungsprozesse entwickelt wurde. (1) Problemdefinition295 (2) Informationssuche (3) Ermittlung von Handlungsalternativen (4) Bewertung der Handlungsalternativen (5) Entschluss (6) Umsetzung des Entschlusses Ausgangspunkt jedes Entscheidungsprozesses ist die Erkenntnis, dass Ziele (z. B. die angestrebte Rentabilität des Unternehmens) verfehlt werden oder auf eine andere Art und Weise besser erfüllt werden können296. Ein Entscheidungsproblem kann deshalb als Differenz zwischen einem aktuellen Istzustand und einem gewünschten Soll- bzw. Zielzustand beschrieben werden297. Nach einer Analyse des Problems wird im Rahmen der Problemdefinition konkretisiert, was zur Überwindung dieser Differenz erreicht werden muss298. Inhaltlich ist die Problemdefinition demnach im Wesentlichen durch Ziele und Erwartungen geprägt und damit Wegweiser für den

291 Budäus, Entscheidungsprozesse, S. 33; Busse von Colbe/Lassmann, Betriebswirtschaftstheorie, S. 33. 292 Vgl. beispielsweise verschiedene Modelle der Planungsforschung: Horváth, Controlling S. 187 ff.; Klein/Scholl, Planung, S. 12 ff.; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 48; Wild, Unternehmensplanung, S. 32 ff.; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 103. 293 Brim/Glass/Lavin/Goodman, Personality and Decision Processes, S. 9 f. 294 Vgl. Witte, ZfbF 1968, S. 625, 626; Witte, Innovative Entscheidungsprozesse, S. 202, 203 f. 295 Die Bezeichnung der einzelnen Phasen wurde vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. 296 Grünig/Kühn, Entscheidungsverfahren für komplexe Probleme, S. 90. 297 Grünig/Kühn, Entscheidungsverfahren für komplexe Probleme, S. 7; Laux/Liermann, Grundlagen der Organisation, S. 33; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1303. 298 Pfohl, Problemorientierte Entscheidungsfindung in Organisationen, S. 180.

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gesamten weiteren Entscheidungsprozess299. Mittels einer präzisen Definition des angestrebten Zielzustandes kann ein Entscheidungsprozess von Anfang an in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Ein solches Vorgehen ermöglicht einerseits eine beschleunigte Informations- und Alternativensuche, birgt auf der anderen Seite aber die Gefahr, dass vorteilhaftere Lösungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden300. Die nächste Phase ist der Suche nach Informationen gewidmet, um das Entscheidungsproblem in all seinen Aspekten zu erfassen. Auf der Grundlage dieses informationellen Fundaments werden danach Handlungsalternativen erstellt, die zur Lösung des Entscheidungsproblems geeignet sind. Die ermittelten Alternativen werden daraufhin gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile bewertet. Der eigentliche Entscheidungsprozess wird mit dem Entschluss für eine der Alternativen abgeschlossen. Die letzte Phase des oben aufgezeigten Modells dient der tatsächlichen Realisierung des Prozessergebnisses und ist lediglich ein Annex zum Entscheidungsprozess. Da eine Unterrichtung zweifellos verspätet ist, wenn bereits Umsetzungsmaßnahmen ergriffen wurden, wird diese Phase im Folgenden nicht mehr berücksichtigt. Das zweite Phasenmodell ist in der betriebswirtschaftlichen Planungsforschung verbreitet301: (1) Zielbildung (2) Problemanalyse (3) Informationssuche und Alternativenermittlung (4) Prognose (5) Alternativenbewertung und Entschluss Der Vergleich zum vorhergehenden Schema macht deutlich, dass Planungsprozesse letztlich auch nur spezifische menschliche Entscheidungsprozesse sind, die zu einem Plan führen. Die unterschiedliche Gestaltung soll im Wesentlichen die Zukunftsbezogenheit302 von Planung unterstreichen. Durch die Aufspaltung der Problemdefinition in die Zielbildung und Problemanalyse soll ebenso wie durch die eingefügte Prognosephase hervorgehoben werden, dass Planung oft einen sehr hohen prognostischen Anteil enthält und weit in die Zukunft reicht. Während manche Entscheidungsprozesse mit dem Entschluss oder kurz danach ihre Bedeutung verloren haben können303, entfalten Planungsprozesse über den eigentlichen Entschluss hinaus teilweise langfristige Wirkungen. Neben dieser Besonderheit bestehen keine 299 300

(3). 301

Biehl, Investition und Innovation, S. 57. Biehl, Investition und Innovation, S. 57; vgl. dazu das Beispiel unten § 2 B. III. 4. d) bb)

Vgl. Horváth, Controlling S. 187 ff.; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 48; Wild, Unternehmensplanung, S. 32 ff. 302 Friedl, Controlling, S. 185. 303 Als Beispiel sei die Entscheidung angeführt, welche Kugel Eis unter 10 verschiedenen Sorten ausgewählt werden soll.

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sachlichen Unterschiede, die eine Entscheidung für ein „bestes“ Modell notwendig machen. Beide Konzepte ermöglichen eine adäquate Strukturierung wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse. Die folgenden Ausführungen werden sich trotzdem an dem ersten Modell orientieren. Viele der im Folgenden304 dargestellten Forschungsergebnisse der deskriptiven Entscheidungstheorie beanspruchen Geltung für menschliche Entscheidungsprozesse im Allgemeinen und greifen demzufolge ebenfalls auf dieses Modell zurück. Um den Übertragungsaufwand auf ein Minimum zu reduzieren, empfiehlt es sich deshalb, das allgemeinere Schema zu verwenden. bb) Empirische Validität Phasenschemata unternehmerischer Entscheidungsprozesse haben sowohl explizit305 als auch implizit306 Niederschlag in der juristischen Sphäre gefunden, wo sie zur Verdeutlichung des rechten Unterrichtungszeitpunktes herangezogen wurden. In der Tat können Phasenschemata dazu beitragen, die „terra incognita“ zwischen dem Beginn des Prozesses und dem Entschluss zu erhellen und eine differenziertere und gezieltere Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes zu ermöglichen. Damit wäre ein verhältnismäßigerer, weil präziserer Ausgleich zwischen den Interessen von Betriebsrat und Arbeitgeber wesentlich erleichtert. Überdies sprechen aufgrund der großen Bekanntheit entsprechender Schemata auch praktische Erwägungen für deren Verwendung. Jeder, der sich auch nur oberflächlich einmal mit Unternehmensplanung und wirtschaftlichen Entscheidungen auseinandergesetzt hat, stößt zwangsläufig auf dieses oder ein vergleichbares Modell. Würde sich die Rechtswissenschaft und insbesondere die Judikatur diese Vorteile zunutze machen und ein entsprechendes Modell für die Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben inkorporieren, wäre der Übersetzungsaufwand für die Praxis somit nur sehr gering. Auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit hätte ein solches Vorgehen demzufolge viele Vorteile. Dies steht aber unter dem Vorbehalt, dass die aufgestellten Hypothesen Geltung für die Realität beanspruchen können. Die jeweiligen Phasen müssen auch in realen Entscheidungsprozessen lokalisiert werden können, um zur Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes überhaupt brauchbar zu sein. Eine umfassende empirische Untersuchung von Phasenschemata ist insbesondere Eberhard Witte zu verdanken, der in einer aufsehenerregenden Studie die These von der sachlogischen 304

Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb). FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 59, Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, 1301, 1303. 306 DKK/Däubler, § 106 BetrVG Rn. 40; Hohmann-Dennhardt, Entscheidungsstrukturen im Unternehmen, S. 102, 104 (Fn. 260); Gaugler (ZfbF 1997 – EH. 4, S. 95, 98) behauptet auch, dass der Gesetzgeber mit dem vagen Terminus der rechtzeitigen Unterrichtung „dazu beigetragen hat, dass sich die einschlägig befassten Arbeitsgerichte – mehr implizit als explizit – für das betriebswirtschaftliche Phasenkonzept von Planentscheidungen geöffnet haben. Nur so konnte die Rechtsprechung die Norm der rechtzeitigen Unterrichtung einigermaßen operationalisieren.“ Leider führt Gaugler für diese Behauptung aber keine Nachweise an. 305

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Differenzierung von Entscheidungen in abgrenzbare Phasen bzw. Teilschritte auf den Prüfstand stellte307. Witte analysierte dafür 233 Entscheidungsprozesse, an denen mehrere Personen beteiligt waren und die sich über einen längeren Zeitraum erstreckten. Das Phasen-Theorem konnte sich in der betreffenden Studie nicht einschränkungslos bewähren. Zwar konnte das Auftreten der einzelnen Teiloperationen nachgewiesen werden, allerdings ergaben sich keine Anzeichen für den modellhaften zeitlichen Verlauf. Vielmehr verteilen sich die Phasen der Informations- und Alternativensuche und der Alternativenbewertung „zeitlich gleichmäßig über den gesamten Entscheidungsprozess“308. Alle Phasen sind dabei durch zahlreiche Rückkopplungen miteinander verbunden. So wird beispielsweise die Problemdefinition beim Auftreten neuer Anhaltspunkte immer wieder modifiziert. Ziele werden im Laufe des Prozesses als unrealistisch erkannt und den Gegebenheiten angepasst, was mit einem Rückschritt in vorherige Planungsphasen verbunden ist. Die Phasen lassen sich demnach in der Praxis nicht strikt voneinander trennen309. Eine weitere Ursache der empirischen Abweichungen derartiger Modelle ist die Tatsache, dass die Akteure in multipersonalen Prozessen nicht autonom entscheiden, sondern in mannigfaltiger Weise von der Organisationsstruktur und deren Eigendynamik (informelle Organisation) beeinflusst werden310. Auch bestehen die einzelnen Phasen aus einer „Fülle von Teilentscheidungen“311, die wiederum einen eigenständigen Entscheidungsprozess notwendig machen312. Dementsprechend tauchen die einzelnen Teiloperationen auch immer wieder gleichmäßig innerhalb des Prozesses auf. Über den zeitlichen Ablauf von Entscheidungsprozessen ist lediglich gesichert (obwohl Witte diese Erkenntnis „in der Nähe der Banalität“313 verortet), dass sie mit der oft unvollständigen Wahrnehmung eines Entscheidungsproblems beginnen und mit einem Entschluss beendet werden. Dazwischen liegen Informationsprozesse (Informationssuche, Alternativenermittlung und –bewertung), die durch einen ständigen Wechsel charakterisiert sind. Zusammenfassend kann man festhalten, dass es sich bei Phasenschemata um die sachlogisch-formale Abbildung eines Prozesses handelt, „dessen einzelne Phasen fließend ineinander übergehen, zum Teil gleichzeitig ablaufen und durch zahlreiche Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden sind.“314

307 308 309 310 311

642.

Witte, ZfbF 1968, S. 625 ff. Witte, HwbUO, Sp. 551, 554. Klein/Scholl, Planung, S. 12. Schreyögg, Organisation, S. 68; vgl. dazu ausführlich § 2 B. III. 4. d) bb) (4). Frese, Kontrolle und Unternehmensführung, S. 46; vgl. auch Witte, ZfbF 1968, S. 625,

312 Vgl. dazu und auch zu weiteren Abweichungen vom rationalen Prozessmodell ausführlich unten § 2 B. III. 4. d) bb). 313 Witte, ZfbF 1968, S. 625, 635. 314 Marr, Innovation und Kreativität, S. 75.

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In Anbetracht der Tatsache, dass diese Einsichten innerhalb der Entscheidungsund Planungsforschung absolut anerkannt sind, stellt sich die Frage, weshalb Phasenschemata von Entscheidungen immer noch in jedem Lehrbuch einen Platz finden. Die Antwort überzeugt und lädt auch zum Nachdenken ein, ob Wittes Überprüfung der empirischen Validität von Phasenschemata nicht „bereits von der Fragestellung her verfehlt“315 war. Phasenschemata dürfen lediglich als formal-logische Modelle und sprachliche Bezugssysteme interpretiert werden. So ist es eine rein logische Schlussfolgerung, dass die Alternativen erst bewertet werden können, wenn bereits welche ermittelt wurden, was wiederum nur möglich ist, wenn bereits entsprechende Informationen gesammelt wurden316. Zwar kann ihnen keine genaue zeitliche Abfolge der Einzelaktivitäten entnommen werden, dafür kann aber bei der Analyse eines Planungsprozesses dessen grobes Entwicklungsstadium deutlich gemacht werden317. Entscheidungsschemata drücken insofern lediglich eine „generelle Tendenz der Reihenfolge“318 aus. Auch können sie die Teilaufgaben darstellen, die innerhalb eines Planungsprozesses zu erfüllen sind und als Orientierungshilfe bei der empirischen Analyse von Planungsprozessen dienen319. Ohne die Kenntnis ihrer Defizite birgt die Arbeit mit Phasenschemata allerdings die Gefahr falscher Schlussfolgerungen. Ihre unreflektierte Widergabe und juristische Verwendung320 ist deshalb durchaus problematisch. cc) Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes Die geschilderten Unzulänglichkeiten haben einige betriebswirtschaftliche Autoren zu der Auffassung bewogen, dass Phasenschemata zur Kennzeichnung des Einsetzens der Unterrichtungspflicht nur eingeschränkt geeignet sind321. Gerum geht sogar so weit, die punktuelle Kennzeichnung eines Unterrichtungszeitpunktes als unmöglich anzusehen. Da zwischen allen Phasen des Entscheidungsprozesses Rückkopplungen stattfinden können, sei es „schier unmöglich (…) ex ante den Beginn oder Stand eines Entscheidungsprozesses zu diagnostizieren.“322 Tatsächlich ist der weitere Verlauf oft nur sehr schwer prognostizierbar, da jederzeit noch 315

Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 38. Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 36. 317 Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 36; Osterloh, AuR 1986, 332, 334 (Fn. 25). 318 Kirsch, Entscheidungsprozesse, S. 75. 319 Pfohl, Entscheidungsfindung, S. 25. 320 Vgl. FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 59; Thelen, Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates gem. §§ 90, 91 BetrVG, S. 24. 321 Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 36 ff.; Gerum, ZfP 1997, S. 183, 190; ders., Information und Wirtschaftlichkeit, S. 747, 763 f.; ähnlich Oechsler (Personal und Arbeit, S. 81) der zwar auf die Schwierigkeiten bei der Arbeit mit Planungsmodellen hinweist, allerdings im nächsten Absatz trotzdem wieder die Kennzeichnung mittels eines Schemas vornimmt. 322 Gerum, ZfP 1997, S. 183, 190. 316

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vielfältige Richtungsänderungen denkbar sind. Auch in einem späten Stadium des Prozesses können sich zugrundeliegende Annahmen deshalb als falsch erweisen, was einen Rückschritt in bereits abgeschlossene Phasen notwendig macht. So kann der Stand des Prozesses ex ante als bereits sehr fortgeschritten erscheinen, während sich ex post herausstellt, dass man sich tatsächlich noch am Anfang befand. Zur Umgehung dieser Schwierigkeiten schlägt Gerum eine „laufende“323 Unterrichtung der Arbeitnehmervertretungen über Planungsprozesse vor, wie dies beispielsweise im schwedischen Mitbestimmungsrecht angeordnet ist324. Dies muss so interpretiert werden, dass er für eine periodische Unterrichtung ohne Berücksichtigung des konkreten Planungsprozesses plädiert (z. B. pauschal einmal im Monat). Bei einer Bezugnahme der laufenden Unterrichtung auf den konkreten Prozess würden nämlich wieder die gleichen Probleme bei der Bestimmung des konkreten Zeitpunktes auftauchen, die gerade vermieden werden sollen. Tatsächlich würde eine solche Vorgehensweise die vorliegende Problematik entschärfen, da es in Planungsprozessen schlicht kein „beteiligungsfreies Vorfeld“325 mehr gäbe. Die Frage nach einer Abgrenzungsformel und damit einer Kennzeichnung des spätesten Beteiligungszeitpunktes würde sich demzufolge nicht mehr stellen. Als entsprechende Rahmenveranstaltung stünde die monatliche Besprechung von Arbeitgeber und Betriebsrat gem. § 74 Abs. 1 S. 1 BetrVG zur Verfügung. Gerum überschätzt dabei allerdings die Möglichkeiten juristischer Auslegung. Einem solchen Prozedere steht zunächst ganz deutlich der Wortlaut der entsprechenden Vorschriften entgegen. Wie bereits oben dargestellt326, kennzeichnet der Begriff „rechtzeitig“ einerseits eine Vielzahl von Zeitpunkten, in denen die Unterrichtung zwar rechtzeitig, eine Beteiligung des Betriebsrates aber noch freiwillig ist. Andererseits wird auch ein konkreter Zeitpunkt gekennzeichnet, ab dem Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss zwingend einzubeziehen sind. Die aus der Anordnung der rechtzeitigen Unterrichtung resultierende Rechtspflicht setzt dann ein, wenn sich der Planungsprozess bereits in einem Stadium befindet, in dem weiteres Abwarten eine sachgemäße Einflussnahme rechtswidrig erschweren würde. Rechtzeitig ist die Unterrichtung vom Anfang des Planungsprozesses bis zu dem Punkt, wo eine Einflussnahme nicht mehr sinnvoll möglich und die Unterrichtung demzufolge verspätet ist. Diese sprachlich bedingten Zwänge werden überdies durch den Zweck der entsprechenden Vorschriften gestützt, den Arbeitnehmervertretungen eine Einflussnahme zu ermöglichen. Eine Einflussnahme ist aber denknotwendig erst dann 323

Gerum, ZfP 1997, S. 183, 190. Da im schwedischen Mitbestimmungsrecht keine Betriebsräte vorgesehen sind, werden stattdessen im Betrieb vertretene Gewerkschaften unterrichtet. Vgl. Section 19 Employment Act: „An employer is obliged to regularly inform an employees’ organisation in relation to which he is bound by collective bargaining agreement as to the manner in which the business is developing in respect of production and finance and as to the guidelines for personnel policy…“ 325 Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1303. 326 Vgl. oben § 2 B. I. 324

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möglich, wenn bereits eine (auch noch so rudimentäre) Willensäußerung vorliegt, die auch beeinflusst werden kann. Ein beteiligungsfreier Bereich am Anfang des Planungsprozesses ist demnach gesetzlich geboten. Einer fortgesetzten („laufenden“) Unterrichtung nach der erstmaligen Einbeziehung stehen aber weder Wortlaut noch Zweck entgegen. Planung ist wie bereits angesprochen ein dynamischer Prozess, der durch ständige Veränderungen, Korrekturen und Rückschritte in vorherige Phasen geprägt ist. Im Verlauf dieses Prozesses sind deshalb jederzeit weitgehende Richtungsänderungen denkbar, die einer Einflussnahme des Betriebsrates bei einer einmaligen Unterrichtung und Beratung entzogen wären. Dieser muss deswegen auch an der weiteren Entwicklung nach seiner erstmaligen Einbeziehung beteiligt werden. Durch dieses Prozedere werden auch die geäußerten Bedenken gegenüber der Festlegung eines konkreten Unterrichtungszeitpunktes entschärft. Bei einer fortgesetzten Beteiligung ist es nämlich unproblematisch, wenn der Planungsprozess wieder in eine vorhergehende Phase zurückschreitet oder gar ganz von vorne anfängt, wenn sich anfängliche Annahmen als falsch erweisen. Entscheidend ist lediglich, dass der Prozess einmal den betreffenden Stand erreicht bzw. die konkrete Phase durchschritten hat. Auch wenn sich ex post herausstellt, dass der Entwicklungsstand des Prozesses völlig falsch eingeschätzt wurde, ändert dies nichts an der Bewertung der erstmaligen Unterrichtung. Entscheidend kann nur die ex ante-Betrachtungsweise sein, da sich genauso gut herausstellen kann, dass der weitere Prozess einen linearen Verlauf genommen hat und der Stand deshalb richtig eingeschätzt wurde. Eine dem konkreten Verlauf entsprechende und fortgesetzte Unterrichtung ist demnach gesetzlich geboten. Ein weiterer Aspekt der Kennzeichnung der Unterrichtungspflicht ist, dass diese überdies „an eine nach außen in Erscheinung tretende (manifeste) Handlung (…)“327 des Arbeitgebers anknüpfen muss, um praktischen Anforderungen zu genügen und um überhaupt justiziabel zu sein. Dies wird umso unproblematischer möglich sein, je strukturierter und formalisierter das Willensbildungsverfahren des jeweiligen Unternehmens ausgestaltet ist, da die Entscheidungsstrukturen als Anhaltspunkt für den Stand des Willensbildungsprozesses genutzt werden können. Damit sind sowohl Strukturen im Rahmen der Organisationsautonomie, als auch gesellschaftsrechtlich zwingende Entscheidungsprozeduren angesprochen. Die interne Strukturierung wird dabei mit steigender Größe des Unternehmens immer deutlicher hervortreten328, da zunehmend eine Arbeitsteilung stattfindet, die Entscheidungsprobleme fragmentiert und auf spezialisierte Planungseinheiten delegiert329. Beispielsweise manifestiert sich sehr deutlich der (ggf. vorläufige) Abschluss der Problemdefinition, wenn die Unternehmensleitung das Entscheidungsproblem an die zuständigen Planungsstäbe delegiert. Ebenfalls ist die Phase der Alternativbewertung gut dadurch erkennbar, dass die Planungsstäbe verschiedene Alternativvorschläge der Unternehmensleitung 327 328 329

Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 18. Vgl. auch Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 16. Vgl. dazu ausführlich unten § 2 B. III. 4. d) bb) (4).

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vorstellen. Umgekehrt wird es für einen externen Betrachter umso schwieriger, den Stand des Prozesses zu bestimmen, je unorganisierter und informeller dieser verläuft. Aber auch im denkbar schwierigsten Fall, in dem Planung und Entscheidung eines Unterrichtungsgegenstandes durch nur eine Person durchgeführt werden, wird sich der Stand des Prozesses zumindest rudimentär in deren schriftlichen Aufzeichnungen widerspiegeln. Da sich die Manifestationen wirtschaftlicher Denkvorgänge je nach Entscheidungsgegenstand und Unternehmen unterscheiden, ist eine Integration in die rechtliche Konkretisierungsformel des Unterrichtungszeitpunktes nicht möglich. In Betracht kommt allerdings eine Aufstellung exemplarischer Fallgruppen, die bei der Subsumtion der rechtlichen Vorgabe assistieren können. dd) Zwischenergebnis Zur Strukturierung von Entscheidungsprozessen existiert eine Vielzahl von Schemata, die eine Differenzierung nach verschiedenen Teilaufgaben vornehmen. Unter Berücksichtigung ihrer Defizite können diese bei einer präzisen Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes assistieren. c) Betriebswirtschaftliche Planungsforschung Die Rahmenbedingungen unternehmerischer Entscheidungen sind einem dynamischen Änderungsprozess unterworfen. Wirtschaftlicher Erfolg hängt ganz wesentlich davon ab, ob Marktentwicklungen und Trends rechtzeitig erkannt werden. Überdies steigt mit zunehmender Größe der Grad der organisatorischen Differenzierung eines Unternehmens. Dieses mag sich nach außen als Einheit darstellen, ist aber tatsächlich ein Geflecht hochgradig interdependenter Subsysteme, die einer zentralen Koordination bedürfen. Instrument zur Bewältigung dieser Problematik ist die Planung. Sie ist ein Kernelement menschlichen Wirtschaftens und nimmt in nahezu allen betriebswirtschaftlichen Disziplinen eine zentrale Stellung ein330. In der Betriebswirtschaftslehre findet sich eine Vielzahl von Definitionen, die im Kern letztlich sehr ähnlich sind331. Gemeinsam ist ihnen, dass man Planung als „ein systematisches, zukunftsbezogenes Durchdenken und Festlegen von Zielen, Maßnahmen, Mitteln und Wegen zur künftigen Zielerreichung“332 auffasst. Planung wird deshalb auch als „prospektives Denkhandeln“333 bezeichnet. Resultat jeder Planung

330

Klein/Scholl, Planung, S. 1. Vgl. nur Adam, Planung, S. 3; Koch, Unternehmensplanung, S. 12; Wild, Unternehmensplanung, S. 13; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 103. 332 Wild, Unternehmensplanung, S. 13. 333 Horváth, Controlling, S. 150. 331

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ist ein Plan oder ein System von Plänen334. Pläne antizipieren das gesamte Spektrum unternehmerischer Tätigkeit, von der Gründung des Unternehmens bis zum Verkauf oder zur Liquidation335. Planung ist dabei nicht als starres Festlegen von Zielen und Handlungen zu verstehen, sondern vielmehr als ständiger Anpassungs- und Korrekturprozess, der es ermöglichen soll, sich kontinuierlich und sachgerecht mit Umweltveränderungen auseinandersetzen zu können336. Eine sorgfältige Unternehmensplanung ist deshalb selbst bei kleineren und mittleren Unternehmen ein höchst komplexer Prozess. Freilich wäre eine Totalplanung vor diesem Hintergrund nicht praktikabel. Auch in kleineren und wenig ausdifferenzierten Unternehmungen sind bereits zu viele Variablen zu berücksichtigen. Ein einziger Gesamtplan zur Koordinierung sämtlicher aktuellen und zukünftigen Aspekte des Unternehmens wäre deshalb schon auf einer geringen Konkretisierungsstufe zu unübersichtlich. Aus diesem Grund wird der Weg der Teilplanung beschritten337. Das unternehmerische Entscheidungsfeld wird dabei durch sachliche und zeitliche Aufteilung in einzelne Planeinheiten zerlegt338. Zur sachlichen Aufteilung von Teilplänen ist in der Planungspraxis eine funktionale Differenzierung am gebräuchlichsten339. Dabei können u. a. die Bereiche Produktion, Absatz, Personal, Finanzierung und Investition unterschieden werden340. In großen Mehrproduktunternehmen ist oft noch eine Aufteilung nach Sparten vorgeschaltet, so z. B. bei einem Chemiekonzern die Sparten Pharma, Düngemittel, Kunststoffe, Lacke usw.341. Die Planungsbereiche und deren Bedeutung variieren je nach Branche, wirtschaftlicher Lage und Größe des Unternehmens, um nur einige Einflussfaktoren zu nennen. Betriebliche Arbeitnehmervertretungen sind in viele dieser Teilpläne direkt oder indirekt und mit unterschiedlichem Einflusspotential involviert342. Angesichts der vielfältigen betroffenen Tatbestände ist es allerdings nicht möglich, bereits hier allgemeine Strukturen aufzuzeigen. Die Besonderheiten der verschiedenen Teilpläne sollen deshalb erst im Rahmen der konkreten Unterrichtungsvorschriften thematisiert werden.

334 Klein/Scholl, Planung, S. 4; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 18. 335 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 104. 336 Horváth, Controlling, S. 171 f. 337 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 104. 338 Frese, Organisation, S. 99; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 105. 339 Klein/Scholl, Planung, S. 18. 340 MüArbR/Buchner, § 27, S. 355; wobei je nach Autor noch weitere Bereiche genannt oder die genannten noch differenziert werden: vgl. Klein/Scholl, Planung, S. 18; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 34; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 104. 341 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 104. 342 Vgl. für Einbeziehung des Betriebsrates in die einzelnen Teilpläne Faßnacht, Unternehmensplanung und Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz, S. 32 ff.

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Bedeutsamer für die Fragestellung des Allgemeinen Teils ist die zeitlich-hierarchische Strukturierung der Unternehmensplanung. Hinsichtlich der zeitlichen Aufteilung der Planung343 (sog. Planungshorizont) unterscheidet man zwischen strategischer Planung (langfristig, fünf Jahre und länger), taktischer Planung (mittelfristig, zwei bis fünf Jahre) und operativer Planung (kurzfristig, maximal ein Jahr)344. Je langfristiger ein Plan erstellt wurde, desto höher steht er in der unternehmensweiten Planhierarchie. Übergeordnete Pläne stecken den Handlungsrahmen ab, innerhalb dessen der untergeordnete Plan formuliert werden muss345. Innerhalb einer Planhierarchie stehen die Pläne der tieferen Ebenen damit in einem Ableitungsverhältnis zu den auf höheren Ebenen verorteten Plänen346. Je niedriger die

343 Teilweise wird zusätzlich noch zwischen zeitlicher und sachlicher Reichweite differenziert, da es denkbar ist, dass z. B. eine operative Planung eine zeitlich nur geringe Reichweite aufweist aber dafür in sachlicher Hinsicht erhebliche Wirkungen entfaltet (so z. B. die operative Planung des ersten Schrittes eines langfristigen Forschungsprojektes, der aber den weiteren Verlauf maßgeblich determiniert). Jedoch bilden derartige Fälle die Ausnahme, weshalb im Rahmen der folgenden Untersuchung von einer Korrespondenz der zeitlichen und sachlichen Reichweite ausgegangen wird. Vgl. Klein/Scholl, Planung, S. 19. 344 So eine gebräuchliche Differenzierung, vgl. Klein/Scholl, Planung, S. 19; Osterloh, AuR 1986, 332, 336; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 34; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 104. 345 Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 34. 346 Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 34; Für die hierarchische sukzessive Koordination von Plänen unterschiedlicher Planungsbzw. Leitungsebenen stehen 3 verschiedene Verfahren zur Auswahl (vgl. dazu Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 41 ff; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 109 ff.). Das retrograde („Top-Down-Planung“), das progressive („Bottom-Up-Planung“) und das zirkuläre Verfahren („Gegenstromplanung“). Das retrograde Verfahren geht dabei von einem Gesamtplan des Unternehmens aus, aus dem sukzessive die untergeordneten Pläne entwickelt werden, während das progressive Verfahren schrittweise die Ergebnisse der unteren Planungsstufen zu einem übergeordneten Gesamtplan aggregiert. Nachteil der retrograden Planung ist unter anderem, dass die starren Planvorgaben den untergeordneten Leitungsebenen nur eine geringe Eigenbeteiligung ermöglichen. Dadurch wird ein erhebliches Wissens- und Kompetenzpotential verschwendet, da die unteren Planungsebenen naturgemäß größere Kenntnisse und mehr Erfahrung mit der geregelten Materie haben. Größter Nachteil der progressiven Planung ist, dass mangels einheitlicher Vorgaben ein hoher Koordinationsaufwand für die Teilpläne besteht, da sich diese widersprechen können (vgl. Wild, Unternehmensplanung, S. 191 ff.). Die Vorteile beider Verfahren verbindet die Planung nach dem Gegenstromprinzip. Nach dem retrograden Prinzip wird zunächst basierend auf einem vorläufigen bzw. gewünschten allgemeinen Zielsystem für das gesamte Unternehmen ein globaler Rahmenplan aufgestellt, von dem dann die vorläufigen Teilpläne abgeleitet werden. Daraufhin nimmt die Planung wieder den progressiven Verlauf und ausgehend von der untersten Planungsebene bis zur Unternehmensführung erfolgt eine Überprüfung der Planvorgaben auf ihre Realisierbarkeit. Sollte das nach dem Rücklauf präzisierte Zielsystem nicht den Vorstellungen der Geschäftsführung entsprechen, wird teilweise ein erneuter Planungszyklus auf Basis des angepassten präzisierten Zielsystems eingeleitet. Da dieses Planungsverfahren die Schwächen der singulär retrograden oder progressiven Planung vermeidet, ist es heutzutage am weitesten verbreitet.

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Pläne in dieser Hierarchie stehen, umso detaillierter und differenzierter sind sie und umso präzisere Informationen werden verwendet347. Auf der obersten Stufe definiert die strategische Planung die grundlegenden Ziele eines Unternehmens innerhalb des genannten zeitlichen Rahmens und stellt damit die Weichen für die weitere Unternehmensentwicklung. Ziel der strategischen Planung ist es, Gefahren und Chancen für die Unternehmung rechtzeitig zu erkennen, um auf Basis dieses Wissens Strategien zu entwickeln348 und für einzelne Geschäftsfelder oder Funktionsbereiche der Unternehmung einen grob strukturierten und in sich abgestimmten Rahmenplan zu schaffen349. Gegenstände strategischer Planung sind etwa die Rechtsform und Finanzierung des Unternehmens, die avisierten Märkte, Forschung und Entwicklung von neuen Produkten und auch Standortentscheidungen350. Es werden dabei üblicherweise keine konkreten Vorgaben für einzelne Funktionsbereiche, sondern lediglich Rahmendaten für untergeordnete Planungsebenen erstellt351. Strategische Planung ist besonders anspruchsvoll, da sie sich regelmäßig mit komplexen Entscheidungsproblemen mit großer zeitlicher Reichweite, stark veränderlichen Umweltbedingungen und großem Informationsbedarf auseinandersetzt352. Da der Planungszeitraum weit in die Zukunft reicht, wird die strategische Planung oft auf sehr unsicherer Tatsachengrundlage durchgeführt und enthält deshalb einen großen Prognoseanteil. Überdies nimmt sie oft elementare Weichenstellungen für einen langen Zeitraum vor. Aufgrund ihrer hohen Bedeutung fällt sie regelmäßig in den Verantwortungsbereich der obersten Leitungsebene353. Die taktische Planung konkretisiert die Rahmenvorgaben der strategischen Planung. Gegenstand ist die mittelfristige Planung der Funktionsbereiche wie Forschungs-, Entwicklungs-, Absatz-, Produktions- und Beschaffungs-, Personal- und die Investitions- und Finanzierungsplanung354. Hier werden wiederum Vorgaben für die operative Planungsebene entwickelt. Im Rahmen der operativen Planung werden für das laufende Geschäftsjahr eine Vielzahl detaillierter und stark differenzierter Teilpläne zur kurzfristigen Steuerung des Unternehmensgeschehens ausgearbeitet355. Ein operativer Ziel- und Maßnahmenplan enthält alle in den jeweiligen 347

Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 34. Horváth, Controlling, S. 173. 349 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 106. 350 Vgl. Anthony, Planning and Control Systems, S. 25, 32; Wild, Unternehmensplanung, S. 169. 351 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 107. 352 Klein/Scholl, Planung, S. 1. 353 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 105; dies sind gesellschaftsrechtlich bei der GmbH die Geschäftsführer (§§ 6, 35 GmbHG), bei der AG der Vorstand (§§ 76, 77 AktG), bei der OHG die Gesellschafter (§ 114 HGB) und bei der KG und der KGaA die Komplementäre (§§ 163 HGB, 278 Abs. 2 AktG). 354 Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 107. 355 Osterloh, AuR 1986, S. 332, 337. 348

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Funktionsbereichen zu verfolgenden Einzelziele, wie z. B. Absatzmengen, Umsatzhöhen oder Produktionssteigerungen, die zur Erreichung dieser Ziele erforderlichen Maßnahmen und deren zeitliche Koordinierung, sowie die jeweils für die Durchführung verantwortlichen Stellen356. Bei größeren Unternehmen mit einer entsprechenden Differenzierung obliegt die taktische Planung regelmäßig der mittleren Führungsebene, während die operative auf der unteren Führungsebene erstellt wird357. Dieses Hierarchieverhältnis bringt es mit sich, dass vielfach auf höheren Planungsebenen bereits Vorentscheidungen getroffen werden, die Entscheidungen auf untergeordneten Ebenen vorwegnehmen und dadurch dem Entscheidungsträger der betreffenden Stufe keinen Spielraum mehr lassen. Dergestalt wird bereits auf der strategischen Planungsebene der „Suchraum“358 für die untergeordneten Planungsebenen eingegrenzt. Dieses Prozedere setzt sich immer weiter fort bis hin zur untersten Planungsebene. Je konkretere Handlungsbeschränkungen sich aus einer übergeordneten Planungsebene ergeben, desto stärker ist die jeweilige Entscheidung bereits determiniert. So werden beispielsweise Standortentscheidungen aufgrund ihrer überragenden Bedeutung regelmäßig auf der strategischen Ebene getroffen359. Wird auf dieser Ebene ein Rationalisierungskonzept beschlossen, das die Stilllegung eines Standortes und auch schon konkrete Details zur Umsetzung enthält, bleibt für die untergeordneten Planungsebenen kein nennenswerter Spielraum360. Ein konkret auf die jeweilige Betriebsstilllegung bezogenes Unterrichtungsrecht würde deshalb auf der taktischen oder operativen Ebene weitgehend leer laufen, da die eigentliche Entscheidung bereits gefallen ist. Das Beispiel macht deutlich, dass es mit der Fixierung des Unterrichtungszeitpunktes innerhalb eines konkreten Planungsprozesses noch nicht getan ist. Überdies müssen auch übergeordnete Planungsebenen und die daraus hervorgehenden 356

Kasprik, Rationale Unternehmens- und Marketingplanung, S. 6 f. Eine gute Veranschaulichung des Aufbaus und der Eigenschaften der verschiedenen Planungsebenen findet sich bei Horváth, Controlling, S. 170 f. 358 Wild, Unternehmensplanung, S. 167. 359 Anthony, Planning and Control Systems, S. 24, 32; Hansmann, Industrielles Management, 107; Wild, Unternehmensplanung, S. 169; aufgrund des Aufwandes, der mit Ansiedlungen, Verlagerungen oder Schließungen verbunden ist, erfordern Standortentscheidungen regelmäßig eine langfristige Prognose, ob die Maßnahme auf lange Sicht die hohen Investitionen wieder amortisiert. So beschloss die Firma Schott 2003 Produktionsstätten in Deutschland und Amerika stillzulegen. Die Kosten für Demontage und die Abfindungen summierten sich auf einen dreistelligen Millionenbetrag, was das eigentlich positive Jahresergebnis der Firma in ein Defizit in Höhe von 70 Millionen Euro verwandelte. Diese Maßnahme war offensichtlich nur bei einer langfristigen Sichtweise vertretbar (Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. 02. 2004, S. 15: „Der Schott-Konzern wird kräftig umgekrempelt“). Dies wird auch vom BAG gebilligt, das auch ein Sozialplanvolumen als zulässig erachtete, das dazu führte, dass sich die Betriebsänderung erst nach 2 Jahren amortisierte: BAG vom 6. 5. 2003 – 1 ABR 11/02 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 161. 360 Beispiel bei Osterloh, AuR 1986, S. 332, 335. 357

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Handlungsbeschränkungen berücksichtigt werden. Fehlt eine solche Betrachtung, könnte der Arbeitgeber durch eine gezielte Nutzung der Planhierarchie den Zeitpunkt der Unterrichtung nach Belieben manipulieren361. Freilich mag es insbesondere bei komplexen Planungen nicht immer einfach zu erkennen sein, ob eine zu treffende Entscheidung, die möglicherweise erst in mehreren Jahren auf einer untergeordneten Führungsebene umgesetzt werden soll, Arbeitnehmerinteressen bereits dergestalt tangiert, dass ein Unterrichtungsrecht ausgelöst wird. Allerdings ist gerade die Folgenabschätzung zentraler Bestandteil einer sorgfältigen Unternehmensplanung. Dem Arbeitgeber kann es deshalb durchaus zugemutet werden, bei der Planerstellung auch bereits die Auswirkungen auf Arbeitnehmerinteressen zu berücksichtigen. d) Deskriptive Entscheidungstheorie aa) Gegenstand der deskriptiven Entscheidungstheorie Die Entscheidungstheorie ist ein interdisziplinärer362 Forschungsansatz, der sich mit dem Entscheidungsverhalten von Individuen (Theorien der Individualentscheidungen), Gruppen und Organisationen (Theorie der Kollektiventscheidungen) befasst. Menschliches Entscheidungsverhalten wird dabei unter zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: der präskriptiven (entscheidungslogischen bzw. „normativen“) und der deskriptiven (verhaltenswissenschaftlichen) Entscheidungstheorie. Ziel der präskriptiven Entscheidungstheorie ist es, Instrumente und Verhaltensempfehlungen für alternative Entscheidungssituationen zu entwickeln363. Die präskriptive Entscheidungsforschung beschreibt nicht die Realität, sondern entwickelt im Wege deduktiver Forschung formalisierte Regeln und Verfahren zur Optimierung von Entscheidungen. Sie betrachtet menschliche Entscheidungen im Wesentlichen als Wahlakt zwischen verschiedenen Entscheidungsalternativen und postuliert, was „rationales“ und „optimales“ Verhalten ist364. Die Prämisse der präskriptiven Entscheidungstheorie ist, dass die Entscheidungsfindung als rationaler Prozess abläuft. Danach wiegt der Entscheider mit gleichsam mathematischer Vorgehensweise alle verfügbaren Entscheidungsalternativen gegeneinander ab und wendet sein Wissen nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie und Logik zur Lösung des Entscheidungsproblems an365. 361

Ebenso Osterloh, AuR 1986, S. 332, 335. Neben den Wirtschaftswissenschaften und der Psychologie spielen auch die Philosophie, die Soziologie, die Philosophie, die Politologie und die Statistik eine Rolle. Jede Fachdisziplin analysiert den Problemkreis der Entscheidungsfindung aus einer anderen Perspektive. Die Vielfalt der eingenommenen Blickrichtungen ist die Ursache dafür, dass sich die Entscheidungsforschung noch nicht als einheitliche, geschlossene Theorie präsentiert, sondern als dynamisches Forschungsgebiet, das stetig neue Impulse aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen akkumuliert (vgl. dazu Zimmermann, Operations Research, S. 12). 363 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, S. 4. 364 Zimmermann in: Management Enzyklopädie III, S. 260. 365 Fischer/Greitemeyer/Frey, Entscheidungsverhalten in: HWbUO, Sp. 239, 240. 362

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Die deskriptive Entscheidungstheorie versucht hingegen zu erklären, wie Individuen und Gruppen tatsächlich entscheiden366. Sie gewinnt deswegen ihre Erkenntnisse im Rahmen empirischer Untersuchungen367. Ziel ist es, realitätsnahe Hypothesen über das Verhalten von Individuen und Gruppen beziehungsweise Organisationen aufzustellen, um Entscheidungen zu prognostizieren. Sie beschäftigt sich dabei ebenso wie die präskriptive Theorie mit der Entscheidung als Wahlakt. Der Fokus ist allerdings insofern weiter, als auch der vorgelagerte Entscheidungsprozess mit seinen vielfältigen Informations- und Kommunikationsprozessen analysiert wird. Von Interesse ist vor allem die Frage, inwieweit dieser Prozess die eigentliche Entscheidung beeinflusst und teilweise sogar determiniert368. Beide Perspektiven stehen freilich nicht unverbunden nebeneinander, sondern befruchten sich gegenseitig. Die deskriptive Forschung überprüft die Theoriengebäude der präskriptiven Forschung und gibt damit Hinweise für eine realistischere Ausgestaltung. (1) Entwicklung Ihren Ausgangspunkt nimmt die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie bei dem Werk des ehemaligen amerikanischen Managers Chester Barnard369. Dessen Erkenntnisse wurden im Jahre 1947370 durch den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Psychologen Herbert A. Simon aufgegriffen und wissenschaftlich weiterentwickelt. Gegenstand seiner nobelpreisgekrönten371 Arbeit war vor allem die Kritik am Menschenbild der neoklassischen Nationalökonomie: dem homo oeconomicus372. Dieses Verhaltensmodell versteht menschliches (ökonomisches) Handeln als rationale Auswahl (rational choice) zwischen Alternativen bei Güterknappheit373. Rationalität bedeutet in diesem Kontext einerseits, dass jedes Individuum nach Nutzenmaximierung strebt und diejenige Handlungsalternative wählt, die seinen Präferenzen am besten gerecht wird. Rationalität bedeutet so verstanden allerdings auch, dass auf vollständiger Informationsgrundlage ent366 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, S. 3 f.; Kahneman/Tversky, Judegement and decision making, S. 147: „The study of decisions addresses both normative and descriptive questions. The normative analysis is concerned with the nature of rationality and the logic of decision making. The descriptive analysis, in contrast, is concerned with people’s beliefs and preferences as they are, not as they should be.“ 367 Berger/Bernhard-Mehlich, Organisationstheorien, S. 169. Empirische Arbeiten widmen sich der methodischen und kontrollierten Überprüfung von Hypothesen in der Realität. Diese Hypothesen werden aus allgemeinen Theorien abgeleitet, die mittels dieser Untersuchungen bestätigt oder falsifiziert werden sollen (vgl. Irle, Macht und Entscheidungen, S. 156). 368 Zimmermann in: Management Enzyklopädie III, S. 260 f. 369 Barnard, The Functions of the Executive (1938). 370 Simon, Administrative Behavior. 371 Simon erhielt für seinen „wissenschaftlichen Mord am Homo oeconomicus“ (Witte, Unternehmerische Entscheidungen, S. 144) im Jahre 1978 den Wirtschaftsnobelpreis. 372 Vgl. dazu ausführlich Kirchgässer, Homo oeconomicus. 373 Kirchgässer, Homo oeconomicus, S. 12; vgl. dazu auch Korobkin/Ulen, California Law Review 2000 Vol. 88, S. 1051, 1060 ff.

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schieden und auch der gesamte Problemzusammenhang erfasst wird. Alle denkbaren Alternativen werden sowohl ermittelt, als auch objektiv bewertet, um zum denkbar besten Ergebnis zu gelangen. Simon wies in empirischen Studien nach, dass sich menschliche Entscheidungsprozesse signifikant von diesen Annahmen unterscheiden. Das klassische Verhaltensmodell vernachlässigt die internen und externen Grenzen rationalen Verhaltens. Die Akteure haben zwar grundsätzlich den Willen rational zu handeln, scheitern aber an der begrenzten Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes, der komplexe Entscheidungsprobleme mit vielen Variablen nicht mit mathematischer Präzision korrekt bewältigen kann (interne Grenzen)374. Zudem berücksichtigt das rational-choice-Modell nicht die tatsächliche Verfügbarkeit von Informationen, die insbesondere durch zeitliche und finanzielle Faktoren beschränkt wird (externe Grenzen). Im Zuge dieser Kritik stellte Simon ein zwar noch recht allgemeines, aber dennoch realistisches Verhaltensmodell auf, das bereits präzisere Vorhersagen menschlicher Entscheidungsprozesse ermöglichte375. Simon verband damit auf revolutionäre Art und Weise ökonomische und psychologische Erkenntnisse. Seine Forschungen wurden bisher noch nicht falsifiziert376 und gehören heute im Wesentlichen zum common sense der Wirtschaftswissenschaften377. Er begründete damit den Siegeszug der Behavioral Economics, des immer noch am stärksten wachsenden Zweigs der Ökonomik378. Ein weiterer wissenschaftlicher Quantensprung vollzog sich in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts mit den Arbeiten des Psychologen Daniel Kahneman und des Ökonomen Amos Tversky379. Sie führten die Arbeiten Simons fort und stellten die Erkenntnisse nun auch auf ein stabiles empirisches Fundament. Dabei ermittelten sie eine Vielzahl weiterer Abweichungen vom rationalen Verhaltensmodell (sog. Verhaltens- oder Entscheidungsanomalien) und vereinigten diese in einem einheitlichen

374 Simon, Models of Man, S. 198: „The capacity of the human mind for formulating, and solving complex problems is very small compared with the size of the problems whose solution is required for objectively rational behavior in the real world – or even for a reasonable approximation to such objective rationality.“ Vgl. auch die Schilderung bei Gigerenzer, Bauchentscheidungen, S. 11: „Ein Professor der Columbia University in New York überlegte hin und her, ob er das Angebot einer anderen Universität annehmen sollte. Schließlich nahm ihn ein Kollege beiseite und riet ihm: ,Maximiere doch einfach deinen erwarteten Nutzen – du schreibst doch immer darüber.‘ Darauf entgegnete der Professor entnervt: ,Hör auf damit – das ist jetzt ernst!‘“ 375 Vgl. dazu § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (c). 376 Was freilich auch in der oft wenig spezifischen Formulierung seiner Ergebnisse begründet liegt (vgl. Eidenmüller, Juristische Grundlagenforschung, S. 13, 16). 377 Enste, Schattenwirtschaft, S. 109; Hirsch, Controlling und Entscheidungen, S. 174. 378 Helfen, Verhalten in Organisationen, S. 179, 181. 379 Englerth in: Recht und Verhalten, S. 64; Kahneman erhielt für seine Arbeiten im Jahre 2002 den Nobelpreis für Ökonomie. Tversky verstarb bereits 1996 und konnte deswegen nicht mehr bedacht werden.

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Ansatz, der sog. prospect theory380. Seitdem begannen immer mehr und teils auch sehr prominente Ökonomen sich mit dem klassischen rational-choice-Modell psychologisch-empirisch auseinanderzusetzen381. Inzwischen nutzen viele Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre den Zusatz „verhaltenswissenschaftlich“382. (2) Abgrenzung: Behavioral Law and Economics Die Erkenntnisse der psychologischen Forschung und ihre Rezeption durch die Ökonomie blieben freilich auch der Rechtswissenschaft nicht verborgen und rütteln seitdem nachhaltig an den Ideengebäuden des Law and Economics-Ansatzes. Diese in den USA durch Ronald Coase383 eingeleitete Bewegung, als deren bedeutendster Vertreter Richard A. Posner384 gelten kann, beschäftigt sich mit den Anreiz- und Steuerungswirkungen von Rechtsnormen. Ausgehend von ökonomischen Verhaltensmodellen werden zunächst die Reaktionen der Rechtsadressaten prognostiziert (positive law and economics). Diese Prognosen werden mittels mathematischer Modelle am Maßstab wohlfahrtsökonomischer Effizienz verglichen und bewertet, um Empfehlungen an Judikatur und Legislative auszusprechen (normative law and economics). Ziel ist demnach diejenige Norm, die im geregelten Lebensbereich zur effizientesten Ressourcenallokation und damit zum größten gesamtgesellschaftlichen Wohlstandszuwachs führt385. Grundlage ist dabei ebenso das neoklassische Verhaltensmodell des vollständig rational und eigennützig handelnden homo oeconomicus. Damit bietet die „ökonomische Analyse des Rechts“, wie sie im deutschsprachigen Raum bezeichnet wird, aber ebenso viele Angriffspunkte für behaviorale Kritik wie die ökonomische Forschung. Diese sehr vielschichtige Diskussion, die sich seit den 1990er Jahren über die Fachwelt in einer „Flut an Büchern und Aufsätzen“386 ergoss, sammelt sich unter dem Begriff Behavioral Law and Economics387. 380 Kahneman/Tversky, Econometrica 1979 Vol. 47, S. 263 ff.; Kahneman/Tversky, Journal of Business 1986 Vol. 59, S. 251 ff. 381 Englerth in: Recht und Verhalten, S. 64. 382 Helfen, Verhalten in Organisationen, S. 179, 181; z. B. Behavioral Accounting, Behavioral Finance, Behavioral Marketing. 383 The Problem of Social Cost, Journal of Law and Economics 1969 Vol. 3, S. 1 ff. 384 The Economics of Justice (1983) und The Economic Analysis of Law (1. Aufl. 1973; zuletzt 2007 in der 7. Aufl. erschienen). 385 Vgl. dazu nur Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 47 ff. 386 Englerth in: Recht und Verhalten, S. 65. 387 Als wegbereitend dürfen die Plädoyers von Ellickson (Chicago Kent Law Review 1989 Vol. 65, S. 23 ff.) und von Jolls, Sunstein und Thaler (Stanford Law Review 1998 Vol. 50, S. 1471 ff.) angesehen werden. Bemerkenswert ist ein Argument mit dem Ellickson für die stärkere Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Law-andEconomics-Forschung plädiert (S. 33): Da die aktuelle Diskussion mittlerweile ein derart elaboriertes Niveau erreicht habe, sei eine vertiefte Forschung auf diesem Gebiet ohne fundierte mathematische und ökonomische Kenntnisse kaum mehr möglich. Hingegen sei es Nach-

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Es handelt sich dabei um eine evolutionäre Weiterentwicklung der ökonomischen Analyse des Rechts. Menschliche Verhaltensweisen sollen besser erklärt und prognostiziert werden, als es die bisherigen Forschungsergebnisse vermochten. Beide Schulen teilen aber weiterhin das ökonomische Effizienzkriterium als Kompass von Normanalyse und -konstruktion388. Dieses ist aber offensichtlich nicht kompatibel mit dem deutschen Mitbestimmungsrecht, das vorwiegend im Zeichen des Arbeitnehmerschutzes steht und die Transaktionskosten unternehmerischer Tätigkeit unmittelbar erhöht. Eine denkbare Modifikation zur Vereinbarung beider Konzepte wäre der Austausch des ökonomischen Effizienzmodells mit dem Grundsatz der Normeffizienz (Regelungswirksamkeit) gemäß der gesetzgeberischen Zielsetzung389. Das psychologisch-ökonomische Verhaltensmodell wird dabei zur Folgenprognose herangezogen und beim Vergleich der ermittelten Alternativen im Rahmen der Folgenbewertung als Blaupause der Gesetzeszweck verwendet. Dagegen spricht allerdings, dass der klassische Ansatz damit eines tragenden Grundpfeilers beraubt würde. Zudem wäre die Folgenbewertung dann auch nichts anderes als eine teleologische Auslegung auf Grundlage eines realistischen Verhaltensmodells. Für das deutsche Mitbestimmungsrecht muss deshalb folgendes gelten: Die Behavioral Law and Economics-Diskussion kann als Rezipient und Mittler wertvolle Einblicke in psychologisch-ökonomische Verhaltensmodelle bieten, soweit man die vorstehend gezogenen Grenzen beachtet. Vorzugsweise sollte der hiesige Rechtsanwender aber unmittelbar einen Blick in die Nachbarwissenschaften werfen, um deren reichen Wissensschatz aus seiner eigenen Perspektive analysieren zu können. (3) Gesetzgeberisches Verhaltensmodell und Fokus der weiteren Untersuchung Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass der „rational-choice-Modell“Ansatz kein taugliches Modell ist, um den Unterrichtungszeitpunkt sachgemäß zu bestimmen. Vielmehr soll ein realistischeres Modell unternehmerischer Willensbildungsprozesse konstruiert und Schlussfolgerungen für eine rechtzeitige Unterrichtung des Betriebsrates abgeleitet werden. Mittels der Erkenntnisse der behavioralen Forschungsansätze sollen die Charakteristika der unternehmerischen Willensbildungsprozesse, an die die betreffenden Unterrichtungsrechte anknüpfen, genauer analysiert und realitätsnäher prognostiziert werden, als dies bisher der Fall war. wuchsakademikern auf dem jungen Gebiet der Behavioral-Law-and-Economics noch möglich, sich mit verhältnismäßig geringem Aufwand zu profilieren und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das Verhältnis von Aufwand und Nutzen sei demnach für eine akademische Karriere mit diesem Ansatz ungleich vorteilhafter. 388 Vgl. dazu die Standortbestimmung von Jolls/Sunstein/Thaler, Behavioral Law and Economics, S. 13 ff. 389 So offenbar Eidenmüller, JZ 2005, S. 216, 224; Rieble, Folgenabschätzung im Arbeitsrecht, S. 53, 59.

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Diese Herangehensweise entspricht ganz offensichtlich auch der gesetzgeberischen Vorstellung von unternehmerischem Entscheidungsverhalten. Wäre der Gesetzgeber bei Erlass der entsprechenden Vorschriften vom rationalen neoklassischen Verhaltensmodell ausgegangen, hätte es der Anordnung der rechtzeitigen Unterrichtung zur Ermöglichung der Einflussnahme gar nicht bedurft, da die Unterrichtung danach ebenso gut auch nach der Umsetzung stattfinden könnte. Die argumentative Einflussnahme auf einen auf vollkommener Informationsgrundlage entscheidenden und alle Alternativen abwägenden Unternehmer ist bereits rein denklogisch unmöglich, da ihm keine neuen Informationen und Argumente mehr zugeführt werden könnten. Die einzige sonst denkbare Einflussnahme im Rahmen eines Beratungsverfahrens wäre die Erzeugung von Druck oder von Gefühlen wie z. B. Mitleid, was ganz offensichtlich nicht der gesetzgeberischen Intention entspricht. So verstößt das Inaussichtstellen einer Störung der Arbeitsbeziehungen (Nicht-, Schlechtleistung, Bummel-, Bleistiftstreik) gegen die betriebliche Friedenspflicht390. Zwar stehen dem Betriebsrat auch rechtmäßige Formen der Druckausübung zur Verfügung, diese sind aber ohnehin Teil der betrieblichen Realität, weshalb ein sorgfältig kalkulierender Arbeitgeber bei „unbeliebten“ Entscheidungen von Anfang an ein gewisses Maß an Opposition in seine Entscheidung einbeziehen wird. Auch die Möglichkeit eines „Appells an das soziale Gewissen“ kann nicht geschützt werden, da man die Arbeitnehmer insofern lediglich der Willkür des Arbeitgebers ausliefern würde. Eine Einflussnahme wird deswegen nur Erfolg haben, wenn der Vorschlag des Betriebsrates objektiv im Unternehmensinteresse liegt. Erforderlich ist eine Präsentation überzeugender Informationen und Argumente, die im unternehmerischen Willensbildungsprozess bisher noch keine Berücksichtigung gefunden haben. Dies bedeutet im Umkehrschluss auch, dass die gesetzliche Konzeption davon ausgeht, dass Rationalitätsdefizite in diesem Prozess möglich sind. Das gesetzgeberische Verhaltensmodell kann demnach als durchaus realistisch und auch fortschrittlich bezeichnet werden. Es geht von kognitiv begrenzten, fehlerhaften Entscheidungsprozessen aus und entspricht somit der Grundannahme der deskriptiven Verhaltenstheorie. Zugespitzt ausgedrückt, soll dem Betriebsrat durch die rechtzeitige Unterrichtung demnach die Möglichkeit eingeräumt werden, den unternehmerischen Entscheidungsprozess informationell anzureichern und Rationalitätsdefizite zu beseitigen391. Bei der betrieblichen Mitbestimmung handelt es sich zwar um eine se390

Vgl. dazu nur GK-BetrVG/Oetker, § 74 Rn. 46 f., 50 m. w. N.; Die betriebliche Friedenspflicht ist im BetrVG in § 74 Abs. 2 S. 1 explizit geregelt, ergibt sich aber auch aus dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit in den §§ 34 EBRG, 40 SEBG, 42 SCEBG (Engels/Müller, DB 1996, S. 981, 987; DFL/Heckelmann/Wolf, EBRG, § 34 Rn. 1). 391 Vgl. dazu auch die Stellungnahme der Mitbestimmungskommission BT-Drs. VI/334, S. 67: „In der rechtzeitigen, eine Chance zur aktiven Teilnahme an der Willensbildung begründenden Information der Arbeitnehmer oder ihrer Vertreter über alle wichtigen betrieblichen und unternehmerischen Entscheidungen sieht die Kommission nicht nur eine unter dem Gesichtspunkt rationaler Unternehmensführung zweckmäßige…Unternehmenspolitik…Be-

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lektive Art und Weise der Rationalitätsbeförderung, da sich der Betriebsrat freilich auf Informationen konzentrieren wird, die für eine arbeitnehmerfreundlichere Alternative sprechen. Nichtsdestotrotz führen auch tendenziöse Rationalitätsbestrebungen zu einem Mehr an Rationalität und sind damit auch in beiderseitigem Interesse. Die folgende Untersuchung wird demnach die Rationalitätsdefizite im unternehmerischen Entscheidungsprozess und ihre Auswirkungen benennen und mögliche Gegenmaßnahmen aufzeigen392. Angestrebt ist dabei die größtmögliche Eingrenzung des Zeitpunktes innerhalb des Willensbildungsprozesses, in dem aus verhaltenswissenschaftlicher Perspektive keine effektive Einflussnahme mehr möglich ist. bb) Theoretischer Hintergrund und empirische Nachweise Da die Veröffentlichungen zur deskriptiven Entscheidungstheorie mittlerweile einen beachtlichen Umfang erreicht haben, wird die verwendete Suchmatrix393 im Folgenden noch weiter präzisiert. Freilich können hier nicht alle denkbaren Abweichungen vom rational-choice-Modell eine Rolle spielen. Aufgrund der klaren gesetzgeberischen Konzeption konzentriert sich die Untersuchung in erster Linie auf diejenigen Rationalitätsdefizite, die die Möglichkeiten der Einflussnahme durch den Betriebsrat beeinträchtigen. Berücksichtigt werden einerseits diejenigen Defizite, die sich selbst im Laufe des Entscheidungsprozesses verstärken und deshalb eine Einflussnahme durch den Betriebsrat in steigendem Maße unmittelbar erschweren. Andererseits wird es um solche Defizite gehen, die die Reversibilität des Entscheidungsprozesses beeinträchtigen und damit mittelbar, d. h. aus zeitlichen und finanziellen Gründen, die Einflussnahme des Betriebsrates erschweren. Die derart extrahierten Forschungsergebnisse werden zunächst im Rahmen der Entscheisondere Bedeutung hat die Kommission dabei der Bereicherung des Argumentationshaushaltes beigemessen, die durch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bewirkt wird.“ Die rationalitätssichernde Funktion von Unterrichtung und Beratung wird vor allem auf europäischer Ebene sehr stark betont. Vgl. dazu ausführlich unten § 3 A. I. 1. 392 Diese Aufgabenbeschreibung kommt dem Verständnis der neueren Forschung von Controlling als Instanz zur Sicherung von Führungsrationalität nahe (Ausführlich dazu Becker, Controlling von Internationalisierungsprozessen, S. 7 ff.; Becker, Controlling als reflexive Steuerung, S. 36 ff.; Schäffer, Controlling als akademische Disziplin, S. 99 ff.; Weber, Controlling – Theorien und Konzeptionen, S. 467 ff.; Wittenberg, Controlling, S. 41 ff. m.w.N.). Die Aufgabe des Controllers ist demnach die Begrenzung von Rationalitätsverlusten im Kontext ökonomischen Handelns. Sie zielt darauf ab, die begrenzte kognitive Kapazität des Managements zu entlasten, das Management durch das Einbringen zusätzlicher Informationen zu ergänzen und opportunistisches Handeln des Managements zu begrenzen (Schäffer, Controlling als akademische Disziplin, S. 99 ff.). Auch das Behavioral Accounting (verhaltenswissenschaftlich ausgerichtete Controlling) hat dementsprechend in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum erheblichen Zulauf erhalten (vgl. Becker, Controlling von Internationalisierungsprozessen; Burkert, Qualität von Kennzahlen und Erfolg; Hirsch, Controlling und Entscheidungen; Riesenhuber, Die Fehlentscheidung). 393 Vgl. § 2 B. 4. a).

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dungsstrukturen wirtschaftlicher Organisationen erläutert (Individualentscheidungen, Gruppenentscheidungen, organisationale Entscheidungsprozesse)394. Daraufhin wird anhand der einzelnen Phasen des Entscheidungsprozesses gezeigt, welche Symptome bzw. Fehler daraus resultieren. (1) Individualentscheidungen (a) Dissonanzphänomene Grundlage und theoretischer Hintergrund der folgenden kognitiven Verzerrungen ist die Theorie der kognitiven Dissonanz395. Sie nimmt einer der bedeutendsten Rollen in der Sozialpsychologie ein und hat seit ihrer ersten Veröffentlichung durch Leon Festinger im Jahre 1957396 mehr als jede andere sozialpsychologische Theorie zu empirischen Arbeiten angeregt397. Ihr Anwendungsbereich erstreckt sich dabei auf eine Vielzahl von Aspekten individuellen und kollektiven Entscheidungsverhaltens in sämtlichen sozialen Kontexten398. Grob vereinfacht dargestellt, befasst sie sich mit psychischen Irrationalitäten bei der Informationsaufnahme und -bewertung in Entscheidungsprozessen. Die Grundthese der Theorie der kognitiven Dissonanz besagt, dass Menschen nach Konsistenz (Kongruenz, Konsonanz, Gleichgewicht) streben und harmonische und ausgewogene kognitive Beziehungen gegenüber unharmonischen bevorzugen399. Menschen seien deswegen motiviert, „eine durch inkonsistente Wahrnehmungsprozesse erzeugte Disharmonie zu reduzieren.“400 Der Begriff der Kognition wird weit verstanden und umfasst Wissen, Meinungen oder Einstellungen über die eigene Umwelt und die eigene Person401. Festinger unterscheidet zwischen relevanten und irrelevanten Kognitionsbeziehungen. Kognitionen stehen in einem relevanten Verhältnis zueinander, wenn sie inhaltlich verbunden sind. Eine relevante Beziehung besteht zum Beispiel zwischen den 394

Diesbezüglich orientiert sich der Aufbau an Wild, Unternehmensstrategie, S. 155 ff. Vgl. für einen Überblick empirischer Studien zur Validität der Theorie Baron/Byrne, Social Psychology, S. 139 ff. 396 Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance. 397 Güttler, Sozialpsychologie, S. 228; Peus/Frey/Stöger, Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 373. 398 Auch die verschiedentlich geäußerte Kritik, die betreffenden empirischen Nachweise seien nicht auf die Realität übertragbar, da sie im Wesentlichen im akademischen Milieu mit studentischen Versuchspersonen geführt würden, wurde inzwischen widerlegt. So traten bei Studien hinsichtlich finanzieller Investitionen von Managern in verantwortlichen Positionen bei Banken und Industrieunternehmen, die getesteten Irrationalitäten mindestens so stark auf wie bei der studentischen Vergleichsgruppe. Vgl. dazu Jonas/Schulz-Hardt/Frey/Thelen, Journal of Personality and Social Psychology 2001, Vol. 80, S. 557 ff.; vgl. dazu auch Rhine, Journal of Personality and Social Psychology 1967, Vol. 5, S. 416 ff.; Sweeney/Gruber, Journal of Personality and Social Psychology, 1984, Vol. 46, S. 1208 ff. 399 Frey/Benning in: Sozialpsychologie, S. 147. 400 Güttler, Sozialpsychologie, S. 228. 401 Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 3. 395

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Kognitionen: „Die Eigenkapitalrendite unseres Unternehmens ist zu gering“ und „In Deutschland bestehen hohe Personalkosten“, während die Kognition: „In der Kantine gab es heute Schnitzel“ dazu in irrelevantem Verhältnis steht. Relevante Kognitionen können nun in einem dissonanten oder einem konsonanten Verhältnis zueinander stehen402. Ein dissonantes Spannungsverhältnis403 entsteht zwischen psychologisch inkonsistenten, das heißt widersprüchlichen Kognitionen. Ein konsonantes Verhältnis besteht beispielsweise zwischen den Kognitionen: „Wir wollen unsere Produktion weitgehend automatisieren, um Personalkosten zu sparen“ und „In Deutschland bestehen hohe Personalkosten“, während die Kognition: „Der automatisierte Fertigungsprozess führt zu Qualitäts- und damit auch zu Absatzmängeln“ in einer dissonanten Beziehung zu den ersten beiden steht. Der Mensch ist tagtäglich mit dissonanten Spannungsverhältnissen konfrontiert und ein gewisses Maß an Dissonanz ist bei so gut wie jeder Entscheidung praktisch unvermeidbar404. Dissonante Relationen rufen bei dem betreffenden Individuum einen unangenehmen, aversiven und angespannten Zustand405 aus: die kognitive Dissonanz. Die Intensität des Spannungszustandes ist einerseits abhängig von der Bedeutsamkeit der relevanten Kognitionen und andererseits vom Verhältnis von konsonanten zu dissonanten Kognitionen406. Dieser Zustand hat einen „motivationalen Charakter“407. Er führt zu kognitiven Prozessen, die darauf abzielen, die kognitive Dissonanz zu reduzieren oder ganz zu beseitigen. Zudem wird die betroffene Person Anstrengungen unternehmen, Situationen und Informationen zu vermeiden, die zu einer Verstärkung der Dissonanz führen408. Dissonanzreduktionen werden 402 Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 9 ff.; Frey/Gaska in: Theorien der Sozialpsychologie, S. 275 ff. 403 Vgl. Festinger, ATheory of Cognitive Dissonance, S. 12 f.: „Two elements are dissonant if, for one reason or another, they do not fit together. They may be inconsistent or contradictory, culture or group standards may dictate that they do not fit and so on.“ 404 Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 5: „Even in the absence of new, unforeseen events or information, the existence of dissonance is undoubtedly an everyday condition … Where an opinion must be formed or a decision taken, some dissonance is almost unavoidably created between the cognition of the action taken and those opinions or knowledges which tend to point to a different action.“ 405 Empirisch nachgewiesen wurde dieser auch als „Dissonanzdruck“ bezeichnete Zustand unter anderem von Zanna/Cooper, Journal of Personality and Social Psychology 1974, Vol. 29, S. 703 ff. und Fries/Frey, Journal of Experimental Psychology 1980, Vol. 16, S. 405 ff. 406 Festinger; A Theory of Cognitive Dissonance, S. 16 f.; die Ermittlung der Dissonanzstärke ist umstritten. Irle (Sozialpsychologie, S. 313 f.) bestimmt die Dissonanzstärke ausschließlich nach der subjektiven Sicherheit des Entscheidungsträgers über seine Hypothese. Schultz-Hardt (Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 63 ff.) bestimmt die Dissonanzstärke aus einer Kombination von subjektiver Sicherheit und des Verhältnisses von konsonanten zu dissonanten Informationen. 407 Güttler, Sozialpsychologie, S. 229; Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 59 m. w. N.; Wood, Annual Review of Psychology 2000, Vol. 51, S. 546. 408 Festinger; ATheory of Cognitive Dissonance, S. 3; Frey/Benning in: Sozialpsychologie, S. 147 f.

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durch Veränderungen im kognitiven System bewirkt und haben das Ziel, den Anteil der konsonanten Kognitionen gegenüber dem Anteil dissonanter Kognitionen zu erhöhen. Dafür werden neue konstante Kognitionen hinzugefügt, bestehende dissonante Kognitionen werden subtrahiert (Ignorieren, Vergessen, Verdrängen) und vorhandene Kognitionen werden durch andere Kognitionen substituiert (dissonante Kognitionen werden abgezogen, wobei gleichzeitig konstante Kognitionen addiert werden)409. Ebenfalls können bestehende Kognitionen modifiziert werden410. Welche Kognitionen zur Reduktion geändert werden, ist abhängig von deren sogenanntem Änderungswiderstand411. Der Änderungswiderstand einer Kognition ist dabei umso größer, je mehr konsonante Kognitionen mit ihr in Beziehung stehen, da im Falle einer Änderung ansonsten alle anderen relevanten, ehemals konsonanten Kognitionen, dissonant werden würden. Ebenfalls eine große Rolle spielt die subjektive Sicherheit des Entscheidungsträgers412 bezüglich ihrer Wahrheit und die Frage, inwieweit die Kognition eine außerpsychische Realität repräsentiert, die irrationalen Verformungen nur schwer zugänglich ist413. Die Dissonanzstärke kann allerdings nicht unendlich anwachsen. Ab einem bestimmten Punkt wird die Gesamtdissonanz so stark, dass sie irgendwann die Änderungsresistenz der am wenigsten widerstandsfähigen Kognition übersteigt, was zu deren Änderung und damit zum Absinken der Gesamtdissonanz führt414. Die Theorie der kognitiven Dissonanz birgt weitreichende Implikationen für alle Phasen des Entscheidungsprozesses415. In einer Vielzahl von Untersuchungen wurden teilweise erhebliche Rationalitätsverzerrungen festgestellt und theoretisch eingeordnet. Im Folgenden soll eine Darstellung derjenigen Defizite erfolgen, die besondere Relevanz für die Anknüpfung von Mitbestimmungsrechten aufweisen.

409 Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 18 f.; vgl. dazu auch Peus/Frey/Stöger, Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, S. 373 – 374. 410 Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 28; Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 59. 411 Vgl. dazu Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 24 ff. 412 Aus Vereinfachungsgründen wird für die folgende Darstellung lediglich der männliche Singular verwendet. Die Ausführungen gelten aber ebenso für weibliche Individuen und Gruppenprozesse mit mehreren Entscheidungsträgern. 413 Die subjektive Sicherheit als Determinante der Änderungsresistenz fand sich nicht in der ursprünglichen Theorie Festingers, sondern ist einer Erweiterung durch Irle (Sozialpsychologie, S. 313 f.) zu verdanken. 414 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 60. 415 Vgl. die Zuordnung der Rationalitätsdefizite bei Becker, Controlling von Internationalisierungsprozessen, S. 62 ff., 79 f.; Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 237 ff.; SchulzHardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 71 ff., S. 102.

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(aa) Post decisional dissonance Entscheidungen zwischen verschiedenen Alternativen haben nahezu unvermeidlich kognitive Dissonanzen zur Folge416. Meist hat jede Alternative positive und negative Eigenschaften. Deshalb muss sich die Person bei der Entscheidung für eine Alternative auch für deren Nachteile und gegen die Vorteile der anderen Alternative entscheiden417. Damit werden alle Kognitionen, die für die nicht gewählten Alternativen sprechen, dissonant zur getroffenen Entscheidung. Die übliche Reaktion auf den dadurch entstandenen Dissonanzdruck stellt der sog. spreading apart-Effekt dar418. Bestehende Kognitionen werden dabei umbewertet, neue konsonante Kognitionen werden addiert und dissonante Kognitionen subtrahiert419. Mittels dieser Strategie wird die Attraktivität der gewählten Entscheidungsalternative aufgewertet, während die der verworfenen Alternativen abgewertet wird420. Die erlebte Dissonanz wird dadurch effektiv reduziert. Der spreading apart-Effekt äußert sich überdies im wahrgenommenen Risiko der Entscheidung und in der subjektiven Sicherheit über deren Richtigkeit. Nachdem sich der Akteur einmal zu einer Entscheidung durchgerungen hat, erscheint die vorher zweifelhafte Alternative plötzlich in einem viel vorteilhafteren Licht. Eine Einflussnahme auf den Entscheidungsträger ist ab diesem Zeitpunkt erheblich erschwert. Je stärker diese Mechanismen ausgeprägt sind, desto mehr führt deren Zusammenwirken zur „Immunisierung einer Alternative, die im Extremfall völlig unangreifbar wird.“421 (bb) Dissonanz vor der Entscheidung Die Dissonanztheorie knüpfte in ihrer ursprünglichen Form lediglich an den Zeitraum an, nachdem eine Entscheidung bereits getroffen wurde (post decisional dissonance). Festinger ging davon aus, dass sich der Entscheidungsträger vor der Entscheidung zunächst nur in einem „Konflikt“ befände, aber sowohl Informationsaufnahme als auch -bewertung im Wesentlichen rational stattfinden würden422. Wie bereits oben angedeutet, gilt diese Annahme inzwischen als widerlegt423. 416

Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 47. Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 23. 418 Bierhoff, Sozialpsychologie, S. 401 f.; Frey/Benning, Sozialpsychologie, S. 148 f. 419 Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 24; Frey/ Benning, Sozialpsychologie, S. 148. 420 Vgl. Festinger, A theory of Cognitive Dissonance, S. 44: „…the most direct and probably most usual manner of reducing postdecision dissonance.“ 421 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 6 422 Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 126: „In general, one may say that the preaction or predecision situation will be characterized by extended and non selective seeking of relevant information (…) Along with the nonselectivity of what information he exposes himself to, there will be a lack of resistance to accepting and cognizing any relevant information which comes his way.“ 423 Vgl. Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 29 ff.; Frey/Benning, Sozialpsychologie, S. 148 f.; Grabitz, Bewertung von Informationen vor Ent417

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Ihr stehen zunächst praktische Erwägungen entgegen, da der tatsächliche Entscheidungszeitpunkt nur sehr schwer festzustellen ist und man sich im Wesentlichen auf Angaben der Person verlassen muss. Eine derart strikte Differenzierung zwischen Vorentscheidungs- und Nachentscheidungsphase wäre künstlich und immer auch eine Frage des Standpunktes. Dissonanzeffekte konnten hingegen bereits am Anfang des Entscheidungsprozesses nachgewiesen werden. Meist haben Entscheider bereits zu diesem Zeitpunkt bestimmte Präferenzen entwickelt424 und bevorzugen konsonante Informationen, die diese stützen. Kein Mensch beginnt einen Entscheidungsprozess gleichsam bei null, sondern ist durch sein Wissen, seine Erfahrungen und Meinungen vorgeprägt. Ferner konnte nachgewiesen werden, dass im Laufe eines Entscheidungsprozesses bereits vor der endgültigen Entscheidung eine Vielzahl von vorläufigen Entscheidungen (tentative Entscheidungen) getroffen werden425. So ist bereits die erste Phase eines Entscheidungsprozesses, die Problemdefinition, ein eigenes Entscheidungsproblem und damit auch ein eigener Entscheidungsprozess, der mit einem Entschluss beendet wird426. Entscheidungsprozesse werden somit heutzutage als „sequentielle Kette von immer neuen Entschlüssen angesehen.“427 Vorläufige und endgültige Entscheidungen unterscheiden sich demnach nur hinsichtlich des Grades der Festlegung (Commitment)428. Je „stärker sich der Entscheidungsträger dabei auf eine Position festgelegt hat“, umso „stärker bevorzugt er konsonante gegenüber dissonanten Informationen.“429 Je mehr ein solcher Prozess „praktisch irreversibel“430 geworden ist, umso mehr (irrationale) Anstrengungen unternimmt der Entscheidungsträger, um die Entscheidung zu rechtfertigen. Eine Festlegung muss weder nach außen hervorgetreten sein, noch muss sich der Entscheidungsträger innerlich für eine Alternative entschieden haben. Eine bloße Präferenz für eine Alternative ist bereits ausreichend, um Verzerrungen auszulösen431. Die Dissonanztheorie ist demzufolge aussagekräftig für alle Phasen des Entscheidungsprozesses. Im Folgenden sollen nun die beiden bedeutendsten „Defensivmechanismen“432 vorgestellt werden, die die Beeinflussung einer präfescheidungen, S. 120 ff.; Russo/Medvec/Meloy, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1996 Vol. 66, S. 102 ff.; Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 69. 424 Schulz-Hardt/Frey in: Arbeits- und Organisationspsychologie, S. 313, 319; Zajonc, American Psychologist 1980 Vol. 35, S. 151, 171. 425 Frey/Benning, Sozialpsychologie, S. 149; Irle, Macht und Entscheidungen, S. 155 ff.; vgl. ebenso die betriebswirtschaftliche Perspektive hinsichtlich der organisatorischen Differenzierung von Entscheidungen unten § 2 B. III. 4. d) bb) (4). 426 Laux/Gillenkirch/Schenk-Mathes, Entscheidungstheorie, S. 12 f. 427 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 71. 428 Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 31. 429 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 69. 430 Irle, Macht und Entscheidungen, S. 155. 431 Russo/Medvec/Meloy, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1996 Vol. 66, S. 102 ff.; Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 69. 432 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 72.

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rierten Position erschweren. Dabei handelt es sich zum einen um die selektive Informationssuche und zum anderen um die verzerrte Informationsbewertung. (cc) Selektive Informationssuche Die Motivation des Entscheidungsträgers, Dissonanz zu vermeiden, äußert sich in einer intensiven Suche nach Informationen, die sich konsonant zu seinem kognitiven System verhalten und in der Vermeidung von dissonanten Informationen433. Dies wird als selective exposure-Effekt434 oder auch confirmation bias435 bezeichnet. Wurde eine reversible Entscheidung getroffen, verstärkt sich dieser Effekt bei ansteigender Dissonanz, bis ein bestimmter Punkt erreicht ist, an dem eine Dissonanzreduktion nur noch durch eine Revision der getroffenen Entscheidung möglich ist. Ab diesem Punkt setzt wieder eine verstärkte Suche nach vorher dissonanten und nun konsonanten Informationen ein, um die revidierte Auffassung zu untermauern436. Bei irreversiblen Entscheidungen steigen die Bemühungen zur Suche konsonanter und Vermeidung dissonanter Informationen hingegen linear an, da eine Änderung gerade nicht möglich ist. Diese Konstellation hat für die hiesige Fragestellung allerdings nur geringe Bedeutung, da die Unterrichtung über eine irreversible Entscheidung zweifellos verspätet ist. Im Folgenden sollen nun einige Determinanten bzw. Moderatoren vorgestellt werden, die den selective exposure-Effekt verstärken. Zunächst ist die Präferenz für konsonante Informationen besonders stark bei Entscheidungssituationen unter Zeitdruck437. Der Entscheidungsträger fokussiert seine begrenzte Aufmerksamkeit dabei auf die nach seinem subjektiven Empfinden bedeutsamsten Informationen, während andere Informationen vernachlässigt werden. Konsonante Informationen erscheinen aus der Perspektive des Entscheidungsträgers bedeutsamer, da sie seine Auffassung stützen und den unter Druck stehenden Prozess beschleunigen. Dissonante Informationen verursachen hingegen Aufwand und Verzögerungen und werden demzufolge unbewusst vermieden. Die Fähigkeit und das Bestreben alternative Entscheidungsentwürfe zu erstellen, ist dadurch deutlich beeinträchtigt. Entscheidungen werden deshalb verstärkt auf Grundlage präexistenter Präferenzen und Informationen getroffen, und es wird mehr Aufwand betrieben, diese Informationen zu bestätigen, als die Entscheidung auf eine

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Vgl. dazu auch Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 238. Frey/Benning, Sozialpsychologie, S. 150. 435 Jonas/Schulz-Hardt/Frey/Thelen, Journal of Personality and Social Psychology 2001, Vol. 80, S. 557 ff.; Mynatt/Doherty/Tweney, Quarterly Journal of Experimental Psychology 1977, Vol. 29, S. 85 ff.; Nickerson, Review of General Psychology 1998, Vol. 2, S. 175 ff. 436 Vgl. zur grafischen Darstellung dieser kurvilinearen Beziehung zwischen Dissonanzstärke und selektiver Informationssuche Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, S. 130. 437 Ask/Granhag, Journal of Applied Social Psychology 2007 Vol. 37, S. 561, 580 m. w. N.; Brock/Green, Persuasion: psychological insights and perspectives, S. 47 f.; Kruglanski/Freund, Journal of Experimental Social Psychology, S. 448 ff.; Schultz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 68. 434

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breite Informationsbasis zu stellen438. Dieser Effekt verstärkt sich, je näher die durch interne Vorgaben oder externe Erfordernisse gesetzte Deadline rückt und der Zeitdruck ansteigt439. Es handelt sich demzufolge um einen Moderator, der sich im Verlauf des Entscheidungsprozesses immer weiter verstärkt. Ein weitere Determinante der Stärke selektiver Informationssuche sind die Kosten der Informationssuche440. Je höher die Kosten und der Aufwand der Informationssuche sind, desto stärker suchen Entscheidungsträger nach Informationen, die ihre präferierte Alternative bestätigen und vermeiden widersprüchliche Informationen. Auch die Größe und Komplexität der relevanten Informationsmenge wirkt sich auf die Stärke des selective exposure-Effekts aus441. Aufgrund ihrer beschränkten Informationsverarbeitungskapazität suchen Entscheidungsträger verstärkt nach konsonanten Informationen, da eine Suche nach dissonanten Informationen bei größerer Informationsmenge auch einen höheren Aufwand erfordert. Diese Tatsache muss auch in Zusammenhang mit neueren Forschungen zum Suchprozess gesehen werden. Ein im 20. Jahrhundert weitgehend vernachlässigtes Realitätsdefizit von Studien zur selektiven Informationssuche war die simultane Präsentation von Informationen442. Den Probanden wurde oftmals die relevante Informationsmenge komplett zur Verfügung gestellt, aus der sie dann auswählen sollten. Reale Entscheidungssituationen haben aber mit dieser Form der Informationssuche nicht viel gemein. Unter realistischen Entscheidungsbedingungen findet vielmehr ein Prozess statt, der als sequentielle Informationssuche bezeichnet wird. Entscheidungsträger können in der Realität nur selten die gesamte verfügbare und relevante Informationsmenge überblicken. Diese wird deshalb tatsächlich schrittweise erarbeitet. Während des Such- und Verarbeitungsprozesses tauchen weitere unbekannte Informationen auf, die daraufhin ebenfalls wieder verarbeitet werden. Dieser Prozess wird so lange fortgeführt, bis das Informationsbedürfnis erloschen ist oder die Entscheidung getroffen wurde. Er ist überdies mit einer Vielzahl von Zwischenentscheidungen verbunden, da jedes Mal aufs Neue entschieden werden muss, ob die betroffene Information beachtet oder ignoriert wird. Eine konfirmatorische Informationssuche konnte auch unter diesen realitätsnäheren Bedingungen nachgewiesen werden. Die Dissonanzverzerrung war dabei sogar signifikant stärker, als wenn der Entscheidungsträger aus einer bereits feststehenden Informationsmenge

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Bodenhausen, Psychological Science 1990, Vol. 1, S. 319 ff.; Svenson/Maule, Time pressure and stress in human judgment and decision making, S. 255 ff., insbes. S. 257. 439 Busemeyer, Journal of Experimental Psychology 1985, Vol. 11, S. 538, 561. 440 Frey, Informationssuche und Informationsbewertung, S. 227, 279 f. 441 Ausführlich dazu Fischer/Schulz-Hardt/Frey, Journal of Personality and Social Psychology 2008, Vol. 94, S. 231, 241; siehe auch Frey, Informationssuche und Informationsbewertung, S. 119 ff.; 277. 442 Vgl. zur folgenden Darstellung Jonas/Schulz-Hardt/Frey/Thelen, Journal of Personality and Social Psychology 2001, Vol. 80, S. 557 ff. und Jonas/Schulz-Hardt/Frey, Zeitschrift für experimentelle Psychologie 2001, Vol. 48, S. 239 ff.

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auswählen kann443. Dies wird damit begründet, dass bei einer schrittweisen Informationssuche jede neue Information mit der vorhergehenden Teilentscheidung verglichen und eingeordnet wird. Es entsteht ein sogenannter „Entscheidungsfokus“, der zu einer stärkeren Bindung (commitment) an diese Entscheidung und damit auch zu einer verstärkt konfirmatorischen Informationssuche444 führt. Hat der Entscheidungsträger hingegen von Anfang an einen Überblick über die zur Verfügung stehenden Informationen, ist der Fokus stärker auf den Vergleich dieser Informationen gerichtet („Informationsfokus“). Dadurch, dass die Informationen in Relation zueinander gesetzt werden, findet auch eine rationalere Informationssuche statt. (dd) Verzerrte Informationsbewertung Eine weitere Konsequenz kognitiver Dissonanz ist die verzerrte Bewertung („Deformation“445) wahrgenommener Informationen446. Dies stellt eine Ergänzungsstrategie zur selektiven Informationssuche dar, da es sich schwerlich immer vermeiden lässt, auch mit dissonanten Informationen konfrontiert zu werden447. Die verzerrte Bewertung äußert sich dergestalt, dass konsonante Informationen höher gewichtet werden, während dissonante Informationen untergewichtet werden (Inertia-Effekt448). Argumente, die bestehenden Überzeugungen widersprechen, werden wesentlich gründlicher und kritischer hinterfragt und als schwächer und unbedeutender klassifiziert, als bestätigende Informationen449. Dadurch, dass die Bedeutung der konsonanten und dissonanten Kognitionen den eigenen Überzeugungen entsprechend modifiziert wird, kann das betroffene Individuum kognitive Dissonanz vermeiden bzw. reduzieren450. Die Informationsbewertung weist starke Parallelen zur selektiven Informationssuche auf. So ist der Inertia-Effekt und der Grad der Deformation der aufgenommenen Informationen stärker, wenn die Informationsbeschaffung mit Kosten und Mühen verbunden ist451. Ebenfalls resultiert aus Zeitdruck eine verstärkende Wirkung452 und auch die Ergebnisse zur Informati-

443 Jonas/Schulz-Hardt/Frey/Thelen, Journal of Personality and Social Psychology 2001, Vol. 80, S. 557, 560. 444 Jonas/Schulz-Hardt/Frey, Zeitschrift für experimentelle Psychologie, S. 239, 240. 445 Grabitz, Bewertung von Information vor Entscheidungen, S. 16. 446 Vgl. zum Folgenden Grabitz, Bewertung von Information vor Entscheidungen; Grabitz/ Grabitz-Gniech, Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie 1972, Vol. 19, S. 364 ff.; Edwards/Smith, Journal of Personality and Social Psychology 1996 Vol. 71, S. 5 ff.; Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 78 ff., S. 283 f.; Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 238. 447 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 69. 448 Frey/Benning, Sozialpsychologie, S. 149. 449 Edwards/Smith, Journal of Personality and Social Psychology 1996, Vol. 71, S. 5. 450 Frey, Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, S. 284. 451 Grabitz, Bewertung von Information vor Entscheidungen, S. 121. 452 Ask/Granhag, Journal of Applied Social Psychology 2007, Vol. 37, S. 561, 579.

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onsbewertung bei sequentieller Informationsaufnahme453 sind mit denjenigen zur selektiven Informationssuche vergleichbar454. (b) Sunk-cost-effect Die Forschung zur „Eskalation des Commitment“455 beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass „Menschen (als Individuum oder in der Gruppe) an Handlungen bei fraglichem Handlungserfolg festhalten oder diese sogar intensivieren, indem sie kontinuierlich mehr Ressourcen (z. B. Zeit, Energie und/oder Geld) in die Handlung investieren.“456 Trotz negativen Feedbacks und der offensichtlichen Existenz objektiv geeigneterer Alternativen werfen verantwortliche Entscheider schlechtem Geld gutes hinterher457. Dieses Phänomen lässt sich in allen Aspekten menschlichen Verhaltens feststellen und führt bis in höchste Führungsebenen hinein zu teilweise fatalen Fehlentscheidungen458. Die hiesige Darstellung wird sich allerdings auf wirtschaftliche Entscheidungsprozesse konzentrieren. Die Eskalation des Commitment ist ein Spezialfall des sog. sunk cost-Effekts459. Unter Berücksichtigung des rational choice-Modells sollten Entscheidungsträger im wirtschaftlichen Verkehr immer diejenige Handlungsalternative wählen, die den zukünftigen Nutzen maximiert. Irreversible Aufwendungen (z. B. Planungskosten), die in der Vergangenheit getätigt worden sind, dürften deshalb bei einer rationalen Entscheidung keine Rolle spielen. Da sie unabhängig von der gewählten Alternative 453 Geller/Pitz, Organizational Behaviour and Human Performance 1968, Vol. 3, S. 190 ff.; Grabitz/Haisch, Archiv für Psychologie 1972, Vol. 124, S. 133 ff.; Pitz, Canadian Journal of Psychology 1969, Vol. 23, S. 24 ff. 454 Jonas/Schulz-Hardt/Frey/Thelen, Journal of Personality and Social Psychology 2001, Vol. 80, S. 557, 558. 455 In der Literatur werden oft auch die Begriffe „entrapment“ und „sunk cost effect“ für dasselbe Phänomen verwendet, vgl. Schultz-Hardt/Thurow-Kröning/Frey, Organizational Behaviour and Human Decision Processes 2009, Vol. 108, S. 175. 456 Pfeiffer, Eskalierendes Commitment, S. 12. 457 Garland, Journal of Applied Psychology 1990, Vol. 75, S. 728. 458 Vgl. die vielfältigen Beispiele bei Staw, Academy of Management Review 1981, Vol. 6, S. 577 f.; ein besonders bemerkenswertes Beispiel soll herausgegriffen werden: „At an early stage of the U.S. involvement in the Vietnam War, George Ball, then Undersecretary of State, wrote the following in a memo to President Johnson: ‘The decision you face now is crucial. Once large numbers of U.S. troops are committed to direct combat, they will begin to take heavy casualties in a war they are ill equipped to fight in a noncooperative if not downright hostile countryside. Once we suffer large casualties, we will have started a wellnigh irreversible process. Our involvement will be so great that we cannot – without national humiliation – stop short of achieving our complete objectives. Of the two possibilities, I think humiliation would be more likely than the achievement of our objectives – even after we paid horrible costs.’…“ Das Memo datiert vom 01. 07. 1965 und ist abgedruckt in Sheehan/Kenworthy, Pentagon Papers, zitiert nach Staw a.a.O. 459 Arkes/Blumer, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1985 Vol. 35, S. 124 ff.; Garland, Journal of Applied Psychology 1990 Vol. 75, S. 728 ff.; Greitemeyer/ Schulz-Hardt/Popien/Frey, Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 2005, Vol. 49, S. 35, 36.

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nicht mehr beeinflusst oder verändert werden können, handelt es sich bei ihnen aus normativer Perspektive eigentlich um entscheidungsirrelevante Kosten, eben die genannten sunk costs460. Oder einfacher ausgedrückt: Eine schlechte Entscheidung bleibt eine schlechte Entscheidung, auch wenn man bereits viel in sie investiert hat. In einer Vielzahl von Studien wurde aber nachgewiesen, dass diese Entscheidungsregel in der Realität signifikant missachtet wird. Tatsächlich halten Menschen an geplanten Projekten und Investitionsentscheidungen fest, wenn sie bereits Ressourcen wie Geld und Zeit461 in diesen Weg investiert haben462. Andere, objektiv geeignetere Alternativen werden hingegen außer Acht gelassen und abgewertet. Der Entscheider „verstrickt“ sich immer weiter in seine bisher getroffenen Entscheidungen und weicht trotz teilweise erheblicher Nachteile nicht von dem einmal eingeschlagenen Weg ab: das commitment eskaliert463. Diese Rationalitätsverzerrung wurde sowohl bei Individuen464 als auch in Gruppen465 nachgewiesen. Auch konnten sunk cost-Effekte nicht nur in Laborexperimenten, sondern auch an tatsächlichen Investitionsentscheidungen professioneller Entscheider demonstriert werden466.

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Becker/Lutz, Modernes Rechnungswesen, S. 65. Greitemeyer/Schulz-Hardt/Popien/Frey, Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 2005, Vol. 49, S. 35 ff. 462 Dies lässt sich anhand eines einfachen Experiments von Arkes/Blumer (Organizational Behavior and Human Decision Processes 1985, Vol. 35, S. 129 verdeutlichen: Die Probanden wurden in die Lage des Präsidenten eines Flugzeugbauers hineinversetzt. Im ersten Teil des Experiments sollten sie davon ausgehen, dass bereits 10 Millionen $ in die Entwicklung eines Flugzeuges investiert wurden und das Projekt zu 90 % abgeschlossen sei. Ein Konkurrent bringt allerdings im nächsten Monat ein wesentlich überlegenes Konkurrenzprodukt auf den Markt, so dass abzusehen ist, dass das eigene Produkt keine Abnehmer finden wird. Trotzdem bejahten 85 % der Teilnehmer die Frage, ob auch die restlichen 10 % des Forschungsbudgets ausgegeben werden sollen. Deutlich rationaler verlief der Entscheidungsprozess ohne vorherige Investitionen. Wurde lediglich die Situation simuliert, das bisher keine Invesititonen geflossen sind und 1 Million $ für die Entwicklung eines neuen Flugzeugs aufzuwenden sind, so lehnten dies 83 % der Probanden ab, wenn das Produkt nicht konkurrenzfähig wäre. 463 Diese Eskalation hat in kriegerischen Konflikten besonders drastische Konsequenzen, wenn an fast aussichtslosen Handlungen festgehalten wird, um vergangene Verluste zu rechtfertigen. Dies äußert sich oft in der allgemein bekannten Formulierung, dass „die Opfer nicht umsonst gestorben sein dürfen“. Vgl. dazu Giersch, Risikoeinstellungen in internationalen Konflikten, S. 249 f. 464 Arkes/Blumer, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1985, Vol. 35, S. 124 ff.; Garland, Journal of Applied Psychology 1990, Vol. 75, S. 728 ff.; Moon, Journal of Applied Psychology 2001, Vol. 86; S. 104 ff. 465 Bazerman/Giuliano/Appelman, Organizational Behavior and Human Performance 1984, Vol. 33, S. 141, 150 ff.; Smith/Tindale/Steiner, Group Processes and Intergroup Relations 1998, Vol. 1, S. 175 ff. 466 Vgl. Greitemeyer/Schulz-Hardt/Popien/Frey, Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 2005, Vol. 49, S. 35 ff.; Smith/Tindale/Steiner, Group Processes and Intergroup Relations 1998, Vol. 1, S. 175 ff.; Whyte, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1993, Vo. 54, S. 430 ff. 461

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Zur Erklärung und theoretischen Fundierung dieses Phänomens werden von der psychologisch-ökonomischen Forschung im Wesentlichen zwei Erklärungsansätze herangezogen467. Am meisten verbreitet ist immer noch die sogenannte „Selbstrechtfertigungshypothese“468, die in der Theorie der kognitiven Dissonanz gründet469. Demnach hält der Entscheidungsträger an der von ihm initiierten Handlung fest, um die bisher investierten Ressourcen vor sich selbst und vor der Außenwelt zu rechtfertigen. Ein Abbruch der Handlung würde zwar die Verluste stoppen, aber auch alle bisher investierten Ressourcen als Verschwendung erscheinen lassen. Der Entscheider würde damit sich selbst und der Umwelt einen Fehler eingestehen, was seinen Selbstwert beeinträchtigt470. Da ein Weiterführen der Handlung den bisherigen Aufwand rechtfertigt, hält er an der eingeschlagenen Handlung fest, um sie entgegen aller rationalen Erwägungen doch noch zum Erfolg zu führen. Ein weiterer prominenter Erklärungsansatz471 ist die bereits angesprochene prospect theory von Daniel Kahneman und Amos Tversky472. Eine der zentralen Annahmen dieser Theorie ist, dass Menschen infolge von Verlusten risikobereiter werden. Wenn eine Person mit einem negativen Handlungsverlauf konfrontiert wird, ist sie vor die Wahl gestellt, entweder die Handlung abzubrechen, um weitere Verluste auszuschließen (sichere Alternative), oder die Handlungen fortzusetzen, um die bisherigen Verluste auszugleichen. Dabei ginge sie aber das Risiko ein, noch weitere Verluste zu erleiden (riskante Alternative)473. Aufgrund der höheren Risikobereitschaft im Verlustbereich wird der prospect theory zufolge, die riskantere Alternative bevorzugt. Beide Erklärungsansätze sind nicht ohne Widerspruch geblieben und die diesbezügliche Diskussion ist noch im Fluss474. Die Kritik richtet sich allerdings lediglich gegen die theoretische Fundierung, während die anfangs geschilderte Symptomatik in einer Vielzahl von Studien nachgewiesen wurde und auf einem festen empirischen Fundament steht. Diese Feststellung soll für die hiesige Fragestellung genügen. 467 Mojzisch/Kerschreiter/Pfeiffer/Frey, Wirtschaftspsychologie, S. 140; Ausführlich dazu Pfeiffer, Eskalierendes Commitment, S. 18 ff.; vgl. aber auch den neueren Ansatz der „präferenzkonsistenten“ Eskalation: Schulz-Hardt/Thurow-König/Frey, Organizational Behavior and Human Decision Processes 2009, Vol. 108, S. 175, 176 ff. 468 Bazerman/Giuliano/Appelman, Organizational Behavior and Human Performance 1984, Vol. 33, S. 141, 150 ff.; Brockner, Academy of Management Review 1992, Vol. 17, S. 39 ff.; Staw, Academy of Management Review 1981, Vol. 1, S. 578 ff. 469 Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (a). 470 Vgl. dazu Pfeiffer, Eskalierendes Commitment, S. 18 ff. 471 Bazerman, Journal of Management 1984 Vol. 10, S. 333, 336 ff.; Schaubroek/Davis, Organizational Behavior and Human Decision Process 1994, Vol. 57, S. 59 ff.; Whyte, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1993, Vol. 54, S. 430 ff. 472 Vgl. Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, Vol. 47, S. 263 ff.; Kahneman/Tversky, Journal of Business 1986, Vol. 59, S. 251 ff. 473 Mojzisch/Kerschreiter/Pfeiffer/Frey, Wirtschaftspsychologie, S.140. 474 Vgl. Pfeiffer, Eskalierendes Commitment, S. 23 ff.; Schulz-Hardt/Thurow-König/Frey, Organizational Behavior and Human Decision Process 2009, Vol. 108, S. 175, 176 ff.

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§ 2 Allgemeiner Teil

(c) Urteilsheuristiken Die begrenzte Informationsverarbeitungskapazität des Menschen hat zur Konsequenz, dass Individuen nicht alle Informationen berücksichtigen können, die potentiell für die Lösung eines spezifischen Entscheidungsproblems relevant sind475. Dieser Befund tritt umso deutlicher hervor, je komplexer sich das Entscheidungsproblem darstellt und je größer die zu bewältigende Informationsmenge ist. Ebenso bedeutsam ist das zur Verfügung stehende Zeitfenster, innerhalb dessen eine Entscheidung herbeigeführt werden muss. Die Kombination aus limitierter menschlicher Informationsverarbeitungskapazität auf der einen und Zeitbeschränkungen auf der anderen Seite macht Vereinfachungen der stattfindenden Informationsprozesse notwendig. Diese Vereinfachungen werden als (Urteils-)Heuristiken bezeichnet476. Dabei handelt es sich um sogenannte „kognitive Abkürzungen“477, die den Bereich möglicher Antworten und Problemlösungen eingrenzen. Sie dienen dem Zweck, komplexe Entscheidungssituationen in relativ kurzer Zeit und mit geringem Aufwand fassbar zu machen478. Die Konsequenzen sind ambivalent. Einerseits ermöglichen elaborierte Heuristiken den Verantwortlichen, in einer hochkomplexen und stetig dynamischeren Wirtschaft überhaupt sachgemäße Entscheidungen in einer kurzen Zeit treffen zu können479. Auch im Hinblick auf die Kosten von Informationssuche und Verarbeitung sind Heuristiken durchaus ein ökonomisch rationales Konzept480. Je einfacher und begrenzter sie allerdings ausgestaltet sind und sich simplen „Daumenregeln“481 annähern, desto mehr besteht die Gefahr, dass sie zu kognitiven Verzerrungen und falschen Schlussfolgerungen führen, da entscheidungsrelevante Informationen nicht erfasst oder fehlerhaft verarbeitet werden482. Ein „erheblicher Anteil“483 der sozialkognitiven Forschung untersucht die Strukturierung und Anwendung von Heu-

475 476

law.

Vgl. nur Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 237. Vgl. zum Verhältnis von Heuristiken und Recht: Gigerenzer/Engel, Heuristics and the

477 Kirchler/Schrott in: Arbeits- und Organisationspsychologie, S. 80; Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, Vol. 88, S. 1051, 1075. 478 Güttler, Sozialpsychologie, S. 85; vgl. dazu auch Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 238. 479 Vgl. dazu auch Gigerenzer in: Gigerenzer/Engel, Heuristics and the law, S. 18 f.; Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, Vol. 88, S. 1051, 1076. 480 Enste, Schattenwirtschaft, S. 109; Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, Vol. 88, S. 1051, 1075 f. Es ist umstritten wie weit elaborierte Heuristiken dem Idealzustand der Nutzenmaximierung nahe kommen können. Vgl. dazu Gigerenzer/Goldstein, Psychological Review 1996, Vol. 103, S. 650, 662. 481 Fischer/Greitemeyer/Frey in: HWbUO, Sp. 241. 482 Fischer/Greitemeyer/Frey in: HWbUO, Sp. 241; Schweiger, Theorien der Mediennutzung, S. 175. 483 Aronson/Wilson/Akert, Sozialpsychologie, S. 71.

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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ristiken. Aus der Vielzahl der existierenden Typisierungen484 soll die bekannteste und zugleich für die hiesige Fragestellung bedeutendste Heuristik herausgegriffen werden: Angesprochen ist damit die „satisficing“485-Heuristik von Herbert A. Simon486, die aus der Kritik am Menschenbild der neoklassischen Nationalökonomie resultierte487. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass aufgrund interner und externer Grenzen der Informationssuche und -verarbeitung tatsächlich nur auf fragmentarischer, unvollständiger Informationsbasis entschieden wird und auch nicht alle Entscheidungsalternativen ermittelt werden488. Simon wies nach, dass sich Entscheidungsträger in der Realität vielmehr des satisficing-Modells bedienen489. Menschen streben in diesem Modell nicht nach Maximierung, sondern nur nach „Satisfizierung“ ihrer Zielvorstellungen auf Grundlage eines bestimmten Anspruchsniveaus (aspiration level)490. Das Vorgehen nach diesem Konzept lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Nach Festlegung des Anspruchsniveaus (z. B. der angestrebten Rendite einer Investition) beginnt der Entscheider, die zur Verfügung stehenden Alternativen zu prüfen. Diese Suche verläuft linear und sequentiell, das heißt, es wird Schritt für Schritt immer nur eine Alternative auf ihre Tauglichkeit geprüft. Überschreitet eine gefundene Alternative das Anspruchsniveau, wird diese gewählt und die Suche abgebrochen, auch wenn noch bessere Alternativen existieren. Dies kann durchaus auch die erste untersuchte Alternative sein. Dabei neigen Entscheidungsträger dazu, sich bei der Suche nach einer zufriedenstellenden Lösung zunächst auf den Bereich bereits bekannter Handlungsalternativen zu beschränken. Erst wenn auf diesem Wege keine befriedigende Lösung erreicht werden kann, werden neue Wege beschritten. Sollte nach einer gewissen Zeit keine der ermittelten Alternativen das Anspruchsniveau erreichen, so wird dieses gesenkt und die Suche beginnt von Neuem491. 484 Vgl. für einen Überblick Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, Vol. 88, S. 1051, 1075 ff.; Riesenhuber, Die Fehlentscheidung, S. 84 ff.; Todd/Gigerenzer, Journal of Economic Psychology 2003, Vol. 24, S. 143 ff. 485 „Satisficing“ setzt sich zusammen aus den Begriffen „sufficing“ (genügend, ausreichend) und „satisfying“ (befriedigend, zufriedenstellend). 486 Simon, Quarterly Journal of Economics 1955, S. 99, 104 ff. 487 Vgl. dazu auch Becker, Journal of Political Economy 1962 Vol. 70, S. 1 ff.; Korobkin/ Ulen, California Law Review 2000 Vol. 88, S. 1051, 1075 ff.; Selten, Bounded Rationality, S. 13 ff. 488 Vgl. dazu § 2 B. III. 4. d) aa) (1). 489 Vgl. March/Simon, Organisation und Individuum, S. 129 ff.; Simon, Quarterly Journal of Economics 1955, S. 99, 104 ff.; Simon, Models of Man, S. 198 ff. 490 Simon, Models of Man, S. 270 f.: „Since the organism…has neither the senses nor the wits to discover an ‘optimal’ path…we are concerned only with finding a choice mechanism that will lead it to pursue a ‘satisficing’ path, a path that will permit satisfaction at some specified level of all its needs.“ 491 Ausführlich zur „Aspiration Adaption Theory“: Selten, Bounded Rationality, S. 13, 18 ff.

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§ 2 Allgemeiner Teil

Satisfizierendes Entscheidungsverhalten kann einerseits unbewusst, aber auch intentional erfolgen492. So können Entscheidungsträger im Wissen um ihre beschränkten kognitiven Fähigkeiten und um die zeitlichen Beschränkungen bzw. Kosten von Informationssuche und -verarbeitung dieses Verfahren bewusst anwenden493. Dies ermöglicht eine möglichst schnelle und kostensparende Entscheidungsfindung im Hinblick auf die angestrebte Entscheidungsqualität. Dabei handelt es sich um eine Rationalität im „globalen“ Sinne494, da zwar bewusst Rationalitätsdefizite in Kauf genommen werden, aber dafür Entscheidungskosten, -geschwindigkeit und -qualität zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden können. Satisfizierendes Entscheidungsverhalten darf deshalb nicht als streng abgrenzbare Antipode zum rational-choice-Modell aufgefasst werden. Treffender ist vielmehr ein graduelles Verständnis von Rationalität bzw. Irrationalität, abhängig insbesondere von dem gewählten Anspruchsniveau, das den erforderlichen Entscheidungsaufwand und damit auch die Entscheidungsqualität in beträchtlichem Maße determiniert. (2) Gruppenentscheidungen Bedeutsame wirtschaftliche Entscheidungen werden heutzutage überwiegend durch Entscheidungsgremien getroffen495. In einem immer komplexeren Wirtschaftsgeschehen kann die Bedeutung kooperativer Problemlösungen gar nicht überschätzt werden. Bis in höchste Führungsebenen werden weitreichende Entscheidungen entweder bereits schon kraft Gesetzes496 oder aber aufgrund autonomer Strukturierung des Unternehmens einem Gremium überantwortet. Zwar obliegt die Letztentscheidung und -verantwortung regelmäßig einer Einzelperson wie z. B. dem Vorsitzenden des Vorstandes oder dem Geschäftsführer der GmbH. Aber auch dessen Auffassung wird maßgeblich durch den Willensbildungsprozess der Gruppe mitgeprägt. Autonome Entscheidungen sind deswegen in komplexen Unternehmungen nur selten antreffen. Eine singuläre Betrachtung von Individualentscheidungen hätte deshalb nur einen beschränkten Erkenntniswert. Es ist fraglos eine Binsenweisheit, dass die „Gremifizierung“ eines Problems zur Steigerung der Entscheidungsqualität führt497. Tatsächlich ist der Schluss nahelie492

Vgl. Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, Vol. 88, S. 1051, 1075 f.; Todd/Gigerenzer, Journal of Economic Psychology 2003, Vol. 24, S. 143, 145 f. 493 Grundlagen der bewussten Verwendung von Heuristiken und zwei Beispiele finden sich bei Todd/Gigerenzer, Journal of Economic Psychology 2003, Vol. 24, S. 143 ff. 494 Korobkin/Ulen, California Law Review 2000, Vol. 88, S. 1051, 1075. 495 Vgl. auch Nitzsch, Entscheidungslehre, S. 60; Schulz-Hardt/Frey/Lüthgens/Moscovici, Journal of Personality and Social Psychology 2000, Vol. 78, S. 655. 496 Vgl. § 76 Abs. 2 AktG, §§ 95 ff. AktG. 497 In diesem Sinne auch ein Zitat das John F. Kennedy zugeschrieben wird: „Der Erfolg hat viele Väter. Der Misserfolg ist ein Waisenkind.“ Das dieses Bonmot keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, zeigt Kennedys Kommentierung der US-Invasion der Schwei-

B. Konkretisierung nach dem klassischen Kanon

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gend, dass multipersonale Entscheidungsprozesse aufgrund der Akkumulation von Wissen, der größeren Kapazitäten bei der Informationssuche und -bewertung und der vielfältigeren Perspektiven, aus denen ein Problem betrachtet wird, eine größere Entscheidungsrationalität ermöglichen498. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Rationalitätsdefizite auch in Gruppen stattfinden, oder ob die genannten Faktoren gewissermaßen einen neutralisierenden checks and balances-Effekt erzeugen und eine umfangreichere informationelle Entscheidungsgrundlage ermöglichen. Zur Beantwortung dieser Frage existiert eine reichhaltige psychologisch-ökonomische Forschung, die die soeben geäußerte Annahme nur unter bestimmten Umständen bestätigt. Es sollen nun zwei hier besonders bedeutsame Bereiche der Forschung zu Gruppenprozessen vorgestellt werden, die Untersuchungen zu groupthink und zum hidden profile-Phänomen. (a) Kollektive Defensivstrategien: groupthink Zutreffend ist die Annahme, dass Gruppen in der Lage sind, Entscheidungen von höherer Qualität zu treffen, als dies einem Individuum möglich wäre. Dies gilt allerdings nur für Entscheidungen unter optimalen Bedingungen. Bei Vorliegen spezifischer Rahmenbedingungen (sog. „Randbedingungen“) kommt es zu einem Phänomen, das vom überwiegenden Teil der Autoren als groupthink bezeichnet wird. Als dessen Entdecker gilt der amerikanische Psychologe Irving L. Janis499. Er entwickelte das groupthink-Modell zunächst anhand politischer Entscheidungen. Mittlerweile konnte aber auch dessen Anwendbarkeit auf wirtschaftliche Entscheidungsprozesse nachgewiesen werden500. Janis’ ursprüngliches Konzept wurde seitdem mehrfach überarbeitet und kritisiert501. Es wird aber hinsichtlich der unstrittigen Symptomatik immer noch als Grundlage der Forschung zu Gruppenpro-

nebucht auf Kuba (1961): „Wie konnte ich nur so dumm sein, die Aktion zuzulassen.“ (zit. nach Janis, Managerial Psychology, S. 439). 498 Schulz-Hardt/Frey/Lüthgens/Moscovici, Journal of Personality and Social Psychology 2000, Vol. 78, S. 655, 656; Ein weiterer Aspekt, weshalb Gruppenentscheidungen attraktiver erscheinen, ist motivationaler und emotionaler Natur: Eine Entscheidung, die von vielen getroffen wurde, sollte als fairer empfunden werden und eine höhere Identifikation der Betroffenen ermöglichen, als wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden. 499 Vgl. Janis, Psychology Today 1971, S. 43 ff., 74 ff.; Janis, Victims of Groupthink; Janis, Groupthink. Janis analysierte vier der größten Desaster der US-Außenpolitik (Pearl Harbour, Korea, Schweinebucht-Invasion, Vietnam) und konstatierte in den zuständigen Entscheidungsgremien dysfunktionale Interaktionsabläufe, die er als Groupthink bezeichnete. Diesen Fehlentscheidungen stellte er mit dem Marshall-Plan und dem Umgang mit der Kuba-Krise zwei Entscheidungen der US-Regierung gegenüber, die seiner Ansicht durch einen rationalen Entscheidungsprozess gekennzeichnet waren und demzufolge einen positiven Verlauf nahmen. 500 Vgl. nur Eaton, Corporate Communications 2001, Vol. 6, S. 183 ff.; Scharff, Journal of Leadership and Organizational Studies 2005, Vol. 11, S. 109 ff. 501 Vgl. die Modifikationen von Moorhead/Ference/Neck, Human Relations 1991, Vol. 44, S. 539 ff.; ’t Hart, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1998, Vol. 73, S. 306 ff.; Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen.

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zessen herangezogen, während einige Aspekte der zugrundeliegenden Mechanismen noch umstritten sind502. In Gruppen, die unter dem Einfluss von groupthink stehen, verfestigt sich „vorschnell eine Präferenz, die durch Selbstüberschätzung, Druck auf Andersdenkende, sowie einen auf Selbstbestätigung ausgerichteten Entscheidungsprozeß“503 durch die Gruppenmitglieder verteidigt wird. Jegliche Form von Querdenken wird unterdrückt und eine kritisch-rationale Diskussion zu Gunsten einer Suche nach Harmonie, Einheit und Konformität verhindert. Die Symptome von groupthink sind verheerend504 und wurden im Rahmen einer Vielzahl empirischer Untersuchungen505 nachgewiesen. Entsprechende Entscheidungsprozesse sind durch eine vorschnelle Einigung auf eine gemeinsame Handlungsalternative gekennzeichnet, die daraufhin nicht mehr kritisch hinterfragt wird506. Andere Alternativen werden demgegenüber außer Acht gelassen und konträre Informationen ausgeblendet507. Ursprüngliche Handlungsziele werden nur unzureichend reflektiert. Die Risiken der präferierten Alternative werden unterschätzt und anfänglich verworfene Alternativen werden nicht neu bewertet. Dies wird durch eine selektive Informationssuche und eine Überbewertung bestätigender und Unterbewertung widersprüchlicher Informationen ermöglicht. Man unterscheidet drei Kategorien von Randbedingungen, durch die groupthink hervorgerufen wird: Zunächst sind variable, situative Faktoren, wie zum Beispiel Stress (insbesondere Zeitdruck und Rechtfertigungsdruck) oder hohe Entscheidungskomplexität zu nennen508. Sie führen dazu, dass die einzelnen Mitglieder nach Konformität und Einigkeit in der Gruppe streben, um diese Faktoren auf mehrere Schultern zu verteilen. Zweitens wird groupthink durch strukturelle Mängel der Gruppe begünstigt. Diese strukturellen Mängel sind besonders bedeutsam und gut erforscht, da man bei ihnen am effektivsten für Gegenmaßnahmen ansetzen kann. Dabei spielt insbesondere der Homogenitätsfaktor der Zusammensetzung eine

502 Vgl. zu den Streitpunkten eine aktuelle Zusammenfassung und Würdigung der bisherigen Groupthink Forschung: Rose, Ermerging Leadership Journeys 2011, Vol. 4, S. 37 ff., insbes. S. 47. 503 Schulz-Hardt/Frey in: Arbeits- und Organisationspsychologie, S. 313. 504 Vgl. beispielsweise die durch groupthink beeinträchtigten Entscheidungsprozesse der Bush-Administration, die zum Irak-Krieg (2003) führten: Kuntz, Der Weg zum Irak-Krieg. 505 Vgl. Ahlstrom/Wang, Journal of Management History 2009 Vol. 15, S. 159 ff.; Dimitroff/ Schmidt/Bond, Project Management Journal 2005, Vol. 36 S. 28 ff.; Scharff, Journal of Leadership and Organizational Studies 2005 Vol. 11, S. 109 ff.; vgl. ebenso Rose, Ermerging Leadership Journeys 2011, Vol. 4, S. 37 ff., insbes. S. 42 m. w. N. 506 Janis, Groupthink, S. 244; Wild, Strategische Entscheidungen, S. 160. 507 Janis, Groupthink, S. 175; Schulz-Hardt/Frey/Lüthgens/Moscovici, Journal of Personality and Social Psychology 2000, Vol. 78, S. 655, 666 f. 508 Janis, Groupthink, S. 250.

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Rolle509. Gruppen, deren Mitglieder alle einen ähnlichen sozialen und ideologischen Hintergrund aufweisen, sind besonders anfällig510. Entscheidend ist dabei weniger der Hintergrund an sich, sondern die Tatsache, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Perspektiven bzw. Präferenzen der Gruppenmitglieder erhöht wird511. Je weniger abweichende Perspektiven vorhanden sind, desto weniger werden diese auch kritischem Widerspruch ausgesetzt und Vor- und Nachteile erörtert. Die Gruppe legt sich deshalb (vor-)schnell auf eine entsprechende Alternative fest512. Eine weitere strukturelle Randbedingung ist die Abschottung der Gruppe nach außen. Je mehr sich die Gruppe von anderweitigen Sichtweisen und Argumenten isoliert, umso weniger werden eigene Präferenzen in Frage gestellt, revidiert oder zumindest modifiziert. Dies wird durch eine direktive Gruppenführung noch weiter verstärkt, da eine solche durch offene oder subtile Machtausübung die Präferenz des Gruppenführers forciert und dadurch das Denken in eine bestimmte Richtung kanalisiert513. Gruppen, die unter dem Eindruck von groupthink stehen, zeichnen sich weiterhin durch das Fehlen standardisierter diskursiver Entscheidungsprozeduren aus, die die Gruppenmitglieder gewissermaßen zwingen würden, ihre Auffassungen intensiver zu reflektieren. Die letzte Randbedingung im groupthink-Modell wird als „Gruppenkohäsion“ bezeichnet. Darunter versteht man „die Summe aller Kräfte … die den Verbleib der Gruppenmitglieder in der Gruppe bewirken.“514. Janis geht davon aus, dass die Gruppenkohäsion ein konstituierendes Erfordernis für groupthink ist, da Gruppen mit einem niedrigen Maß an Kohäsion keinen Konformitätsdruck auf ihre Mitglieder ausüben können515. Obwohl die Gruppenkohäsion in der wissenschaftlichen Diskussion wiederholt kritisiert wurde, wird sie in den vorliegend relevanten Entscheidungsprozessen jedenfalls vorliegen. Kohäsiver Faktor von Gruppenprozessen im wirtschaftlichen Kontext ist regelmäßig die vertragliche Bindung der 509

Schulz-Hardt/Frey/Lüthgens/Moscovici, Journal of Personality and Social Psychology 2000, Vol. 78, S. 655, 659. 510 Janis, Groupthink, S. 250: „This structural fault decreases the likelihood of disparate views being presented and productively debated by the group. When there is a moderate (but not extreme) degree of heterogeneity in social background and ideology among the members, they are more likely to engage in constructive multiple advocacy, which means that the group will devote their deliberations to exploring the pros and cons of two or more alternatives, rather than focusing on just one available option and graviting toward a premature consensus.“ 511 Deshalb wird auch gefordert, dieses strukturelle Kriterium von vornherein auf die Präferenzhomogenität auszurichten (vgl. Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 31). 512 Diese Erkenntnis ist auch der Grund, weshalb Unternehmensberatungen gezielt immer auch Absolventen natur- und geisteswissenschaftlicher Studiengänge in ihre Beratungsteams integrieren. Dies dient der „Diversifizierung der Qualifikation ihrer Mitarbeiter“ (Bock/Reinecke, Lexikon Unternehmensberatung, Stichwort Juniorberater S. 212) und führt damit zu einer höheren Entscheidungsqualität. 513 Vgl. Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 25; Schulz-Hardt/Frey in: Arbeits- und Organisationspsychologie, S. 313, 319. 514 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 23. 515 Janis, Groupthink, S. 176.

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Gruppenmitglieder, die insofern verpflichtet sind, mit den anderen Gruppenmitgliedern zusammenzuarbeiten und innerhalb der Gruppe zu verbleiben516. Noch ungeklärt ist der vermittelnde Mechanismus, der zwischen den Ursachen und den Symptomen bzw. Konsequenzen von groupthink steht. Im Wesentlichen stehen sich dabei zwei Erklärungen gegenüber: Das klassische groupthink-Modell identifiziert ein „übermäßiges Streben nach Einmütigkeit…, das gegenüber einer realistischen Evaluation der Sachlage die Überhand gewinnt.“517 Da Loyalität gegenüber der Gruppe als besonders wichtig erscheint, wird Druck auf andersdenkende Mitglieder ausgeübt, die Zweifel an der präferierten Lösung äußern oder die Argumente in Frage stellen, die diese Alternative unterstützen518. Das Streben nach Konformität ist somit eine Form der Stressreduktion519. Einen alternativen Erklärungsansatz liefert das vor allem in Deutschland populäre Modell des „Entscheidungsautismus“520. Die Symptome von groupthink werden dort mittels der Theorie der kognitiven Dissonanz erklärt. Die Randbedingungen von groupthink führen danach zur Präferenz einer bestimmten Alternative („monopolistische Präferenz“), die mittels der genannten Dissonanzreduktionsstrategien verteidigt wird. Dies führt zu denselben Konsequenzen, die Janis in seinem Modell festgestellt hat, vermeidet aber einige Unwägbarkeiten der ursprünglichen Theorie. Auch wenn das Modell des Entscheidungsautismus einen gewissen Charme für sich in Anspruch nehmen kann, da es sowohl Individual- als auch Gruppenprozesse erfasst und überdies auf der allgemein anerkannten Dissonanztheorie basiert, hat es sich noch nicht global durchsetzen können. Obwohl der vermittelnde Mechanismus von groupthink somit noch umstritten ist, tut dies der Fruchtbarkeit des Modells für die hiesige Untersuchung keinen Abbruch. Sowohl die wesentlichen Ursachen als auch die entsprechenden Symptome sind bestens dokumentiert. Die geschilderte theoretische Unwägbarkeit kann hier demzufolge außer Betracht bleiben. (b) Gescheiterte Integration verteilten Wissens: hidden profile Ein weiterer Vorteil, den man sich von Entscheidungen in Gruppen erhofft, ist die Integration des verteilten Wissens. Durch die Akkumulation der Kenntnisse der Mitglieder verspricht man sich eine Vergrößerung der informationellen Entscheidungsbasis und damit auch der Qualität der Entscheidung. Ob sich dieses Ziel tatsächlich realisieren lässt, hängt davon ab, wie gut die Integration der entschei516

Hickson/Hinings/Lee/Schneck/Pennings, Administrative Science Quarterly 1971, Vol. 16, S. 216, S. 217. 517 Janis, Groupthink, S. 7 ff.; Die Übersetzung wurde Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 23 entnommen. 518 Janis, Groupthink, S. 11. 519 Janis, Groupthink, S. 255. 520 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen.

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dungsrelevanten und auf verschiedene Gruppenmitglieder verteilten Kenntnisse und Perspektiven (information pooling521) gelingt. Diese Fragestellung ist Gegenstand einer speziellen Sektion der Forschung zu Gruppenprozessen und wird in sog. hidden profiles situations522 relevant. Damit sind Gruppenentscheidungen gemeint, in denen alle Informationen, die für die rationalste Lösung erforderlich sind, zwar in der Gruppe vorhanden, aber auf verschiedene Mitglieder verteilt sind. Alle Studien, die sich bisher mit diesem Thema beschäftigt haben, mussten aber feststellen, dass Gruppen an dieser Aufgabe in der Regel523 scheitern. Je weniger Mitglieder über eine entscheidungsrelevante Information verfügten, umso unwahrscheinlicher war es, dass diese bei der Entscheidung berücksichtigt wurde oder gar zur Sprache kam. Die Mitglieder konzentrierten sich hingegen viel mehr auf diejenigen Informationen, über die alle Gruppenmitglieder verfügten (shared informations). Geteilte Informationen werden nicht nur mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Diskussion eingeführt, sondern auch noch wesentlich häufiger wiederholt als Informationen, über die nur wenige Mitglieder verfügen. Dementsprechend basierte die Gruppenentscheidung im Wesentlichen auf den überproportional häufig vorgebrachten, geteilten Informationen, was die Wahl der bestmöglichen Alternative verhinderte. Damit verhindert der hidden profile-Effekt die Zusammenführung individuellen Wissens und damit die Ermittlung der bestmöglichen Lösung eines Entscheidungsproblems524. Es existieren mehrere Ursachen für dieses Phänomen. Zunächst ist es schlicht wahrscheinlicher, dass Informationen zur Sprache gebracht werden, über die viele Gruppenmitglieder verfügen. Dies wird als stochastischer Nennungsvorteil (sampling advantage) bezeichnet525. Umgekehrt ist es wahrscheinlicher, dass Informationen, über die nur ein Gruppenmitglied verfügt, nicht in die Diskussion eingebracht werden. Das Mitglied ruft die Informationen nicht aus seinem Gedächtnis ab oder erkennt nicht deren Relevanz, da sich die Gruppendiskussion auf andere Fakten

521 Faulmüller/Kerschreiter/Mojzisch/Schulz-Hardt, Group Processes & Intergroup Relations 2010 Vol. 13, S. 653, 654. 522 Vgl. für einen Überblick über die Forschung zu hidden profiles: Bültel, Effektivität von Top Management Teams, S. 140 ff. 523 Vgl. Brodbeck/Kerschreiter/Mojzisch/Frey/Schulz-Hardt, European Journal of Social Psychology 2002,Vol. 32, S. 35 ff. die ein Scheitern in 70 – 95 % der Fälle ermittelten. 524 Das Phänomen ist hervorragend empirisch dokumentiert: Vgl. den umfassenden Überblick bei Wittenbaum/Hollingshead/Botero, Communication Monographs 2004 Vol. 71, S. 286, 288; siehe auch: Faulmüller/Kerschreiter/Mojzisch/Schulz-Hardt, Group Processes & Intergroup Relations 2010, Vol. 13, S. 653 ff.; Greitemeyer/Schulz-Hardt, Journal of Personality and Social Psychology 2003, Vol. 84, S. 322 ff.; Schulz-Hardt/Brodbeck/Mojzisch/Kerschreiter/Frey, Journal of Personality and Social Psychology 2006, Vol. 91, S. 1080 ff.; Stasser, Organizational Behavior and Human Decision Processes 1992, Vol. 52, S. 156 ff. 525 Stasser und Titus entwickelten zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Informationen in die Diskussion eingebracht werden, das sogenannte CIS-Modell. Vgl. dazu in überarbeiteter Form Stasser/Titus, Psychological Inquiry 2003, Vol. 14, S. 304, 306 ff.

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konzentriert526. Neben dieser reinen Wahrscheinlichkeitsbetrachtung spielen auch die unterschiedlichen Präferenzen der Gruppenmitglieder eine Rolle (prediscussion preferences), weshalb vor allem besonders homogene Gruppen an dieser Aufgabe scheitern. Die Mitglieder bilden aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen oft bereits vor der Gruppendiskussion Präferenzen für eine Entscheidungsalternative. Gruppen konzentrieren sich stärker auf die Präsentation der individuell präferierten Entscheidungsalternativen, als auf den Aufbau einer breiten informationellen Entscheidungsgrundlage. Dies führt insbesondere in Verbindung mit Zeitdruck dazu, dass sich die Gruppen vorschnell auf die dominante Entscheidungspräferenz einigen. Die Relevanz von ungeteilten Informationen, die trotz des stochastischen Nennungsnachteils Einzug in die Diskussion finden, wird hingegen durch die anderen Mitglieder abgewertet. Ursache ist, dass diese Informationen nicht der dominanten Gruppenpräferenz entsprechen. Demgegenüber werden Informationen, die von vielen Mitgliedern geteilt werden, als besonders bedeutsam angesehen, da sie der Präferenz vieler Gruppenmitglieder entsprechen. Dahinter steht erneut der Defensivmechanismus der kognitiven Dissonanztheorie527. Ein weiterer Grund für die verzerrte Informationswahrnehmung sind soziale Vergleichsprozesse. Insbesondere bei der Lösung schwieriger, neuartiger Entscheidungsprobleme streben Entscheidungsträger nach Bestätigung ihrer Informationen. Realisieren sie, dass auch andere Mitglieder dieselben Informationen teilen, werden diese als relevanter eingeschätzt und „exotische“ Informationen und Lösungswege abgewertet, da diese nur wenig soziale Bestätigung bieten. (c) Zwischenergebnis Es hat sich gezeigt, dass auch Gruppen keineswegs ein Garant für rationale Entscheidungsfindung sind. Sie weisen unter den aufgezeigten Bedingungen nicht nur dieselben Entscheidungsirrationalitäten auf wie Individuen, sondern können durch ihre Eigendynamik sogar noch beträchtliche weitere Verzerrungen des Urteilsvermögens herbeiführen. (3) Symptomatik im Entscheidungsprozess Die im Rahmen der Individual- und Gruppenprozesse dargestellten Abweichungen vom rationalen Verhaltensmodell „beherrschen den Entscheidungsprozess in allen Phasen“528. Im Folgenden soll die Symptomatik nun anhand des hier verwendeten Phasenschemas529 verdeutlicht werden530.

526

295 f. 527 528 529

Wittenbaum/Hollingshead/Botero, Communication Monographs 2004, Vol. 71, S. 286, Vgl. § 2 B. III. 4. D) bb) (1) (a). Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 101. Vgl. § 2 B. III. 4. b) aa).

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Anomalien manifestieren sich bereits in der Initialphase des Entscheidungsprozesses, der Problemdefinition, wo die maßgeblichen Weichen für den weiteren Ablauf des Entscheidungsprozesses gestellt werden. Jedes Entscheidungsproblem muss zunächst mental erfasst und definiert werden, um es einer Lösung zuführen zu können. Eine sachgemäße Problemdefinition erfordert eine umfassende Ursachenanalyse und sollte weit gefasst sein, um nicht frühzeitig taugliche Lösungsalternativen auszuschließen531. Tatsächlich wird das Entscheidungsproblem aber oft nur unzureichend erfasst532. Dies folgt zunächst aus dem beschränkten Wissen und den begrenzten kognitiven Kapazitäten des Menschen. Entscheidungsheuristiken führen zu einer begrenzten Wahrnehmung der Realität. Aspekte eines Problems, über die der Entscheidungsträger keine Kenntnis hat, werden meist vernachlässigt. Darüber hinaus erfolgt die Ursachenanalyse selektiv, um die bestehende Präferenz für einen bestimmten Lösungsweg zu unterstützen533. Kein Entscheidungsträger beginnt einen Entscheidungsprozess bei null, sondern ist geprägt durch eigene vergangene und auch Vorbildentscheidungen und seinen gesamten Erfahrungsschatz. Gegebenenfalls kann er sich bereits bei Beginn des Prozesses eine Meinung über die Lösung gebildet haben534. Sollte die präferierte Alternative keine Lösung für ein bestimmtes Entscheidungsproblem darstellen, wird dieses verzerrt wahrgenommen und entsprechend der eigenen Auffassung modifiziert („Präferenzstützende Ursachenanalyse“535). Eine weite Definition des Entscheidungsproblems würde die Anzahl denkbarer Lösungsalternativen vergrößern. Dies erzeugt aber kognitive Dissonanz, da diese anderen Alternativen der eigenen Präferenz zuwiderlaufen. Dementsprechend wird das Entscheidungsproblem möglichst eng definiert und der Alternativenraum bereits dadurch maßgeblich verringert. Die Konsequenzen, die eine eingeschränkte Problemdefinition mit sich bringen kann, sollen an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden: Ein Unternehmen sieht sich mit dem sinkenden Absatz seines einzigen Produktes konfrontiert. Da die maßgeblichen Konkurrenten die Produktion in den letzten Jahren in Niedriglohnländer verlagert haben, können diese ein Produkt gleicher Qualität zu niedrigeren Preisen anbieten. Da die Unternehmensleitung aufgrund der Vorbildwirkung ebenfalls diese Vorgehensweise präferiert, wird als Entscheidungsproblem und Planungsziel die Vorgabe aufgestellt, einen geeigneten Standort in einem Niedriglohnland zu finden, an den der Standort verlagert werden kann. In dieser Konstellation ist die Entscheidung aus Arbeitnehmersicht bereits gefallen und Entlassungen 530 Vgl. ebenso Aldag/Fuller, Psychological Bulletin 1993, Vol. 113, S. 533, 541 f.; Becker, Controlling von Internationalisierungsprozessen, S. 62 ff.; Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 237 ff.; Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 101 ff. 531 Vgl. Bronner, HbUO, Sp. 229, 231. 532 Witte, HwbUO, Sp. 551, 554; Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 237 f. 533 Vgl. auch Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 238 f.; Osterloh, AuR 1986, S. 332, 335. 534 Cohen/March/Olsen, Administrative Science Quarterly 1972, Vol. 17, S. 1, 16. 535 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 101.

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§ 2 Allgemeiner Teil

fast unvermeidlich. Bereits im Anfangsstadium des Planungsprozesses werden somit Arbeitnehmerinteressen weniger beeinträchtigende Alternativen ausgegrenzt. Den Planungsstäben wird durch diese Vorgabe verwehrt, beispielsweise das Potential der Entwicklung eines konkurrenzfähigeren Nachfolgerproduktes oder von Effizienzsteigerungen innerhalb des Herstellungsprozesses des alten Produktes zu erkunden. Anders stellt sich dies freilich dar, wenn als Entscheidungsproblem allein die Vorgabe aufgestellt wird, einen betriebswirtschaftlich vertretbaren Weg aus der vorliegenden Situation zu finden. In diesem Fall sind noch alle Alternativen „im Spiel“ und noch keine Arbeitnehmerinteressen betroffen. Im Rahmen der Informationssuche und Alternativenermittlung führt zunächst das satisfizierende Entscheidungsverhalten zu einer weiteren Verengung des Entscheidungsprozesses. Da Entscheidungsträger nach Komplexitätsreduktion streben, wird oft die erste Alternative, die ein bestimmtes Anspruchsniveau erreicht, gewählt und der Suchprozess abgebrochen. Weitere Alternativen werden hingegen nicht in Betracht gezogen536. Überdies spielen auch wieder präferenzstützende Strategien eine Rolle. Dies gilt auch, wenn die Unternehmensleitung noch keine Alternative favorisiert und deshalb ein Entscheidungsproblem definiert hat, das grundsätzlich mehrere taugliche Lösungsalternativen enthält. Insbesondere bei sehr komplexen Problematiken wird die Leitung dieses Entscheidungsproblem nicht selbst lösen, sondern an Planungsstäbe bzw. Fachabteilungen delegieren537. Der Leiter der Planungseinheit bzw. dessen Mitarbeiter haben allerdings oft selbst Präferenzen für eine bestimmte Alternative, auf die sie sich von Anfang an fixieren. Um diese zu stützen, werden bewusst nur wenige andere Alternativen in Betracht gezogen und selektiv nach Informationen gesucht, die die bevorzugte Lösung unterstützen538. Die Phase der Alternativbewertung ist noch durch weitere Verzerrungen geprägt. Die bevorzugte Alternative wird aufgewertet und deren Risiko unterschätzt. Andere Alternativen werden hingegen voreilig verworfen, da deren Attraktivität und Qualität abgewertet wird. Dies wird durch eine selektive Suche und Bewertung von Informationen unterstützt. Besonders stark sind die Defensivmechanismen nach der Entscheidung für eine Alternative ausgeprägt. Trotz negativer Rückmeldungen hält der Entscheidungsträger an der einmal getroffenen Entscheidung fest. Da er sich im Laufe des Prozesses vorwiegend bestätigende Informationen erarbeitet hat, hat seine Meinung eine hohe 536

Vgl. eine langfristige Studie der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik in Köln, in der die Standortwahl industrieller Betriebe bei Neugründungen und Verlagerungen untersucht wurde (nachzulesen bei Schmölders, Verhaltensforschung im Wirtschaftsleben, S. 44). In nahezu der Hälfte der Fälle (46 %) wurde nur ein Ort und damit eine Alternative in Betracht gezogen (in 22 % der Fälle zwei Orte, in 17 % der Fälle drei Orte und nur in 14 % der Fälle vier bis sechs Orte). Eine genaue Berechnung der Vor- und Nachteile der in Betracht genommenen Orte stellte ca. ein Viertel der Unternehmen an, während über 70 % eine solche Untersuchung nicht für erforderlich hielten. 537 Siehe dazu sogleich § 2 B. III. 4. d) bb) (4). 538 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 101.

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Änderungsresistenz und er sucht auch immer weiter gezielt nach Informationen, die seine Auffassung stützen. Widersprüchliche Informationen werden hingegen ausgeblendet oder abgewertet. Je mehr Zeit und Geld er in die Ausarbeitung der bevorzugten Alternative investiert hat, desto stärker wird er auch daran festhalten, da ansonsten alle bisherigen Anstrengungen nutzlos waren („sunk-cost-effect“)539. Ein Beharren auf der Entscheidung ist oft aber auch die einzige Möglichkeit. Die frühzeitige Fixierung auf eine bestimmte Alternative hat oftmals dazu geführt, dass nur eine sehr begrenzte Informationsbasis und wenige bzw. keine Alternativentwürfe erstellt werden, auf die stattdessen zurückgegriffen werden könnte. Eine alternative Vorgehensweise müsste deswegen mit einer kompletten Neuplanung einhergehen, die aus finanziellen und zeitlichen Gründen aber oft nicht möglich sein wird540. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Stärke der präferenzstützenden Defensivstrategien mit Fortschreiten des Entscheidungsprozesses immer weiter steigert. Im Extremfall wird die präferierte Alternative dadurch „völlig unangreifbar“541. (4) Arbeitsteilige Entscheidungsprozesse Das Interesse der Organisationsforschung gilt der „Erklärung und Gestaltung zielorientierter arbeitsteiliger Leistungsgemeinschaften.“542 Aufgrund der Vielfalt tatsächlicher Ausprägungen existiert noch keine Metatheorie, die allein ein umfassendes Bild von Organisationen leisten kann. Es findet sich aber eine Vielzahl von Einzeltheorien, die Organisationen jeweils aus einer anderen Perspektive betrachten543. Arbeitsteilige Entscheidungsprozesse in Organisationen (organisationale Entscheidungsprozesse) sind der Erkenntnisgegenstand der entscheidungsorientierten Organisationstheorie. Ausgangspunkt ist die begrenzte Rationalität menschlicher Entscheidungsprozesse und die daraus resultierende Unfähigkeit von Entscheidungsträgern, ihren erwarteten Nutzen zu maximieren („satisficing“)544. Im Zentrum der Betrachtungen steht deshalb das Bestreben von Organisationen, die Komplexität und Unsicherheit von Entscheidungssituationen zu reduzieren545. Dieses Bestreben manifestiert sich vor allem in der arbeitsteiligen Gestaltung von 539

Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (b). Vgl. dazu ausführlich § 2 B. III. 4. d) cc) (2). 541 Schulz-Hardt, Realitätsflucht in Entscheidungsprozessen, S. 6. 542 Osterloh in: HwbUO, Sp. 223. 543 Für einen Überblick über die wichtigsten Organisationstheorien: Kieser/Ebers, Organisationstheorien. 544 Berger/Bernhard-Mehlich, Organisationstheorien, S. 170; vgl. auch Simon, AER 1979, S. 493, 501: „… elaborate organizations … can only be understood as machinery for coping with the limits of man’s abilities to comprehend and compute in the face of complexity and uncertainty.“ 545 Hickson/Hinings/Lee/Schneck/Pennings, Administrative Science Quarterly 1971, Vol. 16, S. 216, S. 217; Osterloh in: HwbUO, Sp. 222; Thompson, Organizations in action, S. 13. 540

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Entscheidungsprozessen. Die Arbeitsteilung macht Problemlösungen möglich, die dem Individuum aufgrund seiner begrenzten kognitiven Fähigkeiten verschlossen bleiben546. Komplexe Entscheidungsprobleme werden bei dezentraler Entscheidungsfindung in verschiedene Einzelprobleme zerteilt, die an spezialisierte Entscheidungseinheiten zur Bearbeitung delegiert werden547. Nach Bearbeitung der Einzelprobleme werden die gefundenen Einzellösungen wieder zur Lösung des Gesamtproblems zusammengesetzt. Dieser Fragmentierungs- und Defragmentierungsprozess führt allerdings auch dazu, dass die ablaufenden Entscheidungsprozesse innerhalb von Organisationen eine beträchtliche Eigendynamik entfalten548. Dementsprechend hat die Vorstellung von der Unternehmensführung als an der Spitze stehender und „quasi monolithisch“549 entscheidender Akteur mit der Realität nichts zu tun. Ihre Entscheidungen werden vielmehr maßgeblich durch die Struktur der Organisation und die daraus resultierenden Subsysteme geprägt550. Diese Erkenntnis soll im Folgenden näher ausgeführt werden. (a) „Atomisierung“ von Entscheidungsprozessen Ein Resultat der Arbeitsteilung in (wirtschaftlichen) Organisationen ist die Aufgliederung von Entscheidungsprozessen in eine „Fülle von Subprozessen“551. So ist auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive gesichert, dass „in allen Phasen des Entscheidungsprozesses Vor- und Teilentschlüsse getroffen werden.“552 So muss bereits zum Beginn eines Entscheidungsprozesses die Entscheidung getroffen werden, ob ein Zustand überhaupt ein Problem darstellt und welcher Zustand stattdessen angestrebt wird. Auch muss im Rahmen der Alternativenermittlung entschieden werden, welche Alternativen ausgearbeitet und in der darauffolgenden Phase der Alternativenbewertung gegenübergestellt werden. Diese Entscheidungen teilen sich wiederum in mehrere untergeordnete Entscheidungen auf553. Jede Teilentscheidung ist dabei ein eigener „Entscheidungsprozeß en miniature“554, was zu einer fast unendlichen Hierarchie über- und untergeordneter Prozesse und damit einer „Atomisierung“555 von Entscheidungen führt.

546

Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 9; Thompson, Organizations in action, S. 13. 547 Kirsch, ZfBF, S. 61, 62 ff. 548 Schreyögg, HwbUO, Sp. 1746, 1749. 549 Schreyögg, Strategische Unternehmensführung, S. 155. 550 Bower, Ressource allocation process, S. 15 ff.; Hickson/Hinings/Lee/Schneck/Pennings, Administrative Science Quarterly 1971, Vol. 16, S. 216, S. 217 ff. 551 Osterloh, Organisations- und Mitbestimmungsforschung, S. 153. 552 Osterloh, AuR 1986, S. 332, 334; Eilenberger, Betriebliche Finanzwirtschaft, S. 69 f. 553 Biehl, Investition und Innovation, S. 29 f. 554 Heinen, Betriebswirtschaftslehre, S. 20. 555 Budäus, Entscheidungsprozeß, S. 39; Eine grafische Verdeutlichung dieses Phänomens findet sich auf S. 37.

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(b) Interdependenz der Subprozesse Die verschiedenen Subprozesse des Hauptprozesses sind hochgradig interdependent556. Unter Entscheidungsinterdependenz wird die „wechselseitige Abhängigkeit von Entscheidungen bzw. Entscheidungsträgern“557 verstanden. Interdependente Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Auswirkungen auf mindestens eine andere Entscheidung entfalten. Dies kann entweder unmittelbar oder aber durch eine Kette von Auswirkungen geschehen, „deren Glieder aus direkten Beziehungen zusammengesetzt sind.“558 Organisationen erweisen sich deshalb als komplexe „Gebilde sich partiell überschneidender Entscheidungssysteme.“559 Das Verständnis einer einzelnen Entscheidung innerhalb eines solch komplexen Gefüges ist somit nur mit Blick auf die mit ihr verknüpften Entscheidungen möglich. Diese müssen dann wiederum ebenfalls im Hinblick auf eigene Entscheidungsinterdependenzen untersucht werden. Man unterscheidet in erster Linie zwischen vertikaler und horizontaler Interdependenz560. Die vertikale Interdependenz unternehmerischer Entscheidungsprozesse ist bereits i.R.d. Darstellung der Planhierarchie angeklungen561 und eine Konsequenz der Tatsache, dass sich komplexe Entscheidungen nur in Entscheidungssystemen mit mehreren Hierarchieebenen lösen lassen. Die übergeordnete Einheit legt dabei im Wege der Strukturierung die Entscheidungsprämissen einer nachgeordneten Einheit fest und schränkt damit ihre Entscheidungsautonomie ein562. Diese Einheit stellt wiederum Vorgaben für die nächste Ebene auf. Dadurch werden untergeordneten Entscheidungsprozessen Handlungsbeschränkungen und Vorgaben auferlegt und bereits zu diesem Zeitpunkt der verfügbare Alternativenraum vorgeprägt563. Auf diesem Wege bildet sich innerhalb der Hierarchieebenen des Unternehmens eine vielschichtige Hierarchie von Entscheidungsprozessen heraus. Die Beeinflussung innerhalb der Prozesshierarchie ist allerdings keine „Einbahnstraße“, sondern findet in beide Richtungen statt. Obwohl übergeordnete Prozesse Vorgaben für nachge556

Vgl. Hickson/Hinings/Lee/Schneck/Pennings, Administrative Science Quarterly 1971, Vol. 16, S. 216, S. 217; Kirsch, ZfbF 1971, S. 61, 62 ff.; vgl. allgemein zu Interdependenzen Adam, Planung und Entscheidung, S. 179 ff.; Friedl, Controlling, S. 197 ff.; Jost, Strategisches Konfliktmanagement, S. 24 ff. 557 Kirsch, ZfbF 1971, S. 61, 62. 558 Lindblom, The Intelligence of Democracy, S. 21 f. (zit. nach Kirsch, ZfbF 1971, S. 61, 63). 559 Hickson/Hinings/Lee/Schneck/Pennings, Administrative Science Quarterly 1971, Vol. 16, S. 216, S. 217 ff.; Kirsch, ZfbF 1971, S. 61, 66. 560 Vgl. Adam, Planung und Entscheidung, S. 183 ff.; Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 37; Osterloh, Organisations- und Mitbestimmungsforschung, S. 153 f.; Ossadnik, Controlling, S. 70 ff. 561 Vgl. § 2 B. III. 4. c). 562 Frese, Organisationstheorie, S. 225. 563 Laux/Liermann, Grundlagen der Organisation, S. 97; Osterloh, Organisations- und Mitbestimmungsforschung, S. 154.

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ordnete Entscheidungen aufstellen, belassen sie diesen freilich einen bestimmten Spielraum zur Lösung des Problems. Diese Lösung fließt dann in den übergeordneten Prozess mit ein, der wiederum seinen „Mutterprozess“ mitgestaltet. Dieses Verfahren sei hier entsprechend der Terminologie der Planungsforschung als „Gegenstromverfahren“ bezeichnet564. Die verschiedenen Ebenen der Prozesshierarchie sind somit in beide Richtungen miteinander verknüpft. Die horizontale Interdependenz von Entscheidungsprozessen bezeichnet das Verhältnis gleichgeordneter Teilentscheidungen eines Prozesses innerhalb derselben Hierarchieebene. So wird mit dem Voranschreiten des Entscheidungsprozesses auch der verfügbare Alternativenraum immer weiter eingeschränkt und damit das mögliche Endergebnis bereits teilweise determiniert565. Schon zu Beginn des Prozesses, der Phase der Problemdefinition, können Alternativen ausgeschlossen werden, wenn das ermittelte Problem und damit das Ziel des Entscheidungsprozesses nur wenige Lösungen zulässt. Aber auch bei horizontaler Betrachtungsweise lässt sich Interdependenz in beide Richtungen feststellen. So hängen nicht nur die zeitlich nachfolgenden Teilentscheidungen von den vorhergehenden ab. Auch die vorhergehenden Teilentscheidungen werden mit Blick auf den weiteren Prozessverlauf getroffen. So findet die Problemdefinition regelmäßig unter Berücksichtigung der Lösbarkeit statt566. Der weitere Prozess wird dadurch (oberflächlich) antizipiert. (c) Determinierung des Finalentschlusses Die vertikalen und horizontalen Verknüpfungen führen bei komplexen Entscheidungsprozessen zu einem System gegenseitiger Abhängigkeiten, das mit Voranschreiten des Entscheidungsprozesses eine zunehmende Eigendynamik entfaltet. So steigt die Anzahl der getroffenen Teilentscheidungen und gleichzeitig auch die Komplexität und Anzahl der Verknüpfungen dieses feinmaschigen Netzes. Die Korrektur einzelner Teilentscheidungen begegnet dabei immer größeren Schwierigkeiten. Je bedeutender bzw. je vernetzter die jeweilige Entscheidung ist567, desto problematischer ist auch deren nachträgliche Veränderung. Jede Änderung setzt neue Daten für andere Teilentscheidungen und strahlt damit auf das ganze System aus. In jedem Fall muss nach einer Änderung ein maßgeblicher Teil des gesamten Prozesses auf seine Tauglichkeit unter den neuen Bedingungen geprüft werden. Je nach Komplexität des Hauptproblems handelt es sich dabei um einen höchst aufwendigen Vorgang, da im Laufe des Planungsprozesses immer wieder Ermessensentscheidungen und Kompromisse getroffen werden, die sich an subjektiven Zweckmäßigkeitserwägungen orientieren und nachträglich nur schwer oder auch gar nicht mehr

564

Vgl. dazu § 2 B. III. 4. c). Bendixen/Kemmler, Planung, S. 44; Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 238. 566 Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 37. 567 Vgl. dazu Hickson/Hinings/Lee/Schneck/Pennings, Administrative Science Quarterly 1971, Vol. 16, S. 216, S. 222. 565

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nachvollziehbar sind568. Im ungünstigsten Fall kann die Korrektur einzelner Teilentscheidungen eine Kettenreaktion auslösen, die das Gesamtsystem bzw. den eigentlichen Prozess zu Fall bringt. Oft ist eine nachträgliche Änderung deshalb nur durch die „Negation des gesamten Prozeßergebnisses“569 und damit eine komplette Neuplanung möglich, die aus zeitlichen und finanziellen Gründen aber nur selten möglich sein wird570. Aus diesen Gründen darf die eigentliche Bedeutung des Finalentschlusses nicht überschätzt werden, da „alle wesentlichen Festlegungen, die das Entscheidungsergebnis determinieren, bereits in den vorgelagerten Planungsphasen“571 stattfinden. Die Lösung des Entscheidungsproblems wird durch die stattfindenden, „faktisch irreversiblen“572 Vor- und Teilentschlüsse inhaltlich bereits derart vorgeprägt, dass „der Finalentschluß weitgehend die Funktion der Ratifikation einer bereits gefundenen Lösung hat.“573 Es sind deshalb im Wesentlichen die Subsysteme (Fachabteilungen, Stäbe, Arbeitsgruppen), die bis zu einem gewissen Grad autonom „die Probleme identifizieren, die Informationen aufnehmen und verarbeiten, Entscheidungsalternativen vorbereiten…“574 und der Unternehmensführung lediglich das entscheidungsreife Konzept präsentieren575. Die so vorgestellten Ergebnisse können von der Unternehmensführung oft nur noch hingenommen werden576. Die Güte der Entscheidungen wird deshalb wesentlich durch die Qualität der Planung bestimmt und es „besteht kaum die Möglichkeit, Planungsmängel im Entscheidungsakt (…) zu beheben“577. Komplexe Entscheidungsprozesse lassen sich somit nicht von der „organisatorischen Macht des letzten Wortes“578 steuern579. Ein solches Vorgehen würde auch dem Gedanken der Arbeitsteilung widersprechen, da gerade die Begrenzung der Fähigkeiten hinsichtlich Informationsverarbeitung und -beschaffung der Grund ist, die entsprechende Aufgabe zu delegieren580. 568

Laux/Liermann, Grundlagen der Organisation, S. 466. Witte, HwbO, Sp. 501. 570 Faßnacht, Unternehmensplanung und Mitbestimmung, S 185; ebenso Osterloh, AuR 1986, S. 332, 334. 571 Biehl, Investition und Innovation, S. 30; Staudt, Planung, S. 79; Wild, Unternehmensplanung, S. 42. 572 Osterloh, AuR 1986, S. 332, 334; vgl. ebenso Wedekind, Systemanalyse, S. 15. 573 Biehl, Investition und Innovation, S. 30; Witte, HwbO, Sp. 551, 561. 574 Schreyögg, HwbUO, Sp. 1746, 1749. 575 Bower, Ressource allocation process, S. 16: „The notion that the decisions of subordinates are crucial to the choices presented to superiors (…) once stated is obvious.“; vgl. auch Schreyögg, HwbUO, Sp. 1746, 1749. 576 Heinen, Betriebswirtschaftliche Führungslehre, S. 160; ebenso Laux/Liermann, Grundlagen der Organisation, S. 360. 577 Wild, Unternehmensplanung, S. 42. 578 Witte, HwbO, Sp. 551, 561. 579 Vgl. ebenso Biehl, Investition und Innovation, S. 30. 580 Laux/Liermann, Grundlagen der Organisation, S. 55. 569

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§ 2 Allgemeiner Teil

Eine sinnvolle inhaltliche Einflussnahme auf eine Planung muss deswegen bereits während des Prozesses ansetzen, bevor bereits so viele Teilentscheidungen getroffen wurden, dass ein Eingriff nur noch durch eine komplette Neuplanung möglich ist581. Wenn das schon für die Unternehmensleitung gilt, dann erst recht für den Betriebsrat. cc) Gesamtschau: Hindernisse für die Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungen In den vorherigen Abschnitten wurden die betreffenden Rationalitätsdefizite abstrakt und isoliert dargestellt. Nun soll im Rahmen einer Gesamtschau gezeigt werden, wie deren Zusammenwirken die Einflussnahme auf unternehmerische Entscheidungsprozesse erschweren. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung kann zwischen zwei Gruppen von Hindernissen unterschieden werden: Irrationale Defensivstrategien und betriebswirtschaftliche Hindernisse. (1) Defensivstrategien Unmittelbar führen die vorgestellten irrationalen Defensivstrategien582 dazu, dass Entscheidungsträger ihre präferierte Alternative gegenüber einer Einflussnahme von außen verteidigen. Diese Prozesse setzen auch nicht erst nach der endgültigen Entscheidung ein. Eine Präferenz für eine bestimmte Vorgehensweise besteht oftmals bereits am Anfang des Entscheidungsprozesses583. Ebenfalls werden auch schon während des Entscheidungsprozesses eine Vielzahl von Vor- und Teilentscheidungen getroffen, die gegenüber abweichenden Ansichten verteidigt werden. Entscheidungsautistische Phänomene sind deswegen ausgehend von der Identifizierung des Problems in allen Phasen des Entscheidungsprozesses anzutreffen. Die Beeinflussung des Entscheidungsträgers (bzw. des Entscheidungsgremiums) wird dabei umso schwerer, je weiter der Entscheidungsprozess fortgeschritten ist. Einerseits ist dies auf den steigenden Zeitdruck zurückzuführen, der in einer Vielzahl von Untersuchungen als signifikant verstärkender Faktor identifiziert wurde584. Überdies steigen im Laufe des Entscheidungsprozesses sukzessive die bereits für die Planung getätigten Investitionen (Zeit, Aufwand, Geld). Je mehr ein Entscheidungsträger in eine Alternative investiert hat, umso stärker wird er diese Alternative auch verteidigen, da die betreffenden Ressourcen anderenfalls umsonst getätigt wurden (sunk cost-Effekt)585. Schlussendlich steigt allmählich auch die Änderungsresistenz der bevorzugten Alternative. Da vorwiegend bestätigende Informa581

Vgl. Gerum, ZfP 1997, S. 183, 190; Osterloh, Organisations- und Mitbestimmungsforschung, S. 152; dies., AuR 1986, S. 332, 334; vgl. dazu ausführlich unten § 2 B. III. 4. d) cc) (2). 582 Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1)-(3). 583 Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (a) (bb). 584 Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (a) (cc). 585 Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (b).

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tionen ermittelt und widersprüchliche Informationen vermieden oder abgewertet werden, bauen sich Entscheidungsträger ein bedeutendes Fundament konsonanter Kognitionen auf, das ihre Auffassung stützt586. Je weiter der Prozess fortgeschritten ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass dieses Fundament aufgebrochen und eine Änderung der Meinung erreicht werden kann. Entgegen weit verbreiteter Meinung werden diese Defizite nur selten durch Gruppenentscheidungen neutralisiert. Vielmehr entstehen überdies gruppenspezifische Prozesse, die die Rationalität des Entscheidungsprozesses noch stärker beeinträchtigen587. (2) Betriebswirtschaftliche Hindernisse Aber auch wenn der Entscheidungsträger überzeugt werden kann, dass eine andere Alternative grundsätzlich rationaler ist, bedeutet dies noch nicht, dass diese auch gewählt wird. Um diese Lösung auch tatsächlich umsetzen zu können, müsste sie nämlich erst noch in allen Details erarbeitet und geprüft werden. Da auf den bisherigen Entscheidungsprozess aber nur eingeschränkt zurückgegriffen werden kann, wäre oft eine komplette Neuplanung erforderlich, der regelmäßig erhebliche wirtschaftliche Hindernisse entgegenstehen. Diese Diagnose hat vielfältige Ursachen. Zunächst sind Unternehmen bei der Gestaltung von Willensbildungsprozessen grundsätzlich bestrebt, die zeitlichen und finanziellen Ressourcen, die zur Vorbereitung einer Entscheidung erforderlich sind, möglichst zu begrenzen. Je fundierter und umfassender die informationelle Basis einer Entscheidung erstellt wird, desto mehr Zeit und Geld muss das Unternehmen aufwenden. Die Erarbeitung weiterer Alternativen wird somit bereits aus wirtschaftlichen Erwägungen nur eingeschränkt betrieben588. Darüber hinaus ist bereits die Problemwahrnehmung am Anfang des Prozesses aufgrund der begrenzten menschlichen Rationalität bzw. präferenzstützender Mechanismen beeinträchtigt. Schon zu einem frühen Zeitpunkt kann deswegen der verfügbare Alternativenraum bereits maßgeblich eingeschränkt sein589. Dies setzt sich in der Generierungsphase fort, wo nur eine sehr begrenzte Informationsbasis und wenige bzw. keine anderen Alternativentwürfe erstellt werden590. Eine Einflussnahme, die mehr als Detailkorrekturen erreichen soll, müsste demzufolge mit einer teilweisen oder gar kompletten Neuplanung einhergehen, da auf keine umsetzungsfähigen Alternativentwürfe zurückgegriffen werden kann.

586

Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (a). Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (2). 588 Bendixen, Unternehmensorganisation, S. 125: „Die Entscheidung über die zu realisierende Alternative findet im Allgemeinen in einem Stadium statt, in dem nicht alle Einzelheiten der verschiedenen Alternativen ausgebreitet und bewertet sind.“ 589 Vgl. dazu vor allem § 2 B. III. 4. d) bb) (3). 590 Vgl. dazu vor allem das satisficing-Modell von H. A. Simon unter § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (c). 587

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Die gleiche Konsequenz resultiert ebenfalls aus der in komplexen Entscheidungsprozessen verwendeten Arbeitsteilung591. Die Fragmentierung des Entscheidungsprozesses in verschiedene hochgradig interdependente Subprozesse führt dazu, dass der Entscheidungsprozess zunehmend irreversibel wird und das Entscheidungsergebnis maßgeblich determiniert. Nachträgliche Korrekturen sind deshalb erheblich erschwert und ebenfalls nur durch eine Negation des gesamten Prozessergebnisses möglich592. Einer solchen „Strategie des Bombenwurfs“593 stehen aber mit Fortschreiten des Entscheidungsprozesses in immer größerem Maße zeitliche und finanzielle Erwägungen entgegen. Zeit ist in einer hochdynamischen und globalisierten Wirtschaft ein kostbares Gut. Rasche unternehmerische Reaktionen bzw. Initiativen können einen erheblichen Wettbewerbsvorteil darstellen, während Verzögerungen im schlimmsten Fall existenzgefährdend sind. Bei einer erst gegen Ende eines Entscheidungsprozesses angestoßenen Neuplanung würde nicht nur die bereits bisher aufgewendete Zeit zu Buche schlagen, sondern auch noch die Zeit, die erforderlich ist, um eine alternative Lösung in allen Details umsetzungsreif auszuarbeiten. Aber auch finanzielle Erwägungen werden eine Neuplanung oft verhindern, da noch einmal Planungskosten anfallen würden. Diese können bei komplexen Vorhaben erheblich ins Gewicht fallen, vor allem wenn externer Sachverstand herangezogen werden muss. Diese wirtschaftlichen Erwägungen reduzieren die Attraktivität einer erst spät eingeführten alternativen Lösung erheblich und können diese sogar ganz verhindern, wenn eine zeitliche Deadline oder ein begrenztes Planungsbudget einzuhalten sind. Die paradoxe Konsequenz ist, dass deshalb die ursprünglich unterlegene Alternative nach Berücksichtigung aller wirtschaftlichen Umstände doch wieder vorzugswürdig sein kann. Obwohl eine andere Lösung überlegen ist, muss diese aufgrund des bisherigen fehlgeleiteten Prozesses verworfen werden. Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass sich die Berücksichtigung neuer Informationen, konträrer Ideen oder alternativer Lösungsvorschläge auch aus strikt wirtschaftlicher Perspektive umso schwieriger gestaltet, je weiter sich die Planung der endgültigen Entscheidung nähert. e) Zusammenfassung Die vorangegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Betriebswirtschaftslehre und Psychologie aufschlussreiche Erkenntnisse für die Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes bereithalten. Zunächst wurde gezeigt, dass unternehmerische Planungsprozesse ebenso wie alle anderen menschlichen Entscheidungsprozesse durch gewisse Grundstrukturen gekennzeichnet sind, die in Phasenmodellen dargestellt werden können. Unter Berücksichtigung ihrer Defizite 591 592 593

Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (4). Vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (4) (c). Kirsch, Die Handhabung von Entscheidungsproblemen, S. 223.

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können diese Schemata zur Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes verwendet werden. Ein Blick in die betriebswirtschaftliche Planungsforschung hat gezeigt, dass sich Unternehmen mit steigender Größe als zunehmend komplexes System interdependenter Teilpläne darstellen. Die Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes innerhalb eines einzelnen Planungsprozesses reicht demnach für eine sachgemäße Konkretisierung der gesetzlichen Vorschriften noch nicht aus. Ferner müssen Handlungsbeschränkungen aus übergeordneten Planungsebenen berücksichtigt werden, da diese die endgültige Entscheidung bereits weitgehend determinieren können. Als besonders aufschlussreich erwies sich das Forschungsgebiet der deskriptiven Entscheidungstheorie, die sich mit der realitätsnahen Erklärung und Prognose individueller und kollektiver Entscheidungsprozesse beschäftigt. Es konnte nachgewiesen werden, dass reale Entscheidungsprozesse teilweise erheblich vom rationalen ökonomischen Verhaltensmodell abweichen. Es ist offensichtlich, dass das gesetzgeberische Verhaltensmodell ebenfalls von kognitiv begrenzten und fehlerhaften Entscheidungsprozessen ausgeht, da die argumentative Einflussnahme auf einen Arbeitgeber, der bereits alle relevanten Informationen ermittelt und rational verarbeitet hat, schlicht nicht möglich ist. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, wird die Funktion des Betriebsrates deutlich, die Rationalität des unternehmerischen Entscheidungsprozesses im Hinblick auf Arbeitnehmerinteressen zu sichern. Diese Aufgabe fällt dem Betriebsrat aber umso schwerer, je später er in den Entscheidungsprozess einbezogen wird. Der Arbeitgeber verteidigt seine präferierte Lösung umso stärker, je mehr Ressourcen er bereits investiert hat, je mehr bestätigende Informationen er gesammelt hat und je stärker er unter Zeitdruck steht. Aber auch wenn der Arbeitgeber von der grundsätzlichen Überlegenheit einer Alternativlösung überzeugt werden kann, wäre meist eine komplette oder zumindest teilweise Neuplanung erforderlich, der mit Voranschreiten des Prozesses immer größere wirtschaftliche Hindernisse entgegenstehen. 5. Schlussfolgerung Nach dem nunmehr abgeschlossenen Ausflug in die Nachbardisziplinen soll der Bogen jetzt wieder zum Ausgangspunkt gespannt werden. Es gilt die Frage zu beantworten, bis zu welchem Zeitpunkt die Einflussnahme auf einen Planungsprozess noch betriebswirtschaftlich und auch psychologisch sinnvoll ist. Davon ausgehend soll eine allgemeine Definition des Begriffes „rechtzeitig“ ermittelt werden. Diese Definition ist aber noch vorläufiger Natur und erhebt keinen Anspruch auf endgültige Anwendbarkeit für alle relevanten Vorschriften, da sowohl der systematische Regelungszusammenhang, als auch die Besonderheiten der einzelnen Regelungen hier noch nicht berücksichtigt werden können. So hat es gegebenenfalls Auswirkungen auf die Interpretation der Rechtzeitigkeit, dass § 111 S. 1 BetrVG von der Unterrichtung über geplante Betriebsänderungen spricht und sowohl Wirtschaftsausschuss als auch Betriebsrat über Betriebsänderungen zu unterrichten sind. Auch können die

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Einflüsse des Europarechts nicht pauschal auf alle relevanten Vorschriften übertragen werden. Eine endgültige Definition ist daher nur möglich, wenn man den Begriff „rechtzeitig“ eingebettet in seinen jeweiligen Normkontext analysiert. Es wird sich demnach erst im Rahmen des Besonderen Teiles herausstellen, ob für die jeweiligen Normen noch eine Modifikation der allgemeinen Formel erforderlich ist. Bereits festgestellt wurde, dass eine Unterrichtung verspätet ist, wenn bereits Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Ausgehend davon empfiehlt es sich, am Ende des hier zugrunde gelegten Phasenschemas594 zu beginnen und sich zeitlich rückwärts vorzuarbeiten, um die in Betracht kommenden Ansatzpunkte abzuschichten. a) Unterrichtung nach dem Entschluss Denkbar wäre zunächst eine Unterrichtung nach dem Entschluss des Arbeitgebers. In formaler Hinsicht ist die Beeinflussung des Entscheidungsprozesses dann noch möglich, da der Plan auch noch in letzter Minute geändert werden kann. Wie bereits ausgeführt, darf aber nicht der materiell-inhaltliche Stand des Entscheidungsprozesses ausgeblendet werden595. Ebenso bedeutsam ist die Frage, ob die Einflussnahme zu diesem Zeitpunkt auch noch psychologisch und betriebswirtschaftlich sinnvoll möglich ist. Aus dieser Perspektive kann aber nach dem bisher Gesagten kein ernsthafter Zweifel bestehen, dass die Unterrichtung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr rechtzeitig ist. Mit dem Entschluss ist die Meinungsbildung des Arbeitgebers beendet. In psychologischer Hinsicht schlägt dem Betriebsrat dann das gesamte Arsenal irrationaler Verteidigungsstrategien596 entgegen. Das gewählte Konzept wird gegen eine Einflussnahme des Betriebsrates verteidigt und dessen Alternativvorschläge abgewertet, egal wie überlegen diese auch sein mögen. Der Arbeitgeber ist zu diesem Stand des Prozesses schon so auf seine Lösung fixiert, dass er entgegenstehenden Argumenten nur noch schwer zugänglich ist. Dieser Effekt wird zunächst durch den Zeitdruck verstärkt, der in einer dynamischen, globalen Wirtschaft jeden unternehmerischen Entscheidungsprozess prägt und kurz vor dessen Abschluss noch weiter ansteigt. Eine bedeutende Rolle spielen auch die im Laufe des Entscheidungsprozesses für die Planung getätigten Investitionen (Zeit, Aufwand, Geld), die am Ende des Prozesses ihren höchsten Stand erreicht haben. Je mehr der Arbeitgeber in die Planung seines Konzeptes investiert hat, umso stärker wird er diese Alternative auch verteidigen, da die betreffenden Ressourcen anderenfalls umsonst getätigt wurden (sunk cost-Effekt). Ebenfalls auf dem Höhepunkt ist zu diesem Zeitpunkt die Änderungsresistenz der präferierten Alternative. Durch die selektive Informationssuche und -bewertung 594

§ 2 B. III. 4. b) aa). Vgl. § 2 B. III. 2. 596 Vgl. zum Folgenden § 2 B. III. 4. d) cc) (1). Aus Vereinfachungsgründen wird im Folgenden nur vom Arbeitgeber im Singular gesprochen. Die entsprechenden Rationalitätsdefizite gelten aber ebenso für Entscheidungsgremien, vgl. § 2 B. III. 4. d) bb) (2). 595

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hat sich der Arbeitgeber ein bedeutendes Fundament konsonanter Kognitionen aufgebaut, das seine Auffassung stützt und abweichende Auffassungen als nachteilig erscheinen lässt. Aus psychologischer Perspektive ist die Einflussnahme auf einen Entscheidungsprozess nach dem Abschluss der Meinungsbildung somit nicht mehr sinnvoll möglich. Zum gleichen Ergebnis gelangt auch die betriebswirtschaftliche Forschung597. Eine Beteiligung nach dem Abschluss der unternehmerischen Meinungsbildung, die mehr als nur Detailkorrekturen erreichen will, ist zumeist nur noch durch eine komplette Neuplanung möglich. Eine Neuplanung erfordert aber nicht nur weitere finanzielle Investitionen, sondern bringt auch erhebliche Verzögerungen mit sich, die unternehmerische Initiativen bzw. Marktanpassungen verhindern und in der heutigen Zeit fatal sein können. Auch ein überlegener Alternativvorschlag des Betriebsrates kann deshalb oft nicht mehr umgesetzt werden. Diese Erkenntnis resultiert einerseits aus dem prozessökonomisch bedingt eindimensionalen Charakter unternehmerischer Entscheidungsprozesse, die sich oft schon sehr früh auf eine bestimmte Alternative fixieren und deshalb auch nur eine sehr begrenzte Informationsbasis entwickeln. Eine solche Vorgehensweise birgt nicht nur eine hohe Fehleranfälligkeit, sondern hat auch zur Konsequenz, dass auf keine umsetzungsfähigen Alternativentwürfe zurückgegriffen werden kann. Auch die in wirtschaftlichen Unternehmungen stattfindende Arbeitsteilung beeinträchtigt eine nachträgliche Beeinflussung. Sie führt zu einer Untergliederung von Entscheidungsprozessen in hochgradig interdependente Subprozesse, die das Entscheidungsergebnis maßgeblich determinieren. Es ist deswegen ein Gemeinplatz innerhalb der Organisationsforschung, dass die Ergebnisse komplexer Entscheidungsprozesse nachträglich meist noch nicht einmal mehr durch die Unternehmensleitung beeinflussbar sind598. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten wird deutlich, dass eine Auslegung, die eine Unterrichtung nach dem Entschluss ausreichen lässt, die Rechtsposition des Betriebsrates dadurch bis an die Grenze der Bedeutungslosigkeit entwertet. Wenn selbst die überzeugendsten Argumente am Ende des Entscheidungsprozesses ihre Durchschlagskraft verloren haben, kommen Unterrichtung und Beratung nur noch „demokratische Alibifunktion“599 zu. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die hier relevanten Regelungen lediglich Mitwirkungsrechte vorsehen, kann eine solch restriktive Auslegung nicht hingenommen werden. Die Wirksamkeit der Entscheidung hängt dann lediglich von der vorherigen Unterrichtung und Beteiligung, nicht aber von der Zustimmung des Betriebsrates ab600. Der Betriebsrat hat somit keine rechtliche Handhabe, die Entscheidung des Arbeitgebers zu verhindern. Möglich ist 597

Vgl. § 2 B. III. 4. d) cc) (2); ebenso Faßnacht, Unternehmensplanung und Mitbestimmung, S. 184 f.; Gerum, Grundfragen der Arbeitsgestaltungspolitik, S. 219 ff.; ders., ZfP 1997, S. 183, 189; Osterloh, AuR 1986, S. 332, 334. 598 Vgl. § 2 B. III. 4. D) bb) (4) (c). 599 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 25. 600 Vgl. nur FESTL, BetrVG, § 1 Rn. 244; GK-BetrVG/Oetker, vor § 106 Rn. 8.

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aber, der begrenzten Rechtsmacht des Betriebsrates bei der vorliegenden Auslegung Rechnung zu tragen und ihm einen zumindest potentiell effektiven Einsatz des Beratungsrechtes zu ermöglichen. Überdies verstößt eine derart sinnentleerte Veranstaltung gegen den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit gem. §§ 2 Abs. 1 BetrVG, 34 EBRG, 40 SEBG, 42 SCEBG, der als Auslegungsregel601 für die betreffenden Gesetze wirkt und die Betriebspartner zur Berücksichtigung der Interessen des Gegenübers verpflichtet. Es wäre ein Verstoß gegen diesen Grundsatz und würde der darin enthaltenen Forderung nach gegenseitiger „Ehrlichkeit und Offenheit“602 widersprechen, wenn der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat über eine Angelegenheit beraten würde, die in seinen eigenen Augen bereits so gut wie feststeht. Die Unterrichtung des Betriebsrates nach dem Entschluss des Arbeitgebers ist demzufolge verspätet. b) Nach der Alternativenbewertung Zudem ist eine Einbeziehung des Betriebsrates kurz vor dem Entschluss des Arbeitgebers denkbar. Dies ist aber bereits insofern problematisch, als dass der Abschluss der Alternativenbewertung meist mit dem eigentlichen Entschluss zusammenfällt, da die Alternative mit der positivsten Bewertung freilich auch gewählt wird. Eine sinnvolle Abgrenzung wird deswegen nur in größeren Unternehmen mit stärkerer organisatorischer Differenzierung möglich sein, in denen die Planungen durch entsprechende Fachabteilungen durchgeführt und der Unternehmensleitung vorgelegt werden. Aus psychologischer Perspektive sind die Aussichten auf eine erfolgreiche Einflussnahme dann gegebenenfalls etwas besser, da der Arbeitgeber nicht davon überzeugt werden muss, von seiner eigenen Entscheidung abzurücken, sondern nur davon, einer fremden Entscheidung nicht zuzustimmen oder diese zu modifizieren. Dies gilt aber nur, wenn die Leitung gar nicht oder nur oberflächlich in die bisherigen Planungen eingebunden wurde. Zudem ist davon auszugehen, dass der Arbeitgeber zu den Verhandlungen mit dem Betriebsrat auch die Planungsverantwortlichen hinzuzieht, die aber ihre eigene Lösung verteidigen werden. In betriebswirtschaftlicher Hinsicht unterscheiden sich die Unterrichtungen kurz vor und nach der Entscheidung (wenn überhaupt) nur marginal. Änderungen, die über Detailkorrekturen hinausgehen, wären in beiden Fällen meist mit einer kompletten Neuplanung verbunden, der erhebliche zeitliche und finanzielle Hürden gegenüberstehen. Zusammenfassend kann deswegen festgestellt werden, dass auch die Unterrichtung nach der Alternativenbewertung verspätet ist.

601

Vgl. zum BetrVG: DKKW/Berg, BetrVG, § 2 Rn. 4; ErfK/Koch, BetrVG, § 2 Rn. 1; FESTL, BetrVG, § 2 Rn. 22; GK-BetrVG/Franzen, § 2 Rn. 5; Richardi/Richardi, BetrVG § 2 Rn. 18. 602 Vgl. BAG v. 22. 5. 1959 – 1 ABR 2/59 – AP BetrVG 1952 § 23 Nr. 3.

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c) Vor der Alternativenbewertung Ein weiterer denkbarer Ansatzpunkt wäre das Einsetzen der Unterrichtungspflicht nach dem Abschluss der Alternativenermittlung, bevor der Arbeitgeber mit der Bewertung beginnt. Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Arbeitgeber noch nicht für eine bestimmte Alternative entschieden. Obwohl Entscheidungsträger oft auch schon vor dem Entschluss sehr starke Präferenzen für eine Alternative entwickeln, wären die Erfolgsaussichten der Einflussnahme aus psychologischer Perspektive deshalb hier schon deutlich besser. Das setzt aber wiederum voraus, dass der Arbeitgeber tatsächlich mehrere Lösungsalternativen ausgearbeitet hat, was aber nur selten der Realität entspricht, da er aus prozessökonomischen Gründen immer bestrebt sein wird, die Ressourcen für die Lösung eines Problems möglichst gering zu halten. Dementsprechend wird der Suchprozess oft nach dem Auffinden einer erfolgsversprechenden Lösung abgebrochen603. Die Ausarbeitung weiterer Alternativen findet somit oftmals nicht statt. Überdies werden Entscheidungsprozesse teilweise schon bei der Problemdefinition derart verengt, dass das Planungsziel nur noch eine mögliche Vorgehensweise zulässt604. Aber auch wenn der Arbeitgeber mehrere Lösungsalternativen ausgearbeitet hat, ändert das nichts an der Tatsache, dass die Einflussnahme zu spät kommt, um tatsächlich noch Aussicht auf Erfolg zu haben. So wurde ein Großteil der erforderlichen Planungsressourcen bereits investiert. Wenn der Arbeitgeber als Reaktion auf die Verluste einer seiner Betriebe einerseits ein Konzept zur Stilllegung und andererseits eines zur Verlagerung ins Ausland erstellen lässt, sind beide Alternativen für den Betriebsrat inakzeptabel. Er müsste den Arbeitgeber überzeugen, zwei umsetzungsfähige Pläne wieder zu verwerfen und noch mehr Zeit und Geld in die Ausarbeitung eines neuen arbeitnehmerfreundlicheren Konzeptes zu investieren. Nicht zu vergessen, dass der Betriebsrat auch in kürzester Zeit zumindest in Umrissen einen Alternativentwurf erstellen muss, um seine Ideen noch einbringen zu können. Eine Unterrichtungspflicht nach dem Abschluss der Entwicklung von Lösungsalternativen ermöglicht dem Betriebsrat bestenfalls eine wirksamere Beeinflussung in Detailfragen. Eine effektive Beteiligung bis hin zur Prävention sozial belastender Maßnahmen ermöglicht sie aber nicht mehr. d) Unterrichtung vor der Alternativenermittlung Geht man noch weiter im Phasenschema zurück, ist man nun an den Anfang des Entscheidungsprozesses gelangt, den Phasen der Problem- und Zieldefinition und deren informationeller Analyse. Eine Unterrichtung nach diesen beiden Arbeits603 Vgl. Bendixen, Unternehmensorganisation, S. 125; Pfohl/Stölzle, Planung und Kontrolle, S. 238 f.; vgl. ebenfalls die Untersuchungen Herbert A. Simons und auch die oben [§ 2 B. III. 4. d) (3)] angesprochene Studie zur Standortwahl, in der die befragten Unternehmen in nahezu der Hälfte der Fälle (46 %) nur eine Alternative in Betracht zogen. 604 Vgl. das Beispiel oben § 2 B. III. 4. d) bb) (3).

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schritten, bevor der Arbeitgeber in konkrete Überlegungen über die denkbaren Lösungsalternativen einsteigt, ermöglicht jedenfalls aus betriebswirtschaftlicher Perspektive noch eine sinnvolle Einflussnahme. Dies resultiert zum einen aus der Tatsache, dass die Planung zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht so detailliert ausgearbeitet wurde, dass eine komplette Neuplanung erforderlich ist. Der Prozess ist zu diesem Zeitpunkt durch die Unternehmensleitung wesentlich effektiver steuerbar, da noch nicht so viele, nachträglich schwer nachvollziehbare, Zwischenund Ermessensentscheidungen getroffen wurden. Zwar ist es schwer, verallgemeinernde Aussagen über die Entwicklung des Zeitdrucks zu treffen, da es freilich auch Entscheidungsprozesse geben wird, denen von Anfang nur ein sehr geringes Zeitbudget zur Verfügung steht. Trotzdem wird man behaupten können, dass der bestehende Zeitdruck in diesem Stadium des Prozesses zumindest geringer ist als an dessen Ende. Sollten die Argumente des Betriebsrates tatsächlich überzeugend sein, so wird deren Berücksichtigung jetzt zumindest noch nicht durch eine zeitliche Deadline oder ein begrenztes Planungsbudget verhindert. In psychologischer Hinsicht bietet sich ein ambivalentes Bild. So ist es durchaus denkbar, dass sich der Arbeitgeber bereits zu Beginn des Entscheidungsprozesses definitiv für eine bestimmte Lösung entschieden hat, etwa wenn er das gleiche Problem schon einmal auf diese Weise gelöst hat, oder weil er sich die Vorgehensweise eines Konkurrenten zum Vorbild nimmt. Diese Fälle sind aber schlicht nicht vermeidbar. Das Gesetz kann und will dem Arbeitgeber nicht eine ergebnisoffene Denkweise aufzwingen, sondern nur dem Betriebsrat die Chance zu einer sinnvollen Einflussnahme ermöglichen. Diese Chance ist zumindest bei einem Arbeitgeber, der ohne Festlegungen in die Planung einsteigt oder nur eine leichte Präferenz für eine bestimmte Vorgehensweise aufweist, noch durchaus existent und durch deutlich höhere Erfolgsaussichten gekennzeichnet, als nach oder kurz vor dem Abschluss der Meinungsbildung. Und auch wenn er eine bestehende Präferenz verteidigt, wird er dies mit wesentlich geringeren Anstrengungen als nach dem Abschluss seiner Willensbildung tun, wo er sich gegenüber sich selbst und dem ganzen Unternehmen für die gewählte Alternative rechtfertigen muss. So ist vor allem der sunk-cost-Effekt noch nicht sehr stark ausgeprägt, da die bisher getätigten Investitionen in der Regel noch kein erheblich urteilsverzerrendes Maß erreicht haben werden. Auch die Änderungsresistenz einer präferierten Alternative ist hier noch wesentlich kleiner, als nach deren vertiefter informationeller Fundierung. Die Einschaltung des Betriebsrates vor der Phase der Alternativenermittlung ist demzufolge in betriebswirtschaftlicher und psychologischer Hinsicht noch sinnvoll. Zu diesem Zeitpunkt hat der Betriebsrat noch eine realistische, greifbare Chance, Arbeitnehmerinteressen in den Willensbildungsprozess des Arbeitgebers zu implementieren. Freilich ist dieser Zeitpunkt hinsichtlich der Effektivität der Einflussnahme immer noch nicht optimal. Bereits am Anfang jedes Prozesses werden oftmals schon bedeutende Weichenstellungen erfolgen, auf die der Betriebsrat nach dieser Lösung nur noch nachträglich Zugriff erhält. Es ist offensichtlich, dass dessen Erfolgs-

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chancen somit noch einmal gesteigert könnten werden, wenn man ihn noch früher einbeziehen würde. Diese realitätsbezogene Betrachtungsweise stößt hier aber an ihre rechtlichen Grenzen. Jede Einflussnahme erfordert denknotwendig auch einen Gegenstand, an den sie anknüpfen kann. Hier handelt es sich um die verschiedenen Planungsprozesse, die der Gesetzgeber in den konkreten Unterrichtungsvorschriften der Mitbestimmung unterworfen hat. Die Unterrichtungspflicht kann demnach frühestens entstehen, nachdem sich der Arbeitgeber bereits ein Bild von dem entsprechenden Sachverhalt gemacht und eine zumindest rudimentäre Meinung gebildet hat, die als Gesprächsgrundlage dienen kann. Allerdings ist das Planungssystem eines Unternehmens durch eine Vielzahl von Verknüpfungen gekennzeichnet. Die zahlreichen Interdependenzen zwischen den einzelnen Plänen führen dazu, dass sich Planung als gleichsam unendlicher Vorgang darstellt. Insofern lässt sich fast jeder mitbestimmungsrechtlich relevante Planungsprozess auf eine Vielzahl von Überlegungen und Vorentscheidungen in der Vergangenheit zurückführen. Will man nicht die gesamte unternehmerische Willensbildung der Mitbestimmung unterwerfen, muss demnach eine klare Grenze gezogen werden. Diese soll an anhand eines Urteils des Arbeitsgerichtes Stuttgart illustriert werden605. Zugrunde lag ein Fall, in dem die Arbeitgeberin im Jahre 2003 beschlossen hatte, ein Nachfolgeprodukt nicht mehr in Deutschland, sondern in Portugal herstellen zu lassen. Das Arbeitsgericht stellt selbst fest, dass sich die Auswirkungen der Entscheidung gegebenenfalls erst im Jahre 2007 ergeben könnten und dass die Arbeitgeberin noch nicht konkret plante, wie dem Stückzahlenrückgang in Zukunft begegnet werden sollte. Insofern kämen mit der Entwicklung eines alternativen Produktes oder der Veräußerung des Betriebes auch zwei mitbestimmungsfreie Maßnahmen in Betracht. Gerade diese Planungen sollen nach Auffassung des Gerichts aber durch den Betriebsrat von Anfang an mitbegleitet werden, damit dieser nicht irgendwann vor vollendete Tatsachen gestellt wird606. Dementsprechend wurde das Bestehen der Unterrichtungs- und Beratungspflicht aus § 111 S. 1 BetrVG bejaht. Auslöser der Mitbestimmungspflicht ist damit bereits eine Entscheidung des Arbeitgebers, die die bloße Gefahr einer möglichen Betriebsänderung in sich trägt. Das Gericht legt seiner Gefahrenprognose dabei einen Horizont von vier Jahren zugrunde, was in der schnelllebigen Wirtschaft des 21. Jahrhunderts zumindest als kühn bezeichnet werden muss607. Lässt man aber derart dünne Verbindungslinien zu 605 ArbG Stuttgart v. 15. 7. 2004 – 21 BV 175/04 – NZA-RR 2004, S. 537 f. Das Urteil wurde in der nächsten Instanz wieder aufgehoben. Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 27. 9. 2004 – 4 TaBV 3/04 – NZA-RR 2005, S. 195 ff. 606 ArbG Stuttgart v. 15. 7. 2004 – 21 BV 175/04 – NZA-RR 2004, S. 537, 538. 607 Sehr kritisch Rieble, NZA 2004, S. 1029, 1030: „Seine Erwägung ist eine Anmaßung von Wissen bei der Beurteilung komplexer Phänomene – eine typische arbeitsrichterliche Selbstüberschätzung.“

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einer mitbestimmungsrechtlich relevanten Maßnahme ausreichen, kann man fast jede unternehmerische Entscheidung als Auslöser für die Unterrichtungspflicht heranziehen. So könnte man auch die Schließung der Forschungs- und Entwicklungsabteilung als handfeste Vorstufe einer Betriebsstilllegung ansehen, da sich der unternehmerische Wille manifestiert, keine Nachfolgeprodukte mehr zu entwickeln608. Dass ein solches Vorgehen eine erhebliche Rechtsunsicherheit mit sich bringen würde, liegt auf der Hand. Das Damoklesschwert der Sanktionsvorschriften (z. B. §§ 113 Abs. 3, 121 Abs. 1 BetrVG) wäre für den Arbeitgeber ein ständiger Begleiter, da es für ihn kaum mehr erkennbar wäre, wann er den beteiligungspflichtigen „Gefahrenbereich“ betritt. Aber auch wenn man es für möglich hält, objektive und für jedermann nachvollziehbare Abgrenzungskriterien aufzustellen, kommt man trotzdem nicht daran vorbei, dass durchweg eine rechtzeitige Unterrichtung über eine konkrete Planung angeordnet ist und nicht über Entscheidungen oder Überlegungen, die gegebenenfalls einmal zu einer solchen Planung führen könnten. Es ist durchaus denkbar, dass sich die Arbeitgeberin im vorliegenden Fall zunächst auf die Suche nach Käufern für den Betrieb gemacht hätte, ohne eine Betriebsänderung in Betracht zu ziehen609. Könnte der Betriebsrat trotzdem schon die Unterrichtung und Beratung erzwingen, würde man ihm damit gleichsam ein Initiativrecht einräumen, welches zumindest in wirtschaftlichen Angelegenheiten gerade nicht vorgesehen ist610. Überdies wäre schlicht noch kein Unterrichtungs- und Beratungsgegenstand existent, wenn sich der Arbeitgeber noch keine Gedanken zu dem konkreten Beteiligungsgegenstand gemacht hat, sondern lediglich eine Vorentscheidung getroffen hat, die möglicherweise einmal eine entsprechende Planung erforderlich machen könnte. e) Beginn der Alternativenermittlung aa) Entschluss zur Planung Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass das Einsetzen der Unterrichtungspflicht nicht nur mit der bloßen Gefahr, sondern überdies noch mit der konkreten Planung einer beteiligungspflichtigen Maßnahme einhergehen muss. Die konkrete Planung beginnt am Anfang der Phase der Alternativenermittlung, wenn der Arbeitgeber ein Entscheidungsproblem formuliert und informationell analysiert hat und sich nun entschließt, zur Lösung dieses Problems eine beteiligungspflichtige 608

Weitere Beispiele bei Rieble, NZA 2004, S. 1029, 1030. Nach ganz herrschender Meinung unterliegt ein Betriebsübergang nicht der Beteiligungspflicht im Rahmen des § 111 BetrVG. Vgl. BAG v. 16. 5. 2002 – 8 AZR 319/01 – AP BGB § 613a Nr. 237; BAG v. 26. 04. 2007 – 8 AZR 695/05 – AP InsO § 125 Nr. 4; ErfK/Kania, BetrVG, § 111 Rn. 12; FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 50; Franzen, FS Birk, S. 97, 103; Gamillscheg, KollArbR II, S. 1114 f.; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 175; Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 124 m. w. N.; a. A. DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 125; Simon, ZfA 1987, S. 311, 317 f. 610 Ebenso Rieble, NZA 2004, S. 1029, 1030. 609

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Maßnahme auszuarbeiten611. Im Zuge dieser Planung soll ermittelt werden, ob diese Maßnahme überhaupt als Lösung des definierten Problems geeignet ist. Die Entscheidung über das „Ob“ der Maßnahme ist somit noch nicht gefallen, aber der Arbeitgeber zieht sie ernsthaft in Betracht. Die konkrete Planung beginnt hingegen nicht erst dann, wenn der Arbeitgeber Überlegungen über die Umsetzung, das „Wie“ der Maßnahme, anstellt. Zunächst lassen sich beide Aspekte nicht sachgemäß trennen, eine Unterscheidung wäre somit künstlich. Die Entscheidung, ob eine Maßnahme durchgeführt werden soll, wird freilich nicht ohne Blick auf deren Umsetzungsmöglichkeiten getroffen612. Außerdem ist insbesondere bei sozial belastenden Maßnahmen gerade die Frage des „Ob“ die bedeutendste Weichenstellung. Es kann daher nicht überzeugen, wenn man dem Betriebsrat den vorherigen argumentativen Zugriff auf diesen zentralen Aspekt erst nachträglich gestattet. Die beteiligungspflichtige Maßnahme muss dabei auch nicht die einzige in Betracht kommende Alternative sein. Die Unterrichtungspflicht wird ausgelöst, wenn sich unter den in Betracht gezogenen Alternativen ein Planungsgegenstand befindet, der der Mitbestimmung unterworfen ist. Übertragen auf die angesprochene Entscheidung des ArbG Stuttgart, würde die Unterrichtungspflicht demzufolge einsetzen, wenn die Unternehmensleitung eine Betriebsstilllegung als Konsequenz in Betracht zieht und mit der Erstellung eines entsprechenden Konzeptes beginnt, um deren Vor- und Nachteile zu prüfen. Der Betriebsrat hat nun die Möglichkeit, sich ein Bild von den betriebswirtschaftlichen Rahmendaten zu machen und die Spielräume für Modifikationen oder Alternativlösungen zu erkunden, die dann mit dem Arbeitgeber beraten werden können. Eine andere Beurteilung würde sich auch nicht ergeben, wenn parallel die Suche nach möglichen Käufern stattfindet, da die andere Planung währenddessen weiter voranschreitet. Der Arbeitgeber könnte den Unterrichtungszeitpunkt ansonsten nach Belieben hinauszögern, indem er sich darauf beruft, dass gleichzeitig noch Überlegungen über eine mitbestimmungsfreie Maßnahme stattfinden und noch keine Entscheidung über das „Ob“ der Maßnahme gefallen sei. Mit solch einer „Alibi-Planung“ könnte deshalb der Zweck der rechtzeitigen Unterrichtung vereitelt werden. Andererseits kann es auch keinen Unterschied machen, wenn der Arbeitgeber von Anfang an nur eine (beteiligungspflichtige) Maßnahme in Betracht zieht. Die Unterrichtungspflicht setzt trotzdem erst ein, wenn der Arbeitgeber mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Konzeptes beginnt. Das Gesetz kann dem Arbeitgeber nicht eine ergebnisoffene Denkweise aufzwingen, sondern nur die Einbeziehung des Betriebsrates in einem Planungsstadium, zu dem er noch sinnvoll Einfluss nehmen kann. Beginnend mit seinem Planungsentschluss ist der Arbeitgeber verpflichtet, regelmäßig über den aktuellen Stand der Planung zu unterrichten und zu beraten 611 Die „konkrete Planung“ setzt nach dem Verständnis von Keim (BB 1980, S. 1331, 1332) hingegen erst mit der Ausführungsplanung ein, d. h. wenn die Planung „dazu dient, den arbeitgeberischen Willen in die Praxis umzusetzen.“ 612 Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 37; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1303; vgl. dazu ausführlich unten § 3 B. I. 1. b) bb).

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(„laufende Unterrichtung“)613. Um eine gleichberechtigte und sinnvolle Beteiligung zu ermöglichen, hat er nach dem Grundsatz der „Informationsparität“614 dem Betriebsrat alle Informationen zur Verfügung zu stellen, die er seinen Planungen zugrunde legt615. Es kann zudem keinen Unterschied machen, ob die Planungen intern durchgeführt werden, oder ob ein externes Beratungsunternehmen mit der Bearbeitung der Problematik beauftragt wird616. Würde man dies anders sehen, könnte sich der Arbeitgeber seinen gesetzlichen Pflichten ohne weiteres entziehen. Durch entsprechende Vereinbarungen ist deshalb von Anfang an sicherzustellen, dass der Betriebsrat seine Rechte auch in dem betrauten Unternehmen wahrnehmen kann617. bb) Arbeitgeberinteressen Zu berücksichtigen sind aber ebenfalls die entgegenstehenden Interessen des Arbeitgebers. Zunächst wird bei einer prozessbezogenen Partizipation im Vergleich zur ergebnisbezogenen Partizipation die Gefahr gesteigert, dass Informationen nach außen dringen. Je länger der Betriebsrat über Informationen verfügt, desto größer ist auch das Risiko, dass dessen Mitglieder diese auch weitergeben. Es wäre zu einfach, diese Bedenken mit einem schlichten Verweis auf die sanktionsbewehrten Geheimhaltungspflichten der entsprechenden Gesetze618 beiseite zu wischen. Nur weil etwas verboten ist, heißt das noch lange nicht, dass es deswegen auch nicht geschieht619. Dieser Gedanke kommt auch in den §§ 106 Abs. 2 S. 1 2. Hs. BetrVG, 35 Abs. 1 EBRG, 41 Abs. 1 SEBG, 43 Abs. 1 SCEBG zum Ausdruck, die eine Beschränkung der Unterrichtungspflicht erlauben, soweit Betriebs- oder Geschäfts613

Vgl. dazu ausführlich oben § 2 B. III. 4. b) cc); ebenso BAG v. 11. 12. 1991 – 7 ABR 16/ 91 – AP BetrVG 1972 § 90 Nr. 2; DKKW/Klebe, BetrVG, § 90 Rn. 22; DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 Rn. 97; GK-BetrVG/Oetker, § 92 Rn. 24; Richardi/Annuß, BetrVG, § 92 Rn. 26; FESTL, BetrVG, § 90 Rn. 10. 614 DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 47; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 365. 615 Vgl. nur BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2; LAG Köln v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1; Blanke, EBRG, § 32 Rn. 9; DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 41 f.; DKKW/Däubler, § 106 Rn. 49, § 111 Rn. 163 f.; DKKW/Bachner, BetrVG, § 30 EBRG Rn. 6; Oetker/Schubert, EAS B 8300 Rn. 209, 230; FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 31; § 106 Rn. 34, § 111 Rn. 111; GK-BetrVG/Oetker, § 92 Rn. 25, § 106 Rn. 107, § 111 Rn. 177 f.; Hohenstatt, NZA 1998, S. 846, 847 f.; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 328; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 365. 616 LAG Hamburg v. 20. 6. 1985 – 7 TaBV 10/84 – DB 1985, S. 2308; LAG SchleswigHolstein v. 14. 12. 1993 – 1 TaBV 3/93 – AuR 1994, S. 202; DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 44; FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 31. 617 So auch LAG Hamburg v. 20. 6. 1985 – 7 TaBV 10/84 – DB 1985, S. 2308. 618 §§ 79 Abs. 1 S. 1 BetrVG, 35 Abs. 2 S. 1 EBRG, 41 Abs. 2 S. 1 SEBG, 43 Abs. 2 S. 1 SCEBG. 619 So aber offenbar Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 208.

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geheimnisse des Unternehmens gefährdet werden. Durch diese Zurückbehaltungsrechte bringt der Gesetzgeber aber auch zum Ausdruck, dass die abstrakte Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Indiskretionen durch eine Beteiligung im Vorfeld der Entscheidung keine Rolle spielen kann620. Da jede Offenbarung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen die abstrakte Gefahr einer unbefugten Weitergabe erhöht621, muss für deren Zurückhaltung ein konkreter Anlass bestehen. Dazu gehören beispielsweise verdächtige persönliche Umstände eines Mitgliedes oder wenn es sich um ein so bedeutendes Geheimnis handelt, dass dessen Offenbarung Bestand und Arbeitsweise des Unternehmens erheblich beeinträchtigen oder schädigen könnte622. Auf die abstrakte Gefährdungslage wird gerade nicht abgestellt. Würde man zur Ermittlung des Unterrichtungszeitpunktes auf die ohnehin wohl nur marginale Erhöhung der abstrakten Wahrscheinlichkeit abstellen, würde dies überdies zu paradoxen Konsequenzen führen. So müsste man kleineren Betriebsräten auch einen früheren Unterrichtungszeitpunkt als ihren größeren Pendants gewähren, da die Wahrscheinlichkeit einer Indiskretion bei ersteren aufgrund der geringeren Personenanzahl statistisch geringer ist. Dass die in der Regel besser ausgestatteten und sachkundigeren großen Betriebsräte, denen eine effektive Einflussnahme wohl eher möglich sein wird, später in den Entscheidungsprozess einbezogen werden sollen, leuchtet aber nicht ein. Die bloße abstrakte Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Geheimnisverrat hat demnach keinen Einfluss auf den Unterrichtungszeitpunkt. Denkbare entgegenstehende Interessen sind nunmehr noch die Erhöhung des finanziellen Aufwands und die Verzögerung unternehmerischer Prozesse und damit zwei übliche Verdächtige der allgemeinen Mitbestimmungsdiskussion. Es ist aber müßig darüber zu diskutieren, ob es oft nicht sogar einen zeitlichen und finanziellen Vorteil für den Arbeitgeber bietet, bereits am Anfang eines Entscheidungsprozesses auf dessen Fehler aufmerksam gemacht zu werden, als erst kurz vor dessen Ende. Eine solche Diskussion wäre nicht rechtlicher, sondern rechtspolitischer Natur und hat keine Bedeutung für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften. Der Gesetzgeber hat zu den finanziellen Grenzen der Betriebsratsarbeit in den §§ 40 BetrVG, 39 EBRG, 33 SEBG, 33 SCEBG abschließend Stellung genommen. Darüber hinaus richtet sich der zeitliche und finanzielle Aufwand der Mitbestimmung danach, wie viel für eine effektive Verwirklichung der gesetzlichen Vorschriften erforderlich ist und nicht umgekehrt. Dem ermittelten Unterrichtungszeitpunkt stehen demnach keine Arbeitgeberinteressen gegenüber, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würden.

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a. A. Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 27. GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 141; Richardi/Annuß, BetrVG, § 106 Rn. 34. 622 BAG v. 11. 07. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 142 f.; ErfK/Kania, BetrVG, § 106 Rn. 6; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 62; Blanke, EBRG, § 39 Rn. 7. 621

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§ 2 Allgemeiner Teil

IV. Ergebnis Die Unterrichtung über eine beteiligungspflichtige Maßnahme ist rechtzeitig, wenn sie zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem der Betriebsrat die ihm obliegenden Aufgaben noch ordnungsgemäß wahrnehmen kann. Im ganz überwiegenden Teil der hier relevanten Vorschriften ist diese Aufgabe die Beratung oder Anhörung über den entsprechenden Beteiligungsgegenstand623. Dem Betriebsrat soll dadurch die Möglichkeit gewährt werden, Einfluss auf die Entscheidung des Arbeitgebers nehmen zu können, bevor diese umgesetzt wird. Dafür ist zunächst erforderlich, dass noch ausreichend Zeit verbleibt, damit sich der Betriebsrat eine Meinung zu der betreffenden Maßnahme bilden und einen substanziellen Meinungsaustausch mit dem Arbeitgeber durchführen kann. Die Beeinflussung des Arbeitgebers muss aber zudem nicht nur formal möglich sein, sondern überdies zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem noch eine realistische Erfolgschance besteht. Dies ist der Fall, wenn die Beeinflussung noch betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvoll möglich ist. Eine interdisziplinäre Analyse der Eigenschaften unternehmerischer Willensbildungsprozesse zeigt dabei ganz deutlich, dass die Einflussnahme nach oder kurz vor dem Abschluss der Meinungsbildung des Arbeitgebers nicht mehr sinnvoll möglich ist. Erforderlich ist vielmehr eine Beteiligung des Betriebsrates am vorgelagerten Entscheidungsprozess. Aus dem Gesetz ergibt sich andererseits aber auch deutlich, dass für die Aktivierung der Unterrichtungspflicht ein hinreichend konkreter Bezug zur beteiligungspflichtigen Planung gegeben sein muss. Der Arbeitgeber verlässt demnach erst den Bereich beteiligungsfreier Vorüberlegungen, wenn er eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme ernsthaft als Lösung in Betracht zieht und sich zu deren Ausarbeitung entschließt.

623 Vgl. 90 Abs. 1 und 2, 92 Abs. 1 S. 1, 106 Abs. 2 S. 1, 111 S. 1 BetrVG; 17 Abs. 2 S. 1 KSchG; 29 Abs. 1, 29 Abs. 1, 30 Abs. 1 S. 1 EBRG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SEBG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SCEBG.

§ 3 Besonderer Teil Im Folgenden sollen die im Rahmen des Allgemeinen Teils gewonnenen Erkenntnisse auf die konkreten Beteiligungsvorschriften angewendet werden, die eine rechtzeitige Unterrichtung anordnen. Abschließend wendet sich die Bearbeitung dann einer Untersuchung des Spannungsverhältnisses mit der Kapitalmarktpublizität zu.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften I. Die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG Mit der Rahmenrichtlinie 2002/14/EG ist bei der Auslegung betriebsverfassungsrechtlicher Mitwirkungsvorschriften seit dem 31. 3. 2005 eine weitere normative Ebene zu berücksichtigen. An diesem Tag lief die Umsetzungsfrist für die Richtlinie ab, die der deutsche Gesetzgeber verstreichen ließ, da er – zu Unrecht1 – der Auffassung war, dass deren Anforderungen bereits im bestehenden nationalen Recht enthalten sind2. Das BetrVG und auch das BPersVG bzw. die Personalvertretungsgesetze der Länder sind seitdem entsprechend dem Grundsatz des effet utile (Art. 4 Abs. 3 EUV) dergestalt auszulegen, dass der Richtlinie zu voller Wirksamkeit verholfen wird3. Regelungsgegenstand der Richtlinie, die Reichold als „Durchbruch zu einer europäischen Betriebsverfassung“4 adelt, ist die „Festlegung eines Rahmens mit Mindestvorschriften für das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Ar1

Vgl. dazu unten § 3 A. II. 2. b). KOM(2008) 0146 endg. Rz. 2.1.; vgl. auch LAG Stuttgart v. 21. 10. 2009 – 20 TaBVGa 1/ 09 – n. v. 3 Vgl. nur EuGH v. 19. 1. 2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci – Slg. 2010, I-00365 Rn. 47 m. w. N.; Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 Rn. 77 f.; Canaris, FS Bydlinski, S. 47 ff.; Riesenhuber/Roth, Europäische Methodenlehre, S. 393 ff.; Auch das deutsche Verfassungsrecht verpflichtet über Art. 23 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 den Richter zur richtlinienkonformen Auslegung (vgl. Riesenhuber/Roth, Europäische Methodenlehre, S. 411). Die richtlinienkonforme Auslegung ist nicht nur auf ein explizit erlassenes Transformationsgesetz anzuwenden, sondern auch wenn ein solches gar nicht erlassen wurde, oder Lücken aufweist. Vgl. EuGH v. 13. 11. 1990 – Rs. C-106/89 Marleasing – Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer – Slg. 2004, I-8835 Rn. 115; Grabitz/Hilf/Wolf, Recht der Europäischen Union IV, A 1 Rn. 29; Riesenhuber/Roth, Europäische Methodenlehre, S. 401 f. 4 Reichold, NZA 2003, S. 289, 291. 2

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§ 3 Besonderer Teil

beitnehmer von in der Gemeinschaft ansässigen Unternehmen oder Betrieben.“5 Anstoß für ihren Erlass waren die Massenentlassungen, die der französische Autohersteller Renault im Jahre 1997 in einem seiner Werke im belgischen Vilvoorde ohne vorherige Information und Anhörung der Belegschaft durchführen wollte6. Verstärkt durch das große öffentliche Aufsehen des Falles reifte in Brüssel die Erkenntnis, dass der bestehende Rechtsrahmen bei sozial belastenden Maßnahmen keine ausreichende Arbeitnehmerbeteiligung gewährleistet. Die Richtlinie ist Baustein eines Regelungsprozesses7, der in den siebziger Jahren mit den Richtlinien zu Massenentlassungen8 und Betriebsübergängen9 begann und mittlerweile so weit gediehen ist, dass dem Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer auf europäischer Ebene heute ein beachtlicher „acquis communautaire“ attestiert wird10. Dies äußert sich unter anderem darin, dass das Recht zur rechtzeitigen Beteiligung im Jahre 1989 in Nr. 17 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte11 und im Jahre 2000 in Gestalt von Art. 27 in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union12 aufgenommen wurde, die in ihrer aktuellen Fassung nunmehr gem. Art. 6 Abs. 1 EUV primärrechtliche Wirkung entfaltet13. Auch in Art. 153 Abs. 1 lit. e) AEUV werden Unterrichtung und Anhörung ausdrücklich erwähnt. Weitere sekundärrechtliche Puzzleteile zur Vervollständigung und Verstärkung des europäischen Schutzniveaus waren die Richtlinien zur Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates14, zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft15 und zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Genossenschaft16. Zudem wurden die Unterrichtungs- und Anhö-

5

Art. 1 Abs. 1 der RL 2002/14/EG. Vgl. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 294; Reichold, NZA 2003, S. 289; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 474 f. Die RL 2002/14/EG wird deshalb auch als „Renault-Richtlinie” bezeichnet. Die Unternehmensleitung wurde lediglich zur Zahlung einer geringen Geldbuße verurteilt, während die belgischen Gerichte Unterlassungsverfügungen erließen. Vgl. Cour d’Appel de Versailles v. 7. 5. 1997 – Reg. Nr. 2780/97 – AuR 1997, S. 299 ff.; Lorenz/Zumfelde, RdA 1998, S. 168, 169 f. 7 Ausführlich zur Entwicklung Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 1 ff.; vgl. zudem HaKoBetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 2 f.; Reichold, NZA 2003, S. 289, 290. 8 RL 75/129/EWG = ABl. EG (1975) L 48 S. 29 ff.. 9 RL 77/178/EWG = ABl. EG (1977) L 61 S. 26 ff. 10 Vgl. die offiziellen Konventserklärungen zur Grundrechtecharta der Europäischen Union: Conv 828/03, S. 28; ebenso Meyer/Eibe/Riedel, GRCh, Art. 27 Rn. 10. 11 KOM(89) 248 endg. 12 ABl. EG (2000) C 364, S. 1 ff. 13 Die Charta wurde im Jahre 2010 erneut veröffentlicht. Vgl. ABl. EU (2010) C 83/02, S. 389 ff. 14 RL 94/95/EG = ABl. EG (1994) L 254, S. 64 ff. 15 RL 2001/86/EG = ABl. EG (2001) L 294, S. 22 ff. 16 RL 2003/72/EG = ABl. EG (2003) L 207 S. 25 ff. 6

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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rungsrechte in der Massenentlassungs-, der Betriebsübergangsrichtlinie und der EBR-Richtlinie bei deren Novellierungen17 noch weiter verstärkt18. Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, welche Mindestanforderungen die Richtlinie für die rechtzeitige Unterrichtung betrieblicher Arbeitnehmervertreter aufstellt. Der Einfluss auf das BetrVG und die Frage, welche Beteiligungsrechte zur Erfüllung der europäischen Vorgaben herangezogen werden können, wird dann im Rahmen der jeweiligen Vorschriften erörtert. 1. Beschäftigungspolitische Konzeption a) Mitbestimmung als Instrument der Wirtschaftsförderung Die Richtlinie ist Ausdruck einer beschäftigungspolitischen Konzeption, die auf europäischer Ebene schon seit langem auf der Agenda steht19. Tatsächlicher Hintergrund ist der durch die technische Entwicklung und eine immer stärkere internationale Verflechtung und Konkurrenz angetriebene wirtschaftliche Wandel hin zu einer wissens- und innovationsorientierten Wirtschaftsordnung20. Die Belegschaft und deren Fähigkeit Wissen zu schaffen und umzusetzen, sei dabei eine Hauptressource21. Allerdings könne die Fähigkeit zu ständiger Verbesserung und zu einem hohen Maß an Flexibilität bei der Produktion nur erlangt werden, wenn Unternehmensleitung und Arbeitnehmer in partnerschaftlicher Zusammenarbeit an einem Strang ziehen22. Das Arbeitsrecht wird deswegen als „wichtiges Strukturelement unserer Wirtschaftsordnung“23 angesehen, das nicht nur einer politischen, sondern auch einer ökonomischen Logik folgt24.

17 RL 98/59/EG = ABl. EG (1998) L 225 S. 16 ff.; RL 2001/23/EG = ABl. EG (2001) L 82 S. 16 ff.; RL 2009/98/EG = ABl. EU (2009) L 122 S. 28 ff. 18 HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 2. 19 Vgl. Kohte, FS 50 Jahre BAG, S. 1219, 1229 f.; Reichold, NZA 2003, S. 289, 291; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 474. 20 Vgl. dazu ausführlich Abele/Kluge/Näher, Handbuch Globale Produktion, S. 6 ff.; Kissel, NJW 1994, S. 217 ff.; Mikl-Horke, Industrie- und Arbeitssoziologie, S. 401 ff. 21 Grünbuch zu einer neuen Arbeitsorganisation „im Geiste der Partnerschaft”, KOM (97) 128 endg., S. 10. 22 KOM (97) 128 endg., S. 10. 23 Jacobs, NZA 1999, S. 23. 24 Vgl. Weißbuch zur Europäischen Sozialpolitik, KOM(94) 333 endg., S. 4 f.; Grünbuch zu einer neuen Arbeitsorganisation „im Geiste der Partnerschaft”, KOM (97) 128 endg., S. 8 ff.; Sozialpolitische Agenda KOM(2000) 379 endg., S. 5 ff.; Mitteilung der Kommission: Umstrukturierungen antizipieren und begleiten und die Beschäftigung fördern, KOM(2005) 120 endg.; Grünbuch Arbeitsrecht KOM(2006) 798 endg., S. 3 f.; Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses SOC/220 – CESE 1170/2006, S. 12; Ebenso auch die beschäftigungspolitischen Leitlinien des Rates der Europäischen Union in Oetker/Preis, EAS, A 5440, 5470; vgl. zudem Hanau, RdA 1999, S. 159, 163; Reichold, NZA 2003, S. 289, 291.

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§ 3 Besonderer Teil

Die unmittelbare geistige Verwandschaft der RL 2002/14/EG mit dieser Sichtweise zeigt sich an deren Erwägungsgründen, die den positiven ökonomischen Konsequenzen von Unterrichtung und Anhörung bemerkenswert viel Raum und Gewicht geben25 : So wird darauf hingewiesen, dass die rechtzeitige Einbeziehung der Arbeitnehmer in die Gestaltung der Unternehmenszukunft nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens steigere26, sondern sogar „eine Vorbedingung für die erfolgreiche Bewältigung der Umstrukturierungsprozesse und für eine erfolgreiche Anpassung der Unternehmen an die im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft geschaffenen (…) neuen Bedingungen“27 sei. Mitbestimmung stellt sich aus dieser Perspektive gleichsam als Instrument der Wirtschaftsförderung dar. Auch auf nationaler Ebene wurde dieser Gedanke schon oft aufgegriffen. So betonten die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im Rahmen der Beratungen zum EBRG (1994) bemerkenswert deutlich die positiven ökonomischen Konsequenzen einer frühzeitigen Beteiligung der Arbeitnehmer28. In den Materialien zum BetrVGReformgesetz aus dem Jahre 2001 schloss sich auch die rot-grüne Bundesregierung der Auffassung an, dass die betriebliche Mitbestimmung ein „Standortvorteil“29 sei und deren Stärkung die „Produktivität von Unternehmen und damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“30 steigere. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion wird vielfach darauf hingewiesen, dass die institutionalisierte Berücksichtigung der Sachkunde der Arbeitnehmer und deren abweichenden Sichtweisen eines Entscheidungsproblems den Argumentationshaushalt des unternehmerischen Entscheidungsprozesses bereichert und eine rationale Unternehmenspolitik unterstützt31. Dies komme wiederum den Beschäftigten zugute, die an einem gesunden 25

Vgl. dazu auch Reichold, NZA 2003, S. 289, 291. Erwägungsgrund Nr. 7. 27 Erwägungsgrund Nr. 9; vgl. zudem Erwägungsgrund Nr. 14. 28 Stellungnahme der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drs. 13/5608, S. 31: „Die Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. betonten, daß die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe nicht nur auf den engeren wirtschaftlichen Faktoren beruhe, sondern in zunehmendem Maße erfordere, daß die Arbeitnehmer ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse einbringen könnten. Auf nationaler Ebene setze sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß eine frühzeitige Einbeziehung der Arbeitnehmer für den unternehmerischen Erfolg vorteilhaft sei. Die Qualität der Produktionsabläufe, von Produkten und Dienstleistungen werde gesteigert, Kosten würden langfristig gesenkt und über eine höhere Motivation der Mitarbeiter würden Innovationen angeregt. Die rechtzeitige Beteiligung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter gehöre insoweit bereits zu den Grundinstrumenten einer modernen Unternehmensführung.“ 29 BR-Drs. 140/01, S. 54. 30 BR-Drs. 140/01, S. 3. 31 Bericht der Mitbestimmungskommission, BT-Drs. VI/334, S. 67; vgl. auch BertelsmannStiftung/Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen, S. 55 ff.: Die im Beteiligungsverfahren enthaltenen Diskussions- und Begründungspflichten seien ein Instrument effizienter Nutzung und Steigerung des „Humankapitals“; DKKW/Däubler, BetrVG, Einl. Rn. 51; Freeman/Lazear, An Economic Analysis of Works Councils, S. 28; Gami26

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

133

Unternehmen ebenfalls großes Interesse haben. Auf der anderen Seite könne der Betriebsrat aber auch Anliegen der Unternehmensleitung den Arbeitnehmern kommunizieren und erläutern, was zur Förderung des Betriebsklimas beiträgt32. Partizipativ getroffene Entscheidungen der Unternehmensleitung genössen eine höhere Akzeptanz in der Belegschaft, da sie transparenter und nachvollziehbarer seien. Eine Entscheidung, von deren betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit auch der Betriebsrat überzeugt sei, werde eher die Zustimmung der Arbeitnehmer erhalten und sei deswegen auch einfacher in die Tat umzusetzen33. b) Normative Schlussfolgerungen Man mag einen staatlich oktroyierten Schutz vor unternehmerischer Fehlentscheidung als „Zwangsbeglückung“34 abtun. Auch empirisch ist keineswegs gesichert, dass die Mitbestimmung eine positive ökonomische Wirkung entfaltet35. Letztlich ist aber entscheidend, dass sich der europäische Richtliniengeber dieser Auffassung angeschlossen hat. Die Erwägungsgründe sind zwar selbst keine Normen, haben aber bei der Auslegung einer Richtlinie und des auf deren Grundlage verabschiedeten Gesetzes ein weitaus größeres Gewicht als die Gesetzesmaterialien im deutschen Recht, was bereits durch die gemeinsame Veröffentlichung mit dem Normtext illustriert wird. Sie sind das „primäre policy statement“36 des Richtliniengebers und Leitfaden für die teleologische Interpretation37.

llscheg, KollArbR I, S. 11 f. mit weiteren Beispielen aus der US-amerikanischen Diskussion; Keim, BB 1980, S. 1330; Kittner, AuR 1995, S. 385 ff.; Thannisch, AuR 2006, S. 81, 82. 32 Bericht der Mitbestimmungskommission, BT-Drs. VI/334, S. 67; DKKW/Däubler, BetrVG, Einl. Rn. 51. 33 WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 364. 34 Rieble, Zukunft der Unternehmensmitbestimmung, S. 9, 20. 35 Vgl. dazu Bertelsmann Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen, S. 55 ff.; Thannisch, AuR 2006, S. 81 ff.; Die Waage senkt sich wohl mittlerweile zugunsten derjenigen Vertreter, die überwiegend positive Effekte konstatieren. Diese können zudem auf den ungebrochen großen Erfolg des mitbestimmungsstarken Wirtschaftsstandortes Deutschland verweisen. 36 Riesenhuber/Köndgen, Europäische Methodenlehre, S. 213. 37 Exemplarisch EuGH v. 25. 4. 2002 – Rs. C-183/00 González Sánchez – Slg. 2002, I-3901 Rn. 3, 25, 26; EuGH v. 11. 7. 2006 – Rs. C-13/05 Chacón Navas – Slg. 2006, I-6467 Rn. 45 f.; GA Jacobs, Schlussantrag v. 20. 3. 1997 – Rs. C-45/96 Bayerische Hypotheken- und Wechselbank – Slg. 1998, I-1199 Rn. 39 ff.; ebenso Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 391; Riesenhuber/Köndgen, Europäische Methodenlehre, S. 213; Lutter (JZ 1992, S. 593, 600) würdigt die Interpretation nach den Erwägungsgründen als „Auslegungsmittel von besonderem Rang“. Gleichwohl können Rechte unmittelbar nur aus dem Normtext abgeleitet werden. Widerspricht dieser einer in den Erwägungsgründen geäußerten Regelungsabsicht, kann diese auch nicht berücksichtigt werden (GA Stix-Hackl, Schlussantrag v. 25. 11. 2003 – Rs. C-222/02 Paul – Slg. 2004, I-9425 Rn. 132; Riesenhuber/Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 333).

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§ 3 Besonderer Teil

Relevant für die hiesige Untersuchung ist dabei weniger die eigentliche Behauptung, dass die Einbeziehung betrieblicher Arbeitnehmervertreter als Baustein des wirtschaftlichen Erfolgs einer Unternehmung fungiert. Im Vordergrund stehen vielmehr die daraus resultierenden Vorgaben für den Beginn des Beteiligungsverfahrens: Zunächst werden die Gewichte innerhalb der Interessenabwägung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern zugunsten letzterer verschoben. Wenn die Beteiligung der Arbeitnehmer als wirtschaftlicher Vorteil gilt, wird der hergebrachten Dichotomie zwischen unternehmerischer Effizienz und Arbeitnehmerschutz die Schärfe genommen. Die Richtlinie zielt vielmehr auf eine symbiotische Verbindung ökonomischer und sozialer Erwägungen. Das unternehmerische Interesse an einer beteiligungsfreien Willensbildung verliert damit an Bedeutung. Hinzu kommt noch ein weiterer Gedanke. Wenn die Arbeitnehmer als wichtiges „Unternehmensasset“ zur Optimierung unternehmerischen Handelns beitragen sollen, müssen sie auch zu einem Zeitpunkt einbezogen werden, zu dem sie diese Aufgabe auch noch sinnvoll wahrnehmen können. Damit untrennbar verbunden ist die auch schon aus dem nationalen Recht entwickelte38 Forderung, dabei die tatsächlichen Strukturen wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse zu berücksichtigen. Das wirtschaftsförderliche Potential der Mitbestimmung wäre verschwendet, wenn die unternehmerische Entscheidung bereits in betriebswirtschaftlicher und psychologischer Hinsicht determiniert ist. Erforderlich ist deshalb, dass den Arbeitnehmervertetern eine aktivgestalterische statt einer passiv-reaktiven Teilhabe an den entsprechenden Entscheidungsprozessen ermöglicht wird. Bereits die in der Richtlinie zum Ausdruck kommende beschäftigungspolitische Konzeption spricht deswegen für eine prozessbezogene Mitbestimmung. 2. Normtext und Erwägungsgründe Hinsichtlich der Konkretisierung des derart vorgezeichneten Unterrichtungszeitpunktes bietet der Normtext allein nur vage Anhaltspunkte. Als Grundsatz formuliert Art. 2 Abs. 2, dass die Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung so zu gestalten und anzuwenden sind, „dass ihre Wirksamkeit gewährleistet ist.“ Die Unterrichtung definiert Art. 2 lit. f) als „die Übermittlung von Informationen durch den Arbeitgeber an die Arbeitnehmervertreter, um ihnen Gelegenheit zur Kenntnisnahme und Prüfung der behandelten Frage zu geben“. Anhörung ist gem. Art. 2 lit. g) „die Durchführung eines Meinungsaustauschs und eines Dialogs zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgeber.“ Die Anhörung im Sinne der Richtlinie ist somit umfassender als etwa in § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG zu verstehen, wo der Arbeitgeber nur zur Kenntnisnahme der Stellungnahme des Betriebsrates, aber nicht zur Erörterung der Vor- und Nachteile der Kündigung verpflichtet ist39. Äquivalent zum nationalen Begriff „rechtzeitig“ sind Art. 4 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 4 lit. a), die 38

Vgl. oben § 2 B. III. 2. Franzen, FS Birk, S. 98, 100; GK-BetrVG/Oetker, § 102 Rn. 41; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 9. 39

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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Unterrichtung und Anhörung zu einem „dem Zweck angemessenen“ Zeitpunkt anordnen. Konkrete Anhaltspunkte liefern aber die sehr ausführlich dargelegten Erwägungsgründe. Im Zentrum des Richtlinienkonzeptes stehen die Begriffe „Antizipation“, „Prävention“ und „Beschäftigungsfähigkeit“40. Risiken sollen früher erkannt und die Arbeitnehmer stärker in die Abläufe und in die Gestaltung der Zukunft des Unternehmens einbezogen werden41. Erwägungsgrund (6) macht dabei unmissverständlich deutlich, dass die Beteiligung der Arbeitnehmer erfolgen soll, bevor schwerwiegende Entscheidungen getroffen und bekannt gemacht werden. Sowohl Unterrichtung als auch Anhörung haben somit bereits im Vorfeld der Entscheidung stattzufinden42. Besonders aufschlussreich ist zudem Erwägungsgrund (13), der den bisherigen Rechtsrahmen kritisiert. Dieser sei „häufig allzu sehr darauf ausgerichtet, Wandlungsprozesse im Nachhinein zu verarbeiten, vernachlässigt dabei die wirtschaftlichen Implikationen von Entscheidungen und stellt nicht wirklich auf eine ,Antizipation‘ der Beschäftigungsentwicklung im Unternehmen oder auf eine ,Prävention‘ der Risiken ab.“43 Bemerkenswert ist zum einen die Kritik an der nachträglichen Verarbeitung von Wandlungsprozessen, was einer Kritik an der ergebnisbezogenen Mitbestimmung gleichkommt. Zum anderen fällt der Verweis auf die Vernachlässigung der „wirtschaftlichen Implikationen von Entscheidungen“ ins Auge. Wie ein Vergleich mit der englischen und französischen Sprachfassung ergibt („aspects“), sind die „Implikationen“ gleichbedeutend mit den „Aspekten“ einer wirtschaftlichen Entscheidung. Betrachtet man diese Äußerung im Kontext des gesamten Erwägungsgrundes, spricht einiges dafür, dass der Richtliniengeber ebenfalls davon ausgeht, dass bei einer Einbeziehung der Arbeitnehmervertreter nach Abschluss des Entscheidungsprozesses wirtschaftliche Hindernisse eine Beeinflussung erschweren. Zugleich untermauert er damit noch einmal die Forderung nach einer realistischen Betrachtung des Ablaufs unternehmerischer Entscheidungsprozesse. Ein Beteiligungsverfahrens, das wirksam zur Anitizipation und Prävention sozialer Risiken beitragen soll, muss sich freilich auch konkret an denjenigen Abläufen orientieren, die diese Risiken determinieren.

40

Erwägungsgrund (10) der RL 2002/14/EG. Erwägungsgrund (7) der RL 2002/14/EG. 42 Ebenso Bercusson, ILJ 2002, S. 209, 238 f.; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 88; Gertler, Auskunftsansprüche im Konzern, S. 104; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 11 f.; ders., FS 50 Jahre BAG, S. 1218, S. 1242 f.; Lorber, IJCLLIR 2002, S. 297, 303; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 160; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 479 f.; Schäfer, Der europäische Rahmen für Arbeitnehmermitwirkung, S. 161. 43 Erwägungsgrund (13) der RL 2002/14/EG. 41

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§ 3 Besonderer Teil

3. Gesetzesmaterialien Die vorstehende Interpretation wird durch das Gesetzgebungsverfahren der Richtlinie bestätigt. Im Initialentwurf der Kommission fand sich bei der Definition der Anhörung noch die Ergänzung, „wobei im Falle von Entscheidungen, die unter das Weisungsrecht des Arbeitgebers fallen, im Vorfeld eine Einigung (…) angestrebt wird.“44 Überdies hatte das Europäische Parlament vorgeschlagen, den Begriff der Unterrichtung mit dem Zusatz „bevor die Entscheidung gefallen ist“45 zu versehen. Die Anhörung sollte zudem mit dem Durchführungshinweis „während einer Phase der Planung, um die Wirksamkeit des Vorgehens und eine Einflussnahme zu ermöglichen“46 ergänzt werden. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmte zu und wies ebenfalls ausdrücklich darauf hin, dass eine effektive Anhörung vor der Entscheidung des Unternehmens zu erfolgen habe, um die Position der Arbeitnehmer im Entscheidungsprozess berücksichtigen zu können47. Alle genannten Vorschläge der Kommission und des Parlaments wurden zwar nicht in die endgültige Richtlinie übernommen. Ursache waren jedoch keine inhaltlichen Erwägungen, sondern die Auffassung der Kommission und des Rates, dass derartige Ergänzungen unnötig detailliert seien und sich bereits aus den Erwägungsgründen der Richtlinie ergeben würden48. 4. Ergebnis Die Richtlinie 2002/14/EG fordert in aller Deutlichkeit eine prozessbezogene Mitbestimmung, damit das Wissen und die Perspektive der Arbeitnehmer effektiv zur Steigerung der Entscheidungsqualität und damit auch des wirtschaftlichen Erfolgs der Unternehmung beitragen können. Die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter hat somit bereits bei dem der Entscheidung vorgelagerten Entscheidungsprozess anzusetzen. Das Beteiligungskonzept der Richtlinie deckt sich demnach weitgehend mit den im Rahmen des Allgemeinen Teils herausgearbeiteten Ergebnissen zur Auslegung des Begriffs „rechtzeitig“.

44

ABl. EG (1999), C 2, S. 3, 5. Änderungsvorschlag 4, A5.0325/2001, S. 7. 46 Änderungsvorschlag 5, A5.0325/2001, S. 7. 47 ABl. EG (1999), C 258, S. 24, 25. 48 Vgl. die Stellungnahme des Rates ABl. EG (2001), C 307, S. 16, 24; Die Stellungnahme der Kommission KOM(2001) 701 endgültig, S. 4; vgl. dazu auch Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 88; Lorber, IJCLLIR 2002, S. 297, 302 f.; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 79. 45

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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II. Die Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses gemäß § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG Bereits am Abstraktionsgrad der in § 106 Abs. 3 BetrVG enthaltenen Tatbestände lässt sich ablesen, dass der Wirtschaftsausschuss einen tiefen und umfassenden Einblick in die Unternehmensplanung erhält. Die Beteiligung beginnt schon bei der strategischen Planung, die die Weichen für die zukünftige Unternehmensentwicklung stellt49. Entscheidungen, die auf dieser Hierarchieebene getroffen werden, bilden dabei oftmals die Grundlage für weitere mitbestimmungspflichtige Planungen (z. B. §§ 90 Abs. 1, 92 Abs. 1, 111 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Um das zeitliche Verhältnis der untersuchten Vorschriften sachgemäß systematisieren zu können, soll deshalb abweichend von der numerischen Reihenfolge mit § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG begonnen werden. 1. Funktion des Wirtschaftsausschusses Die Vorgängerregelung der aktuellen Norm, § 67 BetrVG 1952, hatte den Wirtschaftsausschuss noch als unabhängiges und paritätisch besetztes Beratungsgremium der beiden Betriebsparteien konzipiert. Da sich dieses Konzept nicht bewährte50, entschloss sich der Gesetzgeber, den Wirtschaftsausschuss stattdessen dem Betriebsrat zuzuordnen51. Aufgrund der dem Betriebsrat gem. § 107 Abs. 2 BetrVG übertragenen Bestellungs- und Abberufungskompetenz und der ständigen Berichtspflicht gem. § 108 Abs. 4 BetrVG, ist der Wirtschaftsausschuss nunmehr als Sonderausschuss des Betriebsrates zu qualifizieren52. Das Reformgesetz konstruierte den Wirtschaftsausschuss damit nicht als vollwertiges Mitbestimmungsorgan, sondern nur als Hilfsorgan des Betriebsrates53. Ebenso wie bei dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei Betriebsänderungen (§§ 111 ff. BetrVG), weicht das Gesetz hier von der üblichen Terminologie des BetrVG ab und ordnet eine Unterrichtung durch den „Unternehmer“ an. Der Wirtschaftsausschuss wird deshalb auch auf Unternehmens- und nicht auf Betriebsebene gebildet54. Schuldner des Unter-

49 Vgl. Osterloh, AuR 1986, 332, 336; Klein/Scholl, Planung, S. 19; Wöhe/Döring, Betriebswirtschaftslehre, S. 104; Schweitzer in: Bea/Friedl/Schweitzer, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre Bd. 2, S. 34. 50 Vgl. dazu ausführlich Gege, Die Funktion des Wirtschaftsausschusses, S. 111 ff; ebenso GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 2. 51 BT-Drs. VI/2729, S. 8, 49. 52 Wiese, FS Molitor, S. 365, 371; ders., FS Wiedemann, S. 617, 624; zustimmend GKBetrVG/Oetker, § 106 Rn. 13. 53 BAG v. 5. 02. 1991 – 1 ABR 24/90 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 10; BAG v. 7. 4. 2004 – 7 ABR 41/03 – AP BetrVG 1972 § 196 Nr. 17; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 2; Gamillscheg, KollArbR II, S. 1086; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 10; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 624. 54 DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 5; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 4.

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§ 3 Besonderer Teil

richtungsanspruches ist der Rechtsträger des Unternehmens und damit die natürliche oder juristische Person, die Eigentümerin des Betriebes ist55. Aufgabe des Wirtschaftsausschusses ist gem. § 106 Abs. 1 S. 2 BetrVG einerseits die Beratung wirtschaftlicher Angelegenheiten mit dem Unternehmer und andererseits die Unterrichtung des Betriebsrates. Der Beratungsinhalt wird durch die vorherige Unterrichtung vorgegeben. Eine nur selten thematisierte Besonderheit ist dabei, dass das Gesetz in § 106 Abs. 1 S. 2 BetrVG nur von einer „Aufgabe“ spricht. Alle anderen Beratungsrechte der hier relevanten Normen werden hingegen ausdrücklich als Pflicht angeordnet („hat“). Da aus einer Aufgabe nicht zwangsläufig ein Recht folgt56, ist fraglich, ob der Unternehmer überhaupt zur Beratung verpflichtet ist. Die Rechtsprechung sprach bisher vereinzelt und ohne explizite Begründung von einem Beratungsanspruch57 oder einem Beratungsrecht58. Zudem wurde bislang noch keine Entscheidung veröffentlicht, bei der der Unternehmer die Beratung mit einem Verweis auf einen fehlenden Anspruch verweigert hat. Auch die betriebsverfassungsrechtliche Literatur geht von einer Beratungspflicht des Unternehmers aus59. Dafür sprechen zunächst teleologische Überlegungen. So ist kein Grund erkennbar, wieso § 106 BetrVG als einzige der hier untersuchten Vorschriften kein Beratungsrecht enthalten sollte. Eine Aufgabe ohne entsprechenden Anspruch wäre jedenfalls nur wenig effektiv60. Zudem wäre es widersprüchlich, wenn die der Vorbereitung der Beratung dienende Unterrichtung verpflichtend durchgeführt werden müsste, während die Ausübung des eigentlichen Mitwirkungsrechts dem guten Willen des Unternehmers überlassen wird. Auch der neu eingefügte § 109 a BetrVG bestätigt diese Sichtweise61. Dieser spricht davon, dass in Unternehmen ohne Wirtschaftsausschuss „im Fall des § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG der Betriebsrat entsprechend § 106 Abs. 1 und 2 zu beteiligen“ ist. Warum aber der nur die Ersatzrolle einnehmende Betriebsrat im Gegensatz zum Wirtschaftsausschuss verpflichtend zu beteiligen ist, leuchtet nicht ein. Ferner ordnet § 108 Abs. 2 S. 1 BetrVG die Teilnahme des Unternehmers oder seines Vertreters an den Sitzungen des Wirtschaftsausschusses an. Zwischen den Gegenständen der Sitzungen wird aber 55

Vgl. nur GK-BetrVG/Oetker, vor § 106 Rn. 11; Richardi/Annuß, BetrVG, vor § 106 Rn. 12; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 365. 56 Vgl. Deinert, NZA 1999, S. 800, 804. 57 BAG v. 9. 5. 1995 – 1 ABR 61/94 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 12. 58 KG Berlin v. 25. 9. 1978 – 2 Ws (B) 82/78 – DB 1979, S. 112; OLG Hamburg, NZA 1985, S. 568, 569. 59 Vgl. Bonin, AuR 2004, S. 321, 326; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 36; Deinert, NZA 1999, S. 800, 804; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 216 f.; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 261 f.; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 197; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 363. 60 Deinert, NZA 2009, S. 800, 804; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 216; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 262. 61 Ebenso Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 216.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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nicht unterschieden. Insofern wäre es befremdlich, wenn der Unternehmer zwar zur Anwesenheit verpflichtet ist, aber eine Stellungnahme zur Position des Wirtschaftsausschuss verweigern könnte. Aus den genannten Gründen spricht alles dafür, dass das Gesetz mit der Verwendung des Begriffs „Aufgabe“ lediglich die Funktion des Wirtschaftsausschusses verdeutlichen und nicht von dem üblichen Gespann aus Unterrichtungs- und Beratungspflicht abweichen wollte. Dieses Ergebnis wird zudem von der Rahmenrichtlinie 2002/14/EG gefordert, die die Durchführung der Anhörung und damit auch der Beratung als verpflichtend vorsieht. Der Unternehmer ist deswegen auch gegenüber dem Wirtschaftsausschuss zur Beratung verpflichtet. Im Rahmen dieses Verfahrens muss letzterem die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Dazu gehört nach allgemeiner Auffassung nicht nur die Artikulation von Kritik an der betreffenden Planung, sondern überdies auch die Möglichkeit, eigene Alternativvorschläge einbringen zu können62. 2. Der Einfluss der Rahmenrichtlinie 2002/14/EG a) Anwendungsbereich Fraglich ist, ob die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG bei der Ermittlung des Unterrichtungszeitpunktes im Rahmen von § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG zu berücksichtigen ist. Dafür müsste die Norm dem durch Art. 4 Abs. 2 RL 2002/14/EG abgesteckten materiellen Anwendungsbereich der Richtlinie unterfallen, der sich auf die Unterrichtung und Anhörung über wirtschaftliche Angelegenheiten (lit. a), in Beschäftigungsangelegenheiten (lit. b) und bei Veränderung der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge (lit. c) erstreckt. Die in Art. 4 Abs. 2 lit. a) RL 2002/14/EG verlangte Unterrichtung und Anhörung „über die jüngste und wahrscheinliche Weiterentwicklung der Tätigkeit und der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens oder des Betriebs“ deckt sich mit den in §§ 106 Abs. 3 Nr. 1 – 3, 108 Abs. 5 BetrVG sehr weit beschriebenen Gegenständen. Als Auffanglösung für gleichwohl bestehende Schutzlücken bietet zudem die Generalklausel in § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG noch Spielraum63. Nicht ausreichend zur Erfüllung der Richtlinienvorgaben sind hingegen die Unterrichtungspflichten des Unternehmers über die wirtschaftliche Lage und Entwicklung des Betriebs gem. § 43 62 BAG v. 22. 01. 1991 – 1 ABR 38/89 – NZA 1991, S. 649, 650; BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – NZA 2001, S. 402, 405; KG Berlin v. 25. 9. 1978 – 2 Ws (B) 82/78 – DB 1979, S. 112; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44; ErfK/Kania, BetrVG, § 106 Rn. 3; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 24; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 52; Löwisch/Kaiser, BetrVG, § 106 Rn. 15; Rumpf/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 39. 63 Ebenso Bonin, AuR 2004, S. 321, 324; Deinert, NZA 1999, S. 800, 801 hinsichtlich des Richtlinienvorschlags KOM(1998) 612 endg.; Franzen, FS Birk, S. 97, 102; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 181; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 15; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 171 f.; Weber, FS Konzen, S. 921, 930 f.

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§ 3 Besonderer Teil

Abs. 2 S. 3 BetrVG und des Unternehmens gem. § 110 BetrVG64. Zum einen enthalten die genannten Tatbestände kein Anhörungsrecht, das den Arbeitgeber zu einem Meinungsaustausch verpflichten würde. Zum anderen berechtigen sie nur die Arbeitnehmer und nicht deren Vertreter. Die in Art. 4 Abs. 2 lit. a) BetrVG geforderte Einbeziehung in die Unternehmensplanung wird im BetrVG deshalb nur durch § 106 gewährleistet. Während die Beteiligung in Beschäftigungsangelegenheiten gem. Art. 4 Abs. 2 lit. b) RL 2002/14/EG keine Entsprechung in § 106 Abs. 3 BetrVG findet65, ist das Anhörungs- und Unterrichtungsrecht in Art. 4 Abs. 2 lit. c) RL 2002/ 14/EG „zu Entscheidungen, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können, einschließlich solcher“, die Gegenstand der Massenentlassungs- und Betriebsübergangsrichtlinie sind, in § 106 Abs. 3 Nrn. 3 bis 10 BetrVG enthalten66. Auch diese Tatbestände sind zur Umsetzung der Richtlinienvorgaben unentbehrlich, da der daneben allein in Betracht kommende § 111 BetrVG nicht ausreichend ist67. Das insofern am meisten diskutierte Defizit ist die Tatsache, dass § 111 BetrVG nach ganz herrschender Meinung nicht auf Betriebsübergänge gem. § 613a BGB anwendbar ist68. Darüber hinaus erfasst Art. 4 Abs. 2 lit. c) RL 2002/14/EG nach Auffassung der Kommission auch Unternehmensübernahmen durch einen Wechsel des Mehrheitsgesellschafters69. Diese Auslegung ist durchaus von Wortlaut und Zweck gedeckt, da in Folge derartiger Transaktionen oftmals wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsverträge zu erwarten sind70. Dass ein Gesellschafterwechsel bei einem Auseinanderfallen von Leitung und Eigentum nicht auf eine Entscheidung des Arbeitgebers zurückgeht, ist unschädlich. Wie sich aus Art. 4 Abs. 4 lit. e) RL 2002/ 64 Bonin, AuR 2004, S. 321, 324; Deinert, NZA 1999, S. 800, 801; Franzen, FS Birk, S. 97, 102; GK-BetrVG/Weber, § 80 Rn. 6; Weber, FS Konzen, S. 921, 930 f.; a. A. soweit ersichtlich nur GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 8. 65 Vgl. Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 199; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 200. 66 Bonin, AuR 2004, S. 321, 326; Deinert, NZA 1999, S. 800, 803; Franzen, FS Birk, S. 97, 103; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 19; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 183 ff. 67 Bonin, AuR 2004, S. 321, 325 f.; Deinert, NZA 1999, S. 800, 803; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 218; Franzen, FS Birk, S. 97, 103 f.; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 16 ff.; Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 369 ff.; Reichold, NZA 2003, S. 289, 298 f.; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 219; a. A. Weber, FS Konzen, S. 921, 932 ff.; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 5, die eine richtlinienkonforme Auslegung von § 111 BetrVG als ausreichend erachten. 68 Vgl. nur BAG v. 16. 5. 2002 – 8 AZR 319/01 – AP BGB § 613a Nr. 237; BAG v. 26. 04. 2007 – 8 AZR 695/05 – AP InsO § 125 Nr. 4; ErfK/Kania, BetrVG, § 111 Rn. 12; FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 50; Franzen, FS Birk, S. 97, 103; Gamillscheg, KollArbR II, S. 1114 f.; GKBetrVG/Oetker, § 111 Rn. 175; Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 124 m. w. N.; a. A. DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 125; Simon, ZfA 1987, S. 311, 317 f. 69 KOM (2007) 334 endg., S. 4. 70 Vgl. dazu auch unten § 3 A. III.

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14/EG ergibt, entfällt bei Entscheidungen mit potentiell wesentlichen Auswirkungen, die nicht vom Arbeitgeber getroffen werden, nicht die Konsultationspflicht, sondern nur das Ziel, eine Vereinbarung abzuschließen71. Für eine Erstreckung des Art. 4 Abs. 2 lit. c) RL 2002/14/EG auf den Wechsel von Kontrollmehrheiten spricht letztlich auch Art. 14 der Übernahmerichtlinie 2004/25/EG, der die aufgrund der Richtlinie 2002/14/EG ergangenen Vorschriften ausdrücklich unberührt lassen will72. b) Umsetzungsdefizite Ein Wirtschaftsausschuss wird allerdings erst in Unternehmen mit mehr als 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern errichtet, während der Schwellenwert in Art. 3 Abs. 1 RL 2002/14/EG eine Anzahl von 50 Arbeitnehmern zur Begründung der Unterrichtungs- und Konsultationsrechte ausreichen lässt, soweit diese an das Unternehmen anknüpfen. Es besteht demnach ein Umsetzungsdefizit in Unternehmen mit 50 bis 100 Mitarbeitern73. In Anbetracht des eindeutigen Wortlautes des § 106 Abs. 1 S. 1 BetrVG kommt eine Absenkung des Schwellenwertes kraft richtlinienkonformer Auslegung nicht in Betracht74. Auch bei evident richtlinienwidrigen Vorschriften ist eine Auslegung contra legem nicht zulässig75. Bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers stellt sich deswegen die Frage, ob eine „Notlösung“ existiert, um den Richtlinienvorgaben durch Auslegung anderer Vorschriften zur Umsetzung zur verhelfen. Keine zufriedenstellende Lösung lässt sich hinsichtlich Art. 4 Abs. 2 lit. a) RL 2002/14/EG finden. Zwar würde der insofern vorgeschlagene § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG die notwendige Offenheit besitzen, um im Wege richtlinienkonformer Auslegung eine Unterrichtung über die allgemeine wirtschaftliche Lage zu gewährleisten76. Auch das Fehlen einer Beratungspflicht könnte gegebenenfalls über 71

Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 86. Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 86. 73 Ebenso Bonin, AuR 2004, S. 321, 325 f.; Deinert, NZA 1999, S. 800, 803; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 218; Franzen, FS Birk, S. 97, 103 f.; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 16 ff.; Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 369 ff.; Reichold, NZA 2003, S. 289, 298 f.; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 219. 74 Vgl. nur DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 26 f.; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 184; Richardi/Annuß, BetrVG, § 106 Rn. 11. 75 EuGH v. 4. 7. 2006 – Rs. C-212/04 Adeneler – Slg. 2006, I-06057 Rn. 108; Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat der BGH in seiner vielbeachteten „Quelle“-Entscheidung gemacht (Urteil v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05 – NJW 2009, 427 ff.). Methodisch handelt es sich dabei um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, die nur zulässig ist, weil der Gesetzgeber hinsichtlich der konkreten Regelung ausdrücklich die Ansicht geäußert hatte, richtlinienkonform zu handeln. 76 Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 185 ff.; Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 358; nicht ganz deutlich Däubler (DKKW, BetrVG, § 106 Rn. 27), der neben § 80 Abs. 2 BetrVG auch die §§ 90, 111 BetrVG nennt und Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 294. 72

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§ 3 Besonderer Teil

einen Rückgriff auf §§ 2 Abs. 1, 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG kompensiert werden. Bisher wurde aber vernachlässigt, dass § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG nicht von § 121 Abs. 1 BetrVG erfasst ist. Eine Verletzung des Mitbestimmungsrechtes wäre demnnach entgegen Art. 8 Abs. 2 RL 2002/14/EG sanktionslos. Da es sich bei § 121 Abs. 1 BetrVG um eine Strafvorschrift handelt, kann dieses Problem auch nicht im Wege der Auslegung oder Analogie umgangen werden. Erfolgreicher kann hingegen die Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 lit. c) RL 2002/14/ EG durch eine richtlinienkonforme Auslegung von § 111 S. 1 BetrVG bewerkstelligt werden77. Zwar ist umstritten, ob § 111 S. 1 BetrVG überhaupt als Auffangtatbestand neben den in § 111 S. 3 BetrVG genannten Betriebsänderungen zur Anwendung kommen kann78. Zudem entspricht es der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass Betriebsübergänge nicht von § 111 BetrVG erfasst sind, da § 613a BGB eine abschließende Regelung darstelle und sich zudem durch den bloßen Inhaberwechsel an der Betriebsorganisation nichts ändere79. Die auf beiden Seiten vertretenen Auffassungen bewegen sich aber durchweg innerhalb des Wortlauts der Vorschrift80 und solange eine Auslegung intra legem möglich ist, muss die richtlinienkonforme Auslegung den Vorzug erhalten81. Dementsprechend sprechen sich auch ausgewiesene Gegner der Beteiligungspflicht von Betriebsübergängen für eine Ausnahme aus, soweit dies zur Schließung von Umsetzungslücken der Richtline erforderlich ist82.

77 Ebenso DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 126; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 203 ff.; FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 50; GKBetrVG/Oetker, § 111 Rn. 5; Karthaus, AuR 2007, S. 114, 118; Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 372; Weber, FS Konzen, S. 921, 933 ff. 78 Dafür: LAG Baden-Württemberg v. 16. 6. 1987 – 8 (14) TaBV 21/86 – LAGE BetrVG 1972 § 111 Nr. 6; DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 125; FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 44; Karthaus, AuR 2007, S. 114, 118; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 54 ff. m. w. N.; dagegen: LAG Düsseldorf v. 29. 3. 1978 – 2 Sa 701/77 – DB 1979, S. 114; Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 41; Stege/Weinspach/Schiefer, BetrVG, §§ 111 – 113 Rn. 27; HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG, § 111 Rn. 20. 79 Vgl. Fn. 706. 80 So lässt sich für eine abschließende Wirkung zwar anführen, dass im Gegensatz zu § 106 Abs. 3 BetrVG das Wort „insbesondere“ fehlt (HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG, § 111 Rn. 20). Andererseits spricht § 111 S. 3 BetrVG von „Betriebsänderungen im Sinne des Satzes 1“, was die Vermutung nahelegt, dass ein allgemeinerer Begriff der Betriebsänderung existiert (DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 46). Ferner ist es angesichts der in den Nrn. 1 – 5 genannten Tatbestände durchaus überzeugend, wenn man auch für § 111 S. 1 BetrVG eine Veränderung der Betriebsorganisation verlangt. Dabei handelt es sich aber lediglich um ein teleologisches Argument, das keineswegs zwingend ist, „da es ein solches Tatbestandsmerkmal in § 111 S. 1 BetrVG nicht gibt“ (DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 125). 81 Vgl. nur EuGH v. 19. 1. 2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci – Slg. 2010, I-00365 Rn. 47 m. w. N.; Calliess/Ruffert/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 Rn. 77 f.; Canaris, FS Bydlinski, S. 47 ff.; Riesenhuber/Roth, Europäische Methodenlehre, S. 393 ff. 82 FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 50a; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 5.

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Nicht mehr vom Wortlaut der Vorschrift gedeckt ist allerdings eine Beteiligung bei Anteilsübergängen, die zu einem Wechsel der Kontrollmehrheit am Unternehmen führen83. Derartige Transaktionen lassen den Rechtsträger des Betriebes unberührt und weisen deswegen keinerlei betrieblichen Bezug auf. Insofern besteht bei Unternehmen mit 50 bis 100 Mitarbeitern eine Umsetzungslücke, die nicht durch Auslegung geschlossen werden kann. c) Ergebnis § 106 Abs. 3 BetrVG ist vom Anwendungsbereich der RL 2002/14/EG umfasst. Zudem wurde deutlich, dass die Beteiligung im Rahmen des § 106 BetrVG erforderlich zur Umsetzung der Richtlinienvorgaben ist und nicht ohne weiteres durch andere Normen kompensiert werden kann. 3. Unterrichtungszeitpunkt Bevor sich die Untersuchung der Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes zuwendet, soll zunächst der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur ausgeleuchtet werden. a) Meinungsstand zum Unterrichtungszeitpunkt aa) Terminologie Das Verständnis von Rechtsprechung und Literatur zur Rechtzeitigkeit im Rahmen des § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG wird durch unterschiedlich verwendete Begrifflichkeiten erschwert, weshalb zunächst noch einige terminologische Klarstellungen vorgenommen werden sollen. Verkomplizierend wirkt vor allem die Aufspaltung unternehmerischer Entscheidungen84 : Einerseits wird zwischen dem Entschluss über das „Ob“ und das „Wie“ einer Maßnahme unterschieden. Die Entscheidung über das „Ob“ bezeichnet den Entschluss, eine konkrete Maßnahme durchzuführen, etwa eine Betriebsstilllegung. Das „Wie“ betrifft wiederum die Planung der „Modalitäten“85 dieser Maßnahme, das heißt deren konkreter Umsetzung in der Realität. Die Modalitäten einer Betriebsstilllegung sind beispielsweise der Zeitpunkt und die Anzahl der Kündigungen, oder wann und zu welchem Preis die verbleibenden Produktionsmittel veräußert werden sollen. 83

Ebenso Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 207. 84 Zur Differenzierung vgl. auch Keim, BB 1980, S. 1330 f.; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34. 85 BAG v. 14. 09. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2.

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Zudem differenzieren die Befürworter einer ergebnisbezogenen Mitbestimmung zwischen dem vorläufigen (grundsätzlichen, prinzipiellen) und dem endgültigen Entschluss86. Der vorläufige Entschluss kennzeichnet den Abschluss der autonomen Willensbildung des Arbeitgebers/Unternehmers. Mit dem vorläufigen Entschluss entscheidet sich dieser ohne Arbeitnehmerbeteiligung grundsätzlich für das „Ob“ einer Maßnahme oder aber auch zusätzlich für die deren Umsetzung dienenden Modalitäten. Grundsätzlich meint in diesem Kontext, dass er trotzdem noch offen für eine Beteiligung von Wirtschaftsausschuss und Betriebsrat sei und die Entscheidung deshalb noch nicht endgültig feststehe87. Ein endgültiger Entschluss liege hingegen erst vor, wenn der Arbeitgeber oder Unternehmer nicht mehr bereit sei, von seiner bereits getroffenen Entscheidung wieder abzurücken88. Die Befürworter einer prozessbezogenen Mitbestimmung nehmen diese Unterscheidung hingegen nicht vor. Der „vorläufige“ Entschluss wird schlicht als Entscheidung bezeichnet. Spricht nun ein Gericht oder Autor ohne weitere Präzisierung von einer Entscheidung oder einem Beschluss des Arbeitgebers oder Unternehmers, können demnach theoretisch vier verschiedene Arten gemeint sein. Der Leser muss dann versuchen, aus dem Kontext der Ausführungen oder aus den zur Bekräftigung der Auffassung angegebenen Fundstellen den konkreten Typ der Entscheidung zu ermitteln. bb) Rechtsprechung Da die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung auch im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens gem. § 121 Abs. 1 BetrVG relevant wird, sind neben arbeitsgerichtlichen vorliegend auch strafgerichtliche Entscheidungen zu berücksichtigen. (1) Strafgerichte Die erste gerichtliche Äußerung zum Zeitpunkt der rechtzeitigen Unterrichtung gem. § 106 II S. 1 BetrVG erfolgte 1978 im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens vor dem Kammergericht Berlin89. Der Unternehmer hatte in dem betreffenden Sachverhalt bereits einen Monat vor Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses den unternehmerischen Entschluss zur Stilllegung eines Werksteils gefasst. Nach Auffassung des Gerichts war die Unterrichtung verspätet. Zur Begründung führte es aus, dass durch die Einbeziehung des Wirtschaftsausschusses die Fragen der 86 Vgl. nur BAG v. 14. 09. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2; BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 3; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 119; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 321 f., 325; Stege/Weinspach/Schiefer, BetrVG, §§ 106 – 109, R. 34 b. 87 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 53. 88 So etwa BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2; BAG v. 28. 5. 2009 – 8 AZR 273/08 – AP § 613a BGB Nr. 370; Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 56; Keim, BB 1980, S. 1330; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 629. 89 KG Berlin v. 25. 9. 1978 – 2 Ws (B) 82/78 – DB 1979, S. 112 ff.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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Unternehmenspolitik frühzeitig vorbesprochen und geklärt werden sollen, bevor auf Grund konkreter Planung die Unterrichtungs- und Beratungsrechte des Betriebsrates Platz greifen90. Dem Wirtschaftsausschuss sei deshalb bereits im Planungsstadium ein umfassendes Informations- und Beratungsrecht eingeräumt. Die Unterrichtung sei nur rechtzeitig, wenn der Wirtschaftsausschuss sein Beratungsrecht gegenüber dem Unternehmer noch betriebswirtschaftlich sinnvoll ausüben und den Betriebsrat so unterrichten kann, dass dieser seinerseits von den ihm zustehenden Beteiligungsrechten rechtzeitig Gebrauch machen kann. Beraten bedeute, das Für und Wider einer zu treffenden Entscheidung im Meinungsaustausch abzuwägen, um die Entscheidung vorzubereiten und gehe damit „schon begrifflich einer Entscheidung voraus.“91 Die Unterrichtungspflicht setze deshalb noch nicht einmal einen unternehmerischen Entschluss voraus. Ein ähnlicher Geschehensablauf lag einem Urteil des Hanseatischen OLG Hamburg vom 04. 06. 1985 zugrunde92. Wirtschaftsausschuss und Betriebsrat wurden in diesem Fall erst zehn Tage nach dem Vorstandsbeschluss über ein mit Entlassungen verbundenes Sanierungskonzept informiert. Zwar war die konkrete Umsetzungsplanung noch nicht abgeschlossen, der Vorstand hatte aber unmittelbar nach dem Beschluss über die Durchführung der Betriebsänderung den Bürgermeister Hamburgs über seine Entscheidung informiert und damit seine Entschlossenheit untermauert. Die Vorinstanz hatte den Vorstand noch freigesprochen, da bisher keine Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet wurden, so dass noch über Modifikationen hätte verhandelt werden können. Zudem habe auch noch nicht die Zustimmung des Aufsichtsrates vorgelegen, weshalb der Vorstand nur „im Prinzip“ zur Vornahme der Betriebsänderung entschlossen gewesen sei. Das OLG Hamburg gab trotzdem der Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft statt und verurteilte die Vorstandsmitglieder zu einer Geldstrafe wegen verspäteter Unterrichtung. Durch den Beschluss des Sanierungskonzeptes seien bereits vollendete Tatsachen geschaffen worden, weshalb eine Einwirkung auf die eigentliche Planung kaum noch möglich gewesen sei93. Auch wenn noch eine theoretische Chance zur Änderung der Entscheidung bestand, hätte eine Einwirkung keine realistischen Erfolgschancen mehr gehabt94. Der Wirtschaftsausschuss sei hingegen bereits in einem möglichst frühen Stadium der Planung zu unterrichten, um auf die Entscheidung des Unternehmers und dessen nähere Durchführung Einfluss zu nehmen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das OLG Hamburg ebenso wie das KG Berlin für eine Unterrichtung vor dem Beschluss des Unternehmers (auch wenn man diesen nur als „vorläufig“ bezeichnen mag) über die Durchführung der 90

KG Berlin v. 25. 9. 1978 – 2 Ws (B) 82/78 – DB 1979, S. 112, 113. KG Berlin v. 25. 9. 1978 – 2 Ws (B) 82/78 – DB 1979, S. 112, 113. 92 Hans. OLG Hamburg v. 04. 06. 1985 – 2 Ss 5/85 OWi – NZA 1985, S. 568 f. 93 Hans. OLG Hamburg v. 04. 06. 1985 – 2 Ss 5/85 OWi – NZA 1985, S. 568, 569. 94 Kritisch Heinze, NZA 1985, S. 555, 556, der eine lediglich „objektive Chance“ zur Beeinflussung ausreichen lässt. 91

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§ 3 Besonderer Teil

beteiligungspflichtigen Maßnahme aussprechen. Eine weitere Konkretisierung lässt sich den Entscheidungen allerdings nicht entnehmen. (2) Bundesarbeitsgericht Besondere Aufmerksamkeit muss freilich der obergerichtlichen Rechtsprechung gelten. Das Bundesarbeitsgericht hat sich bisher bei vier verschiedenen Anlässen geäußert95. Streitgegenstand war zwar in keiner der betreffenden Entscheidungen die Rechtzeitigkeit selbst, sondern immer nur ein Disput über die Vorlagepflicht bestimmter Unterlagen. Im Rahmen der teleologischen Auslegung des konkreten Unterrichtungsgegenstandes griff das Gericht aber jedes Mal auf den Sinn und Zweck rechtzeitiger Unterrichtung zurück und eröffnete damit einen Einblick in seine diesbezüglichen Vorstellungen: So soll die Unterrichtung als Grundlage für die Beratung dienen, die wiederum dem Wirtschaftsausschuss die Möglichkeit eröffnen soll, die Willensbildung des Unternehmers bei den in § 106 III BetrVG genannten wirtschaftlichen Angelegenheiten zu beeinflussen. „Dementsprechend soll die Verpflichtung, den Wirtschaftsausschuss rechtzeitig und umfassend zu unterrichten, sicherstellen, daß der Wirtschaftsausschuss und der von ihm unterrichtete Betriebsrat bzw. Gesamtbetriebsrat Einfluß auf die Gesamtplanung nehmen kann, weil diese sich in der Regel auf die Personalplanung auswirkt.“96 „Der Unternehmer muss daher vor geplanten unternehmerischen Entscheidungen und sonstigen Vorhaben den Wirtschaftsausschuss frühzeitig und umfassend informieren, so dass dieser – und der Betriebsrat bzw. Gesamtbetriebsrat – durch seine Stellungnahme und eigenen Vorschläge noch Einfluss auf die Gesamtplanung wie auch auf die einzelnen Vorhaben nehmen kann“97. (a) Entscheidungstyp Fraglich ist zunächst, welchem der vier denkbaren Entscheidungstypen die genannte Formel zuzuordnen ist. Aufschluss bietet das Verständnis des BAG von Personalplanung und deren Verhältnis zur Gesamtplanung. Dieser Fragenkomplex lässt sich gut anhand einer Entscheidung über die Reichweite der Mitbestimmung bei Rationalisierungsvorhaben verdeutlichen98. Der Arbeitgeber hatte im zugrunde liegenden Sachverhalt einen Planungsstab angewiesen, Rationalisierungspotentiale innerhalb mehrerer größerer Arbeitsgruppen zu ermitteln. Das Begehren des Betriebsrats auf Einsicht in die entsprechenden Unterlagen gem. § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG lehnte das BAG mit der Begründung ab, dass der Arbeitgeber in diesem Stadium lediglich seine Handlungsspielräume erkunde. Erst wenn sich der Arbeit95

BAG v. 20. 11. 1984 – 1 ABR 64/82 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 3; BAG v. 08. 08. 1989 – 1 ABR 61/88 – AP BetrVG § 106 Nr. 6; BAG v. 22. 1. 1991 – 1 ABR 38/89 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 9; BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2. 96 BAG v. 22. 1. 1991 – 1 ABR 38/89 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 9. 97 BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2. 98 BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2.

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geber grundsätzlich zu Personalreduzierungen entschieden hat und sich deren konkreter Umsetzung zuwendet, beginne er mit der Personalplanung im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne. Das BAG versteht Personalplanung demnach als Maßnahmenplanung, die der konkreten Umsetzung der vorgelagerten Gesamtplanung dient. Die „geplante unternehmerische Entscheidung“ im Sinne der oben genannten Formel wäre in diesem Fall die Entscheidung über die Durchführung eines Rationalisierungskonzeptes gem. § 106 Abs. 3 Nr. 4 BetrVG. Während es sich bei der Gesamtplanung somit um das „Ob“ der Maßnahme handelt, betrifft die Personalplanung deren konkrete Umsetzung und damit das „Wie“. Die Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses vor Entscheidungen über die unternehmerische Gesamtplanung muss demnach vor der Entscheidung über das „Ob“ der Maßnahme erfolgen. Fraglich ist überdies, ob es sich bei der „geplanten unternehmerischen Entscheidung“ bereits um den vorläufigen Abschluss der unternehmerischen Willensbildung oder erst um die „endgültige Entscheidung“ handelt. Zur Erhellung der Terminologie bietet sich nunmehr ein Blick in die Rechtsprechung zu § 111 S. 1 BetrVG an. Diese Norm ordnet eine Unterrichtung „über geplante Betriebsänderungen“ an. Eine geplante Betriebsänderung ist nach Auffassung des BAG eine „hinreichend bestimmte, in Einzelheiten bereits absehbare Maßnahme (…), deren Durchführung der Arbeitgeber konkret anstrebt.“99 Sie liegt somit vor, wenn der Unternehmer den grundsätzlichen Entschluss zur Vornahme einer bestimmten Betriebsänderung gefasst, sich aber noch nicht endgültig festgelegt und auch noch nicht alle notwendigen Umsetzungsmaßnahmen durchgeplant hat100. Wenn das BAG – wovon auszugehen ist – seiner eigenen Terminologie treu bleibt, dann hat die Unterrichtung vor einer geplanten unternehmerischen Entscheidung demnach vor dem vorläufigen Abschluss der Willensbildung stattzufinden. Hat man die Formel dergestalt entschlüsselt, wird auch deutlich, dass sich das BAG damit den oben dargestellten Auffassungen des KG Berlin und des OLG Hamburg101 im Ergebnis angeschlossen hat. Nach Auffassung der Gerichte hat die Unterrichtung noch vor dem Abschluss der unternehmerischen Willensbildung über das „Ob“ der wirtschaftlichen Angelegenheit stattzufinden. (b) Keine weitere Konkretisierung Was überdies an zeitlichem Vorlauf erforderlich ist, lässt das BAG aber im Ungefähren und zieht sich auf die Widergabe des Gesetzeszweckes zurück. Der Unternehmer müsse „frühzeitig und umfassend informieren, so daß dieser – und der Betriebsrat bzw. Gesamtbetriebsrat – durch seine Stellungnahme und eigenen Vorschläge noch Einfluss auf die Gesamtplanung wie auch auf die einzelnen Vorhaben 99 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39; vgl. ebenso BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 3; BAG v. 30. 03. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47. 100 BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 3; BAG v. 30. 03. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47. 101 Vgl. dazu oben § 3 A. II. 3. a) bb) (1).

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nehmen kann“102. Anhand welcher Kriterien dieser Zeitpunkt zu ermitteln ist, bleibt offen. Zudem entscheidet das Gericht nur im Rahmen des Anspruchs auf Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 3 BetrVG ausdrücklich, ob eine Unterrichtung auch rechtzeitig oder verspätet ist. In diesem Tatbestand kommt das Gericht auch nicht um eine ausdrückliche Stellungnahme herum, da die Unterscheidung anspruchsbegründend ist103. In allen anderen Urteilen wird lediglich entschieden, ob eine Unterrichtungspflicht vorliegt oder nicht. Prima facie ist dieses Vorgehen auch unbedenklich, da in den bisherigen Entscheidungen immer nur das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Unterrichtungspflicht entscheidend war. Die eigentliche Problematik wird aber deutlich, wenn man sich noch einmal die zeitliche Struktur der Unterrichtungspflicht vergegenwärtigt104: Die Unterrichtung ist vom Anbeginn des Planungsprozesses bis zum Einsetzen der Unterrichtungspflicht rechtzeitig. So kann der Unternehmer den Wirtschaftsausschuss freilich bereits über seine vagesten Vorüberlegungen unterrichten. Dessen Einbeziehung wäre dann zwar rechtzeitig, aber freiwillig. Die eigentliche Pflicht zur Unterrichtung entsteht erst dann, wenn der Prozess bereits so weit fortgeschritten ist, dass bei weiterem Abwarten eine sinnvolle Einflussnahme rechtswidrig erschwert wäre. Ab diesem Zeitpunkt ist die Unterrichtungspflicht aktiviert und eine danach stattfindende Unterrichtung wäre verspätet. Der Unternehmer hat den Wirtschaftsausschuss demnach nach dem Einsetzen der Unterrichtungspflicht so schnell wie möglich zu informieren, um noch eine rechtzeitige Unterrichtung zu gewährleisten. Als zeitliche Grenze für den Zeitraum nach dem Einsetzen der Unterrichtungspflicht, empfiehlt sich eine „unverzügliche“ Unterrichtung („ohne schuldhaftes Zögern“) im Sinne von § 121 Abs. 1 S. 1 BGB. Wenn das BAG über das Vorliegen der Unterrichtungspflicht entscheidet, muss es deshalb denknotwendig auch darüber entscheiden, ob die Unterrichtung noch rechtzeitig oder schon verspätet ist. Trotzdem gibt es das Ergebnis dieser Entscheidung nicht in seinen Urteilen bekannt und nimmt nur Stellung, ob die Unterrichtungspflicht gegeben ist oder nicht. Das bedeutet weiterhin, dass es denkbar ist, dass das BAG in einigen Urteilen zwar die Pflicht zur Unterrichtung feststellt, aber deren Verspätung verschweigt. Diese Feststellung kann man nur bestreiten, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass jede der betreffenden Entscheidungen des BAG zu Sachverhalten ergangen ist, in denen das Unterrichtungsbegehren von Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss tatsächlich auch mit dem Einsetzen der Unterrichtungspflicht zeitlich übereinstimmte. Dies ist aber nicht nur äußerst unwahrscheinlich, sondern widerspricht auch oftmals den eigenen Ausführungen des BAG.

102 103 104

BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2. Vgl. dazu unten § 3 A. IV. 1. a). Vgl. schon oben § 2 B. I.

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Verdeutlichen lässt sich das an einem Beschluss vom 11. 07. 2000105. Die Unternehmerin führte in dem fraglichen Fall seit Mitte des Jahres 1996 ein Pilotprojekt über das Outsourcing von Dienstleistungen durch, das bei positivem Verlauf auf das gesamte Unternehmen übertragen werden sollte. Das Projekt betraf zunächst nur einen marginalen Anteil des Geschäftsvolumens, sollte aber bei positivem Verlauf auf das ganze Unternehmen übertragen werden, was dann höchstwahrscheinlich zu erheblichen und sozial belastenden Umstrukturierungsmaßnahmen führen würde. Die erste Unterrichtung des Gesamtbetriebsrates fand im Juni 1997 statt. Dieser forderte daraufhin die Vorlage von Unterlagen an den Wirtschaftsauschuss. Das BAG folgte der Argumentation des Betriebsrates und bejahte die Unterrichtungspflicht aus § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG, da das Pilotprojekt zu weiteren Entscheidungen des Unternehmens führen könne, die wiederum erhebliche Auswirkungen auf die künftige Personalplanung zeitigen würden. Vor dem Hintergrund dieser möglichen Auswirkungen falle der geringe Umfang des Pilotprojekts nicht ins Gewicht. Um dem Wirtschaftsausschuss „durch seine Stellungnahme und eigenen Vorschläge noch Einfluss auf die Gesamtplanung wie auch auf die einzelnen Vorhaben“106 zu ermöglichen, sei er bereits bei der Durchführung des Pilotprojektes einzubeziehen. Nimmt man das BAG beim Wort, war die Unterrichtung im Jahre 1997 verspätet, da das Projekt in der konkreten Form bereits ein Jahr früher praktiziert und beschlossen wurde. Es sind keine Gründe denkbar, wieso die Unterrichtung über ein Projekt, dessen Beschluss bereits mitbestimmungspflichtig ist, auch noch ein Jahr nach dessen Beginn rechtzeitig sein soll. In den Entscheidungsgründen der Vorinstanz wird dies noch deutlicher: Das Gericht schließt sich dort einer Literaturansicht an, die bereits den „Entschluss zur Planung“ als Auslöser der Unterrichtungspflicht kennzeichnet107. Ebenfalls stellt es fest, dass die „Durchführung eines solchen Pilotprojektes in der Praxis (…) eine bereits fortgeschrittene Konkretisierung der Planungsvorstellungen des Unternehmens voraussetzt.“108 Obwohl die Verspätung der Unterrichtung danach ganz offensichtlich ist, wird dieser Aspekt übergangen. Man kann über die hinter dieser Vorgehensweise stehenden Motive nur spekulieren. Denkbar ist, dass die Gerichte mit ihrer Zurückhaltung den Betriebsfrieden der jeweiligen Unternehmen schützen wollen. Im Gegensatz zu den §§ 119, 120 BetrVG ist § 121 BetrVG als Sanktionsvorschrift für eine verspätete Unterrichtung kein Antragsdelikt. Zwar gilt bei Ordnungswidrigkeiten gem. § 47 Abs. 1 OWiG das Opportunitätsprinzip, weshalb deren Verfolgung im Ermessen der Behörde liegt. Trotzdem ist das Absehen von Verfolgung nur die Ausnahme und nicht die Regel, da der Gesetzgeber durch den Bußgeldtatbestand das betreffende Verhalten grundsätzlich missbilligt hat109. Die ausdrückliche gerichtliche Feststellung einer ver105 BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2; vorhergehende Instanz LAG Köln v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1. 106 BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2. 107 LAG Köln v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1. 108 LAG Köln v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1 Bl. 514 R. 109 KK-OWiG/Bohnert, Einl. Rn. 148.

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späteten Unterrichtung ginge deshalb regelmäßig mit einer Verfolgung durch die staatlichen Autoritäten einher, was das ohnehin schon gestörte Verhältnis der Betriebsparteien noch weiter beeinträchtigen würde. Insofern ist es vorstellbar, dass es das BAG vorzieht, die Einleitung dieses Verfahrens dem Wirtschaftsausschuss oder Betriebsrat zu überlassen. (c) Kritik Das BAG hält sich selbst und den zuständigen Gerichten durch sein Vorgehen einen großen Lösungsspielraum offen und ermöglicht damit eine umfassende richterliche Berücksichtigung und Gewichtung aller Besonderheiten des Einzelfalles. Zumindest in der Theorie erlaubt dies eine besonders präzise und damit auch besonders gerechte Interessenabwägung. Mindestens ebenso bedeutsam ist aber auch die Rechtssicherheit. Es leuchtet wohl jedem ein, dass allein mithilfe solch wolkiger Formulierungen keine sinnvolle Handhabung der Unterrichtungspflicht möglich ist110. Die verwendete Formel ist lediglich eine erweiterte Widergabe des Gesetzeszweckes, aber kein taugliches Mittel, um den Bereich mitbestimmungsfreier und mitbestimmungspflichtiger Überlegungen einigermaßen präzise abzugrenzen. Das BAG ignoriert damit den Delegationsauftrag des Gesetzgebers und verlagert die Problematik in die Betriebe. Belässt man die Rechtzeitigkeitsformel auf diesem Abstraktionsniveau, wird der Zeitpunkt der Unterrichtung in Anbetracht der signifikanten Interessengegensätze zwischen den Betriebsparteien ein stetiger Konfliktherd sein. Aufgrund der Ausgestaltung des betriebsverfassungsrechtlichen Sanktionssystems geht die daraus resultierende Rechtsunsicherheit aber nur zulasten von Wirtschaftsausschuss und Betriebsrat. Dem Betriebsrat oder Gesamtbetriebsrat ist es verwehrt, die rechtzeitige Unterrichtung unmittelbar im Wege des Beschlussverfahrens durchzusetzen, da er zunächst die Einigungsstelle gem. § 109 S. 1 BetrVG anzurufen hat111. Das Einigungsstellenverfahren kann sich aber erheblich in die Länge ziehen. Lehnt der Arbeitgeber den vorgeschlagenen Einigungsstellenvorsitzenden ab, muss das Verfahren nach § 98 ArbGG beim Arbeitsgericht eingeleitet werden. Gegen diesen Beschluss kann wiederum Beschwerde beim Landesarbeitsgericht eingelegt werden. Allein das Bestellungsverfahren kann deshalb durchaus bis zu vier Monate in Anspruch nehmen112. Der Unternehmer kann seine Planung währenddessen ungestört fortsetzen. Und auch der Einigungsstellenspruch an sich kann wiederum gerichtlich angegriffen werden und unterliegt nach neuerer Recht-

110

Vgl. dazu auch oben § 2 B. III. 2. BAG v. 8. 8. 1989 – 1 ABR 61/88 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 6; Hessisches LAG v. 10. 12. 1985 – 4 TaBV Ga 139/85 – AiB 2003, S. 32; ArbG Wetzlar v. 02. 03. 1989 – 1 BVGa 4/89 – NZA 1989, S. 443 f. 112 Bauer, ZIP 1996, S. 117, 118; vgl. auch Bauer/Diller, ZIP 1995, S. 95, 99; Hohenstatt, NZA 1998, S. 846, 847. 111

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sprechung des BAG zudem umfassend der Rechtskontrolle der Arbeitsgerichte113. Dementsprechend räumt selbst das BAG ein, dass ein „Rechtsschutzssystem, das unter Umständen erst nach dem Durchlaufen von vier oder sechs Instanzen zu einer vollstreckbaren Entscheidung führt, (…) eine rechtzeitige und damit sinnvolle Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses über wirtschaftliche Angelegenheiten nicht gewährleisten“114 kann. Noch viel schwerer wiegt aber die Tatsache, dass im Regelfall überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten über die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung vorliegen werden, die vor die Einigungsstelle gebracht werden können. Wenn der Unternehmer der Auffassung ist, dass der Wirtschaftsausschuss in eine Planung noch nicht einbezogen werden müsse, kann sich dieser meist auch nicht dagegen wehren, da er schlicht und einfach keine Kenntnis von dem betreffenden Vorgang hat. Der Wirtschaftsausschuss kann insofern lediglich über informelle Kanäle Informationen erlangen. Ebenfalls kann es sich auch um eine periodische Planung handeln, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt wird und über deren ungefähren Ablauf der Wirtschaftsausschuss aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit im Bilde ist. Wenn der Unternehmer aber in der Lage ist, die Vertraulichkeit seiner internen Willensbildung zu wahren, ist es ohne weiteres möglich, den Wirtschaftsausschuss vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das Einigungsstellenverfahren ist deshalb als Instrument zur Durchsetzung einer rechtzeitigen Unterrichtung nur ein stumpfes Schwert. Das einzige potentiell wirksame betriebsverfassungsrechtliche Institut ist die Sanktionsvorschrift § 121 BetrVG, die die verspätete Unterrichtung als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von bis zu 10.000 Euro ahndet und deshalb präventiv zu einer effektiven Verwirklichung der Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung beitragen könnte. Die Betonung liegt dabei aber auf potentiell, da das BAG durch seine Rechtsprechung einiges dafür tut, um dieser Vorschrift ihre Wirksamkeit zu nehmen. § 121 Abs. 1 BetrVG ahndet gem. § 10 OWiG nur zumindest bedingt vorsätzliches Handeln oder Unterlassen115. Da es sich bei dem Begriff „verspätet“ um ein normatives Tatbestandsmerkmal handelt, ist insofern ausreichend, dass der Täter die soziale Bedeutung des Tatumstandes aufgrund einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“116 erkannt hat. Ihre soziale Bedeutung wird normativen Tatbestandsmerkmalen aber erst im Zuge ihrer Konkretisierung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung verbindlich zugewiesen. Maßgeblich für die Bedeutung des Begriffs 113

BAG v. 11. 7. 2000 – 1 ABR 43/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 2; ErfK/Kania, BetrVG, § 109 Rn. 7; FESTL, BetrVG, § 109 Rn. 12. 114 BAG v. 08. 08. 1989 – 1 ABR 61/88 – AP BetrVG § 106 Nr. 6 Bl. 829 R.; ebenso Däubler, AuR 2000, S. 154, 155; Dütz, FS Gaul, S. 41, 54. 115 DKKW/Trümner, BetrVG, § 121 Rn. 22; ErfK/Kania, BetrVG § 121 Rn. 5; GK-BetrVG/Oetker, § 121 Rn. 25 f.; Wahsner/Borges, Der folgenlose Rechtsbruch, S. 49; Fahrlässiges Handeln kann lediglich im Rahmen des § 130 OWiG tatbestandsrelevant sein, allerdings ist dafür wiederum die Erfüllung des § 121 BetrVG durch einen Mitarbeiter erforderlich. 116 KK-OWiG/Rengier, § 11 Rn. 15.

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„verspätet“ ist demnach die Rechtsprechung des BAG zur rechtzeitigen Unterrichtung und damit die oben aufgezeigte Formel. Da das BAG aber neben der schwammigen Aufforderung zu einer frühzeitigen und noch eine Einflussnahme ermöglichenden Unterrichtung keine weiteren Kriterien zur Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes liefert, muss sich der Unternehmer nicht vor einer Verurteilung nach § 121 BetrVG fürchten, solange er den Wirtschaftsausschuss noch vor seinem Beschluss beteiligt. Auch wenn das Strafgericht zum Ergebnis kommt, dass die Unterrichtung verspätet ist, wird dies dem Unternehmer regelmäßig nicht vorwerfbar sein. Eine Verurteilung wird zwar entgegen der Ansicht Ehmanns117 nicht am Vorsatz scheitern118. Wenn man davon ausgeht, dass der Unternehmer immer in Kenntnis der Rechtsprechung des BAG handelt119, handelt er mithin auch vorsätzlich, wenn er gegen diese verstößt. Da der Täter hier aufgrund unrichtiger Auslegung nicht weiß, dass er gegen § 121 BetrVG verstößt, handelt es sich um einen Verbotsirrtum gem. § 11 Abs. 2 OWiG120 bzw. § 17 StGB in der Form eines Subsumtionsirrtums121. Der Unternehmer verkennt den Sinngehalt des Merkmals „verspätet“ hier aufgrund einer Parallelwertung außerhalb der Laiensphäre122. Der Appell der Norm hat ihn erreicht, er hat sie aber falsch angewendet. Dies ist als Irrtum über das Recht anzusehen und kann nicht einem Irrtum über tatsächliche Umstände gleichgestellt werden123. Dieser Verbotsirrtum wird jedenfalls dann unvermeidbar sein, „wenn beide Seiten von denselben Rechtsgrundsätzen ausgehen, hinsichtlich des konkreten Einzelfalles jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.“124 Es wäre unbillig, das Auslegungsrisiko dem Betroffenen aufzuerlegen, wenn es noch völlig offen ist, wie die Gerichte das konkrete Rechtsproblem entscheiden werden125. Auf Grundlage der Formel des BAG wäre sowohl eine Unterrichtung am Anfang als auch kurz vor dem Abschluss des unternehmerischen Willensbildungsprozesses vertretbar, da das BAG keine weiteren Kriterien zur Verfügung stellt und insbesondere auch nicht darauf eingeht, welches Maß an Einflussnahme dem Wirtschaftsausschuss zu gewähren ist. Es würde deswegen massiv gegen den aus Art. 103 Abs. 2 GG und § 3 OWiG fol-

117

Vgl. Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 86. Zutreffend GK-BetrVG/Oetker, § 121 Rn. 26. 119 Nach ganz herrschender Meinung, hat der Unternehmer seine betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten in Gestalt ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung auch zu kennen (vgl. ErfK/Kania, BetrVG, § 121 Rn. 5; FESTL, BetrVG, § 121 Rn. 6; GK-BetrVG/Oetker, § 121 Rn. 27; Richardi/Annuß, BetrVG, § 121 Rn. 11; WPK/Preis, BetrVG, § 121 Rn. 16). 120 GK-BetrVG/Oetker, § 121 Rn. 28 f. 121 Dazu Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Neumann, StGB I, § 17 Rn. 49; KK-OWiG/ Rengier, § 11 Rn. 15 ff. 122 Beulke, Klausurenkurs III, S. 106 f.; Hinderer, JA 2009, S. 864, 868. 123 Hinderer, JA 2009, S. 864, 868. 124 GK-BetrVG/Oetker, § 121 Rn. 28. 125 Vgl. KK-OwiG/Rengier, § 11 Rn. 54. 118

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genden Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen, wenn man den Unternehmer für die Umsetzung einer vertretbaren Rechtsmeinung bestrafen würde. Solange das BAG den Unterrichtungszeitpunkt nicht weiter eingrenzt, kann der Unternehmer deshalb nach seinem Gusto festlegen, ab wann er den Wirtschaftsausschuss an seiner Willensbildung beteiligt. Konsequenzen drohen ihm dafür wie gezeigt nicht, solange er nur vor deren Abschluss unterrichtet. Um tatsächlich eine effektive Durchsetzung der Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung im Rahmen des § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG zu ermöglichen, muss das BAG deshalb bei nächster Gelegenheit erklären, anhand welcher Kriterien der Zeitpunkt zu bestimmen ist, zu dem der Wirtschaftsausschuss nach seiner Auffassung tatsächlich noch Einfluss auf die unternehmerische Planung nehmen kann. (3) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rechtsprechung dem Wirtschaftsausschuss eine prozessbezogene Mitbestimmung einräumt, da die Unterrichtung noch während des Planungsprozesses erfolgen soll, wenn sich der Unternehmer noch nicht (auch noch nicht „vorläufig“) für die Durchführung einer Maßnahme entschieden hat. Inwieweit der vorgelagerte Prozess der Mitbestimmung unterworfen ist, wurde aber bisher offen gelassen. Das BAG hat noch keine wesentlich über die Widergabe des Gesetzeszwecks hinausgehende Reflektion des Unterrichtungszeitpunktes vorgenommen und eine Stellungnahme vermieden, wann die Einflussnahme des Wirtschaftsausschusses nach seiner Auffassung noch sichergestellt ist. Ausdrücklich geäußert hat sich bisher lediglich das LAG Köln, das den „Entschluss zur Planung“126 als Auslöser der Unterrichtungspflicht gelten lassen will. Zumindest deutlichere Anhaltspunkte lieferte überdies das KG Berlin, das eine „betriebswirtschaftlich sinnvolle“ Möglichkeit zur Einflussnahme fordert. Da diesen Entscheidungen ohne höchstrichterliche Billigung aber nur relativ geringe Bedeutung zukommt, wird der in § 121 Abs. 1 BetrVG kodifizierte Sanktionsmechanismus untergraben und die effektive Durchsetzung der Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung verhindert. Es ist deshalb an der Rechtswissenschaft, den Konkretisierungsprozess sachgemäß fortzusetzen. cc) Literatur In der Literatur besteht zunächst insoweit Einigkeit, als dass die Unterrichtung verspätet ist, wenn der Unternehmer bereits mit der Realisierung geplanter Maßnahmen begonnen hat127. Ein gespaltenes Meinungsbild ergibt sich allerdings hinsichtlich der Frage, wie weit vorher der Wirtschaftsausschuss einzubeziehen ist. 126

LAG Köln v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1. Vgl. nur DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44; DFL/Rieble, BetrVG, § 106 Rn. 5; ErfK/Kania, BetrvG, § 106 Rn. 4; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 30; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 114; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34. 127

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Dabei lassen sich grob zwei Strömungen unterscheiden, wobei sich auch innerhalb der Ansichten Unterschiede herauskristallisieren. (1) Ergebnisbezogene Mitbestimmung Die herrschende Meinung im Schrifttum plädiert für eine ergebnisbezogene Mitbestimmung128. Die meisten Autoren halten danach eine Unterrichtung erst für erforderlich, nachdem ein unternehmerisches Meinungsbildungsverfahren zu einem vorläufigen Abschluss gekommen ist129. Erst wenn der Unternehmer grundsätzlich zur Vornahme einer beteiligungspflichtigen Maßnahme entschlossen sei, ende der Zeitraum mitbestimmungsfreier Vorüberlegungen. Welche qualitativen Anforderungen an die Möglichkeit zur Einflussnahme zu stellen sind, wird unterschiedlich beurteilt. Am häufigsten findet sich die Voraussetzung, dass der Unternehmer noch keine „endgültige“ oder „abschließende“ Entscheidung über die wirtschaftliche Angelegenheit getroffen haben darf, damit der Wirtschaftsausschuss nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wird130 . Vereinzelt wird die Einflussnahme sogar noch so lange als möglich erachtet, bis der Unternehmer mit der Realisierung geplanter Maßnahmen begonnen hat131. Ausreichend sei danach die „objektive Chance“132, dass die Ergebnisse der Beratungen noch in die unternehmerische Planung einfließen können. Wenn diese Auffassung begründet wird, ist zentrales und soweit ersichtlich auch einziges Argument die Behauptung, dass Unterrichtung und Beratung erst möglich und sinnvoll seien, wenn der Unternehmer den entsprechenden Vorgang bereits reflektiert und die Planung greifbare Formen angenommen hat133. Eine andere Auslegung wäre nicht nur „praxisfern“134, sondern auch überdies nicht begrifflich 128 DFL/Rieble, BetrVG, § 106 Rn. 5; Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 35; Föhr, DB 1976, S. 1378, 1382; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 119; Heinze, NZA 1985, S. 555, 556; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34; HWGNRH/Hess, BetrVG, § 106 Rn. 28; Keim, BB 1980, S. 1330 f.; Löwisch/Kaiser, BetrVG, § 106 Rn. 12; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 132, 160; Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2107; Stege/Weinspach/ Schiefer, BetrVG, §§ 106 – 109 Rn. 34b; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 624 f.; wohl auch Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, S. 551. 129 Eine Ausnahme unter den in Fn. 766 genannten Autoren stellen lediglich Ehmann, (Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 52 f.) und Heinze (NZA 1985, S. 555, 556) dar. 130 HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34; Keim, BB 1980, S. 1330; Löwisch/ Kaiser, BetrVG, § 106 Rn. 12; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 132, 160; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 321; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 627. 131 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 35; Heinze, NZA 1985, S. 555, 556; Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2107. 132 Heinze, NZA 1985, S. 555, 556. 133 HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG § 106 Rn. 34; Keim, BB 1980, S. 1330; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 132. 134 Keim, BB 1980, S. 1330.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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von „unterrichten“ und „beraten“ gedeckt135. Planungen würden in Unternehmen, in denen ein Wirtschaftsausschuss besteht, regelmäßig durch mehrere Personen durchgeführt. Solange zwischen diesen Akteuren und der Unternehmensleitung noch keine vorläufige Übereinstimmung erzielt wurde, hätte der Wirtschaftsausschuss gar keinen Ansprechpartner, der auf die Fragen und Vorschläge des Wirtschaftsausschusses eingehen könne136. Erst wenn sich der Unternehmer bereits eine Meinung über den konkreten Beteiligungsgegenstand gebildet habe, sei eine hinreichende Grundlage für Unterrichtung und Beratung gegeben. (2) Prozessbezogene Mitbestimmung Die diesem Ansatz gegenüberstehende Literaturströmung plädiert hingegen für eine prozessbezogene Mitbestimmung. So ermögliche eine Einbeziehung des Wirtschaftsausschusses nach Beschlussfassung des Unternehmers in der Regel noch nicht einmal mehr die theoretische Möglichkeit einer sinnvollen Einflussnahme137. Auch wenn sich die beteiligten Planungsträger bereits auf eine gemeinsame Lösung verständigt haben, bestehe keine betriebswirtschaftlich sinnvolle Einwirkungsmöglichkeit mehr, da nur noch Detailkorrekturen möglich seien138. Rechtzeitig sei die Unterrichtung deshalb nur, „wenn der Unternehmer den Wirtschaftsausschuss über seine Absicht zur systematischen Lösungssuche noch vor Erteilung entsprechender Planungsaufträge informiert.“139 Der Wirtschaftsausschuss sei demnach bereits über den Entschluss des Unternehmers zur Planung zu unterrichten140. b) Stellungnahme Im Folgenden soll nachgewiesen werden, dass die Auslegung der herrschenden Meinung weder mit den Vorgaben der Richtlinie 2002/14/EG, noch mit denen des Betriebsverfassungsgesetzes zur vereinbaren ist. aa) Argumente für eine ergebnisbezogene Mitbestimmung Die ins Feld geführten sprachlichen und praktischen Zwänge erweisen sich bei näherem Hinsehen als haltlos. Zunächst kann es nicht überzeugen, die Notwendigkeit einer ergebnisbezogenen Mitbestimmung auf die Begrifflichkeiten „unter135

HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG § 106 Rn. 34. Keim, BB 1980, S. 1330; Stege/Weinspach/Schiefer, BetrVG, §§ 106 – 109 Rn. 34b. 137 Hjort, AiB 2005, S. 221, 222. 138 DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44; Hjort, AiB 2005, S. 221, 222. 139 DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44. 140 Däubler, DB 2000, S. 2270, 2273; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44; ErfK/ Kania, § 106 BetrVG Rn. 4; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 30; GTAW/Woitaschek, BetrVG, § 106 Rn. 6; KRHS, BetrVG, § 106 Rn. 5; Dieser Auffassung hat sich auch das LAG Köln (v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1) angeschlossen. 136

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richten“ und „beraten“ zu stützen141. Der Duden umschreibt „unterrichten“ mit „von etwas in Kenntnis setzen; benachrichtigen; informieren“142 und „beraten“ mit „gemeinsam überlegen und besprechen, über etwas Rat halten“143. Wieso man jemanden erst über einen Willensbildungsprozesses in Kenntnis setzen oder benachrichtigen kann, wenn dieser abgeschlossen ist, ist nicht nachvollziehbar. Dies gilt ebenso für die sprachliche Bedeutung von „beraten“. Aber auch die praktischen Vorbehalte gegen eine frühere Einbeziehung des Wirtschaftsausschusses sind unbegründet. Zwar weist ein unternehmerischer Entscheidungsprozess vor seinem Abschluss durchaus noch einige Unsicherheiten im Hinblick auf das zukünftige Vorgehen auf. So sind gegebenenfalls noch weitere mitbestimmungsfreie Alternativen im Spiel und noch nicht alle relevanten Informationen ermittelt. Irreführend ist aber die Verniedlichung des Zeitraumes vor der vorläufigen Entscheidung als „Phase der Gedankenspiele“144. Diese Formulierung suggeriert, dass es sich dabei um eine Art von ungeordnetem und etwas chaotischem „Brainstorming“ handelt, das zunächst noch nicht einmal dessen Teilnehmer überblicken können und schon gar nicht der Wirtschaftsausschuss. Trotz der im Rahmen des Allgemeinen Teils aufgezeigten Defizite145 handelt es sich bei unternehmerischer Planung im Wesentlichen um einen systematischen und strukturierten Prozess. Anders wären so komplexe Planungsgegenstände wie die des § 106 Abs. 3 BetrVG auch gar nicht zu bewältigen. Betriebswirtschaftliche Planung ist zielorientiertes Denken in Alternativen und kein intuitives Vortasten, das den Unternehmer irgendwann einmal zu der überraschenden Erkenntnis führt, dass er eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme vornehmen will. Diese Maßnahme ist als in Betracht gezogene Lösungsalternative in ihren Konturen auch schon am Anfang der Planung greifbar und kann deswegen auch schon Gegenstand von Unterrichtung und Beratung sein. bb) Unterrichtung nach dem „Abschluss der Vorüberlegungen“ Wenn sich der Großteil der herrschenden Meinung für eine Unterrichtung nach dem „Abschluss der Vorüberlegungen“ ausspricht146, soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass sich der Unternehmer zunächst ohne Beteiligung des Wirt141

So aber HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG § 106 Rn. 34. Stolze-Stubenrecht, Duden Bd. 9, S. 4137. 143 Stolze-Stubenrecht, Duden Bd. 2, S. 532. 144 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 18; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG § 106 Rn. 34. 145 Vgl. oben § 2 B. III. 4. d). 146 DFL/Rieble, BetrVG, § 106 Rn. 5; Föhr, DB 1976, S. 1378, 1382; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 119; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34; HWGNRH/Hess, BetrVG, § 106 Rn. 28; Keim, BB 1980, S. 1330 f.; Löwisch/Kaiser, BetrVG, § 106 Rn. 12; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 132, 160; Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2107; Stege/Weinspach/ Schiefer, BetrVG, §§ 106 – 109 Rn. 34b; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 624 f.; wohl auch Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, S. 551. 142

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schaftsausschusses eine Meinung bilden und über die Vornahme einer Maßnahme im Sinne von § 106 Abs. 3 BetrVG beschließen können solle. Man muss sich allerdings klar machen, dass mit diesem Beschluss ein oft langer und komplexer Entscheidungsprozess beendet wird, in dem die relevanten Argumente und Gegenargumente gegeneinander abgewogen wurden. Ein Unternehmer, der sein Handwerk versteht, entscheidet sich nicht ins Blaue hinein für die Verlegung oder Stilllegung eines Betriebes. Wenn er sich für eine bestimmte Maßnahme ausspricht, dann weil er von deren wirtschaftlicher Notwendigkeit voll überzeugt ist. Die Auslegung der herrschenden Meinung verstößt damit aber gegen die ausdrückliche Vorgabe der Rahmenrichtlinie 2002/14/EG, wonach die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter stattzufinden habe, bevor eine unternehmerische Entscheidung getroffen wird147. Dem kann auch nicht entgegenhalten werden, dass dann noch keine „vollwertige“ Entscheidung vorliegt, da die Umsetzungsplanungen (das „Wie“) noch nicht abgeschlossen sind. Zunächst sind diese meist ohnehin weit vorangeschritten oder sogar schon abgeschlossen, da die Entscheidung, ob eine Maßnahme durchgeführt werden soll, freilich nicht ohne Blick auf deren Umsetzungsmöglichkeiten getroffen werden kann148. Das „Ob“ und das „Wie“ einer Entscheidung sind zwei Seiten derselben Medaille, die sich nicht voneinander trennen lassen. Beim „Abschluss der Vorüberlegungen“ werden deswegen meist nur noch wenige Detailfragen offen sein. Zudem beziehen sich Unterrichtung und Anhörung im Anwendungsbereich der Richtlinie gerade auch auf das „Ob“ der Maßnahme und sollen dazu dienen, sozial belastende Entscheidungen zu vermeiden und nicht nur deren Folgen abzumildern („Antizipation und Prävention“149). Dies ergibt sich für Betriebsänderungen im Sinne von § 111 BetrVG auch aus Art. 4 Abs. 2 c) RL 2002/14/EG, der von der „Unterrichtung und Anhörung zu Entscheidungen, die wesentliche Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge mit sich bringen können“ spricht. Gemeint ist damit die Entscheidung über das „Ob“ der Maßnahme, da es sich bei Veränderungen der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsverträge um die Folgeplanung unternehmerischer Entscheidungen handelt. Wie das Wort „können“ verdeutlicht, geht die Norm davon aus, dass die Umsetzungsplanung zum Zeitpunkt der Entscheidung gerade noch nicht fertiggestellt wurde. Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass eine Beteiligung gem. § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG nach dem „Abschluss der Vorüberlegungen“ europarechtswidrig ist. 147 Vgl. dazu oben § 3 A. I. 2. und auch Bercusson, ILJ 2002, S. 209, 238 f.; Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 88; Gertler, Auskunftsansprüche im Konzern, S. 104; HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 11 f.; Kohte, FS 50 Jahre BAG, S. 1218, S. 1242 f.; Lorber, IJCLLIR 2002, S. 297, 303; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 160; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 479 f.; Schäfer, Der europäische Rahmen für Arbeitnehmermitwirkung, S. 161. 148 Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 37; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1303; vgl. dazu ausführlich unten § 3 B. I. 1. b) bb). 149 Vgl. ausführlich oben § 3 A. I. 2.

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cc) Anforderungen an die Möglichkeit zur Einflussnahme Neben dem konkreten Unterrichtungszeitpunkt können auch nicht die Vorkehrungen überzeugen, die die Befürworter einer ergebnisbezogenen Mitbestimmung aufstellen, um die Einflussnahme des Wirtschaftsausschusses abzusichern. Dies gilt zum einen für die Auffassung, die darauf abstellt, dass die Entscheidung des Unternehmers noch nicht als endgültig verabschiedet worden sein darf, damit der Wirtschaftsausschuss nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wird150. Zunächst ist nicht ganz klar, was genau damit gemeint ist. Die rechtlich-formale Endgültigkeit des Beschlusses scheidet jedenfalls aus. Es spielt insofern keine Rolle, ob dieser unter dem Vorbehalt einer künftigen Arbeitnehmerbeteiligung gefasst wird151. Selbst Entscheidungen, die im Wege eines gesellschaftsrechtlich formalisierten Verfahrens gefasst wurden, sind nicht selbstbindend und können wieder revidiert oder abgeändert werden152. Ein wirklich endgültiger Beschluss liegt deswegen erst vor, wenn bereits irreversible Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Naheliegender ist deshalb, dass der Entscheidungsvorbehalt zum Ausdruck bringen soll, dass „das Unternehmen – trotz Befürwortung – noch offen dafür sein [muss], den Jetztzustand beizubehalten oder das Problem auf andere Weise zu lösen.“153 Gegen diese Lösung sprechen aber gewichtige Gründe. Zunächst wurde im Rahmen des Allgemeinen Teils bereits nachgewiesen, dass der Unternehmer nach der Entscheidung für die Durchführung einer Maßnahme sowohl in betriebswirtschaftlicher als auch in psychologischer Hinsicht regelmäßig nicht mehr offen für Veränderungen sein wird154. Zudem ist dieses Kriterium gänzlich unpraktikabel, da es gleichsam an eine Meinung oder Einstellung anknüpft. Anknüpfungspunkt für deren Sanktionierung kann aber immer nur ihre Manifestation in der Außenwelt sein. Wenn der Unternehmer nicht den Fehler begeht, sich zu offenbaren, wird eine solche innere Tatsache deshalb so gut wie nie nachweisbar sein. Aber auch wenn dieser Nachweis möglich sein sollte: Was soll geschehen, wenn der Unternehmer im Wege eines sorgfältigen Entscheidungsprozesses ermittelt hat, dass eine Betriebsstilllegung tatsächlich der einzig denkbare Weg ist? Wie soll er dem Wirtschaftsausschuss, der die Sachlage falsch einschätzt und ihn von diesem Weg abzubringen versucht, dann ergebnisoffen ent150 HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 34; Keim, BB 1980, S. 1330; Löwisch/ Kaiser, BetrVG, § 106 Rn. 12; Ritter, Der Wirtschaftsausschuss, S. 132, 160; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 321; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 627. 151 So aber HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG § 106 Rn. 34; Stege/Weinspach/Schiefer, BetrVG, § 106 Rn. 34 c. 152 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 20; Schwerdtner, EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 S. 29, 33; Zu § 111 S. 1 BetrVG ebenso LAG Düsseldorf v. 27. 08. 1985 – 16 TaBV 52/85 – NZA 1986, S. 371, 372; Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 147; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 631. 153 Keim, BB 1980, S. 1330; Ebenso Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 20, 54. 154 Vgl. oben § 2 B. III. 5. a).

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gegentreten? Und was wäre, wenn der geschäftsführende Alleingesellschafter einer GmbH im Urlaub den unumstößlichen Entschluss gefasst hat, einen seiner Betriebe stillzulegen und davon nicht mehr abzubringen ist? Soll man ihn dann bereits für diese Meinung sanktionieren? Auch jenseits derartiger Extrembeispiele führt dieser Weg in Verbindung mit § 121 Abs. 1 BetrVG in ein Gesinnungsstrafrecht hinein, das nicht nur der deutschen, sondern auch jeder anderen modernen Rechtsordnung fremd ist. Das Gesetz kann dem Unternehmer keine offene Herangehensweise an die Beratung aufzwingen, sondern nur das Verfahren an sich, das den Arbeitnehmervertretern eine realistische Chance zur Einflussnahme bietet155. Damit soll der psychologischen Determinierung der unternehmerischen Entscheidung nicht die Relevanz abgesprochen werden. Ganz im Gegenteil muss dieser Aspekt endlich sachgemäß in die Konkretisierung der Definition der Rechtzeitigkeit einfließen. Aufgrund der geschilderten Hindernisse ist dies aber nicht mittels einer subjektivkonkreten Betrachtung des jeweiligen Prozesses, sondern nur mittels einer Integration der abstrahierten (normtatsächlichen156) Strukturen unternehmerischer Willensbildungsprozesse möglich. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt ein Teil der Literatur, für den es ebenfalls nur darauf ankommt, dass der Wirtschaftsausschuss eine „objektive Chance“157 zur Einflussnahme erhält. Im Gegensatz zur hier vertretenen Auffassung stellt diese Auffassung aber ausschließlich auf bloße formale Möglichkeit zur Einflussnahme ab. Die Unterrichtung sei deswegen erst dann verspätet, wenn der Unternehmer bereits konkrete Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet hat158. Vorher stünden einer Einflussnahme noch keine irreversiblen Hindernisse gegenüber und der getroffene Beschluss könne immer noch abgeändert werden. Ehmann weist dabei selbst auf die schlechten Erfolgsaussichten eines derartigen Beteiligungsverfahrens hin159, stellt diese Tatsache bei der Auslegung der gesetzlichen Vorschriften aber als nachrangig zurück160. Auch Heinze bringt das zum Ausdruck, indem er sagt, dass es keine Rolle spielt, wenn der Unternehmer bereits „wild entschlossen“161 zur Vornahme einer wirtschaftlichen Maßnahme ist, da der Unternehmer die Entscheidung „so oder so ohne Mitbestimmung“ trifft. Bei näherer Betrachtung tritt die innere Widersprüchlichkeit dieser Aussage aber offen zutage: Wieso sollte die strukturelle Schwäche eines Beteiligungsrechtes dessen weitere Entwertung im Rahmen der Auslegung rechtfertigen? Genau das 155

Vgl. dazu schon oben § 2 B. III. e) aa). Vgl. dazu oben § 2 A. IV. 157 Heinze, NZA 1985, S. 555, 556; Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2107; im Ergebnis ebenso Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 35. 158 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 35; Heinze, NZA 1985, S. 555, 556; Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2107. 159 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 24 f. 160 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 34 f., 55. 161 Heinze, NZA 1985, S. 555, 556. 156

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Gegenteil ist der Fall: Gerade weil der Wirtschaftsausschuss die Entscheidung nicht verhindern kann, muss das Mitwirkungsrecht effektiv ausgestaltet werden. Nicht hinweggegangen werden kann zudem über die verwendete Regelungstechnik. Die bloß formale Chance zur Einflussnahme ist bereits denknotwendig in der Beratung gem. § 106 Abs. 2 S. 2 BetrVG enthalten162. Der Begriff „rechtzeitig“ baut darauf auf und garantiert zudem ein Beteiligungsverfahren mit hinreichenden Erfolgsaussichten. Das Gesetz fordert demnach eine betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvolle und damit auch realistische Chance zur Einflussnahme. Gestützt wird diese Auslegung überdies durch die Richtlinie 2002/14/EG. Zum einen gebietet diese ebenfalls eine realistische Betrachtung unternehmerischer Entscheidungsprozesse, um die wirtschaftsförderlichen Effekte der Mitbestimmung voll zur Geltung zu bringen. Zum anderen lässt sich die Antizipation und Prävention sozial belastender Maßnahmen nicht bei einer Beteiligung kurz vor deren Durchführung erreichen. Erforderlich ist deshalb eine betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvolle Beteiligung am Entscheidungsprozess des Unternehmers. Diese ist nur gegeben, wenn der Wirtschaftsausschuss bereits über den Entschluss des Unternehmers zur Planung einer beteiligungspflichtigen Maßnahme in Kenntnis gesetzt wird163. 4. Ergebnis Vorstehend wurde nachgewiesen, dass eine rechtzeitige Unterrichtung stattzufinden hat, bevor sich der Unternehmer für die Durchführung einer der in § 106 Abs. 3 BetrVG genannten Maßnahmen entschieden hat. Der zeitliche Vorlauf muss dabei so bemessen sein, dass der Wirtschaftsausschuss die Möglichkeit hat, in betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvoller Weise auf die Entscheidung des Unternehmers einzuwirken. Auslöser der Unterrichtungspflicht ist deswegen der unternehmerische „Entschluss zur Planung“ der wirtschaftlichen Angelegenheit.

III. Die Unterrichtung über Anteilsveräußerungen gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG 1. Hintergrund und Regelungsvorbild Eine Sonderstellung im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nimmt in vielerlei Hinsicht § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG ein. Der Tatbestand wurde zusammen mit den §§ 106 Abs. 2 S. 2, 109a BetrVG durch das am 12. 8. 2010 in Kraft getretene „Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken (Risi162

Vgl. dazu oben § 2 B. III. 2. Däubler, DB 2000, S. 2270, 2273; DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 44; ErfK/ Kania, § 106 BetrVG Rn. 4; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 30; GTAW/Woitaschek, BetrVG, § 106 Rn. 6; KRHS, BetrVG, § 106 Rn. 5; LAG Köln v. 13. 7. 1999 – 13 (10) TaBV 5/99 – AP BetrVG 1972 § 109 Nr. 1. 163

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kobegrenzungsgesetz)“164 eingefügt. Diesem Gesetzespaket lag die Absicht zugrunde, die Transparenz von Unternehmensübernahmen zu vergrößern und unerwünschte Aktivitäten von Finanzinvestoren wie Hedgefonds und Private EquityFonds zu erschweren oder sogar zu verhindern165. Anlass für die arbeitsrechtlichen Änderungen war die Erkenntnis, dass das auf rasche Steigerung der Eigenkapitalrendite, bzw. des Unternehmenswertes ausgerichtete Geschäftsmodell dieser Marktakteure166 oftmals mit Arbeitnehmerinteressen konfligiert. Zugleich bezog das damalige Übernahmerecht die Belegschaft lediglich bei öffentlichen Unternehmensübernahmen im Anwendungsbereich des WpÜG ein. Da sich insbesondere Private Equity-Fonds aber vorwiegend auf nichtbörsennotierte Unternehmen konzentrieren, sah die große Koalition Handlungsbedarf, Schutzvorrichtungen auch bei nichtöffentlichen Transaktionen zu schaffen167. In den Gesetzesmaterialien wurde dabei ausdrücklich der Modellcharakter des WpÜG betont168. Dementsprechend soll zunächst ein Überblick über dessen arbeitsrechtliche Aspekte gegeben werden169. Am Anfang des Verfahrens steht entweder die freiwillige Entscheidung des Bieters zur Abgabe eines Übernahmeangebotes (§ 10 Abs. 1 WpÜG) oder die Erlangung der Kontrolle über eine Zielgesellschaft (§ 35 Abs. 1 WpÜG). In beiden Fällen muss der Vorstand der Zielgesellschaft unverzüglich unterrichtet werden (§§ 10 Abs. 5 S. 1, 35 Abs. 1 S. 4 WpÜG). Dieser muss wiederum den zuständigen Betriebsrat oder, sofern ein solcher nicht besteht, die Arbeitnehmer unverzüglich ins Bild setzen (§§ 10 Abs. 5 S. 2, 35 Abs. 1 S. 4 WpÜG). Ebenso ist auch mit der Angebotsunterlage nach deren Gestattung durch die BaFin zu verfahren (§§ 14 Abs. 4, 35 Abs. 2 WpÜG), die unter anderem Angaben über die Absichten des Bieters im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft enthalten muss (§ 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 WpÜG). Dazu zählt das Gesetz „insbesondere den Sitz und den Standort wesentlicher Unternehmensteile, die Verwendung des Vermögens, künftige Verpflichtungen, die Arbeitnehmer und deren Vertretungen, die Mitglieder der Geschäftsführungsorgane und wesentliche Änderungen der Beschäftigungsbedingungen einschließlich der insoweit vorgesehenen Maßnahmen“. Unverzüglich nach Übermittlung der Angebotsunterlage haben Vorstand und Aufsichtsrat der Zielgesellschaft eine begründete Stellungnahme zu dem Angebot zu veröffentlichen und dem Betriebsrat oder den Arbeitnehmern zu übermitteln (§§ 27 Abs. 3, 39 WpÜG). Darin muss gem. § 27 Abs. 1 S. 2 WpÜG insbesondere „auf die voraussichtlichen Folgen eines erfolgreichen Angebotes für die Zielgesellschaft, die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen, die Beschäftigungsbedingungen und die Stand164

BGBl. I 2008, S. 1666 ff. BT-Drs. 16/7438, S. 8. 166 Vgl. dazu Schmidt/Spindler, Finanzinvestoren, S. 57 ff. 167 BT-Drs. 16/7438, S. 9. 168 BT-Drs. 16/7438, S. 9: „Die Belegschaft nicht börsennotierter Unternehmen sollte jedoch in gleicher Weise darüber informiert werden, wenn sich die Kontrolle über das Unternehmen ändert.“ 169 Ausführlich dazu Seibt, DB 2002, S. 529 ff. 165

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orte der Zielgesellschaft“ (Nr. 2) sowie „auf die vom Bieter mit dem Angebot verfolgten Ziele“ (Nr. 3) eingegangen werden. Auch der zuständige Betriebsrat kann eine Stellungnahme abgeben, um die Anteilseigner über die Haltung der Arbeitnehmer zu dem Angebot aufzuklären170. Nimmt er diese Möglichkeit rechtzeitig wahr, ist der Vorstand verpflichtet, die Stellungnahme des Betriebsrats seiner eigenen beizufügen (§§ 27 Abs. 2, 39 WpÜG). Sollte der Bieter sein Angebot danach noch einmal modifizieren, wird das beschriebene Verfahren erneut durchgeführt (§§ 21 Abs. 2, 14 Abs. 4, 27, 39 WpÜG). 2. Rechtslage vor der Reform Die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungspflichten bei Veränderungen auf Gesellschafterebene wurden vor der Reform maßgeblich durch eine einzelne Entscheidung des BAG aus dem Jahre 1991 geprägt171. Dem Urteil lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem sämtliche Gesellschaftsanteile einer GmbH an einen ausländischen Investor veräußert wurden. Das Gericht sah den Auffangtatbestand des § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG damit als erfüllt an. Streitgegenstand war aber erneut nicht der Zeitpunkt, sondern der Umfang der Unterrichtungspflicht. Konkret ging es dabei um die Verpflichtung der Unternehmensleitung zur Vorlage des Anteilsveräußerungsvertrages. Im Hinblick auf den Zeitpunkt der Unterrichtung wirft die Entscheidung einige Fragen auf. Man muss die Urteilsbegründung dabei wohl so interpretieren, dass das Gericht eine Unterrichtung erst nach Unterzeichnung des Kaufvertrages für erforderlich hält. Das lässt sich allerdings nicht damit begründen, dass das Gericht keine Kritik hinsichtlich des stattgefundenen Unterrichtungsverfahrens äußert. Wie bereits oben ausgeführt, entscheidet das Gericht nur über die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung, wenn sich eine Stellungnahme nicht vermeiden lässt, was hier nicht der Fall war, da es lediglich um die Vorlage des Kaufvertrags ging. Entscheidend ist vielmehr, dass das Gericht an späterer Stelle die gesetzlich korrespondierende Beratungspflicht ablehnt. Ohne diese ist aber auch keine Unterrichtung vor Unterzeichnung des Kaufvertrages erforderlich. Die übliche und auch im Urteil selbst wiedergegebene Unterrichtungsformel läuft dann leer, da der Wirtschaftsausschuss ohne Beratung auch kein Recht zur Einflussnahme hat. Es spricht deshalb viel dafür, dass das BAG nach alter Rechtslage eine Unterrichtung erst nach vollzogener Transaktion für erforderlich hielt. Diese Rechtsprechung hat für den Unterrichtungszeitpunkt gem. § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG zwar keine Bedeutung, da § 106 Abs. 2 S. 2 BetrVG ausdrücklich von einem „potentiellen Erwerber“ spricht. Die Unterrichtung hat deshalb zweifellos vor der Unterzeichnung des Kaufvertrages zu erfolgen. Immer noch aktuell ist aber die Begründung, mit der sich das Gericht gegen das angeordnete Beratungsverfahren 170 171

BT-Drs. 14/7034, S. 52. BAG v. 22. 1. 1991 – 1 ABR 38/89 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 9.

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wendet. Dieses sei nicht erforderlich, weil sich durch die Veräußerung der Anteile auf der Unternehmensebene nichts verändert habe172. Erst wenn aufgrund des Gesellschafterwechsels unternehmerische Maßnahmen geplant werden, komme eine Beratung wieder in Betracht. Damit verstrickt sich das BAG aber in einen Widerspruch. Wenn für die Unterrichtungspflicht aus § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG ausreichend ist, dass Arbeitnehmerinteressen durch die wirtschaftliche Maßnahme potentiell berührt werden, muss das gleiche auch für die korrespondierende Beratung gelten. Es sind keine Gründe erkennbar, hier mit zweierlei Maß zu messen. Wahrscheinlicher ist, dass diese Begründung nur vorgeschoben ist und der Reduktion der Beratungspflicht tatsächlich der unausgesprochene Vorbehalt zugrundelag, den Unternehmer mit dem Wirtschaftsausschuss über einen Vorgang auf gesellschaftsrechtlicher Ebene verhandeln zu lassen. Zwar wäre der vorliegende Fall dafür geeignet gewesen, da einer der veräußernden Anteilseigner zugleich Geschäftsführer des Unternehmens war. Das Urteil hätte aber ebenso Auswirkungen auf andere Sachverhalte gehabt, in denen Leitung und Eigentum auseinanderfallen. Der Reformgesetzgeber hat aus dieser Entscheidung leider nichts gelernt. Dieselbe Problematik stellt sich auch innerhalb der Neuregelung. 3. Problemaufriss Die Unterrichtungspflicht in § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG knüpft an „die Übernahme des Unternehmens, wenn hiermit der Erwerb der Kontrolle verbunden ist“, an. Die verwendete Formulierung macht deutlich, dass die Vorschrift lediglich auf „share deals“ Anwendung finden soll, bei denen die Anteile an der Gesellschaft den Eigentümer wechseln173. Ein „asset deal“ ist hingegen nicht erfasst, da bei diesem die Vermögensgegenstände des Unternehmens übertragen werden, aber kein Kontrollerwerb stattfindet174. Eine Kontrollmehrheit liegt ausweislich der Gesetzesbegründung „insbesondere vor, wenn mindestens 30 Prozent der Stimmrechte an dem Unternehmen gehalten werden (§ 29 Abs. 2 WpÜG).“175 Die verwendete Formulierung („insbesondere“) zeigt, dass es sich bei dieser Schwelle aber lediglich um den Orientierungswert für börsennotierte Unternehmen handelt176. In Anbetracht deren regelmäßig hohen Anteils an Streubesitz und einer niedrigen Aktionärspräsenz auf Hauptversammlungen ist dann meist eine beherrschende Position erreicht177. Aber auch das WpÜG sieht in § 37 Abs. 1 WpÜG die Möglichkeit zur Befreiung von der Angebotspflicht 172

BAG a.a.O.; zustimmend Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2106. GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 91; Liebers/Erren/Weiß, NZA 2009, 1063, 1064; Vogt/ Bedkowski, NZG 2008, S. 725. 174 Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725. 175 BT-Drs. 16/7438, S. 15. 176 Ebenso Liebers/Erren/Weiß, NZA 2009, S. 1063, 1065. 177 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 813; Liebers/Erren/Weiß, NZA 2009, S. 1063, 1065; Simon/Dobel, BB 2008, S. 1955, 1956; Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 727 f. 173

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vor, „sofern dies im Hinblick auf (…) die Beteiligungsverhältnisse an der Zielgesellschaft oder die tatsächliche Möglichkeit zur Ausübung der Kontrolle (…) gerechtfertigt erscheint.“ Entscheidend für den Kontrollerwerb im Sinne von § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG sind deshalb die jeweiligen gesellschaftsrechtlichen Machtverhältnisse im Spannungsfeld von Stimmrechtsmehrheit, satzungsmäßigen Sonderrechten und Beherrschungs- bzw. Entherrschungsverträgen178. Eine konkrete Aufschlüsselung der denkbaren Konstellationen würde aber den hiesigen Rahmen sprengen. Zentrales Problem der Neuregelung ist, dass der Transaktionsprozess ausschließlich zwischen dem veräußerungswilligen Gesellschafter und dem Erwerber der Anteile stattfindet179. Im Kontext der wirtschaftlichen Angelegenheiten des § 106 Abs. 3 BetrVG ist die Norm deshalb ein Fremdkörper. Während alle anderen Tatbestände an ein Willensbildungsverfahren anknüpfen, das durch den Unternehmer gesteuert wird, ist dieser hier prima facie überhaupt nicht eingebunden oder zumindest nur ein Nebenakteur180. Das Unternehmen sei deshalb nur „Objekt und nicht Subjekt der Verkaufsverhandlungen.“181. Vor allem diese Problematik hat der Norm seit ihrem Bekanntwerden heftige Kritik eingetragen182. In der Tat ist Informationsverpflichteter und Ansprechpartner für die Beratung nach § 106 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 S. 2 BetrVG nur der Unternehmer. Die eigentlichen Entscheidungsträger sind deshalb dem Zugriff des Wirtschaftsausschusses entzogen. Däubler zieht daraus die Konsequenz, dass diesem der Durchgriff auf die Anteilseignerebene zu gestatten sei, wenn auch nur gegen den veräußerungswilligen Gesellschafter183. Er bleibt damit seinen schon zum alten Recht vertretenen Gedanken treu, dass die Unterrichtungsrechte von Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss nicht durch das Gesellschaftsrecht ihrer Wirksamkeit beraubt werden dürften184. Trotz der nachvollziehbaren Bedenken Däublers konnte sich sein Vorschlag wegen des insoweit eindeutigen Gesetzeswortlautes nicht durchsetzen. So lehnt die ganz herr-

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Ausführlich dazu Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 812 ff.; siehe auch GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 95 ff.; Liebers/Erren/Weiß, NZA 2009, S. 1063, 1065; Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 728. 179 Aus Vereinfachungsgründen wird im Folgenden lediglich vom veräußerungswilligen Anteilseigner und vom potentiellen Erwerber im Singular gesprochen. Ebenso ist aber auch der Fall erfasst, dass mehrere Personen auf beiden Seiten beteiligt sind. 180 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 817; Schröder/Falter, NZA 2008, S. 1097, 1098; Simon/ Dobel, BB 2008, S. 1955, 1957; Vogt/Bedkowski NZG 2008, S. 725, 728. 181 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 817. 182 DKKW/Däubler, BetrVG, § 106 Rn. 87; Liebers/Erren/Weiß, NZA 2009, 1063, 1066; Richardi/Annuß, § 106 Rn. 57; Schröder/Falter, NZA 2008, 1097, 1099; Simon/Dobel, S. 1955; Schmidt/Spindler, Finanzinvestoren, S. 328 f.; Thüsing, ZIP 2008, S. 106, 107: „Hier liegt wohl die gewichtigste Fehlwertung des neuen Gesetzes.“ 183 DKKW/Däubler, § 106 Rn. 91a; zustimmend Ratayczak, AiB 2008, S. 630, 632. 184 Vgl. dazu überdies DKKW/Däubler, Einl. Rn. 239, § 111 Rn. 160.

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schende Meinung in der Literatur einen Informationsdurchgriff strikt ab185. Auch das BAG hat in seinen bisher ergangenen Entscheidungen immer klar zwischen dem Unternehmen und dessen Anteilseignern getrennt186. In den Gesetzgebungsmaterialien findet sich überdies kein Hinweis, dass an dieser Rechtslage etwas geändert werden sollte. Hätte der Gesetzgeber tatsächlich einen solch tiefgreifenden Eingriff in die tradierten Strukturen des Arbeits- und Gesellschaftsrechts gewollt, so hätte es zumindest eines klarstellenden Hinweises bedurft187. Die Vorstellung, dass man einen so gewichtigen „dogmatischen Dammbruch“188 gleichsam „en passant“ herbeiführen wollte, ist abwegig. Der Wirtschaftsausschuss wird demzufolge lediglich zur Einflussnahme auf die Leitung der Zielgesellschaft berechtigt. Angesichts dieser Tatsache verneint der ganz überwiegende Teil der bisherigen Kommentatoren von § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG eine Beratungspflicht während der Übernahmephase189. Ein solches Verfahren sei „absurd“190, wenn Wirtschaftsausschuss und Unternehmer „keinen rechtlich abgesicherten Einfluss“191 auf den Eigentümerwechsel nehmen können. Als Vorbild dieser Schlussfolgerung wird auch die vorstehend besprochene BAG-Entscheidung192 herangezogen. In methodischer Hinsicht soll die in § 106 Abs. 1 S. 2 BetrVG angeordnete Beratungspflicht offenbar im Wege einer teleologischen Reduktion getilgt werden. Mittels dieses Verfahrens kann sich der Rechtsanwender über den eindeutigen Wortsinn hinwegsetzen, wenn der Anwendungsbereich einer Norm ansonsten über deren Zweck hinausgehen würde193. Da sich der Interpret damit gegen das Gesetz wendet, muss er aber einerseits höchste Vorsicht walten lassen und gerät andererseits in eine gesteigerte argumentative Bringschuld. Er muss zweifelsfrei nachweisen, dass ein Rechtsbefehl in jeder möglichen Auslegungsvariante nicht mit dem 185 Ausführlich dazu ErfK/Kania, BetrVG, § 106 Rn. 6a; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 89; Fleischer, ZfA 2009, S. 787; 806 ff.; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 115; Joost, FS Kreutz, S. 161, 162 ff.; Richardi/Annuß, § 106 Rn. 57; Schröder/Falter, NZA 2008, 1097, 1099; Simon/ Dobel, BB 2008, S. 1955; Thüsing, ZIP 2008, S. 106, 108; Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 727; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 365. 186 BAG v. 23. 8. 1989 – 7 ABR 39/88 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 7; BAG v. 22. 1. 1991 – 1 ABR 38/89 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 9. 187 Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 727. 188 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 809. 189 ErfK/Kania, BetrVG, § 106 Rn. 6a; Liebers/Erren/Weiß, NZA 2009, S. 1063, 1067; Löw, DB 2008, S. 758, 760; Schröder/Falter, NZA 2008, 1097, 1100; Simon/Dobel, BB 2008, S. 1955, 1957; Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 728; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 365; Nicht ganz deutlich: Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 818: „…wenig sinnvoll…“; Joost, FS Kreutz, S. 161, 168: „…in der Praxis wenig Bedeutung…“; Thüsing, ZIP 2008, S. 106, 107: „Hier liegt die wohl gewichtigste Fehlwertung des Gesetzes.“ 190 Löw, DB 2008, S. 758, 760. 191 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 818; Löw, DB 2008, S. 758, 760; Thüsing, ZIP 2008, S. 106, 107. 192 BAG v. 22. 1. 1991 – 1 ABR 38/89 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 9. 193 Staudinger/Looschelders/Olzen, BGB, § 242 Rn. 346; Larenz, Methodenlehre, S. 391.

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Normzweck zu vereinbaren ist. Dieser Grundsatz gilt vorliegend umso mehr, als hier keine besonders schutzwürdigen Interessen vor einer überschießenden Gesetzesanwendung bewahrt werden müssen. Gerade wenn eine Beratung sinnlos sein sollte, wäre sie meist eine kurze Veranstaltung und für den Unternehmer nur mit einem geringen zeitlichen Aufwand verbunden. Wenn die genannten Autoren den Unternehmer aber sogar davor schützen wollen, müssen sie hinreichend darlegen, dass die Beratung dem Wirtschaftsausschuss unter keinen Umständen eine Einflussnahme auf die Transaktion ermöglichen kann und deswegen entfallen muss. Für diesen Beweis ist aber ein sorgfältiger Blick auf das Transaktionsgeschäft notwendig. Im Folgenden soll deshalb zunächst das denkbare Einflusspotential des Wirtschaftsausschusses ausgemessen werden. Auf Grundlage dieser Ergebnisse wird dann in einem zweiten Schritt ein Unterrichtungszeitpunkt ermittelt, der dieses Potential am effektivsten zur Entfaltung bringt. 4. Einflusspotential des Wirtschaftsausschusses und Beratungspflicht a) Inhabergeführte Unternehmen (Familienunternehmen) Zunächst ist der Unternehmer freilich unmittelbar in die Transaktion eingebunden, wenn er selbst Anteilseigner seines Unternehmens ist194. Bei dieser Sachlage handelt es sich aber nicht um die Ausnahme, sondern um den Regelfall in der deutschen Unternehmenslandschaft. Eine großangelegte Studie aus dem Jahre 2009 gelangte zu dem Ergebnis, dass ca. 90,6 % aller deutschen Unternehmen durch die Einheit von Leitung und Eigentum geprägt sind (sogenannte „Familienunternehmen im engeren Sinne“ oder auch „eigentümergeführte Unternehmen“)195. Als eigentümergeführtes Unternehmen im Sinne der genannten Studie gilt ein Unternehmen dann, wenn es „von einer überschaubaren Anzahl natürlicher Einzelpersonen kontrolliert wird (…) und wenigstens einer der Eigentümer auch die Leitung des Un194 Vgl. dazu auch FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 93; Nur in einem Nebensatz: Liebers/Erren/ Weiß, NZA 2009, S. 1063, 1065; Löw, DB 2008, S. 758, 759; Auf das Beratungsverfahren in diesen Fällen geht keiner der in Fn. 827 genannten Autoren ein. 195 Niefert/Keese, Volkswirtschaftliche Bedeutung von Familienunternehmen, S. 15. Die Bezeichnung als Familienunternehmen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um enorm umsatzstarke Firmen mit bis zu fünfstelligen Mitarbeiterzahlen handeln kann. Als Extrembeispiel sei nur die Schaeffler-Gruppe mit einem Umsatz von 9,5 Milliarden Euro im Jahre 2010 und ca. 28.000 Mitarbeitern in Deutschland genannt (Quelle: www.schaefflergruppe.de). Familienunternehmen sind vor allem für den sogenannten Mittelstand typisch dem alle kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zugerechnet werden, die im Jahre 2008 ca. 70,5 % aller deutschen Arbeitnehmer beschäftigten. Als KMU gelten Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 50 Mio. Euro und weniger als 500 Mitarbeitern (Kayser/Wallau, Der industrielle Mittelstand, S. 57). Die EU-Kommission setzt den Mitarbeiterschwellenwert hingegen bei 250 Beschäftigten an (Vgl. Art. 2 Abs. 1 Kommissionsempfehlung 2003/361/EG). Eine repräsentative Studie aus dem Jahre 2004 konnte ermitteln, dass in 88,7 % der KMU der Unternehmer zugleich auch Gesellschafter der Unternehmung und zumeist sogar Mehrheitsgesellschafter ist (Backes-Gellner/Kayser, Sparkassen Management Praxis 51 (2005), S. 54, 55).

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ternehmens innehat.“196 Der Anteil dieser Unternehmen nimmt mit steigender Unternehmensgröße ab. Nach Beschäftigtenzahlen differenziert, wurden unter allen aktiven deutschen Unternehmen (ca. 2.845.000) folgende Größen ermittelt197: • 2546275 Unternehmen mit 0 – 9 Mitarbeitern: 93 % • 238980 Unternehmen mit 10 – 49 Mitarbeitern: 79 %, • 48365 Unternehmen mit 50 – 249 Mitarbeitern: 51 % • 5690 Unternehmen mit 250 – 499 Mitarbeitern: 30 %, • 5690 Unternehmen mit 500 und mehr Mitarbeitern: 22 % Die ersten beiden Gruppen spielen hier keine Rolle, da der Schwellenwert von 100 Mitarbeitern aus § 106 Abs. 1 S. 1 BetrVG nicht überschritten wird. Fasst man die anderen drei Gruppen zusammen, so gelangt man zu einem Anteil von 46,23 % eigentümergeführter Unternehmen ab einer Anzahl von 50 Mitarbeitern198. Auch wenn man von diesem Anteil die nicht separat ausgewiesenen Unternehmen mit 50 – 100 Mitarbeitern subtrahiert, verbleibt gleichwohl ein signifikanter Anwendungsbereich, in dem der Wirtschaftsausschuss unmittelbar Zugriff auf einen Entscheidungsträger erhält. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Übernahme profitabler Familienunternehmen ohne geeigneten Nachfolger zu den bevorzugten Betätigungsfeldern von Private Equity Fonds gehört199, verdient diese Konstellation mehr Beachtung. Ein weiterer Anwendungsfall, in dem der Wirtschaftsausschuss unmittelbaren Zugang auf eine Partei des Anteilsverkaufs erlangt, ist der sogenannte Management Buyout200. Dabei erwerben ein oder mehrere Mitglieder der Unternehmensleitung die Kontrollmehrheit an dem Unternehmen. Zur Finanzierung dieser Transaktionen sind ebenfalls oftmals Private Equity Fonds involviert201. b) Freiwillige Einbeziehung der Unternehmensleitung Die Geschäftsleitung wird durch den potentiellen Erwerber häufig freiwillig im Vorfeld der Übernahme einbezogen202. Ein gebräuchliches und in der Praxis immer mehr an Bedeutung gewinnendes Instrument dafür sind die sogenannten Investo196

Niefert/Keese, Volkswirtschaftliche Bedeutung von Familienunternehmen, S. 14. Niefert/Keese, Volkswirtschaftliche Bedeutung von Familienunternehmen, S. 17. 198 Eine Studie aus dem Jahre 2001 (Kayser/Wallau, Der industrielle Mittelstand, S. 57) ermittelte sogar einen Anteil von 54,77 % eigentümergeführter Unternehmen ab einer Anzahl von 100 Mitarbeitern. Die Untersuchung war aber auf Industrieunternehmen beschränkt und kann hier deswegen nur beschränkte Aussagekraft entfalten. 199 Vgl. dazu Reimers, Private Equity für Familienunternehmen, S. 1. 200 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 795. 201 Vgl. dazu ausführlich Kitzmann, Private Equity – Performance von Management Buyouts. 202 Ebenso FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 96; Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 795; Simon/Dobel, BB 2008, S. 1955, 1956 f.; Vogt/Bedkowski, S. 725, 728. 197

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renvereinbarungen. Investorenvereinbarungen sind „rechtsverbindliche Vereinbarungen zwischen einem oder mehreren Investoren und künftigen Anteilseignern einerseits, sowie der Gesellschaft andererseits (sowie gegebenenfalls weiteren Anteilseignern und/oder Garanten), in denen einzelne Aspekte der Beteiligungsübernahme und des (zukünftigen) Rechtsverhältnisses mit gegenseitiger Bindungswirkung geregelt sind.“203 Eine Verständigung mit der Zielgesellschaft ist für einen Investor in vielerlei Hinsicht vorteilhaft204. Im Folgenden sollen exemplarisch einige bedeutsame Motive herausgearbeitet werden: Zunächst kann eine Zusammenarbeit die Erfolgsaussichten eines Angebotes deutlich erhöhen. Dafür werden sog. Deal-Protection-Vereinbarungen getroffen, welche die Zielgesellschaft zur Vornahme beziehungsweise Unterlassung bestimmter Maßnahmen verpflichten205. Ebenfalls ist die Aussicht besser, den oder die Anteilseigner zur Annahme des Angebotes zu bewegen, wenn auf das Placet der Geschäftsleitung verwiesen werden kann206. Auch wenn sie ihr Engagement mit der Transaktion beenden werden, stehen wohl nur wenige Anteilseigner der Zukunft ihres Unternehmens und seiner Arbeitnehmer gleichgültig gegenüber. Das Wissen um eine Einigung zwischen Geschäftsleitung und Investor kann deswegen motivierend für eine Anteilsveräußerung wirken. Weiterhin ermöglicht eine Verständigung mit der Unternehmensleitung dem Investor, Planungssicherheit für die erfolgreiche Verwirklichung seiner wirtschaftlichen Ziele nach Abwicklung der Übernahme zu erlangen. Vor allem dann, wenn der Investor die Leitung nicht durch ein eigenes Management auswechseln kann oder will, ist es angezeigt, sich deren Unterstützung für das weitere Vorgehen zu sichern207. Ferner ist es trotz einer sorgfältigen Due Dilligence oftmals schwer, von außen die komplexen Strukturen und vor allem das Vertragswerk eines Unternehmens in allen Aspekten zu überblicken. Dies gilt nicht nur für den Investor, sondern ebenso für die Anteilseigner. Die Zusammenarbeit mit der Leitung der Zielgesellschaft kann den Erwerber deshalb vor unangenehmen Überraschungen nach Abwicklung der Transaktion schützen. Abhängig von den verfolgten Zielen benötigt der künftige Gesellschafter neben der Unterstützung durch das Management überdies oft auch die Unterstützung der Belegschaft208. So kann ein durch ein intransparentes Vorgehen verprellter Betriebsrat notwendige Umstrukturierungen empfindlich verzögern. Eine von den Vorteilen der Übernahme überzeugte und motivierte Belegschaft kann hingegen signifikant zum unternehmerischen Erfolg und damit zur 203

Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, S. 195, 196. Ausführlich dazu Kiem, AG 2009, S. 301, 302 ff.; Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, S. 195, 196 ff. 205 Vgl. Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, S. 195, 197; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, § 76 Rn. 80 f. 206 Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, S. 195, 197. 207 Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, S. 195, 198. 208 Ebenso Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 728. 204

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Steigerung der Beteiligungsrendite beitragen. Die Leitung der Zielgesellschaft profitiert ebenfalls von einer Zusammenarbeit mit dem Investor. Im Rahmen der Verhandlungen kann sie sich frühzeitig ein Bild von dessen konkreten Planungen machen. Sollten sich dabei signifikant gegenläufige Vorstellungen offenbaren, kann die Leitung die Verhandlungen abbrechen und Gegenmaßnahmen einleiten, bevor es zu spät ist. Andererseits erhält sie gleichsam als Gegenleistung zur Deal-ProtectionVereinbarung die Möglichkeit, auf die Sicherung der Interessen des Unternehmens und seiner Arbeitnehmer hinzuwirken. Aber auch wenn der potentielle Erwerber die Übernahme ohne Beteiligung der Unternehmensleitung durchführen will, kann diese immer noch durch die Initiative der Anteilseigner in die Übernahme einbezogen werden. Insbesondere wenn zwischen beiden Seiten gute Beziehungen bestehen, ist es durchaus denkbar, dass sich letztere durch die Leitung im Hinblick auf das Angebot beraten lässt. Dies gilt zum Beispiel im Hinblick auf die Angemessenheit des Angebotes, die die Leitung durch ihren unmittelbaren Einblick in Abläufe und Perspektiven des Unternehmens meist am besten beurteilen kann. Wie eben angesprochen, wird die Anteilseignerseite oftmals auch an einer Beurteilung der Absichten des Erwerbers interessiert sein. Wehrt sich die Leitung vehement gegen die Anteilsveräußerung, kann der Eigner gegebenenfalls überzeugt werden, das Angebot auszuschlagen. Auch kann in einem Bieterverfahren mit ähnlichen Angeboten, eine positive Stellungnahme der Leitung den Ausschlag für die Entscheidung über die Anteilsveräußerung geben. Wenn der Unternehmer demnach durchaus eine aktive Rolle bei der eigentlichen Transaktion und auch bei der Planung der künftigen Geschäftstätigkeit spielen kann, ist freilich auch eine Beratung sinnvoll. Sie bietet dem Wirtschaftsausschuss die Chance, den Unternehmer davon zu überzeugen, die betroffenen Arbeitnehmerinteressen in den Verhandlungen mit Anteilseigner und Kaufinteressent einfließen zu lassen. Exemplarisch sind vor allem arbeitnehmerschützende Vereinbarungen mit dem zukünftigen Eigentümer hervorzuheben. Denkbar ist dabei das „Absehen von wesentlichen betriebsbedingten Kündigungen, der Schließung oder Verlagerung von Produktionsstätten [und] zum Beibehalt der bestehenden Arbeitnehmervertretung und -mitbestimmung.“209 Andererseits kann auch der Alteigentümer davon überzeugt werden, seine Anteile nicht an einen Investor zu veräußern, dessen Planungen sozial stark beeinträchtigende Maßnahmen für die Arbeitnehmer vorsehen. Die Anwendungsfälle sind vielfältig und können hier nicht abschließend dargestellt werden. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass genügend taugliche Ansatzpunkte existieren, um eine Beratung mit dem Wirtschaftsausschuss zu rechtfertigen. c) Keine Einbeziehung der Unternehmensleitung Wie gezeigt, kann die Einbindung des Managements der Zielgesellschaft eine Übernahme und das anschließende Engagement signifikant erleichtern. Ebenso 209

Seibt/Wunsch, Der Konzern 2009, S. 195, 198; vgl. ebenso Kiem, AG 2009, S. 301, 304.

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denkbar ist aber auch, dass die Leitung der Zielgesellschaft bewusst nicht in die Durchführung der Transaktion eingebunden wird. aa) Kenntniserlangung Auch wenn der Unternehmer weder vom Eigner noch vom Erwerber einbezogen wird, geht die Anteilsveräußerung im Regelfall nicht ohne sein Wissen vonstatten. Wenn er nicht bereits aus informellen Kanälen einen Hinweis erhalten hat, wird er spätestens dann Informationen über den oder die potentiellen Erwerber erlangen, wenn er die Durchführung einer Due Diligence ermöglichen muss210. Dieses Verfahren, das übersetzt „gebotene Sorgfalt“ bedeutet, dient der Prüfung „von Unternehmenschancen und -risiken unter anderem aus finanzieller, kommerzieller und rechtlicher Sicht.“211 Dem Interessenten werden dafür alle erforderlichen Unternehmensdaten in einem sog. „Datenraum“ zur Verfügung gestellt, wo sich dieser ein eigenes Bild von dem Unternehmen machen kann. Feindliche Übernahmen börsennotierter Unternehmen sind auch ohne Due Diligence möglich, da die geschäftliche und finanzielle Lage aufgrund vielfältiger Veröffentlichungspflichten auch für einen externen Betrachter einsehbar ist. Dies gilt aber nicht für Unternehmen abseits des öffentlichen Kapitalmarktes, die insofern regelmäßig intransparenter sind. Eine sachgemäße Quantifizierung des Angebotes ist ohne vorherigen Einblick in die Unternehmensdaten schlechthin nicht möglich212. Die Durchführung einer umfassenden Durchleuchtung der Zielgesellschaft ist deshalb mittlerweile üblicher Bestandteil von Unternehmenskäufen213. Eine Studie aus dem Jahre 1999 ermittelte, dass im deutschen Transaktionsgeschäft in 95,53 % aller Fälle eine financial due diligence durchgeführt wird214. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die hier relevante Unternehmensgröße. Es ist nur sehr schwer vorstellbar, dass ein Investor ein Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern erwirbt, ohne dieses vorher „auf Herz und Nieren“ geprüft zu haben. Dementsprechend wird die Due Diligence auch im Bericht des Finanzausschusses als üblicher Bestandteil einer Übernahme im Wege des Bieterverfahrens bezeichnet215. Nach zwar umstrittener, aber mittlerweile wohl herrschender Meinung, ist der Erwerber im Regelfall sogar zur Durchführung einer Due Diligence verpflichtet216. Ein pflichtwidriges Unterlassen kann die Leitung des 210

FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 98; Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 796; vgl. zu den Pflichten von Vorstand und Geschäftsführung ausführlich Körber, NZG 2002, S. 263, 264 ff. 211 Gran, NJW 2008, S. 1409, 1410. 212 Ebenso Ziegler, DStR 2000, S. 249. 213 Böttcher, ZGS 2007, S. 20, 21; Klein-Blenkers, NZG 2006, S. 245, 251; MüKoBGB/ Westermann, § 453 Rn. 58. 214 Marten/Köhler, Finanz Betrieb 1999, S. 337, 342. 215 BT-Drs. 16/9821, S. 8. 216 Böttcher, NZG 2005, S. 49, 50 ff.; Fleischer/Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, § 7 Rn. 68; Gran, NJW 2008, S. 1409, 1411; Werner ZIP 2000, 989, 990 ff.

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Erwerberunternehmens schadensersatzpflichtig gegenüber der eigenen Gesellschaft machen217. Im Rahmen dieses Verfahrens führt aber kein Weg an der Leitung der Zielgesellschaft vorbei218. Der Anteilseigner kann die zur Prüfung erforderlichen digitalen oder physischen Unterlagen dem Erwerber nicht zur Verfügung stellen. Diese befinden sich in der Organisationsgewalt der Leitung, die deshalb auch zwangsläufig eingebunden werden muss. Fraglich ist allerdings, ob sie auch in jedem Fall Kenntnis von der Identität des potentiellen Erwerbers erlangt. Jener wird die Prüfung regelmäßig nicht selbst durchführen, sondern externe Berater wie Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Anwälte heranziehen219. Insofern könnte man auf die Idee kommen, dass die Leitung gegebenenfalls im Unklaren darüber gelassen wird, in wessen Auftrag die Prüfer handeln. Zur Beantwortung dieser Frage ist zwischen der Übernahme einer Aktiengesellschaft einerseits und einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung andererseits zu unterscheiden. Bei einer Aktiengesellschaft ist die Rechtslage eindeutig. Weder Kaufinteressenten noch Aktionäre haben einen Anspruch gegen den Vorstand auf Gestattung einer Due Diligence-Prüfung220. Dieser entscheidet vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen, ob es im Gesellschaftsinteresse liegt, dem Interessenten einen Einblick in die Strukturen der Gesellschaft zu gestatten221. Die Person des Erwerbers spielt bei dieser Entscheidung eine zentrale Rolle, da die Gefahr einer Gesellschaftsschädigung freilich signifikant größer ist, wenn ein Konkurrent Einblick in die Bücher erhält, als wenn ein branchenfremder Investor auf der Suche nach einer lohnenden Kapitalbeteiligung ist222. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft erhält demzufolge zwangsläufig Kenntnis von der Identität des Interessenten. In einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung genießt die Geschäftsführung bekanntermaßen deutlich weniger Unabhängigkeit. Dementsprechend findet sich in § 51a Abs. 1 GmbHG ein umfassend ausgestaltetes Informationsrecht des Gesellschafters. Prima facie ist dieser deshalb berechtigt, Auskunft über alle Angelegenheiten der Gesellschaft zu erhalten und an Dritte weiterzuleiten. Keinen Unterschied kann es dabei machen, wenn die Geschäftsführung angewiesen wird, dem Kaufin217 Beisel/Klumpp/Beisel, Der Unternehmenskauf, 2. Kap. Rn. 29.; Böttcher, NZG 2005, S. 49, 50 ff.; Werner, ZIP 2000, S. 989 ff. 218 Vgl. Gran, NJW 2008, S. 1409, 1411. 219 Fleischer/Körber, BB 2001, S. 841, 842. 220 Körber, NZG 2002, S. 263, 264 f.; Lutter, ZIP 1997, S. 613, 616; Ziegler, DStR 2000, S. 249, 252. 221 Assmann, ZGR 2002, S. 697, 709; Fleischer/Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, § 7 Rn. 102 ff.; Hüffer, AktG, § 93 Rn. 8; Körber, NZG 2002, S. 263, 265; MüKoAktG/ Spindler, § 93 Rn. 120; a. A. Lutter, ZIP 1997, 613, 617 der dies nur in Ausnahmesituationen gestatten will. 222 Vgl. auch zu weiteren Kriterien Fleischer/Fuchs, Handbuch des Vorstandsrechts, § 22 Rn. 102 ff.; Körber, NZG 2002, S. 263, 270.

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teressenten eine Due Diligence zu ermöglichen223. Das Informationsrecht wird allerdings nicht schrankenlos gewährleistet. Nach Auffassung des BGH ist „die Weitergabe von Informationen zu gesellschaftsfremden Zwecken oder an gesellschaftsfremde Dritte (…) grundsätzlich pflichtwidrig, und zwar ohne Rücksicht auf ihren Inhalt und ohne Rücksicht darauf, welche Zwecke mit der Verbreitung der Kenntnisse verfolgt werden.“224 Der Entscheidung lag allerdings keine Anteilsveräußerung zugrunde, so dass die Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung auf die Due Diligence noch nicht zweifelsfrei feststeht. Ein Verbot225 würde aber nicht nur an der wirtschaftlichen Realität vorbeigehen, sondern wäre überdies ein erheblicher Eingriff in das Veräußerungs- und Lösungsrecht des Gesellschafters aus § 15 Abs. 1 GmbHG226. So würden die Anteile nicht nur grundsätzlich an Attraktivität verlieren. Überdies müsste das gesteigerte Risiko des Erwerbers beim Verkauf auch eingepreist werden. Dementsprechend sieht die herrschende Meinung im Schrifttum ein Auskunftsverlangen des Gesellschafters und die Weitergabe der Informationen unter Wahrung seiner Treuepflicht gegenüber der Gesellschaft grundsätzlich als zulässig an227. Eines der zentralen Kriterien ist dabei ebenfalls die Person des Erwerbers, da sensible Unternehmensinterna in den falschen Händen großen Schaden für die Gesellschaft mit sich bringen können. Fordert ein veräußerungswilliger Gesellschafter unter Verstoß gegen seine Treuepflicht die Ermöglichung einer Due Diligence, darf die Geschäftsführung gem. § 51a Abs. 2 GmbHG einen Gesellschafterbeschluss einholen und die Einsicht verweigern. Zur Wahrnehmung dieser Schutzfunktion muss die Geschäftsführung aber freilich auch in Kenntnis über die genannten Bewertungskriterien gesetzt werden. Eine Umgehung dieses Prüfungsverfahrens ist lediglich denkbar, wenn ein Alleingesellschafter die Ermöglichung einer Due Diligence begehrt. Aus § 51a Abs. 2 S. 2 GmbHG geht deutlich hervor, dass die Gesellschafter die alleinige Informationshoheit ausüben und sogar potentiell gesellschaftsschädigende Auskünfte gestatten können. Sind aber keine Interessen anderer Gesellschafter zu schützen, ist auch eine Kontrolle der gesellschafterlichen Treuepflicht durch die Geschäftsführung nicht mehr erforderlich. Ist der Alleingesellschafter zur Veräußerung einer kontrollfähigen Mehrheit seiner Anteile entschlossen, kann er die Geschäftsführung demzufolge im Unklaren über den Erwerber lassen. In diesem Fall würde freilich nicht nur die Beratungs-, sondern auch die Unterrichtungspflicht gemäß § 275 Abs. 1 BGB entfallen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Unternehmer den Wirtschaftsausschuss im Regelfall zumindest über die Identität des potentiellen Erwerbers ins Bild

223 224 225 226 227

Körber, NZG 2002, S. 263, 268. BGH v. 11. 11. 2002 – II ZR 125/02 – BGHZ 152, S. 339, 344. So Lutter, ZIP 1997, 613, 615. Ziegler, DStR 2000, S. 249, 250. Körber, NZG 2002, S. 263, 266; Ziegler, DStR 2000, S. 249, 250.

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setzen kann. Ein tauglicher Unterrichtungsgegenstand im Sinne von § 106 Abs. 2 S. 2 BetrVG ist dann gegeben. bb) Beratung mit dem Wirtschaftsausschuss Wurde die Identität des Interessenten gelüftet, stellt sich nunmehr die Frage, welchen Zweck eine Beratung auf dieser Grundlage erfüllen kann. Auf den ersten Blick ist allein mit dieser Information nicht viel anzufangen. Zwar zeigt § 106 Abs. 2 S. 2 BetrVG, dass auch die Benennung des potentiellen Erwerbers für den Wirtschaftsausschuss von Interesse ist. Wesentlich bedeutsamer sind für die Arbeitnehmer aber dessen Absichten im Hinblick auf das Unternehmen, da die Übernahme an sich noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen zeitigt. Die Kenntnis der Identität des Interessenten kann aber Ausgangspunkt für eine Informationssuche des Wirtschaftsausschusses sein, deren Ergebnis wiederum als taugliche Grundlage für eine sinnvolle Beratung dienen kann. Zunächst kann sich der Wirtschaftsausschuss freilich unmittelbar an den Interessenten wenden und ihn unter Zusicherung der Vertraulichkeit bitten, seine Absichten im Falle einer erfolgreichen Übernahme zu offenbaren. Werden diese Informationen verweigert, kann der Wirtschaftsausschuss aber auch eigene Recherchen anstellen. Beurteilungskriterien lassen sich vor allem durch Erkundigungen im Internet, aber auch bei Gewerkschaften oder bei den Betriebsräten der aktuellen oder ehemaligen Unternehmen des Interessenten ermitteln. Wirbt eine Private Equity Gesellschaft auf ihrer Homepage mit Renditen weit über dem Marktdurchschnitt, so ist dies bereits ein erstes Indiz für ein aggressives Vorgehen. Davon ausgehend kann versucht werden, in Erfahrung zu bringen, ob der Interessent bisher langfristige und zukunftsorientierte Engagements gepflegt hat oder hingegen auf sozial belastende Rationalisierungsmaßnahmen gesetzt hat, um das Unternehmen für eine schnelle und gewinnbringende Veräußerung („Exit“) zu optimieren. Auch im Gesetzgebungsverfahren wurde darauf hingewiesen, „dass in nicht ganz seltenen Fällen die Betriebsräte der Unternehmen, die übernommen werden sollen, durchaus auch mit Betriebsräten von Unternehmen kommunizieren, die dieser Übernehmer bereits übernommen hat.“228 Setzt der Wirtschaftsausschuss diese und noch weitere Informationen zusammen, wird sich gegebenenfalls ein relativ aussagekräftiges Gesamtbild ergeben, aus dem Schlüsse auf das voraussichtliche Verhalten nach der Übernahme gezogen werden können. Wenn man nicht auf ein gänzlich „unbeschriebenes Blatt“ trifft, wird sich eine Beratungsgrundlage, eine entsprechende Initiative des Wirtschaftsausschusses oder des Betriebsrates vorausgesetzt, deshalb schaffen lassen. Handelt es sich nicht um ein inhabergeführtes Unternehmen, ist der Unternehmer mangels Entscheidungsgewalt zwar eigentlich nicht der richtige, aber nach der Konzeption des Gesetzes dennoch der einzige Gesprächspartner für den Wirtschaftsausschuss. In Anbetracht der gesetzlichen Grundentscheidung für eine 228

Finanzausschuss, Wortprotokoll, 82. Sitzung am 23. 01. 2008, Nr. 16/82, S. 23 f.

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Trennung zwischen unternehmens- und gesellschaftsrechtlicher Ebene, kommt ein Beratungsanspruch gegen den Gesellschafter nicht in Betracht. Trotzdem dürfen bei der Gesetzesinterpretation nicht die Augen vor den gesellschaftsrechtlichen Machtverhältnissen verschlossen werden. Wenn ein unmittelbarer Zugriff auf den Entscheidungsträger am Wortlaut scheitert, muss dem Wirtschaftsausschuss zumindest das Recht zur mittelbaren Einflussnahme auf die Anteilsveräußerung gewährt werden. Der Unternehmer ist deshalb verpflichtet, das Ergebnis der Beratungen an den veräußerungswilligen Anteilseigner weiterzuleiten, um dem Wirtschaftsausschuss Gehör zu verschaffen. Auch das BAG hat diese Form der mittelbaren Einflussnahme mit dem Unternehmer als Intermediär im Rahmen des § 111 S. 1 BetrVG bereits ausdrücklich gebilligt229. In den zugrundeliegenden Fällen hatten die Gesellschafter des Unternehmens ohne vorherige Beratung den Entschluss zu einer Betriebsänderung gefasst und die Unternehmensleitung zur Umsetzung angewiesen. Das BAG sah die nachfolgende Unterrichtung trotzdem noch als rechtzeitig an, da die Geschäftsleitung zum betreffenden Zeitpunkt „weder tatsächlich noch rechtlich gehindert [war], die sich aus den Verhandlungen ergebenden Alternativen an ihre Gesellschafterin weiterzuleiten, um ggf. eine Änderung der Pläne zu erreichen.“230 Ob eine solche Unterrichtung tatsächlich noch als rechtzeitig bezeichnet werden kann, soll erst an späterer Stelle eine Rolle spielen231. Vorliegend ist lediglich die Erkenntnis relevant, dass das Gericht ebenso die Weiterleitung der Beratungsergebnisse als taugliche Kompensation der gesellschaftsrechtlich bedingten Schwächung des Beratungsverfahrens ansieht. Dergestalt zeigen sich auch Parallelen zum Prozedere nach dem WpÜG, das für die betriebsverfassungsrechtlichen Neuerungen des Risikobegrenzungsgesetzes Vorbildcharakter hatte. Auch hier ist der Vorstand gem. § 27 Abs. 2 WpÜG verpflichtet, die Stellungnahme der Arbeitnehmer den Anteilseignern zugänglich zu machen, indem er sie seiner eigenen beifügt. Eine unmittelbare Beratung mit den Aktionären wird dem Betriebsrat ebenfalls nicht gewährt und wäre in Anbetracht der breiten Anteilsstreuung börsennotierter Unternehmen auch praktisch nicht realisierbar. Sowohl bei öffentlichen als auch bei nichtöffentlichen Übernahmen sind die Anteilseigner nicht zur Kenntnisnahme und Berücksichtigung der Position der Arbeitnehmervertreter verpflichtet. Letzteren muss aber zumindest die Möglichkeit verschafft werden, ihre Stellungnahme den Anteilseignern zugänglich zu machen.

229 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39; BAG v. 30. 03. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47; BAG v. 30. 05. 2006 – 1 AZR 25/05 – AP InsO § 209 Nr. 5. 230 BAG v. 30. 3. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47 Bl. 1574 R.; fast wortgleich auch BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39 Bl. 909. 231 Vgl. unten § 3 A. IV. 2.

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d) Zusammenfassung und Schlussfolgerung Das vorstehend verdeutlichte Einflusspotential des Wirtschaftsausschusses in Übernahmesituationen zeigt eines ganz deutlich: Eine pauschale teleologische Reduktion der Beratungspflicht ist rechtswidrig, da die „Objektstellung“ der Unternehmensleitung keinesfalls die Regel232, sondern die Ausnahme ist. Dies gilt zunächst für die Übernahme eines der in Deutschland häufig anzutreffenden inhabergeführten Unternehmen. Die Beratung kann dem Wirtschaftsausschuss dann unmittelbaren Zugriff auf den Entscheidungsträger gewähren. Aber auch wenn ein externer Gesellschafter die Entscheidung über die Anteilsveräußerung trifft, wird der Unternehmer oft freiwillig in die Übernahme eingebunden oder erlangt im Rahmen der Due Diligence zumindest Kenntnis von der Identität des Interessenten (Ausnahme: Auskunftsbegehren eines GmbH-Alleingesellschafters). Eine Beratung kann dem Wirtschaftsausschuss in beiden Konstellationen zumindest eine mittelbare Einflussnahme auf den Veräußerungsprozess ermöglichen. Zugegebenermaßen sind die Erfolgschancen eines solchen Verfahrens nur sehr gering. Trotzdem ist es verfehlt, die Ablehnung eines gesetzlich gebotenen Beteiligungsrechtes mit dessen struktureller Schwäche zu rechtfertigen. Findet sich eine Auslegung, die der Verwirklichung des Gesetzeszwecks innerhalb der Grenzen des Wortlautes dienen kann, ist diese immer einer Reduktion und damit einem Handeln gegen das Gesetz vorzuziehen. 5. Unterrichtungszeitpunkt Vor dem Hintergrund des vorstehend ausgemessenen Einflusspotentials soll nun im Folgenden der sachgemäße Unterrichtungszeitpunkt ermittelt werden. Die denkbaren Erscheinungsformen einer Anteilsveräußerung sind allerdings vielfältig und können deshalb nicht über einen Kamm geschoren werden. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Einbindung der Unternehmensleitung, sondern auch hinsichtlich des gewählten Transaktionsverfahrens. In der Praxis werden die Anteile üblicherweise entweder im Wege individueller Verhandlungen oder im Rahmen eines strukturierten Bieterverfahrens veräußert233. Diese Differenzierung liegt gem. § 106 Abs. 2 S. 2 BetrVG auch der gesetzlichen Konzeption zugrunde234. a) Einbezogene Unternehmensleitung Zunächst wird die Konstellation betrachtet, die offenbar der gesetzgeberischen Vorstellung zugrunde lag. Gemeint ist damit entweder der Fall, dass die Übernahme eines inhabergeführten Unternehmens beabsichtigt ist, oder aber die Unterneh232

So aber Löw, DB 2008, S. 758, 760. Gran, NJW 2008, S. 1409, 1410. 234 Ebenso der Bericht des Finanzausschusses, BT-Drs. 16/9821, S. 8; Zur Differenzierung zwischen Bieterverfahren und Exklusivverhandlungen bei der Ermittlung des Unterrichtungszeitpunktes ebenfalls Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 818 ff. 233

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mensleitung freiwillig einbezogen wird. Zudem ist der potentielle Erwerber bereit, seine Absichten im Hinblick auf die künftige Geschäftstätigkeit des Unternehmens sowie die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Arbeitnehmer zu offenbaren. Alle erforderlichen Informationen sind dann beim Unternehmer vorhanden und Unterrichtung sowie Beratung können dem gesetzlichen Leitbild entsprechend stattfinden. aa) Bieterverfahren Ein Bieterverfahren verläuft meist nach dem gleichen Schema: Zunächst werden mehrere Interessenten durch den Versand von Informationsmaterial angesprochen und gebeten, ein unverbindliches Angebot abzugeben235. Aus dem Kreis dieser Angebote wählt der veräußerungswillige Anteilseigner „im Regelfall bis zu zehn Interessenten“236 aus und lädt diese nach Abschluss einer Vertraulichkeitsvereinbarung zur Durchführung der Due Diligence ein. Nach deren Abschluss geben die verbliebenen Interessenten ein verbindliches Angebot ab. Auf deren Grundlage entscheidet sich der Anteilseigner, mit welchen Interessenten er in bilaterale Verhandlungen treten will, die dann in die endgültige Entscheidung über den Anteilsverkauf münden. (1) Meinungsstand Die Meinungen, in welchem Stadium die Unterrichtung noch rechtzeitig ist, decken fast das gesamte Spektrum des Prozesses ab. Am großzügigsten ist insofern Däubler, der bereits Interessenbekundungen für ein Einsetzen der Unterrichtungspflicht ausreichen lässt, um das ohnehin schwache Informationsrecht nicht noch weiter zu entwerten237. Danach müsste der Wirtschaftsausschuss schon über alle unverbindlichen Angebote informiert werden. Nach Auffassung der federführenden Koalitionsfraktionen sei hingegen lediglich über diejenigen Erwerber zu unterrichten, die ein verbindliches Angebot abgegeben haben238. Das Gesetz spreche insofern „bewusst nicht von potenziellen Bietern, sondern von potentiellen Erwerbern.“239, weswegen bloße Interessenbekundungen nicht erfasst seien. Fleischer setzt den Unterrichtungszeitpunkt noch eine Nuance später an, wenn er die Entscheidung des veräußerungswilligen Gesellschafters, „mit welchen Erwerbsinteressenten er abschließende Kaufverhandlungen führt“240, als Auslöser heranzieht. Früher sei der 235

Vgl. BT-Drs. 16/9821, S. 8; Gran, NJW 2008, S. 1409 ff. Seibt/Seibt, Mergers & Acquisitions, S. 16. 237 DKKW/Däubler, BetrVG § 106 Rn. 88. 238 BT-Drs. 16/9821, S. 8; ebenso GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 119. 239 BT-Drs. 16/9821, S. 8. 240 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 821. Fast identisch Löw (DB 2008, S. 758, 760), der auf den „positiven Abschluss der Due Diligence…wenn die konkreten Vertragsverhandlungen begonnen haben“ abstellt. Löw wird fälschlicherweise von Simon/Dobel (BB 2008, S. 1955, 1957 Fn. 27), Fleischer (ZfA 2009, S. 787, 820 Fn. 174) und Däubler (DKKW/Däubler, BetrVG § 106 Rn. 88) als Befürworter einer Unterrichtung nach dem Abschluss der Due Diligence 236

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Interessentenkreis noch zu groß und die Erwerbswahrscheinlichkeit zu klein. Noch weiter fortgeschritten ist der Prozess, wenn die Unterrichtungspflicht erst beim Abschluss einer Exklusivitätsvereinbarung einsetzt241. Ähnliches muss wohl für eine Unterrichtung, „wenn der Verkaufsprozess bereits sehr weit fortgeschritten ist“242, gelten. Am strengsten sind Schröder und Falter, die den Wirtschaftsausschuss erst informieren wollen, wenn „die Unterzeichnung unmittelbar bevorsteht.“243 (2) Stellungnahme Um den Unterrichtungszeitpunkt sachgemäß eingrenzen zu können, sollen zunächst die Extrempositionen aus dem dargestellten Meinungsspektrum abgetragen werden. (a) Interessenbekundungen Nicht sachgerecht ist es jedenfalls, bereits bloße Interessenbekundungen, also vorläufige Angebote, als Auslöser der Unterrichtungspflicht zu kennzeichnen. Hält man sich vor Augen, dass in Bieterverfahren bis zu 30 Interessenten zu einer Auktion eingeladen werden244, so erscheint dies in Anbetracht der damit verbundenen Informationsflut nur wenig praktikabel. Der Wirtschaftsausschuss hätte an einer so frühen Unterrichtung auch kein Interesse. Relevant ist in erster Linie die Veräußerungsentscheidung des Anteilseigners. Dieser gibt seine Präferenzen aber zum ersten Mal bei der Auswahlentscheidung über die Einladung zur Due Diligence ansatzweise zu erkennen. Ferner basiert die vorläufige Angebotsentscheidung zunächst nur auf dem Informationsmaterial des Anteilseigners, das die Unternehmenslage aus Vertraulichkeitsgründen aber nur oberflächlich charakterisiert. Ohne eine Due Diligence sind die Interessenten zu diesem Zeitpunkt meist noch nicht in der Lage, ihre Absichten und die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer sachgemäß zu beurteilen245. (b) Verhandlungsexklusivität Auf der entgegengesetzten Seite stehen die Auffassungen, die den Wirtschaftsausschuss erst unterrichten wollen, nachdem einem Interessenten Exklusivität gewährt wurde, oder sogar erst dann, wenn die Unterzeichnung unmittelbar bevorsteht. Die Konsequenzen sind kurios: Die Beeinflussung eines Bieterverfahrens würde erst dann zugelassen, wenn alle Bieter bis auf einen ausgeschieden sind und nunmehr angesehen. Dabei übersehen sie aber, dass dieser überdies noch konkrete Vertragsverhandlungen fordert, die sowohl ein verbindliches Angebot als auch eine entsprechende Entschließung des Veräußerers erfordern. 241 So Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 728. 242 Simon/Dobel, BB 2008, S. 1955, 1957. 243 Schröder/Falter, NZA 2008, S. 1097, 1100. 244 Finanzausschuss, Wortprotokoll, 82. Sitzung am 23. 01. 2008, Nr. 16/82, S. 24. 245 Ebenso WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 363; vgl. dazu ausführlich sogleich § 3 A. III. 5. a) bb).

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bilaterale Verhandlungen geführt werden. Dagegen spricht bereits der Gesetzeswortlaut. Der Hinweis auf das Bieterverfahren in § 106 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BetrVG wäre gar nicht erforderlich, wenn die Unterrichtungspflicht erst einsetzen würde, wenn sich das Auktionsverfahren bereits auf einen Kandidaten verengt hat. Dann wäre es nämlich ebenso eine Unterrichtung über den potentiellen Erwerber, die aber bereits von dem ersten Halbsatz erfasst ist. Der Hinweis auf das Bieterverfahren lässt sich demnach so verstehen, dass die Unterrichtung über mehrere Kandidaten gewollt ist. Zudem hat sich der Auswahlprozess des Anteilseigners in diesem Stadium bereits so weit konkretisiert, dass eine sachgemäße Einflussnahme nicht mehr sinnvoll möglich ist. Aus kognitionspsychologischer Perspektive ist er dann nur noch schwer von dem präferierten Kandidaten abzubringen246. Auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht bestehen erhebliche Hindernisse. Exklusivitätsvereinbarungen werden in der Praxis regelmäßig strafbewehrt247 und sind deswegen bei dem Versuch des Wirtschaftsausschusses, den Anteilseigner von einem anderen Kandidaten zu überzeugen, ein erhebliches Hindernis. Überdies werden sog. break-up-fees vereinbart, die denjenigen, der die Verhandlungen abbricht, zum Ersatz der entstandenen Aufwendungen der Gegenpartei verpflichtet248. Und auch wenn keine expliziten Vereinbarungen getroffen werden, setzt sich ein Anteilseigner, der die Verhandlungen in diesem Stadium abbricht, der Gefahr eines Anspruchs aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen gem. §§ 280 Abs.1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB aus249. Ferner spielt auch der zeitliche Aspekt eine Rolle. Ein komplettes Auktionsverfahren kann einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen. Der Abbruch der Verhandlungen in einem so weit fortgeschrittenen Stadium führt zu weiteren Verzögerungen, die ein erhebliches Problem darstellen können, wenn der Anteilseigner den Kaufpreis anderweitig benötigt. Es ist insofern nicht gewährleistet, dass bereits ausgeschiedene Interessenten immer noch zum Kauf der Anteile bereit sind. Im ungünstigsten Fall müsste der Anteilseigner sogar ein komplett neues Verfahren beginnen. Die genannten Hindernisse verschlechtern die ohnehin schwache Rechtsposition des Wirtschaftsausschusses deshalb noch weiter. Im Übrigen ist die Beurteilung eines potentiellen Erwerbers bzw. seiner unternehmerischen Absichten und damit auch die Beratung wesentlich sinnvoller und objektiver, wenn sie in Relation zu seinen Konkurrenten erfolgt. Plant ein Interessent sozial stark belastende Maßnahmen für die Zeit nach der Übernahme, so wird der Wirtschaftsausschuss verständlicherweise gegen ihn opponieren. Schätzen dessen Konkurrenten die Perspektiven des Unternehmens aber ähnlich ein und planen diese 246

Vgl. dazu oben § 2 B. III. 5. Gran, NJW 2008, S. 1409, 1414; Hilgard, BB 2008, S. 286, 288. 248 Ausführlich zu break-up-fees Hilgard, BB 2008, S. 286 ff.; Sieger/Hasselbach, BB 2000, S. 625 ff. 249 Geyrhalter/Zirngibl/Strehle, DStR 2006, S. 1560, 1561 f.; Gran, NJW 2008, S. 1409, 1410. 247

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noch belastendere Maßnahmen, so wird sich die Beurteilung deutlich anders darstellen. Ein isoliert gesehen problematischer Kandidat kann sich im Vergleich zu anderen noch als das geringste Übel herausstellen. Bei einer auf den Favoriten beschränkten Unterrichtung kann der Wirtschaftsausschuss dem Anteilseigner zudem nur vom Verkauf abraten. Er kann ihn hingegen nicht überzeugen, einem anderen Bieter den Vorzug zu geben, weil er die anderen Angebote gar nicht kennt. Dass es viel schwerer ist, dem Anteilseigner von einem Angebot abzuraten, als ihn von einem Alternativangebot zu überzeugen, wird wohl jedem einleuchten. Letztendlich darf nicht vergessen werden, dass der Unterrichtung auch noch die Vorbereitung auf die Beratung und das eigentliche Verfahren nachzufolgen hat. Bei einer Unterrichtung kurz vor Abschluss der Transaktion ist dafür realistischerweise nicht mehr ausreichend Zeit. Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass die Unterrichtung nach dem Abschluss einer Exklusivitätsvereinbarung oder sogar später nicht mehr rechtzeitig ist. (c) Finale Verhandlungsphase In zeitlicher Hinsicht ist die Untersuchung mittlerweile beim Vorschlag Holger Fleischers angekommen, der die Unterrichtungspflicht mit der Kandidatenauswahl für die finale Verhandlungsphase verknüpft. Gleichzeitig grenzt er sich von der Auffassung der Koalitionsfraktionen aus den Gesetzesmaterialien ab. Die bloße Abgabe verbindlicher Angebote sei als Unterrichtungszeitpunkt in Anbetracht der geringen Wahrscheinlichkeit eines späteren Erwerbs noch zu früh und eine Unterrichtung über bis zu zehn Angebote „unrealistisch“ und „unverhältnismäßig“250. Um Ursache und Wirkung nicht durcheinanderzubringen, soll zunächst folgendes klargestellt werden: Der erforderliche zeitliche und finanzielle Aufwand eines Mitbestimmungsverfahrens richtet sich danach, wie viel für eine effektive Verwirklichung der jeweiligen gesetzlichen Vorschrift erforderlich ist und nicht umgekehrt251. Anderenfalls würde die Mitbestimmungsordnung für rechtspolitische Vorstellungen jedweder Art geöffnet. Das bedeutet wiederum nicht, dass der Aufwand überhaupt keine Rolle bei der Auslegung spielt. Jedes Mitbestimmungsverfahren ist zugleich ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG, da es die unternehmerische Entscheidungsfreiheit beschränkt. Soweit ein solches immer noch hinreichend zur Erfüllung des jeweiligen Normzwecks beiträgt, muss es deswegen so schlank wie möglich gehalten werden. Die Frage ist hier deshalb nicht, ob das Mitbestimmungsverfahren zum betreffenden Zeitpunkt eventuell überdimensioniert ausgestaltet ist. Eine derartige Grenzziehung wäre willkürlich und rein rechtspolitisch, denn wie soll objektiv festgelegt werden, welche Anzahl an Interessenten dem Unternehmer noch zugemutet werden können? Wolfgang Däubler hält, wie gezeigt, ein noch viel umfangreicheres Verfahren für geboten. Und auch die für klassen250 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 821; ganz ähnliche Argumentation auch Vogt/Bedkowski, NZG 2008, S. 725, 728. 251 Vgl. dazu schon oben § 2 B. III. 5. e) bb).

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kämpferische Anwandlungen eher unverdächtige große Koalition teilte, obwohl die denkbaren Zahlen in den Anhörungen thematisiert wurden252, die Bedenken Fleischers nicht253. Die eigentliche Fragestellung ist vielmehr, ob der Zweck rechtzeitiger Unterrichtung und damit die sinnvolle Einflussnahme auf die Veräußerungsentscheidung auch noch verwirklicht werden kann, wenn der Wirtschaftsausschuss erst nach der geschilderten Selektionsentscheidung des Unternehmers einbezogen wird. Erst wenn dies bejaht werden sollte, kann der Aufwand des Unterrichtungsverfahrens eine Rolle spielen. Eine frühere Unterrichtung wäre dann nicht gesetzlich geboten. Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag Fleischers folgendermaßen zu würdigen: Werden tatsächlich mehrere Interessenten zu finalen Verhandlungen gebeten, so ist es durchaus vertretbar, dass eine sinnvolle Einflussnahme dann noch möglich ist. In der Tat ist der Sinn eines Beteiligungsverfahrens hinsichtlich zehn Kandidaten, von denen die Hälfte wohl ohnehin keine Chance auf einen Erwerb des Unternehmens hat, zumindest diskutabel. Betrachtet man aber eine andere Konstellation, trägt diese Argumentation nicht mehr. So steht es keineswegs fest, dass sich der Anteilseigner auch tatsächlich für parallele Verhandlungen entscheidet. Je mehr Interessenten der Anteilseigner zu weiteren Verhandlungen bittet, desto stärker schwindet auch sein Verkaufserlös, da er die nutzlosen Aufwendungen der nicht zum Zuge gekommenen aufgrund einer regelmäßig vereinbarten break-up-fee zu tragen hat254. Es kommt deshalb ebenso vor, dass sofort exklusive Verhandlungen mit nur einem Bieter geführt werden255. Eine sinnvolle Einflussnahme auf die Veräußerungsentscheidung ist dann aber nicht mehr sinnvoll möglich (s. o.). Auch das Argument, dass die „Wahrscheinlichkeit eines späteren Erwerbs“256 nach Abgabe der finalen Angebote zu gering ist, fällt in sich zusammen, wenn beispielsweise nur zwei oder drei Bieter ein finales Angebot abgeben. Ferner kann man bei einer solchen Anzahl ein entsprechendes Beteiligungsverfahren auch nicht mehr als unverhältnismäßig bezeichnen. Die Argumentation ist deswegen abhängig von den verwendeten Zahlen. Für eine abstrakt-generelle Regelung ist dieses Konzept somit nicht geeignet257. Im Übrigen ist nicht nachvollziehbar, wieso eine Unterrichtung über bis zu zehn Kandidaten „unrealistisch“ sein soll. Damit ist offenbar gemeint, dass Unterrichtung und Beratung über einen so großen Interessentenkreis in der Realität 252

Finanzausschuss, Wortprotokoll, 82. Sitzung am 23. 01. 2008, Nr. 16/82, S. 24. BT-Drs. 16/9821, S. 8. 254 Hilgard, BB 2008, S. 286, 290. 255 Gran, NJW 2008, S. 1409, 1414; Seibt/Seibt, Mergers & Acquisitions, S. 16. 256 Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 821. 257 Der naheliegende Gedanke einer flexiblen Lösung scheidet ebenfalls aus. Insofern könnte man darüber nachdenken, den Wirtschaftsausschuss nur bei einer großen Anzahl von Angeboten, erst nach einer weiteren Willensäußerung des Anteilseigners einzubeziehen. Dann ist aber keineswegs gesagt, dass dieser auch tatsächlich mehrere Bieter in Betracht zieht und sich nicht unmittelbar auf einen festlegt. Wie diese Entscheidung ausfällt, kann man vorher freilich nicht wissen und wenn sie getroffen wurde, ist es zu spät. 253

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nicht durchführbar bzw. unpraktikabel wäre. Leider wird nicht weiter erläutert, an welchen praktischen Hindernissen solch ein Vorhaben scheitern sollte. Grundsätzlich ist es aber durchaus denkbar, dass der Unternehmer über zehn verschiedenen Kandidaten Auskunft erteilt. Die Dauer eines derartigen Verfahrens hängt von den Besonderheiten des Einzelfalles ab und ist nur schwer verallgemeinerbar. Im ungünstigsten Fall wird es eine recht aufwendige Veranstaltung. Trotzdem sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass der Unternehmer so gravierend von seinen anderen Aufgaben abgehalten wird, dass die betrieblichen Abläufe gefährdet werden. Auch wenn man der Auffassung ist, dass ein Beteiligungsverfahren hinsichtlich eines größeren Bieterkreises dem Unternehmer nicht zumutbar ist, so hat diese Wertung gegenüber der Erfüllung des Gesetzeszweckes zurückzustehen. Als sachgemäß erscheint deswegen die in den Gesetzesmaterialien genannte Auffassung der Koalitionsfraktionen. Die Unterrichtung ist somit nur rechtzeitig, wenn sie spätestens nach Abgabe der finalen Angebote erfolgt. bb) Exklusivverhandlungen Der Verfahrensablauf von Exklusivverhandlungen ist in der Übernahmepraxis weitaus weniger standardisiert und deswegen auch schwieriger fassbar258. Grob kann man folgende Ablaufschritte unterscheiden259 : Nach der Kontaktaufnahme kommt es zu ersten Anbahnungsgesprächen. Verlaufen diese für beide Parteien zufriedenstellend, gelangt der Prozess in das vorvertragliche Verhandlungsstadium, wo die Parteien einige wesentliche Eckpunkte der folgenden Verhandlungen abstecken. Die erzielten Ergebnisse werden in einem letter of intent oder einem memorandum of understanding festgehalten. Daraufhin wird dem Interessenten die Durchführung einer Due Diligence ermöglicht. Währenddessen wird dann schon über den angestrebten Kaufvertrag verhandelt260. Wenn in der Literatur überhaupt differenziert wird, wird hinsichtlich des Unterrichtungszeitpunktes darauf abgestellt, dass die Verkaufsverhandlungen bereits weit fortgeschritten sein müssen261. Die Gesetzesmaterialien schweigen. Da sich das Veräußerungsvorhaben des Anteilseigners von Anfang an auf einen bestimmten Interessenten konzentriert, sind die Chancen des Wirtschaftsausschusses zur Beeinflussung der Transaktion deutlich geringer als beim Bieterverfahren. Kann er dort noch die Vorteile anderer Bieter herausstellen, um einen missliebigen Kandidaten zu verhindern, so muss er den Anteilseigner hier sogar von einem (zumindest vorläufigen) Verzicht auf die Veräußerung überzeugen. Von Anfang an besteht eine 258

Fleischer, ZfA 2009, S. 787, 821. Zum folgenden auch Rothegge/Wassermann/Schwarz, Unternehmenskauf, S. 13 ff.; Seibt/Seibt, Mergers & Acquisitions, S. 16. 260 Seibt/Seibt, Mergers & Acquisitions, S. 16. 261 Fleischer, ZfA 2009, 787, 821; Schröder/Falter, NZA 2008, S. 1097, 1100; Simon/ Dobel, BB 2008, S. 1955, 1957. 259

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signifikante Wahrscheinlichkeit für einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen262, insbesondere wenn die Initiative vom veräußerungswilligen Anteilseigner ausging. Überdies werden auch bei bilateralen Verhandlungen oftmals von Anfang an beidseitig wirksame break-up-fees für den Ersatz entstandener Anbahnungskosten vereinbart263. Je weiter der Prozess voranschreitet, desto stärker steigen diese Kosten und schwinden gleichzeitig die Chancen, den Anteilseigner von einem Verkauf abzubringen. All diese Gründe sprechen eigentlich für eine sehr frühzeitige Einbeziehung des Wirtschaftsausschusses. Eine Grenze zieht hier aber § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG, der eine rechtzeitige Unterrichtung „unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen“ anordnet. Dazu gehören gem. § 106 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 BetrVG neben der Person des potentiellen Erwerbers auch Angaben über dessen Absichten und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Arbeitnehmer. Die sprachliche Fassung des Satz 1 macht dabei folgendes deutlich: Wenn eine rechtzeitige Unterrichtung unter Vorlage der genannten Angaben zu erfolgen hat, muss sich auch die Fähigkeit des potentiellen Erwerbers zur deren Lieferung auf die Konkretisierung der Rechtzeitigkeit auswirken. Um die geforderte Prognose aber sachgerecht aufstellen zu können, muss sich der Erwerber zunächst im Wege der Due Diligence selbst ein Bild von der Lage des Unternehmens gemacht haben. Dies gilt vor allem für Unternehmen, in denen der Anteilseigner nicht in die Leitung involviert ist, da er dann die erforderlichen Unternehmensdaten gar nicht zur Verfügung hat. Aber auch bei der Übernahme eines inhabergeführten Unternehmens werden dessen „Innereien“ vorher noch nicht ausreichend offengelegt. Gerade derjenige Interessent, der an der Aufstellung einer realistischen Prognose und an einem vertrauensvollen Umgang mit den Arbeitnehmern interessiert ist, kann und will sich dabei nur auf seine eigene Analyse verlassen. Es ist freilich nichts gewonnen, wenn dieser aufgrund eines ersten Eindrucks den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen verspricht und diese Ankündigung nach genauerer Prüfung wieder zurücknehmen muss. Die Beratungen wären dann in der Zwischenzeit auf völlig falscher Grundlage geführt worden und das Verhältnis mit dem potentiellen Erwerber bereits erheblich vorbelastet. Unterrichtung und Beratung können und müssen deswegen erst nach dem Abschluss der Due Diligence erfolgen. Die zumeist parallel stattfindenden Verhandlungen werden dann oft schon sehr weit fortgeschritten sein. Das Beteiligungsverfahren bietet dem Wirtschaftsausschuss deswegen bei Exklusivverhandlungen nur eine sehr kleine Chance auf eine erfolgreiche Einflussnahme. In Anbetracht der eindeutigen gesetzlichen Regelung muss dies aber hingenommen werden.

262 263

Vgl. dazu auch BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 58 (abrufbar unter www.bafin.de). Hilgard, BB 2008, S. 286, 287.

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b) Ausgeschlossene Unternehmensleitung Die denkbar problematischste Konstellation ist gegeben, wenn weder der potentielle Erwerber noch der veräußerungswillige Anteilseigner bereit sind, die Unternehmensleitung in die Übernahme einzubeziehen. Zwar kann der Transaktionsprozess nur in Ausnahmefällen ohne Wissen der Leitung durchgeführt werden. Im Rahmen der erforderlichen Gestattung der Due Diligence wird diese regelmäßig zumindest die Identität des Interessenten erfahren264. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist nur in den seltenen Fällen denkbar, in denen keine Due Diligence durchgeführt wird oder wenn der Alleingesellschafter einer GmbH seine Anteile veräußern will. Trotzdem ist die Aussicht auf eine erfolgreiche Einflussnahme offensichtlich schlecht, da die potentiellen Vertragsparteien zum Ausdruck gegeben haben, dass sie keinen Wert auf die Meinung der Arbeitnehmer legen. Zudem ist die Beratungsgrundlage sehr dünn, wenn der potentielle Erwerber nicht bereit ist, seine unternehmerischen Absichten zu offenbaren. Dem Wirtschaftsausschuss bleibt dann lediglich die Hoffnung, dass der Anteilseigner seine durch die Leitung übermittelte Meinungsäußerung trotzdem zur Kenntnis nimmt und sich gegebenenfalls in seiner Entscheidung beeinflussen lässt. Fraglich ist nun, welche Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen sind. Die bereits ermittelten Unterrichtungszeitpunkte sind hier jedenfalls unbrauchbar. Offenkundig ist das für die Abgabe finaler Angebote im Bieterverfahren, da die Unternehmensleitung davon regelmäßig keine Kenntnis erlangen wird. Der Abschluss der Due Diligence, der für Exklusivverhandlungen ermittelt wurde, wäre für die Leitung hingegen erkennbar. Der Wirtschaftsausschuss stünde dann aber vor einem zeitlichen Problem: Offenbart der potentielle Erwerber seine Absichten nicht, kann Gegenstand der Beratung lediglich ein Meinungsaustausch über dessen Person und die daraus abzuleitende Prognose sein265. Um die Beratung sachgemäß vorbereiten zu können, benötigt der Wirtschaftsausschuss aber Zeit. Insbesondere im Bieterverfahren mit mehreren Interessenten erfordert die notwendige Recherche einen erheblichen Aufwand. Aber auch bei Exklusivverhandlungen kann eine Einbeziehung nach der Due Diligence schon zu spät sein, da die Verhandlungen parallel weitergeführt werden und deswegen oftmals schon sehr weit fortgeschritten sind. Sachgemäß ist deswegen in beiden Verfahrensvarianten eine Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses, sobald der Unternehmer Kenntnis von der Person des Erwerbers erhalten und diesen zur Due Diligence zugelassen hat. Zu diesem Zeitpunkt ist eine sinnvolle Recherche, die die Grundlage für das Beratungsverfahren mit dem Unternehmer legen soll, zumindest vorstellbar.

264 265

Vgl. dazu oben § 3 A. III. 4. c) aa). Vgl. dazu oben § 3 A. III. 4. c) bb).

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6. Ergebnis Die vorstehende Analyse hat gezeigt, dass die eingangs dargestellte Literaturkritik berechtigt ist. Eine Schutzvorschrift, die keinen Zugriff auf die tatsächlichen Entscheidungsstrukturen ermöglicht und deren Funktionieren deswegen zu einem großen Teil auf den guten Willen des sozialen Gegenspielers angewiesen ist, muss in der Tat als missglückt bezeichnet werden. Entscheidend ist aber, welche Schlussfolgerungen man aus dieser Bestandsaufnahme zieht. So ist es verfehlt, ein Beteiligungsverfahren als Reaktion auf dessen defizitäre Konstruktion teilweise zu ignorieren. Stattdessen gebietet das Rechtsstaatsprinzip die Ausschöpfung der gesetzlichen Grenzen, um dem Gesetzeszweck so weit wie möglich zur Durchsetzung zu verhelfen. Auch wenn dadurch nur ein geringes Schutzniveau erreicht werden kann, liegt es ausschließlich in der Verantwortung des Wirtschaftsausschusses auf sein Beteiligungsrecht zu verzichten. Sollte der Erwerber entsprechend der gesetzgeberischen Vorstellung seine Absichten offenbaren und die Unternehmensleitung in die Transaktion einbezogen werden, so ist der Wirtschaftsausschuss in einem Bieterverfahren nach der Abgabe der finalen Angebote und bei Exklusivverhandlungen nach dem erfolgreichen Abschluss der Due Diligence zu unterrichten. Sollten Interessent und Anteilseigner hingegen keine Beteiligung wünschen, so ist der Wirtschaftsausschuss zu unterrichten, wenn die Unternehmensleitung einem oder mehreren Interessenten die Due Diligence gestattet.

IV. Unterrichtungszeitpunkt bezüglich geplanter Betriebsänderungen (§ 111 S. 1 BetrVG) Wie bereits der Umfang der relevanten Rechtsprechung zeigt, ist § 111 S. 1 BetrVG neben § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG die praktisch wohl bedeutsamste Unterrichtungsvorschrift im Rahmen der vorliegenden Arbeit. Ursache ist die Sanktionsnorm § 113 Abs. 3 BetrVG, die den Arbeitnehmern einen Abfindungsanspruch eröffnet, wenn der Unternehmer die Regeln des Beteiligungsverfahrens verletzt. Zudem sind die gerichtlichen Ausführungen präziser, da der Unterrichtungszeitpunkt bei Ansprüchen aus § 113 Abs. 3 BetrVG entscheidungserheblich sein kann. 1. Meinungsstand a) Rechtsprechung des BAG Die folgende Nachzeichnung der Rechtsprechungsentwicklung ist zweigeteilt: Obwohl bisher weder durch das BAG selbst noch durch die Literatur thematisiert, findet sich bei genauem Hinsehen ein signifikanter Bruch in der Auffassung des Gerichtes zum rechtzeitigen Beginn des Beteiligungsverfahrens, der durch die Gliederung hervorgehoben werden soll.

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aa) Rechtsprechung der sechziger und siebziger Jahre Da das BAG einige seiner zum BetrVG 1952 aufgestellten Formeln zur Ermittlung des Unterrichtungszeitpunktes auf § 111 BetrVG übertrug, soll diesbezüglich zunächst ein kurzer Überblick gegeben werden. Die Vorgängernorm im alten Recht, § 72 BetrVG 1952, enthielt zwar noch nicht das Merkmal „rechtzeitig“, trotzdem hielt der erste Senat eine Unterrichtung „so frühzeitig wie möglich“ für erforderlich266. Zudem stellte er fest, dass das damals in § 72 Abs. 2 und § 73 BetrVG 1952 geregelte Einigungsstellenverfahren „insgesamt in einem Stadium abzuwickeln [sei], in dem der Plan zur Stillegung des Betriebs noch nicht, und zwar auch nicht teilweise, verwirklicht worden ist.“267 Diese Rechtsprechung wurde in der letzten Entscheidung zu § 72 BetrVG 1952 bestätigt und noch weiter vertieft. Es sei „zwischen der Planung und dem feststehenden Entschluß des Unternehmers zu unterscheiden (…) Hat der Unternehmer bereits einen solchen Beschluß gefaßt, so ist das Stadium der Planung bereits abgeschlossen.“268 „In Fällen, in denen verschiedene Lösungen mit für die Belegschaftsmitglieder unterschiedlichen Folgen möglich sind, muß die Einschaltung des Betriebsrats erfolgen, bevor sich der Unternehmer für eine dieser Lösungen entscheidet.“269 Streitgegenstand der ersten Entscheidung zu § 113 Abs. 3 BetrVG270 nach der Gesetzesreform war nicht der Unterrichtungszeitpunkt. Trotzdem machte das BAG obiter dictum deutlich, dass die vorstehend skizzierte Rechtsprechung auch zum neuen Recht gelten soll. Im Fall meldete der Unternehmer einen Tag, nachdem sich die Veräußerung des Betriebes zerschlagen hatte, Insolvenz an. Noch am selben Tag kündigte der Insolvenzverwalter allen Arbeitnehmern des Betriebes. Das BAG sprach dem Kläger eine Abfindung zu, da die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates auch zur Anwendung kommen, wenn eine Betriebsänderung ohne vorhergegangene Planung durchgeführt werden müsse. Zur Begründung führte das Gericht aus: „Das Wort ,geplant‘ hat nur eine rein zeitliche Bedeutung; mit diesem Wort soll sichergestellt werden, daß der Betriebsrat bei einer geplanten Betriebsänderung schon in einem möglichst frühen Stadium der Planung zu beteiligen ist.“271 Was das Gericht unter einem „möglichst frühen Stadium der Planung“ versteht, erläuterte es in der darauffolgenden Entscheidung272, in der der Unterrichtungszeitpunkt nunmehr auch entscheidungserheblich war. Der beklagte Unternehmer 266

BAG v. 20. 1. 1961 – 1 AZR 53/60 – AP BetrVG 1952 § 72 Nr. 2 Bl. 739. BAG v. 20. 11. 1970 – 1 AZR 409/69 – AP BetrVG 1952 § 72 Nr. 8 Bl. 390. 268 BAG v. 18. 7. 1972 – 1 AZR 189/72 – AP BetrVG 1952 § 72 Nr. 10 Bl. 677 R. 269 BAG v. 18. 7. 1972 – 1 AZR 189/72 – AP BetrVG 1952 § 72 Nr. 10 Bl. 676 R. 270 BAG v. 17. 9. 1974 – 1 AZR 16/74 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 1. 271 BAG v. 17. 9. 1974 – 1 AZR 16/74 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 1, Bl. 32 R. 272 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2; kritisch dazu Schwerdtner, EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 S. 29 ff. 267

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hatte am 12. 12. 1973 eine gemeinsame Sitzung von Aufsichtsrat und Geschäftsführung einberufen, in der die Stilllegung zweier Werke beschlossen wurde. Die Betriebsräte der Werke wurden erst am Tag der Beschlussfassung unterrichtet. Zwar sollte noch der Versuch unternommen werden, Übernahmeverhandlungen mit Konkurrenten durchzuführen, diese scheiterten allerdings am 17. 12. 1973. Die Verhandlungen über den Interessenausgleich scheiterten ebenfalls und die bereits vorbereiteten Kündigungen wurden am 22. 12. 1973 zur Post gegeben. Das BAG gab dem Antrag der Kläger aus § 113 Abs. 3 BetrVG statt, da das Beteiligungsverfahren nicht rechtzeitig eingeleitet wurde. Zur Begründung wurde auf den Grundsatz verwiesen, dass der Plan zum Unterrichtungszeitpunkt noch nicht abschließend feststehen dürfe. „Die Interessen der Belegschaft und ihrer Angehörigen können sachgemäß und voll nur gewahrt werden, wenn der Betriebsrat eine Einwirkungsmöglichkeit auf die endgültige Entscheidung des Unternehmers und dessen nähere Durchführung hat, also bevor sie gefallen ist und bevor ihre Modalitäten festliegen.“273 Mit dem Beschluss von Geschäftsführung und Aufsichtsrat wurde die endgültige Entscheidung aber bereits getroffen. „Daß es an sich möglich gewesen wäre, die Entscheidung nicht durchzuführen oder nach dem Versuch eines Interessenausgleichs eine neue Entscheidung zu treffen ist (…) ohne Bedeutung. Die Beschlussfassung in der Aufsichtsratssitzung trug wegen ihrer formellen Art endgültigen Charakter.“274 Trotz der Bemühungen um die Veräußerung der Werke sei es dem Unternehmer nie um die Beratung der Betriebsänderung, sondern nur um die Durchführung des gefassten Beschlusses gegangen. Zudem bestand „in einem so weit fortgeschrittenen Stadium der Dinge (…) für die Betriebsräte praktisch weder die Möglichkeit zu versuchen, die von der Beklagten beschlossenen Maßnahmen rückgängig zu machen, noch sonst einen umfassenden Interessenausgleich durchzuführen“275. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich zudem eindeutig, dass die Verspätung der Unterrichtung nicht auf die zusätzliche Beteiligung des Aufsichtsrates gestützt wurde276. Der 1. Senat stellte ausschließlich auf den Beschluss der Geschäftsführung ab, der für eine rechtswidrige „endgültige“ Festlegung bereits ausreiche. Das Erfordernis einer Unterrichtung in einem möglichst frühen Planungsstadium wurde daraufhin im Jahre 1979 erneut bestätigt277. Die Strafgerichte schlossen sich dieser Rechtsprechung bei Verfahren nach § 121 Abs. 1 BetrVG an. In den bereits oben erläuterten278 Entscheidungen des KG Berlin279 und des OLG Hamburg280 273 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 Bl. 529; vgl. zur Interpretation der Entscheidung ebenso wie hier Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 630 f. 274 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 Bl. 529 R. 275 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 Bl. 530. 276 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 Bl. 529 R. Entscheidungsgrund 3 a). 277 BAG v. 23. 1. 1979 – 1 AZR 64/76 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 4. 278 Vgl. oben § 3 A. II. 3. a) bb) (1). 279 KG Berlin v. 25. 9. 1978 – 2 Ws (B) 82/78 – DB 1979, S. 112 ff.

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wurde neben dem Verstoß gegen § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG auch eine Verletzung von § 111 S. 1 BetrVG festgestellt, da erst nach dem Beschluss über die Betriebsänderung unterrichtet wurde. bb) Rechtsprechung ab 1992 (1) Wechsel zur ergebnisbezogenen Mitbestimmung Die nächste Äußerung des BAG zum Unterrichtungszeitpunkt datiert soweit ersichtlich erst wieder aus dem Jahre 1992281. Wie im Folgenden gezeigt wird, stellt diese Entscheidung eine deutliche Rechtsprechungsänderung dar282. Streitgegenstand war die Sozialplanpflicht einer Betriebsänderung in einem Betrieb, in dem erst nach der entsprechenden Entscheidung des Unternehmers ein Betriebsrat gewählt wurde. Das Gericht gab dem Antrag des Betriebsrates nicht statt, da der Abschluss eines Sozialplans nur geboten sei, wenn bei Eingreifen der Beteiligungsrechte nach § 111 S. 1 BetrVG bereits ein Betriebsrat vorhanden ist. Dieser Zeitpunkt sei erst dann gekommen, „wenn der Arbeitgeber aufgrund abgeschlossener Prüfungen und Vorüberlegungen grundsätzlich zu einer Betriebsänderung entschlossen ist. Von diesem Zeitpunkt an hat er den Betriebsrat zu unterrichten und die so geplante Betriebsänderung mit ihm zu beraten“283 Hinsichtlich der Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Entscheidung des Unternehmers äußert sich das Gericht nicht. Die aus dem Begriff „geplant“ hergeleitete Forderung nach einer Unterrichtung „in einem möglichst frühen Planungsstadium“ wird hingegen von nun an nicht mehr

280

Hans. OLG Hamburg v. 04. 06. 1985 – 2 Ss 5/85 OWi – NZA 1985, S. 568 f. BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 63. 282 Durchaus bemerkenswert ist ein vorausgegangener Beschluss des LAG Düsseldorf (v. 27. 8. 1985 – 16 TaBV 52/85 – NZA 1986 S. 371 f.), dessen Ausführungen in weiten Teilen so starke Ähnlichkeit zur Rechtsprechung des BAG ab den neunziger Jahren aufweisen, dass die Vermutung einer Vorbildfunktion nahe liegt. Dafür spricht auch, dass das LAG Düsseldorf im vorliegenden Verfahren in zweiter Instanz entschieden (v. 9. 10. 1991 – Az: 11 TaBV 54/91) und ebenso wie das BAG den Antrag des Betriebsrates abgewiesen hatte. Da die Entscheidung leider nicht veröffentlicht wurde, kann diese These allerdings nicht verifiziert werden. Das Gericht äußerte a.a.O. starke Zweifel an einer „Differenzierung zwischen einer ,prinzipiellen‘, einer ,nicht abschließenden‘ und einer ,feststehenden‘ Unternehmerentscheidung.“ Die Vorschrift spreche „nicht von ,zu planenden‘, sondern von ,geplanten‘ Betriebsänderungen.“ Der Betriebsrat sei deswegen noch nicht mit unausgegorenen unternehmerischen Ideen zu befassen, sondern erst, wenn das geschäftsleitende Organ einen Beschluss gefasst habe. § 111 BetrVG schränke „den Unternehmer nicht in der Entwicklung von Konzepten ein, sondern erst in der Freiheit, diese umzusetzen.“ Eine Unterrichtung nach dem Beschluss des geschäftsleitenden Organs sei nur dann rechtswidrig, „wenn erkennbare Umstände dafür vorliegen, daß dieses Organ seinen Beschluß keinesfalls zu modifizieren bereit ist und damit die Mißachtung der Beratungsrechte des Betriebsrats zum Ausdruck bringt.“ Diese Erwägungen wurden dabei mit keinem Hinweis auf Literatur und Rechtsprechung versehen, was für eine autonome Erarbeitung spricht. 283 BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 63 Bl. 1006 R. 281

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aufgestellt284. Der grundsätzliche Entschluss, auf den in der Entscheidung abgestellt wird, war derjenige der Gesellschafter zur Stilllegung des Betriebes. Das Gericht wendet sich damit von der oben erörterten Entscheidung vom 14. 9. 1976285 ab, in der es noch eine Unterrichtung nach dem „endgültigen“ Beschluss der Unternehmensleitung als verspätet und die Einflussnahme als nicht mehr sinnvoll möglich erachtet hatte. Aus dem ehemals „endgültigen“ wird nun der „grundsätzliche“ Beschluss und aus der Pflicht zur Unterrichtung vor der Entscheidung wird nun die Pflicht zur nachträglichen Unterrichtung. Dementsprechend taucht dieses Urteil in den Entscheidungsgründen auch nicht mehr auf und es wird lediglich auf die Urteile aus den Jahren 1974 und 1979 verwiesen286. Aber auch diese Verweise sind nicht sachgemäß, da am angegebenen Ort, wie bereits erläutert, lediglich vom Erfordernis einer Beteiligung in einem „möglichst frühen Stadium der Planung“ gesprochen wird. Im Übrigen geben die Entscheidungen für diese neue Auffassung nichts her. Zudem lässt sich ein „möglichst frühes Planungsstadium“ offensichtlich nur schwer mit einer Unterrichtung nach der Entscheidung vereinbaren, auch wenn man sie als „grundsätzlich“ bezeichnet. Diesen Widerspruch hat danach offenbar auch das BAG selbst bemerkt, denn seitdem wurde keine der Entscheidungen aus den siebziger Jahren mehr in einer Entscheidungsbegründung zitiert. Zudem stellt es seitdem auch nicht mehr auf die „subjektive Bereitschaft“ des Unternehmers ab, von seiner Auffassung im Beratungsverfahren wieder abzurücken, sondern auf eine objektive Betrachtung im Hinblick auf die Durchführung des Interessenausgleichsverfahrens (siehe sogleich). Mit der vorstehend skizzierten Entscheidung schwenkte das Gericht demnach von der anfänglich präferierten prozessbezogenen Mitbestimmung zur ergebnisbezogenen Mitbestimmung um. Diejenigen Autoren, die die Entscheidungen vor und nach den neunziger Jahren einschränkungslos vermischen287, verkennen diesen eindeutigen Rechtsprechungswechsel. Bislang erhielt das BAG diese Linie, der sich auch die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte fast ausnahmslos anschlossen288, aufrecht. Drei Entscheidungen nach der Jahrtausendwende geben mittlerweile auch Aufschluss über die Vorstellungen des Gerichtes hinsichtlich der Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Entscheidung

284 Für eine Aufgabe dieser Auffassung durch das BAG spricht auch die Entscheidung vom 4. 7. 1989 – 1 ABR 35/88 – AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 27. 285 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2. 286 BAG v. 28. 10. 1992 – 10 ABR 75/91 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 63 Bl. 1006 R. 287 Vgl. etwa Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 147; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 171. 288 Vgl. nur LAG Baden-Württemberg v. 27. 9. 2004 – 4 TaBV 3/04 – NZA 2005, S. 195 ff.; LAG Hamm v. 8. 8. 2008 – 10 TaBV 21/08 – n. v.; a. A. aber ArbG Stuttgart v. 15. 7. 2004 – 21 BV 175/04 – NZA-RR 2004, S. 537 f.

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des Unternehmers289. Streitgegenstand war jeweils ein Anspruch auf Nachteilsausgleich aus § 113 Abs. 3 BetrVG. Das BAG prüfte die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung dabei im Rahmen der Frage, ob ein ordnungsgemäßer Versuch für einen Interessenausgleich vorliegt. Die betreffenden Entscheidungen wiesen zudem eine weitere Besonderheit auf: Der Betriebsrat wurde erst unterrichtet, nachdem die Betriebsstilllegung durch die Gesellschafterversammlung beschlossen wurde. Das BAG hat dieses Vorgehen nicht beanstandet: „Ausgelöst werden die betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten des Arbeitgebers nach den §§ 111 und 112 BetrVG durch konkrete Planungen über eine Betriebsänderung.“290 Der Beschluss der Gesellschafterversammlung sei dabei Teil des vorgelagerten Meinungsbildungsprozesses auf Arbeitgeberseite und schließe diesen noch nicht ab291. Er bestimme lediglich Art und Inhalt der Betriebsänderung und gebe damit den Beratungsgegenstand vor. Da bis zum Abschluss des Interessenausgleichs noch keine Umsetzungsmaßnahmen durchgeführt wurden, war die Unternehmensleitung „weder faktisch noch rechtlich gehindert, die sich aus den Verhandlungen über den Interessenausgleich ergebenden Alternativen an die Gesellschafter weiterzuleiten, um im Interesse des Unternehmens eine Abänderung des Stillegungsbeschlusses zu erreichen.“292 Eine subjektive Festlegung in dem Sinne, dass sich die Leitung gebunden fühlt und nicht mehr „offen“ für eine Abänderung ist, spielt nach den genannten Erwägungen hingegen keine Rolle mehr. (2) Umfang des erforderlichen Beteiligungsverfahrens Festgehalten werden kann somit zunächst, dass eine rechtzeitige Unterrichtung nach Auffassung des BAG die Einbeziehung des Betriebsrates erst nach dem Beschluss des Unternehmers erfordert. Fraglich ist allerdings, welche Anforderungen das Gericht an die Möglichkeit zur Einflussnahme stellt. Wie vorstehend erläutert, wird insofern keine „subjektive Betrachtung“ im Hinblick auf die Bereitschaft des Unternehmers zur Abweichung von seiner getroffenen Entscheidung mehr angestellt. Es kommt somit nur darauf an, dass zwischen dem Unterrichtungszeitpunkt und Beginn der Umsetzungsmaßnahmen ein zeitlicher Zwischenraum liegt, der ausreichend zur Durchführung des Beteiligungsverfahrens ist. Da das BAG die Rechtzeitigkeit i. S. v. § 111 S. 1 BetrVG in den genannten Entscheidungen immer im Rahmen des § 113 Abs. 3 BetrVG prüft und nicht eindeutig zwischen beiden Normen unterscheidet, kann nicht mit absoluter Sicherheit

289 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39; BAG v. 30. 03. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47; BAG v. 30. 05. 2006 – 1 AZR 25/05 – AP InsO § 209 Nr. 5. 290 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39 Bl. 909. 291 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39. 292 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39 Bl. 909; fast wortgleich BAG v. 30. 03. 2004 – 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47 Bl. 1543 R.

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beurteilt werden, welche Elemente des in den §§ 111, 112 BetrVG normierten Beteiligungsverfahrens es diesbezüglich für erforderlich hält. Die Entscheidungsgründe können einerseits so verstanden werden, dass der Betriebsrat nur rechtzeitig unterrichtet wird, wenn bis zur Umsetzung der geplanten Betriebsänderung noch ausreichend Zeit für den Versuch eines Interessenausgleichsverfahrens im Sinne von § 113 Abs. 3 BetrVG bleibt. Andererseits könnte es ausreichend sein, wenn nur das Beratungsverfahren noch sachgemäß durchgeführt werden kann. Die zeitlichen Unterschiede zwischen beiden Interpretationen können erheblich sein. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert ein ordnungsgemäßer Versuch das Ausschöpfen des in § 112 Abs. 2 BetrvG vorgesehenen Verfahrens bis hin zum erfolgreichen Abschluss oder Scheitern der Verhandlungen in der Einigungsstelle293. Allein die Bestellung des Einigungsstellenvorsitzenden kann einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen, wenn insofern keine Einigung erzielt wird und gem. § 76 Abs. 2 S. 2 BetrVG das Arbeitsgericht entscheiden muss294. Die bloße Beratung wird abhängig von der Komplexität des Vorhabens in jedem Fall deutlich schneller durchführbar sein. Insgesamt spricht deutlich mehr für die letztere Auslegungssalternative. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 111 S. 1 BetrVG bezieht sich die Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung nur auf das Beratungsverfahren. Dieses endet aber nach Auffassung des BAG mit der Anrufung der Einigungsstelle nach § 111 Abs. 2 S. 2 BetrVG295. Zudem stellt das Gericht zur Begründung der Rechtzeitigkeit in den genannten Entscheidungen lediglich auf die Möglichkeit zur Abänderung des Stilllegungsbeschlusses und nicht auf die zeitliche Möglichkeit zur Durchführung des Einigungsstellenverfahrens ab. In der Entscheidung vom 20. 11. 2001 hatte der Unternehmer die Einigungsstelle nach dem Scheitern der Verhandlungen nicht mehr angerufen, weshalb der Anspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG bejaht wurde. Trotzdem kritisierte das BAG den Unterrichtungszeitpunkt nicht und bezeichnete ihn zudem ausdrücklich als rechtzeitig296. Die Umsetzung begann vorliegend mit dem Ausspruch der Kündigungen am 30. 9. 1999, während der Beschluss am 23. 6. 1999 gefasst wurde. Man kann aber nicht davon ausgehen, dass ein Zeitraum von etwas mehr als drei Monaten in jedem Fall für den kompletten Durchlauf des Einigungsstellenverfahrens ausreichend ist, wenn allein die Bestellung des Einigungsstellenvorsitzenden gem. §§ 76 Abs. 2 S. 2 BetrVG, 98 ArbGG mehrere Monate in 293 Vgl. nur BAG v. 18. 12. 1984 – 1 AZR 176/82 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 11; BAG v. 20. 4. 1994 – 10 AZR 186/93 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 27; BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/ 01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39; BAG v. 26. 10. 2004 – 1 AZR 493/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 49. 294 Vgl. dazu WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 166 f. 295 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39. 296 BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39 Bl. 911; Zwar tätigte das BAG diese Aussage im Rahmen der Begründung seiner Auffassung, dass keine Verletzung der Massenentlassungsrichtlinie vorliegt. Allerdings setzt es ausweislich der Begründung den Unterrichtungszeitpunkt innerhalb beider Rechtsquellen gleich an.

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Anspruch nehmen kann297. Wenn es überdies darauf ankommen würde, dass nach dem ersten Beratungs- auch noch das Einigungsstellenverfahren hätte durchlaufen werden können, hätte das BAG hier demzufolge eine verspätete Unterrichtung feststellen müssen. cc) Zusammenfassung Nach Auffassung des BAG erfordert die rechtzeitige Unterrichtung des Betriebsrates im Rahmen von § 111 S. 1 BetrVG demzufolge eine Unterrichtung nach dem Beschluss des Unternehmers oder der Gesellschafter. Zudem spricht viel dafür, dass nach Auffassung des Gerichtes zwischen dem Beschluss und dem Beginn der Umsetzung noch ein ausreichender Zeitraum verbleiben muss, um die Beratungen zwischen den Betriebsparteien sachgemäß durchführen zu können. b) Literatur aa) Ergebnisbezogene Mitbestimmung Ebenso wie das BAG plädiert der überwiegende Teil der Literatur für eine ergebnisbezogene Mitbestimmung nach der Entscheidung des Unternehmers298. Man ist sich jedenfalls einig, dass der Unterrichtungsgegenstand der „geplanten“ Betriebsänderung erst vorliegt, wenn sich die Unternehmensleitung bereits für deren Vornahme entschieden hat. Differenzen bestehen aber hinsichtlich der weiteren Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes. Insofern kann man grob zwischen zwei verschiedenen Auffassungen differenzieren. Die erste Auffassung knüpft die Unterrichtungspflicht an den Zeitpunkt, an dem der Unternehmer seine „Vorüberlegungen“ über die Betriebsänderung abschließt. Unterschiedlich beurteilt wird allerdings, wie weit sich der Bereich der Vorüberlegungen erstreckt. Dies betrifft vor allem die Frage, ob die Unternehmensleitung vor Unterrichtung des Betriebsrates noch andere Gesellschaftsorgane wie die Gesellschafterversammlung oder den Aufsichtsrat in seine Entscheidungsfindung einbeziehen darf. Teilweise wird vertreten, dass die Unterrichtung zu erfolgen habe, bevor

297

Bauer, ZIP 1996, S. 117, 118; vgl. auch Bauer/Diller, ZIP 1995, S. 95, 99; Hohenstatt, NZA 1998, S. 846, 847. 298 Vgl. Bauer, DB 1994, S. 217, 222; ErfK/Kania, § 111 BetrVG Rn. 22; Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 49 ff.; FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 108 f.; Gamillscheg, KollArbR II, S. 1116 f.; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 199 f.; GTAW/Woitaschek, BetrVG, § 111 Rn. 26; Heinze, NZA 1985, S. 555, 556; HWGNRH/Hess, BetrVG, § 111 Rn. 70; HWK/ Hohenstatt/Willemsen, BetrVG, § 111 Rn. 61; Richardi/Annuß, § 111 Rn. 147 f.; Richardi, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2, Bl. 531, 532; Rieble, NZA 2004, S. 1029, 1030; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 325 f.; Schwerdtner, EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 S. 29, 32 ff.; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 628; WPK/Preis/Bender, BetrVG, § 111 Rn. 31.

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diese Organe um Zustimmung ersucht werden299. Zwar sei eine nachträgliche Korrektur nicht ausgeschlossen. Der Unternehmer könne aufgrund der faktischen Festlegung dann aber nicht mehr mit der notwendigen Offenheit in die Beratungen über das „Ob“ und „Wie“ der Betriebsänderung mit dem Betriebsrat eintreten300. Die Unterrichtungspflicht setze danach bereits mit dem Beschluss der Unternehmensleitung ein. Viele Autoren teilen die genannten Bedenken allerdings nicht und halten auch eine Beteiligung des Betriebsrates nach diesen Gremien noch für rechtzeitig301. Für den Regelfall könne man nicht annehmen, dass eine Betriebsänderung durch die zwingende Einschaltung eines anderen Gesellschaftsorgans zur beschlossenen Sache wird302. Unternehmer und Betriebsrat sollen auch dann noch „substantielle Verhandlungen“303 zur Beeinflussung der Planung führen können. Hingegen sei eine Unterrichtung wenig sinnvoll, wenn noch nicht einmal feststehe, ob das zuständige Gremium seine Zustimmung geben wird304. Die Unterrichtungspflicht setze demnach erst dann ein, wenn sich alle zuständigen Gesellschaftsorgane auf eine gemeinsame Linie abgestimmt haben. Die zweite Auffassung, repräsentiert durch Ehmann, Schwerdtner und Richardi, misst dem Abschluss der Vorüberlegungen hingegen keine gesonderte Bedeutung bei. Entscheidend sei lediglich, dass noch ausreichend Zeit zur Durchführung der Beratung und für den Versuch eines Interessenausgleichs bleibt305. Während Schwerdtner und Richardi hinsichtlich der Dauer des Verfahrens auf die Besonderheiten des Einzelfalls verweisen, orientiert sich Ehmann an § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG. Der Betriebsrat sei deshalb mindestens zwei Wochen vor Durchführung der Betriebsänderung zu unterrichten. Die sehr kurz bemessene Frist rechtfertigt Ehmann damit, dass sich zeitlicher Druck stets förderlich auf den „Willen der Menschen“ (gemeint ist wohl vor allem der Wille der Arbeitnehmer) zur raschen 299

Bauer, DB 1994, S. 217, 222; ErfK/Kania, § 111 BetrVG Rn. 22; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 199; Rebel, Grundprobleme des Nachteilsausgleichs, S. 134 f.; WPK/Preis/Bender, BetrVG, § 111 Rn. 31. 300 GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 199; die Erfüllung der gesetzlichen Berichtspflichten (§ 90 AktG) des Vorstands einer Aktiengesellschaft sei allerdings unschädlich (vgl. Oetker a.a.O. und Rumpf/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 326). 301 FESTL, BetrVG, § 111 Rn. 109; Gamillscheg, KollArbR II, S. 1117; Heinze, NZA 1985, S. 555, 556; HWGNRH/Hess, BetrVG, § 111 Rn. 77; HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG, § 111 Rn. 61; Richardi/Annuß, BetrVG, § 106 Rn. 147; Richardi, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2, Bl. 531, 532; Rumpf/Boewer (Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 327) und Wiese (FS Wiedemann, S. 617, 634 f.) fordern zudem, dass der Beschluss des Aufsichtsrates unter dem ausdrücklichen Vorbehalt einer folgenden gesetzeskonformen Beteiligung des Betriebsrates erfolgt. 302 Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 147. 303 HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG, § 111 Rn. 61. 304 Gamillscheg, KollArbR II, S. 1117; HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG, § 111 Rn. 61. 305 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 57; Richardi, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2, Bl. 531, 532; Schwerdtner, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 2, S. 29, 34.

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Durchführung des Beteiligungsverfahrens auswirkt306. Zudem ist er der Auffassung, dass zur Vermeidung der Sanktion in § 113 Abs. 3 BetrvG das Interessenausgleichsverfahren vor Durchführung der Betriebsänderung nicht voll auszuschöpfen ist307. bb) Prozessbezogene Mitbestimmung Für eine prozessbezogene Mitbestimmung vor der Entscheidung des Unternehmers sprechen sich nur wenige Autoren aus. Kohte fordert, den Betriebsrat schon bei der Datensammlung und -strukturierung zu unterrichten, „damit bereits der Weg zur Entscheidung gemeinsam gegangen werden kann.“308 Seine Argumentation stützt sich dabei aber ausschließlich auf die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG und wird deswegen im Folgenden auch gesondert behandelt. Rebel schlägt als Unterrichtungszeitpunkt den Moment vor, „in dem ihm [dem Unternehmer] bewusst wird, dass er in eine gründliche und ergebnisoffene Planung bezüglich einer Betriebsänderung eintreten will.“309 Däubler nimmt den Unternehmer hingegen erst dann in die Pflicht, wenn nach dessen Einschätzung „mehr für als gegen die Vornahme einer Betriebsänderung spricht.“310 2. Stellungnahme Das vorstehend dargestellte Meinungsbild in Rechtsprechung und Literatur hat vier zentrale Fragen aufgeworfen, die zur Konkretisierung der Rechtzeitigkeit im Rahmen des § 111 S. 1 BetrVG zu beantworten sind. Ausgangspunkt muss auch wie bisher der jeweilige Gegenstand sein, an den die Unterrichtungspflicht anknüpft. Daran anschließend gilt es der Problematik nachzugehen, welcher Mindestzeitraum zur Durchführung des Beteiligungsverfahrens erforderlich ist. Erst dann kann ein konkreter Unterrichtungszeitpunkt ermittelt werden. Abschließend ist zu erörtern, welchen Einfluss die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG in diesem Kontext ausübt.

306

Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 56. Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 57 ff. 308 Kohte, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 1219, 1244; vgl. auch HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 19 f.; Für eine Unterrichtung und Konsultation vor der Entscheidung auch Gerdom, Gemeinschaftsrechtliche Unterrichtungs- und Anhörungspflichten, S. 208. 309 Rebel, Grundprobleme des Nachteilsausgleichs, S. 133. 310 DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 162; Däubler gibt leider keine Hilfestellung bei der Ermittlung dieses Zeitpunktes. Wann sich die Waage zugunsten einer Betriebsänderung senkt, ist aber von so vielen Variablen abhängig, die im Rahmen des unternehmerischen Ermessens miteinander vereinbart werden müssen, dass der konkrete Zeitpunkt wohl weder für den Unternehmer präzise bestimmbar, noch durch die Gerichtsbarkeit nachprüfbar ist. Ein derartiger Zustand wäre aber im Hinblick auf die Sanktionsvorschriften §§ 113 Abs. 3, 121 Abs. 1 BetrVG problematisch. 307

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a) Gegenstand der Unterrichtungspflicht aa) Wortlaut Unterrichtungsgegenstand im Rahmen des § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG ist eine der in § 106 Abs. 3 BetrVG bezeichneten Maßnahmen, darunter auch die in den Nummern 6 bis 9 genannten Betriebsänderungen. In § 111 S. 1 a. E. BetrVG wird diesen Tatbeständen aber noch eine zeitliche Qualifikation hinzugefügt. Die Unterrichtungs- und Beratungspflicht knüpft an eine geplante Betriebsänderung an. Teilweise wird vertreten, dass das Wort „geplant“ „nicht die Qualität eines selbstständigen Tatbestandsmerkmal [hat], von dessen Vorhandensein die Beteiligungsrechte des Betriebsrates abhängen.“311 Es solle nur eine Beteiligung des Betriebsrates vor der Durchführung der Betriebsänderung sicherstellen. Würde dies aber tatsächlich zutreffen, hätte das Gesetz zu diesem Zweck insgesamt vier Schutzmechanismen bereitgestellt: Zunächst ergibt sich diese Anforderung aus dem Begriff rechtzeitig. Auch die Beratung ist bereits denknotwendig nur über eine noch nicht durchgeführte wirtschaftliche Maßnahme möglich. Ferner sanktioniert § 113 Abs. 3 BetrVG eine Durchführung der Betriebsänderung ohne vorherige Beteiligung. Dass der Gesetzgeber darüber hinaus noch eine vierte Sicherung für erforderlich hielt, darf bezweifelt werden. Auch die einmalige Verwendung des Begriffs im Betriebsverfassungsgesetz und ein Vergleich mit den §§ 90, 92 BetrVG, die hingegen ausdrücklich von „Planung“ sprechen, schürt erhebliche Zweifel, dass hinter der zweimaligen Verwendung des Begriffs „geplant“ keine gesonderte gesetzgeberische Intention steht. Das BAG hat dem Begriff „geplant“ in seinen oben erläuterten Entscheidungen aus den siebziger Jahren die Funktion zugesprochen, sicherzustellen, „daß der Betriebsrat schon in einem möglichst frühen Stadium der Planung der Betriebsänderung zu beteiligen ist.“312 Es ist allerdings nicht nachvollziehbar, wie das Gericht diesem Begriff eine derartige Bedeutung entnimmt. Das Gesetz spricht gerade „nicht von ,zu planenden‘, sondern von ,geplanten‘ Betriebsänderungen.“313 Das BAG hat diese wenig überzeugende Interpretation deshalb mittlerweile auch selbst wieder aufgegeben314. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive bietet die Auslegung nur wenig Spielraum. „Geplant“ ist das Partizip Perfekt (Partizip II) von „planen“ und entspricht dessen dritter Stammform. Das Partizip Perfekt beschreibt immer „einen 311 Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 320; ebenso Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 147. 312 BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2 Bl. 529. 313 LAG Düsseldorf - 27. 08. 1985 – 16 TaBV 52/85 – NZA 1986, S. 371, 372; kritisch ebenfalls Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 24; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 320 Fn. 272. 314 Vgl. dazu oben § 3 A. IV. 1. a) bb) (1).

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vollendeten und zum Zeitpunkt des Sprechens bereits abgeschlossenen Vorgang.“315 Auch umgangssprachlich wird das Wort geplant verwendet, um ein Vorhaben zu kennzeichnen, dessen Planung zumindest so weit fortgeschritten ist, dass sich der oder die Entscheidungsträger für dessen Durchführung bereits entschieden haben316. In Anbetracht der sprachlichen Fassung spricht demnach vieles dafür, dass Unterrichtungsgegenstand eine bereits beschlossene Betriebsänderung ist317. Gleichwohl ist diese Auslegung nicht zwingend. So fordert § 2 Abs. 11 S. 2 SEBG, dass die „Stellungnahme zu den geplanten Maßnahmen (…) im Rahmen des Entscheidungsprozesses innerhalb der SE berücksichtigt werden kann“ und kombiniert damit die Anordnung einer prozessbezogenen Mitbestimmung mit dem Begriff „geplant“. Es bedarf somit weiterer Anhaltspunkte, um den Unterrichtungsgegenstand zweifelsfrei zuordnen zu können. bb) Verhältnis zum Wirtschaftsausschuss Für eine ergebnisbezogene Mitbestimmung spricht auch ein teleologisch-systematischer Vergleich mit den Regelungen über den Wirtschaftsausschuss. Das verdeutlicht zunächst eine Gegenüberstellung von § 111 S. 2 BetrVG und § 108 Abs. 5 S. 3 BetrVG. Erstere Vorschrift wurde mit der letzten Gesetzesreform im Jahre 2001 eingefügt und berechtigt Betriebsräte in Unternehmen mit mehr als 300 Arbeitnehmern, zu ihrer Unterstützung bei Betriebsänderungen einen Berater hinzuziehen. Der Betriebsrat soll dadurch in die Lage versetzt werden, die Auswirkungen einer Betriebsänderung schnell zu erfassen und rechtzeitig fundierte Alternativvorschläge auszuarbeiten318. Auch dem Wirtschaftsausschuss wird gem. § 108 Abs. 5 S. 3 BetrVG die Hinzuziehung externen Sachverstandes gestattet, allerdings nur unter der Einschränkung des § 80 Abs. 3 BetrVG, der eine vorherige Verständigung mit dem Arbeitgeber fordert. Da es sich dabei aber um ein recht zeitaufwendiges Verfahren handelt, wurde bei der Neuregelung auf diese Voraussetzung verzichtet, um ein rasches und produktives Beratungsverfahren zu ermöglichen319. Die Verfahrensregelung in § 108 Abs. 5 S. 3 BetrVG wurde hingegen nicht verändert. Da sich die Beratungsrechte beider Arbeitnehmervertretungen auf dieselbe Betriebsänderung 315

Balcik/Röhe/Wrobel, Die große Grammatik Deutsch, S. 253. Dies bestätigt auch eine Recherche bei der zum Teil nutzerbasierten Synonymdatenbank der Universität Leipzig (http://wortschatz.uni-leipzig.de). Beispielhaft seien die Synonyme „durchdacht“, „wohlüberlegt“, „vorgesehen“, „gezielt“ und „bezweckt“ genannt. 317 Ebenso wie hier Blanke/Rose, RdA 2008, S. 65, 77; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 198; HWK/Hohenstatt/Willemsen, BetrVG § 111 Rn. 60; LAG Düsseldorf - 27. 8. 1985 – 16 TaBV 52/85 – NZA 1986, S. 371, 372; Rieble, NZA 2004, S. 1029, 1030; LAG Hamm v. 8. 8. 2000 – 10 TaBV 21/08 (n. V.); LAG Hamm v. 6. 3. 2009 – 10 TaBV 143/08 (n.V.); Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rn. 147; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 631; WPK, BetrVG, § 90 Rn. 14. 318 BT-Drs. 14/5741, S. 52; DKKW/Däubler, BetrVG, § 111 Rn. 166; GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 201; LAG Hamm v. 26. 8. 2005 – 10 TaBV 152/04 – ZIP 2005, S. 2269. 319 BT-Drs. 14/5741, S. 52; Engels/Trebinger/Löhr-Steinhaus, DB 2001, S. 532, 540; GKBetrVG/Oetker, § 111 Rn. 201. 316

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beziehen, geht der Gesetzgeber für das Beteiligungsverfahren des Betriebsrates somit von einem wesentlich größeren Zeitdruck aus und damit auch von einem signifikant späteren Unterrichtungszeitpunkt. Zudem wurde der Wirtschaftsausschuss bewusst für die aktive Mitwirkung an der Planung einer Betriebsänderung institutionell ausgestattet. Im Gegensatz zu den Betriebsratsmitgliedern, denen regelmäßig „die zur Beurteilung der wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens notwendigen Kenntnisse fehlen“320 werden, sollen die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses gem. § 107 Abs. 1 S. 3 BetrVG die erforderliche fachliche Eignung besitzen. Darunter werden vor allem betriebswirtschaftliche Kenntnisse verstanden, die eine sinnvolle Beteiligung an den wirtschaftlichen Sachverhalten des § 106 Abs. 3 BetrVG ermöglichen321. Zudem ist keine ausschließliche Besetzung mit Arbeitnehmern vorgeschrieben. Auch leitende Angestellte i. S. d. § 5 Abs. 3 BetrVG, die oft einen besseren Zugang zur Unternehmensplanung haben, können Angehörige des Gremiums sein. Diese Kenntnisse sind auch erforderlich, wenn so komplexe Planungsprozesse wie Betriebsänderungen von Anfang an analysiert und aktiv beeinflusst werden sollen. In Anbetracht der Sensibilität dieser Daten wird der Unternehmer im Gegensatz zu den §§ 111 ff. BetrVG nicht nur durch die allgemeine Geheimhaltungspflicht in § 79 Abs. 2 BetrVG geschützt, sondern auch durch § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG, der ihn berechtigt, Informationen zurückzuhalten, soweit durch deren Offenbarung die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens gefährdet werden. Setzt man diese Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammen, treten die unterschiedlichen Funktionen beider Gremien deutlich hervor: Auf der einen Seite der Wirtschaftsausschuss, der als fachkompetenter Planungspartner arbeitnehmerrelevante Entscheidungsprozesse von Anfang an begleitet und zur Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen beiträgt. Auf der anderen Seite der Betriebsrat, der das „Ob“ oder zumindest das „Wie“ einer gleichwohl beschlossenen Betriebsänderung im Wege des durch die §§ 112 Abs. 4, 113 Abs. 3 BetrVG gesicherten Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahrens nachträglich zu beeinflussen sucht. Diese Aufgabenabgrenzung ignoriert, wer Wirtschaftsausschuss und Betriebsrat gleichzeitig über die Betriebsänderung unterrichten will322, sei es nun am Anfang oder am Ende des Planungsprozesses. Es sind keine Gründe ersichtlich, zwei inhaltlich identische Beteiligungsverfahren zeitlich parallel durchzuführen und den erforderlichen Aufwand für den Unternehmer zu verdoppeln. Vielmehr spricht die gesetzliche Kon320 BAG v. 18. 07. 1978 – 1 ABR 34/75 – AP BetrVG 1972 § 108 Nr. 1 Bl. 389 R.; ebenso BAG v. 20. 1. 1976 – 1 ABR 44/75 – AP ArbGG 1953 § 89 Nr. 10. 321 BAG v. 18. 07. 1978 – 1 ABR 34/75 – AP BetrVG 1972 § 108 Nr. 1 Bl. 389 R.; ebenso BAG v. 20. 1. 1976 – 1 ABR 44/75 – AP ÂrbGG 1953 § 89 Nr. 10; DKKW/Däubler, BetrVG, § 107 Rn. 12; ErfK/Kania, BetrVG, § 107 Rn. 4; GK-BetrVG/Oetker, § 107 Rn. 18; Richardi/ Annuß, BetrVG, § 107 Rn. 8. 322 Vgl. Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 35; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 315; Röder/Göpfert, BB 1997, S. 2105, 2107; Stege/Weinspach/Schiefer, BetrVG §§ 106 – 109 Rn. 34a.

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zeption ganz deutlich für ein abgestuftes Verfahren, das mit der Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses über den Entschluss zur Planung beginnt und bei dem der Betriebsrat erst eingeschaltet wird, nachdem die Betriebsänderung „geplant“ ist. cc) Entscheidungsträger und Konkretisierungsgrad des Beschlusses Daran anschließend stellt sich die Frage, wann die Betriebsänderung als „geplant“ gelten kann. Zunächst könnte man auf den Entschluss der für den vorgelagerten Planungsprozess zuständigen Unternehmenseinheit abstellen, die sich nach Datensammlung, -strukturierung und Alternativenermittlung dafür entscheidet, der Unternehmensleitung ein Konzept für eine Betriebsänderung vorzuschlagen. Das genannte Konzept kann dabei entweder aus einer Auswahl verschiedener Alternativen bestehen oder aber nur eine präferierte Lösung enthalten. In ersterem Fall lässt sich offensichtlich noch nicht von einer geplanten Maßnahme sprechen, aber auch in letzterem wäre dies verfrüht. Zwar wurde im Rahmen des Allgemeinen Teils festgestellt, dass die Unternehmensleitung regelmäßig nur einen geringen Spielraum zur Modifikation der präsentierten Lösung hat, da die Subsysteme des Unternehmens durch eine Vielzahl von Vorentscheidungen den endgültigen Finalentschluss weitgehend determinieren323. Aber auch bei einem entscheidungsreifen Konzept handelt es sich gleichwohl nur um einen unverbindlichen Vorschlag. „Geplant“ ist eine Betriebsänderung deshalb noch nicht, wenn sich eine untergeordnete Organisationseinheit innerhalb des Unternehmens für eine Betriebsänderung entschieden hat. Dies ist erst nach dem Beschluss der Unternehmensleitung der Fall, die die erforderliche Rechtsmacht besitzt, um den Beschluss (gegebenenfalls im Zusammenwirken mit einem weiteren Unternehmensorgan) auch tatsächlich umzusetzen. dd) Zwischenergebnis Unterrichtungsgegenstand im Rahmen des § 111 S. 1 BetrVG ist eine bereits beschlossene Betriebsänderung. Die Norm gebietet deswegen nur eine ergebnisbezogene Mitbestimmung. b) Mindestzeitraum bis zur Umsetzung Ausgehend von dem vorstehend herausgearbeiteten Unterrichtungsgegenstand ergibt sich nur noch ein begrenztes Spektrum denkbarer Zeitpunkte.

323

Vgl. dazu oben § 2 B. III. 4. d) bb) (4) (c).

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aa) Zwei Wochen vor Umsetzung Den soweit ersichtlich spätesten Termin markiert Ehmann, nach dessen Auffassung eine Unterrichtung bis zu zwei Wochen vor Durchführung der Betriebsänderung noch rechtzeitig ist324. Dagegen spricht zunächst, dass durch eine statische Lösung der Komplexität der jeweiligen Betriebsänderung nicht Rechnung getragen werden kann. Entscheidend ist aber, dass eine Frist von zwei Wochen insbesondere bei umfangreichen Umstrukturierungsmaßnahmen viel zu kurz bemessen ist, um ein sachgemäßes Interessenausgleichsverfahren durchführen zu können325. Auch wenn man das Einigungsstellenverfahren außer Acht lässt, ist die Analyse der Planungsdaten, gegebenenfalls die Hinzuziehung eines Sachverständigen, die Ausarbeitung von Alternativvorschlägen und abschließend die Beratung mit dem Unternehmer nicht innerhalb dieses Zeitraums zu bewerkstelligen. Dies zeigt auch eine historische Betrachtung des § 113 Abs. 3 BetrVG. Durch das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz326 wurde zum 1. 10. 1996 in § 113 Abs. 3 S. 2 und 3 BetrVG eine Fristenregelung eingeführt, nach der ein ausreichender Versuch eines Interessenausgleichs bereits erfolgt ist, wenn nach Beginn der Beratungen nicht innerhalb von zwei Monaten ein Interessenausgleich vereinbart worden ist. Wurde innerhalb dieses Zeitraumes die Einigungsstelle angerufen, endete die Frist einen Monat nach deren Anrufung. Diese Regelung wurde aber zum 1. 1. 1999 wieder ersatzlos gestrichen327, da die betreffende Frist bei komplexen Betriebsänderungen zur Erarbeitung und Erörterung von Alternativvorschlägen nicht ausreichend sei328. Die Auffassung Ehmanns kann demzufolge nicht überzeugen. bb) Orientierung an § 112 Abs. 2 BetrVG Eine den Umständen des Einzelfalles angemessene Lösung ermöglicht prima facie die Auffassung Schwerdtners und Richardis, nach der die Unterrichtung rechtzeitig ist, solange das in § 112 Abs. 2 BetrVG kodifizierte Verfahren noch durchgeführt werden kann329. Bei genauerem Hinsehen stehen ihr aber erhebliche Bedenken gegenüber. 324

Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 57. Kritisch ebenfalls Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 324. 326 Beschäftigungsförderungsgesetz v. 25. 9. 1996, BGBl. 1996 I S. 1476 ff. 327 Gesetz zur Korrektur in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte v. 19. 12. 1998, BGBl. 1998 I, S. 3843 ff. 328 BT-Drs. 14/45, S. 24. 329 Richardi, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2, Bl. 531, 532; Schwerdtner, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – EzA BetrVG 1972 § 113 Nr. 2, S. 29, 34; Schwerdtner ist zwar der Auffassung (a.a.O. S. 38), dass der Unternehmer den Präsidenten des Landesarbeitsamtes (jetzt Vorstand der Bundesagentur für Arbeit) und die Einigungsstelle nicht initiativ anrufen müsse, um der Sanktion aus § 113 Abs. 3 BetrVG zu entgehen. Sollte der Betriebsrat aber tätig werden, sei das gesamte Verfahren auszuschöpfen. 325

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Gegen eine Einbeziehung des gesamten Verfahrens aus § 112 Abs. 2 BetrVG spricht zunächst der Wortlaut. Die rechtzeitige Unterrichtung in § 111 S. 1 BetrVG bezieht sich unmittelbar nur auf die Beratung im Wege „freier Verhandlungen“330 zwischen Unternehmer und Betriebsrat. Diese sind mit dem Einigungsstellenverfahren qualitativ nicht vergleichbar und deshalb mit der Anrufung der Einigungsstelle abgeschlossen331. Problematisch ist aber vor allem, dass sich zum Unterrichtungszeitpunkt noch nicht sicher abschätzen lässt, wie viel Zeit zur Ausschöpfung des gesamten Verfahrens erforderlich ist332. Der Betriebsrat hat es insofern in der Hand, das Verfahren schnell abzuwickeln, aber auch es zu verzögern333. Ein großer Unsicherheitsfaktor für den Unternehmer und Hebel für den Betriebsrat ist insbesondere die gerichtlich angreifbare Bestellung des Einigungsstellenvorsitzenden, die „ohne weiteres ein halbes Jahr“334 dauern kann. Der Unternehmer muss aber bereits zum Unterrichtungszeitpunkt wissen, ob er den Betriebsrat rechtzeitig informiert hat und ob sein Verhalten ordnungswidrig nach § 121 Abs. 1 BetrVG ist335. Eine nachträgliche Beurteilung unter Berücksichtigung des weiteren Verfahrensverlaufs würde gegen das in § 3 OWiG und Art. 103 Abs. 3 GG abgesicherte Gesetzlichkeitsprinzip verstoßen, da es der Betriebsrat dann in der Hand hätte, ob den Unternehmer die Rechtsfolge nach § 121 Abs. 1 BetrVG trifft. Zwar sind dem Strafrecht durchaus Regelungen bekannt, die die Verfolgung der Straftat in das Ermessen des Opfers stellen (z. B. der Haus- und Familiendiebstahl gem. § 247 StGB). Diese beseitigen aber nicht die Strafbarkeit der betreffenden Handlung, sondern verhindern nur deren Verfolgung336. Zudem bereinigt der Abschluss des Interessenausgleichs nicht die mit der verspäteten Unterrichtung verwirklichte Verletzung des Mitbestimmungsrechts: Die Motive des Betriebsrates für die Einigung können vielfältig sein und der Schutz der Arbeitnehmerinteressen hätte durch eine ordnungsgemäße Unterrichtung gegebenenfalls wesentlich effektiver verwirklicht werden können. Eine erfolgreiche

Um eine rechtzeitige Unterrichtung zu gewährleisten, muss der Unternehmer deshalb ausreichend Zeit einplanen, um das Verfahren bis hin zur Einigungsstelle durchführen zu können. 330 WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 182. 331 Ebenso BAG v. 20. 11. 2001 – 1 AZR 97/01 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 39 Bl. 909; GKBetrVG/Oetker, § 111 Rn. 244. 332 Ebenso Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 323. 333 Vgl. WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 166 f. 334 WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 166; bis zu vier Monate: Bauer, ZIP 1996, S. 117, 118; vgl. auch Bauer/Diller, ZIP 1995, S. 95, 99; Hohenstatt, NZA 1998, S. 846, 847. 335 So aber Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 323. 336 Es spielt insofern keine Rolle, dass es sich dabei um eine rückwirkende Verbesserung der Rechtsstellung des Unternehmers handeln würde, denn eine solche steht lediglich dem Gesetzgeber zu (vgl. nur MüKo-StGB-I/Schmitz, § 2 Rn. 28 ff.).

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Einigung trotz verspäteter Unterrichtung kann deswegen nur den Anspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG, aber nicht die Ordnungswidrigkeit beseitigen337. Aus den genannten Gründen muss somit bereits zum Unterrichtungszeitpunkt feststehen, ob die Information des Betriebsrates rechtzeitig ist338. Der Unternehmer würde deshalb nur ordnungsgemäß unterrichten, wenn er in seiner Planung den Beginn der Umsetzungsmaßnahmen so weit hinausschiebt, dass auch ein Interessenausgleichsverfahren mit der maximal denkbaren Dauer noch durchführbar wäre. Auch die Planung wenig komplexer Betriebsänderungen und solcher, die in betriebswirtschaftlicher Hinsicht ganz offensichtlich alternativlos sind, müsste dann einen erheblichen zeitlichen Vorlauf einbeziehen. Dies wäre aber zum einen höchst unpraktikabel und eine erhebliche Einschränkung der unternehmerischen Freiheit, da eine flexible und zeitnahe Reaktion auf Marktveränderungen verhindert wird. Zum anderen ist diese Vorgehensweise zum Schutz der Arbeitnehmer gar nicht erforderlich, da die zusätzliche Durchführung des Einigungsstellenverfahrens bereits durch § 113 Abs. 3 BetrVG geschützt wird339. Eine Auslegung, die die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung lediglich auf das Beratungsverfahren bezieht, wird deshalb den Interessen beider Seiten am besten gerecht. Als zeitlicher Puffer zwischen Unterrichtung und Umsetzung der Betriebsänderung ist demnach die voraussichtlich erforderliche Dauer der freien Verhandlungen mit dem Betriebsrat ausreichend. Diesem muss die Möglichkeit gegeben werden, sich mit den Vorstellungen des Unternehmers sachgemäß auseinanderzusetzen, Alternativvorschläge auszuarbeiten und dessen Entscheidung in einem „substantiellen Meinungsaustausch“340 ohne übermäßigen Zeitdruck341 beeinflussen zu können. Zur Ermittlung des erforderlichen Zeitraums ist eine einzelfallbezogene Prognose zu erstellen. Zentrale Kriterien sind dabei der Umfang und die Komplexität der Betriebsänderung. Zudem ist der Anspruch des Betriebsrates aus §§ 80 Abs. 3, 111 S. 2 BetrVG zur Konsultation eines Sachverständigen zu beachten. Dieser muss ausreichend Zeit haben, um sich ein Bild von der betrieblichen Situation zu verschaffen und gegebenenfalls Alternativvorschläge zu erarbeiten342. Es empfiehlt sich 337 Vgl. BAG v. 17. 2. 1981 – 1 AZR 290/78 – AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 11; Otto, Anm. zu BAG v. 14. 9. 1976 – 1 AZR 784/75 – 1977, S. 284, 285; Rebel, Grundprobleme des Nachteilsausgleichs, S. 129 Rn. 76; a. A. Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 52 f. 338 Ebenso Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 323. 339 Sollten sich im Verlauf der freien Verhandlungen wider Erwarten gewichtige Meinungsverschiedenheiten herauskristallisieren, die die Anrufung einer Einigungsstelle erforderlich machen, so muss der Unternehmer den Zeitpunkt der Umsetzung aufschieben, um der Sanktion aus § 113 Abs. 3 BetrVG zu entgehen. Sollte aber von vornherein abzusehen sein, dass keine Einigung im Wege der freien Verhandlungen herbeigeführt werden kann, so wird der Unternehmer dies bereits in seine Umsetzungsplanung mit einzubeziehen haben. 340 Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 323. 341 LAG Düsseldorf v. 27. 8. 1985 – 16 TaBV 52/85 – NZA 1986 S. 371, 372. 342 Vgl. BT-Drs. 14/5741, S. 52: „Damit wird der Betriebsrat in die Lage versetzt, die Auswirkungen einer geplanten Betriebsänderung rasch zu erfassen und in kurzer Zeit mit Hilfe eines externen Sachverstands fundierte Alternativvorschläge vor allem für eine Beschäfti-

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außerdem, auf den dergestalt prognostisch ermittelten Zeitraum noch einen angemessenen „Sicherheitspuffer“ aufzuschlagen, um unvorhergesehene Verzögerungen auffangen zu können. Sollte die veranschlagte Zeit trotz sachgemäßer Prognose nicht ausreichend sein, so wird man zumindest den Vorsatz im Rahmen von § 121 Abs. 1 BetrVG verneinen müssen. cc) Zwischenergebnis Der geplante Beginn der Umsetzungsmaßnahmen muss dergestalt terminiert werden, dass nach der Unterrichtung noch ausreichend Zeit verbleibt, um eine den konkreten Umständen angemessene Beratung sachgemäß durchführen zu können. c) Unterrichtungszeitpunkt aa) Grundlagen Fraglich ist nun, ob die Einhaltung des vorstehend beschriebenen Zwischenraums ausreichend ist, um eine rechtzeitige Unterrichtung zu gewährleisten. Bei Betriebsänderungen, die unmittelbar und zeitnah nach dem Beschluss durchgeführt werden sollen, wird dies in der Regel der Fall sein. Es ist aber ebenso denkbar, dass der Unternehmer eine Betriebsänderung beschließt, bis zu deren Durchführung noch ein längerer Zeitraum vergehen soll (z. B. in 18 Monaten). Kann er diese Information dann zurückhalten, solange noch genügend Zeit zur Beratung des Beschlusses verbleibt? Im Rahmen des Allgemeinen Teils wurde festgestellt und nachgewiesen343, dass die Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung dem Betriebsrat nicht nur eine hypothetische, sondern vielmehr eine realistische Chance zur Einflussnahme auf die Entscheidungen des Arbeitgebers gewähren soll. Die daraus abgeleitete prozessbezogene Mitbestimmung scheitert vorliegend aber an der gesetzgeberischen Eingrenzung des Unterrichtungsgegenstandes. Die Erfolgschancen des Betriebsrates im Rahmen des Beteiligungsverfahrens aus den §§ 111 ff. BetrVG sind damit nur gering344. Das Beteiligungsverfahren ist aber gerade deswegen so auszugestalten, dass dessen Effektivität trotz des engen gesetzlichen Rahmens zur größtmöglichen Entfaltung gebracht wird. Je schneller die Betriebsänderung durchgeführt werden soll, desto schlechter stehen die Chancen für den Betriebsrat, eine Abmilderung oder gar einen Verzicht zu erwirken. Kurzfristige Umstrukturierungen sind in dynamischen Märkten keine Seltenheit, etwa wenn Zuliefererverträge überraschend gekündigt werden, oder Rohstoffpreise explosionsartig ansteigen. Das Gesetz respektiert diese wirtschaftgungssicherung so rechtzeitig zu erarbeiten, dass er auf die Entscheidung des Arbeitgebers noch Einfluss nehmen kann.“ 343 Vgl. oben § 2 B. III. 2. 344 Vgl. oben § 2 B. III. 5. a).

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lichen Kausalitäten. Es kann und will dem Unternehmer keine langfristigere Planung aufzwingen und gewährt in diesen Fällen nur den Mindestschutz eines angemessenen Beratungsverfahrens. Das gleiche gilt auch für den kurzfristig planenden Unternehmer, der die eigentlich absehbare Erforderlichkeit von Anpassungsmaßnahmen fahrlässig erst spät erkennt. Je langfristiger aber eine Betriebsänderung geplant ist, desto besser sind auch die Möglichkeiten des Betriebsrates, eine Abmilderung oder gar einen Verzicht zu erwirken. Da der Zeitdruck, unter dem ein solches Verfahren unmittelbar vor der Umsetzung steht, hier wesentlich geringer ist, kann eine intensivere und breiter aufgestellte Suche nach Alternativen durchgeführt werden. Auch die Offenheit und Bereitschaft des Unternehmers, sich mit den Argumenten des Betriebsrates auseinanderzusetzen ist indirekt proportional zum bestehenden Zeitdruck345. Es würde dem Zweck rechtzeitiger Unterrichtung ganz offensichtlich zuwiderlaufen, wenn der Unternehmer das Mitbestimmungsverfahren über eine beschlossene Betriebsänderung hinausschieben und damit die Chancen des Betriebsrates zur Einflussnahme noch weiter verschlechtern könnte. Der Betriebsrat ist folglich unverzüglich zu unterrichten, sobald der Unternehmer den Entschluss zur Durchführung einer konkreten Betriebsänderung gefasst hat. Bei Entscheidungsprozessen, in denen keine vorherige Beteiligung durch den Wirtschaftsausschuss stattgefunden hat, wird man deshalb genau hinschauen müssen, wann dieser Entschluss tatsächlich gefallen ist. bb) Mehrstufige Entscheidungsprozesse Zudem ist die in der Literatur umstrittene Problematik346 zu erörtern, wie sich die erforderliche Einbeziehung weiterer Gesellschaftsorgane in den Entscheidungsprozess der Unternehmensleitung (sog. mehrstufige Entscheidungsprozesse) auf die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung auswirkt. Unschädlich soll dabei jedenfalls die bloße Information über die Planung sein, die bei zustimmungsbedürftigen Rechtsgeschäften gesetzlich (§§ 90 AktG, 51a GmbHG) oder satzungsrechtlich zwingend ist. Umstritten ist aber, ob die Unterrichtung immer noch rechtzeitig ist, wenn der Unternehmer vorher bereits die gesellschafts- oder satzungsrechtlich notwendige Zustimmung (vgl. §§ 111 Abs. 4 AktG, 37 Abs. 2 GmbHG) eines anderen Gesellschaftsorgans wie des Aufsichtsrates, der Gesellschafterversammlung, oder eines anderen Beirates eingeholt hat. Diejenigen Autoren, die eine vorherige Unterrichtung des Betriebsrats fordern, bezweifeln die Offenheit des Unternehmers für alternative Lösungswege, wenn dieser bereits Rückendeckung vom gesellschaftsrechtlich zuständigen Kontrollorgan erhalten hat.

345 346

Vgl. oben § 2 B. III. 4. d) bb) (1) (cc) und (dd). Vgl. oben § 3 A. IV. 1. b) aa).

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Es lässt sich durchaus darüber streiten, ob diese Überlegungen hinsichtlich der Einflussnahme auf einen Unternehmer, der sich bereits autonom für die Betriebsänderung entschieden hat, überhaupt noch signifikant ins Gewicht fallen. Aber auch wenn man dies bejaht, wäre das einzige tatsächlich wirksame Gegenmittel die Aufschiebung der Zustimmungserteilung bis zum Abschluss der Verhandlungen mit dem Betriebsrat. Ersucht der Unternehmer den Aufsichtsrat oder die Gesellschafterversammlung am Tag nach der Unterrichtung des Betriebsrates um Zustimmung und wird diese eine Woche später erteilt, so haben die Beratungen nach § 111 S. 1 BetrVG gegebenenfalls noch nicht einmal begonnen. Die Vorbehalte gegenüber den „faktischen Festlegungen“347 des Unternehmers in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat wären die gleichen wie bei der kritisierten Unterrichtung nach Einholung der Zustimmung. Dies gilt mit Abstufungen ebenso bei einer Zustimmungserteilung während des Beratungsverfahrens. Es ist deswegen nicht sinnvoll, wenn lediglich die Unterrichtung vor Zustimmungserteilung gefordert wird und nicht zusätzlich die Suspendierung der gesellschaftsrechtlichen Pflichten348. Daraus resultieren aber weitere Probleme. So ist bereits höchst zweifelhaft, ob das Hinausschieben der Zustimmung überhaupt gesellschaftsrechtlich zulässig wäre. Der Aufsichtsrat gestaltet bei zustimmungsbedürftigen Rechtsgeschäften „die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle begleitend“349 mit. Ihm wird deshalb bei diesen Fallgruppen „eine nicht unerhebliche Mitwirkungskompetenz an der Geschäftsführung“350 zugestanden. Im Rahmen der Neuregelung des § 111 Abs. 4 S. 2 AktG durch das TransPuG wies der Gesetzgeber zudem ausdrücklich darauf hin, dass in Zukunft verhindert werden solle, dass der Aufsichtsrat bei bedeutenden Maßnahmen und Entscheidungen „nicht hinreichend und nicht rechtzeitig eingebunden“351 wird. Ein Abwarten bis zum Abschluss des Beteiligungsverfahrens mit dem Betriebsrat und damit gegebenenfalls bis kurz vor der Durchführung der Betriebsänderung ist mit diesen Grundsätzen wohl nicht zu vereinbaren, da die Möglichkeiten des Aufsichtsrates zur Entwicklung und Verwirklichung einer eigenständigen unternehmerischen Sichtweise erheblich eingeschränkt werden. Diese Erwägungen müssen noch umso mehr für die Gesellschafterversammlung einer GmbH gelten, die gem. § 37 GmbHG sämtliche unternehmerischen Entscheidungen im Unternehmen an sich ziehen kann. Aber auch wenn man insofern keine gesellschaftsrechtlichen Bedenken hegt, wäre es mit dem Hinausschieben der Zustimmung noch nicht getan. Diese ist nur der formale Akt, der den Vorstand oder die Geschäftsführung gesellschaftsrechtlich 347

GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 199. So aber Bauer, DB 1994, S. 217, 222; ErfK/Kania, § 111 BetrVG Rn. 22; GK-BetrVG/ Oetker, § 111 Rn. 199; WPK/Preis/Bender, BetrVG, § 111 Rn. 31; nur Rebel will den Unternehmer verpflichten, erst einen Interessenausgleich zu versuchen, bevor die Einwilligung des Aufsichtsrats erteilt wird (Grundprobleme des Nachteilsausgleichs, S. 135). 349 BGH v. 21. 04. 1997 – II ZR 175/95 – BGHZ 135, S. 244, 255. 350 Säcker/Rehm, DB 2008, S. 2814, 2818. 351 BT-Drs. 14/8769, S. 17. 348

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ermächtigt, das beschlossene Geschäft durchzuführen. Tatsächlich müsste man jenseits bloßer Unterrichtung jegliche Kommunikation mit dem Kontrollorgan untersagen, in der dessen Position zum Ausdruck kommen könnte. So können Aufsichtsrat oder Gesellschafterversammlung auch in Beratungen oder in informellen Gesprächen ihre Position signalisieren. Die dadurch hervorgerufene Bindungswirkung hat aber eine ähnliche Qualität wie diejenige nach Zustimmungserteilung auf formalem Wege. Dies würde fast schon absurde Konsequenzen nach sich ziehen, wenn die Mitglieder des Aufsichtsgremiums Bedenken gegen den Plan des Unternehmers haben. Sie müssten diese zurückhalten, um das Konzept dann nach Abschluss der Beratungen scheitern zu lassen. Es ist aber freilich auch nicht im Interesse der Arbeitnehmer, über eine Planung zu verhandeln, die keine Aussicht auf Umsetzung hat. Man müsste deswegen zumindest zulassen, dass schwerwiegende Bedenken dem Unternehmer mitgeteilt werden können. Allerdings könnte dieser sich dann wiederum der Zustimmung des Gremiums sicher sein, wenn dieses während der Verhandlungen mit dem Betriebsrat nicht an ihn herantritt. Wie man es auch dreht und wendet: Die Zustimmungserteilung eines zuständigen Gesellschaftsorgans kann für die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung keine Rolle spielen. Sollte erstere vor dem Abschluss des Interessenausgleichsverfahrens erfolgen, wäre es zweckmäßig, zur Klarstellung den ausdrücklichen Vorbehalt einer gesetzeskonformen Einschaltung des Betriebsrates aufzunehmen. Rechtlich geboten ist dies allerdings nicht352, da die Entscheidung immer noch abgeändert werden kann. d) Der Einfluss der Richtlinie 2002/14/EG Es ist offensichtlich, dass der vorstehend ermittelte Unterrichtungszeitpunkt nicht mit der prozessbezogenen Mitbestimmungskonzeption der Richtlinie 2002/14/EG zu vereinbaren ist353. Diese fordert nicht nur eine Unterrichtung vor der Entscheidung, sondern bereits eine Beteiligung der Arbeitnehmer an dem vorgelagerten Entscheidungsprozess. Kohte plädiert deswegen für eine Einbeziehung des Betriebsrates bereits bei der Datensammlung und -strukturierung, „damit bereits der Weg zur Entscheidung gemeinsam gegangen werden kann.“354 Dabei geht er aber ohne weitere Begründung davon aus, dass § 111 S. 1 BetrVG insofern richtlinienkonform auszulegen ist. Diese Annahme soll nun im Folgenden untersucht werden. Für Unternehmen mit 50 bis 100 Arbeitnehmern ist Kohte zuzustimmen. Wie bereits oben erläutert, ist dann eine richtlinienkonforme Auslegung von § 111 BetrVG zwingend geboten, um Art. 4 Abs. 2 lit. c) RL 2002/14/EG zur Umsetzung 352

So aber Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 327. Vgl. dazu oben § 3 A. I. Ebenso Kohte, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 1219, 1243; a. A. GK-BetrVG/Oetker, § 111 Rn. 199, allerdings ohne Begründung und mit einem unzutreffenden Verweis auf Kohte (a.a.O.). 354 Kohte, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 1219, 1244; ähnlich HaKo-BetrVG/Kohte, RL 2002/14/EG, Rn. 19. 353

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zu verhelfen355. § 111 S. 1 BetrVG muss in diesen Fällen freilich auch den prozeduralen Anforderungen der Richtlinie gerecht werden. Zwar wurde vorstehend gezeigt, dass sowohl der Verweis auf „geplante Betriebsänderungen“ als auch das Verhältnis zum Wirtschaftsausschuss für eine Beteiligung nach dem Beschluss einer Betriebsänderung sprechen. Trotzdem schließt der Wortlaut eine prozessbezogene Mitbestimmung nicht kategorisch aus356. Soweit keine weiteren Umsetzungsalternativen in Betracht kommen, muss die richtlinienkonforme Auslegung deswegen den Vorrang erhalten. Hinsichtlich des konkreten Unterrichtungszeitpunktes ist auf die im Allgemeinen Teil entwickelte Formel zurückzugreifen. In Unternehmen mit 50 bis 100 Mitarbeitern hat der Unternehmer den Betriebsrat gem. § 111 S. 1 BetrVG einzubeziehen, sobald er den Entschluss zur Planung einer Betriebsänderung gefasst hat. Davon sind in dem vorliegenden Rahmen auch Betriebsübergänge erfasst. In Unternehmen mit mehr als 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern ergibt sich hingegen eine andere Beurteilung, da dann bereits § 106 BetrVG eine prozessbezogene Mitbestimmung bei Betriebsänderungen gewährleistet und damit den Umsetzungsdruck der Richtlinie auffängt. Die Vorverlagerung des Unterrichtungszeitpunktes entgegen der durch die ganz herrschende Rechtsprechung, Literatur und auch hier bevorzugten Auslegung wäre somit überobligatorisch. Die Richtlinie fordert nicht die gleichzeitige Unterrichtung und Anhörung von zwei verschiedenen Arbeitnehmervertretungen zum selben wirtschaftlichen Sachverhalt. Das bedeutet aber wiederum nicht, dass eine einheitliche Auslegung beider Vorschriften nicht trotzdem zweckmäßig oder sogar geboten sein könnte. Zur Erhellung der benannten Problematik bietet sich ein Seitenblick auf die in manchen Aspekten verwandte methodische Fragestellung an, ob und inwieweit eine Richtlinie auch im Bereich überschießender Umsetzung Maßstab für die Auslegung des nationalen Rechts ist357. Beide Konstellationen unterscheiden sich zwar insoweit, als dass § 111 BGB hier grundsätzlich im inhaltlichen Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 lit. c RL 2002/14/EG liegt. Es handelt sich deswegen nicht um eine klassische überschießende Umsetzung, wie etwa bei der Neuregelung des Kaufrechts, wo der Gesetzgeber auch das allgemeine Kaufrecht weitgehend an die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie358 angepasst hat359. Eine Vergleichbarkeit ist aber trotzdem gegeben, weil es sich um eine gleichsam „qualitativ“ überschießende Umsetzung handelt, da über die Vorgaben der Richtlinie hinaus zwei verschiedene Arbeitnehmervertre355

Zwar wird § 106 BetrVG den prozeduralen und materiellen Vorgaben der Richtlinie umfassend gerecht, diese knüpft die Begründung der Unterrichtungs- und Beratungsrechte aber an den Schwellenwert von 50 Arbeitnehmern (Art. 3 Abs. 1 lit. a), während ein Wirtschaftsausschuss erst ab einer Anzahl von mehr als 100 Arbeitnehmern zu errichten ist. Vgl. dazu ausführlich oben § 3 A. II. 2. b). 356 Vgl. oben § 3 A. IV. 2. a) aa). 357 Vgl. dazu ausführlich Riesenhuber/Habersack/Mayer, Europäische Methodenlehre, S. 438 ff. 358 RL 1999/44/EG = ABl. EG (1999) L 171, S. 12 ff. 359 Vgl. nur MüKo-BGB/Lorenz, § 474 Rn. 29.

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tungen bzgl. der gleichen wirtschaftlichen Maßnahme unterrichtet und angehört werden müssen. Eine generelle gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung derselben Vorschrift auch außerhalb des inhaltlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie besteht nach Auffassung des EuGH360 und der herrschenden Meinung in der Literatur361 nicht. „Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (…) setzen wollte, gilt nämlich das nationale Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedsstaats zuständig sind.“362 Umstritten ist aber die Frage, ob das nationale Recht per se eine „gespaltene“ Auslegung untersagt363. Die Befürworter einer generellen Pflicht zur einheitlichen Auslegung verweisen dabei vorwiegend auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers364 und zudem auf das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Gebot der Klarheit und Bestimmheit von Normen365. Letzteres sei verletzt, wenn ein und dieselbe Vorschrift unterschiedlich ausgelegt werden würde. Dem erwidert aber die Gegenansicht, dass „die Erwartung, das richtige Verständnis einer Norm durch schlichte Lektüre des Gesetzes ermitteln zu können, ein (…) von einer komplexen und dynamischen Rechtsordnung nicht zu erfüllender Wunsch“366 sei. Und auch wenn man von einem gesetzgeberischen Willen zur einheitlichen Auslegung ausginge, wäre diese subjektive Vorstellung für die Gerichte nicht verbindlich367. Zwar spreche eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung368. Es müsse aber trotzdem noch normspezifisch bestimmt werden, ob das Gesetz auch im Überschussbereich einen Gleichlauf mit der jeweiligen Richtlinie fordere. Ein gewichtiger Unterschied zur vorstehend skizzierten Diskussion ist die Tatsache, dass es sich vorliegend um zwei verschiedene Normen handelt, die hinsichtlich des Unterrichtungszeitpunktes unterschiedlich ausgelegt werden sollen. Zudem gehören Unterschiede zwischen beiden Beteiligungsverfahren seit dem Erlass des BetrVG 1972 zur ständigen Rechtsprechung. Rechtsstaatliche Vorbehalte greifen hier deswegen nicht durch. Es spricht somit nichts dagegen, die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung des § 111 BetrVG anhand dessen konkreter Aus360 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 Leur Bloem – Slg. 1997, I-4161 Rn. 33; ebenso EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-130/95 Giloy – Slg. 1997, I-4291 Rn. 28. 361 Bärenz, DB 2003, S. 375; Gödicke, WM 2008, S. 1621, 1626. 362 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem – Slg. 1997, I-4161 Rn. 33. 363 Dafür: Bärenz, DB 2003, S. 375 f.; Staudinger/Beckmann, BGB, vor § 433 Rn. 55; Heß, RabelsZ 2002, S. 470, 486; dagegen: Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, S. 545, 550; Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Art. 249 EGV, Rn. 151; Riesenhuber/Habersack/Mayer, Europäische Methodenlehre, S. 448 f.; Schürnbrand, NZG 2011, S. 1213, 1214 f.. 364 Hinsichtliche des Sachmängelbegriffs vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 211. 365 Exemplarisch Bärenz, DB 2003, S. 375 f. 366 Riesenhuber/Habersack/Mayer, Europäische Methodenlehre, S. 448. 367 Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 249 EGV, Rn. 151. 368 Riesenhuber/Habersack/Mayer, Europäische Methodenlehre, S. 452 f.

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gestaltung zu überprüfen369. Auszugehen ist dabei von der vorstehend herausgearbeiteten gesetzgeberischen Konzeption. Sowohl der Wortlaut („geplant“) als auch das Verhältnis zum Wirtschaftsausschuss sprechen dabei deutlich für eine Unterrichtung nach dem unternehmerischen Entschluss. Eine Vorverlagerung des Unterrichtungszeitpunktes im Sinne der Richtlinie würde diese gesetzgeberische Entscheidung unterlaufen und wäre somit ein erheblicher Eingriff in das gesetzliche Regelungsregime370 und eine zusätzliche Belastung des Unternehmers. Auf der anderen Seite sind keine Gründe erkennbar, die einen solchen Eingriff erforderlich machen würden. Insbesondere wird die Partizipation der Arbeitnehmer an der vorgelagerten Planung bereits durch den Wirtschaftsausschuss sichergestellt. An einem verdoppelten Beteiligungsverfahren kann auch der Betriebsrat kein signifikantes Interesse haben, zumal er gem. § 108 Abs. 4 BetrVG immer unverzüglich vom Wirtschaftsausschuss ins Bild gesetzt wird. Eine Angleichung des Unterrichtungszeitpunktes im Rahmen des § 111 BetrVG an die Vorgaben der Richtlinie ist demzufolge abzulehnen. Das ermittelte Ergebnis gilt aber ausdrücklich nur für diesen spezifischen Aspekt. Eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 111 ff. BetrVG hinsichtlich anderer Richtlinienziele, die sich nahtloser in das gesetzliche Regelungssystem einfügen, kommt deswegen durchaus in Betracht. 3. Ergebnis Die im Allgemeinen Teil herausgearbeitete Definition der Rechtzeitigkeit gilt im Rahmen des § 111 S. 1 BetrVG lediglich für Unternehmen mit 50 bis 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern. Ist die Schwelle von 100 Arbeitnehmern überschritten, ist der Betriebsrat hingegen erst zu unterrichten, sobald der Unternehmer den Beschluss zur Durchführung einer Betriebsänderung gefasst hat. Der Beginn der Umsetzungsmaßnahmen muss dabei so terminiert werden, dass noch ausreichend Zeit zur Durchführung des Beratungsverfahrens verbleibt.

V. Der Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat zudem gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG rechtzeitig und umfassend zu unterrichten. Es handelt sich dabei um einen Auffangtatbestand neben den speziellen Informationspflichten aus dem BetrVG und aus anderen Gesetzen371. Die Unterrichtung soll den Betriebsrat in die Lage versetzen, 369 Vgl. zu den diesbezüglich anzulegenden Kriterien Riesenhuber/Habersack/Mayer, Europäische Methodenlehre, S. 449 ff. 370 Vgl. allgemein zu den Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung bei erheblicher Abweichung von der Sachentscheidung des Gesetzgebers Gödicke, WM 2008, S. 1621, 1628; Riesenhuber/Habersack/Mayer, Europäische Methodenlehre, S. 454. 371 DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 Rn. 78; HWK/Schrader, BetrVG, § 80 Rn. 61.

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seine gesetzlichen Aufgaben ordnungsgemäß wahrnehmen zu können. Handelt es sich dabei um Aufgaben, die der Betriebsrat aus eigener Initiative wahrnehmen kann (z. B. die Kataloge der §§ 80 Abs. 1, § 87 Abs. 1 BetrVG), hat dieser jederzeit einen Auskunftsanspruch, sofern ein hinreichender Grad an Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass ein Mitbestimmungsrecht in Betracht kommt und die begehrte Information zu dessen Wahrnehmung auch erforderlich ist372. Nur wenn das Bestehen eines Beteiligungsrechts oder einer sonstigen Aufgabe offensichtlich ausgeschlossen ist, kann der Arbeitgeber die Auskunft verweigern. Handelt es sich hingegen um Mitbestimmungsrechte, die an die Initiative des Arbeitgebers anknüpfen, so kann der Betriebsrat Auskünfte und die Vorlage entsprechender Unterlagen erst verlangen, wenn der Arbeitgeber tätig wird373. Die Unterrichtungspflicht ist dabei nicht von einer Aufforderung des Betriebsrates abhängig374. Der Arbeitgeber muss von sich aus an den Betriebsrat herantreten. Wann dies der Fall ist, bestimmt sich nach dem jeweiligen Mitbestimmungsrecht. Existiert eine spezielle Vorschrift, ist diese hinsichtlich des Unterrichtungszeitpunktes abschließend und darf nicht durch § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG unterlaufen werden375. So kann der Betriebsrat auch nicht aus § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG verlangen, über Betriebsänderungen bereits im Planungsstadium unterrichtet zu werden, da § 111 S. 1 BetrVG dem Betriebsrat eine Beteiligung erst hinsichtlich des fertigen Plans zuweist. Dasselbe gilt für die Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen und Kündigungen, bei denen die Unterrichtung gem. §§ 99 Abs. 3 S. 1, 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG spätestens eine Woche vor Durchführung zu erfolgen hat. Sollte der Unterrichtungszeitpunkt nicht bereits durch das jeweilige Mitbestimmungsrecht determiniert sein, so wird allgemein gefordert, dass der Betriebsrat so frühzeitig unterrichtet wird, dass er nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wird und 372 Vgl. nur BAG v. 15. 12. 1998 – 1 ABR 9/98 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 56; BAG v. 21. 10. 2003 – 1 ABR 39/02 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 62; DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 Rn. 83; FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 51; GK-BetrVG/Oetker, § 80 Rn. 60; HWK/Schrader, BetrVG, § 80 Rn. 65; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 80 Rn. 51. 373 BAG v. 27. 6. 1989 – 1 ABR 19/88 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 37. 374 DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 Rn. 83; ErfK/Kania, BetrVG, § 80 Rn. 19; GKBetrVG/Weber, § 80 Rn. 69; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 618 f.; dagegen: FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 48. 375 Umstritten ist, ob die spezifischen Unterrichtungsvorschriften insgesamt hinsichtlich Voraussetzungen und Umfang abschließend sind (dafür: BAG v. 5. 2. 1991 – 1 ABR 24/90 – AP BetrVG 1972 § 106 Nr. 10; BAG v. 26. 1. 1995 – 2 AZR 386/94 – AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 69; ErfK/Kania, BetrVG, § 80 Rn. 17; GK-BetrVG/Weber, § 80 Rn. 54; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 618 f.; dagegen: DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 Rn. 79; FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 48). Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass sich beide Auffassungen nur marginal widersprechen. Die Befürworter eines Konkurrenzverhältnisses im Sinne der Spezialität nehmen dies nur im Hinblick auf die jeweilige Aufgabe an, damit die Vorschriften der spezifischen Mitbestimmungsrechte nicht durch § 80 Abs. 2 S. 1 unterlaufen werden. Sollte die begehrte Information aber zur Erfüllung einer anderen Aufgabe erforderlich sein, so wird § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG auch nach dieser Auffassung nicht verdrängt (exemplarisch BAG v. 18. 10. 1988 – 1 ABR 33/87 – AP BetrVG 1972 § 99 Nr. 57; GK-BetrVG/Weber, § 80 Rn. 54).

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die entsprechende gesetzliche Aufgabe noch ordnungsgemäß erfüllen kann376. Mit den Worten des BAG ist deswegen erforderlich, dass die Mitbestimmung des Betriebsrates „nicht faktisch dadurch gehindert wird, daß eine Änderung bestehender und als endgültig betrachteter Zustände regelmäßig nur schwer und unter zusätzlichen Kosten möglich ist.“377 Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat demzufolge zu unterrichten, sobald er sich zur Planung eines mitbestimmungspflichtigen Sachverhalts entschließt378. Bei echten Mitbestimmungsrechten wie beispielsweise §§ 87 Abs. 1, 95 Abs. 1 BetrVG379 wird der Unterrichtungszeitpunkt in der Praxis meist keine Quelle von Meinungsverschiedenheiten sein, da der Arbeitgeber ohne Beteiligung des Betriebsrates ohnehin nicht tätig werden kann380. Dementsprechend wird die Verletzung der Unterrichtungspflicht aus § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG auch nicht in § 121 Abs. 1 BetrVG sanktioniert. Der Arbeitgeber ist aber gut beraten, den Betriebsrat von Anfang an einzubeziehen, um Verzögerungen zu vermeiden.

VI. Die Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 90 Abs. 1 BetrVG Das Gesetz räumt dem Betriebsrat in § 90 BetrVG ein Mitwirkungsrecht bei der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung ein. Die Beteiligung soll sicherstellen, dass bei der Gestaltung der Arbeitsplätze „bereits im Planungsstadium … die gesicherten Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit“381 berücksichtigt werden. § 90 Abs. 2 S. 1 BetrVG ordnet zudem ausdrücklich an, dass die Beratung so rechtzeitig stattzufinden habe, „dass Vorschläge und Bedenken bei der Planung berücksichtigt werden können.“ Ungeachtet der klaren gesetzlichen Konzeption gibt es Stimmen, die sich für eine ergebnisbezogene Mitbestimmung und damit für eine Unterrichtung zu einem Zeitpunkt aussprechen, zu dem die Vorüberlegungen des Arbeitgebers über das „Ob“ und das „Wie“ der betreffenden Maßnahme abgeschlossen sind und die Form eines

376 Vgl. nur DKKW/Buschmann, BetrVG, § 80 Rn. 97; ErfK/Kania, BetrVG, § 80 Rn. 19; FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 55; GK-BetrVG/Weber, § 80 Rn. 70; HWK/Schrader, BetrVG, § 80 Rn. 69; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 80 Rn. 53; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 618 f. 377 BAG v. 17. 3. 1987 – 1 ABR 59/85 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 29 Bl. 821 R. 378 Vgl. schon oben § 2 B. IV.; BAG v. 27. 6. 1989 – 1 ABR 19/88 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 72; GK-BetrVG/Oetker, § 80 Rn. 70; a. A. FESTL, BetrVG, § 80 Rn. 54 f. 379 Während der Betriebsrat gem. § 95 Abs. 1 BetrVG nicht von sich aus die Einführung von Auswahlrichtlinien betreiben kann, kann er hinsichtlich der Tatbestände des § 87 Abs. 1 BetrVG initiativ tätig werden. 380 Ehmann, Betriebsstillegung und Mitbestimmung, S. 31; GK-BetrVG/Oetker, § 80 Rn. 70. 381 BT-Drs. 6/1786, S. 32.

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konzeptionellen Entwurfs angenommen haben382. Begründet wird diese Auffassung damit, dass die tatsächlichen Auswirkungen auf die Arbeitnehmer erst nach Abschluss der konkreten Planungen übersehen werden können. Die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung383 und Literatur384 plädiert hingegen für eine prozessbezogene Mitbestimmung und damit eine Einbeziehung des Betriebsrates während der Planung. Die Unterrichtung habe demnach stattzufinden, sobald der Arbeitgeber mit der konkreten Planung einer Angelegenheit aus § 90 Abs. 1 BetrVG beginnt385. Dem kann nur zugestimmt werden. Eine sinnvolle Einflussnahme auf die Planung ist bereits grundsätzlich nur möglich, wenn der Betriebsrat von Anfang an beteiligt wird386. Dies gilt aber besonders für die in § 90 Abs. 1 BetrVG genannten Planungsgegenstände. Diese sind meist nicht nur höchst komplex, sondern zudem auch sehr kostenintensiv und erfordern oftmals den Einkauf externen Sachverstandes, wie eines Architekturbüros bei § 90 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG oder eines Softwaredienstleisters bei § 90 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Wird der Betriebsrat nicht eingeschaltet, wird die Planung dabei allein auf Grundlage der Vorstellungen des Arbeitgebers durchgeführt. Nachträgliche Änderungen sind dann nur noch mit großem finanziellem und zeitlichem Aufwand möglich. Ist beispielsweise die Programmierung einer Personalabrechnungssoftware bereits abgeschlossen, so hat der Betriebsrat keine realistische Chance mehr, tiefgreifendere strukturelle Veränderungen durchzusetzen387. Aber auch der Arbeitgeber muss in diesen Fällen an der frühzeitigen Hinzuziehung einer weiteren unabhängigen Partei interessiert sein, besteht doch etwa die Gefahr, dass das aufwendig ermittelte Planungsergebnis zwingenden daten- oder arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften zuwiderläuft. Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass der Betriebsrat unverzüglich zu unterrichten ist, sobald sich der Arbeitgeber zur Planung einer der in § 90 Abs. 1 BetrVG genannten Gegenstände entschließt.

382

HWGNRH/Rose, BetrVG, § 90 Rn. 8; Stege/Weinspach/Schiefer, BetrVG, § 90 Rn. 14. BAG v. 27. 06. 1989 – 1 ABR 19/88 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 37; BAG v. 11. 12. 1991 – 7 ABR 16/91 – AP BetrVG 1972 § 90 Nr. 2; LAG Hamburg v. 20. 6. 1985 – 7 TaBV 10/84 – BB 1985, S. 2110 f.; LAG Frankfurt v. 3. 11. 1992 – 5 TaBV 27/92 – BB 1993, S. 1948. 384 DKKW/Klebe, BetrVG, § 90 Rn. 19; FESTL, BetrVG, § 90 Rn. 9; GK-BetrVG/Weber, § 90 Rn. 6; HWK/Schrader, BetrVG, § 90 Rn. 9; MünchArbR/Matthes, § 255 Rn. 10; Richardi/Annuß, BetrVG, § 90 Rn. 21; Wiese, FS Wiedemann, S. 617, 621; Wlotzke/Preis, BetrVG, § 90 Rn. 14. 385 LAG Hamburg v. 20. 6. 1985 – 7 TaBV 10/84 – BB 1985, S. 2110, 2111; DKKW/Klebe, BetrVG, § 90 Rn. 19; FESTL, BetrVG, § 90 Rn. 9; GK-BetrVG/Weber, § 90 Rn. 6; Richardi/ Annuß, BetrVG, § 90 Rn. 21. 386 Vgl. ausführlich oben § 2 B. III. 5. 387 Vgl. dazu LAG Hamburg v. 20. 6. 1985 – 7 TaBV 10/84 – BB 1985, S. 2110, 2111. 383

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

211

VII. Personalplanung und der Zeitpunkt der Betriebsratsunterrichtung (§ 92 BetrVG) Motivation für den Erlass des § 92 BetrVG war es, dem Betriebsrat „die Mitwirkung bei den allgemeinen personellen Grundsatzentscheidungen, die die Grundlagen für personelle Einzelentscheidungen bilden“388, zu ermöglichen. Der Gesetzgeber trug damit der Tatsache Rechnung, dass im Rahmen der Personalplanung weitreichende und die personellen Einzelmaßen determinierende Entscheidungen getroffen werden389. Dementsprechend sei eine „angemessene Beteiligung des Betriebsrates im Planungsstadium zum Zwecke einer möglichst frühzeitigen Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen“390 erforderlich. Diese Vorgabe muss aber einem spezifischen Planungsprozess zugeordnet werden, um sie in der betrieblichen Realität anwenden zu können: § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist zwar nicht abschließend (vgl. „insbesondere“391), stellt aber die Personalbedarfsplanung in den Vordergrund, die Ausgangspunkt jeglicher planerischen Tätigkeit im Personalbereich ist392. Das BAG versteht unter Personalplanung im Sinne des § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG diejenige Planung, „die sich auf den gegenwärtigen und künftigen Personalbedarf in quantitativer und qualitativer Hinsicht, auf deren Deckung im weitesten Sinne und auf den abstrakten Einsatz der personellen Kapazität bezieht.“393 Bedeutsam für den Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrates ist aber weniger die inhaltliche, sondern vielmehr die zeitliche Zuordnung der Personalplanung. Zur Erhellung der entsprechenden Strukturen empfiehlt sich zunächst ein Blick in die Betriebswirtschaftslehre. Letztlich ist aber nur das betriebsverfassungsrechtliche Planungsverständnis entscheidend.

388 Regierungsentwurf zum BetrVG 1972: BT-Drs. 6/1786, S. 50; vgl. auch die amtliche Begründung zum BetrVG 1972: BR-Drs. 715/70, S. 50. 389 Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 1. 390 Regierungsentwurf zum BetrVG 1972: BT-Drs. 6/1786, S. 32, 50; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung: zu BT-Drs. 6/2729, S. 5. 391 Exemplarisch genannt werden zudem unter anderem die Personaldeckungsplanung (Personalbeschaffung, Personalabbau), Personalentwicklungsplanung, Personalorganisationsplanung und die Personaleinsatzplanung (vgl. GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 7; MünchArbR/ Buchner, § 27 Rn. 13 ff.). Die genannten Bereiche lassen sich allerdings nicht immer strikt voneinander trennen. 392 HWK/Ricken, BetrVG, § 92 Rn. 4; MünchArbR/Matthes, § 256 Rn. 3; Richardi/Annuß, BetrVG, § 92 Rn. 6; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 99. 393 BAG v. 6. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3 Bl. 1377 R.; ebenso FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 9.

212

§ 3 Besonderer Teil

1. Personalplanung in betriebswirtschaftlicher Forschung und Praxis Die Erscheinungsformen der Personalplanung in der betriebswirtschaftlichen Forschung und Praxis sind Legion und einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen394. Im Folgenden soll mit ihrer Stellung in der Planungshierarchie aber nur ein spezifischer Aspekt betrachtet werden. Zunächst ist allgemein anerkannt, dass die Personalplanung in die Unternehmensplanung integriert und mit dieser untrennbar verbunden ist395. Unter der Unternehmensplanung kann man ganz grundlegend ein System von Teilplänen verstehen, in dem sich die Definition von Unternehmenszielen und die zu deren Erreichung notwendigen Maßnahmen manifestieren396. Ein entscheidender Faktor für die Ausgestaltung und Wirkungsweise der Personalplanung innerhalb der Unternehmensplanung ist dabei der Stellenwert, den man ihr im Verhältnis zu den anderen Teilplänen, wie z. B. der Investitions-, Produktions- und Finanzplanung, beimisst. Diese Diskussion wird in der Betriebswirtschaftslehre unter dem Stichwort „Planungsintegration“ geführt. In der Theorie unterscheidet man zwischen einem derivativen (abgeleiteten) und einem originären (gleichberechtigten) Stellenwert der Personalplanung innerhalb der Unternehmensplanung397. Vor allem in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war in Literatur und Praxis das derivative Verständnis herrschend398. Personalplanung wurde meist als operative Folge- und Umsetzungsplanung der strategischen Investitions-, Produktions- und Finanzplanung angesehen399. Sie sollte dabei im Wesentlichen der effizienten Bereitstellung des Produktionsfaktors Mensch zur Erreichung vorgegebener unternehmerischer Ziele dienen400. Parallel zum Wandel der Industrieproduktion, der mit der Automatisierung einfacher Tätigkeiten und einer stetig steigenden Bedeutung qualifizierter und flexibler Mitarbeiter einherging, hat sich mittlerweile zumindest in der Forschung die Auffassung durchgesetzt, dass der Personalplanung eine gleichberechtigte Stellung innerhalb der Unternehmensplanung einzuräumen ist. Der personelle Aspekt sei demnach bereits auf strategischer 394 Vgl. nur Beck, Grundsätze der Personalplanung, S. 47 ff.; Drumm, Personalwirtschaft, S. 197 ff.; Hentze/Kammel, Personalwirtschaftslehre, S. 87 ff.; Oechsler, Personal und Arbeit, S. 160 ff. 395 Potthoff/Trescher, Controlling in der Personalwirtschaft, S. 18; BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2; DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 3; Richardi/ Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 4; MünchArbR/Buchner, § 27 Rn. 7. 396 Vgl. dazu ausführlich oben unter § 2 A. III. 4. c). 397 Beck, Grundsätze der Personalplanung, S. 112; Berthel, Personal-Management, S. 114; Hentze/Kammel, Personalwirtschaftslehre, S. 87 f.; Oechsler, Personal und Arbeit, S. 160; Potthoff/Trescher, Controlling in der Personalwirtschaft, S. 19. 398 Beck, Grundsätze der Personalplanung, S. 112; Potthoff/Trescher, Controlling in der Personalwirtschaft, S. 19. 399 Vgl. zum Aufbau der verschiedenen Planungsebenen oben § 2 B. III. 4. c). 400 Hentze/Kammel, Personalwirtschaftslehre, S. 20.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

213

Ebene und „in jeder Phase der verschiedenen Planungs- und Entscheidungsprozesse in den einzelnen Funktionsbereichen“401 zu berücksichtigen. So sollen frühzeitig voraussichtliche Auswirkungen auf die Arbeitnehmer erkannt und gegebenenfalls Modifikationen des unternehmerischen Zielsystems vorgenommen werden402. Empirische Untersuchungen zeigen aber, dass sich die gleichberechtigte Integration der Personalplanung vor allem in kleineren und mittleren Unternehmen noch nicht durchgesetzt hat403. Die Unterschiede in der Planungsintegration zeigen, dass eine allgemeingültige zeitliche Lokalisierung der Personalplanung nicht möglich ist. Diese kann bereits auf höchster strategischer Ebene in Wechselwirkung mit der unternehmerischen Zielbildung, oder aber erst bei deren Umsetzung im Rahmen der operativen Maßnahmenplanung stattfinden. Der Betriebsrat hätte dann je nach konkreter Ausgestaltung entweder Zugriff auf das gesamte Verfahren bis hin zur eigentlichen unternehmerischen Entscheidung oder nur auf deren Umsetzung im personellen Bereich404. 2. Personalplanung im Sinne des § 92 BetrVG Die Vermutung liegt nahe, dass dem im Jahre 1972 in Kraft getretenen und seitdem nicht mehr veränderten § 92 BetrVG ein derivatives Verständnis zugrundelag. Die Gesetzesmaterialien sind insofern nicht eindeutig und verweisen lediglich auf „die Mitwirkung bei den allgemeinen personellen Grundsatzentscheidungen“405. Zwar wird damit ausdrücklich nur auf personelle Entscheidungen abgestellt. Trotzdem kann man nicht ausschließen, dass nicht auch unternehmerische Entscheidungen mit wesentlichen personellen Auswirkungen erfasst sind406. Zudem ist letztendlich entscheidend, welches Planungsverständnis sich nach dem „geltungszeitlichen“407 normativen Sinn aus dem Gesetz ergibt. Sollte dieses die nötige Offenheit besitzen, könnte durchaus auch an moderne Erscheinungsformen angeknüpft werden, die der historische Gesetzgeber gar nicht im Sinn hatte.

401

Potthoff/Trescher, Controlling in der Personalwirtschaft, S. 19. Oechsler, Personal und Arbeit, S. 160. 403 Einen Überblick der verschiedenen Studien liefert Achenbach, Personalmanagement, S. 66 ff. 404 Vgl. ebenso Faßnacht, Unternehmensplanung und Mitbestimmung, S. 57. 405 Entwurfsbegründung der Bundesregierung, BT-Drs. 715/70, S. 50. 406 Für ein derivatives Verständnis spricht jedenfalls die Beschreibung der Personalplanung in den Empfehlungen der Sozialpolitischen Gesprächsrunde beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (abgedruckt in Das Mitbestimmungsgespräch 1972, S. 185, 186): „Daher soll Personalplanung der rechtzeitigen Bereitstellung geeigneter Arbeitskräfte zur Erfüllung spezifischer, den Anforderungen des Unternehmens entsprechender Aufgaben dienen.“ 407 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428. 402

214

§ 3 Besonderer Teil

Nach Auffassung der Rechtsprechung408 und der ganz herrschenden Meinung in der juristischen409 und betriebswirtschaftlichen410 Literatur beschränkt das Gesetz die Beteiligung des Betriebsrates auf die personelle Umsetzungsplanung unternehmerischer Entscheidungen. Zur exemplarischen Verdeutlichung kann die diesbezüglich fast411 allseits geteilte Entscheidung des BAG zur Mitbestimmungspflichtigkeit von Rationalisierungsplanungen dienen412. Der Arbeitgeber hatte ein Gutachten zur Ermittlung des Rationalisierungspotenzials innerhalb mehrerer Arbeitsgruppen in Auftrag gegeben, entschied sich nach dessen Fertigstellung aber gegen Personalreduzierungen. Das Begehren des Betriebsrats auf Einsicht in die entsprechenden Unterlagen gem. § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG lehnte das Gericht mit der Begründung ab, dass der Arbeitgeber in diesem Stadium lediglich seine Handlungsspielräume erkunde. Erst wenn er sich grundsätzlich zu Personalreduzierungen entscheidet und sich deren konkreter Umsetzung zuwendet, beginne er mit der Personalplanung im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne. Für die herrschende Auffassung spricht zunächst die systematische Stellung des § 92 Abs. 1 BetrVG im Rahmen der personellen Angelegenheiten. Die Norm wird damit ausdrücklich abgegegrenzt von den wirtschaftlichen Angelegenheiten in den §§ 106 ff. BetrVG. Dies wird durch das Verhältnis zum Wirtschaftsausschuss untermauert413. So verpflichtet § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG den Unternehmer, dem Wirtschaftsausschuss im Zuge der Unterrichtung über die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens „die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Personalplanung darzustellen.“ Über diese Auswirkungen hat der Wirtschaftsaus408 BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2; BAG v. 26. 6. 1989 – 1 ABR 19/88 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 37; BAG v. 6. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3; LAG Hamm v. 7. 12. 1977 – 4 Ss OWi 1407/77 – DB 1978, S. 748, 749; LAG Berlin v. 13. 6. 1988 – 9 Ta BV 1/88 – DB 1988, S. 1860. 409 Vgl. nur FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 27; Gamillscheg, KollArbR II, S. 953; GK-BetrVG/ Raab, § 92 Rn. 21; HWGNRH/Rose BetrVG, § 92 Rn. 59; HWK/Ricken, § 92 Rn. 11; Löwisch/ Kaiser, BetrVG, § 92 Rn. 4; MünchArbR/Matthes, § 256 Rn. 4; Pfelzer, NZA 1990, S. 514, 516 f.; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 26; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 93; a. A. soweit ersichtlich nur DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 34 Fn. 54, der bereits „der Personalplanung vorgelagerte wirtschaftliche unternehmerische Planungen und Entscheidungen“ dem Anwendungsbereich des § 92 BetrVG zuordnen will. Der zur Bestätigung der Auffassung herangezogene Verweis auf die Entscheidung des OLG Hamm v. 7. 12. 1977 – 4 Ss OWi 1407/77 – DB 1978, S. 748 ist allerdings unzutreffend, da sich der Arbeitgeber dort bereits zur Einführung von Kurzarbeit entschlossen und somit schon Personalplanung durchgeführt hatte. Zudem bestand in dem konkreten Fall keine vorgelagerte unternehmerische Planung oder Entscheidung. Der Arbeitgeber reagierte lediglich auf eine verringerte Nachfrage. 410 Beck, Grundsätze der Personalplanung, S. 75 f.; Kadel, Personalabbauplanung im arbeitsrechtlichen Kontext, S. 157; ders. BB 1993, S. 797, 801; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1304; Oechsler, Personal und Arbeit, S. 81 f. 411 a. A. DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 39. 412 BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2. 413 GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 9; HWGNRH/Rose, BetrVG, § 92 Rn. 60; Hunold, DB 1988, S. 1334, 1335; Kadel, BB 1993, S. 797, 800; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1304.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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schuss wiederum den Betriebsrat gem. § 108 Abs. 4 BetrVG unverzüglich und vollständig zu berichten. Wenn die Personalplanung im Sinne von § 92 Abs. 1 BetrVG aber auch die ihr vorgelagerte unternehmerische Entscheidung erfassen würde, wäre sowohl die Darstellung der Auswirkungen als auch die Weiterleitungspflicht des Wirtschaftsausschusses überflüssig, da der Betriebsrat bereits ebenfalls in die entsprechenden Planungen hätte einbezogen werden müssen. Zudem zeigt der in § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG bezeichnete Beratungsgegenstand, dass das Gesetz Personalplanung als operative Umsetzungsplanung versteht414. Erfasst sind dort lediglich Art und Umfang der erforderlichen personellen Einzelmaßnahmen. Wenn man die Personalplanung bereits auf den vorgelagerten unternehmerischen Entscheidungsprozess erstrecken würde, läge zwischen Unterrichtung und Beratung ein erheblicher Zeitraum. Ein solches Auseinanderfallen würde § 92 Abs. 1 BetrVG aber zum Fremdkörper innerhalb der üblichen Regelungstechnik des BetrVG machen, die die rechtzeitige Unterrichtung unmittelbar mit der Beratung verknüpft. Zudem wäre es nicht nachvollziehbar, wieso der Betriebsrat zwar einen Anspruch hätte, frühzeitig über die unternehmerische Planung ins Bild gesetzt zu werden, aber bis zu deren Umsetzung in wohlinformierter Ohnmacht verharren müsste. In Anbetracht der deutlichen und insofern keinen Spielraum lassenden gesetzlichen Konzeption muss Personalplanung im Sinne des § 92 Abs. 1 BetrVG als Maßnahmen- und Umsetzungsplanung auf operativer Ebene verstanden werden. Auch wenn die personellen Implikationen unternehmerischer Entscheidungen bereits auf strategischer Ebene eine Rolle spielen und diese Überlegungen auch als Personalplanung bezeichnet werden, hat der Betriebsrat trotzdem erst einen Anspruch auf Unterrichtung, wenn konkrete Überlegungen angestellt werden. Ebenso wie bei der Unterrichtung über Betriebsänderungen bleibt die unmittelbare Beteiligung am vorgelagerten Entscheidungsprozess dem Wirtschaftsausschuss vorbehalten. 3. Die Beratung im Sinne von § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG Zu den Orientierungspunkten der Rechtzeitigkeit gehört neben dem Unterrichtungsgegenstand bekanntermaßen auch die Beratungspflicht. Diese wird in § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG auf Art und Umfang der erforderlichen Maßnahmen und auf die Vermeidung von Härten beschränkt. Obwohl diese Begrenzung teilweise als sinnwidrig erachtet wird415, kommt man an dem eindeutigen Wortlaut der Regelung nicht vorbei416. Die in § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG exemplarisch genannte Personal-

414

Vgl. auch Beck, Grundsätze der Personalplanung, S. 72. DKKW/Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 43 Fn. 77; FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 35. 416 BAG v. 6. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3; ErfK/Kania, BetrVG, § 92 Rn. 9; GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 32; Heinze, Personalplanung, Einstellung und Kündigung, S. 20 f.; HWGNRH/Rose BetrVG, § 92 Rn. 94; HWK/Ricken, § 92 Rn. 15; Münch415

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§ 3 Besonderer Teil

bedarfsplanung ist deswegen grundsätzlich nicht von der Beratungspflicht umfasst. Der Arbeitgeber ist deswegen erst zur Einleitung der Beratungen verpflichtet, wenn im Rahmen der Personalbestandsplanung und der Personaldeckungplanung (Personalfreisetzungs- oder Personalbeschaffungsplanung) konkrete Maßnahmen in Betracht gezogen werden417. Dies betrifft beispielsweise die Frage, ob ein erkannter Personalbedarf entweder durch Neueinstellungen oder durch Leiharbeitnehmer gedeckt werden soll418 und ob bei Überkapazitäten Kündigungen durch Versetzungen, Kurzarbeit oder Altersteilzeit verhindert werden sollen419. Der Betriebsrat hat aber einen Anspruch, aus eigener Initiative schon vorher an den Arbeitgeber heranzutreten und einen Meinungsaustausch über Aspekte der Personalbedarfsplanung durchzuführen420. Dieses Recht ergibt sich aus zwei verschiedenen Anspruchsgrundlagen. Zunächst ist der Betriebsrat berechtigt, gem. § 92 Abs. 2 BetrVG Vorschläge für die Einführung einer Personalplanung und ihrer Durchführung zu machen. Dieses Vorschlagsrecht bezieht sich auf den gesamten Bereich der Personalplanung, also auch auf die Personalbedarfsplanung. Der Arbeitgeber ist dabei gem. §§ 2 Abs. 1, 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG verpflichtet, sich mit den Vorschlägen ernsthaft zu befassen421. Zudem ist der Betriebsrat gem. § 92a Abs. 1 BetrVG berechtigt, Vorschläge zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung zu machen. Der Arbeitgeber hat diese Vorschläge gem. § 92a Abs. 2 S. 1 BetrVG mit dem Betriebsrat zu beraten. Die Einschränkung der Beratungspflicht bedeutet deshalb nicht, dass ein Meinungsaustausch über die Personalbedarfsplanung ausgeschlossen ist. § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG enthält lediglich die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Beratung zu initiieren, wenn das betreffende Planungsstadium erreicht ist. Wenn der Betriebsrat aber schon vorher tätig werden will, kann über den gesamten Bereich der Personalplanung beraten werden. 4. Unterrichtungszeitpunkt Ein Teil der Literatur belässt es bei der Widergabe der allgemeinen Rechtzeitigkeitsformel. Der Betriebsrat sei so rechtzeitig zu unterrichten, dass dessen VorArbR/Matthes, § 256 Rn. 13 f.; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 34; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 111. 417 Vgl. nur GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 32; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 34; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 111 f. 418 Beispiel bei Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 34. 419 Beispiel bei GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 33. 420 BAG v. 6. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3; ErfK/Kania, BetrVG, § 92 Rn. 9; FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 35; GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 31; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 111. 421 Vgl. nur BAG v. 6. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3; DKKW/ Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 47; ErfK/Kania, BetrVG, § 92 Rn. 9; FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 37; HWGNRH/Rose BetrVG, § 92 Rn. 99; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 40.

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schläge und Bedenken bei der Planung berücksichtigt werden können422. Eine subsumtionsfähige und damit praxistaugliche Lösung ist dies aber freilich noch nicht. a) Unterrichtung nach dem Abschluss der Planung Vereinzelt wird vertreten, dass der Betriebsrat erst nach dem Abschluss der Planung zu unterrichten sei423. Bis zu deren Umsetzung durch konkrete Einzelmaßnahmen müsse allerdings noch ausreichend Zeit für Änderungen verbleiben. Die betreffenden Autoren stützen sich dabei vor allem darauf, dass das Beratungsrecht in § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG auf Maßnahmen begrenzt sei, die erst aus der Planung resultieren würden. Zudem sehe das Gesetz eine Unterrichtung über und nicht eine Einschaltung in die Planung vor424. Letztere würde die „betriebsverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsgrenzen überschreiten“425 und dem Betriebsrat Zugriff auf die überbetriebliche, unternehmerische Sphäre gewähren. Überdies sei eine frühere Unterrichtung nicht sinnvoll, da der Betriebsrat den Planungsprozess „mangels hinreichender Kenntnisse, Erfahrungen und Informationen ohnehin nicht selbst durchführen oder wesentlich beeinflussen“426 könne. Der Arbeitgeber müsse sich zunächst erst einmal selbst über seine Vorgehensweise klar werden, damit eine sinnvolle Beratung durchgeführt werden könne427. Es wurde bereits gezeigt, dass trotz der Einschränkung in § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG auch über die vorgelagerte Planung zu beraten ist, wenn der Betriebsrat an den Arbeitgeber herantritt. Diese Initiativrechte wären aber mangels informationeller Grundlage beeinträchtigt, wenn die Unterrichtung erst bei der Planung konkreter Umsetzungsmaßnahmen stattzufinden hätte. Eine zeitliche Beschränkung kann aus § 92 Abs. 1 S. 2 BetrVG deswegen nicht hergeleitet werden. Auch das Wortlautargument ist nicht stichhaltig. Aus der Formulierung „über die Planung“ folgt keineswegs, dass erst nach deren Abschluss zu unterrichten ist. Man kann freilich auch über den aktuellen Stand eines Vorgangs unterrichten und beraten, wenn dieser noch nicht abgeschlossen ist. Vielmehr spricht gerade die Verwendung des Begriffs „Planung“ statt etwa „Plan“ oder „geplante Maßnahmen“ (§ 111 S. 1 BetrVG) dafür, dass bereits während des Prozesses zu unterrichten ist. Nicht nachvollziehbar ist überdies die Behauptung Heinzes, dass die Einschaltung des Betriebsrates in die Planung die „betriebsverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsgrenzen“ überschreiten würde. Zunächst werden Personalbedarfsplanungen 422 FESTL, BetrVG, § 92 Rn. 28; Gamillscheg, KollArbR II, S. 953; Hunold, DB 1989, S. 1334, 1336; HWK/Ricken, § 92 Rn. 11; MünchArbR/Matthes, § 256 Rn. 8. 423 GK-BetrVG/Kraft (7. Aufl.), § 92 Rn. 22; Heinze, Personalplanung Einstellung und Kündigung, S. 20; HWGNRH/Rose BetrVG, § 92 Rn. 74. 424 GK-BetrVG/Kraft (7. Aufl.), § 92 Rn. 22. 425 Heinze, Personalplanung Einstellung und Kündigung, S. 20. 426 Heinze, Personalplanung Einstellung und Kündigung, S. 20. 427 HWGNRH/Rose BetrVG, § 92 Rn. 74.

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auch auf betrieblicher Ebene durchgeführt428. Darüber hinaus wird der Betriebsrat freilich auch bei Entscheidungen auf Unternehmensebene beteiligt. Eine Ausnahme gilt insofern nur, wenn es sich um eine überbetriebliche Angelegenheit handelt, die gem. § 50 Abs. 1 BetrVG in die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates fällt. Es entbehrt darüber hinaus jeglicher sachlichen Grundlage, wenn Heinze dem Betriebsrat die fachlichen Fähigkeiten abspricht, ex ante einen Planungsprozess zu beeinflussen. Eine Unterrichtung nach dem Abschluss der Personalplanung ignoriert zudem das Verhältnis zu den Beteiligungsvorschriften über die personellen Einzelmaßnahmen (§§ 99 ff. BetrVG). Es war gerade Ziel des historischen Gesetzgebers, den Betriebsrat nicht mehr nur kurzfristig vor Entscheidungen über Einzelmaßnahmen zu stellen429. Nach dem Abschluss der Personalplanung sind die personellen Einzelmaßnahmen aber bereits nach Art und Inhalt konkretisiert und vorbehaltlich der Beratungen mit dem Betriebsrat umsetzungsfähig. Zudem muss dem Betriebsrat noch Zeit zur Prüfung der entsprechenden Informationen und zur Ausarbeitung von Alternativvorschlägen zugestanden werden. Bei eilbedürftigen Vorhaben wird deshalb nur ein geringer zeitlicher Abstand zwischen beiden Beteiligungsverfahren bestehen, wenn diese nicht sogar ineinander übergehen. Vor allem aber soll die rechtzeitige Unterrichtung dem Betriebsrat nicht nur eine hypothetische, sondern vielmehr eine realistische Chance zur Einflussnahme gewähren. Hat sich der Arbeitgeber erst einmal für ein Konzept entschieden, stehen der Einflussnahme des Betriebsrates gewichtige betriebswirtschaftliche und psychologische Hürden entgegen. Die Beratung der Planung ist deswegen nur sinnvoll möglich, wenn diese noch nicht abgeschlossen ist430. Dessen war sich auch der historische Gesetzgeber bewusst, der eine möglichst frühzeitige Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen im Planungsstadium für erforderlich hielt431. Die Unterrichtung hat deswegen noch im Planungsstadium zu erfolgen. b) Unterrichtung über den Entschluss zur Planung Fraglich ist nunmehr, in welchem Stadium der Planung der Betriebsrat erstmalig zu unterrichten ist. Raab ist der Auffassung, dass die Unterrichtungspflicht erst einsetzt, wenn das Planungsergebnis und die konkreten Umsetzungsmaßnahmen „wenigstens in Umrissen erkennbar sind.“432 Erst dann sei eine Unterrichtung überhaupt erst möglich. Problematisch an dieser Auffassung ist zunächst ihre 428

Vgl. nur der BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2 zugrundeliegende Sachverhalt. 429 BT-Drs. 715/70, S. 50. 430 Ebenso Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 26. 431 Regierungsentwurf zum BetrVG 1972: BT-Drs. 6/1786, S. 32, 50; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung: zu BT-Drs. 6/2729, S. 5. 432 GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 23.

A. Betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsvorschriften

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mangelnde Praktikabilität. Wann sich bereits „konkrete Umrisse“ herauskristallisiert haben, wird sich nie trennscharf beurteilen lassen und eine stetige Quelle betrieblicher Konflikte sein. Zudem wird verkannt, dass der Arbeitgeber vorher bereits eine unternehmerische Entscheidung getroffen hat, die ihn zur Durchführung der Planung bewogen hat. Will sich der Betriebsrat aktiv an der Planerstellung beteiligen (vgl. §§ 92 Abs. 2, 92a BetrVG), so muss er diese Entscheidung zunächst analysieren, und daraufhin eigene Vorschläge ausarbeiten. Bis dieser Prozess abgeschlossen ist, sind aus „Umrissen“ bereits konkrete Vorstellungen geworden und eine sinnvolle Einflussnahme ist nicht mehr gewährleistet. Eine rechtzeitige Unterrichtung muss dem Betriebsrat deshalb ermöglichen, den Planungsprozess von Anfang an zu begleiten. Die Unterrichtung hat somit bereits dann zu erfolgen, wenn sich der Arbeitgeber entschließt, mit der Personalplanung zu beginnen433. Der gleiche Zeitpunkt gilt auch für den Fall, dass der Arbeitgeber keine wissenschaftlich-methodische Personalplanung betreibt, sondern nur „intuitiv“ vorgeht. Es kann für die Wirksamkeit der Mitbestimmung nicht entscheidend sein, dass in betriebswirtschaftlicher Hinsicht Planung gegeben ist. Ausreichend ist insofern, dass sich der Arbeitgeber konkrete Vorstellungen über Gegenstände macht, die der Personalplanung inhaltlich zugeordnet werden können434. Der Beginn dieser Überlegungen markiert dann zugleich den Zeitpunkt der Unterrichtung. 5. Ergebnis Der Betriebsrat ist im Rahmen des § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG unverzüglich zu unterrichten, sobald sich der Arbeitgeber zur Vornahme einer Personalplanung entschließt.

VIII. Die Unterrichtung des Betriebsrates gemäß § 105 BetrVG Als Äquivalent zu § 99 BetrVG ordnet § 105 BetrVG an, dass der Betriebsrat auch über eine beabsichtigte Einstellung oder personelle Veränderung leitender Angestellter rechtzeitig zu unterrichten ist. Zwar wird dem Betriebsrat kein Beratungsrecht eingeräumt, der Arbeitgeber ist aber gem. § 2 Abs. 1, 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG 433 Ebenso BAG v. 19. 06. 1984 – 1 ABR 6/83 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 2; BAG v. 26. 6. 1989 – 1 ABR 19/88 – AP BetrVG 1972 § 80 Nr. 37; BAG v. 6. 11. 1990 – 1 ABR 60/89 – AP BetrVG 1972 § 92 Nr. 3; LAG Berlin v. 13. 6. 1988 – 9 Ta BV 1/88- DB 1988, S. 1860; LAG Hamm v. 7. 12. 1977 – 4 Ss OWi 1407/77 – DB 1978, S. 748, 749; Linnenkohl/Töpfer, BB 1988, S. 1301, 1304; Richardi/Thüsing, BetrVG § 92 Rn. 26; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 105 f. 434 Vgl. nur LAG Berlin v. 13. 06. 1988 – 9 TaBV 1/88 – DB 1988, S. 1860; DKKW/ Homburg, BetrVG, § 92 Rn. 36; GK-BetrVG/Raab, § 92 Rn. 20; Hunold, DB 1989, S. 1334; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 92 Rn. 18; Rumpff/Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, S. 103.

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§ 3 Besonderer Teil

verpflichtet, sich mit den Argumenten des Betriebsrates ernsthaft zu befassen435. Allgemein anerkannt ist, dass die Unterrichtung so frühzeitig vor Durchführung der personellen Maßnahme erfolgen muss, dass der Betriebsrat noch die Möglichkeit hat, sich ein Bild von der Angelegenheit zu machen und in einen substantiellen Meinungsaustausch mit dem Arbeitgeber einzutreten, um auf dessen Entscheidung einwirken zu können436. Unter einer „Einstellung“ ist ebenso wie im Rahmen des § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG die tatsächliche, weisungsabhängige Eingliederung in den Betrieb zu verstehen437. Sollte dies mit der Neubegründung eines Arbeitsvertrages einhergehen, so ist der Betriebsrat aber ebenso wie im Rahmen des § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG bereits vor dessen Abschluss über die geplante Beschäftigung zu unterrichten438. Die Chancen des Betriebsrates, den Arbeitgeber zu einem Verzicht auf die Einstellung zu bewegen, wären nach Vertragsabschluss nur noch verschwindend gering, da mit rechtlichen Gegenmaßnahmen des Abgelehnten zu rechnen ist. Zudem spricht § 105 BetrVG im Gegensatz zu § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG sogar von der Mitteilung einer „beabsichtigten“ Einstellung. Trotzdem wird teilweise vertreten, dass der Arbeitgeber berechtigt ist, den Betriebsrat erst nach Vertragsabschluss, aber vor Arbeitsaufnahme zu unterrichten, wenn er ein schutzwürdiges Interesse an der Geheimhaltung des Vertrages hat439. Dem wird aber zutreffend entgegengehalten, dass es in diesem Falle ausreichend ist, wenn der Arbeitgeber die Vertragsverhandlungen als Betriebsgeheimnis bezeichnet und den Betriebsrat dadurch gem. § 79 Abs. 1 BetrVG zur Geheimhaltung verpflichtet440. Der Betriebsrat kann dann zumindest versuchen, sich anhand der Bewerbungsunterlagen oder mittels öffentlich zugänglicher Quellen ein Bild über den Bewerber zu verschaffen441. Zudem zeigt § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG, dass das Zurückhalten von Informationen aus Geheimhaltungsgründen die Ausnahme ist. 435 DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 6; FESTL, BetrVG, § 105 Rn. 7; GK-BetrVG/ Raab, § 105 Rn. 9; KR-Etzel, BetrVG, § 105 Rn. 33. 436 Vgl. schon der Ausschussbericht zum deckungsgleichen § 65 BetrVG 1952 BTDrucks. 1/3585, S. 13; DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 7; ErfK/Kania, BetrVG, § 105 Rn. 3; GK-BetrVG/Oetker, § 105 Rn. 10; KR-Etzel, BetrVG, § 105 Rn. 29; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 105 Rn. 13. 437 BAG v. 28. 04. 1992 – 1 ABR 73/91 – AP BetrVG 1972 § 99 Nr. 98; BAG v. 30. 09. 2008 – 1 ABR 81/07 – EzA BetrVG 2001 § 99 Einstellung Nr. 10; HWK/Ricken, BetrVG, § 105 Rn. 1; DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 4; GK-BetrVG/Raab, § 105 Rn. 6; Richardi/ Thüsing, BetrVG, § 105 Rn. 4. 438 Zu § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG: BAG v. 28. 04. 1992 – 1 ABR 73/91 – AP BetrVG 1972 § 99 Nr. 98; ErfK/Kania, BetrVG, § 99 Rn. 5; FESTL, BetrVG, § 99 Rn. 164; Zu § 105 BetrVG: DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 7; FESTL, BetrVG, § 105 Rn. 6; GK-BetrVG/Raab, § 105 Rn. 10; KR-Etzel, BetrVG, § 105 Rn. 30; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 105 Rn. 14. 439 GK-BetrVG/Raab, § 105 Rn. 11; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 105 Rn. 13. 440 FESTL, BetrVG, § 105 Rn. 6; KR-Etzel, BetrVG, § 105 Rn. 30; ebenfalls ablehnend DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 7. 441 KR-Etzel, BetrVG, § 105 Rn. 30.

B. Vorschriften außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes

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Die „personellen Veränderungen“ im Rahmen des § 105 BetrVG gehen über die personellen Einzelmaßnahmen in § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG hinaus. Erfasst ist jede Veränderung der Führungsfunktion des leitenden Angestellten innerhalb der betrieblichen Organisation442. Die Unterrichtung hat auch hier so frühzeitig vor Durchführung der Maßnahme stattzufinden, dass noch ein substanzieller Meinungsaustausch stattfinden kann. Bei personellen Veränderungen, die mit vertraglichen Modifikationen verbunden sind, ist der Betriebsrat ebenso wie bei der Einstellung vorher einzubeziehen.

B. Vorschriften außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes I. Zeitpunkt der Unterrichtung über Massenentlassungen gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG Das Konsultationsverfahren bei beabsichtigten Massenentlassungen gem. § 17 Abs. 2 KSchG führte über lange Jahre ein geradezu „stiefmütterliches Dasein“443. Ursache war die ständige Rechtsprechung des BAG, dass unter der „Entlassung“ im Sinne des § 17 KSchG die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses (regelmäßig der Tag des Ablaufs der Kündigungsfrist) und nicht die Kündigungserklärung zu verstehen sei444. Das Verfahren musste deswegen erst nach dem Ausspruch der Kündigungen eingeleitet werden. Da Kündigungen zu den Umsetzungsmaßnahmen von Betriebsänderungen gehören445, wurde aber vorher meist schon ein Beteiligungsverfahren nach §§ 111 ff. BetrVG durchgeführt446. Der Einfluss der seit 1975 existierenden Massenentlassungsrichtlinie447 wurde dabei vom BAG und der deutschen Diskussion weitgehend ignoriert, auch nachdem der Gesetzgeber im Jahre 1995 § 17 KSchG zur Umsetzung der Richtliniennovelle 92/56/ EWG änderte448. Obwohl sogar im eigenen Hause schwerwiegende Bedenken gegen die Vereinbarkeit der Auslegung des BAG mit der Massenentlassungsrichtlinie ge442

DKKW/Bachner, BetrVG, § 105 Rn. 5; ErfK/Kania, BetrVG, § 105 Rn. 3; FESTL, BetrVG, § 105 Rn. 4; HWK/Ricken, BetrVG, § 105 Rn. 1; Richardi/Thüsing, BetrVG, § 105 Rn. 5; einschränkend GK-BetrVG/Raab, § 105 Rn. 8. 443 Krieger/Ludwig, NZA 2010, S. 919. 444 Vgl. BAG v. 6. 12. 1973 – 2 AZR 10/73 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 1; BAG v. 31. 7. 1986 – 2 AZR 594/85 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 5; BAG v. 8. 6. 1989 – 2 AZR 624/88 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 6; BAG v. 24. 10. 1996 – 2 AZR 895/95 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 8; BAG v. 13. 04. 2000 – 2 AZR 215/99 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 13. 445 Vgl. nur BAG v. 14. 09. 1976 – 1 AZR 784/75 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 2. 446 Krieger/Ludwig, NZA 2010, S. 919. 447 Zunächst RL 75/129/EWG = ABl. EG (1975) L 48 S. 29 ff.; geändert durch RL 92/56/ EWG = ABl. EG (1992) L 245 S. 3 ff.; mittlerweile gilt die RL 98/59/EG = ABl. EG (1998) L 225 S. 16 ff. 448 Vgl. Art. 5 des Gesetzes zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EGRecht v. 20. 7. 1995 (BGBl. I S. 946).

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äußert wurden449, bedurfte es einer durch das ArbG Berlin450 eingeleiteten Vorabentscheidung des EuGH451, um diese Rechtsprechungstradition aufzubrechen.

1. Die Urteile des EuGH zum Beginn des Konsultationsverfahrens a) Rechtssache „Junk“ Der EuGH stellt in der Rechtssache Junk klar, dass mit „Entlassung“ im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG die Kündigungserklärung gemeint ist452. Er begründet sein Ergebnis mit Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG, der von „beabsichtigten” Massenentlassungen spricht, was einem Fall gleichkomme, in dem noch keine Entscheidung getroffen worden sei453. Dieses Sprachverständnis ist prima facie keineswegs zwingend. So wird als „Absicht“ im deutschen Strafrecht (dolus directus ersten Grades) eine Form des Tatbestandsvorsatzes bezeichnet, die von einem unbedingten Willensentschluss des Täters zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs getragen ist454. Auch umgangssprachlich wird dem Wort „beabsichtigt“ eine ähnliche Bedeutung zugeschrieben455. Man könnte sich deswegen mit guten Gründen auf den Standpunkt stellen, dass Massenentlassungen erst „beabsichtigt“ sind, wenn bereits eine Entscheidung getroffen wurde. Vollständig nachvollziehbar wird die Argumentation des EuGH in ihrer deutschen Übersetzung erst, wenn man einen Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen der Massenentlassungsrichtlinie und der entsprechenden EuGH-Entscheidungen anstellt: In der deutschen Übersetzung der Rechtssache „Junk“ findet sich ausschließlich der aus der Richtlinie herrührende Begriff „beabsichtigt“. In den Rechtssachen „Dansk Metalarbejderforbund“456 und „Fujitsu Siemens“457 ist die Übersetzung allerdings kurioserweise aufgespalten: Während in den Passagen, in denen der EuGH den Richtlinientext widergibt, das Verb „beabsichtigen“458 gebraucht wird, wird in den eigenständig erarbeiteten Entscheidungsgründen die Übersetzung „erwägen“459 449 Wißmann, RdA 1998, S. 221, 225, zur RL 92/56/EWG, der Vorgängerin der heutigen Richtlinie. 450 ArbG Berlin v. 30. 4. 2003 – 36 Ca 19726/02 – ZIP 2003, S. 1265 ff. 451 EuGH v. 27. 1. 2005 – Rs. C-188/03 Junk – Slg. 2005, I-00885. 452 EuGH v. 27. 1. 2005 – Rs. C-188/03 Junk – Slg. 2005, I-00885 Rn. 39. 453 EuGH v. 27. 1. 2005 – Rs. C-188/03 Junk – Slg. 2005, I-00885 Rn. 36. 454 Vgl. nur MüKo-StGB-I/Joecks, § 16 Rn. 12. 455 „Die Absicht haben, etwas zu tun; vorhaben; gedenken, etwas zu tun“ (Quelle: www.duden.de). 456 EuGH v. 12. 2. 1985 – Rs. C-284/83 Dansk Metalarbejderforbund – Slg. 1985, I-00553. 457 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163. 458 EuGH v. 12. 2. 1985 – Rs. C-284/83 Dansk Metalarbejderforbund – Slg. 1985, I-00553 Rn. 10; EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 36. 459 EuGH v. 12. 2. 1985 – Rs. C-284/83 Dansk Metalarbejderforbund – Slg. 1985, I-00553 Rn. 13, 17; EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 41.

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und „ins Auge fassen“460 verwendet. In den englischen und französischen Versionen der Richtlinie und der Entscheidungen des EuGH finden sich dagegen ausschließlich die Verben „is contemplating“ bzw. „envisage“. Diese zeichnen sich durch ein schwächeres Willenselement als „beabsichtigen“ aus und werden deswegen mit „erwägen“ und „ins Auge fassen“ auch wesentlich treffender übersetzt461. Vor diesem Hintergrund ist die grammatikalische Auslegung des EuGH in der Tat überzeugend. So kann man nur schwerlich behaupten, dass der Arbeitgeber Massenentlassungen nur erwägt, wenn er sich bereits für deren Durchführung entschieden oder sogar bereits die Kündigungserklärungen ausgesprochen hat. Es darf bezweifelt werden, dass das BAG seine restriktive Rechtsprechung so lange hätte aufrechterhalten können, wenn bei der Erstellung der deutschen Richtlinienfassung und der Änderung von § 17 KSchG präzise gearbeitet worden wäre462. Diese sprachliche Auslegung untermauert der EuGH noch mit einer teleologischen Argumentation. So könne das in Art. 2 Abs. 2 RL 98/59/EG kodifizierte Ziel der Richtlinie, Massenentlassungen zu vermeiden, nach dem Ausspruch der Kündigungen und damit der Entscheidung des Arbeitgebers nicht mehr erreicht werden. Die Kündigungen dürften deshalb erst nach Abschluss des Konsultationsverfahrens und Anzeige bei der zuständigen Behörde ausgesprochen werden463. Das BAG gab infolgedessen seine bisherige Auffassung auf und vertritt seitdem die Linie des EuGH464. Nur Sachverhalte, die sich noch vor der Rechtsprechungsänderung zugetragen haben, werden aufgrund von Vertrauensschutzerwägungen nach altem Recht behandelt465. b) Rechtssache „Fujitsu Siemens“ Die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache „Fujitsu Siemens“ befassen sich ausgehend von „Junk“ unter anderem mit dem erforderlichen Beginn des Konsulationsverfahrens im Anwendungsbereich der Richtlinie 98/59/EG. Zugrunde lag ein Sachverhalt, in dem die Konzernspitze am 7. 12. 1999 beschloss, einer ihrer Tochtergesellschaften vorzuschlagen, sich von einem bestimmten Betrieb zu trennen. Zum Zeitpunkt des Vorschlags war allerdings noch offen, ob der Betrieb geschlossen oder verkauft werden sollte. Die Geschäftsführung der Tochter beschloss am 14. 12. 460

EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 48. To contemplate: etw. andenken, etw. in Erwägung ziehen, über etw. nachdenken; envisager quelque chose: etw. ins Auge fassen, etw. berücksichtigen, etw. in Betracht ziehen, etw. in Erwägung ziehen (Quelle: www.leo.org). 462 Richtig könnte § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG beispielsweise lauten: „Erwägt der Arbeitgeber, nach Absatz 1 anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er den Betriebsrat rechtzeitig …“ 463 EuGH v. 27. 1. 2005 – Rs. C-188/03 Junk – Slg. 2005, I-00885 Rn. 45. 464 Vgl. nur BAG v. 23. 03. 2006 – 2 AZR 343/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 21; BAG v. 21. 05. 2008 – 8 AZR 84/07 – NZA 2008, S. 753 ff.; BAG v. 23. 02. 2010 – 2 AZR 268/08 – AP KSchG 1969 § 18 Nr. 5. 465 Vgl. BAG v. 08. 11. 2007 – 2 AZR 554/05 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 28. 461

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1999, diesem Vorschlag nachzukommen und leitete noch am selben Tag Konsultationen ein. Die Entscheidung zur Stilllegung des Betriebes fiel nach dem Abschluss der Konsultationen am 8. 2. 2000. In Anbetracht der Vielzahl der angesprochenen Aspekte soll die Entscheidung zunächst ausführlich dargestellt und daraufhin kritisch gewürdigt werden. aa) Darstellung Mit seiner ersten Frage will das vorlegende Korkein oikeus wissen, wann Massenentlassungen im Sinne des Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG „beabsichtigt“ sind, um bestimmen zu können, wann die nach diesem Artikel vorgesehene Konsultationspflicht beginnt466. Der EuGH führt zunächst seine bereits im Jahre 1985467 entwickelte Formel an, nach der die „Konsultationspflicht entsteht, wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt.“468 Die Konsultationspflicht könne aber auch bereits einsetzen, wenn sich der Arbeitgeber noch nicht unmittelbar für Massenentlassungen entschieden habe469. Dies ergebe sich aus Art. 2 Abs. 4 RL 98/59/EG, der den Arbeitgeber auch dann zur Einhaltung der Informations- und Konsultationspflichten anhalte, wenn die Entscheidung von einem herrschenden Unternehmen getroffen wurde. Im Folgenden grenzt der EuGH den insofern denkbaren Zeitraum ein: Die Konsultationspflicht dürfe nicht zu früh angesetzt werden, um die Flexibilität der Unternehmen nicht über die Maßen zu beschränken und die Arbeitnehmer nicht unnötig in Sorge um ihren Arbeitsplatz zu versetzen470. So sei die Unterrichtung noch nicht erforderlich, wenn „eine Entscheidung, von der angenommen wird, dass sie zu Massenentlassungen führen wird, nur beabsichtigt“471 ist. Konsultationen wären dann noch nicht sinnvoll, da Massenentlassungen nur wahrscheinlich und die einschlägigen Details noch nicht bekannt seien. Verspätet wäre allerdings eine Unterrichtung, die „vom Erlass einer strategischen oder betriebswirtschaftlichen Entscheidung abhängig gemacht [wird], die Massenentlassungen erforderlich macht.“472 Die folgenden Konsultationen könnten sich dann nicht mehr auf die Prüfung etwaiger Alternativen zur Vermeidung von Massenentlassungen erstrecken. Hervorzuheben ist, dass der EuGH damit ausdrücklich nicht auf die Entscheidung zur Beendigung der Arbeitsverhältnisse abstellt, sondern 466

EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 36. EuGH v. 12. 02. 1985 – Rs. C-284/83 Dansk Metalarbejderforbund – Slg. 1985, I-00553. 468 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 41; dabei handelt es sich gleichwohl nur um eine teilweise Widergabe von Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG, wobei statt „beabsichtigt“ nunmehr richtigerweise das Verb „erwägt“ verwendet wird (vgl. die vorstehenden Ausführungen zu „Junk“). 469 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 42. 470 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 45. 471 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 46. 472 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 47. 467

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auf die vorgelagerte unternehmerische Entscheidung (das „Ob“ der Maßnahme), die zwangsläufig zu Massenentlassungen führt. Das Konsultationsverfahren müsse deswegen eröffnet werden, sobald eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen wurde oder eine Änderung der Geschäftstätigkeit eintritt, die den Arbeitgeber zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen473. Dies gelte ebenso für Konzernsachverhalte, in denen die Entscheidung durch ein herrschendes Unternehmen getroffen wird. Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage stellt der EuGH zudem klar, dass dieser frühe Zeitpunkt nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass der Arbeitgeber noch nicht in der Lage ist, den Arbeitnehmervertretern alle Auskünfte gem. Art. 2 Abs. 3 Ua. 1 lit. b) RL 98/59/EG zu gewähren474. Dies ergebe sich aus Art. 2 Abs. 3 Ua. 1, der von einer Auskunftserteilung „rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen“ spricht. Da die erforderlichen Informationen erst zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Konsultationsverfahrens zur Verfügung stünden, sei eine schrittweise Vervollständigung geboten, um „den Arbeitnehmervertretern die Möglichkeit einer möglichst weitgehenden und effektiven Beteiligung am Entscheidungsprozess zu geben.“475 Anlässlich der dritten und vierten Vorlagefrage äußert sich der EuGH schließlich zur Behandlung der dem konkreten Fall zugrundeliegenden Besonderheit, dass die zu Massenentlassungen führende Entscheidung nicht vom Arbeitgeber selbst, sondern von einem diesen beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Auch in derartigen Fällen sei gem. Art. 2 Abs. 4 RL 98/59EG nur der Arbeitgeber der Schuldner der Konsultationspflicht476. Die Richtlinie habe nicht „zum Ziel, die Freiheit eines (…) Konzerns, seine Tätigkeiten so zu organisieren, wie es ihm am bedarfsgerechtesten erscheint, einzuschränken“477. Ferner erfordere eine sinnvolle Konsultation, dass die Tochtergesellschaft, in der es zu Massenentlassungen kommen könnte, bekannt sei478.

473 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 48 f.; Keine Bedenken hat der EuGH demnach im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 2 Abs. 4 Ua. 1 RL 98/ 59/EG, der die Konsultationspflicht im Konzern scheinbar davon abhängig macht, dass bereits eine Entscheidung getroffen wurde. Er schließt sich damit Generalanwalt Mengozzi an, nach dessen Auffassung Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG die Grundregel sei und Art. 2 Abs. 4 Ua. 1 RL 98/59EG nur eine Hilfsfunktion habe, um die Konsultationspflicht auch in Konzernverbünden sicherzustellen (Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi v. 22. 4. 2008 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 72). Deswegen sei der Begriff „Entscheidung“ weit zu verstehen. 474 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 52. 475 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 53. 476 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 62. 477 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 59. 478 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 65.

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bb) Analyse Dem Grundgedanken der Entscheidung ist nachdrücklich zuzustimmen. Ein Konsultationsverfahren, das dem Betriebsrat eine sinnvolle Chance zur Vermeidung oder Beschränkung von Massenentlassungen geben soll, muss in der Tat bereits abgeschlossen sein, bevor die Entscheidung zur Beendigung der Arbeitverhältnisse gefallen ist479. Nichts anderes kann für eine unternehmerische Entscheidung gelten (z. B. über eine Betriebsstilllegung), die Massenentlassungen zwingend erforderlich macht, da danach nur noch Detailkorrekturen möglich sind. Die Konsultation muss sich deswegen auch auf die vorgelagerte unternehmerische Entscheidung erstrecken, um eine sinnvolle Einflussnahme zu ermöglichen480. Ohnehin ist der unternehmerische Entschluss, der Massenentlassungen erforderlich macht, diesen nur scheinbar vorgelagert481. Eine strikte Trennung zwischen problembezogener Planung („Ob“) und Umsetzungsplanung („Wie“) ist meist nicht möglich. Beide sind durch vielfältige Rückkopplungen miteinander verbunden und werden mit Rücksicht aufeinander durchgeführt482. So sind Massenentlassungen ein erheblicher Kostenfaktor, da sie regelmäßig mit finanziellen Ausgleichsmaßnahmen verknüpft sind. Diese Kosten müssen in jede sachgemäße unternehmerische Planung mit einfließen. Um insofern überhaupt eine Quantifizierung vornehmen zu können, ist der Entscheidungsträger (Muttergesellschaft oder Arbeitgeber) deswegen gezwungen, bereits konkrete Planungen hinsichtlich einiger der in Art. 2 Abs. 3 Ua. 1 lit. b) RL 98/59/EG genannten Gegenstände anzustellen. Sieht sich der Arbeitgeber etwa mit dem Problem konfrontiert, dass ein Betrieb unrentabel arbeitet, stehen ihm als Alternativen beispielsweise eine Stilllegung, ein Verkauf oder aber Investitionen in effizientere Maschinen zur Verfügung. Um die Wirtschaftlichkeit der verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwägen zu können, muss er unter anderem berechnen, welche Sozialkosten konkret auf ihn zukommen, wenn er den Betrieb stilllegt. Beginnt er mit diesen Berechnungen, beginnt er aber auch bereits mit der Planung von Massenentlassungen. Obwohl dies in der Entscheidung nicht zur Sprache kommt, kann sich die Interpretation des EuGH neben den genannten objektiv-teleologischen Überlegungen auch auf die Entstehungsgeschichte der Richtlinie berufen483. In ihren Vorschlägen zur Richtliniennovelle 92/56/EWG machte die Kommission deutlich, dass sie sich hinsichtlich der zeitlichen Gestaltung und der Zielsetzung der Konsultationen an einer Empfehlung484 und einem Übereinkommen485 der Internationalen Arbeitsor479

Vgl. dazu ausführlich oben § 2 B. III. 5. Ebenso Resch, ZESAR 2010, S. 41. 481 So aber Krieger/Ludwig, NZA 2010, S. 919, 923. 482 Budäus, Entscheidungsprozeß und Mitbestimmung, S. 37; Linnenkohl/Töpfer, BB 1986, S. 1301, 1303. 483 Vgl. dazu ebenfalls Domröse, EuZA 2010, S. 396, 399. 484 Empfehlung Nr. 166 der IAO betreffend die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber v. 22. 6. 1982 (http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/rec166.htm). 480

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ganisation (IAO) orientiere486. Beide Dokumente plädieren dafür, dass die Arbeitnehmer über beabsichtigte Kündigungen so früh wie möglich zu unterrichten seien487. Der Arbeitgeber müsse bereits unterrichten, wenn er „die Einführung größerer Veränderungen der Produktion, des Programms, der Organisation, der Struktur oder der Technologie beabsichtigt, die voraussichtlich Kündigungen nach sich ziehen werden.“488 Auch dort wird ausdrücklich nicht auf die eigentliche Entscheidung über Massenentlassungen abgestellt, sondern auf die unternehmerische Entscheidung, die diese erforderlich macht. Ferner ist dem EuGH zuzustimmen, wenn er das Einsetzen der Konsultationspflicht nicht an das Vorliegen aller erforderlichen Informationen knüpft, sondern den Arbeitgeber verpflichtet, dem Betriebsrat erst im Verlauf der Konsultationen alle erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Dies ergibt sich zum einen ausdrücklich aus dem Richtlinientext489, der in § 17 Abs. 2 KSchG insofern allerdings keinen Niederschlag gefunden hat. Zum anderen hätte die Forderung nach einer vollständigen Informationsgrundlage zur Konsequenz, dass meist erst am Ende der Planung unterrichtet werden müsste, wenn die Entscheidung bereits gefallen ist oder zumindest unmittelbar bevorsteht. Wann aber ist der Arbeitgeber gezwungen, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen? Diese zu Recht als „kryptisch“490 bezeichnete Unterrichtungsformel, wirft einige Fragen und Widersprüche auf, die sich auch nicht ausräumen lassen, wenn man sie im Kontext der Urteilsgründe interpretiert. So führt der EuGH aus, dass die Einleitung des Konsultationsverfahrens noch nicht geboten sei, wenn Planungen des Arbeitgebers Massenentlassungen nur als wahrscheinlich erscheinen lassen. Andererseits sei es bereits zu spät, wenn der Arbeitgeber eine Entscheidung getroffen hat, die Massenentlassungen zwingend erforderlich macht. Nimmt man letztere Begrenzung ernst, ist deswegen eine qualifizierte Form von Wahrscheinlichkeit erforderlich, um die Konsultationspflicht auszulösen. Domröse versteht darunter eine Situation, „die Massenentlassungen als realistische Möglichkeit und nicht als völlig abwegig erscheinen“491 lässt. Im gleichen Atemzug räumt er aber auch die geringe Praktikabilität dieser Formel ein und legt damit den Finger in die (erste) Wunde. Wann die Wahrscheinlichkeit von Massenentlassungen ein gleichsam „zwingendes“ Maß erreicht hat, ist nicht trennscharf zu bestimmen und von derart vielen Variablen abhängig, die im Rahmen des unternehmerischen Ermessens miteinander 485 Übereinkommen Nr. 158 der IAO über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber v. 22. 6. 1985 (http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc158.htm). 486 Vgl. KOM(91) 292 endg., S. 7; KOM(92) 127 endg., S. 7. 487 Ziffer 20 Abs. 1 der Empfehlung Nr. 166; Art. 14 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 158. 488 Ziffer 20 Abs. 1 der Empfehlung Nr. 166. 489 Art. 2 Abs. 3 Ua. 1 RL 98/59/EG. 490 Forst, NZA 2010, S. 144, 147. 491 Domröse, EuZA 2010, S. 396, 400.

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vereinbart werden müssen, dass diese generelle Regelung weder von den Gerichten noch vom Arbeitgeber beherrschbar wäre. Erstere müssten sich in weniger deutlichen Fällen in den Arbeitgeber „hineinversetzen“ und betriebswirtschaftliche exante-Prognosen rekonstruieren, um einen unternehmerischen „Zwang“ festzustellen. Letztere würde man in die fast schon schizophrene Lage bringen, dass sie, obwohl sie eine Massenentlassungen determinierende Entscheidung noch gar nicht ins Auge gefasst haben, reflektieren müssen, dass dies jetzt eigentlich erforderlich wäre. Damit ist auch bereits das nächste Problem angesprochen: Der Betriebsrat könnte Konsultationen erzwingen, auch wenn der Arbeitgeber ausschließlich mitbestimmungsfreie Alternativen in Betracht zieht. So ist es in dem „Fujitsu Siemens“ zugrundeliegenden Fall durchaus denkbar, dass sich der Arbeitgeber nach der Empfehlung der Konzernleitung ausschließlich auf die Veräußerung des Betriebes konzentriert und die Stilllegung als „Notlösung“ hintenanstellt. Damit würde man aber ein Initiativrecht begründen, welches weder die Massenentlassungsrichtlinie noch das KSchG vorsieht492. Zudem wäre ein Konsultationsgegenstand mangels Überlegungen des Arbeitgebers noch nicht gegeben. Der EuGH setzt sich damit außerdem zu einer seiner eigenen Entscheidungen493 in Widerspruch, die zur ersten Massenentlassungsrichtlinie 75/129/EWG erging und auf die er in „Fujitsu Siemens“ auch verweist494. In dem zugrundeliegenden Sachverhalt hätte der Arbeitgeber aufgrund seiner schlechten finanziellen Situation eigentlich Massenentlassungen erwägen müssen, tat dies jedoch nicht. Der Gerichtshof entschied, dass die Konsultationspflicht gleichwohl erst einsetze, wenn der Arbeitgeber Massenentlassungen tatsächlich erwogen habe495. Die Richtlinie schränke dessen „Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Frage, ob und wann er einen Plan für Massenentlassungen aufstellen muss, in keiner Weise ein.“496 Gerade diesen Grundsatz missachtet der EuGH aber, wenn er den erforderlichen Beginn des Konsultationsverfahrens an eine Wahrscheinlichkeitsbetrachtung knüpft. Widersprüche ergeben sich ferner, wenn man die folgenden Aussagen des EuGH in Relation setzt: Einerseits stellte er fest, dass die Unterrichtung nach einer Entscheidung, die Massenentlassungen definitiv erforderlich mache, verspätet sei. Andererseits stellte er fest, dass die Unterrichtungspflicht erst einsetze, wenn die Muttergesellschaft die konkrete Tochtergesellschaft, bei der es zu Massenentlassungen kommen könnte, bereits benannt habe. Beide Aussagen lassen sich nur miteinander vereinbaren, wenn (wie im zugrundeliegenden Sachverhalt) die Ent492 Zu § 111 S. 1 BetrVG ebenso Rieble, NZA 2004, S. 1029, 1030; vgl. dazu schon oben § 2 B. III. 5. d). 493 EuGH v. 12. 02. 1985 – Rs. C-284/83 Dansk Metalarbejderforbund – Slg. 1985, I-00553. 494 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 41. 495 Vgl. dazu auch die Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi v. 22. 4. 2008 – Rs. C44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 50. 496 EuGH v. 12. 2. 1985 – Rs. C-284/83 Dansk Metalarbejderforbund – Slg. 1985, I-00553 Rn. 15.

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scheidung der Muttergesellschaft der Tochtergesellschaft noch einen gewissen Spielraum ließe. Plant die Muttergesellschaft aber, einen ihrer Betriebe komplett stillzulegen, ohne andere Alternativen in Betracht zu ziehen, hätte die schlussendlich benannte Tochtergesellschaft keinen Entscheidungsspielraum mehr. Es ist allerdings davon auszugehen, dass der EuGH im Konfliktfall dem ersten Grundsatz den Vorrang gewähren würde497. Die Konsultationspflicht vor Entscheidungen über Massenentlassungen ist gleichsam der teleologische Kristallisationskern von „Fujitsu Siemens“, während das Benennungserfordernis ausschließlich auf Praktikabilitätserwägungen gestützt wird498. Zudem ist es gerade zuvorderstes Ziel von Art. 2 Abs. 4 RL 98/59/EG, die Wirksamkeit der Konsultationspflicht gleichermaßen auch in Konzernverbünden sicherzustellen499. Auch aus Sicht des EuGH dürfte es deswegen geboten sein, dass die Muttergesellschaft alle potentiell betroffenen Tochtergesellschaften bereits im Planungsstadium einbezieht, sofern ihr Entscheidungsprozess auf einen Beschluss hinausläuft, der der letzendlich benannten Tochtergesellschaft keinen Entscheidungsspielraum mehr lässt. Wenn deswegen in Ausnahmefällen gegebenenfalls mehrere Tochtergesellschaften über Massenentlassungen beraten müssen, die durch ihre Muttergesellschaft geplant werden, obwohl es letztlich nur eine Gesellschaft treffen wird, so ist dies in Anbetracht des herausgearbeiteten Schutzzwecks von Art. 2 Abs. 1 und 4 RL 98/59/EG hinzunehmen. 2. Der Meinungsstand in der Literatur Die herrschende Meinung in der Literatur spricht sich dafür aus, dass die Unterrichtung im Sinne von § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige stattzufinden hat, um noch rechtzeitig zu sein500. Die Zwei-Wochen-Frist wird aus § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG hergeleitet, nach dem die Anzeige auch ohne Stellungnahme des Betriebsrates wirksam ist, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vorher unterrichtet hat und den Stand der Beratungen darlegt. Die Interpretation von „Fujitsu Siemens“ fällt unterschiedlich aus501. Krieger und Ludwig wollen aus Praktikabilitätserwägungen weiterhin die Zwei-Wochen-Frist

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Im Ergebnis ebenso Domröse, EuZA 2010, S. 386, 404. EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 63 f. 499 EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-44/08 Fujitsu Siemens – Slg. 2009, I-08163 Rn. 44. 500 Von den folgenden Autoren setzt sich allerdings keiner ausdrücklich mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Fujitsu Siemens“ auseinander. Veröffentlichungsdatum vor „Fujitsu Siemens“: HK-KR/Hauck, KSchG, § 17 Rn. 29; MüKo-Hergenröder, KSchG, § 17 Rn. 40; nach „Fujitsu Siemens“: HWK/Molkenbur, KSchG, § 17 Rn. 21; KDZDeinert, KSchG, § 17 Rn. 39; KR-Weigand, KSchG, § 17 Rn. 57; SES-Schrader, KSchG, § 17 Rn. 43. 501 Moll (APS/Moll, KschG, § 17 Rn. 71) schließt sich dem EuGH an. 498

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aufrechterhalten502. Forst versteht die Ausführungen des EuGH hingegen dergestalt, dass die Unterrichtung stattzufinden habe, wenn sich der Arbeitgeber „auf Grund wirtschaftlicher Zwänge zu einem Personalabbau entschlossen hat“503. Zweifel am weiteren Bestand der herrschenden Meinung äußert Schweibert. Nach ihrer Interpretation fordert der EuGH, dass der Betriebsrat bereits bei der Entscheidung über das „Ob“ der Maßnahme einbezogen wird504. Dies müsse noch vor Einleitung des Interessenausgleichsverfahrens geschehen, das erst nach der dieser Entscheidung durchzuführen sei. Für eine vergleichbare Lesart des Urteils spricht sich auch Domröse aus, der die Unterrichtungsformel des EuGH dergestalt konkretisiert, dass Konsultationen einzuleiten seien, sobald „der Arbeitgeber in Kauf nimmt, dass die von ihm gewollte Entscheidung Massenentlassungen mit sich bringt.“505 3. Stellungnahme Es hat sich bereits im Rahmen der Analyse von „Fujitsu Siemens“ gezeigt, dass die Auslegung der derzeit noch herrschenden Meinung nicht mit der Massenentlassungsrichtlinie zu vereinbaren ist, die bereits eine Unterrichtung vor Entscheidungen fordert, die Massenentlassungen zwingend notwendig machen. Zudem findet § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG weder eine Entsprechung in der Richtlinie, noch ist eine starre Frist geeignet, um ein den unterschiedlichen Komplexitätsgraden Rechnung tragendes Konsultationsverfahren durchführen zu können. Entscheidend kann nur sein, dass dem Betriebsrat eine sinnvolle Chance zur Einflussnahme auf den Arbeitgeber eröffnet wird, um Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken. Obwohl dem EuGH in weiten Teilen seiner Entscheidungsbegründung zuzustimmen ist, kann die von ihm entwickelte Unterrichtungsformel nicht überzeugen. Die erforderliche Wahrscheinlichkeitsbetrachtung begegnet sowohl in praktischer als auch in rechtlicher Hinsicht erheblichen Bedenken. Vorzugswürdig ist hingegen die bereits im Rahmen des Allgemeinen Teils entwickelte Lösung, an die tatsächliche Planungstätigkeit des Arbeitgebers anzuknüpfen506. Dieser Zeitpunkt ist zum einen unproblematisch feststellbar, da er sich in der Außenwelt manifestiert, etwa durch die Bildung von Arbeitsgruppen und der Erstellung von Planungsunterlagen. Zum anderen wird der Arbeitgeber nur zu Konsultationen verpflichtet, wenn er aus eigenem Antrieb tätig wird. Ein Initiativrecht des Betriebsrats ist deswegen ausgeschlossen. Nach dem bisher Gesagten setzt die Konsultationspflicht demnach ein, sobald der Arbeitgeber mit Planungen beginnt, in deren Rahmen eine Alternative in Betracht gezogen wird, die Massenentlassungen zwingend erforderlich macht. Beispielhaft 502 Krieger/Ludwig, NZA 2010, S. 919, 923: Das Verfahren sei 15 Tage vor der Anzeigeerstattung einzuleiten. 503 Forst, NZA 2010, S. 144, 147. 504 WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 327. 505 Domröse, EuZA 2010, S. 396, 401. 506 Vgl. oben § 2 B. III. 5. e) aa).

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sei das bereits oben aufgeworfene Szenario genannt, dass sich der Arbeitgeber mit dem Problem eines unrentablen Betriebes konfrontiert sieht. Zieht er als Planungsalternativen den Verkauf des Betriebs oder Investitionen in effizientere Maschinen in Betracht, so ist eine Konsultation mit dem Betriebsrat nicht geboten. Bezieht er in seine Planung aber als zusätzliche Alternative die Stilllegung des Betriebes mit ein, so wird die Konsultationspflicht aktiviert. Zwar steht dann noch nicht fest, dass er sich auch tatsächlich für die letztgenannte Lösung entscheidet. Sollte er dies aber tun, so wären Massenentlassungen die zwingende Konsequenz und die Konsultationen könnten ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Dieselbe Formel ist gem. § 17 Abs. 3a S. 1 KSchG auch anwendbar, wenn die Planungen durch ein herrschendes Unternehmen durchgeführt werden. Die vom EuGH geforderte Suspendierung der Konsultationspflicht bis zur Benennung der Tochtergesellschaft ist hingegen abzulehnen. Bei Weisungen, die dem beherrschten Unternehmen keinen Entscheidungsspielraum mehr lassen, würde dies die Erfolgsaussichten des Konsultationsverfahrens richtlinienwidrig beeinträchtigen507. Es kann für die Rechtzeitigkeit der Unterrichtung keinen Unterschied machen, auf welcher Leitungsebene die entsprechende Planung durchgeführt wird. 4. Ergebnis Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG zu unterrichten, sobald er oder ein ihn beherrschendes Unternehmen mit Planungen beginnt, in deren Rahmen eine Alternative in Betracht gezogen wird, die Massenentlassungen zwingend erforderlich macht.

II. Die Unterrichtung Europäischer Betriebsräte gemäß §§ 29, 30 EBRG Die Richtlinie über Europäische Betriebsräte508 wurde im Jahre 1994509 erlassen und zuletzt durch die RL 2009/98/EG510 abgeändert. Die deutsche Umsetzung erfolgte durch das Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG)511. Der europäische 507

Ebenso Domröse, EuZA 2010, S. 386, 404. Zum Entstehungsprozess der Richtlinie vgl. Franzen, EuZA 2010, S. 180 f.; GK-BetrVG/Oetker, vor § 1 EBRG, Rn. 2 ff.; Melot de Beauregard/Buchmann, BB 2009, S. 1417 f.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, S. 488 ff. 509 Richtlinie 94/54/EG des Rates vom 22. 9. 1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. EG (1994) L 254 S. 64 ff. 510 Richtlinie 2009/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. 5. 2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. EU (2009) L 122 S. 28 ff. 511 Zuletzt geändert durch das 2. EBRG-ÄndG, BGBl. vom 14. 6. 2011 (Nr. 28) S. 1050 ff. 508

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Richtliniengeber trug damit der zunehmend länderübergreifenden Strukturierung von Unternehmen und Unternehmensgruppen Rechnung512. Ziel der Richtlinie ist es, diesen Prozess einerseits sozialpolitisch zu flankieren und andererseits ein weitgehend einheitliches Niveau der grenzüberschreitenden Unterrichtung und Anhörung zu schaffen, um Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermeiden513. Dabei gilt der Vorrang der Verhandlungslösung, um die grenzüberschreitende Unterrichtung und Anhörung durch eine den Gegebenheiten des jeweiligen Unternehmens angepasste Vereinbarung auszugestalten514. Für den Fall, dass zwischen dem besonderen Verhandlungsgremium und der zentralen Leitung keine Einigung herbeigeführt werden kann, konstituieren die 21 ff. EBRG einen Europäischen Betriebsrat kraft Gesetzes. Dieser kommt zwar in der Praxis nur äußerst selten vor515. Die gesetzliche Auffanglösung prägt aber als Referenzpunkt maßgeblich die Verhandlungen über die Beteiligungsvereinbarung516 („bargaining in the shadow of the law“517). Im Zentrum des Interesses steht hier einerseits § 29 Abs. 1 EBRG, der die zentrale Leitung zu einer jährlichen Unterrichtung und Anhörung über die Entwicklung der Geschäftslage und die Perspektiven des Unternehmens unter rechtzeitiger Vorlage der erforderlichen Unterlagen verpflichtet. Andererseits soll § 30 Abs. 1 S. 1 EBRG untersucht werden, der eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung über außergewöhnliche Umstände oder Entscheidungen anordnet, die erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben. Bevor sich die Untersuchung den genannten Normen zuwendet, soll zunächst analysiert werden, welche zeitlichen Vorgaben die Richtlinie 2009/38/EG insofern aufstellt. 1. Die Vorgaben der RL 2009/38/EG Im Rahmen der Vorgängerrichtlinie 94/45/EG kann lediglich Erwägungsgrund Nr. 20 zur Bestimmung des gebotenen Unterrichtungszeitpunktes fruchtbar gemacht werden: „Bevor bestimmte Beschlüsse mit erheblichen Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer ausgeführt werden, sind die Arbeitnehmervertreter unverzüglich zu unterrichten und anzuhören.“ Dabei handelt es sich um mehr als nur um die bloße Klarstellung, dass Unterrichtung und Beratung vor der Durchführung entsprechender Beschlüsse zu erfolgen haben. Der Bezugspunkt des Begriffs „unverzüglich“ ist ein Beschluss mit erheblichen Auswirkungen auf Arbeitnehmerinteressen, der demzufolge bereits gefasst worden sein muss. Dies bestätigt ein Ver512

Erwägungsgrund Nr. 9 RL 94/45/EG; Erwägungsgrund Nr. 10 RL 2009/38/EG. Reg. Begr. BT-Drs. 13/4520, S. 14. 514 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 19 RL 2009/38/EG; § 17 Abs. 1 S. 1 EBRG; ebenso Franzen, EuZA 2010, S. 180, 181; HWK/Giesen, EBRG, Rn. 2; Melot de Beauregard/Buchmann, BB 2009, S. 1417, 1420. 515 Blanke, RdA 2008, S. 65, 66; Franzen, EuZA 2010, S. 180, 181. 516 Blanke, RdA 2008, S. 65, 67. 517 Bercusson, Industrial Relations Journal 1992, S. 177, 185. 513

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gleich mit der englischen Sprachfassung518. Zwar sind die Begründungserwägungen selbst nicht normativ verbindlich, ihnen kommt aber ein erhebliches Gewicht bei der Auslegung des Normtextes zu519. Da sich davon abgesehen keine weiteren zeitlichen Anhaltspunkte finden, ist demnach davon auszugehen, dass lediglich eine ergebnisbezogene Mitbestimmung gefordert ist520. Die Mitbestimmungskonzeption der RL 2009/38/EG steht demgegenüber im Zeichen der stärkeren Antizipation und Prävention sozialer Risiken521. Sowohl vor522 als auch im523 Gesetzgebungsverfahren wurde wiederholt auf die Erforderlichkeit einer Intensivierung des sozialen Dialogs zwischen Europäischem Betriebsrat und Unternehmensleitung zur gemeinsamen Bewältigung von Umstrukturierungsprozessen hingewiesen. Diese Überlegungen finden sich auch in den Erwägungsgründen der Richtlinie wieder. So wird gleich zweimal die Bedeutsamkeit einer wirksamen Arbeitnehmerbeteiligung zur Antizipation und Bewältigung des Wandels betont524. Erforderlich sei dafür ein Dialog auf der „Ebene der Festlegung der Leitlinien“525, was bereits für eine frühzeitige Beteiligung spricht. Erwägungsgrund Nr. 22 spricht sich zudem für eine Unterrichtung aus, die „zu einem Zeitpunkt, in einer Weise und in einer inhaltlichen Ausgestaltung erfolgt, die dem Zweck angemessen sind, ohne den Entscheidungsprozess [Herv. d. Verf.] in den Unternehmen zu verlangsamen.“ Auch Erwägungsgrund Nr. 23 verlangt, dass dem Betriebsrat „die Abgabe einer der Entscheidungsfindung [Herv. d. Verf.] dienlichen Stellungnahme möglich sein muss“. Damit wird deutlich, dass die Richtlinie eine Einbeziehung des Betriebsrates vor Entscheidungen der Unternehmensleitung und somit eine prozessbezogene Mitbestimmung anordnet526. Dem widerspricht allerdings Erwägungsgrund Nr. 43, der wortgleich mit dem oben besprochenen Erwägungsgrund Nr. 20 der RL 94/45/EG ist. In Anbetracht des quantitativen Übergewichts der vorstehend geschilderten Erwägungsgründe erscheint es aber abwegig, dass sich der Richtliniengeber auf diesem Wege doch wieder der ergebnisbezogenen Mitbestimmung zuwendet. Dafür spricht zudem das Ziel der Richtlinie, eine Verbesserung der Unterrichtungs- und Anhörungsrechte herbeizuführen (Erwägungsgrund Nr. 45) und die systematische 518 „Certain decisions having a significant effect on the interests of employees must be the subject of information and consultation of the employees’ appointed representatives as soon as possible.“ 519 Vgl. schon oben § 3 A. I. 1. b). 520 Ebenso Blanke/Rose, RdA 2008, S. 65, 71 f.; Oetker/Schubert, EAS B 8300 Rn. 229; a. A. wohl Bachner/Nielebock, AuR 1997, S. 129, 134. 521 Vgl. dazu auch Melot de Beauregard/Buchmann, BB 2009, S. 1417. 522 Mitteilung der Kommission: Umstrukturierungen antizipieren und begleiten und die Beschäftigung fördern, KOM(2005) 120 endg., S. 3; Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses SOC/220 – CESE 1170/2006, S. 12. 523 Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission KOM(2008) 419 endg., S. 2 f. 524 Erwägungsgrund Nr. 14 und 29. 525 Erwägungsgrund Nr. 14. 526 Im Ergebnis ebenso FESTL, Übersicht EBRG, Rn. 13.

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Einordnung fern von den Ausführungen über Unterrichtung und Anhörung. Es liegt deshalb nahe, dass der Erwägungsgrund ohne Reflektion seiner missverständlichen Bedeutung übernommen wurde. Im Normtext findet sich lediglich ein Anhaltspunkt, der für eine prozessbezogene Mitbestimmung spricht. So ordnet Art. 1 Abs. 2 S. 2 RL 2009/38/EG an, dass Unterrichtung und Anhörung so durchgeführt werden, „dass ihre Wirksamkeit gewährleistet ist und eine effiziente Beschlussfassung des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe ermöglicht wird.“ Die Betonung einer effizienten Beschlussfassung ergibt dabei nur Sinn, wenn der Betriebsrat bereits vorher einbezogen wird. Darüber hinaus bleibt der Normtext vage, weshalb die Vorschriften über das Beteiligungsverfahren aber auch die nötige Offenheit aufweisen, um den Erwägungsgründen zur Umsetzung zu verhelfen. Die Definitionen von Unterrichtung und Anhörung in Art. 2 Abs. 1 lit. f) und g) RL 2009/38/EG entsprechen dabei zum Teil ihren Pendants in der RL 2002/14/EG, wurden aber noch mit einem Zusatz hinsichtlich der Ausgestaltung des Verfahrens versehen. So soll die Unterrichtung zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, der dem Zweck angemessen ist und es den Arbeitnehmervertretern ermöglicht, die denkbaren Auswirkungen eingehend zu bewerten und Anhörungen vorzubereiten. Die Anhörung soll die Abgabe einer Stellungnahme ermöglichen, die innerhalb des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe noch berücksichtigt werden kann527. Im Lichte der entsprechenden Erwägungsgründe Nr. 22 und 23 gewährleisten beide Definitionen eine prozessbezogene Mitbestimmung. Eine wirksame Beeinflussung ist wie gezeigt nur möglich, wenn die Arbeitnehmervertreter von Anfang an in die konkreten Planungen der Unternehmensleitung einbezogen werden528. Die Unterrichtung hat deswegen stattzufinden, wenn sich die Unternehmensleitung zur Planung einer beteiligungspflichtigen Maßnahme entschließt. 2. Unterrichtungszeitpunkt Die Rechtzeitigkeit im Rahmen des § 29 Abs. 1 EBRG bezieht sich unmittelbar nur auf die Vorlage der Unterlagen. Damit soll den Mitgliedern des EBR eine ausreichende Zeit zur Einarbeitung in die entsprechende Materie und zur Vorbereitung der Sitzung mit der zentralen Leitung (§ 27 Abs. 1 EBRG) gewährt werden529. Auch muss ausreichend Zeit zur Konsultation eines Sachverständigen verbleiben (§ 38 Abs. 2 EBRG). 527 Thüsing und Forst (NZA 2009, S. 408, 409) sind der Auffassung, dass sich bereits aus den Definitionen ergebe, dass Unterrichtung und Anhörung vor der Beschlussfassung der Leitungsorgane stattzufinden haben. Es wird allerdings nicht deutlich, ob sie diese Feststellung nur auf den Wortlaut oder auch auf teleologische Erwägungen stützen. 528 Vgl. oben § 2 B. III. 5. 529 Blanke, EBRG, § 32 Rn. 8; GK-BetrVG/Oetker, § 29 EBRG Rn. 11; Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 210.

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Zudem haben Unterrichtung und Anhörung aber „auch der Sache nach“530 rechtzeitig und damit vor der Entscheidung der zentralen Leitung zu erfolgen531. Dies ergibt sich aus den Definitionen von Unterrichtung und Anhörung in § 2 Abs. 4 und 5 EBRG, die die Terminologie der Richtlinie übernehmen und in deren Lichte auszulegen sind. Dabei ist aber zu beachten, dass die Mitwirkung im Rahmen des § 29 Abs. 1 EBRG nur einmal im Kalenderjahr stattzufinden hat. Weitere Sitzungen können aufgrund des eindeutigen Wortlautes und der Entstehungsgeschichte der Richtlinie nicht verlangt werden532. Die Norm unterscheidet sich darin von ihren ansonsten fast deckungsgleichen Äquivalenten § 28 Abs. 1 SEBG und § 28 Abs. 1 SCEBG, die eine Beteiligung „mindestens“ einmal im Kalenderjahr anordnen. Eine singuläre Veranstaltung im Jahresrythmus ist aber insofern problematisch, als die in § 29 Abs. 2 EBRG genannten Planungen freilich nicht immer parallel ablaufen und sich gegebenenfalls in völlig unterschiedlichen Stadien befinden. Zwar kann durch die Terminierung der Sitzung eine den konkreten Gegegebenheiten angepasste Lösung angestrebt werden. Eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung wird sich bei einem einmaligen jährlichen Zusammentreffen aber trotzdem nicht immer bewerkstelligen lassen. Zur Kompensation trägt § 30 Abs. 1 S. 1 EBRG bei, der die Beteiligung auch auf Planungen außerhalb der turnusmäßigen Sitzung erstreckt533. Wie der Begriff „insbesondere“ zeigt, haben die in § 30 Abs. 1 S. 2 EBRG aufgelisteten Maßnahmen nur exemplarische Bedeutung. Sollte eine in Betracht gezogene Maßnahme erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben, hat die zentrale Leitung den Europäischen Betriebsrat demzufolge rechtzeitig zu konsultieren. Die oben erläuterten prozeduralen Anforderungen der Richtlinie sind in den Begriff „rechtzeitig“ hineinzulesen534. Vor der Gesetzesänderung535 wurde noch die Auffassung vertreten, dass eine Unterrichtung in der Planungsphase an § 33 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 EBR scheitere536. Dieser sprach ausschließlich von einer Betroffenheit von

530

HWK/Giesen, EBRG, Rn. 62a. Ebenso Blanke, EBRG, § 32 Rn. 3; DKKW/Bachner, BetrVG, § 30 EBRG Rn. 5; DFL/ Heckelmann/Wolf, EBRG § 29 Rn. 3; a. A. GK-BetrVG/Oetker, § 29 EBRG Rn. 12, der eine Unterrichtung und Anhörung als rechtzeitig erachtet, solange diese vor Ausführung der Beschlüsse erfolgen. 532 Blanke, EBRG, § 32 Rn. 4; GK-BetrVG/Oetker, § 29 EBRG Rn. 4; DFL/Heckelmann/ Wolf, EBRG § 29 Rn. 3; In einem Entwurf der RL 94/45/EG war in Nr. 2 S. 1 des Anhangs noch vorgesehen, dass „mindestens einmal jährlich“ zu unterrichten sei. In der endgültigen Richtlinie wurde diese Formulierung aber durch die heutige ersetzt (vgl. ABl. EG (1991) C 240 S. 118 ff.). 533 DFL/Heckelmann/Wolf, EBRG § 30 Rn. 3; Oetker/Schubert, EAS B 8300, Rn. 210. 534 A. A. GK-BetrVG/Oetker, § 30 EBRG Rn. 7, der für eine Unterrichtung nach der Beschlussfassung plädiert. 535 2. EBRG-ÄndG, BGBl. vom 14. 6. 2011 (Nr. 28) S. 1050 ff. 536 Blanke, EBRG, § 33 Rn. 10; Gaul, NJW 1996, S. 3378, 3383; Oetker/Schubert, EAS B 8300 Rn. 229. 531

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„geplanten Maßnahmen“, woraus ebenso wie im Rahmen von § 111 S. 1 BetrVG537 geschlussfolgert wurde, dass die zentrale Leitung bereits eine Entscheidung getroffen haben müsse. Der Gesetzgeber hat dies bei der Gesetzesänderung berücksichtigt und § 30 Abs. 2 S. 3 EBRG mit dem Zusatz „oder Entscheidungen“ ergänzt. Eine „geplante Entscheidung“ ist aber ganz eindeutig eine Entscheidung, die noch nicht gefallen ist. Damit wurde ausdrücklich der Weg für eine prozessbezogene Mitbestimmung im Sinne der Richtlinie geöffnet. 3. Ergebnis Die zentrale Leitung hat den Europäischen Betriebsrat gem. §§ 29 Abs. 1 S. 1, 30 Abs. 1 S. 1 EBRG unverzüglich zu unterrichten, sobald sie sich zur Planung einer beteiligungspflichtigen Maßnahme entschließt.

III. Die Unterrichtung von SE und SCE-Betriebsräten (§§ 28, 29 SEBG und SCEBG) Das SEBG dient der Umsetzung der Richtlinie 2001/86/EG538 und regelt die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea – SE). Die Vorschriften sind untrennbar mit dem Gesellschaftsrecht verknüpft, da eine SE erst in das Handelsregister eingetragen werden kann, wenn feststeht, welches Mitbestimmungsrecht zur Anwendung kommt (Art. 12 Abs. 2 VO [EG] Nr. 2157/2001539). Zudem ist eine Beteiligung der Arbeitnehmer in den Organen der Gesellschaft vorgesehen (§ 2 Abs. 12 SEBG). Die betriebliche Mitbestimmung gleicht den Regelungen über den Europäischen Betriebsrat in vielerlei Hinsicht. Dies gilt auch für die hier relevante Frage nach dem gebotenen Zeitpunkt der Unterrichtung über außergewöhnliche Umstände. Während die Erwägungsgründe insofern keine Anhaltspunkte bieten, ordnet Art. 2 lit. i) RL 2001/86/EG an, dass „Zeitpunkt, Form und Inhalt der Unterrichtung den Arbeitnehmervertretern eine eingehende Prüfung der möglichen Auswirkungen und gegebenenfalls die Vorbereitung von Anhörungen mit dem zuständigen Organ der SE ermöglichen müssen“. Die Gebotenheit einer prozessbezogenen Mitbestimmung wird dann im Rahmen der Definition der Anhörung (Art. 2 lit. j) RL 2001/86/EG) unmissverständlich deutlich. Dort wird klargestellt, dass „Zeitpunkt, Form und Inhalt der Anhörung den Arbeitnehmervertretern auf der Grundlage der erfolgten Unterrichtung eine Stellungnahme zu den geplanten Maßnahmen des zuständigen Organs 537

Vgl. dazu oben § 3 A. IV. 2. a) aa). ABl. EG (2001) L 294 S. 22 ff. 539 ABl. EG (2001) L 294 S. 1 ff.; vgl. zur langen und bewegten Entstehungsgeschichte Mävers, Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 87 ff. 538

B. Vorschriften außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes

237

ermöglichen müssen, die im Rahmen des Entscheidungsprozesses [Herv. d. Verf.] innerhalb der SE berücksichtigt werden kann“. Dass von „geplanten Maßnahmen“ gesprochen wird, ist im Hinblick auf die geschilderte Diskussion im Rahmen des § 111 S. 1 BetrVG540 etwas unglücklich. In der englischen und französischen Richtlinienversion werden die Formulierungen „measures envisaged“ bzw. „mesures envisageés“ verwendet. Wie bereits oben erläutert541, wäre insofern eine Übersetzung mit „erwogenen Maßnahmen“ oder „ins Auge gefassten Maßnahmen“ treffender. Angesichts der eindeutig angeordneten Einbeziehung in den unternehmerischen Entscheidungsprozess, vermag aber auch diese sprachliche Ungenauigkeit keine Zweifel an der Erforderlichkeit einer prozessbezogenen Mitbestimmung zu begründen. Das deutsche Umsetzungsgesetz SEBG lehnt sich weitestgehend an die Richtlinie an. Auch die Definitionen von Unterrichtung und Anhörung werden unverändert in § 2 Abs. 10 und 11 SEBG übernommen. Die zusätzliche Anordnung der Rechtzeitigkeit ist deshalb streng genommen überflüssig. Die gesetzliche Auffanglösung gleicht derjenigen des EBRG, weist aber einen gewichtigen Unterschied auf. Die SELeitung hat den Betriebsrat gem. § 28 Abs. 1 S. 1 SEBG mindestens einmal im Kalenderjahr über die Entwicklung der Geschäftslage und die Perspektiven der SE unter rechtzeitiger Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten und anzuhören. Durch die ausdrücklich eingeräumte Möglichkeit, so viele Konsultationen wie nötig anzusetzen, wird anders als in § 29 Abs. 1 EBRG ein den konkreten Gegebenheiten angepasstes Konsultationsverfahren ermöglicht. § 28 Abs. 1 S. 1 SEBG gewährleistet demzufolge eine effektive prozessbezogene Mitbestimmung gem. § 2 Abs. 10 und 11 SEBG542. Soweit an konkrete Vorhaben angeknüpft wird (vgl. § 28 Abs. 2 Nrn. 4 bis 10 SEBG), hat die SE-Leitung den Betriebsrat somit zu unterrichten, sobald sie sich zu deren Planung entschließt. Eine prozessbezogene Mitbestimmung ist auch im Rahmen des § 29 Abs. 1 S. 1 SEBG erforderlich543, dem trotz des weiten Anwendungsbereichs von § 28 SEBG eine eigenständige Funktion zukommt544. Zum einen erfasst die Norm auch nicht in § 28 Abs. 2 SEBG genannte Maßnahmen, soweit sie erhebliche Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitnehmer haben. Zum anderen verstärkt § 29 Abs. 4 SEBG das übliche Anhörungsverfahren um eine weitere Stufe und ermöglicht dem SE-Betriebsrat, ein weiteres Mal mit der Leitung zusammenzutreffen, wenn diese beschlossen hat, entgegen der Stellungnahme des Betriebsrates handeln zu wollen.

540

Vgl. oben § 3 A. IV. 2. a) aa). Vgl. oben § 3 B. I. 1. a). 542 Joost, EAS B 8200, Rn. 184; Nagel in: Nagel/Freis/Kleinsorge, Beteiligung der Arbeitnehmer auf der Grundlage europäischen Rechts, § 28 SEBG Rn. 3. 543 Ebenso Blanke/Rose, RdA 2008, S. 65, 72; Joost, EAS B 8200, Rn. 184. 544 Vgl. Nagel in: Nagel/Freis/Kleinsorge, Beteiligung der Arbeitnehmer auf der Grundlage europäischen Rechts, § 29 SEBG Rn. 3. 541

238

§ 3 Besonderer Teil

Da sowohl die Richtlinie 2003/72/EG545 als auch das Umsetzungsgesetz SCEBG weitgehend identisch ausgestaltet wurden546, gelten die vorstehenden Ausführungen ebenfalls für die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Genossenschaft (SCE).

C. Spannungsverhältnis mit der Kapitalmarktpublizität Bei den Informationen, die den betrieblichen Arbeitnehmervertretern im Rahmen der untersuchten Unterrichtungsvorschriften zur Verfügung zu stellen sind, kann es sich in börsennotierten Unternehmen zugleich auch um Insiderinformationen gem. § 13 Abs. 1 WpHG handeln. Das in diesem Fall enstehende Spannungsverhältnis zwischen Arbeits- und Kapitalmarktrecht soll im Folgenden erläutert und sachgemäß aufgelöst werden.

I. Die Ad-hoc-Publizität nach § 15 Abs 1 WpHG Ein Emittent von Finanzinstrumenten, die zum Handel an einer inländischen Börse zugelassen sind, muss gem. § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG ihn unmittelbar betreffende Insiderinformationen unverzüglich veröffentlichen547. Die Norm dient dem Abbau von Informationsasymmetrien und damit dem öffentlichen Interesse an einem transparenten und funktionsfähigen Kapitalmarkt548. Zum einen soll sie den Anlegern eine sachgemäße Bewertung ihrer Investitionsobjekte ermöglichen und damit zur Bildung realistischer Börsen- oder Marktpreise beitragen549. Zum anderen soll der verbotene Insiderhandel so weit wie möglich unterbunden werden550. Eine Insiderinformation ist gem. § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG eine konkrete Information über nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen. Die Information hat gem. § 13 Abs. 1 S. 2 WpHG Kursbeeinflussungspotential, wenn ein verständiger Anleger 545

ABl. EG (2003) L 207 S. 25 ff. Nagel in: Nagel/Freis/Kleinsorge, Beteiligung der Arbeitnehmer auf der Grundlage europäischen Rechts, § 1 SCEBG. 547 Die Norm geht auf Art. 6 Abs. 1 RL 2003/6/EG zurück (ABl. EG [2003] L-96 S. 16 ff.). 548 Bericht des Finanzausschusses zum 2. FMFG, BT-Drs. 12/7918, S. 96, 102; Schwark/ Zimmer/Zimmer/Kruse, KMRK, § 15 Rn. 6. 549 OLG Stuttgart v. 15. 2. 2007 – 901 Kap 1/06 – NZG 2007, S. 352, 354; Teichmann, Perspektiven der Corporate Governance, S. 402, 411 f. 550 Bericht des Finanzausschusses zum 2. FMFG, BT-Drs. 12/7918, S. 96; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 45 (abrufbar unter www.bafin.de); Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 32. 546

C. Spannungsverhältnis mit der Kapitalmarktpublizität

239

die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. § 13 Abs. 1 S. 3 WpHG stellt zudem klar, dass auch Umstände als Insiderinformationen gelten können, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. 1. Kursbeeinflussungspotential arbeitsrechtlich relevanter Maßnahmen Nach einer gebräuchlichen Formel hat eine Information ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential, wenn sie aus Sicht des Anlegers einen lohnenden Kaufoder Verkaufsanreiz darstellt551. Erforderlich ist insofern eine ex-ante Betrachtung aus der Perspektive eines börsenkundigen und mit den Marktgegebenheiten vertrauten Investors552. Tatsächliche Kursbeeinflussungen müssen nicht stattgefunden haben, gelten aber als Indiz bei der Bewertung des entsprechenden Potentials553. Die BaFin hat in ihrem Emittentenleitfaden einen Katalog veröffentlichungspflichtiger Insiderinformationen erstellt, der zur Orientierung dienen kann. Viele der dort genannten Maßnahmen unterliegen zugleich auch arbeitsrechtlichen Unterrichtungspflichten554. Dazu gehören die Veräußerung oder die Neuaufnahme von Kerngeschäftsfeldern, der Abschluss von Verschmelzungsverträgen, Eingliederungen, Ausgliederungen, Umwandlungen, Spaltungen, sowie andere Restrukturierungsmaßnahmen mit erheblichen Auswirkungen auf die künftige Geschäftstätigkeit555. Auch außerordentliche Aufwendungen bei Betriebsstilllegungen und Massenentlassungen können die Publizitätspflicht auslösen556. Die genannten Maßnahmen unterliegen ebenfalls den Unterrichtungspflichten aus den §§ 90 Abs. 1, 92 Abs. 1 S. 1, 106 Abs. 2, 111 S. 1 BetrVG und aus § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG. Zudem kommen bei grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die gesetzlichen Mitwirkungsvorschriften des EBRG, SEBG und SCEBG557 in Betracht. Inhaltliche Überschneidungen zwischen der Ad-hoc-Publizitätspflicht und arbeitsrechtlichen Unterrichtungspflichten sind deswegen durchaus denkbar. Letztlich ist aber stets am Einzelfall zu prüfen, ob die Veröffentlichung einer solchen Information zur Her-

551 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 13 Rn. 64 f.; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 35 (abrufbar unter www.bafin.de); Federlin, FS Hromadka, S. 69, 72; Schwark/Zimmer/ Zimmer/Kruse, KMRK, § 15 WpHG Rn. 50. 552 Bürgers/Körber/Holzborn, AktG, § 13 WpHG Rn. 7; Harbarth, ZIP 2005, S. 1898, 1902; Schwark/Zimmer/Kruse, KMRK, § 13 Rn. 44. 553 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 35 (abrufbar unter www.bafin.de); Harbarth, ZIP 2005, S. 1898, 1902. 554 Vgl. dazu ebenso Federlin, FS Hromadka, S. 69, 72; Forst, NZA 2009, S. 607, 609; GKBetrVG/Oetker, § 106 Rn. 122; Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 269 f. 555 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 53 (abrufbar unter www.bafin.de). 556 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 58 (abrufbar unter www.bafin.de). 557 §§ 29 Abs. 1 S. 1, 30 Abs. 1 S. 1 EBRG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SEBG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SCEBG.

240

§ 3 Besonderer Teil

beiführung einer erheblichen Kursveränderung geeignet ist und damit einen lohnenden Kauf- oder Verkaufsanreiz darstellt. 2. Planungen als Insiderinformation i. S. v. § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG Die vorstehend aufgeführten Maßnahmen eint die Tatsache, dass sie Ergebnis eines oft lange andauernden Planungsprozesses sind. Es stellt sich deswegen die Frage, wann eine Planung zu einer Insiderinformation im Sinne von § 13 Abs. 1 WpHG wird. Grundsätzlich hat die Anpassung des § 13 WpHG an die RL 2003/124/ EG durch das AnSVG558 zu einer Vorverlagerung der Publizitätspflicht geführt. Dies zeigt sich ganz deutlich an § 13 Abs. 1 S. 3 WpHG, der mittlerweile auch Umstände als Insiderinformationen gelten lässt, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eintreten werden. Mittlerweile sind deshalb auch Pläne, Vorhaben und Absichten erfasst559. Damit ist aber auch bereits der früheste denkbare Zeitpunkt abgesteckt. Erforderlich ist, dass sich die interne Willensbildung des Unternehmens zu einer Absicht oder zu einem Plan verdichtet hat560. Die Tatsache, dass sich die Unternehmensleitung oder eine beauftragte Fachabteilung in Planungen befindet, die gegebenenfalls einmal in den Entschluss zur Durchführung einer kursrelevanten Maßnahme münden, ist deswegen noch keine „konkrete Information“ im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 1 WpHG. Davon kann bei den hier relevanten Maßnahmen erst gesprochen werden, wenn die aus mehreren Personen bestehende Geschäftsleitung die Bildung eines einheitlichen und dem Unternehmen zurechenbaren Willens durch einen entsprechenden Beschluss zum Ausdruck gebracht hat. Wie sich aus einem Umkehrschluss aus Art. 3 Abs. 1 lit. b) RL 2003/124/EG bzw. § 6 S. 2 Nr. 2 WpAIV ergibt, kann eine Insiderinformation aber schon vorliegen, wenn es sich bei der Planung um einen mehrstufigen Entscheidungsprozess handelt und noch die Zustimmung eines anderen Gesellschaftsorgans aussteht561. Dem liegt 558

BGBl. vom 29. 10. 2004 (Nr. 56) S. 2630 ff. OLG Stuttgart v. 15. 2. 2007 – 901 Kap 1/06 – NZG 2007, S. 352, 357; BGH v. 25. 2. 2008 – II ZB 9/07 – NZG 2008, S. 300, 303; OLG Frankfurt a. M. v. 12. 2. 2009 – 2 Ss-OWi 514/08 – NJW 2009, S. 1520, 1521; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 33 (abrufbar unter www.bafin.de); Harbarth, ZIP 2005, S. 1898, 1901; MüKo-StGB-IV/Pananis, § 38 WpHG, Rn. 39; Schwark/Zimmer/Kruse, KMRK, § 13 WpHG Rn. 56; Tollkühn, ZIP 2004, S. 2215, 2216. 560 Vgl. dazu die Definition des OLG Frankfurt a. M. v. 12. 2. 2009 – 2 Ss-OWi 514/08 – NJW 2009, S. 1520, 1521; ebenso BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 33 (abrufbar unter www.bafin.de); Kowalewski, Das Vorerwerbsrecht der Mutteraktionäre, MüKo-StGB-IV/Pananis, § 38 WpHG, Rn. 40; S. 153; Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 271; Schwark/Zimmer/ Zimmer/Kruse, KMRK, § 13 WpHG Rn. 56; zum alten Recht ebenso Schleifer/Kliemt, BB 1995, S. 2214, 2217. 561 Vgl. auch BT-Drs. 15/3174, S. 35; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 33 (abrufbar unter www.bafin.de); Diekmann/Sustmann, NZG 2004, S. 929, 935; Davon abzugrenzen ist die Frage, wann bei sog. „gestreckten Geschehensabläufen“ eine Insiderinformation vorliegt. 559

C. Spannungsverhältnis mit der Kapitalmarktpublizität

241

die gesetzgeberische Sichtweise zugrunde, dass die Umsetzung der beschlossenen Maßnahme auch ohne die erteilte Zustimmung bereits hinreichend wahrscheinlich im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 3 WpHG ist. Auch der Schutzzweck der Regelungen über den Insiderhandel gebietet diese Auslegung. Die Mitglieder der Unternehmensleitung dürften andernfalls Aktien ihres eigenen Unternehmens erwerben, obwohl sie bereits eine kursrelevante Maßnahme beschlossen haben562. Dem Emittenten bleibt zum Schutz seiner berechtigten Belange dann nur noch die Möglichkeit zur Selbstbefreiung gem. § 15 Abs. 3 S. 1 WpHG. In Anbetracht dieser Wertung kann die Qualifikation der unternehmerischen Entscheidung als Insiderinformation erst recht nicht von der Erforderlichkeit einer Beteiligung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen abhängig gemacht werden563. Bei den hier untersuchten Vorschriften handelt es sich ausnahmslos um Mitwirkungsrechte, weshalb die Unternehmensleitung die geplante Maßnahme auch gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter durchführen kann. Im Vergleich zur ausstehenden Zustimmung eines gesellschaftsrechtlich zuständigen Kontrollorgans ist die Eintrittswahrscheinlichkeit im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 3 WpHG hier deutlich höher. 3. Befreiung von der Publizitätspflicht und Rechtsfolgen Stellt der Emittent das Vorliegen einer Insiderinformation fest, so hat er diese gem. § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG unverzüglich zu veröffentlichen564. § 15 Abs. 3 WpHG Gestreckte Geschehensabläufe sind ebenso wie mehrstufige Entscheidungsprozesse Vorgänge, bei denen über mehrere Zwischensschritte ein bestimmter Erfolg herbeigeführt werden soll. Die eigentliche Entscheidung wird dabei aber anders als bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen erst auf der letzten Stufe getroffen (vgl. OLG Stuttgart v. 15. 2. 2007 – 901 Kap 1/06 – NZG 2007, S. 352, 357). Anlass der Diskussion war die Absicht des ehemaligen DaimlerChryslerVorstandssprechers Jürgen Schrempp, seinen Vertrag vorzeitig beenden zu wollen. Bevor dieses Begehren vom insofern allein entscheidungsbefugten Aufsichtsrat gebilligt wurde, fanden zahlreiche Gespräche und Vorbereitungshandlungen statt, die die Wahrscheinlichkeit des Ausscheidens sukzessive erhöhten. Ob und wenn ja, wann vor der Entscheidung des Aufsichtsrats eine Insiderinformation vorlag, ist in Rechtsprechung und Literatur höchst umstrittenen (vgl. dazu EuGH v. 28. 6. 2012 – Rs. C-19/11 Geltl – NZG 2012, S. 784 ff.; BGH v. 22. 10. 2010 – II ZB 7/09 – NZG 2011, S. 109 ff.; Fleischer, NZG 2007, S. 401 ff.; Klöhn, NZG 2011, S. 166 ff.; Schwark/Zimmer/Kruse, KMRK, § 13 WpHG Rn. 10 ff.). Entgegen dem ersten Anschein spielt diese Diskussion für die vorliegende Untersuchung aber keine Rolle. Auch „gestreckte Geschehensabläufe“ werden erst durch die Absicht eines maßgeblich am Entscheidungsprozess Beteiligten eingeleitet. Im Fall DaimlerChrysler war es der Wunsch des Vorstandssprechers, seinen Vertrag vorzeitig zu beenden. Handelt es sich aber um die Planung arbeitsrechtlich relevanter Maßnahmen, so ist zur Bildung einer der Gesellschaft zurechenbaren und insiderrechtlich relevanten Absicht ein gemeinsamer Willensentschluss des geschäftsführenden Organs erforderlich. 562 Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 270. 563 Ebenso Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 270 f. 564 Ein Verstoß gegen die Publizitätspflicht kann gem. § 39 Abs. 2 Nr. 5 lit. a) WpHG mit einem Bußgeld von bis zu einer Million Euro belegt werden. Für die Mitglieder des geschäftsleitenden Organs kommt eine Bestrafung aus § 130 Abs. 1 OWiG in Betracht (Assmann/

242

§ 3 Besonderer Teil

sieht aber eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor. Der Emittent kann die Veröffentlichung gem. § 15 Abs. 3 WpHG zurückhalten, solange es der Schutz seiner berechtigten Interessen erfordert, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und die Vertraulichkeit der Insiderinformation gewährleistet werden kann. Die Befreiung tritt dabei nicht kraft Gesetzes ein, sondern ist, wie sich aus § 8 Abs. 5 Nr. 2 WpAIV ergibt, durch einen Beschluss des geschäftsführenden Organs herbeizuführen565. Grund für eine Verzögerung kann unter anderem sein, „dass die für die Wirksamkeit der Maßnahme erforderliche Zustimmung eines anderen Organs des Emittenten noch aussteht, und dies die sachgerechte Bewertung der Information durch das Publikum gefährden würde.“566 Hinsichtlich des Aufsichtsrats soll es sich nach herrschender Ansicht dabei nicht um eine Ausnahme, sondern vielmehr um den Regelfall handeln567. Dieser müsste ansonsten in seine Entscheidung „nicht nur seine Beurteilung der Sache, sondern auch die gar nicht von dieser zu trennende Wirkung seines Handelns“568 auf die Kapitalmärkte mit einbeziehen. So würde eine Verweigerung der Zustimmung den Vorstand und das Unternehmen insgesamt in der Öffentlichkeit diskreditieren und deswegen nur in Betracht kommen, wenn massive Bedenken gegen die Entscheidung bestehen569. Die damit einhergehende generelle Schwächung der Entscheidungsfreiheit des Aufsichtsrates wäre eine Verletzung der aktienrechtlichen Organisationsverfassung und würde insbesondere den durch das TransPuG eingefügten § 111 Abs. 4 S. 2 AktG konterkarieren570. Zudem hätten auch die Anleger unter dem Gesichtspunkt guter Corporate Governance ein Interesse an einer unvoreingenommenen Prüfung571.

Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 291). Zudem können sie von der Gesellschaft gem. § 93 Abs. 1 AktG in Anspruch genommen werden (Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, Rn. 423). Die Anleger können Schadensersatzansprüche aus den §§ 37b, 37c WpHG geltend machen. Als weitere Anspruchsgrundlagen kommen §§ 823 Abs. 2 i. V. m. 263 StGB, §§ 823 Abs. 2 i. V. m. 400 AktG und § 826 BGB in Betracht. 565 BaFin, Emittentenleitfaden 2009, S. 65. 566 § 6 S. 2 Nr. 2 WpAIV; vgl. ebenso BT-Drs. 15/3174, S. 35. 567 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 143; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 54 f. (abrufbar unter www.bafin.de); Harbarth, ZIP 2005, S. 1898, 1905; Merkner/Sustmann, NZG 2005, S. 729, 737; Möllers, WM 2005, S. 1393, 1396; Schwark/Zimmer/Zimmer/Kruse, KMRK, § 15 WpHG Rn. 63 f. 568 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 144a. 569 Vgl. Messerschmidt, BB 2004, S. 2538, 2539. 570 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 144; BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 54 f. (abrufbar unter www.bafin.de); Merkner/Sustmann, NZG 2005, S. 729, 737; Messerschmidt, BB 2004, S. 2538, 2539; Möllers, WM 2005, 1393, 1398; Schneider, BB 2005, S. 897, 899; Teichmann, Perspektiven der Corporate Governance, S. 402, 427 f.; Veith, NZG 2005, S. 254, 256. 571 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 54 f. (abrufbar unter www.bafin.de).

C. Spannungsverhältnis mit der Kapitalmarktpublizität

243

II. Konflikte mit arbeitsrechtlichen Unterrichtungsvorschriften Fraglich ist zunächst, welche Unterrichtungsvorschriften überhaupt in zeitlicher Hinsicht mit dem Kapitalmarktrecht korrelieren können. Keine Überschneidungen werden sich mit denjenigen Normen ergeben, die nach hier vertretener Auffassung eine prozessbezogene Mitbestimmung anordnen572. Die in deren Rahmen erforderlichen Beratungen müssen bereits abgeschlossen sein, bevor eine Entscheidung über das „Ob“ bzw. das „Wie“ der Maßnahme getroffen wurde. Erst nach dieser Entscheidung wird aber eine Planung zur Insiderinformation im Sinne von § 13 Abs. 1 WpHG, weshalb ein Konflikt im Regelfall nicht gegeben ist573. Zeitliche und inhaltliche Überschneidungen sind lediglich mit § 111 S. 1 BetrVG in Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern574 gegeben, der eine Beteiligung erst nach dem Beschluss der Unternehmensleitung anordnet. Wird dieser Beschluss allerdings gem. § 15 Abs. 1 WpHG unverzüglich publik gemacht, wird eine sinnvolle Einflussnahme des Betriebsrates erheblich erschwert575. Die in betriebswirtschaftlicher und psychologischer Hinsicht ohnehin nur noch kleine Chance, die Leitung umzustimmen576, wäre dann noch weiter verringert. So kann zwar den rechtlichen Konsequenzen erheblicher Kursschwankungen bei einer nachträglichen Entscheidungänderung (vgl. §§ 20 Abs. 1 Nr. 1, 37c Abs. 1 WpHG) durch einen Mitbestimmungsvorbehalt begegnet werden. Die Unternehmensleitung befindet sich durch ihre Festlegung aber in einer noch größeren Zwangslage als der Aufsichtsrat, der erst nach der ad-hoc-Mitteilung hinzugezogen wird. Der Betriebsrat müsste Ersteren nicht nur argumentativ überzeugen, den öffentlichen „Gesichtsverlust“577 einer Änderung in Kauf zu nehmen, er müsste ihn auch noch überzeugen, von seiner eigenen Entscheidung abzurücken, was in psychologischer Hinsicht ungleich schwieriger ist. Die Unterrichtung gem. § 111 S. 1 BetrVG nach oder gleichzeitig mit einer ad-hoc-Mitteilung ist demzufolge nicht mehr rechtzeitig.

III. Auflösung des Spannungsverhältnisses Als Ausweg aus diesem Spannungsverhältnis sind zwei Alternativen denkbar: 572

§§ 90 Abs. 1, 92 Abs. 1 S. 1, 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG; 17 Abs. 2 S. 1 KSchG; 29 Abs. 1 S. 1, 30 Abs. 1 S. 1 EBRG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SEBG; 28 Abs. 1 S. 1, 29 Abs. 1 S. 1 SCEBG. 573 Hinsichtlich § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG ebenso FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 32; GKBetrVG/Oetker, § 106 Rn. 113; HWK/Willemsen/Lembke, BetrVG, § 106 Rn. 35; Schleifer/ Kliemt, DB 1995, S. 2214, 2219. 574 Vgl. dazu § 3 A. IV. 2. d). 575 Ebenso Forst, NZA 2009, S. 294, 296; diesen Aspekt vernachlässigen Federlin (FS Hromadka, S. 67, 80) und Röder/Merten (NZA 2005, S. 268, 272). 576 Vgl. dazu oben § 2 B. III. 5. 577 Messerschmidt, BB 2004, S. 2538, 2539.

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§ 3 Besonderer Teil

1. Vorverlagerung des Beteiligungsverfahrens Einerseits könnte der Betriebsrat ebenso wie der Wirtschaftsausschuss bereits an dem der Beschlussfassung vorgelagerten Entscheidungsprozess beteiligt werden. Eine rechtzeitige Unterrichtung wäre dann gewährleistet. Die Durchführung des Einigungsstellenverfahrens gem. § 112 Abs. 2 BetrVG vor der Entscheidung für eine Betriebsänderung kommt hingegen nicht in Betracht. Angesichts seines Charakters als formalisiertes und moderiertes Beratungsverfahren ist die Einleitung erst nach dem Scheitern der „freien Verhandlungen“578 sinnvoll. Von einem „Scheitern“ kann aber frühestens gesprochen werden, wenn sich die Leitung entgegen der Aurgumentation des Betriebsrates für eine Betriebsänderung entscheidet. Im Übrigen werden zu diesem Zeitpunkt meist auch noch nicht alle Umsetzungsmodalitäten feststehen, die aber ebenso in der Einigungsstelle zu behandeln sind. Das Einigungsstellenverfahren kann somit erst nach dem Beschluss der Betriebsänderung und damit auch erst nach der Veröffentlichung gem. § 15 Abs. 1 WpHG durchgeführt werden. Fraglich ist allerdings, ob ein von Anfang an mit dieser Festlegung belastetes Verfahren als ausreichender „Versuch“ im Sinne von § 113 Abs. 3 BetrVG gelten kann. Insofern wird neben der Ausschöpfung des Verfahrens in § 112 Abs. 2 BetrVG gefordert, dass die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden579. Entscheidend sei dafür aber nur, dass noch keine rechtlich oder wirtschaftlich irreversiblen Rechtshandlungen vorgenommen wurden, die das „Ob“ und „Wie“ der Betriebsänderung vorwegnehmen580. Noch nicht einmal die Einstellung der betrieblichen Tätigkeit und Freistellung des Großteils der Arbeitnehmer löse deshalb den Nachteilsanspruch aus, da beide Maßnahmen noch rückgängig gemacht werden können581. Auf die faktische Offenheit des Arbeitgebers für abweichende Lösungen in der Einigungsstelle wird hingegen nicht abgestellt. Dies wäre auch verfehlt, handelt es sich doch um ein Verfahren, das nach dem Scheitern von Beratungen über eine Betriebsänderung stattfindet, für die sich der Arbeitgeber eigenständig entschieden hat. Auch ein nach Veröffentlichung der ad-hoc-Mitteilung durchgeführtes Einigungsstellenverfahren kann demnach den gesetzlichen Anforderungen genügen. Die Vorverlegung des Unterrichtungszeitpunktes im Rahmen von § 111 S. 1 BetrVG ist demnach ein tauglicher Ausweg aus der geschilderten Konfliktlage.

578

WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 182. BAG v. 4. 6. 2003 – 10 AZR 586/02 – AP InsO § 209 Nr. 2; GK-BetrVG/Oetker, § 113 Rn. 40; Rebel, Grundprobleme des Nachteilsausgleichs, S. 138. 580 BAG v. 4. 12. 2002 – 10 AZR 16/02 – AP InsO § 38 Nr. 2; BAG v. 4. 6. 2003 – 10 AZR 586/02 – AP InsO § 209 Nr. 2; BAG v. 22. 7. 2007 – 1 AZR 541/02 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 42; BAG v. 30. 05. 2006 – 1 AZR 25/05 – AP BetrVG InsO § 209 Nr. 5. 581 Vgl. BAG v. 30. 05. 2006 – 1 AZR 25/05 – AP BetrVG InsO § 209 Nr. 5. 579

C. Spannungsverhältnis mit der Kapitalmarktpublizität

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2. Selbstbefreiung von der Publizitätspflicht Eine weitere Möglichkeit ist die Selbstbefreiung der Unternehmensleitung von der Publizitätspflicht gem. § 15 Abs. 3 S. 1 WpHG bis zum Abschluss der Beratungen582. Die Norm lässt ein Aufschieben der Veröffentlichung solange zu, wie es der Schutz der berechtigten Interessen des Emittenten erfordert, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und die Vertraulichkeit der Information gewährleistet werden kann. Die Unterrichtung der Arbeitnehmervertreter wäre in diesem Fall nach ganz herrschender Meinung nicht unbefugt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 WpHG, da sie der Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht dient583. a) Berechtigte Interessen des Emittenten Berechtigte Interessen in diesem Sinne liegen gem. § 6 S. 1 WpAIV vor, „wenn die Interessen des Emittenten an der Geheimhaltung der Information die Interessen des Kapitalmarktes an einer vollständigen und zeitnahen Veröffentlichung überwiegen.“ Die BaFin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in Anbetracht der erheblichen Vorverlagerung der Publizitätspflicht durch das AnSVG keine sehr hohen Anforderungen an die Interessen des Emittenten zu stellen sind584. Auf dessen Seite streitet dabei in erster Linie das Interesse an der Erfüllung seiner gesetzlichen Pflichten, denen er ohne Befreiung nicht mehr ordnungsgemäß nachkommen könnte, was wiederum das Risiko eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens gem. § 121 Abs. 1 BetrVG mit sich bringen würde. Auch das grundsätzlich partnerschaftliche Verhältnis zum Betriebsrat (§ 2 Abs. 1 BetrVG) sähe sich ohne Befreiung erheblichen Belastungen ausgesetzt, da das Ergebnis der Beratungen bereits nahezu vollständig determiniert wäre. Andererseits erhöht der Aufschub der Veröffentlichung das Risiko des Insiderhandels und perpetuiert den Geschäftsverkehr mit „falschen“ Börsenkursen585. Setzt man beide Positionen ins Verhältnis, so überwiegt deutlich das Befreiungsinteresse des Emittenten. Am stärksten fällt dabei ins Gewicht, dass die Kapitalmarktöffentlichkeit kein Interesse an rechtswidrigem Verhalten haben kann. Auch zeigt die Regelung in § 6 S. 2 Nr. 2 WpAIV, dass das Kapitalmarktrecht Rücksicht auf die Willensbildungsstrukturen der Unternehmensverfassung nimmt586. Ferner 582

Vgl. dazu ebenfalls Forst, NZA 2009, S. 294, 297; ders., NZA 2010, S. 144, 147. Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 14 Rn. 80 f.; Bürgers/Körber/Holzborn, AktG, § 14 WpHG Rn. 5; Federlin, FS Hromadka, S. 69, 76 f.; FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 35; GKBetrVG/Oetker, § 106 Rn. 122; HWK/Willemsen/Lemke, BetrVG, § 106 Rn. 32; Löwisch, FS Konzen, S. 533, 538 f.; Schleifer/Kliemt, BB 1995, S. 2214, 2216 f.; Richardi/Annuß, BetrVG, § 106 Rn. 32; Schwark/Zimmer/Schwark/Kruse, KMRK, § 14 WpHG Rn. 50; WHSS/ Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 368. 584 BaFin, Emittentenleitfaden 2013, S. 60 f. (abrufbar unter www.bafin.de). 585 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 156; Schwark/Zimmer/Zimmer/Kruse, KMRK, § 15 WpHG Rn. 57. 586 Vgl. ähnlich Forst, NZA 2010, S. 144, 147. 583

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§ 3 Besonderer Teil

erreicht die mit einer Befreiung verbundene Publizitätbeschränkung kein Maß, das zur Rechtfertigung einer gegenteiligen Beurteilung geeignet ist. Wie vorstehend erläutert, ist es nicht erforderlich, das Einigungsstellenverfahren komplett zu durchlaufen. Dem Betriebsrat muss nur (abhängig von der Komplexität der Betriebsänderung) ausreichend Zeit verbleiben, um sich mit den Vorstellungen des Unternehmers sachgemäß auseinanderzusetzen, Alternativvorschläge auszuarbeiten und dessen Entscheidung in einem Meinungsaustausch beeinflussen zu können. Nach dem Abschluss der freien Verhandlungen ist § 111 S. 1 BetrVG Genüge getan und die Insiderinformation kann veröffentlicht werden. Üblicherweise wird die Unternehmensleitung die Information ohnehin für einen gewissen Zeitraum zurückhalten, um die Zustimmung des Aufsichtsrates oder eines anderen Kontrollorgans einzuholen. Werden beide Gremien unverzüglich nach dem Beschluss informiert und parallel beteiligt, wird die zeitliche Differenz im Vergleich zum gesetzlichen Regelfall in § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 WpAIV nicht über die Maßen ins Gewicht fallen. b) Keine Irreführung der Öffentlichkeit Ferner darf keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten sein. Teilweise wird diesem Tatbestandsmerkmal eine eigenständige Bedeutung abgesprochen, da das Interesse der Öffentlichkeit bereits im Rahmen der Abwägung mit dem Geheimhaltungsinteresse des Emittenten zu berücksichtigen ist587. Nach anderer Auffassung ist eine Irreführung nur dann zu befürchten, wenn der Emittent während des Befreiungszeitraumes Signale setzt, die zu der unveröffentlichten Information in Widerspruch stehen oder wenn er erkennt, dass solche widersprüchlichen Informationen im Umlauf sind588. Im Regelfall dürfte durch die Befreiung bis zum Abschluss der Beratungen deswegen keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten sein589. c) Gewährleistung der Vertraulichkeit Zuletzt ist erforderlich, dass der Emittent während der Beratungen die Vertraulichkeit der Insiderinformationen gewährleisten kann, um der Gefahr unzulässigen Insiderhandels vorzubeugen. Gem. § 7 Abs. 1 WpAIV sind dafür wirksame Vorkehrungen zu treffen, damit nur Personen Zugang zu Insiderinformationen erhalten, deren Kenntnis für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerlässlich ist590. Es bereitet keine Schwierigkeiten, Betriebsräte unter diesen privilegierten Personenkreis zu subsumieren591. Das gleiche gilt für Mitglieder des Wirtschaftsausschusses, deren 587

Schwark/Zimmer/Zimmer/Kruse, KMRK, § § 15 Rn. 66 ff.; Simon, Der Konzern 2005, S. 13, 20. 588 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 15 Rn. 160. 589 Ebenso Forst, NZA 2009, S. 294, 297. 590 Vgl. dazu auch EuGH v. 22. 11. 2005 – Rs. C-384/02 Grøngaard und Bang – Slg. 2005, I9939. 591 Vgl. nur Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 14 Rn. 80 f.

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Kenntnisse aus den vorgelagerten Beratungen mit dem Beschluss der Leitung zu Insiderinformationen geworden sind. Die entsprechenden Personen sind gem. §§ 15b Abs. 1 WpHG i. V. m. 14 ff. WpAIV in das Insiderverzeichnis des Emittenten aufzunehmen und über die rechtlichen Plichten und Folgen von Verstößen aufzuklären, die sich aus dem Zugang zu Insiderinformationen ergeben. Die unbefugte Weitergabe von Insiderinformationen wird mit erheblichen Sanktionen belegt. Bei vorsätzlichem Handeln droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe (§§ 38 Abs. 1 Nr. 2c i. V. m. 39 Abs. 2 Nr. 3 WpHG) und bei leichtfertigem Handeln eine Geldstrafe von bis zu 200.000 Euro (§ 39 Abs. 4 WpHG). Werden die Informationen zugleich gem. § 79 Abs. 1 S. 1 BetrVG als geheimhaltungsbedürftig deklariert, droht zudem eine Bestrafung aus § 120 Abs. 1 BetrVG. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Insiderkreis durch die Beteiligung betrieblicher Arbeitnehmervertreter nicht unerheblich vergrößert wird. Teilweise wird deswegen vertreten, dass das Risiko des „Durchsickerns“ von Informationen damit ein derart hohes Maß erreiche, dass die Geheimhaltung faktisch nicht mehr gewährleistet sei592. Auch sei es im eigenen Interesse der Arbeitnehmervertreter, diese nicht mit der Bürde von Insiderinformationen zu belasten. Es müsse „sehr in Zweifel gezogen werden“593, dass das einzelne Mitglied zwischen vertraulichen und nichtvertraulichen Informationen trennen kann594. Außerdem übe die Belegschaft erheblichen Druck aus, um möglichst umfassend über geplante Maßnahmen informiert zu werden595. Die Überlassung von Insiderinformationen würde „im Ergebnis eine unangemessene Überforderung der Mitglieder von Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss darstellen.“596 Sie müssten deshalb vor den erheblichen strafrechtlichen Konsequenzen eines Verstoßes geschützt werden. Die vorstehend dargestellten Ausführungen halten einer näheren Betrachtung nicht stand. Zunächst bieten weder das WpHG noch das BetrVG Anknüpfungspunkte für generelle Informationsbeschränkungen. Erforderlich ist immer eine konkrete Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung der jeweiligen Gefähr-

592 Federlin, FS Hromadka, S. 69, 78; Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 271 f.; Die genannten Autoren ziehen aus ihrer Behauptung die Schlussfolgerung, dass Insiderinformationen aus der Informationsverpflichtung gem. §§ 106 Abs. 2 S. 1, 111 S. 1 BetrVG generell auszuklammern sind. Eine konkrete Norm, auf die sich diese Beschränkung stützen ließe, wird allerdings nicht angeführt. Das verwundert insofern nicht, als eine solche schlichtweg nicht existiert. Die einzige Vorschrift im BetrVG, die das Zurückhalten von Informationen wegen Geheimhaltungsbedenken ermöglicht, ist § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG. In dessen Rahmen sind aber tatsächliche und nicht nur abstrakte Anhaltspunkte für eine Gefährdung erforderlich (vgl. dazu ausführlich oben § 2 B. III. 5. e) bb); ebenso WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 368). 593 Federlin, FS Hromadka, S. 69, 79. 594 Ebenso Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 272. 595 Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 272. 596 Röder/Merten, NZA 2005, S. 268, 272; ebenso Federlin, FS Hromadka, S. 69, 79.

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§ 3 Besonderer Teil

dungslage597. Aber auch wenn man eine generelle Beschränkung für möglich hält, ist das Argument, die Geheimhaltung sei nach „Einweihung“ der Arbeitnehmervertreter faktisch nicht mehr zu gewährleisten, trotzdem nicht mehr als eine bloße Behauptung. Solange diese nicht mittels gesicherter Erkenntnisse nachgewiesen wird, kann ein übermäßiges, abstraktes Gefährdungspotential in Anbetracht der gravierenden strafrechtlichen Sanktionen nicht einfach unterstellt werden. Im Übrigen entspricht diese Sichtweise auch der herrschenden Auffassung in der arbeits-598 und kapitalmarktrechtlichen599 Literatur. Ferner leuchtet nicht ein, warum die Betriebsräte im Vergleich zu anderen Insidern in besonderem Maße vor dem Damoklesschwert kapitalmarktrechtlicher Strafvorschriften zu schützen seien. Auch letztere müssen bei ihrer unternehmensinternen und -externen Kommunikation permanent den Vertraulichkeitsstatus ihres Gegenübers und der weitergegebenen Informationen prüfen. Wieso Arbeitnehmervertreter von dieser Aufgabe überfordert sein sollen, ist nicht nachvollziehbar. Dies gilt vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass § 79 Abs. 1 BetrVG den Betriebsräten und Mitgliedern des Wirtschaftsausschusses die Fähigkeit zur Geheimniswahrung ausdrücklich zutraut600. Grundsätzlich ist deswegen in der Weitergabe von Insiderinformationen an betriebliche Arbeitnehmervertreter keine rechtswidrige Gefährdung der Geheimhaltung von Insiderinformationen zu erkennen. Nur wenn im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für „Informationslecks“ (sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite) bestehen, ist die Befreiung von der Publizitätspflicht gem. § 15 Abs. 3 WpHG ausgeschlossen. Die dann erforderliche Veröffentlichung der Insiderinformation ist ein Verstoß gegen die Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung und Beratung, da die §§ 111 ff. BetrVG keine Möglichkeit bieten, Informationen aufgrund von Geheimhaltungsbedenken zurückzuhalten. Der in diesen Fällen bestehende Normkonflikt ist deswegen nicht mehr auflösbar. Die Geschäftsleitung kann sich allerdings auf eine rechtfertigende Pflichtenkollision601 berufen und muss deshalb keine Bestrafung aus § 121 Abs. 1 BetrVG befürchten. Angesichts des signifikant höheren Strafmaßes ist die Vermeidung des Insiderhandels als höherwertigere Pflicht anzusehen. 597

Löwisch, FS Konzen, S. 533, 538 f.; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 368. 598 Explizit: Löwisch, FS Konzen, S. 533, 538 f.; Richardi/Annuß, BetrVG, § 106 Rn. 32; WHSS/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung, S. 368; Implizit: FESTL, BetrVG, § 106 Rn. 35; GK-BetrVG/Oetker, § 106 Rn. 122; HWK/Willemsen/Lemke, BetrVG, § 106 Rn. 32. 599 Assmann/Schneider/Assmann, WpHG, § 14 Rn. 80 f.; Bürgers/Körber/Holzborn, AktG, § 14 WpHG Rn. 5; Schleifer/Kliemt, BB 1995, S. 2214, 2216 f.; Schwark/Zimmer/Schwark/ Kruse, KMRK, § 14 WpHG Rn. 50. 600 Ebenso Löwisch, FS Konzen, S. 533, 539. 601 Vgl. dazu KK-OWiG/Rengier, Vorbem. §§ 15, 16, Rn. 3 ff.; MüKo-StGB I/Erb, § 34 Rn. 36 ff.

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IV. Ergebnis Sollte die Information, dass sich eine börsennotierte Gesellschaft zur Durchführung einer Betriebsänderung entschieden hat, ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential aufweisen, so besteht ein Spannungsverhältnis zwischen § 15 Abs. 1 S. 1 WpHG und § 111 S. 1 BetrVG. Für dessen Auflösung stehen der Unternehmensleitung zwei Alternativen zur Verfügung. Entweder sie wird präventiv tätig und führt bereits vor ihrer Entscheidung ein Beteiligungsverfahren durch, oder sie beschließt ihre Befreiung von der Publizitätspflicht gem. § 15 Abs. 3 WpHG bis zum Abschluss der Beratungen. Ein echter Normkonflikt ist nur bei Bestehen eines konkreten Gefährdungspotentials für die Geheimhaltung der Insiderinformation gegeben. Der Verstoß gegen § 111 S. 1 BetrVG ist dann aber nicht rechtswidrig, da sich der Arbeitgeber auf eine rechtfertigende Pflichtenkollision berufen kann.

§ 4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse A. Allgemeiner Teil 1. Richterliche und wissenschaftliche Rechtsfindung unterliegt einem Rationalitätsgebot, das den Interpreten verpflichtet, den schöpferischen Anteil seiner Rechtsarbeit so weit wie möglich zurückzudrängen. Die Ausfüllung der Normen darf nicht politischen Präferenzen und Alltagstheorien überlassen werden. 2. Große Bedeutung für eine rationale Rechtsfindung hat der von einer Vorschrift umfasste Normbereich. Dessen Strukturen können deutlich machen, mittels welcher Auslegung der Zweck einer Vorschrift am effektivsten in der Realität umgesetzt werden kann. Zur Erhellung dieser Strukturen bieten vor allem die Nachbarwissenschaften wertvolle Erkenntnisse. 3. Eine betriebliche Arbeitnehmervertretung wird rechtzeitig unterrichtet, wenn sie eine realistische Chance zur Einflussnahme auf die Entscheidung des Arbeitgebers erhält. Dies ist nur der Fall, wenn die Beeinflussung noch betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvoll möglich ist. Zur Konkretisierung des Unterrichtungszeitpunktes ist deshalb eine wissenschaftlich fundierte Betrachtung unternehmerischer Entscheidungsprozesse erforderlich. 4. Unternehmerische Entscheidungsprozesse sind ebenso wie alle anderen menschlichen Entscheidungsprozesse durch gewisse Grundstrukturen gekennzeichnet, die in Phasenmodellen dargestellt werden können. Unter Berücksichtigung ihrer Defizite können diese Schemata zur Kennzeichnung des Unterrichtungszeitpunktes verwendet werden. 5. Unternehmen werden mit steigender Größe durch ein zunehmend komplexes System interdependenter Teilpläne gesteuert. Handlungsbeschränkungen aus übergeordneten Planungsebenen können die endgültige Entscheidung dabei bereits weitgehend determinieren. 6. Reale Entscheidungsprozesse weichen teilweise erheblich vom rationalen ökonomischen Verhaltensmodell ab. Auch das gesetzgeberische Verhaltensmodell geht von kognitiv begrenzten und fehlerhaften Entscheidungsprozessen aus, da die argumentative Einflussnahme auf einen vollständig rational entscheidenden homo oeconomicus nicht möglich ist. Aufgabe der betrieblichen Arbeitnehmervertretung ist es demzufolge, die Rationalität des unternehmerischen Entscheidungsprozesses im Hinblick auf Arbeitnehmerinteressen zu sichern.

B. Besonderer Teil

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7. Je später die betrieblichen Arbeitnehmervertreter in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, desto aussichtsloser ist eine erfolgreiche Einflussnahme. Der Arbeitgeber verteidigt seine präferierte Lösung umso stärker, je mehr Ressourcen er bereits investiert hat, je mehr bestätigende Informationen er gesammelt hat und je stärker er unter Zeitdruck steht. Zur Realisierung einer Alternativlösung wäre zudem meist eine komplette oder zumindest teilweise Neuplanung erforderlich, der mit Voranschreiten des Prozesses immer größere wirtschaftliche Hindernisse entgegenstehen. 8. Um eine betriebswirtschaftlich und psychologisch sinnvolle Einflussnahme zu ermöglichen, ist eine Arbeitnehmerbeteiligung an dem der Entscheidung vorgelagerten Planungsprozess erforderlich. 9. Für die Aktivierung der Unterrichtungspflicht muss ein hinreichend konkreter Bezug zur beteiligungspflichtigen Planung gegeben sein. Die Unterrichtungspflicht setzt deshalb ein, wenn der Arbeitgeber eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme ernsthaft als Lösung in Betracht zieht und sich zu deren Planung entschließt.

B. Besonderer Teil 1. Die Rahmenrichtlinie 2002/14/EG ist von einer beschäftigungspolitischen Konzeption getragen, die Informations- und Konsultationspflichten als Mittel zur Wirtschaftsförderung ansieht. Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise und in Anbetracht von Erwägungsgründen und dem Normtext der Richtlinie ist in deren Anwendungsbereich eine Unterrichtung geboten, sobald sich der Arbeitgeber zur Planung einer mitbestimmungspflichtigen Maßnahme entschlossen hat. 2. Die vom BAG für § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG entwickelte Definition des Unterrichtungszeitpunktes gewährt dem Wirtschaftsausschuss zwar eine prozessbezogene Mitbestimmung, ist aber im Übrigen zu vage, um eine rechtssichere Lösung zu ermöglichen. Die herrschende Meinung in der Literatur plädiert für eine Unterrichtung nach dem Abschluss des unternehmerischen Willensbildungsprozesses, vernachlässigt dabei aber die Anforderungen der RL 2002/14/EG und die gesetzliche Gewährleistung eines Beteiligungsverfahrens mit hinreichend realistischen Erfolgsaussichten. Die Unterrichtung hat gem. § 106 Abs. 2 S. 1 BetrVG unverzüglich stattzufinden, sobald sich der Unternehmer zur Planung entschlossen hat. 3. Eine teleologische Reduktion der Beratungspflicht kommt im Rahmen des § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG nicht in Betracht, da der Wirtschaftsausschuss zumindest mittelbar über den Unternehmer Einfluss auf die Anteilsveräußerung nehmen kann. Wird die Unternehmensleitung in die Transaktion einbezogen, ist der Wirtschaftsausschuss in einem Bieterverfahren nach der Abgabe der finalen Angebote und bei Exklusivverhandlungen nach dem erfolgreichen Abschluss der Due Diligence zu unterrichten. Wird die Unternehmensleitung ausgeschlossen, ist der Wirt-

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§ 4 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

schaftsausschuss zu unterrichten, sobald diese einem oder mehreren Interessenten die Due Diligence gestattet. 4. Sowohl der Wortlaut als auch das Verhältnis zu § 106 BetrVG stehen einer prozessbezogenen Mitbestimmung im Rahmen des § 111 S. 1 BetrVG entgegen. Die Unterrichtung hat deswegen erst zu erfolgen, wenn der Unternehmer den Beschluss zur Durchführung einer Betriebsänderung bereits gefasst hat. Der Beginn der Umsetzungsmaßnahmen muss dabei so terminiert werden, dass noch ausreichend Zeit zur Durchführung des Beratungsverfahrens verbleibt. Eine Ausnahme gilt allerdings für Unternehmen mit 50 bis 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern. § 111 S. 1 BetrVG ist dann im Lichte der RL 2002/14/EG auszulegen. 5. Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat gem. § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG zu unterrichten, sobald er sich zur Planung eines mitbestimmungspflichtigen Sachverhalts entschließt. Existiert eine speziellere Vorschrift, ist diese hinsichtlich des Unterrichtungszeitpunktes abschließend. 6. Personalplanung im Sinne des § 92 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist Maßnahmen- und Umsetzungsplanung auf operativer Ebene. Der Betriebsrat ist über deren Beginn unverzüglich zu unterrichten. Dasselbe gilt bei der Planung einer der in § 90 Abs. 1 BetrVG genannten Gegenstände. 7. Der Arbeitgeber hat eine beabsichtigte Einstellung oder personelle Veränderung gem. § 105 BetrVG so frühzeitig mitzuteilen, dass der Betriebsrat noch die Möglichkeit hat, vor deren Durchführung Bedenken geltend zu machen und auf die Entscheidung des Arbeitgebers einwirken zu können. Sollte die Maßnahme mit vertraglichen Dispositionen verbunden sein, ist der Betriebsrat vorher einzubeziehen. 8. Der EuGH hat sich in der Entscheidung „Fujitsu Siemens“ ausdrücklich für eine prozessbezogene Mitbestimmung im Anwendungsbereich der Massenentlassungsrichtlinie ausgesprochen. Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG zu unterrichten, sobald er oder ein ihn beherrschendes Unternehmen mit Planungen beginnt, in deren Rahmen eine Alternative in Betracht gezogen wird, die Massenentlassungen zwingend erforderlich macht. 9. Angesichts der klaren Richtlinienvorgaben ist auch im Rahmen der Umsetzungsgesetze EBRG, SEBG und SCEBG die Unterrichtung nur rechtzeitig, wenn die Unternehmensleitung unverzüglich nach ihrem Entschluss zur Planung tätig wird. 10. Börsennotierte Unternehmen befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen der Unterrichtungs- und Beratungspflicht aus § 111 S. 1 BetrVG und der Kapitalmarktpublizität gem. § 15 Abs. 1 WpHG. Als Auswege sind entweder die Vorverlagerung des Beteiligungsverfahrens oder die Selbstbefreiung des Vorstandes von der Publizitätspflicht denkbar. Kann die Vertraulichkeit der Insiderinformationen nicht gewährleistet werden, existiert ein echter Normkonflikt und § 15 Abs. 1 WpHG ist vorrangig zu erfüllen.

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Stichwortverzeichnis Abgabe finaler Angebote 181 Aktive Teilhabe 134 Akzeptanz nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse 66 Alltagstheorien 43 Alternativenbewertung 69 Änderungswiderstand von Kognitionen 89 Anhörung 134 Anteilsveräußerung(en) – ausgeschlossene Unternehmensleitung 170, 183 – Beratungsgegenstand 173 – Einbeziehung der ~ 176 – Einbeziehung der Unternehmensleitung 168 – mittelbare Beeinflussung 183 – mittelbare Einflussnahme 174 Anteilsveräußerungsvertrag 162 Antizipation der Beschäftigungsentwicklung 135, 157, 233 Arbeitsteilung 109, 116, 120 Auffangstatbestand 207 Aufsichtsrat, Zustimmung des ~ 203 Auskunftsverlangen der Gesellschafter 172 Auslegungsspielraum 26 Beabsichtigte Massenentlassungen 222, 224 Befreiungsinteresse des Emittenten 245 Begriffsjurisprudenz 25 Behavioral Economics 82 Behavioral Law and Economics 83 Beibringungsgrundsatz 49 Beratungsgegenstand 124, 156 Beratungspflicht, teleologische Reduktion der ~ 163, 165 Beratungsrecht des Wirtschaftsausschusses 138 Beteiligung, Kosten der ~ 179 Beteiligungsfrei 54, 74, 123, 148 Betriebsänderung(en)

– Beteiligung bei ~ 184 – Beteiligung des Wirtschaftsausschusses 195 – Gegenstand der Unterrichtungspflicht 194 – konkrete Planungen 189 – möglichst frühes Planungsstadium 185 – Umfang der Beteiligung 190 Betriebsübergang 142 Betriebswirtschaftlich sinnvoll 63, 145 Betriebswirtschaftliche Perspektive 65 Bieterverfahren 176 Break-Up-Fees 178, 180 Canones 36, 53 Chance zur Einflussnahme Commitment 91, 94 Confirmation Bias 92

159, 189

Delegation von Rechtssetzungsmacht 32 Derivative oder originäre Planungsintegration 212 Deskriptive Entscheidungstheorie 80 Determinierung der Entscheidung 79, 113 Dissonanzreduktion 88 Due Diligence 168, 170, 177, 181 EBRG 231 EBR-Richtlinie 130, 233 Echte Mitbestimmungsrechte 209 Einflussnahme auf den Entscheidungsprozess 60, 62, 85 Einigungsstellenverfahren 150, 190, 198 Einsetzen der Unterrichtungspflicht 54, 124, 148 Einstellung i.S.v. § 105 BetrVG 220 Entscheidungsalternativen 67, 80, 125 Entscheidungsautismus 104 Entscheidungsinterdependenzen 111 Entscheidungsmodelle 68

Stichwortverzeichnis Entscheidungspräferenzen 81, 91, 106 – 108, 114, 122 Entscheidungsprozess 16, 67 Entscheidungsspielraum 107, 111 Entschluss, vorläufiger vs. endgültiger 144, 147, 154, 158, 187 Entschluss zur Planung 124 Ergebnisbezogene Mitbestimmung 17, 154 Erwerberscreening 173 Eskalation des Commitment 95 Europarechtliche Vorgaben 129 Exklusivitätsvereinbarung 177 Exklusivverhandlungen 181 Externe Berater 195, 200 Finale Verhandlungsphase 179 Finanzinvestoren 161 Freibeweisverfahren 50 Fujitsu-Siemens-Urteil 223 Funktionale Plandifferenzierung 76 Geheimhaltungsinteresse 64, 127 Generelle Tatsachen 43 Geplante Betriebsänderung 185, 194 Gesellschafterebene, Änderungen auf der ~ 163 f. Gesellschafterversammlung, Zustimmung der ~ 203 Gesellschaftsinteresse 171 Gesetzesbegründung 57 Gesetzgebungsverfahren der Richtlinie 2002/ 14/EG 136 Gespaltene Auslegung 205 Gestreckte Geschehensabläufe 240 Grammatikalische Auslegung 53 Groupthink 101 Grundrechtecharta 130 Gruppenentscheidungen 100 Gruppenhomogenität 102 Hermeneutik 24 Heuristiken 98, 107 f. Hidden Profile 105 Historische Auslegung 55 Identität potentieller Erwerber 171 Inertia-Effekt 94 Informationsbewertung 94, 102

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Informationsdurchgriff 18, 164 Informationssuche 69, 92, 102 Inhabergeführte Unternehmen 166 Initiativrecht 228 – bei Personalplanung 216 Insiderinformationen 238, 240 – Vertraulichkeit 246 Interessenausgleichsverfahren 190, 198 Interessenbekundungen potentieller Erwerber 176 Interessenjurisprudenz 37 Intitiativrecht 124 Investorenvereinbarungen 168 Irreführung der Öffentlichkeit 246 Irreversibilität des Entscheidungsprozesses 61, 86, 91 Janis, Irving L. 101 Junk-Entscheidung 222 Kahneman, Daniel 82 Kapitalmarktpublizität 238 – Konflikt mit Unterrichtungsvorschriften 243 – Vorverlagerung des Beteiligungsverfahrens 244 Kognitive Dissonanz 87, 97, 109, 118 Konkretisierende Auslegung 21, 34, 63 Konsonante Informationen 87 Kontrollerwerb 163 Konzern 18, 229 Kosten der Beteiligung 65, 127, 166 Kursbeeinflussung 239 Kursbeeinflussungspotential 238 Law and Economics 83 Legitimation der Rechtsprechung Letter of Intent 181

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Management Buyout 167 Manifestation von Entscheidungsprozessen 74, 158, 230 Massenentlassungen – qualifizierte Wahrscheinlichkeit 227 – schrittweise Konsultation 225, 227 – Schuldner der Konsultationspflicht 225 Massenentlassungsrichtlinie 16, 221

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Stichwortverzeichnis

Mehrstufige Entscheidungsprozesse 192, 202 Mehrstufiger Entscheidungsprozess 189, 240 Mitbestimmungsvorbehalt 158 Mitwirkungsvorschrift 62 Nachteilsausgleich 200 Neuplanung 113, 116 Normbereich 42, 45, 58, 64 Normtatsachen 42, 44, 50, 64 Normzweck 59, 61, 85, 131 Ob und Wie 143, 147, 157 Objektstellung der Unternehmensleitung 164, 175 Öffentliche Unternehmensübernahmen 161 Operative Planung 78 Ordnungswidrigkeitenverfahren 144, 149, 187, 199 Organisatorische Differenzierung 75, 109 Personalplanung 147, 211 – Beteiligung des Wirtschaftsausschusses 214 – in der Betriebswirtschaftslehre 212 Personelle Einzelmaßnahmen 211, 215, 218 Phasenschemata 68, 70, 91 Planhierarchie 77 Planungsdelegation 126 Planungshierarchie 111, 212 Planungshorizont 77 Planungsinvestitionen 93, 96, 114 f., 210 Planungsrückschritt 74 Planungsspielraum 79 Positivismus 21, 30 Post Decisional Dissonance 90 Potentielle Erwerber, Vergleich 178 Präskriptive Entscheidungstheorie 80 Problemdefinition 68, 107, 112 Prospect Theory 97 Prozessbezogene Mitbestimmung 17, 155 Prozessrecht 48 Psychologisch sinnvoll 63 Psychologische Perspektive 65

Publizitätspflicht – Befreiung von der ~ 241 – Selbstbefreiung 245 Rahmenrichtlinie 2002/14/EG 129, 139, 157, 204 – Umsetzungsdefizite 141 Rational Choice 80 f. Rationale Unternehmenspolitik 132 Rationalität – Grenzen der ~ 82, 93 – der Normbildung 25, 35, 39, 41, 47, 64 Rechtsfortbildungstatsachen 45 Rechtsschöpfung 26, 38 Richtlinienkonforme Auslegung 129, 133, 139, 204 Risikobegrenzungsgesetz 161 Rückkopplungen in Entscheidungsprozessen 72 Satisficing-Heuristik 99, 109 SE-Beteiligungsrichtlinie 236 Sein und Sollen 41, 48 Selective Exposure Effekt 92 Sequentielle Informationssuche 93, 99 Share Deals 163 Simon, Herbert 81 Spreading Apart-Effekt 90 Strategische Planung 77 Strukturierende Rechtslehre 42 Subsumtionstatsachen 44 Sunk-Cost-Effekt 95, 109 Suspendierung gesellschaftsrechtlicher Pflichten 203 Taktische Planung 78 Teilplanung 76 Teleologische Auslegung 58 Transparenz unternehmerischer Entscheidungen 133 Überschießende Umsetzung 205 Umsetzungsplanung 143, 214 Unbestimmter Rechtsbegriff 28, 62 Unternehmensplanung 75, 137, 146 Unterrichtungsgegenstand 123 Untersuchungsgrundsatz 49

Stichwortverzeichnis Verbotsirrtum 152 Verhaltensmodell des Gesetzgebers 84 Verhandlungslösung, Vorrang der ~ 232 Verspätete Unterrichtung 144, 152 Verzögerungen 65 Vorsätzliche Ordnungswidrigkeit 151 Vorüberlegungen, Abschluss der 156, 191 Vorverständnis 24 Weiterleitung von Beratungsergebnissen 174 Wertung 27, 35, 39 Wertungsjurisprudenz 37

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Wirklichkeitsrezeption 41, 46, 50 Wirtschaftsausschuss, Funktion des ~ 137 Wirtschaftsförderung durch Mitbestimmung 132 Wissenschaftscharakter 29 Wissensintegration 105 WpÜG 161 Zeitdruck 92, 102, 114, 116 Zentrale Leitung 235 Zielbildung 69, 78 Zwischenentscheidungen 71, 93, 110, 114, 122