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German Pages 276 Year 2014
Jan Henschen Die RAF-Erzählung
Jan Henschen (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Erfurt.
Jan Henschen
Die RAF-Erzählung Eine mediale Historiographie des Terrorismus
Die vorliegende Arbeit wurde 2011 unter dem Titel »Die RAF-Erzählung. Eine Spurensuche« als Dissertationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 7 1. Zum Erzählen der RAF und der Suche nach ihren Spuren. Eine Einleitung | 9 2. Vorgeschichten | 23
2.1 Buch und Befreiung | 25 2.2 Techniken: Wer zwingt wem wie etwas auf? | 30 2.2.1 Stadtguerilla und Medium I: Handbuch und Propaganda | 33 2.2.2 Stadtguerilla und Medium II: Irreguläre Aktionen und sinnliches Bewusstsein | 40 2.2.3 Stadtguerilla und Medium III: Werkzeug und elektrisches Licht | 45 2.2.4 Medium und Stadtguerilla I: Eine Manipulationsguerilla | 55 2.2.5 Medium und Stadtguerilla II: Eine Wahrnehmungsguerilla | 59 Exkurs: Künstlerische Avantgarde und Proto-Terrorismus | 63 2.2.6 Medium und Stadtguerilla III: Eine Kommunikationsguerilla | 65 2.3 Die Bombe: Zwischen Requisit und Text | 69 2.3.1 Flammendes Inferno: eine Gitarre, Flugblätter und ein US-Vizepräsident | 72 2.3.2 Der Hund brennt: Aktion als Fiktion | 82 2.3.3 Material und Handbuch: Fiktion als Aktion | 86 2.3.4 Der Film brennt, das Kaufhaus brennt: Kein Flugblatt, aber ein Schlusswort | 91 3. Anschläge der RAF: Schreibmaschinerien | 105
3.1 Baaders Schreibmaschine: Geschichtsstunde im Museum | 108 3.1.2 Die Typen von der RAF und ein Schreiben | 113 3.1.3 Unterschrift: A. Baader | 120 3.1.4 Daumenabdruck | 124 3.2 Die Reise von Bernward Vesper | 127 3.2.1 Die Vorstellung eines Textes | 128 3.2.2 Die Krise der Linie, aber Schreibmaschinenkampf trotz alledem ...! | 135 3.2.3 Terroristen, die nicht Gudrun heißen | 141
3.3 Kontrolliert von Rainald Goetz | 154 3.3.1 RMG begegnet RAF – Ein ‚Deutscher Herbst‘ im Jahr 1978 | 158 3.3.2 Materialschlacht – Ein ‚Deutscher Herbst‘ im Jahr 1988 | 162 3.3.3 Kontrollverlust: Ich ist ein anderer. Und Schleier auch | 169 3.3.4 Das RAF-Gespenst erzählt sich, jetzt | 176 4. Verhaftungen, Verhandlungen und Entlassungen der RAF: Erzählungen und Bilder | 181
4.1 Verhaftungen in der Geschichte | 183 4.1.1 Ein ‚Fanal‘ in bewegten Bildern? Der Polizeistaatsbesuch, 1967 | 187 4.1.2 Eine radikale Gewalt, die nicht von der Straße kommt. La Chinoise, 1967 | 198 4.1.3 Nichtanschlüsse an eine Terrorismusgeschichte. Bakunin, eine Invention, 1970 | 206 4.2 Verhandlungen in der Geschichte | 215 4.2.1 Nach der Krise: Der RAF Orte und Geschichtsbilder finden. Deutschland im Herbst, 1978 | 218 4.3 Entlassungen in die Geschichte | 233 4.3.1 Die zerstörte Kamera und das Spektakel. Rosenfest, 2003 | 236 4.3.2 Baader, Belmondo, Brando. Eine Mediengenealogie ewig junger RAF-Terroristen | 243 5. Schluss: Hans und Grete forever? | 259 6. Literaturverzeichnis | 265
6.1 Filmographie | 273
Danksagung
Großer und herzlicher Dank gebührt sehr vielen Personen, ohne die dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Nachdrücklich bedanke ich mich bei: Den Beteiligten des DFG-Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ (Erfurt/Weimar/Jena), denen ich nach vielen Diskussionen und Präsentationen nicht allein den Untertitel meines Buches, sondern vor allem unzählige Anregungen verdanke. Den Betreuern meiner Dissertation, Wolfgang Struck und Friedrich Balke, die mich im richtigen Verhältnis von Kritik und Zuspruch in meiner Arbeit gefördert und bestärkt haben. Meinen Kolleginnen Anna Häusler und Sabine Frost sowie meinem Kollegen David Sittler, die als Freunde diese Arbeit gelesen, kommentiert und auf dem Weg zur Fertigstellung verfolgt haben. Meinen Eltern für die große und notwendige Unterstützung jenseits von fachlichen Problemen. Und von ganzem Herzen danke ich meiner Frau Claudia für alles.
1. Zum Erzählen der RAF und der Suche nach ihren Spuren. Eine Einleitung
Wir wollen kein Blatt in der Kulturgeschichte sein. GUDRUN ENSSLIN NACH DER FRANKFURTER KAUFHAUSBRANDSTIFTUNG, 1968.
Wenn ich mich als Forschender in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts mit der Roten Armee Fraktion, ihren Geschichten und Historiographien auseinander setze, dann bedeutet das, ein historisches Objekt zu konstruieren, das sich kurz vor der Jahrtausendwende wortwörtlich „in die Geschichte entlassen“ hat. Die achtseitige Pressemitteilung an die Nachrichtenagentur Reuters vom 20. April 1998 wurde mit der Behauptung eingeleitet: „Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF: Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte. […] Wir sind Subjekt gewesen, uns vor 27 Jahren für die RAF zu entscheiden. Wir sind Subjekt geblieben, sie heute in die Geschichte zu entlassen.“1
Diese Entlassung lag dem Agenturbüro als maschinengeschriebener Abschiedsbrief vor, signiert mit dem typischen RAF-Logo. Das Papier wurde polizeilich auf Spuren und Echtheit untersucht, es wurde archiviert, für Veröffentlichungen transkribiert, später im Internet in digitalisierter Version einsehbar gemacht. Dieser Archivtext ist der Gegenstand, der mir vorliegt. Er stellt für das eingangs angesprochene historische Objekt ein letztes Material dar. Welche Personen für das 1
RAF: „Die Auflösungserklärung der RAF vom März 1998“, in: IG Rote Fabrik (Hg.), Zwischenberichte. Zur Diskussion über die Politik der bewaffneten und militanten Linken in der BRD, Italien und der Schweiz, Berlin: ID-Verlag 1998, S. 217-237, hier S. 217.
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Schriftstück verantwortlich sind – das war und ist nach wie vor unbekannt. Der Autor, die Autorin, das Autorenkollektiv ist vielleicht schon tot, vielleicht verschollen, mindestens aber abgetaucht und unerkannt. Das selbsterklärte „Subjekt“ war und ist abwesend. Und zugleich war die Presseerklärung ein vermessener Sprechakt als öffentliche Aktion, eine last performance auf acht Blättern Papier: Nach diesem Schreiben gab es die Rote Armee Fraktion als „Projekt“ nicht mehr. Sie überführte sich selbst in einen anderen Objektstatus, indem sie (unfreiwillig homonym) formulierte, dass sie von diesem Zeitpunkt an „Geschichte“ zu sein habe: Geschichte als Terminus für Nicht-mehr-Gegenwärtiges wie auch für eine Erzählung. Nichtsdestotrotz wurde an dieser Geschichte der RAF unablässig weiter gearbeitet, obwohl nicht allein der linksradikale terroristische Untergrund, sondern auch dessen Historiographie in regelmäßigen Abständen für tot und erledigt erklärt wird. Bis auf einige durchaus gewichtige juristische Restbestände sei alles Wesentliche geklärt und damit erklärt, so ist immer wieder zu lesen. Die Trauer um die Toten und die individuelle Erinnerungsarbeit beschränken sich auf einen Kreis von Angehörigen und Bekannten auf Seiten von Opfern und Tätern. Zugleich kommen in ebenso regelmäßigen Abständen aber immer ‚neue‘ Aussagen, ‚neue‘ Dokumente, ‚neue‘ Erinnerungen, ‚neue‘ Filme in die Öffentlichkeit. Der Zustand der Roten Armee Fraktion zu Beginn ihrer Geschichtswerdung korreliert zweifach paradox: je totgesagter, desto virulenter und je mehr ‚Neues‘, desto ‚historischer‘. Diese Einführung mit dem proklamierten Ende der RAF fasst nicht allein meinen Wahrnehmungshorizont als Forschender einer nachgeborenen Generation zusammen, sondern sie berührt bereits die Leitelemente meiner medienwissenschaftlich orientierten Auseinandersetzung mit der Roten Armee Fraktion: Ereignis und Zeichen, Aktion und Medium, Gegenwart und Vergangenheit sind und waren die miteinander verschränkten Grundfiguren von ‚RAF-Sein‘ und ‚RAF-Handeln‘. Wie diese Paradigmen eine Geschichtswerdung inszenieren, oder genauer, wie sie als die Bedingungen der Möglichkeit einer Historiographie der Roten Armee Fraktion selbst in Aktion treten, das werde ich aufzeigen und analysieren. Somit lege ich weder eine Mediengeschichte vor noch eine Darstellung von medialen Repräsentationen, sondern eine mediale Historiographie. Dieser Titel umschreibt ein Forschungsgebiet, „das sich durch ein Wechselspiel von ‚Mediengeschichte‘ und ‚Geschichtsmedien‘ formiert“2, um „den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Medieninnovationen, der Dynamik kultureller
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http://www.mediale-historiographien.de/?page_id=2183 vom 29.05.2013.
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Prozesse und ihrer historiographischen Konzeptualisierung“3 begreifbar zu machen. Eine mediale Historiographie adressiert „Bedingungsgefüge“4, die Fragen „nach der medialen Dimension des Historischen“5 problematisieren. Aber die „Medien sind […] nicht nur Gegenstand historischer Betrachtung, Codierung und Darstellung, sie setzen die historische Betrachtung, Codierung und Darstellung auch ihrerseits unter Bedingungen; so gibt es stets ein – unausgesprochenes, aber freizulegendes – Konzept des Historischen, das spezifisch ist für das jeweilige Medium, etwa ein spezifisch filmisches; ein spezifisch digitales.“6
Anhand der Auflösungserklärung der RAF präsentiere ich nicht allein ein konkretes Beispiel meines Arbeitsmaterials für die historische Rekonstruktion und medienwissenschaftliche Analyse, sondern stelle vielmehr meine Vorgangsweise vor, die angesprochenen Bedingungsgefüge ersichtlich zu machen. Zu Beginn eines jeden Kapitels und Unterkapitels lege ich eine kurze Szene, eine Anekdote, ein Fundstück dar und verbinde sie mit jeweils unterschiedlichen theoretischen Positionen. Aus dieser genauen Betrachtungen und Lektüren entwickle ich dann eine Ausdeutung. Dadurch verfasse ich jedoch kein neues Masternarrativ für die RAF mit dem bislang unbeachteten Protagonisten „das Medium“. Vielmehr fließt in die Gestaltung der Analyse selbst ein, wie und durch welche medialen Ensembles eine Geschichte der Roten Armee Fraktion erfahrbar, genauer sichtbar und vor allem lesbar, gemacht wird. Mein Vorgehen soll wie eine Spurensuche nach diesen Bedingungsgefügen zu lesen sein. Nicht allein das Oszillieren zwischen „Erzählung“ und dem Spurenlesen von materiellen Fährten und Indizien in der zum Sujet passenden kriminalistischen Semantik ist dabei ausschlaggebend, sondern mindestens ebenso die immer zwingende Nachträglichkeit der Spur sowie ihre materielle und mediale Verfasstheit. Diese historische Implikation geht einher mit der Abwesenheit des zu rekonstruierenden Objektes. Letztlich kann es allein meine konstruierende Tätigkeit als Historiographen wie auch als schreibender Forscher sein, die eine Spur erst zu einer solchen werden lässt und sich in einer Narration entfalten kann. Damit ist dann eine zweite Koppelung zur titelgebenden „Erzählung“ geschlagen, mit der der Hauptmodus der Erfahr- und Archivierbarkeit der Roten Armee Fraktion reflektiert ist, die aber zugleich durch das Narrativ der vorgelegten 3
Ebd.
4
Engell, Lorenz/Vogl, Joseph (Hg.): Mediale Historiographien (=Archiv für Mediengeschichte 1), Weimar: Universitätsverlag 2001, S. 6.
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Ebd.
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Ebd., S. 7.
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Untersuchung erst entsteht und sich dadurch (erneut) verschiebt. Geht die Programmatik einer medialen Historiographie im Allgemeinen von dem Umstand aus, „daß alle Geschichtsschreibung ihrerseits medienabhängig ist; ohne Medien des Beobachtens, Archivierens, Sortierens, Erschließens, aber auch der repräsentierenden Beschreibung, der Codierung und Darstellung in Bild, Wort und Zahl sowie schließlich solche der Verbreitung [sei, Anm. d. Verf.] Geschichtsschreibung (und ist vermutlich sogar Geschichte) nicht möglich“7, so hat der Terrorismus der Roten Armee Fraktion eine besondere und eigene Konstellation zwischen historischem Gegenstand, Medium und Historiographie aufzuweisen. Diese Eigenart ist an vier Grundfragen festzumachen, die zugleich die Hypothesen meiner medialen Historiographie ausmachen. Erstens vermute ich mehrfache Wechselwirkungen, mit denen sich ‚der Terrorismus‘ und ‚die Medien‘ bedingen, nämlich einerseits in ihrer theoretischdiskursiven Aufarbeitung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und andererseits in Aktionen, aus denen die Erfahrbarkeit der RAF überhaupt erst resultiert. Dahinter steht mein Verdacht, dass die Emergenz der RAF als Epiphänomen medialer Umbrüche interpretiert werden kann, so dass die RAF auch als ‚Medienprojekt‘ gelesen werden sollte. Zugleich eröffne ich durch eine derartige Lesart ihrer Geschichte eine neue Genealogie des linksradikalen Terrorismus in der BRD. Zweitens scheint mir eine gegenseitige Durchdringung von Medien und Praktiken unter dem Oberbegriff „Terrorismus“ bislang unzureichend durchleuchtet. Insbesondere für das Schreiben von Texten ist eine Wirkmacht auszumachen, die zu der Konstitution eines terroristischen Ereignisses maßgeblich beitragen, die anschließend einen Großteil des Archivs ausbildet und zugleich die Basis für das Wissen über den aktuell eigenen, also gegenwärtigen Bezug zum Phänomen RAF bildet. Drittens resultieren aus den genannten Wirkungsverhältnissen Effekte für die (wiederum zwangsläufig mit Medien arbeitenden) historiographischen Verfahren. Damit verdeutliche ich, dass sich der Bestand für die Arbeit an der RAFGeschichte medial konstituiert hat und auch immer noch fortlaufend verändert, sprich: weiter geschrieben wird. Ein besonders produktives Augenmerk liegt dabei auf Reibungen der Ebenen von „Dokumentieren“ versus „Fiktionalisieren“. Viertens und letztens heißt dies für das ‚Geschichte-Schreiben‘ der RAF, dass – wenn also Medien und die herausgearbeiteten medialen Ensembles Bedingungen der Möglichkeiten sein sollen, von einer RAF-Geschichte sprechen zu können – verschieden ästhetisierte Wissensformen für das Sujet Terrorismus und die Figur des RAF-Terroristen erneut transferieren. 7
Ebd.
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Für die RAF-Erzählung gehe ich von dem sogenannten „funktionalen“ Terrorismus-Begriff aus, wie er sich in den vergangenen dreißig Jahren heraus kristallisierte. Dieser orientiert sich an der Definition von Franz Wördemann: „Der [...] Guerillero besetzt tendenziell den Raum, um später das Denken gefangen zu nehmen, der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann.“8 Als Forschungsthese ist dieser Ansatz vorwiegend in politik- und gesellschaftswissenschaftlichen Analysen produktiv gemacht worden. Terrorismus hat demnach als operationalen Horizont und in Abgrenzung zu anderen (politisierten) Gewaltaktionen primär weder Raumgewinn noch Gegnervernichtung zum Gegenstand und zum Ziel. Als „Besetzen des Denkens“ ist er eine Form des performativen Sprechens, die neben dem „Denken“ auch stark an Emotionen und Affekten rührt. Als eine Summe solcher Aktionen wiederum ist Terrorismus nicht ohne semiotisch organisierte Kanäle und technische Übertragungen greifbar. Daher kann er stets nur als Medienoperation erfahrbar sein. Gleichzeitig waren gewaltsame Aktionen in der speziellen Ausprägung der RAF auf Verfahren angewiesen, die aus physischen Gewalttaten ein Zeichen machten, welches durch den als „terroristisch“ bezeichneten Akt gesetzt wurde oder zumindest gesetzt werden sollte. Und letztlich ist die darin liegende Perpetuierung der grundlegenden charakteristischen Figur „Freund/Feind“ nur als eine Medialisierung begreifbar, wie es sich bereits beinahe übersemantisiert aus Gudrun Ensslins Imperativ „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute!“ herauslesen lässt. Diese Basis für ein Verständnis des Phänomens ist bislang noch kaum für eine medien-, kultur- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung fruchtbar gemacht worden. Immerhin kann konstatiert werden, „dass in den neuesten Untersuchungen über die RAF individuellen und gesellschaftlichen Ursachen eine geringere, kulturell-medialen Faktoren sowie Bewusstwerdungsprozessen hingegen eine weit größere Bedeutung beigemessen werden.“9 Die insbesondere in den letzten zehn Jahren verstärkt vorliegenden Analysen aus kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern betrachten verschiedene Darstellungen und Rezeptionen häufig unter Fragestellungen, wie die RAF und ihre Praktiken als ein jenseits von Medien vorliegender Sachverhalt medial repräsentiert werden
8
Wördemann, Franz: Terrorismus. Motive, Täter, Strategien, München/ Zürich: Piper 1977, S. 57.
9
Colin, Nicole/de Graaf, Beatrice/Pekelder,Jacco/Umlauf, Joachim: „‚Terrorismus‘ als soziale Konstruktion.“ in: Dies (Hg.), Der ‚Deutsche Herbst‘ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld: Transcript 2008, S.7-13, hier S. 11.
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(„Wie wird die RAF in Zeitungen/ Filmen/ Romanen/ Kunstwerken etc. dargestellt?“10). Durch derartige Monographien und Sammelbände sind Übersichtarbeiten für die jeweiligen RAF-Aufarbeitungen aus medialen Feldern wie Literatur11 oder Kinofilm12 entstanden, die zugleich deren Entwicklungsverläufe darlegen. Kulturwissenschaftlich erweiterte Analysen haben hingegen oft andere Methodenund Erkenntnisansätze, die sich beinahe ausschließlich unter den Paradigmen von „Erinnerung“ und „Gedächtnis“13 subsumieren lassen. Kulturhistorische Lektüren mit vertiefendem Interesse an Wirkmacht und Stellenwert von „Medium“ sind auf einzelne, gezielte Momente der RAF-Historie fokussiert, die wiederum überwiegend den Vor- oder Frühphasen entstammen14. Medienwissenschaftliche Analysen erschienen bis dato vereinzelt als Aufsätze. Sie beschäftigen sich mit der Medialität oder den medialen Dispositiven ausgewählter RAF-
10 Ich verweise auf die entsprechenden Beiträge in Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. 1 und 2. Hamburg: Hamburger Edition 2006. Die Beiträge unter „VIII. Terrorismus und Medien“ billigen Presse und TV noch eine gewisse funktionale Rolle zu für die notwendige Wechselwirkung einer „terroristischen Kommunikation“. Film und Romanerzählung werden jedoch auf Medien reiner Repräsentation von RAF beschränkt. 11 Dombrowa, Susanne/Knebel, Markus/Oppermann, Andreas/Schieth, Lydia (Hg.): GeRAFftes. Analysen zur Darstellung der RAF und des Linksterrorismus in der deutschen Literatur (=Fußnoten zur neueren deutschen Literatur, Bd. 27), Bamberg: Universitätsverlag 1996. Hoeps, Thomas: Arbeit am Widerspruch. ‚Terrorismus‘ in deutschen Romanen und Erzählungen (1837 – 1992), Dresden: Thelem 2001. 12 Kraus, Petra/Lettenewitsch, Natalie/Saekel, Ursula/Bruns, Brigitte/Mersch, Matthias (Hg.): Deutschland im Herbst – Terrorismus im Film, München: MFZ 1997. 13 Berendse, Jan-Gerrit: Schreiben im Terrordrom. Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus, München: Edition Text und Kritik 2005. Biesenbach, Klaus (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung. 2 Bde, Göttingen: Steidl 2005. Elsaesser, Thomas: Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin: Kadmos 2006. Stephan, Inge/Tacke, Alexandra (Hg.): NachBilder der RAF, Köln: Böhlau 2008. 14 Hakemi, Sara: Anschlag und Spektakel. Flugblätter der Kommune I, Erklärungen von Ensslin/Baader und der frühen RAF, Bochum: Posth 2008. Hecken, Thomas: Avantgarde und Terrorismus – Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld: Transcript 2006. Klimke, Martin/Scharloth, Joachim (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007.
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Diskurse (z.B. Souveränität/ Ausnahmezustand15, Überwachung/elektronische Datenverarbeitung16), beziehungsweise deren umgekehrter Verkettung, nämlich mit der Diskursivierung der RAF einzelner Medienformate und -techniken (z.B. öffentlich-rechtliches Fernsehen17, akustische Raumphänomene18). Andreas Elter hat mit Propaganda der Tat – Die RAF und die Medien eine umfang- und aufschlussreiche kommunikationswissenschaftliche Untersuchung vorgelegt19, die ihren Schwerpunkt jedoch auf „Kommunikationsstrategien“ und „mediale Wirkungen“ legt und so das symbiotische Verhältnis von Massenmedien und RAFTerrorismus analysiert. Mit der vorliegenden Studie knüpfe ich punktuell an diese Forschungs- und Wissensstände an. Im ersten Kapitel untersuche ich die (nachzeitig verfassten) Vorgeschichten der RAF. Aus vorliegenden Ereignisnarrationen, Lexikoneinträgen, wissenschaftlichen Analysen und Biographien, also aus den ex post entworfenen Urszenen der RAF leite ich ab, aus welchen Gründen es sinnvoll und produktiv ist, sich mit dem Begriff und der Rolle von „Medium‘ zu beschäftigen – ohne, dass ich dabei schon eine bestimmte Definition und Semantik von „Medien“ vorgeben werde. Denn auszumachen ist eine Verschränkung dieses Begriffs in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in theoretischen Auseinandersetzungen mit einer Strategie der urbanen Guerilla. Paradetexte des Partisanenkrieges in den Metropolen wie Carlos Marighellas Minihandbuch des Stadtguerille15 Wagner, Benno: „Vom Licht des Krieges zur black box des Modells Deutschland. Aus-nahme und Erkenntnis nach Schmitt und Foucault“ in: Friedrich Balke/Eric Méchoulan/Benno Wagner: Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte? München: Fink 1992, S. 233-265. 16 Scholz, Leander: „Rasterfahndung oder wie wird Wachs gemacht“, in: Jens Schröter/Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld: Transcript 2004, S. 97-116. Scholz, Leander: „BRD/RAF: Die Intimität des Feindes“, in: Cornelia Epping-Jäger/ Torsten T. Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.): Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln: DuMont 2005, S.184-197. 17 Hißnauer, Christian: „‚Mogadischu‘. Opferdiskurs doku/dramatisch – Narrative des Erinnerns an die RAF im bundesdeutschen Fernsehen 1978-2008“, in: Norman Ächtler/Carsten Gansel (Hg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978-2008, Heidelberg: Winter 2010, S. 99-126. 18 Bräunert, Svea: „Soundscape Stammheim.“, in: N. Ächtler/C. Gansel: Ikonographie des Terrors?, S. 199-222. 19 Elter, Andreas: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.
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ros, Aufsätze von Huey Newton oder Eldridge Cleaver aus dem Umfeld der Black-Panther-Bewegung oder auch Rudi Dutschkes Rede Das Sich-Verweigern erfordert Guerilla-Mentalität zeugen zum Teil explizit, oftmals eher impliziter davon, dass die Kategorie der Medialität zentralen Stellenwert einnimmt bei einer Politik des Erzwingens und des Monologs, wie sie die selbsternannte bundesrepublikanische Stadtguerilla, ebenso wie der spätere Terrorismus, praktizierten. Nach der Darlegung dieser unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden Interpretationen von „Medium“ erörtere ich, wie ein Teil eines medientheoretischen Diskurses dieser Jahre in zentralen Passagen auf die Stadtguerillera zu sprechen kommt. Sie wird begriffen als ein Medienprojekt genau an dem Punkt, bei dem es um die Frage geht, ob Medien als Relais von Informationen zu verstehen sind oder ob Medien als performativer Part eines Ablaufs, gar als konstruktives Element von Wirklichkeit begriffen werden sollen. Autoren wie Hans Magnus Enzensberger im Baukasten zu einer Theorie der Medien, Eckhard Siepmann mit Rotfront Faraday. Über Elektronik und Klassenkampf – Ein Interpretationsraster oder Umberto Ecos Für eine semiologische Guerilla handeln untereinander widersprüchlich diese akuten Fragen in Anbetracht der erlebten Medienumbrüche aus. Entsprechende Texte aus dem Kreis der Situationisten verschieben den Streitpunkt in diesem Diskurs, da sie fragen, inwiefern für radikale politische Praktiken die Kategorie des Mediums als Distributor von Inhalten herhalten muss oder in welchem Maße das Medium als eine conditio sine qua non für Politik und revolutionäre Taktik in den massenmedialisierten Metropolen gelten muss. Die RAF analysiere ich somit als ‚Kollateralschaden‘ eines im Wandel begriffenen Medienverständnisses in Theorie und Praxis in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Zugleich zeige ich mit dieser Genealogie auf, dass sich die Rote Armee Fraktion in weitere (Vor-)Geschichten als die eines bestimmten politischen Zeitgeistes der Nachkriegs-BRD eingeschrieben hat. In meinem zweiten Teil dieser Vorgeschichten bilden die Bombe als Ding und das Attentat als Aktion den Ausgangspunkt meiner Betrachtungen. Ich zeige, dass es sich um vielschichtigere Gefüge handelt als ‚nur‘ um einen Gegenstand und ‚einfach‘ eine Tat. Beide sind von Techniken und Praktiken bedingt, die von ihren medialen und semiotischen Vorläufern und Fehlversuchen, wie beispielsweise dem sogenannten ‚Pudding-Attentat‘ von 1967, vorbereitet wurden, bevor sie dann von der RAF eingesetzt und regelrecht institutionalisiert worden sind. Die damit einhergehende und sich manifestierende gedankliche Leitfigur von Gewalt, die ich die „Politik des Zwangs“ nenne, konnte sich als praktische Aktion erst entwickeln, indem sie neben den diskursiven Feldern auch experimentelle Erprobungen bekam. Das „Zwingen“ ist eine Form des Machens, der Aktion, die als nicht-diskursiv eingestuft wird. Hier durchdringen sich kör-
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perlicher Einsatz, physikalische Maßnahmen, Sprechakte und Medientechniken wechselseitig. Erst eine Zirkulation durch verschiedene Institutionen wie ‚die Politik‘, ‚die Kunst‘, ‚die Jurisprudenz‘ u.a., erst eine Verschiebung durch Orte wie ‚die Universität‘‚ ‚der Gerichtssaal‘, ‚die Straße‘ u.a. brachten die Bombe und das Attentat zu Geltung und statteten sie mit der Wirkmacht aus, die sie in der Stadtguerilla und im RAF-Terrorismus zugesprochen bekam. Das hatte einen diskursiven Wandel dieser Artefakte zur Folge und setzte erneut eine Zirkulation von Kunst zu Politik, weiter zur Verbrechensbekämpfung bis zur Jurisprudenz in Gang – und zurück. Eine analytische Sicht auf Flugschriften, in Handbücher und Broschüren, auf Gerichtsbestände und in persönliche Erinnerungen als Materialien dieser Vorgänge ermöglicht mir eine solche historiographische Konstruktion. In dem zweiten Kapitel fokussiere ich das nachzeitige Veranschaulichen und die Möglichkeiten des Schreibens von RAF-Geschichte. Dazu betrachte ich zunächst mit der Schreibmaschine von Andreas Baader ein historisches Artefakt und seinen Ausstellungswert in der ehemaligen Dauerausstellung des Bonner Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Als zentraler Teil eines Ensembles der Terrorismusmaschinerie war dieses Schreibgerät mit kriminalistischer Beweis- und geschichtlicher Zeugniskraft zugleich ausgestattet worden. Mit dieser Schreibmaschine ist ein für den Terrorismus zentraler Begriff, nämlich der „Anschlag“, homonym zu lesen. Als technische Voraussetzung eines regelrechten Textproduktionsexzesses wurde die Schreibmaschine als Aussage und als Indiz-an-sich präsentiert. Die Verkettung im Textproduktionsverfahren des RAF-Terrorismus und in zweiter Beobachtungsordnung dann in dessen Geschichtsverfassung verfolge ich weiter anhand eines Schriftstücks von Andreas Baader, bis hin zu den auffindbaren Graphemen Unterschrift und Fingerabdruck. Anhand dieser Materialien wird der Wandel vom kriminalistischen Indiz zum historischen ‚Fundstück‘ nachgezeichnet und anschließend analysiert, mit welchen Verfahren die erhaltenen Objekte historiographisch fruchtbar gemacht wurden. Die ganz eigenständige Produktivität von Schreiben, Schreibmaschine, Schrifttype für eine RAF-Geschichte untersuche ich im nächsten Unterkapitel in den Arbeiten von Bernward Vesper, der sich als erster (und quasi-instantan) an den (Un-)Möglichkeiten insbesondere medialer Wirkkräfte für Präsentationen, Narrationen und Archivierungen der Stadtguerilla abarbeitete. Sein RomanFragment Die Reise sowie seine im Deutschen Literaturarchiv Marbach hinterlassene Sammlung stellen für diese Recherche das Material. Vorerst versuchte sich Vesper an dem Problem, wie die Emergenz der RAF überhaupt zu dokumentieren sei, beziehungsweise, was die entsprechenden Do-
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kumente der Stadtguerilla sein sollten. Zugleich musste er Verfahren finden, um die entstehende Stadtguerilla in ein Narrativ zu transformieren, also als erzählerischen Topos überhaupt erst zu verorten – das hieß vor allem: gestalterische Mittel und ästhetische Maßnahmen auszuloten. Immer wieder stieß Vesper für sein Buchprojekt auf eine Art von Gleichursprünglichkeit des Schreibens über die RAF als externer Autor und die Schreiben der RAF im Untergrund. Das mündete in ausführlichen Reflexionen von der Technik „Schreiben“ im Prozess des Aufschreibens selbst – und übertragen (oder eher angelehnt) an die Techniken und Praktiken der selbsternannten Stadtguerilla. Bernward Vespers Texte arbeiten formal und inhaltlich am Einsatz von Schreibgerät, Körper, Verortung in (Gefängnis- oder Terror-)Zelle bei der intendierten „Politik des Zwangs“. Aus einer ganz anderen Position, nämlich der zeitlichen Ferne von zehn Jahren nach dem Deutschen Herbst sowie dem örtlichen Abstand durch einen Parisaufenthalt schrieb Rainald Goetz seine rückbetrachtete Geschichte des Jahrs 1977, Kontrolliert. Er versuchte sich darin an durchaus vergleichbaren Frageund Problemstellungen wie Bernward Vesper. Goetz Interesse lag aber mehr noch auf der Verknüpfung der RAF-Erinnerung an bestimmte Materialitäten und auf dem Umgang mit den entsprechenden Medienformen. Er legte mit seiner Textarbeit dar, wie aus der Materialität von Medien ein Narrativ von Terrorismusgeschichte zu gestalten ist – oder wie eben an dieser Geschichtsinszenierung zu scheitern ist. Bei Goetz erscheint dies dezidiert als eine Spracharbeit, über die und mit der die RAF-Geschichte fassbar wird und der sich dementsprechend der schreibende Historiograph und Literat zu stellen hat. Vesper und Goetz inszenierten sich beide als Sammler, die vorgeben, das archivierte ‚nur‘ anzuordnen. Beide jedoch hatten den unverhohlenen (Vesper) oder verhohlenen (Goetz) Drang zu erzählen, sie offenbarten den Willen, das vermeintlich Aufgefundene in ein eigenes selbstgestaltetes Narrativ zu bringen. Daraus resultiert eine Chronologie und Diachronie in einer Ästhetik, die immer RAF-Erzählung und RAF-Geschichte zugleich ist. Ihre Verfahren stellen die Dichotomie zwischen (fiktionalem) Erzählen und (faktischem) Kontext infrage, sie kehren die Setzung eines vermeintlich faktischen (das heißt bei Goetz bereits historisch-faktischen) Bezugsrahmens für die vermeintlich nicht-faktische Erzählung um. So sind Bilder, Texte u.a. die ‚Fakten‘, sie sind das Material, mit dem sich erst Vergangenheit gestalten lässt. Das dritte Kapitel schließt an einer solchen Irritation und Aufhebung von Fakt und Fiktion an und eröffnet ein Spannungsfeld aus drei Beobachterperspektiven und Inszenierungsstrategien für die RAF: als „Verhaftungen“ und „Verhandlungen“ der Geschichte beziehungsweise als „Entlassungen“ in diese. Verschiedene Geschichtsverhältnisse, an denen Texte, Bilder, Filme maßgeblich
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mitwirken, werden so benannt und analysiert. Es geht dabei um den Anschluss an jeweils aktuelle Vergangenheitsnarrative und die Verortung in einer bereits vorliegenden Historie zum Zeitpunkt des Auftauchens des entsprechenden Bildes oder des Erzählmoments. Des Weiteren erkunde ich die nachträgliche Setzung als historisches Ereignis, was eine Geschichte-Werdung selbst meint. Letztlich werden die Wechselwirkungen der Zeitverhältnisse von historischer und gegenwärtiger Aktualität aus dem Blickfeld der zunehmenden Historisierung und dem Weitererzählungen von RAF-Historiographien bis in die Gegenwart analysiert. Dieses dritte Kapitel gliedert sich nach den Entstehungspunkten des historischen Materials und an drei markant gesetzten Momenten der RAF-Erzählung: dem zündenden Fanal des 2. Juni 1967, der Krise des sogenannten Deutschen Herbstes 1977 und des gespenstischen RAF-Nachlebens nach der Auflösung 1998. Zum Tod von Benno Ohnesorg, jenem in sämtlichen RAF-Geschichten omnipräsenten Initialereignis der Gewalt, existiert eine Vielzahl von Dokumenten unterschiedlichster Art. Der Ausgangspunkt meiner Anschauung liegt auf DER POLIZEISTAATSBESUCH – BEOBACHTUNGEN UNTER DEUTSCHEN GASTGEBERN von Roman Brodmann. Dieser Film ist eine Ereignisdokumentation wider Willen, bei dem sich anhand bewegter Bilder die Durchdringungen mit anderen Medien des Dokumentierens aufzeigen lassen. Ich verdeutliche, wie hier ein Historisierungsprozess zwischen Kriminalistik und Geschichte verläuft. Zugleich untersuche ich die Frage, inwiefern der westdeutsche Linksterrorismus, der stets auf dieses Fanal berufen wurde, einen Vorlauf in Protesten auf der Straße haben musste, um die Erfahrung von Gewalt und Öffentlichkeit zu vermitteln. Es lassen sich Fährten auftun, nach denen sich die Terrorzelle aus einer anderen Konfiguration von Raum und Medium entwickelt hat. Neben der Dokumentation BERLIN 2. JUNI ’67 sind dazu vor allem Jean-Luc Godards Anordnungen in LA CHINOISE aufschlussreich. Dort emergiert eine studentisch geprägte Terrorzelle, ohne die Erfahrungen von öffentlichem Protest und Gewalt auf der Straße gemacht zu haben, beziehungsweise überhaupt gemacht haben zu können. Stattdessen entsteht terroristische Aktion aus einer Welt der Zeichen heraus. Als formulierter Anspruch einer „Propaganda der Tat“ bedeutet sie in dieser medialen Emergenz ein Novum, trotz ihres historischen Anschlusswillens an anarchistische Vorläufer. Mit diesem proto-terroristischen Aufkommen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist zugleich ein Bruch mit der über 100-jährigen Geschichte des anarchistischen Terrorismus eröffnet. Die Frage der Unmöglichkeit des Anschlusses an eben diese Geschichte durch veränderte mediale Konstellationen eröffnet sich: Wenn die Gewalttat selbst als das entscheidende Moment für ein
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revolutionäres Verständnis nicht mehr wiederholbar ist, wie ist ein historischer Zugang möglich gewesen, wo es doch ‚nur‘ die Schriften waren, die so etwas wie ein fiktives internationales Archiv des Terrorismus formiert hatten? Ob überhaupt eine Form von aktualisiertem Transfer (insbesondere des russischen Anarchismus in Figur von Michail Bakunin) in die Gegenwart der rebellierenden Studenten und den Umschlag zur terroristischen Gewalt um 1968 möglich war, oder zumindest beschreibbar – dieser Frage ging aus der zeitnahen Beobachterperspektive Horst Bienek mit Bakunin, eine Invention nach. So sehr ein Anschluss an das anarchistische Personal biographisch unmöglich schien, so waren es Prototypen der Literaturgeschichte, die wirkmächtig blieben. Die Verhandlungen von Aktion, von Radikalität, von einem revolutionären Selbst konnten (wenn überhaupt) als Text gestaltet werden, indem dieser zunächst ‚nur‘ andere Vorläufertexte und Bilder zum Inhalt hat. Das macht die Produktivität von terroristischer Vorgeschichte für die im Entstehen begriffene RAF selbst aus. Die Ereignisse des sogenannten „Deutschen Herbstes“ machen dann die RAF selbst wiederum für Geschichte produktiv. Dafür steht erneut ein Film als Material zur Verfügung: DEUTSCHLAND IM HERBST bebildert die Orte und verortet die Bilder der Zeitgeschichte des Jahres 1977. Drei ausgesuchte Episoden dieses Kompilationsfilms betrachte ich eingehender: Volker Schlöndorff bebildert die politische Institution des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und inszeniert, in welchen Momenten es sich selbst Tabus auferlegt, den eigenen Sprach- und Bildgebrauch in Zeiten des RAF-Terrors überwacht. Mit einer fiktiven Programmratsdiskussion über eine Antigone-Verfilmung zeigt er, aus welchen Gründen es keine Filmbilder, keine Diskussion und damit auch keine Erinnerungsarbeit gegeben hat. Rainer Werner Fassbinder bleibt in seiner Episode in seiner eigenen Wohnung und ‚reenactet‘ sich selbst in den Tagen des Deutschen Herbstes. Dort mimt er die großen Topoi nach: Angst vor Überwachung in der eigenen Wohnung, paranoisches Misstrauen in die Institutionen, Hysterie durch selbstauferlegte Zellensituation, die festgefahrene Kommunikation, die zwischenmenschlichen Spannungen sowie den gezielten Einsatz des eigenen Körpers. Alexander Kluge wiederum fährt mit der 35-mm-Kamera auf den Stuttgarter Dornhaldenfriedhof und filmt die Grabtragung der toten Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe. Er zeigt die Familienmitglieder, Freunde und Sympathisanten, die Photographen und Kamerateams sowie das immense Polizeiaufgebot. In seiner Episode, die den Film DEUTSCHLAND IM HERBST beendet, versucht Kluge eine Heimholung der ausgegrenzten Terroristen: zurück in eine Geschichte, möglich zur Weiterverarbeitung. Er überführt eine generationelle Erinnerung in Melancholie am Ende der später als „Rotes Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) betitelten Dekade 1967-1977.
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Wie nach dem Tod der sogenannten „Ersten Generation“ eine solche Melancholie in die Historiographie der RAF einzog, so wurde vergleichbar und doch ganz entgegengesetzt für eine ganze Reihe von Geschichtsverarbeitungen nach der Auflösung der RAF im Jahr 1998 ein Sammelbegriff gefunden: „Pop“, im Sinne von „popkulturelle[r] Adaption des politisch verpuffenden RAFMythos“20. Dass unter diesem Label verbuchte Werke durchaus ein spezifisches Wissen formieren können und nicht Verkümmerungen und Verkürzungen im Historisierungsprozess darstellen, sondern eben ‚Freilassungen‘, zeige ich anhand des Romans Rosenfest von Leander Scholz auf. Die Gründung der RAF ist dort (entgegen der historische Daten) neu arrangiert und umgestaltet und dezidiert als Popliteratur erzählt. Vor allem aber ist eine medialisierte Umwelt omnipräsent. Diese bedingt die Aktionen und ihr Narrativ und macht Medien zu weiteren Protagonisten. Der Roman stellt damit eine andere Medienauffassung für die RAF und vor allem für ihre Historiographie zur Verfügung. Ein sich wandelndes Medienverständnis bedingt einen Wandel der historiographischen Inhalte und Ästhetiken und macht eine Historisierung des Historisierungsprozesses vonnöten. Dass gewisse Verschiebungen auch die Geschichts(re)konstruktionen der RAF und die daraus resultierenden ‚Geschichtsbilder‘ selbst betreffen, unabhängig davon, ob nun als fiktional oder faktual adressiert, demonstriert mein abschließendes Unterkapitel. Der Terroristentypus, der für die jungen Männer der „Ersten Generation“ in aktuellen populären und wissenschaftlichen Historiographien, in neueren biographischen Rückblicken und gegenwärtigen künstlerischen Verarbeitungen inszeniert wurde und weiterhin wird, entspringt dem Kinofilm. Mehr noch als ein Topos von Rückblicken ist nach über vierzig Jahren mit dieser Figur auch die Emergenz der bundesrepublikanischen Stadtguerilla aus Szenen des Films erzählt. Auf Basis dieser Lektürebeobachtungen untersuche ich, wie verschiedene Geschichtsschreibungen jeweils mit derartigen filmischen Vorformen arbeiten und was dieses neueste Paradigma für das Geschichtsbild einer RAF-Entstehung bedeutet.
20 Kraushaar, Wolfgang: „Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie“, in: Ders., Die RAF, S. 11861210, hier S. 1186.
2. Vorgeschichten
Welch ein Jahr der Windungen und Wendungen, dieses 1969. An einem Tag Haschrebell und Stadtindianer, am nächsten maoistischer Kader und Fabrikarbeiter, an einem Tag Stadtguerilla, am nächsten Juso-Funktionär, Jungunternehmer, Verleger, Kunstkritiker, Theater- oder Filmregisseur. Eindeutig erkennbar war nur die Unübersichtlichkeit, waren Fluchten auf der Suche nach Selbstverwirklichung, Aufbrüche zu neuen Ufern. DIETER KUNZELMANN: LEISTEN SIE KEINEN WIDERSTAND! BILDER AUS MEINEM LEBEN, 1998.
Jede Geschichte hat Vorgeschichten. Eine Vorgeschichte der Roten Armee Fraktion ist die Zeit vor der RAF: Die BRD in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Vielfach erzählt wurde sie als eine Zeit einer unruhigen jungen Republik, als eine immer noch umstrittene Demokratie mit blinden Flecken auf der Vergangenheit, als eine Seite eines geteilten Landes mit riesiger Kluft – und als die Zeit eines Staates noch ohne Terrorismus. Jedoch war eine Vorgeschichte auch eine Zeit, aus der sich die RAF entwickelt hat. Ohne diese kommt kein historiographisches Format zur RAF aus. Eine Vorgeschichte ist in den Narrativen der individuellen Erinnerung, der Wissenschaft und der Kunst fest etabliert worden. Das Entwicklungsverhältnis liest sich dabei als Übergang von einem Kapitel der Geschichte in das folgende. Eingängige Beispiele dafür bieten Lexikoneinträge. So schrieb beispielsweise Eckhard Jesse im Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, also im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung, unter dem Stichwort „Terrorismus“: „Die Wurzeln des T. in D. liegen in der Studentenbewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Diese hat die ĺ Gesellschaft in markanter Weise beeinflußt. Dazu gehört auch die Herausbildung einer terroristischen Subkultur. Im Jahre 1970 begann der Aufbau einer
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‚Roten Armee Fraktion‘ (RAF). Deren führende Köpfe (u.a. A. Baader, G. Ensslin, H. Mahler und U. Meinhof) wurden jedoch bald gefasst.“1
Der ehemalige Bundesstaatsanwalt Klaus Pflieger, im Ruhestand zu einem der zahlreichen Chronisten des Linksterrorismus geworden, unterteilte die Vorgeschichte der RAF in drei Unterkapitel: „Hintergrund dieser aggressiven Einstellung und Ausgangspunkt für die gewaltsamen Aktionen sind verschiedene Erfahrungen in den 60-er Jahren, die von den Bandenmitgliedern als nicht hinnehmbar empfunden werden, etwa – die Napalm-Bombardierung ganzer Landstriche Südvietnams durch die U.S.A – die westliche Überflussgesellschaft (als Folge des Kapitalismus) im Vergleich zur Armut in der Dritten Welt oder – das gewaltsame Vorgehen des Staates gegen Demonstranten“2
Nicht nur diese niedergeschriebene Vergangenheit hat eine Vorgeschichte. In der Erscheinungsform eines erzählenden Textes hat eine Geschichte ein „Vor“ durch den Prolog, die Rede vor der Rede, durch das Vorwort, das Wort vor dem Wort. So hat das Erzählen des bundesdeutschen Terrorismus eine Vorrede, es hat Texte, Reden, Bücher, die ihm vorangestellt werden. Sie erklären und führen in die Dramatik ein, sind aber oftmals nur vage mit der eigentlichen Handlung verbunden. In der Abfolge des Erzählens zeitlich als auch räumlich vorangestellt, kann der Prolog jedoch erst verfasst werden, wenn der Verlauf der Handlung zu einer abgeschlossenen Einheit gefunden hat, wenn dem Verfasser also deutlich geworden ist, was sich in der folgenden Geschichte ereignet und wie sie endet. So trägt der Prolog aus der Perspektive des nachträglichen Wissens zur geschlossenen Form der Geschichte bei. Diese beiden Semantiken einer Vorgeschichte sollen im ersten Kapitel analytisch verbunden werden. Es wird dargelegt, wie sich in den Initiationsaktionen der RAF aus dem Betrachterstandpunkt des heutigen historischen Wissens die Fluchtlinien von Praktiken und textuellen Artikulationen kreuzen, gar kulminieren und zu einem Ereignis gemacht werden. Das so entworfene Tableau soll zudem Aufschluss darüber ermöglichen, aus welchen diskursiven Feldern sich zwei maßgebliche Topoi etablieren, nämlich „die Stadtguerilla“ als Proto-Terrorismus und „die Bombe“ als ihr prominentester Apparat. 1
Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland5, Opladen: Leske und Buderich 2003, S. 625.
2
Pflieger, Klaus: Die Rote Armee Fraktion ‚RAF‘: 14.5.1970 bis 20.4.1998, BadenBaden: Nomos 2004, S. 15.
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2.1 B UCH
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B EFREIUNG Das hat ja alles mit der sogenannten Baader-Befreiung begonnen. Ich wohnte damals in Friedenau, in der Bergstraße, hatte da ein kleines Haus gekauft, und an einem Nachmittag im Mai 1970 erschienen plötzlich bei mir völlig aufgeregt vier Personen. Das waren die Ensslin, die Meinhof, der Baader und noch ein vierter. Die kamen direkt aus dieser Bibliothek, wo sich das zuvor abgespielt hat. HANS MAGNUS ENZENSBERGER IM GESPRÄCH MIT WOLFGANG KRAUSHAAR UND JAN PHILIPP REEMTSMA, 2005.
Um von den geschichtlichen Entwicklungen zu erzählen, die sich sowohl als historische Kontinuitäten als auch als Transformationen auffassen lassen, widme ich mich zunächst einem gegenteiligen Ereignisbegriff: dem Bruch. Es ist ein immer wiederholtes Bruchereignis, das in den RAF-Narrationen von Kinofilm bis wissenschaftlicher Fachpublikation die Vorgeschichte beendet und die Geschichte beginnen lässt – oder in den Worten der RAF selbst: „Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF […]“3 Im Bibliotheksraum des Deutschen Zentralinstituts für Soziale Fragen in der Berliner Miquelstraße 83 sollte am 14. Mai 1970 an einem Buch gearbeitet werden. Der Verleger Klaus Wagenbach hatte den Vertrag unterschrieben für ein Vorhaben mit dem Arbeitstitel Organisation randständiger Jugendlicher. Aus diesem Grund traf sich die Journalistin Ulrike Meinhof mit dem wegen Brandstiftung inhaftierten Andreas Baader im Lesesaal. Beide schienen mit der Thematik ihres Projekts gut vertraut zu sein. Meinhof hatte ab Mai 1968 begonnen, für ihren Fernsehfilm BAMBULE in Berliner Heimen zu recherchieren und Mädchen für die Rollen zu suchen. Ein erstes veröffentlichtes Ergebnis dieser Arbeit war das Radiofeature Jynette, Irene, Monika – Fürsorgeerziehung aus der Sicht von drei ehemaligen Berliner Heimmädchen4. Die Recherchearbeiten für den Film waren nicht stetig, sie wurden mehrfach unterbrochen für andere journalistische Arbeiten. So hatte Meinhof unter anderem die Kaufhausbrandstifterin Gudrun Ensslin während ihres Frankfurter Gefängnisaufenthaltes interviewt. In ihrem Artikel Warenhausbrandstiftung kam sie im November 68 zur bekennenden Erkenntnis: „Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt
3
RAF: Auflösungserklärung, S. 217.
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WDR, Ausstrahlung am 2. und 8. Dezember 1969.
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nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzbruch.“5 Kurze Zeit später schied die durch die Zeitschrift Konkret bekannt gewordenen Meinhof unter großem Streit aus der Redaktion dieser Zeitschrift aus. Sie ließ sich zudem von ihrem Ehemann Klaus-Rainer Röhl scheiden, dem Herausgeber von Konkret, und verlagerte danach ihren Arbeitsschwerpunkt auf Vorträge, Podiumsdiskussionen, Rundfunkarbeiten. Sie nahm im Sommersemester 1969 einen Lehrauftrag für Publizistik an der Freien Universität Berlin an, ein Seminar mit dem Titel „Möglichkeiten von Agitation und Aufklärung im Hörfunk-Feature“. Doch das Interesse an den prekarisierten „Heimmädchen“ blieb bestehen. Schließlich reiste Meinhof nach Hessen zu einem neuartigen Wohnprojekt, wo sie erneut auf die „Frankfurter Kaufhausbrandstifter“ Ensslin und Baader traf. Andreas Baader, dessen Beruf während der Gerichtsverhandlung stets mit „Journalist“ angegeben worden war, hatte schon aus dem Gefängnis angekündigt, an einem Buch zu arbeiten, „einen Wälzer“6, dessen Thema er jedoch nicht bekannt gab. Nach seiner Haftentlassung 1969 umgab auch er sich mit sogenannten „problematischen Jugendlichen“, mit „Heimzöglingen“, so der Sprachgebrauch dieser Zeit. In mehreren „Kampagnen“ zur Veränderung ihrer Lage war er engagiert, vor allem in der sogenannten „Staffelbergkampagne“. Aus dem nordhessischen „Fürsorgeerziehungsheim Staffelberg“ wurden Jugendliche aufgerufen, in bereitgestellten Wohnungen „Wohnkollektive“ unter studentischer Aufsicht zu gründen. Aus diesem Projekt sollte ein dokumentierendes Buch entstehen. Baaders Biograph Klaus Stern schreibt über das, was er die „Vermarktung“ ihrer eigenen Geschichte durch Andreas Baader und Gudrun Ensslin nennt: „Kaum zwei Wochen nach ihrer Haftentlassung unterschrieben sie im Juli 1969 einen Vertrag beim März-Verlag. Es soll ein Buch über die Haftzeit werden. Arbeitstitel ‚BAU – Die Gefängnisse der Gefangenen‘. Der Titelvorschlag ist von Andreas. Die vier entlassenen Brandstifter erhalten pro Person 1000 Mark Vorschuss. Den Anteil von Horst Söhnlein quittiert Andreas Baader mit gefälschter Unterschrift. Und auch ein zweites Buch ist in Vorbereitung. Vor allem Gudrun will es schreiben. Ein Buch über die Heimkampagne. Sie sammelt schon Material: Flugblätter, Akten von Fürsorgezöglingen, Tonbandaufnah-
5
Meinhof, Ulrike: „Warenhausbrandstiftung“, in: Konkret 14/1968, S. 5, zitiert nach Ditfurth, Jutta: Ulrike Meinhof. Die Biographie, Berlin: Ullstein 2007, S. 246/247.
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Brief an die Kommune I vom Juni 1968, zitiert nach Kunzelmann, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand. Bilder aus meinem Leben, Berlin: Transit, 1998, S. 100.
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men von Diskussionen und Behörden-Besetzungen. Auch dieses Buch wird nicht über die ‚Projektphase‘ hinauskommen.“
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Doch für die Brandstifter wurde die Revision abgelehnt und ihre Flucht begann. Spätestens mit Stefan Austs Aufarbeitung Der Baader Meinhof Komplex8, jener 1985 erstmalig erschienenen Großerzählung von der Roten Armee Fraktion, sind die Urszenen ein On-the-road zwischen Kulturtrip und Märchenstunde geworden, quasi nicht entscheidbar zwischen fiktionalisierend und faktualisierend. Flucht nach Paris, Zürich, Mailand, Rom, Palermo, mit dem Mercedes zu Régis Débray, zu Giangiacomo Feltrinelli, zu Luise Rinser, zu Hans Werner Henze, so hießen die Stationen. In den gefälschten Pässen von Baader und Ensslin soll „Hans“ und „Grete“ gestanden haben. Die erhoffte Begnadigung wurde nach der Revision abgelehnt, beide reisten zurück nach Berlin und kamen im Februar 1970 bei Ulrike Meinhof unter, bis sie in einer von Horst Mahler eingerichteten konspirativen Wohnung Einzug nehmen konnten. Dort wurden Schreibmaschinengeräusche vom Tonband abgespielt, damit die Nachbarn schriftstellerische Arbeit vermuteten und keinen Verdacht schöpften. Im März 1970 kam es zu einem ‚Gipfeltreffen‘ der besonderen Art, bei dem die ersten Propagandisten der Tat aus der Auflösungsmasse der APO, nämlich die „Tupamaros Westberlin“, über Konzepte einer Stadtguerilla diskutierten. Der frühere Situationist Kunzelmann schrieb mit dem Abstand von beinahe dreißig Jahren darüber: „An dem Treffen nahmen von uns Georg von Rauch, Tommy Weißbecker, Zupp und ich teil. Aus dem anderen Kreis erschienen Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Horst Mahler. Bis in die frühen Morgenstunden diskutierten und stritten wir in der Wohnung von Ulrike Meinhof in der Kufsteiner Straße am Bayrischen Platz über einen Zusammenschluß unserer Gruppen. Die unterschiedlichen Vorstellungen stießen jedoch im Laufe der Diskussion dermaßen hart aufeinander, daß am Ende nur eines klar war: Ein Zusammengehen mit dieser Gruppe konnte es nicht geben. Entscheidende Differenzen ergaben sich vor allem hinsichtlich der konkreten politischen Praxis, der Verbindung mit den legal tätigen Gruppierungen der außerparlamentarischen Opposition. Die späteren RAF-Gründer vertraten ein Konzept der freiwilligen Illegalisierung und wollten eine quasi leninistische Avantgardeorganisation aus der Taufe heben, während wir einen möglichst engen, ja fließenden Zusammenhang mit den Gruppen der Protestbewegung aufrechterhal7
Stern, Klaus: Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, München: dtv 2007, S.
8
Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg: Hofmann und Campe, 1985.
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ten wollten. Elitäre Kaderbildung sowie radikale Abschottung von anderen Linken als freiwillige Selbstisolation hielten wir für völlig fehl am Platze. Die Tragweite dieser Diskussion konnten die Beteiligten freilich erst viel später ermessen, und auch begrifflich wurde die Kontroverse erst viel später auf den Punkt gebracht: 9
‚Spaßguerilla‘ oder ‚Leninisten mit Knarre‘.“
Als das Pärchen aus Meinhofs Wohnung wieder ausgezogen war, begannen die Dreharbeiten von BAMBULE. Es war aber kaum noch das von Ulrike Meinhof erhoffte und erdachte Filmprojekt. Ebenso scheiterte auch die erhoffte Amnestie für die Kaufhausbrandstifter und damit ihre letzte Chance, eine Haftstrafe zu umgehen. Schließlich wurde Baader am 04. April 1970 unter Umständen verhaftet, die das Bild vom Roadmovie abrunden: Bei einer Verkehrskontrolle in seinem Mercedes konnte er die geliehenen Papiere seines Freundes Peter O. Chotjewitz, Anwalt und Schriftsteller, nicht verifizieren und wurde verhaftet. Für den inhaftierten Brandstifter bereitete eine Lektorin namens „Dr. Gretel Weitemeier“ die Zusammenarbeit mit Meinhof für das Buchprojekt vor. Gretel Weitemeier war Gudrun Ensslin. Doch zu diesem geplanten Werk kam es nicht. Ein von Andreas Baader geschriebenes Buch sollte es nie geben, es ist allein in den Erzählungen „eine Art Runninggag ihres ganzen weiteren Gangs in den Untergrund“10 gewesen. Denn statt weiterer Textverfassung fällt der Startschuss für eine ganz neue, ganz andere „Projektphase“. Baader und Meinhof sprangen mit den Befreiern aus dem Fenster. „Die Gangster kamen mit Masken, Tränengas und Pistolen: Um 11.32 schossen sie drei Menschen über den Haufen und befreiten den KaufhausBrandstifter Andreas Baader (27).“ Das schrieb die Bild-Zeitung einen Tag später. Vier Tage danach stand im Spiegel, dass es „den Baader-Befreiern eher um ein Zeichen als um Baader selbst ging“ 11. Nicht die Organisation randständiger Jugendlicher, sondern die Organisation des militanten Untergrunds wurde mit dem Sprung angestoßen. Und damit schrieben Baader, Ensslin und Meinhof doch noch. Im Juni 1970 erschien in der Berliner „agit 883“ ihr Aufruf „Die Rote Armee aufbauen!“. Sie schrieben, dass sie nicht mehr schreiben wollten, dass sie „Organisationsfragen“ nicht mehr diskutierten, sondern durchführten, dass sie „tätig“ wurden und nichts mehr in Worte fassen und erklären wollten.
9
D. Kunzelmann: Kein Widerstand, S. 127/128.
10 Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2003, S. 165. 11 O.A.: „Macht kaputt“, in: Spiegel 21/1970 vom 18. Mai 1970, S. 100.
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„Genossen von 883 – es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. [...] Den Jugendlichen im Märkischen Viertel habt ihr die Baader-Befreiungs-Aktion zu erklären, den Mädchen im Eichenhof, in der Ollenhauer, in Heiligensee, den Jungs im Jugendhof, in der Jugendhilfsstelle, im Grünen Haus, im Kieferngrund. [...] Denen – und nicht den kleinbürgerlichen Intellektuellen – habt ihr zu sagen, daß jetzt Schluß ist, daß es jetzt los geht, daß die Befreiung Baaders nur der Anfang ist, daß ein Ende der Bullenherrschaft abzusehen ist! Denen habt ihr zu sagen, daß wir die Rote Armee aufbauen, das ist ihre Armee. Denen habt ihr zu sagen, daß es jetzt losgeht. [...] Ohne gleichzeitig die Rote Armee aufzubauen, verkommt jeder Konflikt, jede politische Arbeit im Betrieb und im Wedding und im Märkischen Viertel und in der Plötze und im Gerichtssaal zu Reformismus, dh.: Ihr setzt nur bessere Disziplinierungsmittel durch, bessere Einschüchterungsmethoden, bessere Ausbeutungsmethoden. Das macht das Volk nur kaputt, das macht nicht kaputt, was das Volk kaputt macht! Ohne die Rote Armee aufzubauen können die Schweine alles machen, können die Schweine weitermachen: Einsperren, Entlassen, Pfänden, Kinder stehlen, Einschüchtern, Schießen, Herrschen. Die Konflikte auf die Spitze treiben heißt: Daß die nicht mehr können, wie die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen.“12
Aus dieser „Roten Armee“, dieser „Baader-Meinhof-Bande“ wurde die Rote Armee Fraktion. Sie existierte beinahe drei Jahrzehnte, einer „Projektphase“ folgte die nächste über drei „Generationen“, bis sie in jener Pressemitteilung am 20. April 1998 in die Geschichte entlassen wurde. Das sind Anfangs- und Enddatendaten der Ereignisgeschichte der RAF und der Biographie ihres Personals. Sie lassen sich zusammengetragen aus wissenschaftlichen, journalistischen und populären Darstellungen, aus Autobiographien und Zeitzeugenaussagen, aus Texten verschiedener Zeiten, aus sich fiktional oder dokumentarisch erklärenden Schriften. Die Summe dieser Splitter wurde inszeniert als eine Geschichte mit Anfang und Ende, dargestellt als eine Geschichte des Bruchs. Der initiierende Fenstersprung dient in vielen Erzählungen als Einleitung über den Terrorismus13. Diese Überschreitung einer Schwelle ist dabei die zwischen zwei vermeintlich dichotomen Praktiken: Nach dem Wort kam die Tat. Und es wird argumentiert, dass von der künstlerischen und journalistischen Operation im symbolischen Raum die Protagonisten zur direkten, unmittelbare Aktion sprangen. Von den Kodes der Sprachkommunikation wurde zum Einsatz von Waffen und Körpern ge12 O.A.: „Die Rote Armee aufbauen“, in: agit 883 Nr. 62 vom 5. Juni 1970, S. 6. 13 Als prominentestes Beispiel sei natürlich das erste Kapitel des Baader MeinhofKomplexes von Stefan Aust genannt, als Veröffentlichung jüngeren Datums das erste Kapitel von Jutta Ditfurths Biographie Ulrike Meinhof.
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wechselt. Zugleich wird mit diesem Sprung eine Entwicklung markiert, eine Entfaltung der Radikalität. Wie eine eigendynamische Gewaltspirale startete sie bei zunehmend radikaler werdenden Worten und Bildern und verlief über die körperliche Präsenz bei Demonstrationen bis hin zur Gewalt gegen Dinge. Die Spirale entfaltete sich weiter über vermeintlich konkretes Agitieren bis hin zur zunächst akzidentellen Gewaltanwendung gegen Personen – um schließlich bei offenem Aufruf zum brutalem Terror und der Durchführung bewaffneter mörderischer Kriminalität zu enden. Auffallend ist an all diesen Schilderungen, dass die Formen und Techniken von Übertragung und Speicherung, hier v.a. für Rede und Bild, immer wieder an zentralen Erzählmomenten auftauchen und maßgeblicher Teil der Entwicklung waren. Aufgefasst wurden sie in den Historiographien dabei ausschließlich als die Begleitumstände der notwendigen Repräsentation. Geschehen, Personen, Ideologien standen in den Narrativen im Mittelpunkt. Doch bereits die Vorgeschichte der Baader-Befreiung lässt erahnen, dass nicht allein im menschlichen Verhalten, in Haltungen und den daraus resultierenden Geschehnissen die Erklärungen für die Entwicklung liegen können. Die Protagonisten und ihre markanten Aktionen agieren im Wechselspiel mit Text- und Bildgebungsprozessen, nur mit Kommunikationstechniken können sie als „Stadtguerilla“ und „Terrorismus“ erkannt und benannt werden. Medien konstituierten die Ereignisse mit. Gibt es also gar eine Art von Zwangsläufigkeit aus einer Auffassung von „Medium“ heraus, die jenseits von Ideologien und situativen Umständen zur Herausbildung der Stadtguerilla beitrug? Haben die Schrift und das Bild selbst eine spezifische Wirkungsmacht? Wie ist es um Texte, Bücher, Photographien und Filme, um Fahndungsplakate, Pamphlete als gewalteskalierend bestellt, wenn doch ohne sie der RAF-Terrorismus gar nicht zu denken gewesen sein kann? Wie hinterlassen nicht nur die Personen und die Vorgänge, sondern auch die angesprochenen Medien ihre Spuren im terroristischen Akt? Welche Rolle spielt das Medium bei der angestrebten Gleichzeitigkeit von klandestiner Organisation und größtmöglichem Gewaltspektakel?
2.2 T ECHNIKEN : W ER
ZWINGT WEM WIE ETWAS AUF ?
Doch nicht allein aus der historiographischen Beobachtung und damit aus der rekapitulierenden Sprache führt die Überlegung zum Begriff des Mediums. „Daß die nicht mehr können, wie die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen“, so steht es im bereits zitierten Aufruf der „agit 883“. Der Roten Armee
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Fraktion ging es im Gründungzeitraum und schon vor der Selbstbenennung um eine Machtfrage: Sie wollte mehr als Widerstand gegen Zwänge, und wollte die Möglichkeit, selbst zu zwingen. Handlungen aufzwingen, Willen erzwingen, Wahrheit zwingen in einem nicht-dialogischen Reaktionsschema von „die“ versus „wir“14: die Marschroute der Grundkonfiguration in der langen Auseinandersetzung von Roter Armee Fraktion versus Staat oder „das System“ scheint avant la lettre vorgegeben durch die Verlautbarungen der späteren Terroristen. Dass diese Zwänge auf der Ebene von Körperlichkeit erkämpft wurden, dass ihre physischen Körper die Schlachtfelder waren und bis zur Vernichtung von Menschen und Dingen ausgedehnt wurden, dies markierte den großen, vielleicht entscheidenden Unterschied zu den zum Teil durchaus militanten, aber diskursethisch ausgerichteten und damit nicht-terroristischen Artikulationen und Praktiken der Neuen Linken um 1970. Der Modus der RAF war dabei nach eigenem Bekunden die „Gewalt“, realisiert in Akten wie Anschlag und Entführung. Der Gegenmodus des Staates war eine andere „Gewalt“, vor allem die von Überwachung, intensiver und omnipräsenter Fahndung und Haft. In dieser Schlacht nahmen proklamatorische Sprechakte, Techniken von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Verfahren von Identität und Ausgrenzung sowie Angewiesenheiten auf „interessierte Dritte“15 eine entscheidende Stellung ein. Damit wurden Medien wie beispielsweise Schriften, Bilder, Töne sowie Druckerzeugnisse, Photographien, Tonband- und Filmaufnahmen und auch Funkverkehr, Verkehrswesen, Elektrizität, städtebauliche Konfigurationen wirkmächtig. In diesem Zusammenhang ist auf die „Medienprofis“ der RAF-Gründergeneration wie Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und auch Holger Meins verwiesen worden. In den historischen Nachbetrachtungen ist häufig der Wunsch dieser Personen herausgelesen worden, dass sie einerseits durch Taten und praktische Verfahren die Arbeit mit und an Texten, Bildern, Filmen hinter sich lassen wollten. „Hell YES! Andreas, Praxis, du sagst’s!“16, so lautete der 14 Vgl. Kraushaar, Wolfgang: „Entschlossenheit: Dezisionismus als Denkfigur. Von der antiautoritären Bewegung zum bewaffneten Kampf“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 142-156. 15 Schmitt, Carl: Theorie des Partisan. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen.² Berlin: Duncker und Humblot 1963, S. 78. Oder die Adressierung „als interessiert unterstellte Dritte“ (Münkler, Herfried: „Guerillakrieg und Terrorismus. Begriffliche Unklarheit mit politischen Folgen“ in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 78-102, hier S. 94). 16 Ensslin, Gudrun/Vesper Bernward: ‚Notstandsgesetze von Deiner Hand‘. Briefe 1968/1969. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 273.
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letzte Satz eines längeren Briefes von Gudrun Ensslin an Andreas Baader während ihrer Inhaftierung nach dem Kaufhausbrand im August 1968. Hier ist mit „Praxis“ der rekurrente Begriff der Gründungsphase der RAF ausgesprochen worden. Aus vielen späteren schriftlichen Eigenbekundungen spricht eine Begeisterung für „Praxis“, für Arbeit jenseits medialer Codierungen, die als nicht mehr konsequent, radikal und revolutionär galten. Doch nicht nur eine Wende zum vielgerühmten „Primat der Praxis“ ist zu beobachten. Vielmehr setzte eine regelrechte Fetischisierung des Begriffs „Praxis“ ein, der sich in der Umsetzung des Sehnsuchtsprojekts Stadtguerilla als ‚Tat-sächlich‘ zu manifestieren versprach. Andererseits wurde diesen Protagonisten aber auch unterstellt, eben als „Medienprofis“ hätten sie genau gewusst und geplant, was sie taten. Sie hätten Wege und Wirkungen exakt kalkuliert, wenn sie sich vor Film- und Photokameras bewegten, aufs Tonband sprachen oder an die Schreibmaschine setzten. Jenseits eines solchen, stets ein Bisschen im Vagen bleibenden und zwischen Anekdote und Psychologisierung pendelnden Zugangs17 ist ein Blickwechsel von dem Personal auf die Medien selbst angebracht. Aus dieser Perspektive ist eine Genese rekonstruierbar für eine solche Vor- oder Entstehungsgeschichte, in der die Tat beinahe unentwebbar verknüpft mit Wort und Bild zu einem Gründungsereignis werden konnte. Das „Projekt Stadtguerilla“ (selbst zunächst ein Wort in einem gedruckten Text) kam nicht umhin, ein Medienkonzept und -projekt zu sein. Eine Gefangenenbefreiung ist ein solcher manifester Akt des Aufrufs „Die zwingen, was wir wollen“. Jedoch war eine solche Aktion von „anarchistischen Gewalttätern“, so die Bezeichnung der ersten Fahndungsplakate, nicht vollkommen neuartig in der Geschichte des Linksradikalismus und Anarchismus, worauf die etwas hilflose Titulierung der fahndenden Polizei unfreiwillig hindeutet. Es gab bereits eine, wenn auch nicht durchgehende, mehr als hundertjährige Tradition unter anarchistischen Revolutionären, die der RAF-Gründergeneration wahrscheinlich durchaus bekannt war, aber in ihren Schriften nie explizit genannt worden ist. 17 Das Erkenntnis- und Quellenproblem der so verfahrenden Zeithistoriker ist folgendes: „Die Schwierigkeit, die Ursprünge der Stadtguerilla und des Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland zu eruieren, liegt zweifellos auch in dem Umstand begründet, dass es zur Natur derartiger Gruppen gehört hat und zum Teil immer noch gehört, konspirativ zu arbeiten, sich nach außen so weit als möglich abzukapseln und ihre Kenntnisse – ob als Täter, Mittäter oder nur als Mitwisser – über Jahrzehnte hinweg wie eine Art Arkanwissen zu hüten.“ (Kraushaar, Wolfgang: „Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 218-247, hier S. 218)
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So naheliegend und erhellend eine mögliche Einordnung in diese Tradition, in eine historisch entwickelte politisch-ideologische Kategorisierung zwar sein könnte, soll doch das aus der Darstellung entnommene, neue und zu dem damaligen Zeitpunkt hochaktuelle Label „Stadtguerilla“ fokussiert werden18. Denn weniger die europäischen Anarchisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern viel eher die zeitgenössischen Befreiungskämpfer in außereuropäischen Ländern schienen die maßgeblicheren Stichwortgeber gewesen zu sein. Auf theoretischer Reflexionsebene in Bezug auf Guerillastrategien waren sie der Haupteinfluss. Und in der praktischen Umsetzung verwies die RAF auf angewandtes regelrechtes „Handbuchwissen“: „Stadtguerilla setzt die Organisation eines illegalen Apparates voraus, das sind Wohnungen, Waffen, Munition, Autos, Papiere. Was dabei im Einzelnen zu beachten ist, hat Marighella in seinem ‚Minihandbuch der Stadtguerilla‘ beschrieben. Was dabei noch zu beachten ist, sind wir jederzeit jedem bereit zu sagen, der es wissen muß, wenn er es machen will. Wir wissen noch nicht viel, aber schon einiges.“19
So steht es in der Gründungs- und Begründungsschrift Die Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla, komplett abgedruckt in der Berliner „agit 883“ fünf Wochen nach der Befreiung von Andreas Baader. 2.2.1 Stadtguerilla und Medium I: Handbuch und Propaganda Unter der Überschrift „Die bewaffnete Propaganda“ schrieb der brasilianische Guerillero Carlos Marighella (1911-1969) im Juni 1969 über die Bedeutung der Zusammenhängen von militanter Aktion, Repräsentation und Mediengebrauch:
18 Eine Einreihung in eine andere, längere Traditionslinie und damit eine entscheidende Verschiebung des gesamten semantischen Feldes des Großstadtguerilleros erfolgte erst im Mai 1971 mit der Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“, deren alleinige Autorenschaft Horst Mahler zugeschrieben wird. Dort wurde explizit an Lenins „Der Partisanenkrieg“ und Maos „Strategische Probleme des Partisanenkrieges“ angeknüpft und vielfach zitiert. Dementsprechend wurden in Mahlers Text, insbesondere im Kapitel „Stadtguerilla als revolutionäre Interventionsmethode in den Metropolen“, die Begriffe Partisanenkampf, Partisanenaktion, Partisaneneinheit etc. als Synonym für Großstadtguerilla verwendet. 19 RAF: „Das Konzept Stadtguerilla, April 1971“, in: ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Frak-tion – Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin: ID-Verlag 1997, S. 27-48, hier S. 42.
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„Jede einzelne und die Gesamtheit der bewaffneten Aktionen des Stadtguerillero sind Formen der bewaffneten Propaganda. Die Berichterstattung über die mit genau festgelegten Zielen durchgeführten Aktionen in den Massenkommunikationsmitteln wird unweigerlich zur Propaganda, wie auch Banküberfälle, Hinterhalte, Desertionen, Waffenumleitungen, Gefangenenbefreiung, Hinrichtungen, Entführungen, Sabotage, Terrorismus und der Nervenkrieg. Flugzeugentführung und überfallene und unter Kontrolle gebrachte Schiffe können manchmal reine Propagandaaktionen der Revolutionäre sein. Dennoch kann der Stadtguerillero nicht auf eine Untergrunddruckerei, Vervielfältigungsmaschinen und ähnliches zur Herstellung von kleinen Untergrundzeitungen, Pamphleten, Flugblättern und anderem Propagandamaterial gegen die Diktatur verzichten. […] Andere Formen der Propaganda sind Tonbandaufnahmen, Besetzung von Radiostationen und Lautsprecherzentralen, Bemalen von Hauswänden und anderen, kaum zu erreichenden Flächen. Ihre Anwendung verlangt den Charakter einer bewaffneten Aktion. Mit Briefen, die an bestimmte Anschriften gerichtet sind und die Ziele der bewaffneten Aktionen erklären, kann auf bestimmte Bevölkerungsgruppen Einfluß genommen werden. "
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Marighellas Manual do guerillheiro urbano wurde als Minimanual of the Urban Guerilla in der amerikanischen Zeitschrift „Tricontinental“ (Nr. 16, Jan./Feb. 1970) in vollem Wortlaut abgedruckt. Als Minihandbuch des Stadtguerilleros erschien es in deutscher Übertragung erstmals im Frühjahr 1970 in „Sozialistische Politik“ des Otto Suhr Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Der Text wird gegenwärtig sowohl von Politologen und Kommunikationswissenschaftlern als einer der ideologisch-konzeptionellen Haupteinflüsse für das strategische Papier Das Konzept Stadtguerilla21 bewertet. Zudem wurde der von Marighella entworfene „Bauplan“ für eine Stadtguerilla in vielen Elementen von der RAF-Gründergeneration geradezu schematisch in die Tat umgesetzt, zum Beispiel erfolgte die Logistik nach der berühmten Formel „M-G-WM-S“ (Motorisierung, Geld, Waffen, Munition, Sprengkörper). Beinahe sämtliche Praktiken, die den späteren RAF-Terrorismus bestimmten, sind in diesem kurzen Absatz aus Marighellas Text aufgelistet: „… Banküberfälle, Hinterhalte, Desertionen, Waffenumleitungen, Gefangenenbefreiung, Hinrichtungen, Entführungen, Sabotage, Terrorismus und der Nervenkrieg …“. So gelesen war die frühe Selbststilisierung der RAF als das „Projekt Stadtguerilla“ ein reines Nachahmungsverfahren der lateinamerikanischen Guerilla, 20 Marighella, Carlos: Handbuch des Stadtguerilleros. Dt. Übersetzung o.A., S. 36/37. 21 Vgl. dazu: Daase, Christopher: „Die RAF und der internationale Terrorismus. Zur transnationalen Kooperation klandestiner Organisationen“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 905-931, sowie Elter, Andreas: „Die RAF und die Medien. Ein Fallbeispiel für terroristische Kommunikation“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 1060-1074.
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insofern, als dass angelesenes Handbuchwissen in die Tat umgesetzt wurde. Und tatsächlich war in dem Buch sogar die Initiationsaktion „Baader-Befreiung“ vorgegeben: „Verhaftete Stadtguerilleros werden durch bewaffnete Aktion befreit.“22 Genau auf diesen Umstand der eigenen Popularisierung zielte das Minihandbuch dezidiert ab, noch bevor es den Katalog von Definition, Strategien und Aktionen der Stadtguerilla auflistet. In der Einleitung ist als ein erster Imperativ eine Anweisung für das Handbuch selbst zu lesen: Es soll nicht nur gelesen und verstanden werden, sondern der Leser soll zur Textvermehrung beitragen. Es sei dazu überzugehen, „dieses Handbuch hektographisch zu vervielfältigen oder als Pamphlet zu drucken – auch dann, wenn dies die Anwendung von Waffen erfordert.“23 Und der Stadtguerillero selbst muss solche Formate natürlich auch zur Kenntnis nehmen: „Der Stadtguerillero muß sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen und daher versuchen, gedruckte oder in Form von Pamphleten abgezogene Arbeiten zu lesen, zum Beispiel ‚Der Guerillakrieg‘ von Che Guevara, ‚Die Erinnerungen eines Terroristen‘ [...].“24 Bereits die Guerilla-Werdung selbst war für Marighella nur als ein Aneignungsprozess zu denken, bei dem die Druckerpresse oder die Matrize eine zentrale Funktion hatte und das Lesen, anderem Tätigwerden vorgeschaltet, als erste Aktion empfohlen wurde. Alle folgenden revolutionären Praktiken sollten sich an gezielt angelesenen Mustern orientieren. So wurde Wort und Text die zentrale Bedeutung zugesprochen und die Arbeit an ihnen war im Weiteren in Kombination mit anderen Praktiken wichtig. Mit der Empfehlung des Minihandbuchs konnte von einer Abkehr vom Wort in der originären Stadtguerilla nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Vertrauen in die aufklärerische Kraft von Texten blieb virulent. Zugleich verwies Marighella auf Vorbilder und Prätexte. Che Guevaras La guerra de guerrillas (deutsch Der Partisanenkrieg) von 1960 ist die Vorlage für das Minimanual selbst. Unmittelbar nach seinen sehr erfolgreichen Erfahrungen auf Kuba schrieb Guevara, der schnell zu einer Heldenfigur des intellektuellen Revolutionärs und zum Bildgeber linker Popikonographie schlechthin geworden war, seine Empfehlung nieder. Seine Guerilla-/Partisanenstrategie sollte als revolutionäres Modell auf alle mittel- und südamerikanischen Diktaturen ausgeweitet werden. Bereichert durch Skizzen, militärische Ordnungsangaben sowie logistische und proto-administrative Notwendigkeiten erklärte Guevara das Wesen, die Strategie und die Taktik des Guerillakrieges im 22 C. Marighella: Minihandbuch, S. 33. 23 Ebd., S. 4. 24 Ebd., S. 6. Ausgelassen ist hier die Fortsetzung der Aufzählung, die aus damals aktuellen Texten zur südamerikanischen Guerilla besteht.
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ländlichen Gelände, in Agrarland, Dörfern und Vorstädten. In einem eigenen Kapitel skizzierte Guevara die Figur des Guerilleros als Vorkämpfer für eine sozialistische Gesellschaft, ohne dass dabei alle gesellschaftlichen Voraussetzungen, wie sie von orthodoxeren sozialistisch-kommunistischen Theoretikern für eine Revolution angekündigt worden waren, erfüllt sein mussten. Die daraus hervorgehende „Fokus-Theorie“, nach der eine entschlossene Kleingruppe ihre konzertierten Aktionen auf strategisch wichtige staatliche Ziele richtete, dann die Unterstützung der breiten Bevölkerung gewann und so die Revolution herbeiführte, war besonders folgenreich in der westeuropäischen Rezeption der Neuen Linken.25 Weniger naheliegend war Guevaras Verweis auf Boris Viktoroviþ Savinkovs Die Erinnerungen eines Terroristen, ebenfalls ein biographisch gefärbter, jedoch viel weniger instruktiver Erfahrungsbericht, den der russische Terrorist und Schriftsteller erstmalig 1909 veröffentlichte. Damit waren ein anderer historischer Kontext und andere Bedingungen von revolutionärer Aktion aufgerufen, interessanterweise aber auch eine viel direktere Linie zur Geschichte des Terrorismus europäischer Prägung. Es ist ein anderer Typus von Partisan, nämlich ein Terrorist, der schon von Albert Camus als „Artist der Revolution“‘26 inszeniert wurde und als „Träumer des Absoluten“27 faszinierte. Der Savinkov-Leser Hans Magnus Enzensberger schrieb 1964 über „Traktat und Bombe“28 und die „Schöne[n] Seelen des Terrors“29 eine Geschichte des russischen anarchistischen Terrorismus: „Sie handelt nicht von Klassenkämpfern und Produktionsverhältnissen, sondern von Träumern und Fanatikern, von Amokläufern und Schöngeistern, von Hochstaplern und
25 Vgl. Gierds, Bernhard: „Che Guevara, Régis Debray und die Focustheorie“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 182-204. 26 Damit ist eine eigene Faszinationsgeschichte in der europäischen Literatur aufgerufen: von L'affaire Courilof (1931, Irène Némirovsky), Les Justes (1949, Albert Camus), Die schönen Seelen des Terrors (1966, Hans Magnus Enzensberger). Enzensberger verfasste auch einen „Vor- und Nachbericht“ zur deutschen Ausgabe der „Erinnerungen“ im Jahr 1985. 27 Enzensberger, Hans Magnus: Politik und Verbrechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 285. 28 Ebd. 29 Ebd., S.327. „Dieses Kapitel hält sich eng an die bereits genannten Memoiren von Boris Sawinkow.“ (Ebd., S. 395)
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Wirrköpfen, Missionaren und Selbstmördern, von blutigen Heiligen, derengleichen die Welt nicht wieder gesehen hat.“
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Hier ist das Rollenmodell jener von Marighella als „Künstler-Stadtguerillero“ ausgehenden Faszinationsfigur zu finden und historisch zu verorten. Marighella schwärmte: „Der intellektuelle Stadtguerillero oder der Künstler-Stadtguerillero sind die neusten Bereicherungen des revolutionären Krieges in Brasilien.“31 Doch war genau der besagte „Künstler“ eine entlarvende Spezifik der Übersetzung für die westeuropäische Leserschaft. Im Original hieß es allein „guerrilheiro urbano intelectual“, im Englischen Mini-Manual der „Tricontinental“ lautete der erweiterte Begriff dann der „urban guerrilla intellectual or artist“. Was als neueste Bereicherung angesprochen wurde, entpuppte sich so als geschichtliche Konstante. Auf diesem Umweg der Übersetzungen und Prätexte schrieb sich der Stadtguerillero in eine Geschichte ein, die zu den russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts führte und damit zu den Gründungsszenen des modernen Terrorismus. Ein nicht historisch begründeter, sondern methodisch entwickelter Zusammenhang zwischen Stadtguerilla und Terrorismus besteht in Marighellas Handbuch auf den ersten Blick nur insofern, als dass der Terrorismus im genannten Zitat eine Teilfunktion oder eine Untergruppe im Maßnahmenkatalog darstellt, angesiedelt zwischen „Sabotage“ und „Nervenkrieg“. An anderer Stelle wird unter der Zwischenüberschrift „Terrorismus“ über „Ausübung des Terrorismus“ mittels „Bomben und andere[r] Sprengkörper“ recht knapp doziert, dass er eine probate „Aktion“ sei, auf die „niemals verzichtet“32 werden könne. „Terrorismus“ ist in dieser Textpassage mit Bombenbau und Sprengung gleich gesetzt. Allerdings ist die Bezugsgröße „Terrorismus“ gleich zu Textanfang, nach der Aufforderung des Lesens und Vervielfältigens und noch vor jeglicher Bezugnahme auf „Guerilla“, aufgerufen als etwas jenseits der Zerstörung: „Die Beschuldigung, ein Räuber oder Terrorist zu sein [„‚violência‘ ou ‚terrorismo‘“ i.O.; „‚violence‘ or ‚terrorism‘“ i.Engl., Anm. d. Verf.], hat heute nicht mehr die abschätzige Bedeutung, die ihr früher anhaftete. Sie hat ein neues Gewand, neue Farbe erhalten, sie schreckt nicht mehr, sie ist nicht mehr abfällig, im Gegenteil: sie ist geradezu zu einer Attraktion geworden [„ele representa o centro da atração“ i.O; „it represents a center of attraction“ i. Engl., Anm. d. Verf.]. Ein Räuber und Terrorist zu sein, ist eine Eigenschaft, die jeden ehrlichen Menschen ehrt, denn sie bezeichnet genau die würdige Einstellung des 30 Ebd., S. 289/290. 31 C. Marighella: Minihandbuch, S. 48. 32 Ebd., S. 36.
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Revolutionärs, der bewaffnet gegen die schändliche Militärdiktatur und ihre Ungeheuerlichkeiten kämpft.“
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„Terrorist“ ist zunächst eine Beschuldigung. Es soll als ein Sprechakt des feindlichen Gegenübers begriffen werden. Marighella erhoffte sich, dass der Effekt dieses Sprechaktes sich gewandelt habe. Die Semantik des Begriffs habe sich dabei verändert, denn der Wortkern „terror“ als Schrecken sei nicht mehr maßgeblich: „schrecken“ meint mindestens ein ängstliches oder vorsichtiges Innehalten, kann aber genauso als Abkehr ohne Rückkehr oder Wiederholung verstanden werden, als abschrecken, einschüchtern und verjagen. Marighella nun behauptete: „Terrorist“ „schreckt nicht mehr“, sondern erwirkt genau das Gegenteil, er übe anziehende Wirkung aus: „Terrorist“ sei Attraktion! Wenn auch etwas unklar bleibt, wer hier angezogen wird, so ist doch deutlich, dass aus einer abschätzigen und pejorativen Bedeutung einen Ehrentitel gemacht wird. Vielmehr noch, das Wort kann selbst einen gewissen positiven Wert besitzen, indem es Aufmerksamkeit und Interesse auf sich zieht, lateinisch „ad trahere“. Die Verschiebungsoperation der Stadtguerilla stellt sich dar als Bewegung vom Schrecken zum Attraktor. Der Künstler als revolutionäre Figur ist als Innovation aufgerufen, doch bleiben künstlerische Praktiken unerwähnt und das Kunstwerk ist als ein Medium der Guerilla eine Leerstelle. Ein Medienbegriff der Guerilla kommt ohne sie aus. Dem Minihandbuch ist über Technik und Methode von Übertragung oder Kommunikation (ein Begriff wie „Medien“ ist im ganzen Text nicht erwähnt) nur eine Auffassung zu entnehmen: Sie sind ausschließlich Werkzeuge zur politischen Maßnahme der „Massenkommunikation“. Unter Massenkommunikation soll in erster Linie „Propaganda“ zu verstehen sein, also Transfer in eine Richtung, nicht etwa ein wechselseitiger Austausch. Damit ist der Begriff für die Funktion und Aufgabe von Medien gefallen, der spätestens seit den vorrevolutionären Jakobinern eng mit der Verbreitung (lat. „propagare“: verbreiten) revolutionärer Ideen verwendet worden ist. Lenin, als ihr maßgeblicher Theoretiker, unterschied beispielsweise bei seiner Theorie der revolutionären Avantgarde die Materialität des Wortes zwischen Propaganda und Agitation, die beide als Apell zu Tat begriffen sein sollten: „Der Propagandist wirkt darum hauptsächlich durch das gedruckte, der Agitator durch das gesprochene Wort. […] Ein drittes Gebiet oder eine dritte Funktion der praktischen Tätigkeit schaffen zu wollen, nämlich „den Appell an die Massen zu bestimmten konkreten Aktionen“, ist der größte Unsinn, denn der „Appell“ als einzelner Akt ist entweder die natür33 C. Marighella: Minihandbuch, S. 4/5.
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liche und unumgängliche Ergänzung sowohl des theoretischen Traktats und der propagandistischen Broschüre als auch der Agitationsrede, oder er stellt eine rein ausführende Funktion dar.“34
Einem solch konzeptionellen Paradigma linksradikaler Revolutionstheorie blieb auch die Stadtguerilla in ihren Schriften verhaftet. Doch war das Angebot an Medien und Techniken um das Jahr 1970 immens angewachsen. Der von Marighella in Bezug auf die Vervielfältigung der eigenen Texte angesprochene Hektograph war in Westeuropa als „Nudelmaschine“ nur noch im Bereich der Schülerzeitungen und Mensaflugblätter zu verorten. Das Radio ist zwar in der Aufzählung des brasilianischen Revolutionärs genannt, jedoch fanden beispielsweise bewegte Bilder in Kino und Fernsehen keine Erwähnung als „Massenkommunikationsmittel“. Marighellas Text war primär für ein sogenanntes Dritte-WeltLand ohne entsprechende Infrastruktur verfasst worden, zeigt aber dessen ungeachtet die Tendenz, dass Medieninnovationen in eine fortlaufende Reihe unter die Leitidee „Kommunikation“ respektive „Propaganda“ gesetzt wurden. Sie stellen in Bezug auf das skizzierte revolutionäre Vorgehen nicht mehr dar als eine begrüßenswerte Erweiterung zur Verbreitung aufständischer Atmosphäre bei der Zielgruppe und Erzeugung von Angst bei den Gegnern. So gesehen steht nur folgerichtig die bemalte Hauswand ununterschieden neben dem Zeitungsartikel und ebenso undifferenziert der Brief neben der Radiosendung. Sie alle basieren auf dem Wort, das gelesen oder gehört werden kann. Medienevolution im Sinne von Veränderungen und Ausweitungen der Übertragungs- und Speicherungsmöglichkeiten, wie in den 1960er Jahren zu beobachten, verlangen dem Minihandbuch nach nicht etwa nach einer veränderten Planungsweise. Sie werden aufgefasst als eine weitere Verteilungstechnik für sich revolutionär artikulierende Rede. Bei den aufgezählten Medien schien nur entscheidend zu sein, dass der Guerillero sowohl Produzent sein beziehungsweise in die Produktion eingreifen konnte („Druckerpresse“, „Tonband“), als auch über Distributionsmöglichkeiten verfügte („Untergrundzeitung“, „besetzte Radiostation“). Oder, dass er auf andere Instanzen der Nachrichtenvermittlung vertraute, indem die Guerilla so frappierende gewaltsame Aktionen durchführte, dass die „Berichterstattungen“ in den „Massenkommunikationsmitteln“ diese nicht ignorieren konnten. Doch war offenbar nicht allein eine anonym bleibende Masse als Adressat des Versuchs gemeint, „Einfluß zu nehmen“. Denn während vor allem die Radiosendung offen ließ, wer sie hörte beziehungsweise hören konnte, war eine beschriebene Wand dagegen schon an ein recht lokales Straßenpublikum gerichtet, 34 Lenin, Wladimir Iljitsch: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, 1902. http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap3b.htm vom 03.09.2011.
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während ein Brief punktgenau den exakten Adressaten zumindest potentiell erreichte. Einhergehend mit den Überlegungen zur Adresse der Propagandarede stand es mit der Autorenschaft ähnlich diffus. Während ein Brief mit der Unterschrift den Schreiber bezeugen konnte, ging bei einer Radiosendung oder einem Zeitungsartikel der Text durch viele Hände, von der Redaktion bis zum Druck – und bei einem journalistischen Bericht über eine Guerillaaktion war der Schreibakt komplett in externe Hände gelegt. Aus der eigenen Erfahrung heraus geschrieben, also vor dem Hintergrund von zumindest partiell erfolgreich agierender Stadtguerilla, wird in Marighellas Text deutlich, dass von einem Bruch in Einsatz und Umgang von und mit Medien bei der Hinwendung zu seinem Konzept von „urban guerilla“ keine Rede sein konnte. Sowohl die entworfene Figur des großstädtischen Partisanen als auch die des Großstadtguerilleros waren ihrer Organisationsform nach ‚Medienprojekte‘. Vor allem war aber ihre „Aktion“ und damit die „Attraktion“, jenem Ereignis, in dem militärisch-strategische und propagandistisch-agitatorische Verfahren als untrennbare Wechselwirkung begriffen werden sollten, ohne das Wort nicht denkbar. Ein Medienensemble sollte in der möglichst zeitnahen Nachbereitung aus einer bewaffneten Tat eine Attraktion zur Propaganda machen. 2.2.2 Stadtguerilla und Medium II: Irreguläre Aktionen und sinnliches Bewusstsein Die Demonstrationen in Berlin sind getragen durch einen naiven Glauben an den Rechtsstaat und an die ‚Öffentlichkeit‘ (die Sucht in die Zeitung zu kommen ist beinahe eine Krankheit der Linken geworden). Diese Romantik ist von uns ad absurdum zu führen; wir müssen den legalen Rahmen sprengen, wir müssen die sich selbst aufputschende Herrschaft provozieren, damit deren Gegenmassnahmen endgültig den Schein der Demokratie zerreissen; nur so wird die innere Kohäsion der Demonstranten aufgebaut und ein sozialistisches Bewusstsein geschaffen. Wir agieren also eher in der Demonstration als für die Aussenstehenden, für die Gaffer. Wir brauchen in Berlin keine 500 humanistischen Schwärmer, die sich den Luxus leisten können zu protestieren; wir benötigen 500 Humanisten der Tat! BERND RABEHL: BRIEF AN DIETER KUNZELMANN, MÄRZ 1965.
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Diejenigen, die ab 1969 als „Stadtguerilla“ in Berlin und Westdeutschland erstmals unter diesem Eigennamen agierten, waren nicht die ersten Leser eines Programms von modernen großstädtischen Partisanenkämpfen. Dem Wort „Guerilla“ wohnte nicht erst im Diversifikationsprozess der studentischen Linken eine Faszination inne. Bereits in früheren Stadien der APO beflügelte es die Fantasie prominenter Intellektueller und wurde von ihnen als Konzept auf die Metropole hochindustrialisierter Massengesellschaften übertragen. Die zeithistorische Forschung verfestigt dabei die Vermutung, die Idee würde in erster Linie „individuell auf Rudi Dutschke zurückgehen und bis in die Zeit vor der Studentenrevolte reichen.“35 Das Organisationsreferat36, das Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl gemeinsam zu verantworten hatten und das auf der 22. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes am 05. September 1967 vorgetragen wurde, galt über ein Jahrzehnt lang als verschollen. Es wurde vor Ort auf Tonband aufgezeichnet und sollte nach dem mündlichen Vortrag in der SDSZeitschrift „Neue Kritik“ abgedruckt werden. Die Redaktion forderte jedoch vier Wochen nach der Konferenz Dutschke per Brief auf, den aus der Tonaufnahme resultierenden Schrifttext zu ergänzen, da er wegen schlechter Aufnahmequalität Lücken enthielt. Zur Überarbeitung kam es aus unbekannten Gründen nicht. Das Manuskript galt als nicht mehr auffindbar und von der Rede selbst blieben nur Berichte aus zweiter Hand. Erst nach Dutschkes Tod tauchte das Referat wieder auf und wurde erstmals 1980 in einer Frankfurter Studentenzeitung abgedruckt37. Der Herausgeber von Dutschkes Texten, Jürgen Miesmeister, ergänzte das Referat mit dem Hinweis: „Das Manuskript der Rede ist verloren, der abgedruckte Text basiert auf einer Tonbandaufnahme; einige kurze unverständliche Passagen sind ausgelassen.“38 Mit dieser Veröffentlichung wurde es möglich, aus der Rede im Zuge der Historisierung der APO „ein, wenn nicht das Schlüsseldokument aus der Geschichte des SDS“39 werden zu lassen. Erstmalig in öffentlicher Rede 35 W. Kraushaar: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 218. 36 Dutschke, Rudi: „Das Sich-Verweigern erfordert Guerilla-Mentalität“, in: Ders., Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens, Berlin: Wagenbach 1980, S. 89-95. 37 Vgl. W. Kraushaar: Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 221. 38 R. Dutschke: Das Sich-Verweigern, S. 95. 39 W. Kraushaar: Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 221. In seiner Untersuchung – „eine Art Puzzle“ (Ebd., S. 241) – anhand von handschriftlichen Notizen aus dem Dutschke-Nachlass und Erinnerungen von Zeitgenossen stellt Kraushaar fest, dass sich erste Begriffsverwendungen und Theorieelemente der Stadtguerilla bereits auf den Februar 1966 datieren lassen. (Ebd., S. 245)
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ist für die westdeutsche Linke „eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit“ vorgeschlagen worden, der „städtische Guerillero“40 wurde als revolutionärer Typus erklärt und angestrebt. Im Gegensatz zu Marighella, der nach der eigenen praktischen Guerilla-Tätigkeit schrieb, war bei Dutschke und Krahl ein solcher konzeptueller Entwurf ohne paramilitärische Erfahrung entstanden. Die Vortragenden stellten dem SDS nach den studentischen Erfahrungen der Großen Koalition und des „politische[n] Mord[es] am 2. Juni in Berlin“41 die „Organisationsfrage“ des Verbandes. Als Konsequenz aus „noch nie dagewesenen Verbreiterung des antiautoritären Protestes“42 nach dem Ohnesorg-Tod musste sich der SDS, so er die Führungsrolle als Sammelbecken der unterschiedlichen Strömungen nicht verlieren wolle, vom „revisionistischen Modell der bürgerlichen Mitgliederparteien“ hin zu „revolutionärer Existenz“43 entwickeln. Das Grundverständnis war dabei die Legitimität von materieller Gegengewalt der unterdrückten Klasse, die in einem System von ökonomischer Gewalt und außerökonomischer, d.h. staatlicher und institutioneller Zwangsgewalt unterdrückt worden ist. Beide Formen werden vielfach in den Ausführungen des Referats über die historischen Entwicklungen dieser strukturellen Gewalt genannt. In der konstatierten gegenwärtigen Krise sei „objektiv die Bourgeoisie im Interesse von deren ökonomischer Verfügungsgewalt zum Rückgriff auf die physisch terroristische Zwangsgewalt des Staates“44 gezwungen. Das Adjektiv „terroristisch“ ist also im Sinne des „Staatsterrors“ eingesetzt, zudem in der Rede in einem Rückblick auf die Krise nach 1929 auf ein bestimmtes Regime gemünzt, nämlich „die terroristische Machtstruktur des faschistischen Staates“45. Wenn Dutschke und Krahl in der Frankfurter Mensa dem studentischen Auditorium die Notwendigkeit von einer „Strategie revolutionärer Aktionen“46 unter Anleitung „revolutionäre[r] Bewußtseinsgruppen“47 erläuterten, dann sollte sie als nichtterroristisch begriffen werden. Terroristisch war in ihrem Kontext der (proto-)faschistische Staat48. 40 R. Dutschke: Das Sich-Verweigern, S. 94. 41 Ebd., S. 89. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 95. 44 Ebd., S. 92. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 94. 47 Ebd., S. 94. 48 Jenseits ihres Referats war die Positionierung zum „Terrorismus“ und zum Adjektiv „terroristisch“ eher ambivalent. Hans-Jürgen Krahl notierte beispielsweise Ende des Sommers 1967 zu seiner Lenin-Lektüre: „Lenins Stellung zum Terrorismus beruht auf
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Die Stoßrichtung dieser durchaus physischen Gewalttaten war dennoch auch eine Aktion symbolischer Art. Ihre „Methode politischen Kampfes“49 entlehnten die Redner aus den Erfahrungen der Geschichte des europäischen Anarchismus in Ergänzung der zeitgenössischen Guerilla-Strategie Lateinamerikas: „Die revolutionären Bewußtseinsgruppen, die auf der Grundlage ihrer spezifischen Stellung im Institutionswesen eine Ebene von aufklärenden Gegensignalen durch sinnlich manifeste Aktion produzieren können, benutzen eine Methode politischen Kampfes, die sie von den traditionellen Formen politischer Auseinandersetzung prinzipiell unterscheidet. Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreitung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewußtseinsprozeß für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenden Massen, denen durch sichtbar irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit werden kann. Die ‚Propaganda der Schüsse‘ (Che) in der ‚Dritten Welt‘ muß durch die ‚Propaganda der Tat‘ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeiten geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.“
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der revolutionären Pädagogik, die die Massen zur Aktivität, das heisst ihre spontane Bewegung zur autonomen Befreiung auf Grund der Enthüllungen konkreter Erscheinungen des autokratischen Systems von Unterdrückung, Gewalt und Herrschaft erziehen. Wo diese Voraussetzungen, die das klassische Verhältnis von politischer Führung und Massenbasis bezeichnen, nicht mehr gegeben sind, müssen sich revolutionäre Propaganda und Agitation anders organisieren.“ (Krahl, Hans Jürgen: „Zu Lenin: Was tun?“, in: Ders., Konstitution und Klassenkampf – zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Schriften, Reden und Entwürfe aus den Jahren 1966 - 1970, Frankfurt: Verlag Neue Kritik 1985, S. 155-156, hier S. 156). Und Dutschke soll bei einer Diskussionen während Marcuses Vorträgen über „Das Ende der Utopie“ im Juli 1967 geäußert haben: „Die volle Identifikation mit der Notwendigkeit des revolutionären Terrorismus und der revolutionären Kampfes in der Dritten Welt ist unerlässliche Bedingung für den Befreiungskampf der kämpfenden Völker und die Entwicklung der Formen des Widerstands bei uns [...]“ (W. Kraushaar: Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 221) 49 Ebd. 50 Ebd., kursiv durch Verf. Andreas Elter geht diesem Begriff in seiner Untersuchung „Propaganda der Tat“ in seiner Entstehung nach (A. Elter, Andreas: Propaganda der Tat, S. 63-73). Auch wenn er keinen „Erfinder“ ausmachen kann, so sind personell die Überlegungen zurückzuführen „im wesentlichen auf die vorrevolutionären russischen
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Von den ansonsten nicht näher spezifizierten „sichtbar irreguläre[n] Aktionen“51 wurde erwartet, dass sie „aufklärende Gegensignale“, „Agitation“, „Verbreitung“, „Bewußtseinsprozeß“, „Propaganda“ produzierten. Die Art der Sichtbarmachung, das medientechnische Verfahren von Signal und Kanal, die Semiotik dieser Zeichenproduktion – all dies bleibt Leerstelle. Stattdessen ist eher der Duktus einer vermeintlichen Unmittelbarkeit, eines direkten Empfangens und Verstehens herauslesbar. „Sinnlich“ ist das rekurrente Adjektiv dieser Rede, auch in Bezug auf Aktion, Vermittlung und Erfahrung, die in einer „sinnlichen Gewißheit“52 der systemimmanenten Gewalt mündet, welche bis dato lediglich Anarchisten Michail Bakunin und Pjotr Alexewitsch Kropotkin.“ (A. Elter: RAF und Medien, S. 63) Elter zitiert Bakunin aus „Briefe über die Gegenwärtige Krise an einen Franzosen“: „Wir müssen unsere Prinzipien nicht mit Worten, sondern mit Taten verbreiten, denn dies ist die populärste, stärkste und unwiderstehlichste Form der Propaganda.“ (Ebd., S. 64) Vor allem aber arbeitet Elter das Dispositiv des europäischen Anarchismus ab Mitte des 19. Jahrhunderts heraus, freilich ohne es als solches zu benennen: „Auf technischer Ebene waren damit das Dynamit und der Rotationsdruck die Innovationen, die den modernen Terrorismus und die Propaganda der Tat überhaupt erst ermöglichten.“ (Ebd.) 51 Dutschke und Krahl scheinen in dieser Ausführung an das Dogma des Partisanenkampfes nach Carl Schmitts – „Der Partisan kämpft irregulär“ (C. Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 11) – anzuknüpfen. Eine nähere Bestimmung der Dichotomie regulär/irregulär erfolgt jedoch nicht. Kraushaar weist darauf hin, dass die Irregularität auf Krahls Schmitt-Lektüre zurückzuführen sei. „Krahl notiert sich bei der Lektüre von Lenins organisationstheorietisch entscheidender Schrift ‚Was tun?‘: ‚Partisanenstrategie in den Metropolen beinhaltet die Organisation der großen Weigerung, der schlechthinnigen Irregularität. Die Partisanen verweigern die Reaktion auf die administrativ gesetzten Signale. Es gilt, die Bewegung von innen her aufzurollen.‘“ (W. Kraushaar: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf. S. 246) 52 Die „sinnliche Gewißheit“ ist eine Übernahme aus G.W.F. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807), wo sie emphatisch charakterisiert wird: „Der konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste Erkenntnis, ja als eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum erscheinen. [...] Sie erscheint außerdem als die wahrhafteste; denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich.'“. Auf diese Herkunft ist die Denkfigur des Organisationsreferats zurückzuführen, die Emphase der Erkenntnis und der Gewißheit durch Aktionen jenseits von Formen der „Vermittlung“, zugleich im dichtesten Bezug zur „Wirklichkeit“ und zum „Konkreten“. Der Konnex zu Hegel und zum deutschen Idealismus kann hier nur in nuce angerissen werden und bedarf einer weiteren Untersuchung.
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als die abstrakte Gewalt des Systems wahrnehmbar werden konnte. Der Modus dieser Erfahrbarkeit ist für zwei Gruppen angesprochen, für die zu agitierenden Personen und die unterdrückten Massen auf der einen Seite, andererseits für die Agitatoren selbst. Die „Aktion“ ist damit zu einem Moment erhöht, der jenseits von Formen der Vermittlung, also nicht über ein reproduzierendes Drittes, sowohl Ausführende als auch Adressaten bewegt und so Propaganda produziert. Ungeklärt muss dabei jedoch der Status dieser Rede und damit der Sprache selbst bleiben. Ist sie nun selber schon Agitation, sinnlich erfahrbar und als eine „Aktion“ dergestalt aufzufassen? Oder ist sie „sichtbar irreguläre[n] Aktionen“ vorgeschaltet und als solche noch in dem Feld des Abstrakten zu verorten? Der Verdacht drängt sich auf, die Sprache sei nicht Medium jener „sinnlichen Gewißheit“, sie sei aber die notwendige Vorbedingung, nämlich unverzichtbar als der Aufruf zur Tat. Das Wort hat den Status der Initialisierungstechnik. In den weiteren Schritten der tatsächlichen und unvermittelten Erfahrung von konkreter „Wirklichkeit“ soll das Wort dann überflüssig werden. So wird ein neuer, revolutionärer Erfahrungshorizont kreiert, der eine Emphase der Aktion und des Fanals notwendig macht, um in einer Körperlichkeit als Unmittelbarkeit aufzugehen. Die Verlagerung des Kampfes in die Metropole reicht aus, um damit von der Peripherie in das Zentrum der hochindustrialisierten Massengesellschaft zu gelangen – und in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit wird, wenn es denn eine Vorstellung von Medium in diesem Referat gib, die Stadt zum Propagandamedium und Signalort der (somit auch notwendigerweise dort operierenden) Guerilla. Im Gegensatz zu Marighellas Minihandbuch ist durch das Referat von Dutschke und Krahl die Stadtguerilla als ein Verfahren der Unmittelbarkeit explizit vorgestellt, das aber durchaus von Praktiken abhängt, die sich als mediale Operationen charakterisieren lassen. Die Hoffnung war auf ein vages Jenseitsder-Vermittlung gerichtet, auf die Überwindung der hergebrachten Agitation und Propaganda im Lenin’schen Sinne hin zu einer Ausprägung von Körper- und Sinnestechnik. Ein neuer Mensch, ein neuer Typus von Revolutionär sollte sich in der Stadtguerilla formieren und mit ihm und in ihm eine Form von Kampf, die mit der revolutionären „sinnlichen Gewißheit“ körperlich einherging. 2.2.3 Stadtguerilla und Medium III: Werkzeug und elektrisches Licht In der „agit 883“ (Nr. 62 vom 7. Juni 1970) wurde ein Aufruf abgedruckt. Ein Maschinen geschriebener Text war nach eigenen Angaben anonym der Redaktion zugesandt und von ihr zur Diskussion veröffentlicht worden. Unter der Kopfzeile „Die Rote Armee aufbauen“ war ein textueller Nachtrag zur Baader-
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Befreiung zu lesen, der als das Gründungsschreiben von militanter Organisation und organisierter Militanz firmiert. Mit Zitat und Collage eröffnete diese graphische Erscheinung eine historische Einordnung, als Text und Bild knüpfte sie an eine gestalterische Ästhetik einer politisierten Kunst an, als Wort-Bild-Marke verlieh sie der geplanten Unternehmung ein erstes Logo, das allerdings schon bald ersetzt werden sollte. „Rote Armee“ stand einem handgezeichneten schwarzen Panther auf die Stirn geschrieben, eine auf den ersten Blick deutliche Ikonographie. Hinter der ebenfalls per Handzeichnung entworfenen Überschrift war das gezeichnete Tier zum Angriff bereit, die großen Krallen ausgefahren, Auge in Auge mit dem Betrachter. Wenn auch offensichtlich selbstgestaltet, wurde die Graphik ebenso wie der Terminus „Rote Armee“ eindeutig und unverhohlen von einer jeweils anderen Organisationsform übernommen, abgezeichnet und so in einen neuen Kontext gestellt. Als das Wappentier und gleichzeitig als der Namensgeber der „Black Panther Party“, der „Party for self-defense“, erschien in den USA von und für die afro-amerikanischen Bürger ab Ende 1966 dieser gemalte Panther als Erkennungszeichen und identitätsstiftendes Logo. Sich selbst sprachen die „Negroes with guns“ auf Plakaten, Transparenten, Flugblättern und Aufnähern in einem geradezu bildmagischen Übertragungsritual ihre „Panther Power“ zu. Die unbändige Kraft des wilden Tieres wurde auf das Kollektiv übersetzt: „Power to the people.“ Mit der Auffassung des schwarzen Panthers als Totemtier, das dieser Organisation als Schutzgeist diente, ist die Graphik als eine Anleihe bei den Black Panthers beschrieben. Doch hatte der bildliche Einsatz dieses Raubtieres einen Vorlauf, eine eigene wirkmächtige Faszinationsgeschichte. Die Black Panther waren bereits in der Analyse der Baader-Befreiung in der „agit 883“ Nr. 61 in Augenschein genommen. Dort hieß es als Replik auf die gewaltkritischen Stimmen aus den Reihen der radikalen Linken: „Wenn in den USA die Schwarzen in den Ghettos die Kaufhäuser in Brand stecken [Anspielung auf die Frankfurter Kaufhausbrandstiftung, wegen der Andreas Baader die Haftstrafe verbüßte, Anm. d. Verf.], solidarisieren wir uns, und begreifen dies als das richtige Handeln. Wenn in den USA Bobby Seale befreit würde, würden wir ein Glückwunschtelegramm schicken, auch wenn dabei drei pigs hätten dran glauben müssen.“53 53 agit 88 Nr. 62 vom 7.Juni 1970, S. 3. Nicht nur textuell, auch graphisch blieb ab 1971 von den Black Panthern keine Spur in den RAF-Veröffentlichungen übrig. Lediglich das Sturmgewehr AK-47, welches in dieser Veröffentlichung noch recht zusammenhangslos im Text auftaucht, rückt ins Zentrum, in dem es Teil des Logos der RAF wird. Martin
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Abbildung 1: Aufruf „Die Rote Armee aufbauen!“
Quelle: agit 883 Nr. 62 vom 7. Juni 1970, Seite 6
Klimke hat ausführlich die westdeutsche Rezeption der Black-Panther untersucht und ihren daraus folgenden „nachhaltigen Einfluss auf Formation und Dynamik der eigenen ideologischen Position“ (Klimke, Martin: „Black Power, die Black-Panther-Solidaritätskomitees und der bewaffnete Kampf“ in: W. Kraushaar: Die RAF, S.562-582, hier S. 562/563) der Protestbewegung: „Die Selbststilisierung durch Adaption gegenkultureller Formen und besonders die Bedeutung der provokanten Militanz und Entschlossenheit der Black Panther wurden hierbei zum integralen Bestandteil der eigenen Identitätsbestimmung […] und dienten der RAF in ihrer Übertragung auf die Bundesrepublik letztlich als Handlungslegitimation für terroristische Aktionen.“ (Ebd., S. 563).
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Brandbomben im Kaufhaus, Gefangenenbefreiung, Schüsse auf Polizisten – die Großstadtguerilla inszenierte sich hier als solidarische Nachahmungstäterin. Eine Variation zur Ausdeutung des Panthers wird jedoch beim Abgleich mit noch früheren deutschsprachigen Veröffentlichungen im Kontext von Stadtguerilla und Black Panther deutlich: Der Panther war das wilde Tier, das Zähne fletscht und die Klauen zeigt. Und vergleichbares tat der Guerillero. Er besaß sein Gewehr, seine sichtbar getragene Waffe. Der Guerillero hatte dazu aber noch ein Schreibgerät zu besitzen. Stift und Gewehr waren der Filter der Lesart einer lateinamerikanischen Landguerilla durch die Aufständischen der Metropolenghettos. Huey Newton, Gründungsmitglied der Black Panther Party als sogenannter „Minister of Defense“, wurde bereits in der 24. Voltaire Flugschrift: Großstadtguerilla aus dem Jahr 1969 zitiert. Diese Schrift, herausgegeben von Bernward Vesper, dem ehemaligen Lebensgefährten von Gudrun Ensslin, begann mit einer Aussage Newtons über Waffe und Schreibgerät: „Der Guerillero ist eine einzigartige Persönlichkeit. Das Konzept der Guerilla widerspricht der orthodoxen kommunistischen Lehre, in der die Partei die Kontrolle über das Militär ausübt. Der Guerillero ist nicht allein Soldat, der militärische Kämpfer, er ist zugleich militärischer Führer und politischer Theoretiker. Debray sagt: ‚Arm ist die Feder ohne das Gewehr, arm das Gewehr ohne die Feder.“ Die Feder ist nur die Verlängerung des Gedankens, ein Werkzeug um Entwürfe und Ideen niederzulegen. Das Gewehr ist nur die Verlängerung des Körpers, die Verlängerung der Fangzähne, die wir im Laufe unserer Entwicklung verloren haben. Es ist die Waffe, es sind die Klauen, die wir verloren haben. Der Guerillero ist militärischer Führer und politischer Theoretiker in einer Person. […] Die Schwarzen Amerikas, die lange Zeit nur geschuftet haben, haben ihr Bewußtsein wieder54
erlangt und dadurch zur Einheit von Körper und Geist zurückgefunden“
Die Überhöhung ist deutlich: Der Guerillakrieg wird zum Heilsversprechen, die Figur des Guerillero ist der Heilsbringer. Damit wird ein Konzept vorgestellt, das zwischen Kommunikation, Medium und direkter Aktion, zwischen Übertragung und Mittel changiert. Nicht die Hegel’sche „sinnliche Gewißheit“, wie bei Dutschke/Krahl, sondern das „Werkzeug“ stellt in dieser Emphase des ganzheitlichen revolutionären Körpers den zentralen Begriff. Sowohl Waffe als auch Schreibutensil werden als gleichrangige Instrumente verstanden, als Verlänge54 Projektgruppe Edition Voltaire (Hg.): Robert F. Williams, Robert B. Rigg – Großstadtguerilla (=Voltaire Flugschrift 24), Berlin: Edition Voltaire 1969, S. 3. In Angesicht der Historie von Medientheorien drängt sich bei einer solchen Aussage über Medien, Werkzeuge und Verlängerung der Verdacht auf, die Black Panthers hätten intensiv Marshall McLuhans Understanding Media: The extensions of Man (1964) gelesen.
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rung von Körper und Geist. Die Zusammenfügung nach einem evolutionär bedingten Verlust ist in der Figur des Guerilleros wieder möglich und machbar. Mag in einer solchen Ausgangskonstellation auch viel romantische Verklärung zugrunde gelegen haben, ist in den Ausführungen über die tatsächlich zu praktizierende Durchführung ein sehr wacher Blick für mediale (Un-)Möglichkeiten der Guerilla zu bemerken. So machte beispielsweise in derselben Voltaire-Flugschrift ein Text von Robert F. Williams55 aus dem Jahr 1964 deutlich, dass es bei dem Blick auf Che Guevara, Debray und andere nicht um eine Übernahme, gar Nachahmung eines Konzeptes gehen konnte, sondern um Anleihen, die den US-Amerikanischen Bedingungen angepasst werden mussten, dementsprechend verändert und für die hochindustrialisierte Metropole modifiziert. Den Ausgangspunkt bildet zunächst die Guerilla im militärischen Straßenkampf in den Ghettos: „Die alte Methode des Guerillakriegs, der von den Bergen und dem flachen Land aus vorgetragen wurde, blieb in einem Land wie den vereinigten Staaten wirkungslos. Eine derartige Guerilla wäre in einer Stunde ausgelöscht. Die neue Strategie beruht darauf, daß man dem Feind so nah wie möglich kommt, um seine modernen und furchtbaren Waffen zu neutralisieren. Die neue Strategie schafft Bedingungen, die die gesamte Stadt einbeziehen, ob sie will oder nicht. Sie zerstört alle harmonisierenden und Ordnung stiftenden Zentren und reduziert die Zentralen auf hilflos zappelnde Polypen. Während tags nur einige Heckenschützen tätig werden, bringt die Nacht den vollen Kriegszustand, organisierten Kampf und unbegrenzten Terror. Ein derartiger Krieg kann dem herrschenden Gesellschaftssystem in den Vereinigten Staaten in weniger als 90 Tagen ein Ende setzen. […] Also ist eine präzis geplante Großstadtguerilla die einzige Chance für das Überleben und 56
die Befreiung der Schwarzen in den Vereinigten Staaten.“
Williams Text stellt zunächst einmal heraus, dass die strategische Operation nicht von der Peripherie ins Zentrum zu rücken habe, sondern gleich im Zentrum beginnen soll. Eine „Politik des Zwangs“ („ob sie will oder nicht“) ist auch hier
55 Der Autor von Negroes with Guns (1962) und Herausgeber von „The Crusader“ war prominenter Sprecher gegen die gewaltfreien Strategien von Martin Luther King, aber auch praktizierender Kämpfer zum Beispiel mit der Gründung der „Black Armed Guard“ in North Carolina. Vor der Festnahme durch das FBI floh er 1961 nach Kuba und anschließend nach China. Nach seiner Rückkehr in die USA 1969 wurde er sofort verhaftet. 56 Williams, Robert F.: „Wie sich die schwarze Revolution bewaffnet“, in: Edition Voltaire, Großstadtguerilla, S. 11-18, hier S.12.
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der Weg und das Ziel der gewalttätigen und enthegten, irregulären und nichtsdestotrotz präzis geplanten Aktionen. Ein Körpermodell und Straßenkampfattitüden sind jedoch nicht zwei parallel laufende Konzeptionen innerhalb einer Organisation. Für eine Einsicht in das Selbstverständnis der Black Panther als Revolutionäre mit eigenständigem Medienverständnis zwischen ganzheitlichem Körper und militanter Großstadterfahrung bietet sich ein Beitrag der Kursbuch-Ausgabe vom Dezember 1970 an. Im Kursbuch 22. Nordamerikanische Zustände war ein Gespräch zwischen Eldridge Cleaver, einem der Mitbegründer der Black Panther und Autor des viel rezipierten Buches Soul on Ice, mit dem Journalisten Lee Lockwood abgedruckt, das in Algier im Juni 1969 geführt worden war. Cleaver erklärt zunächst, dass die Gründungsmitglieder der Black Panther sehr wohl belesen waren in der Geschichte der revolutionären Bewegungen und beispielsweise Bakunin studierten. So waren sie schließlich auch auf dieselben quasi-kanonischen Texte von Autoren aus Lateinamerika gestoßen wie die westdeutsche Linke: „Die Führer der Schwarzen Panther-Partei haben den Erfahrungen anderer Revolutionäre immer sehr genaue Beachtung geschenkt. Wir sind über die Theorie immer sehr genau unterrichtet, besonders über die Praktiken in Lateinamerika, und wir sind der Ansicht, daß unsere Situation einmalig ist, geradeso wie Régis Debray und Che Guevara und Fidel Castro Theorien hervorgebracht haben, die einer einmaligen Situation entsprachen. Wir sagen uns, es ist notwendig, die allgemeinen klassischen Prinzipien der Revolution zu nehmen und sie dann auf unsere spezifische Situation anzuwenden. Und die in den vereinigten 57
Staaten gegebene spezifische Situation ist nicht die gleiche wie anderswo.“
Die Lektüre dieser Revolutionserfahrungen wurde zusammengeführt mit der eigenen Erfahrungswelt der Gegenwart der 1960er Jahre. Mit der „spezifische[n] Situation“ war nicht allein die Erfahrung von rassistischer Unterdrückung, von Armut, von mangelnder Bildung und von Verweigerung politischer Mitsprache gemeint, wie sie den gesellschaftlichen Hintergrund für die Ziele der Partei ausmachten58. Cleaver sprach im Interview vielmehr von „städtischer Umwelt“59 und von „unserer hoch urbanisierten, mechanisierten und industrialisierten Ge-
57 Lockwood, Lee: „Gespräch mit Eldridge Cleaver“, in: Kursbuch 22 – Nordamerikanische Zustände, Frankfurt am Main: Kursbuchverlag 1970, S. 61-84, hier S. 67. 58 Vgl. dazu Demny, Oliver: Die Wut des Panthers. Die Geschichte der Black Panther Party – Schwarzer Widerstand in den USA. Münster: Unrast 1996, S.43-45. 59 L. Lockwood: Gespräch, S. 66.
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sellschaft“60. An diesem Setting hatten sich Theorie und Modell der Black Panther zu orientieren: „Wir müssen ein urbanes Konzept entwickeln, weil die einzigen uns zur Verfügung stehenden Modelle für revolutionäre Verhaltensweisen der ländlichen Geographie entnommen sind.“61 Damit wäre Pionierarbeit zu leisten, denn innerhalb der angesprochenen modernen Gesellschaftsbedingungen sei „eine Revolution noch nie durchgeführt worden.“62 Einer Gleichsetzung mit der Landguerilla eines Che Guevara stand Cleaver in der praktischen Umsetzung „sehr kritisch“63 gegenüber. Das begann bereits bei einer Adaption des modischen Zeicheninventars: „Ich denke hier an gewisse Leute in den Vereinigten Staaten, die sich mit Vorliebe auf all die Wandplakate und Bilder von den Guerilleros in den Bergen beziehen, um sich dann in den Städten in Drillichjacken und Kampfstiefeln wiederzufinden. Ich weiß, was sie damit bezwecken, sie möchten sich mit erprobten Revolutionären gleichsetzen, doch ist so etwas in einer städtischen Umwelt leider nicht sehr zweckmäßig.“64
Cleaver sprach der Übernahme von Praktiken und Symbolinventar anderer revolutionärer Zusammenhängen eine deutliche Ablehnung aus. Die einfache Übertragung eines ‚Radical chic‘ funktioniere nicht. Damit widersprach Cleaver dem, was die RAF in ihrem ersten Aufruf versuchte, nämlich dem naiven Anknüpfen an erprobte und authentische Revolutionäre der Gegenwart – und das wurde ausgerechnet durch den Black-Panther-Aktivisten selbst kritisiert, an dessen Leben und Schriften angeknüpft werden sollte. Denn immerhin endete, neben dem berühmten Logo der RAF, Das Konzept Stadtguerilla im Mai 1971 mit einem Zitat von ihm. „Entweder sie sind ein Teil des Problems oder sie sind ein Teil der Lösung. Dazwischen gibt es nichts. Die Scheisse ist seit Dekaden und Generationen von allen Seiten untersucht und begutachtet worden. Ich bin lediglich der Meinung, dass das meiste, was in diesem Land vor sich geht, nicht länger analysiert zu werden braucht, sagt Cleaver.“65
Cleaver selbst schlug hingegen andere, auf den ersten Blick überraschende Anknüpfungen an eine nicht politisch-revolutionäre Organisation vor: 60 Ebd., S. 67. 61 Ebd., S. 68. 62 Ebd., S. 67. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 RAF: Das Konzept Stadtguerilla, S. 48.
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„Für einen Revolutionär in der urbanen Umwelt wäre es zweckmäßiger, das Muster der Mafia-Organisation zu studieren, damit er lernt, wie man sich in Großstädten bewegt. […] Wenn so ein Bursche auf Bankraub auszieht, zieht er sich nicht an wie Robin Hood oder ein mexikanischer Bandit. Er würde sich wahrscheinlich kleiden wie ein Geschäftsmann, weil er ja in seiner Umgebung nicht auffallen will. Folglich ist jemand, der im großstädtischen Guerillakrieg wirksam werden will, auch verpflichtet, sich das Terrain anzusehen.“
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Mit „der Mafia-Organisation“ wurde ein Muster aufgerufen, dass eine für die Metropole erprobte Konstellation von klandestiner Organisation bei gleichzeitiger Sichtbarkeit und gewaltsamer Einflussnahme praktizierte – und zudem auch einen Faszinationsmythos schuf, den der eigenen ‚ehrenwerten Gesellschaft‘ mit eigenständiger Kultur und Werteordnung, die der Verfolgung von staatlicher Seite widerstehen konnte. So kam Cleaver darauf zu sprechen, dass es deutliche Grenzen der Nachahmung von einer Guerilla geben musste. Das begann ganz basal mit der sichtbaren Unscheinbarkeit. Allein schon die Semiotik von Kleidung zu berücksichtigen, offenbart ein Verständnis von medialem Umfeld, auf das kein Guerillatheoretiker bis dato zu sprechen gekommen war.67 Ein zeitgemäßer urbaner Partisan in einer hochindustrialisierten Metropole musste nach der Einschätzung der Black Panther ein Verständnis und ein Können aufbringen, die jenseits von Techniken und Verfahren von Propaganda und Agitation zu liegen hatten68. Und hier waren es vor allem die Infrastrukturen der Mobilität und die Elektrizität, die für Guerillatheoretiker strategische Bedeutung bekamen: 66 L. Lockwood: Gespräch, S. 68. 67 Martin Klimke betont den späteren Stellenwert der „Selbststilisierung durch Adaption gegenkultureller Formen der Musik und Kleidung“ (M. Klimke: Black Power, S. 572): „Die Orientierung an kulturellen Zeichen, verkörpert durch die Black Panthers, kann als eine der wichtigsten identitätsstiftenden Imaginationen innerhalb der Gruppen des bewaffneten Kampfes gelten. So spricht Michael Baumann beispielsweise der Beeinflußung durch kulturelle Faktoren wie schwarze Musik eine ungeheure Bedeutung für seine eigene Situation zu, politisch wie spirituell. Dies gilt ebenso für die Kleidung, die sich dementsprechend veränderte, aber auch für die politische Ausrichtung an anderen Projekten. Insbesondere aber das Tragen von Waffen als Zeichen zunehmender Militarisierung wurde in Anlehnung an die Black Panthers zu einem Ausweis erhöhter Handlungsbereitschaft und Entschlossenheit, mit dem man sich von anderen abgrenzte.“ (Ebd., S. 572/573) 68 Im Agitieren und Agitiert-werden durch deutliche Codes, in der Mobilmachung und breiten Unterstützung schien der ganz besondere Reiz der Black Panther für westdeutsche Beobachter zu liegen. Hans-Jürgen Krahl notierte bereits im Sommer 1967 über
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„In Babylon zum Beispiel, habe ich festgestellt, gehören die Kommunikationsmittel und die Beweglichkeit der Polizeidienststellen zu den schwerwiegendsten Problemen, mit denen wir es zu tun haben. Man muß damit überall fertigwerden, doch innerhalb der urbanen Situation ist das ausschlaggebend – ich meine die Verbindungs- und Nachrichtenmittel, die Beweglichkeit und das elektrische Licht. Wir müssen uns immer vor Augen halten, womit wir konfrontiert sind, dann wissen wir auch, was für eine Gegenstrategie wir zu entwickeln haben.“
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Bei den Theoretikern der Black Panther wurde der städtischen Umwelt, die maßgeblich von neuen Mediennetzen wie Funk und Radio bis hin zum elektrischen Licht gestaltet wurde, ein strategischer Impuls zugesprochen, der jenseits von altbekannten Problemen der Agitation und Propaganda zu finden ist. Fragen infolge eines weitreichen Eingriffs der Elektrizität in die Lebensbedingungen wurden erkannt und formuliert, konnten aber im Hinblick auf die Organisationsfrage und Aktionsstrategie ihrer Revolution nicht gelöst werden. Fest stand aber vor diesem Hintergrund, dass es ihnen kaum ausreichte, eine Kaderorganisation im Untergrund zu gründen, die dann Kommunikationsmittel für eine Propaganda der Tat nutzte oder gar von quasi a-medialen Aktionen phantasierte. Das Attraktionsmodell eines Carlos Marighella und das Bewusstseinskonzept im Stile von Dutschke und Krahl waren für den Straßenkampf zur Befreiung der USamerikanischen Ghettos nicht relevant. Die Panther hatten eine explizit mediale Guerillastrategie, die ein Medienverständnis von Datenverkehr und Elektrizität mit einbezog. Aus einer allgegenwärtigen elektrifizierten Sichtbarkeit und aus der Unmöglichkeit, im einen nicht-wahrnehmbaren Raum des Untergrunds zu operieren, stellte Eldridge Cleaver seine Schlussfolgerungen vor. Zwar hatte im Jahr 1964 Robert F. Williams noch erklärt, dass die Bewaffnung durchaus legal durchzuführen sei, indem sich in den Gettos Wach- und Schießgesellschaften organisiedie Zunahme von „Abstraktionsgrad der Propaganda und Agitation“: „Für solche Abstraktion sind gegenwärtig Studenten und Schüler aufgeschlossener, da sie eher fähig zu Lern- und Bildungsprozessen sind. Der Agitationsmodus konkretisiert sich gleichsam naturwüchsig in dem Masse, da Unterdrückung noch als physischer Zwang erlebt wird (Black Power).“ (H. J. Krahl: Zu Lenin, S. 156). 69 Kursbuch 22, S. 68. Auch was Verkehr, Elektrizität und (magische) Kanäle angeht, verstärkt sich erneut der Verdacht, dass die Panthers McLuhan gelesen haben. „Babylon“ ist für Cleaver der Begriff, unter dem er die Erfahrung der industrialisierten Urbanität subsumiert. Er meint darüber hinaus, dass der Ausdruck, „den ich der Offenbarung in der Bibel entnehme, von sämtlichen Symbolen für eine dekadente Gesellschaft der treffendste ist.“ (Kursbuch 22, S. 68)
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ren.70 Jedoch war ihm im gleichen Maße wichtig: „Die eigentlich höchst bewegliche, straff organisierte Guerilla müßte allerdings clandestin arbeiten.“71 Cleaver hingegen erklärte fünf Jahre später nach den ersten praktischen Erfahrungen die Black-Panther-Party zu einer „Avantgardeorganisation“72. Aber er forderte dafür, dass sie von ihrer Gründung an dezidiert „above ground“73 zu operieren habe, also „im breiten Licht der Öffentlichkeit“74, hier durchaus zu verstehen als elektrische Beleuchtung: „Man kann keine Organisation im Geheimen aufbauen und dann bei Nacht Flugblätter verteilen, die den Leuten einreden, dass man existiert und dass sie dies und das tun oder gar auf einen hören sollen. Huey vertrat die Ansicht, daß man für alle sichtbar zu sein hat und seine Handlungen für sich sprechen lassen muß; und kommt dann die Zeit, wo man in den Untergrund getrieben wird, so weiß das Volk, man ist da, man existiert weiter […]“
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Trotz der Übernahme vieler Zitate und graphischer Symbole, trotz der bekundeten Solidarität in den veröffentlichten Schriften ist in diesem Punkt einer der entscheidenden Differenzen zur Strategie „Großstadtguerilla“ auszumachen. Wer in der elektrifizierten Gesellschaft so etwas wie Öffentlichkeit herstellen wollte, war zum einen an dieses Medium gebunden und musste zum anderen in Kauf nehmen, dass ein Außerhalb und damit eine klandestine Organisation aus einem Untergrund zum Scheitern verurteilt sein musste. Ein verändertes Verständnis von Medium Ende der 1960er Jahre war regelrecht überlebenswichtig geworden, denn natürlich hatte auch die „Gegenseite“, zumindest die Exekutive der USA, dies ebenso früh erkannt wie die Panther-Guerilleros selbst. In der BRD entwickelte Horst Herold ab 1969 als Mitglied einer Reformkommission des Bundeskriminalamtes vergleichbare Ansätze, wenn auch noch nicht auf die Bekämpfung von proto-terroristischen Organisationen gemünzt. Cleavers Sorge um eine „Gegenstrategie“ war nämlich wohl begründet und hatte auch schon den deutschen Diskurs erreicht. Bereits über ein Jahr vor Erscheinen seines Interviews war in Deutschland mit Guerilla im Betondschungel76 ein Text übersetzt und ebenfalls in der Voltaire-Flugschrift veröffentlicht, der 70 R. Williams: Wie sich die schwarze Revolution bewaffnet, S. 13. 71 Ebd. 72 L. Lockwood: Gespräch, S. 65. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 66. 75 Ebd. 76 Brigg, Robert B.: „Guerilla im Betondschungel“, in: Projektgruppe Edition Voltaire, Großstadtguerilla, S. 21-31.
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aus militärstrategischer Sicht die Maßnahmen einer Counterinsurgery in den amerikanischen Metropolen behandelte. Die „Black Power“ wurde explizit mir einer „Großstadtguerilla“ gleichsetzt, wenngleich der Guerillabegriff auf Straßenkampf mit paramilitärischem Gegner verkürzt wurde. In seinem Aufsatz stellte Robert J. Brigg, vorgestellt als „Oberst i. R. der amerikanischen Armee“ und „Experte des US-Geheimdienstes für Fragen der Planung und der Zukunftsforschung“77, mit Blick auf die brennenden Ghettos erstaunt fest, „daß ein derartiger Krieg auf den Avenuen, Straßen und Dächern, in Kellern und Abwasserröhren ursächlich von organisierten Guerillaeinheiten initiiert und geführt werden kann, ohne daß sie von Kommunisten oder anderen politischen Bewegungen angestachelt werden.“78 Das Setting der Auseinandersetzung war nach Briggs Auffassung ein selbstgemachtes, im Gegensatz zum Krieg fern der Heimat: „Der Mensch hat aus Stahl und Beton einen weit besseren Dschungel errichtet als die Natur in Vietnam.“79 Und dem war weder mit militärischen noch politischen Strategien beizukommen, sondern mit „Durchsetzung der Gettos mit Polizeiagenten, Einsatz von militärischem Nachrichtendienst und Anwendung klassischer Polizeimethoden. Diese Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden, damit wir verhindern, daß die organisierte Großstadtguerilla überhaupt an Auftrieb gewinnt.“80 2.2.4 Medium und Stadtguerilla I: Eine Manipulationsguerilla Auf der Spur der Medien in der Emergenz der Stadtguerilla und des ProtoTerrorismus lässt sich festhalten: Die ab 1966 zirkulierenden Konzepte eines zeitgemäßen urbanen Partisanenkrieges in Westeuropa sind auf verschiedene Weisen implizit als Theorien von Medien in sehr heterogenen Verständnissen lesbar. Das Fährtenlesen ist jedoch auch in der Lektüre anderer Betrachtungen denkbar: Kann die RAF als ‚Kollateralschaden‘ eines im Wandel begriffenen Medienverständnisses in Theorie und Praxis in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre analysiert werden? In Westeuropa, wo sich die entsprechende technologisch-mediale Infrastruktur bereits durchgesetzt hatte, verharrte das Medienbild des gesamten Spektrums sozialistischer Bewegungen auf einem Reflexionsstand einer Mediensituation,
77 Projektgruppe Edition Voltaire: Großstadtguerilla, S. 34. 78 R. Brigg: Guerilla im Betondschungel, S. 24. 79 Ebd., S. 21. 80 Ebd.
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„die dem historischen Stand von 1900 entspricht“81 und damit veraltet und überholt war. Diesen Vorwurf äußerte Hans Magnus Enzensberger als Zeitdiagnose im März 1970 in seinem Kursbuch 20 Über ästhetische Fragen. Auf knapp 30 Seiten veröffentlichte er einen Baukasten zu einer Theorie der Medien. Mit den darin ausgebreiteten Thesen wollte er dem kritisierten Missstand Abhilfe verschaffen und eine Mediendiskussion anregen. Im Zusammenhang mit der Genese des Linksterrorismus wird diese Anregung insofern interessant, als dass in Zeitgleichheit zur Baader-Befreiung die Sprache des Mediendiskurses auf Guerilla-Methoden kam. Nicht revolutionäre Kampfformen, sondern eine zeitgemäße linke Medientheorie wollte Enzensberger diskursiv entwickeln. Sein Ausgangspunkt war der Begriff des „Mediums“, nicht der einer „Guerilla“. Und doch kreuzten sich Überlegungen zu einer sich politisch gerierenden Praxis namens „Guerilla“ und mit ihr ein implizites Verständnis von Medialität mit einer Theorie für Medien und zeitgemäße Massenkommunikationstechniken, die sich in praktischen Nutzen verankert sehen wollten. Die Mediennutzung der revolutionären Linken Westeuropas beschränkt sich nach Enzensberger auf Texte und deren Publikation. Hier nimmt Enzensberger eine entscheidende widersprüchliche Lücke in Zeiten elektronischer Medien wahr. Denn selbst die jungen Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten wendeten sich „mit sprachlich, inhaltlich und formal exklusiven Zeitschriften an eine Öffentlichkeit von Einverstandenen. […] Vermutlich hören ihre Produzenten die Rolling Stones, verfolgen auf dem Bildschirm Invasionen und Streiks und gehen ins Kino zum Western oder zu Godard; nur in ihrer Eigenschaft als Produzenten sehen sie davon ab, und in ihren Analysen schrumpft der ganze Mediensektor auf das Stichwort Manipulation zusammen.“
82
Enzensberger will und kann den Manipulations-Verdacht nicht gänzlich ausräumen, aber er erkennt in den technischen Möglichkeiten und der „Struktur“83 der zeitgenössischen Medien auch politisch-emanzipatorisches Potential – nicht umsonst knüpft er ausdrücklich an Bertold Brechts Radiotheorie und Walter Benjamins Reproduktionsaufsatz an. Aus seinem Text spricht die Überzeugung, dass die technische Medienentwicklung an einen Punkt angekommen sei, an dem etwas eingelöst werden könne, was bereits Brecht vorschwebte: Wider die bisheri81 Enzensberger, Hans Magnus: „Baukasten zu einer Theorie der Medien“, in: Kursbuch 20 – Über ästhetische Fragen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 159-186, hier S. 167. 82 Ebd., S. 165. 83 Ebd., S. 167.
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ge Folgelosigkeit (Brecht) sei es möglich, durch neue Medientechnik eine Öffentlichkeit kommunizieren zu lassen und so in ein agierendes Kollektiv zu überführen – sowohl belehrt werden als auch selbst belehren (Brecht). Die von Enzensberger genannten „neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär“84, sie können aus jedem Empfänger potentiell auch einen Sender machen, also aus jedem Rezipienten einen Produzenten. Und sie haben Massencharakter. Damit wird auch die Frage obsolet, ob die Medien manipuliert werden und durch wen sie manipuliert werden. Revolutionär ist endgültig nicht mehr die Vorstellung, dass die Manipulateure verschwänden, sondern dass durch medientechnische Entwicklung ein jeder Manipulateur werde85. Enzensberger schwebten dabei netzartige, wechselwirkende Kommunikationsmodelle vor, beispielsweise „ein Videonetz politisch arbeitender Gruppen“, ähnlich einem „ungeheure[n] Kanalsystem“ 86 (Brecht). Den Einsatz von technischen Medien in der politischen Arbeit der Linken fokussierend, schienen solche in Bezug auf Verfügbarkeit und Popularität sogar bereits omnipräsent: „Tonbandgeräte, Bild- und Schmalfilmkameras befinden sich heute schon in weitem Umfang im Besitz der Lohnabhängigen. Es ist zu fragen, warum diese Produktionsmittel nicht massenhaft […] in allen gesellschaftlichen Konfliktsituationen auftauchen […].“87 Doch geht die politische Aktion, dem „Baukasten“ folgend, über ein Agieren mit dem Tonbandgerät in der Hand hinaus. Enzensberger blickt nach Süd- und Mittelamerika. Bei der dortigen Guerilla erkennt er eine Strategie, die den Akteuren selbst gar nicht bewusst zu sein scheint, die aber ihre Praktiken bestimmt und die mit der Reflexion durch den europäischen Intellektuellen erst deutlich wird. Enzensberger schreibt über die „objektiv subversiven Möglichkeiten der elektronischen Medien“88: „Während noch vor fünfundzwanzig Jahren die Massaker der Franzosen auf Madagaskar, nahezu hunderttausend Tote, nur den Leser von Le Monde als fait divers zur Kenntnis kamen und deshalb in der Metropole unbeachtet und folgenlos geblieben sind, schleppen die Medien heute die Kolonialkriege in die Zentren des Imperialismus ein. Noch deutlicher werden die unmittelbar mobilisierenden Möglichkeiten der Medien dort, wo sie bewußt subversiv gebraucht werden. Ihre Anwesenheit potenziert heute den Demonstrationscharakter jeder politischen Handlung. Die Studentenbewegungen in den 84 Ebd. 85 Ebd., S. 166. 86 Ebd., S. 170. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 174.
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USA, in Japan und in Westeuropa haben das frühzeitig erkannt und anfänglich im Spiel mit den Medien erheblich Augenblickerfolge erzielt. Diese Wirkungen haben sich abgenutzt. Das naive Vertrauen in die Magie der Reproduktion kann organisatorische Arbeit nicht ersetzen; nur aktive und kohärente Gruppen können den Medien das Gesetz ihres Handels aufzwingen. Das läßt sich am Beispiel der Tupamaros in Uruguay zeigen, deren revolutionäre Praxis die Veröffentlichung ihrer Aktionen impliziert. Die Akteure werden damit zu Autoren. Die Entführung des amerikanischen Botschafters in Rio de Janeiro wurde im Hinblick auf ihr Echo in den Medien geplant. Sie war eine Fernseh-Produktion. Die arabischen Guerilleros gehen ähnlich vor. Die ersten, die solche Techniken international erprobt haben, waren die Cubaner; Fidel hat das revolutionäre Potential der Medien von Anfang an richtig eingeschätzt (Moncada 1953). Die illegale politische Aktion erfor89
dert heute maximale Geheimhaltung und maximale Publizität zugleich.“
Mit genau diesem Vokabular ließe sich auch die zeitgleiche Formierung der Roten Armee Fraktion analysierend beschreiben. Die wesentlichen charakteristischen Stichworte ihrer Zielsetzung nennt Enzensbergers Essay: Nach der „Abnutzung“ des „Spiels mit den Medien“ jenseits des Höhepunkts der Studentenunruhen 1968 versuchte nun eine „aktive und kohärente Gruppe“, „den Medien das Gesetz ihres Handels aufzuzwingen“ durch „illegale politische Aktion“ unter der Prämisse einer „maximalen Geheimhaltung“ und zeitgleicher „maximaler Publizität“. Hier taucht der politische Aktionsmodus des „Zwingens“ wieder auf, jedoch mit der Differenz, dass es als massenmediale Operation zu denken ist. Dem Medium, in dem Aufsatz beinahe ausschließlich synonym mit den sogenannten Massenmedien verwendet, ist als Echoorgan potenzierende Wirkung zugesprochen, die nicht mehr als zusätzlich, sondern als konstituierender Bestandteil von Prozessen genutzt werden musste, wenn auch in prothetischem Sinne. Der Tupamaro ist so als die Verwirklichung einer vormals utopischen Figur beschrieben. Er war tätig als „Revolutionär“ und untrennbar als „Autor“ vereint in einem praktischen Sinne, als Guerillero im Modus einer „Fernseh-Produktion“ eine Aktion wie eine Entführung als „Technik“ durchführend. Es ging somit um die Konstitution eines „Ereignisses“, wenn auch dieser Begriff selbst nicht genannt ist. Es bedurfte einer Sichtbarkeit über große Entfernung in kurzer Zeit. Dies war ohne Medien nicht zu organisieren, und gerade die elektronischen Medien waren so an der Verfasstheit eines „Ereignisses“ beteiligt. Doch trotz der Veränderung ihres Charakters im elektronischen Zeitalter hatten sie bei Enzensberger weiterhin Relaisfunktion für „Inhalte“. Der Autor explizierte mehrfach seinen Impetus eines „Anti-McLuhan“. Eine Agitation im weiteren Sinne ließ sich als Grundver89 Ebd., S. 174/175.
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ständnis für einen Konnex von Medien und revolutionärem Kampf veranschlagen. Wenig überraschend war also auch aus dieser Perspektive, dass beim Guerillakampf in Brasilien und Kuba angeknüpft wurde und damit bei Carlos Marighella und Che Guevara. 2.2.5 Medium und Stadtguerilla II: Eine Wahrnehmungsguerilla Hans-Magnus Enzensberger war sicherlich der im Rückblick prominenteste Autor, der sich im deutschsprachigen Raum um 1970 mit theoretischen Überlegungen zu Medien beschäftige – aber selbstverständlich nicht der einzige. Und auch nicht der einzige, bei dem diese Überlegungen mit Guerillastrategien eng geführt sind. Eckhard Siepmann90 schrieb im Kursbuch 20 über revolutionäre Aspekte moderner elektronischer Übertragungs- und Speichermedien. In Rotfront Faraday. Über Elektronik und Klassenkampf. Ein Interpretationsraster reflektierte er die Veränderung im Denken des Medialen durch neue Medien, beziehungsweise, auf welche Arten sich die elektronischen Medien eines Post-Gutenberg-Zeitalters auf Notwendigkeit, Möglichkeit und Verfahren von revolutionärem Kampf zur Überwindung des Kapitalismus auswirkten. Siepmann ging, im Gegensatz zu Enzensberger, über eine Dominanz des Kommunikationscharakters der neuen Medien hinaus und sprach ihnen eine spezifische Qualität zu, wirkmächtig jenseits von „Produktionsverhältnissen“ und „erzeugte[r] Bewußtseinsform“: „Physiologisch: die elektronischen Produktivkräfte destruieren die überkommenen Dimensionen unseres Wahrnehmungsfeldes, unserer Vorstellung von Raum und Zeit, die optische, haptische und akustische Beziehung zu unserer Umgebung. Durch Telegraphie, 90 Eckhard Siepmann, studierter Kunsthistoriker, war nach eigenem Bekunden 1966 nach Berlin gekommen, um Bahman Nirumand bei der Arbeit an seinem PersienBuch zu helfen. Siepmann war später Kommunemitglied in der ‚K2‘, war sowohl mit Dutschke und Hans Magnus Enzensberger bekannt als auch mit Dieter Kunzelmann und Bommi Baumann. Eher per Zufall war es Siepmann, der die Meinhof-Zwillinge in Italien hütete, nachdem Ulrike Meinhof nach der Baader-Befreiung in den Untergrund ging. So eng seine persönlichen Verflechtungen zum später terroristischen Personal auch gewesen sein mögen, so wählte er selbst ebenso wie beispielsweise Hans Magnus Enzensberger einen gänzlich anderen Weg. Neben publizistischer Tätigkeit wurde Siepmann erst Leiter des Werkbundarchivs in den ehemaligen Werkstattgebäuden in Berlin, anschließend leitete er das Museums der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts im Berliner Gropiusbau.
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Telephon, Television verschwindet die beschränkte ‚Umwelt‘: die Welt als Ganzes wird zur Umgebung. Wir sind in jedem Augenblick überall dabei, ganz ‚unzusammenhängende‘ Prozesse strömen gleichzeitig auf uns ein; mixed media und environment sind die naiven Versuche, dieser Konstellation mit dem guten alten ‚Übersetzungsmedium‘ der Wahrnehmung, der Kunst, Herr zu werden. Die elektronische Kommunikation gestattet kein ‚Gegenübertreten‘ mehr; jeder ist jederzeit ‚in‘. An die Stelle der Wahrnehmungsperspektive tritt das Wahrnehmungsfeld. Privatheit löst sich darin auf zu gesellschaftlichem Handeln; die orthodoxen Verhaltensmuster versagen und fordern Entscheidung und Selbstständigkeit heraus; die Beschränktheit des Provinziellen und der Parzellierung verschwinden in der Erfahrung der Um-Welt als Totalität. Und diese neue Qualität der Umwelt existiert nicht in dem Bewusstsein über ein verändertes Objekt der Wahrnehmung, sondern ihr Subjekt selbst wird zum Objekt, das die Medien physiologisch verändern. Hier hat nicht ein Freund der Künste ein Buch in der Hand, sondern die Elektronik hat den Freund der Künste in der Hand. [...] Das Feld, dessen Geburtshelfer die elektronischen Produktivkräfte mit ihrer durch keine noch so reaktionären ‚Inhalte‘ aufzuhebenden Tendenz zu Totalität, Vergesellschaftung uns Selbsttätigkeit werden, läßt sich roh definieren als eine nicht-hierarchische Struktur von dezentralisierten Zentren in permanenter, allseitiger Interaktion.“
91
Medienwandel war für Siepmann durch Vernetzung und elektrischen Verkehr weit mehr als ein neu strukturiertes Relais von Information. Ein „Feld“ barg vorher nie dagewesene Möglichkeiten für „eine ‚Generation‘ zur Rebellion gegen den Kapitalismus [...], die nicht nur für die Konstruktion eines Sozialismus à la hauteur de l’histoire, sondern schon für den revolutionären Kampf in den Metropolen entscheidend sind“92. Diesen neuen Typus, der mit einer Bezeichnung wie „elektronischer Drop-out“93 nicht hinreichend zu fassen gewesen ist, nennt Siepmann den „‚elektronisch‘ strukturierten Menschen“94. Sowohl der proletarische Klassenspezifika erfüllende Kommunist im traditionellen marxistischen Sinn als auch der sich aus moralischen Beweggründen, jedoch „stellvertretend“ agierende Intellektuelle waren ab diesem Wandel nicht mehr das Potential der Revolution. Jungen Metropolenbewohner hatten im Zuge eines „global wiedererwachte(n) und mit einem historisch neuen, ‚kritischen‘ Niveau auftretende(n)
91 Siepmann, Eckhard: „Rotfront Faraday. Über Elektronik und Klassenkampf. Ein Inter-pretationsraster“, in: Kursbuch 20 – Über ästhetische Fragen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 187-202, hier S. 189/190. 92 Ebd., S. 191. 93 Ebd. 94 Ebd.
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Anarchismus“95 damit begonnen, „Formen des Kampfes und des Zusammenlebens in diesem Kampf zu finden“96. Wie dieser Kampf und die Formen des Kampfes genau auszusehen hatten, blieb im Vagen und Ungenannten. Explizit verweisende Stichworte zu Organisations- und Vorgehensweisen von Stadtguerilla blieben ausgespart, stattdessen propagierte Siepmann explizit den Fokus auf den Körper des Subjekts, beispielsweise „die Sozialisierung der Sexualität“97 oder auch den Drogenkonsum98. Doch kam gerade der junge Metropolenbewohner im Spannungsfeld zwischen Anarchismus und neuen Formen des Kampfes der Figur des Großstadtguerilleros schon nahe. In ihm setzte eine Strategie ohne direkte historische Vorläufer ein, die durch die Totalität der neuen elektronischen Medien evident wurde, die eben jenes aus ihrem Aufkommen resultierende „Wahrnehmungsfeld“ adressierten und die mit den „Lehren der Klassiker“99 allein nicht zu bewältigen sein konnten: „Jede Revolution hat daher in den Metropolen von einer Revolution der Wahrnehmung auszugehen.“100 Und so gelesen war es nur folgerichtig, wenn Siepmann über die Erzeugung von „Modelle[n] der vergesellschafteten Wahrnehmung“101 reflektierte und darüber hinaus eine andere Fluchtlinie für die vagen großstädtischen Aktionen zeichnete, nämlich das Erbe der Kunst und der Revolution102. So erzählt er mit einem recht gewagten argumentativen Bogen von Leonardo, Descartes und Newton zu Proudhon, von Uccello über Lenins Gespräch mit den Dadaisten bis hin zur experimentellen Rock-Gruppe Amon Düül II über die Zerstörung der Zentralperspektive. Sie war eine Wahrnehmungsweise, die es zu negieren galt, da sie der Inbegriff der bürgerlichen Wahrnehmung war mit ihren drei Qualitäten „Privatheit, Parzellierung, Passivität.“103 Siepmann schließt seine Erläuterung mit der Forderung, den Weg bürgerlicher Kunst zu Ende zu gehen und sie zu überwinden mit einer Quasi-Guerilla: „Statt perspektivischer Anschauung gesellschaftliche Aktion. Statt der ökonomischen Rationalität des Fluchtpunkts die dezentralisierte revolutionäre Aktivität koordinierter Gruppen.“104 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 200. 98 Ebd., S. 201. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 200. 101 Ebd., S. 192. 102 Ebd., S. 195. 103 Ebd., S. 200. 104 Ebd.
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Hier ließe sich nun von einer Variation des Konzepts aus Enzensbergers Baukasten sprechen. Auch Siepmann forderte die revolutionäre Aktion von revolutionären Gruppen in den Metropolen. Sein historischer und gegenwärtiger Anschluss jedoch war die künstlerische Avantgarde. Er schloss mit seinem Rotfront Faraday in noch größerem Maße als Enzensberger mit seinem Baukasten an einen Diskurs an, der in den USA im gegenkulturellen Spannungsfeld zwischen Yippies und Black Panthers bereits virulent geworden war – beide deutschen Autoren schrieben jedoch offenbar ohne Kenntnis dieses Diskurses. Jenseits des Atlantiks wurden Ideensplitter für eine militant-revolutionäre Medien-Guerilla gefordert, prominent nachzulesen beispielsweise in Jerry Rubins Szenarien für eine Revolution105 von 1970. Es erschien ein Jahr später auch in der deutschen Übersetzung. Schon Rubin übernahm die Figur des Guerilleros zunächst als satirische Anleihe beim Polit-Happening. Über ihn selbst heißt es in den biographischen Skizzen im Buch, dass er vor dem Untersuchungsausschuss des Kongresses nach den Marsch auf das Pentagon im Oktober 1967 als „American Revolutionary War soldier, a bare-chested, armed guerilla and Santa Claus“106 erschienen war. Für Rubin waren „story“ und „drama“ für revolutionäres Vorgehen unerlässlich, ja selbst schon revolutionäre Formen. Daher musste die zeitgemäße Form der „TV-News“ solche Ereignisse kreieren: „The mere idea of a ‚story‘ is revolutionary because a ‚story‘ implies disruption of normal life. Every reporter is a dramatist, creating a theater out of life. Crime in the streets is news; law and order is not. A revolution is news; the status quo ain’t. The media does not report ‚news‘, it creates it. An event happens when it goes on TV and becomes myth. The media is not ‚neutral‘. The presence of a camera transforms a demonstration, turning us into heroes. We take more chances when the press is there because we know whatever happens will be known to the entire world within hours. Television keeps us escalating our tactics; a tactic becomes ineffective when it stops generating gossip or interest –‚news‘.“107
Wie Enzensberger nahm auch Rubin zunächst die veränderte Lage für die Verbreitung und Wahrnehmung von Nachrichten durch veränderte Technik, vor allem das Fernsehen, als Ausgangspunkt. Neue Medientechniken waren wie Relais, die Zeit und Entfernung in ganz neuen Weisen überwinden konnten. Doch mehr noch, das Medium war nicht neutral. Es griff auf zweierlei Weisen ins Le105 Rubin, Jerry: Do it! Scenarios of the Revolution, New York: Simon and Schuster 1970. 106 Ebd., S.4. 107 Ebd, S. 106/107.
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ben ein. Erst als Drama in den Fernsehnachrichten gesendet wurde ein Ereignis, ein Mythos, ein Held ‚gemacht‘, erst so ‚passiert‘ etwas – „an event happens“. Die ganze Welt wurde dabei zur Umgebung, wie Siepmann schrieb. Die Kraft und der Stellenwert von Kulturtechniken und deren Wahrnehmung verschoben sich diskursiv. Für Rubin galt es, die Wortgebundenheit zu überwinden und neue mediale Instrumente zu okkupieren und zu nutzen, wenn die Guerilla eine zeitgemäße bleiben wollte: „The words may be radical, but television is a non-verbal instrument. […] The pictures are the story. […] If the yippies controlled national TV, we could make the Viet Kong and the Black Panthers the heroes of swooning American middle-aged housewives everywhere within a week. […] You can’t be revolutionary today without a television set – it’s as important as a gun! Every guerilla must know how to use the terrain of the culture that he is trying to destroy! “
108
Mit diesen Imperativen für eine Guerilla schloss sich der Kreis von den Betrachtungen der Medien durch Guerillatheoretiker und -praktiker zu der Betrachtung der Guerilla durch Medientheoretiker und -praktiker. Das Fazit dieser diskursiven Durchkreuzungen: Vom Künstler-Guerillero zur Guerilla-Kultur! Von Gewehr und Feder zu Gewehr und Fernsehgerät! Exkurs: Künstlerische Avantgarde und Proto-Terrorismus Dass die „Wurzeln des bewaffneten Kampfes“109 neben den bisher genannten zu einer Spur leiten, „die in jene avantgardistische Gruppierung führt, die aus dem Traditionsstrom der europäischen Postavantgarde, genauer dem Situationismus, hervorgegangen ist“110, wurde im Zuge der Historisierung der RAF bereits an verschiedenen Punkten bemerkt. Diese Spur ist umfangreich nachverfolgt, beispielsweise bis in die personalen Verflechtungen. Radikalität des Happenings und Happening der Radikalität, Gewalt des Sprechaktes und Sprechakte der Gewalt, durch Chiasmen dieser Art können die Faszinosa in einer solchen Vorgeschichte beschrieben werden. Sie sind als „die andere Kulturgeschichte der RAF“111 erzählt worden. Jene Spuren führen von den relativ unbekannten NeoAvantgarden wie „Gruppe Spur“ und „Subversive Aktion“ über die Situationis108 Ebd., S. 108. 109 W. Kraushaar: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 247. 110 Ebd. 111 Hakemi, Sarah: „Terrorismus und Avantgarde“, in: W. Kraushaar, Die RAF, S. 604619, hier S. 612.
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ten und Débordisten bis zurück zu Surrealisten, Dadaisten, Futuristen. Vor allem in Thomas Heckens Genealogie Avantgarde und Terrorismus: Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF (2006) und Sara Hakemis Untersuchung von Anschlag und Spektakel. Flugblätter der Kommune I, Erklärungen von Ensslin/Baader und der frühen RAF (2008) sind die vielschichtigen Zusammenhänge bereits umfangreich aufgearbeitet. Zu den Ergebnissen dieser Arbeiten ist an dieser Stelle zu ergänzen, dass – bei gleichzeitiger Emphase – die ersten frühen Warnungen vor einer zu engen strategisch-organisatorischen Orientierung an Guerilla aus dem Umfeld der Situationisten kam, ebenso die Mahnung, nicht in den Terrorismus abzugleiten. Bereits in der S.I. Nr. 11 aus dem Oktober 1967 wurde in einem mit René Vienet signierten Artikel über Die Situationisten und die neuen Aktionsformen gegen Politik und Kunst darüber sinniert, wie Subversion nicht mehr mittels Formensprachen und Kategorien aus revolutionären Kämpfen des letzten Jahrhunderts auszusehen habe, sondern wie „wir die Ausdrucksmöglichkeiten unserer Kritik durch Mittel vervollständigen, die jeden Bezug zur Vergangenheit entbehren.“112 Um die „theoretische Kritik an der modernen Gesellschaft mit der handelnden Kritik an dieser Gesellschaft“113 zu verbinden, seien die „Vorschläge des Spektakels selbst“114 zu zweckentfremden. Das war zunächst eine Frage der (künstlerischen) Medien. Der Text zählt das „Experimentieren mit der Zweckentfremdung von Foto-Romanen“115, die „Herstellung situationistischer Comics“116 sowie die „Produktion situationistischer Filme“117 auf. Von besonderem Interesse ist ein Punkt, der diese politischen Fragen, die verschiedene Kunst-Avantgarden schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder umtrieben, mit dem Begriff einer Stadtguerilla in Einklang zu bringen versucht: „Die Einführung der Guerilla in den Massenmedien, eine wichtige Form der Kritik nicht nur auf Ebene der Stadtguerilla, sondern auch vorher.“118 Unter diese Guerilla fallen ganz konkret das nächtliche Kapern und verändern von Leuchtreklametafeln, das Einrichtung von Piratensendern für das Radio und
112 Gallissaires, Pierre/Mittelstädt, Hanna/Ohrt, Roberto (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg: Edition Nautilus 1995, S. 242. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 246. 117 Ebd. 118 Ebd., S. 242.
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gefälschte Zeitschriftenausgaben – „[a]us einsichtigen Gründen muß diese Liste von Beispielen undeutlich und begrenzt bleiben.“119 Interessant an dieser situationistischen Stellungnahme ist ihre ausdrückliche Warnung: „Der illegale Charakter solcher Aktionen verbietet es jeder Organisation, die sich nicht für den Untergrund entschieden hat, auf diesem Gebiet ein zusammenhängendes Programm aufzustellen, da dies die Bildung einer spezifischen Organisation in ihrem Schoß notwendig machen würde – was ohne Abschirmung und folglich ohne Hierarchie usw. weder denkbar ist noch wirksam sein kann, will man – kurz gesagt – nicht auf dem Weg in den Terrorismus landen. Es ist ratsamer, sich auf die Propaganda der Tat zu beziehen, die von ganz anderer Art ist.“
120
2.2.6 Medium und Stadtguerilla III: Eine Kommunikationsguerilla In der „agit“ 883 wurde nach der Befreiung von Andreas Baader der Aufbau einer „Roten Armee“ weiter diskutiert. Eine der Standortbestimmungen und Proklamationen erklärte, dass sie keine Erklärungen sein wolle, nichts mehr „den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheissern, den Alles-besser-Wissern“121 erläutern wollte, sondern die Baader-Befreiung denen darzustellen hatte, die sie „sofort begreifen können, weil sie selbst Gefangene sind“. Die „richtige“ Erklärung der Tat wurde in den Mittelpunkt gerückt, denn es hatte „keinen Zweck, den falschen Leuten das richtige zu erklären.“122 Damit war der Fokus zu dem bisher Dargelegten entscheidend verschoben. Nicht die Belegung der Produktion und der Distribution von Medien, nicht die Technik und die Vertriebswege von Texten, Bildern u.ä., aus denen sich eine Meinung bei den Rezipienten bilden kann, nicht der Eingriff der Medien in die Wahrnehmung und die mediale Ereigniskonstitution waren entscheidend, sondern: die Erklärung des Medialisierten. Die Zeichenhaftigkeit des Zeichensetzens einer Gefangenen-Befreiung musste also „richtig“ den „Richtigen“ erklärt werden. Das erscheint zunächst als paradoxe Kommunikation. Dieses kommunikative Problem wurde nicht erst von den Baader-Befreiern formuliert. Der Semiotiker Umberto Eco stellte auf dem Kongress „Vision ‘67“ in New York im Oktober 1967 fest.
119 Ebd., S. 243. 120 Ebd. 121 agit 883 Nr. 62, S. 6. (Vgl Abb. 1). 122 Ebd.
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„Es ist noch nicht allzu lange her, da genügte es, wenn man in einem Land die politische Macht erobern wollte, die Armee und Polizei zu kontrollieren. […] Heute gehört ein Land dem, der die Kommunikation beherrscht. [...] Damit sage ich hier nichts Neues.“
123
Eco sprach sich daher „für eine semiologische Guerilla“ (Vortragstitel) aus und gab den Medienüberlegungen zur Guerillataktik eine eigene Note. Zunächst und grundlegend ging es auch ihm um die Befreiung eines „Proletariats“, damit jedoch nicht um eine Klasse im marxistischen Sinn. Er sah – wie Siepmann in seinem Aufsatz durchaus vergleichbar feststellt – eine solche Einteilung weniger durch Entfremdung in Bezug auf Produktionsmittel, sondern fasste einen Status in Bezug auf Kommunikation, Information, Massenmedien als „Klasse“ zusammen. An Ähnliches knüpfte auch Enzensberger an. Doch namentlich erwähnte Eco zunächst in seiner Position Parallelen bei einem anderen Medientheoretiker, von dem sich Enzensberger noch dezidiert absetzen wollte: „Information ist, wie Marshall McLuhan dargelegt hat, nicht mehr ein Mittel zur Produktion ökonomischer Güter, sondern selber zum wichtigsten Gut geworden. Die Kommunikation hat sich in eine Schwerindustrie verwandelt. Wenn die ökonomische Macht aus den Händen der Produktionsmittelinhaber in die Hände der Inhaber jener Informationsmittel übergeht, die bestimmend für die Kontrolle der Produktionsmittel sind, dann bekommt auch das Problem der Entfremdung eine neue Dimension. Vor dem Schatten eines Kommunikationsnetzes, das sich ausbreitet, um die ganze Welt zu umspannen, wird jeder Bürger der Welt zum Mitglied eines neuen Proletariats. Und kein revolutionäres Manifest könnte diesem Problem zurufen: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ Denn selbst wenn die Kommunikationsmittel in ihrer Eigenschaft als Produktionsmittel den Besitzer wechseln sollten, bliebe die Situation der Entmündigung unverändert.“
124
Ein revolutionäres Kommunikationsmanifest bliebe in seiner Umsetzung folgenlos, denn sowohl die Besitzverhältnisse als auch die Intention des Sendenden (an anderer Stelle spricht Eco präzisierend von „der Quelle“ und „dem Kanal“) bestimmen die „Inhalte“ nicht. Vor diesen Kommunikationsmitteln seien „wir alle, vom Direktor der CBS bis zum Präsidenten der USA, von Martin Heidegger bis zum bescheidensten Niltal-Fellachen, das Proletariat.“125
123 Eco, Umberto: „Für eine semiologische Guerilla“, in: Ders: Über Gott und die Welt4, München: Hanser 1986, S. 146-156, hier S. 146. 124 Ebd., S. 146/147. 125 Ebd., S. 153.
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Eco wandte sich in seiner Rede explizit sowohl gegen „Vertreter der These The medium is the message“126 als auch gegen selbsternannte Erzieher, die in aufklärerischem Optimismus „ein festes Vertrauen in die Kraft des Inhalts der Botschaft“127 hatten. Diese „Inhalte“ hingen von „technischen und sozialen Determinanten des Mediums“128 ab. Ecos zentrale These lautet: „Die Botschaft ist vom Code abhängig“129, daher sei sie per se immer interpretierbar. Die „Interpretationsvariabilität ist das Grundgesetz der Massenkommunikation.“130 Die Quelle und den Kanal unter Kontrolle zu bringen, so wie es beispielsweise bei den Guerillaüberlegungen nach Marighella siegesgewiss gefordert wird, bringe keine Kontrolle über die Botschaft, sondern über eine „leere Form, die dann der Empfänger jeweils mit den Bedeutungen füllt, die ihm seine anthropologische Situation und sein Kulturmodell suggerieren.“131 An dieser Stelle regulierend, kontrollierend oder gar bestimmend eingreifen zu können, oder, um den martialischen Ton Ecos aufzunehmen, die „Schlacht des Menschen im technologischen Universum der Kommunikation“132 mit solchen Einverleibungsstrategien auf diesem Schauplatz gewinnen zu wollen, hielt er für einen Fehler133. Ecos „Guerilla“-Verfahren sah nun vor, den ersten Platz vor jedem Fernsehapparat, vor jedem Radiogerät, vor jeder Kinoleinwand und jeder Zeitungsseite zu besetzen. Die besagte Schlacht „gewinnt man nicht am Ausgangspunkt dieser Kommunikation, sondern an ihrem Ziel.“134 „Guerilla“ also war eine Strategie, „um über die Botschaft im Augenblick ihrer Ankunft zu diskutieren“, es war eine „erzieherische Organisation, der es gelänge, ein bestimmtes Publikum zu veranlassen, über die empfangene Botschaft zu diskutieren [...].“135
126 Ebd. 127 Ebd., S. 148. 128 Ebd., S. 147. 129 Ebd., S. 153. 130 Ebd., S. 152. 131 Ebd., S. 153. 132 Ebd. 133 Eco gesteht ein, dass eine Kontrolle über die Quelle und den Kanal durchaus Ergebnisse zeigt beim Erstreben von politischem oder wirtschaftlichem Erfolg, er befürchtet aber zugleich, „daß die Ergebnisse ziemlich mager ausfallen werden, wenn man den Menschen eine gewisse Freiheit gegenüber den Massenmedien wiederzugeben hofft.“ (Ebd., S. 154) 134 Ebd., S. 154. 135 Ebd.
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Eco wehrte sich wohlweislich gegen eine „neue und noch viel schlimmere Form von Kontrolle der öffentlichen Meinung“136 und war sich weiterer Einwände und Kritiken durchaus bewusst: „Der Gedanke, daß von den Wissenschaftlern und den Erziehern künftig verlangt werden muß, die Fernsehstudios und Zeitungsredaktionen zu verlassen, um eine Guerilla von Haus zu Haus zu führen wie die Provos der Kritischen Rezeption, mag erschrecken und als pure Utopie erscheinen. Aber wenn sich unser Kommunikationszeitalter in der Richtung weiterbewegt, die wir heute als die wahrscheinlichste sehen, wird dies die einzige Rettung für freie Menschen sein. In welchen konkreten Formen diese Guerilla geführt werden kann, wäre zu untersuchen. Vermutlich wird man in der Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Medien das eine Medium zur Kommunikation von Urteilen über das andere benutzen können. [...] Es könnte indessen sein, daß sich aus diesen neuen nichtindustriellen Kommunikationsformen (von den Love-ins bis zu den Sit-in-Meetings der Studenten auf dem CampusRasen) die Formen einer künftigen Kommunikations-Guerilla entwickeln. Eine komplementäre Manifestation, eher ergänzend als alternativ zu den Manifestationen der Technologischen Kommunikation, eine permanente Korrektur der Perspektiven, eine laufende Überprüfung des Codes, eine ständig erneuerte Interpretation der Massenbotschaften. Die Welt der Technologischen Kommunikation würde dann sozusagen von Kommunikationsguerilleros durchzogen, die eine kritische Dimension in das passive Rezeptionsverhalten einbrächten.“
137
Eco setzte auf Aktion im Sinne von „aktiv werden“, jedoch lief sein Guerillakampf auf eine Diskursethik statt einer Politik des Zwangs, auf Dialog statt monologischem Sprechakt hinaus.
136 Ebd., S. 155. 137 Ebd.
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2.3 D IE B OMBE : Z WISCHEN R EQUISIT
UND
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T EXT
Was war dann die Urszene des deutschen Terrorismus? Der Abend des 2. Juni 1967 im republikanischen Club in Berlin, als eine blonde Frau, die (angeblich) wie Gudrun Ensslin aussah, geschrien haben soll, dass der Generation von Auschwitz nur mit Waffen zu begegnen sei? Die Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt als das vage Fanal eines kommenden Kleinkriegs? Die anschließenden ‚Osterunruhen‘ nach dem Dutschke-Attentat oder die ‚Schlacht am Tegeler-Weg‘ als weithin sichtbare Übergänge vom Spiel der Provokation zum Ernst der Militanz? Oder war es nicht eher das ‚Knastcamp‘ im fränkischen Ebrach, wo sich dem Aufruf zufolge ‚alle Landfriedenbrecher, Aufrührer und Rädelsführer‘ der Republik eine ‚rote Knastwoche‘ lang (vom 15.21. Juli 1969) treffen wollten, um gegen die Inhaftierung eines Münchner Genossen in der dortigen Jugendhaftanstalt zu protestieren? GERD KOENEN: VESPER, ENSSLIN, BAADER. URSZENEN DES DEUTSCHEN TERRORISMUS, 2003.
Am Morgen des 10. November 1969 wurde die Bombe gefunden. Eine Reinigungskraft entdeckte sie bei den Aufräumarbeiten nach der Gedenkfeier von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde West-Berlins, die tags zuvor in ihrem Gemeindehaus an die nationalsozialistischen Pogromnacht von 1938 erinnert hatte. Durch ein Ticken beunruhigt, stöberte die Frau in einem Mantel eine Paketbombe mit Zeitzünder auf. Die alarmierte Polizei brachte das Paket zu einem Sprengplatz im Grunewald. Die Entschärfung des beinahe drei Kilo schweren, hochexplosiven Gemischs (angeblich aus Kaliumchlorid und Pattex – eine spätere Analyse ergab: „Unkraut-Ex“ und Schwefel) glückte. Allein technisches Versagen durch einen funktionsuntüchtigen Draht am Zeitzünder hatte die Explosion am 9. November verhindert. Eine spätere Testsprengung mit einem Duplikat ergab eine enorme Wucht, die erheblichen Sachschaden und vor allem eine Vielzahl von Opfern gefordert hätte. Noch am Tag des Bombenfundes wurde der Polizei von Flugblättern im „Republikanischen Club“ berichtet, „[…] die die Überschrift ‚Schalom + Napalm‘ getragen hätten, sie seien mit ‚Schwarze Ratten TW‘ unterzeichnet gewesen. Auf der Rückseite der Flugschrift habe man das folgende Bekenntnis lesen können: ‚Am 31. Jahrestag der faschistischen Kristallnacht wur-
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den in Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit ‚Schalom und Napalm‘ und El Fatah‘ 138
beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert.‘“
Wolfgang Kraushaar erläutert in Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus anhand von verschiedenen Dokumenten, Erinnerungsformaten und sogenannter Schlüsselfiguren, wie militantes Denken in gewalttätiges Handeln einer selbsternannten Avantgarde umschlug, wie sich propalästinensische Propaganda und antisemitische Strömungen in der undogmatischen Linken trafen, aber auch, wie der Verfassungsschutz nicht komplett unbeteiligt gewesen ist. Kraushaar macht damit deutlich, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt eine militante Stadtguerilla in Deutschland aktiv war: „Die Initialen stehen für Tupamaros West-Berlin, die erste deutsche Gruppierung einer Stadtguerilla, die am Vorbild einer Organisation ausgerichtet ist, die sich selbst nach Tupac Amaru, dem Anführer eines 1781 fehlgeschlagenen Indianeraufstandes, benannt und in Uruguay durch Banküberfälle und andere bewaffnete Aktionen Aufsehen erregt hat.“
139
Nicht nur der Name erschien als Übernahme der südamerikanischen Vorbilder, auch mit dieser selbstgestalteten Bombe bedienten sich die selbsternannten urbanen Guerilleros einer Maßnahme ihrer Vorbilder. Carlos Marighella hatte in seinem Minihandbuch über die Stadtguerillera geschrieben: „Molotowcocktails, Benzin, Eigenbauwaffen, Katapulte, Mörser, Knallkörper, aus Tuben und Büchsen hergestellte Granaten, Rauchbomben, Minen, konventionelle Sprengstoffe wie Dynamit und Kaliumchlorate, Plastikbomben, Gelatinekapseln und Munition aller Art 140
sind für den Erfolg des Stadtguerillero unverzichtbare Requisiten.“
Die Vorgänge um 1969 folgten einem scheinbar einfachen Muster der Namensgebung. Erst in Südamerika vorgedacht, vorgemacht und vorgeschrieben, dann in Europa nachgedacht, nachgeschrieben und schließlich nachgemacht. Doch bei näherer Betrachtung ist das Verhältnis von „vor“ und „nach“ nicht so deutlich, weder temporär noch kausal. Marighella sprach aus seiner Guerillakriegserfahrung einen Gegenstandskatalog an, dessen Sprengkraft in Westeuropa und den USA als Faszinosum vorrangig in der Untergrundkultur um 1968 bereits zirkulierte. Die selbstgebastelten 138 Kraushaar, Wolfgang: Die Bombe Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg: Hamburger Edition 2005, S. 36/37. 139 Ebd., S. 48. 140 C. Marighella: Das Minihandbuch des Stadtguerilleros, S. 12. Kursiv durch Verf.
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Bomben und Molotowcocktails kamen dort zunächst nicht zum Einsatz als physische Zerstörungstechnik, sondern in der theatralen Inszenierung eines handlungsmächtigen Requisits – Marighella hatte in seiner Ausführung, bereits die richtige Wortwahl getroffen. Der Übernahme dieser Handbuchlektion war ein diskursiver Boden bereitet. Einige dieser Diskursschichtungen werden in den folgenden Unterkapiteln skizziert, indem eine Zirkulation der Bombe in, auf und durch Bühnenperformance, Demonstrationsutensil, Handzeichnung, Lyrikobjekt, Erzählsujet, Flugblatt, Filmprotagonist und anderen (Re-) Präsentationen nachgezeichnet wird. Damit zirkuliert etwas, das zwischen den Feldern des politischen Protestes, der Kunst und der Rechtsprechung beweglich bleibt, bis die ersten Bomben tatsächlich gelegt wurden. Und nicht nur sie allein, wie das Beispiel der ersten Bombe schon anzeigt: es gab die Bombe zunächst nicht allein und ausschließlich, sondern immer mit einer Form von Text. Die folgende Vorgeschichte zeigt auch, dass nicht ‚nur‘ die Bombe das Mittel der Zerstörung war und der Text ‚nur‘ das Medium, das die Zerstörung erklärte. Die Relationen und Trennungen werden sich als komplexer erweisen. Die RAF führte nach ihrer logistischen Aufbauphase diese zerstörerischen Akte weiter aus, führte sie fort bis zum vielfachen Mord durch Bombenattentate mit Bekennerschreiben. Denn zur destruktiven Kraft sollte und musste eine Bombe in einen semiotischen Aktionsraum überführt werden, da sie sich konzeptionell auf eine Mindbomb berief und als solche nur mit textueller Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung durchgeführt werden konnte. Diese Bomben gab es nicht ‚an sich‘, sie ‚funktionierten‘ erst durch (Zu-)Schreibung. Horst Mahler hat 1971, ungefähr ein Jahr vor den ersten Bomben an US-Militäreinrichtungen und staatlichen bundesrepublikanischen Einrichtungen, erläutert: „Wir müssen also einen Angriff unternehmen, um das revolutionäre Bewußtsein der Massen zu wecken. Unvermeidlich treffen wir dabei auf den Widerstand, den das falsche Bewußtsein zur Aufrechterhaltung der Anpassung, zur Einhaltung des mühsam erworbenen seelischen Gleichgewichts in der Unterdrückungssituation mobilisiert. Dieser Widerstand – in bestimmter Weise dem mechanischen Trägheitsmoment vergleichbar – ist der Statthalter des Ausbeutersystems in den Köpfen der Unterdrückten. Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch in das Bewußtsein der Massen.“
141
141 RAF: „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa Mai 1971“ in: ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, S. 49-11, hier S. 100. Kursiv durch Verf.
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2.3.1 Flammendes Inferno: Eine Gitarre, Flugblätter und ein US-Vizepräsident Als Brian Jones, Leadgitarrist der Rolling Stones, am späten Nachmittag des 18. Juni 1967 auf die Bühne des Monterey Pop Festivals die just aus England zurückgekehrte Jimi Hendrix Experience ansagte, wurde Geschichte gemacht. Bereits am Nachmittag hatten The Who mit ihren Gitarren die Verstärkeranlage regelrecht zerdroschen, ihr üblicher Abgang nach einem Auftritt. Dafür waren sie bekannt, das war ihr Stil. Doch Jimi Hendrix beendete sein Show mit dem gecoverten Wild Thing, das mit einer Tieffliegerattacke aus elektrischen Rückkoppelungen startete. Der vierundzwanzigjährige Gitarrist in hautenger roter Samthose ließ als Finale Furioso seine Stratocaster in Flammen aufgehen, was bis in die heutige Gegenwart als einer der flammendsten Momente der jüngeren Musikgeschichte gilt. Das Interpretationsmuster dieses Mythos läuft seit dem auf eine Frage hinaus: Wollte der ehemalige Fallschirmjäger Hendrix die Napalm-Attacken gegen das vietnamesische Volk in seine Heimat tragen? „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“, rief Che Guevara von Havanna aus. Hendrix tat dies mit seinem Werkzeug. Und war die brennende Gitarre nicht genau das Spektakel, das akustischoptisch „jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen)“142 versprach? Dieser Wortlaut war auf Flugblättern über ein brennendes Brüsseler Kaufhaus zu lesen, die beinahe vier Wochen zuvor (von dem Popfestival völlig unabhängig) auf Berliner Straßen verteilt worden waren. Die Verteiler waren Mitglieder der Kommune I, das Kaufhaus hieß „A L’Innovation“, es stellte zu diesem Zeitpunkt besonders schwer zu erwerbende US-Waren aus. Daher war nach Zeitungsberichten des Springer-Verlages der Kaufhausbrand auf demonstrierende Vietnamkriegsgegner zurückzuführen. Wie sich schnell herausstellte, wurde er nicht als der Funke der Empörung entflammt. Der Feuertod von über 300 Menschen war ein Unglück mit technischer Fehlerquelle. Erst der Nachhall auf den Flugblättern verfremdete es zu einem Spektakel. Die Kommunarden taten dies mit ihren Werkzeugen, mit dem Stift, der Schreibmaschine, der Wachsmatrizendruckmaschine. Als Hendrix anderthalb Jahre später dann leibhaftig in Berlin auftrat, standen die Mitglieder der Kommune I, längst selbst Inbegriff von Spektakel, vor der Bühne:
142 Kommune I: Flugblatt 7, 24.05.1967.
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„Es war ein wahnsinniges Konzert mit einer außergewöhnlichen Kommunikation zwischen Publikum und Hendrix, zwischen Hendrix und Publikum. Ein Satz von ihm, am Ende des Konzerts gesprochen, und alle hätten sich tanzend auf den Weg zum Potsdamer Platz gemacht, um dort über die Mauer zu segeln und das Konzert am Gendarmenmarkt fortzusetzen.“143
Es geschah nichts dergleichen, es gab keine Love-and-Peace-Wiedervereinigung des geteilten Berlin unter der Führung eines ekstatischen Gitarristen. Es blieb allein eine weitere Anekdote, nach der Jimi Hendrix mit Uschi Obermaier für eine Nacht im Hotel verschwand und Rainer Langhans zurückließ – brennende Eifersucht, nicht mehr und nicht weniger. Im Rückblick nichts als harmlose Explosionen. Eine brennende Gitarre hat keinen Sinn und ein brennendes Kaufhaus macht keinen Sinn. Ein solcher Sinn wurde erst durch eine Inszenierung nahe gelegt. Und genauso wenig waren die brennenden Gegenstände aus sich heraus Zeichen. Zu diesen wurden sie gemacht, zu Symbolen wurden sie erklärt. Zwar können mit der Baader-Befreiung ein Initiationsakt und mit entsprechendem Pamphlet in der „agit 883“ ein Gründungsschreiben benannt werden, die „Geburtsstunde“ der Geschichte des linken Terrorismus in der BRD hingegen kann nicht auf ein Ereignis exakt datiert werden. Im Gegenteil, es bereitet sowohl Zeitzeugen als auch Historikern immer größere Probleme, die Geburtswehen überhaupt genauer zu umreißen. Zwar galt und gilt nach wie vor der 2. Juni 1967, der Tag, an dem der Student Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah Demonstration in Berlin von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde, vielen als der ursächliche Startschuss der Gewalteskalation und damit der Legitimation von Gegengewalt als reaktives Mittel auf Staatsrepression. Jedoch kursierten gewaltbereite, terroraffine Formationen als Idee und in Aktion schon vor dem Sommer 1967, wie bereits dargelegt. Das galt bis zu einem gewissen Grad auch für die Berliner Kommune I. Ihre Mitglieder sahen sich dabei allerdings in den Traditionen von Kunstprovokation und Polit-Happening – Traditionen, die sich bis zu den Surrealisten der frühen 1930er Jahre zurückverfolgen lassen144. 143 D. Kunzelmann: Leisten Sie keinen Widerstand, S. 106. 144 Auch hier sei darauf hingewiesen, dass zu diesen Strategien der künstlerischen PostAvantgarde, ihrem Einfluss und den personalen Kontinuitäten zur Kommune I und des Proto-Terrorismus sowie deren Traditionslinie bis zu den Surrealisten bereits umfangreiche Analysen durch Sara Hakemi und Thomas Hecken vorgelegt wurden. Für die Kommune I hat dies besonders Alexander Holmig mit seinem Aufsatz „‘Wenn`s der Wahrheits(er)findung dient...‘ Subversive Aktion, Kommune I und die
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Die Kommune-Gründung und ihre Unternehmungen selbst wurden noch in der Formierungsphase durch Dieter Kunzelmanns „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen“ im November 1966 zu einer Art revolutionärer Erlösungshoffnung der „Machbarkeit der Geschichte“145 erklärt. Durch „systemsprengende Praxis“146, durch „subversiv-anarchistische Aktionen“147, durch „Destruierung der Privatsphäre und aller uns präformierenden Alltäglichkeiten, Gewohnheiten und verschiedenen Verdinglichungsgrade“148 sollte der Schritt über den theoretischer Entwurf eines „Rohen Kommunismus“ hinaus in experimenteller Weise vollzogen werden – mit durchaus offenem Weg und offenem Ausgang, einer Laboranordnung des Selbstversuchs nicht unähnlich: „Unsere Praxisvorstellungen können im Moment nur als diffus bezeichnet werden. Sind die divergierenden Konzeptionen durch konzentrierte Praxis aufgehoben, bleibt nicht ausgeschlossen, daß diese eine falsche war. Soll dieser Prozeß nicht in Frustration versanden – und die Kommune ist nicht der konkrete Versuch, ob Praxis möglich ist, sondern wir machen die Kommune, um Praxis jetzt zu machen: Praxis als Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit – ist unser Entwicklungsprozeß bei Beginn des Zusammenlebens von ausschlaggebender Bedeutung, um den Experimentalcharakter gemeinsamer Praxis durchstehen zu können.“
149
Aber im Gegensatz zu Jimi Hendrix waren ihre „Bomben“ zunächst wenig elektrisch und akustisch, sondern kamen erst per Stift, Wandmalfarbe oder Druckmatrize in die Welt, dann per Pudding und Mehl. In der Eigenhistorisierung durch Kommune-Mitglieder wurde ihre erste Bombe sogar zeitlich ziemlich genau bestimmt. Im Dezember 1966, kurz nach den Gründungsdiskussionen Ende November, ist in einem Flugblatt gegen den
Neudefinition
des
Politischen“
(http://www.isioma.net/Holmig-K1.pdf
vom
23.05.2011) expliziert. 145 Kunzelmann, Dieter: „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen“, in: Goeschel, Albrecht (Hg.): Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft, München: Reihe Hanser 1968, S. 100-106, hier S. 100. 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 101. 149 Ebd., S. 101. „Praxis als Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit“ war das analoge Denken zur möglichen Verheißung einer „sinnlichen Gewißheit“ in der Guerilla in den Metropolen, wie Dutschke sie entwarf (Vgl. Kapitel 2.2.2.).
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Vietnam- Krieg „ein erstes kleines Meisterwerk von Fritz [Teufel]“150 zu finden gewesen. In diesem Schriftstück „tauchte sie zum ersten Mal auf, die Idee der ‚Bombe‘“151: „Ostermarschierer, Ostermärtyrer, Ihr demonstriert für die Zukunft. In der Gegenwart passt ihr euch an. Ihr protestiert gegen die Bombe Selber wollt ihr keine legen. 152
[…].“
Dieser Einsatz des Wortes „Bombe“ war einerseits ein Radikalitätsmarker und andererseits das Abgrenzungsmoment zu einer anderen, historisch vorgelagerten Gegen-Bewegung. Die pazifistischen Ostermarschierer, die das wohlbekannte „Peace“-Zeichen zu ihrem Logo erhoben, waren ein Zusammenschluss verschiedener Gruppierungen, ideologie- und generationenübergreifend, die unter anderem gegen die im Text angesprochene Atombombe auf die Straße gingen. Im Zuge der „Kampagne gegen den Atomtod“ ab Ende der 1950er Jahre konnten sie zahlenmäßig sehr viele Leute (z.T. über einhundertausend!) für Demonstrationen mobilisieren. An all dies wollte der Protest der Kommune I nicht anschließen, sah sich generationell und ideologisch in einer anti-bourgeoisen jungen Subkultur lokalisiert und proklamierte für sich, radikaler und konsequenter im Veränderungswillen zu sein153. Zu lesen waren diese Zeilen auf einem Flugblatt, das von den Mitgliedern der Kommune I beim Berliner Ostermarsch am 26. März 1967 verteilt wurde. Im Anschluss an diese genehmigte Demonstration führten sie den Protest ungenehmigt weiter auf den Ku‘damm, „bei der Ho-Chi-Minh-Sprechchöre angestimmt,
150 Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I: Berlin 1967-1969. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2004, S. 112. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Hakemi/ Hecken weisen darauf hin, dass der präsentierte Ausschnitt das Gedicht nur einleitete und kommen bei der Lektüre aller Verse zu dem Schluss, dass es „kein direkter Aufruf zur Gewalt, sondern eine metaphorische Attacke gegen ‚bürgerliches‘ Verhalten“ (Hakemi, Sarah/Hecken, Thomas: „Warenhausbrandstifter“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 316-331, hier S. 321) sei. „Die Verse stehen demnach nicht für terroristische Gesinnung, sondern ganz im Einklang mit der Überzeugung, dass auch (und gerade) das Private politisch eminent bedeutsam sei.“ (Ebd.)
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die Vietkongfahne gezeigt und Farbbehälter gegen das Amerikahaus geworfen wurden“154, wie es ein halbes Jahr in einer Anklageschrift heißt. Größer, als zwischen der Performance von Hendrix‘ elektronischem Rückkoppelungsfanal vor mit Filmkameras ausgestattetem Publikum und dem Verteilen von matrizengedruckten Flugblättern auf Berliner Straßen, konnte die mediale Differenz kaum sein. Die Heimholung der Napalmbomben durch ein optischakustisches Gesamtwerk vor zahlendem Publikum mit gleichzeitiger Aufzeichnung zur Verbreitung und Bewahrung stand der gezielt eingesetzten, gratis an ausgewählten Orten verteilten Hektographietechnik mit begrenzter Auflage entgegen. Mit der Gestaltung und den Aussagen ihrer Flugblätter wiederum wollten sich die Kommunarden strategisch absetzen von der üblich praktizierten Nutzung dieses Mediums durch andere politische Gruppen. Nicht die Unterstützung durch Fakten, die Begleitung durch Aufrufe und die argumentative Flankierung bei Kundgebungen sollte erreicht werden: „Sie wollen weniger argumentativ überzeugen als provozieren, weniger Tatsachen belegen als Geschichten erzählen und Phantasien erzeugen; vor dem Einverständnis setzen sie auf Empörung und Verwirrung. Diese Strategie richtet sich keineswegs nur gegen den einfachen Gegner, den Reaktionär und Spießer, sondern auch gegen liberale und linke Gruppierungen.“
155
Die Verteilung von Flugblättern durch Protestierende wurde jedoch zunehmend flankiert durch „Bomben“-Wurfe ähnlich dem Farbbeutelanschlag – solange, bis Anfang April 1967 der erste Bombenwurf vermeintlich wahr wurde. Im BaaderMeinhof-Komplex heißt es dazu unter der Überschrift „Napalm und Pudding“: „Im April 1967 kündigte sich der amerikanische Vizepräsident Hubert Humphrey zu einem Besuch in Berlin an. Der Allgemeine Studentenausschuß (AStA) der Freien Universität rief zur Protestdemonstration auf. Andere bereiteten sich auf ihre Weise für den Empfang des Vizepräsidenten vor. […] Am Tisch der Kommune-Küche wurde Pudding angerührt, mit dem Hubert Humphrey beworfen werden sollte. Im Grunewald probierte die Gruppe das Pudding-Attentat an einigen Baumriesen aus. Doch die Aktion flog schon vor der Durchführung auf. Die Berliner Zeitungen, und nicht nur sie, überschlugen sich vor Empörung, und aus dem PuddingAttentat wurde plötzlich ein Sprengstoffanschlag.“
156
154 Langhans, Rainer/ Teufel, Fritz: Klau mich (=Voltaire Handbuch 2), Frankfurt am Main/Berlin: Edition Voltaire 1968. o. S. 155 S. Hakemi: Anschlag und Spektakel. S. 31. 156 Aust: BMK. S. 42.
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Kurz vor einem ‚Frontstadt-Besuch‘ des US- Vizepräsidenten wurden also Mitglieder der Kommune I bei „Bomben-Wurfübungen“157 verhaftet. Schnell stellte sich der Vorfall, je nach Betrachtungsweise, als Studentenstreich oder Polithappening heraus. Als das „Pudding-Attentat“ ging die Aktion als „Blamage von Polizei, Verfassungsschutz und einschlägig ausgerichteten Presseorganen“158 in die Geschichte der Studentenbewegung ein. Neben den „bekannten Methoden der amerik. Bürgerrechtsbewegung („direct action“-Konzept: „sit-in“, „Spaziergangsprotest“ etc.) und den „besonders bewusste[n] Regelverletzungen und happenings im Stile der Amsterdamer Provos“159 war ein Puddingattentat vor allem eine öffentlich vorgeführte SlapstickEinlage in der Tradition der Marx-Brothers und Laurel & Hardys. Von ihrer Anlage her war die Aktion jedoch mehr als origineller Demonstrationsmarsch mit Flugblattverteilung, künstlerischem Happening oder Straßentheater gegen den Vietnamkrieg. Es ging auch „schlechthin um Störungen der rechtsstaatlichen Ordnung.“160 Es hat eine Diskussion im Vorfeld gegeben, aus der deutlich wurde, dass die Aktion eine Verhaftung mit Auftritt vor dem Richter nach sich ziehen konnte – oder gar sollte161. Es ging den Darstellern also um eine 157 A. Holmig: Wahrheitsfindung, Fußnote 14: „Am 6. April 1967 sollte die Wagenkolonne des US-Vizepräsidenten auf ihrem Weg zum Sitz der Westberliner Administration, dem Rathaus Schöneberg, abgefangen werden. Unter Einsatz ‚möglichst vieler Roter Rauchbomben‘ plante man zur Staatslimousine zu laufen und Superbälle (kleine Vollgummi-Springbälle), Schlagsahne, Pudding etc. zu werfen. Sobald das Fahrzeug angehalten habe, würden Lieder wie ‚Hoch soll er leben‘, ‚Backe, backe Kuchen‘ oder ‚Berlin ist eine Reise wert‘ gesungen. Anschließend wollte man sich verhaften lassen und zu erwartenden Gerichtsverfahren entgegen sehen.“ 158 W. Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus. S. 268. 159 A. Holmig: Wahrheitsfindung, Fußnote 8. Am 10. März 1966 führten die Amsterdamer Provos bei den Hochzeitsfeierlichkeiten von Kronprinzessin Beatrix und Claus von Amsberg, besonders Umstritten wegen seiner Mitgliedschaft in der Hilterjugend, die vorbildgebende Aktion durch. Sie hatten im Vorfeld angekündigt, die Pferde des königlichen Gefolges mit LSD zu betäuben, zündeten jedoch bei der öffentlichen Feier einige Rauchbomben, was inklusive der brutalen Überreaktion der Polizei live im Fernsehen übertragen wurde. 160 Kommune I: Zerschmettert den Moabiter Pleitegeier. Gesammelte Werke gegen uns. Berlin: oA. 1967. S. 5. 161 „Im Laufe der Diskussion wurde die Möglichkeit erörtert, dass die Teilnehmer an dieser Aktion wegen groben Unfugs und wegen Beleidigung einer befreundeten Staatsmacht bestraft werden könnten. Nach diesen Eröffnungen entfernte sich eine erhebliche Anzahl der Versammlungsteilnehmer.“ (Ebd.)
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Verlagerung des Bühnengeschehens und um eine Erweiterung des institutionellen Raumes sowie entsprechend des (unfreiwillig) mitwirkenden Personals. Die Aktion an der Schnittstelle von Kunstperformance und Straftat sollte die Strafverfolgungsbehörden zu diesem Schritt herausfordern und damit einen anderen Raum des Politischen (wieder) eröffnen. Was aber schlug zunächst ein wie eine Bombe? Die Schlagzeile in der BildZeitung: „Geplant – Berlin: Bomben-Anschlag auf US-Vizepräsidenten. Elf Verschwörer gefaßt.“162 Auch beispielsweise die Zeit und gar transnational die New York Times brachten die Bombe hervor. Auf andere Art und Weise ging Konkret mit einem Kommentar von Ulrike Meinhof auf die Bombe ein: „Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber, Politiker zu empfangen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren … Napalm ja, Pudding nein.“163 Die Umstände ihrer Bombenübung machten die Kommunarden selbst mit einem Reenactment „von der Planung über den Testlauf bis zur Verhaftung“164 in bewegten Bildern deutlich: „Kurz darauf begaben sich die Kommunarden noch einmal in den Grunewald und demonstrierten vor der laufenden Kamera eines Polit-Magazins, welche Effekte die mit einer Mischung aus Pudding und Mehl gefüllten Wurfkörper erzeugen konnten. Als die Fernsehzuschauer den Hokuspokus zu sehen bekamen, war der Spott groß. Einige erinnerte das Ganze an einen klassischen Studentenstreich, andere glaubten darin anspruchsvoller ein ‚Polit-Happening‘ erkennen zu können.“
165
Die reißerische Titelseite der Bild-Zeitung wurde als Material in diese Fernsehaufnahmen einbezogen, indem sie als Zielscheibe für die Puddingbomben fungierte. Mit dem Bombenwurf auf ein genau zu benennendes, vor Augen gestelltes Ziel wurde trotz der Spielsituation damit ernst gemacht. Zugleich wurde nach der reißerischen Bildtitelseite so etwas wie Gegenwehr zur Geltung gebracht. Mit dieser Aufführung als Fernseh-Szene war die Aktion jedoch assoziativ an ihre Herkunft, den Slapstick der Stummfilmära, zurückverwiesen, aber damit auch wieder in den Bereich des komischen Kunstklamauks gehegt. Die Aktionisten stuften sich zurück als Darsteller und die Bombe war nicht mehr als ein 162 http://www.medienarchiv68.de/dl/192569/239.jpg.pdf vom 15.09.2011. 163 Meinhof, Ulrike: „Napalm und Pudding“, in: Konkret 5/1967, S. 3. 164 Fahlenbrach, Kathrin: „Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung von 1968 im Spannungsfeld von Kultur-Revolution und Medien-Evolution“, in: M. Klimke/J. Scharlroth, Handbuch, S.11-23, hier S. 16. 165 W. Kraushaar: Die Bombe, S. 268.
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Filmrequisit, das den Effekt der Erheiterung entstehen ließ. Diese Rücknahme zeigt, dass sich die Bombe der Bild-Zeitung als wirkmächtiger herausstellte. Das Ermittlungsverfahren wurde nach einiger Zeit eingestellt, der Disziplinarausschuss der FU unter der Leitung von Roman Herzog arbeitete allerdings weiter wegen „Verstoß gegen die §§ 1,3 der Disziplinarordnung für die Studenten der Freien Universität Berlin in Verbindung mit § 21, Ziffer 2 der Universitätsordnung in der Fassung vom 1.4.1966.“166 Auch der SDS unternahm Ausschlussbemühungen gegen die immatrikulierten Kommunarden. Zu Verhandlungen jenseits des Campus und zu dem intendierten Gerichtsauftritt bedurfte es der Verteilung einer viertteiligen Flugblattserie an der Freien Universität Berlin im Mai 1967. Insbesondere das dritte (von den Verfassern selbst mit einer „8“ markiert und damit der eigenen, anderen diachronen Ordnung sortiert) war der Anlass, dass aus einem Blatt mit Bombendrohung ein Universitäts- und Rechtsverfahren um den Textstatus zwischen Kunstprosa und Gewaltaufruf einsetzte. „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser? Bisher krepierten die Amis in Vietnam für Berlin. Uns gefiel es nicht, dass diese armen Schweine ihr Cocacolablut im vietnamesischen Dschungel verspritzen mussten. Deshalb trottelten wir anfangs mit Schildern durch leere Straßen, warfen ab und zu Eier ans Amerikahaus und zuletzt hätten wir gern HHH in Pudding sterben sehen. Den Schah pissen wir vielleicht an, wenn wir das Hilton stürmen, erfährt er auch einmal, wie wohltuend eine Kastration ist, falls überhaupt noch was dranhängt...es gibt da so böse Gerüchte. Ob leere Fassaden beworfen, Repräsentanten lächerlich gemacht wurden, die Bevölkerung konnte immer nur Stellung nehmen durch die spannenden Presseberichte. Unsere Belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk beim Lesen der Frühstückszeitung zu vergiessen. Ab heute geht sie in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an. Dabei ist nicht unbedingt erforderlich, dass das betreffende Kaufhaus eine Werbekampagne für amerikanische Produkte gestartet hat, denn wer glaubt noch an das ‚Made in Germany‘? Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genausowenig wie beim Überschreiten der Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der Marines nach China. Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben: 166 Kommune I: Zerschmettert, S. 3.
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Burn ware-house, burn! Kommune I (24.5.67)“
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Die Generalstaatsanwaltschaft des Berliner Landgerichts eröffnete mit einem Einschreiben vom 31. Mai 1967 gegen Rainer Langhans „ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Aufforderung zur menschengefährdenden Brandstiftung (§ 111 Abs., § 306 Nr. 3 StGB).“168 „Flugblatt 8 enthält zwar nicht wortwörtlich, aber unmissverständlich die unverhohlene Aufforderung, auch in Berlin mit brennenden Warenhäusern für Vietnam zu ‚demonstrieren‘. […] Nach nüchterner und verständiger Prüfung […] kann die Ernsthaftigkeit der in den Flugblättern enthaltenen Aufforderung zur menschengefährdenden Brandstiftung nicht angezweifelt werden. Angesichts ihres tätigen Wirkens innerhalb der ‚Kommune I‘ seit längerer Zeit und ihres Bestrebens, dieses Wirken spektakulär zu steigern, kann das Werben für ihr ‚unkonventionelles‘ und ‚atemberaubendes‘ Vorhaben nicht ernst genug genommen werden.“
169
Namentlich wurden dabei nur Rainer Langhans und Fritz Teufel erwähnt, jedoch klagten sich die Kommunarden Dieter Kunzelmann, Volker Gebbert, Gertrud Hemmer und Ulrich Enzensberger umgehend selbst an: „Schließlich haben wir die Flugblätter ja auch zusammen gemacht und vertrieben, und irgendwo im Gesetz gibt es doch sowas wie Recht auf geistiges Eigentum.“170 Der Strafprozess vor der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Moabit bekam von ihnen den Titel „Moabiter Seifenoper“ – von vornherein signalisierten sie damit, dass eine sich schier endlos wiederholende Serie mit schlechten Darstellern und durchsichtigem Skript bevorstand, deren Ausgang alles andere als offen war. Zugleich war es der Verweis, dass die Kommunarden das Verfahren als Showproduktion anlegten. Aus dem satirischen Bombentext auf dem Flugblatt war ein Aufruf zur Brandstiftung geworden, gelesen als ein vorzeitiges Anschlagsbekenntnis, dass die Napalmbomben faktisch heim zu holen seien. Die Flugblätter waren zu Beweismitteln geworden, sie wurden in Akten archiviert. Jedoch war strittig, was sie überhaupt an Gesetzesverstößen bewiesen und welchen Sinn der Text als 167 Kommune I: Zerschmettert, S. 22. Vgl. zu den Flugblättern S. Hakemi: Anschlag und Spektakel, S. 27 ff. 168 Kommune I: Zerschmettert, S. 17. 169 Ebd., S. 29. 170 Ebd., S. 30.
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Ausdruck potentiell kriminellen Verhaltens haben konnte und vor allem, ob er selbst schon eine kriminelle Handlung darstellte. Die maßgebliche Interpretation wurde von „Fachleuten“ vorgenommen. Der Verteidiger der Kommune I, Horst Mahler, holte für das Verfahren diverse, durchaus sich widersprechende und ablehnende Gutachten über die Flugblätter ein, u.a. von Alexander Kluge, Walter Jens, Hans Werner Richter und Günter Grass. Zur Verteidigung der Angeklagten im Prozess selbst führte Anwalt Mahler selbstverständlich nur wohlwollende Beurteilungen auf: „Als Gutachter vor Gericht traten schließlich die Literaturwissenschaftler Peter Szondi, Fritz Eberhard und Peter Wapnewski sowie der Philosoph und Religionswissenschaftler Jacob Taubes auf. Sie waren sich trotz unterschiedlicher Argumentation darin einig, dass die Anklageerhebung auf einem Missverständnis beruhe. Szondi etwa vertrat die Ansicht, dass es sich bei den Texten um Übertreibungen handle, die mit den Mitteln der ‚satirischen Parodie‘ den Sprachduktus von Zeitungsmeldungen und Reklamespots hätten ad absurdum führen wollen. Der Generalstaatsanwalt verkenne offenbar die ‚ironische Struktur‘ der Texte. Als einziger stellte Taubes die Kommunarden in die Tradition der europäischen Avantgarde. Ihre Vorläufer müssten im Dadaismus und Surrealismus zu suchen sein. Bei den Flugblättern, die in ihrer Übertreibung und Maßlosigkeit auf die Erzeugung eines Schocks abzielten, handle es sich um ‚surrealistische Dokumente‘. Die von den Surrealisten ebenso wie den Kommunarden programmatisch vertretene ‚Vernichtung der bürgerlichen Welt‘ stehe ‚außerhalb von Geschichte und Politik‘ und stelle deshalb nichts anderes als ‚eine poetische Fiktion‘ dar. Am Ende seines Gutachtens zog er die Schlussfolgerung: ‚Die Kommune I ist ein Objekt für die Religionsgeschichte und Literaturwissenschaft, aber nicht für Staatsanwalt und Gericht.‘ Das Gericht wollte sich den Argumente der Gutachter nicht grundsätzlich anschließen, sprach die Angeklagten jedoch schließlich frei.“
171
Unter dem Diktum des Aufrüttelns durch provokant-satirischen Inhalt mittels künstlerischer Textverfahren wurden die Flugblätter nicht nur damals von den Gutachtern gelesen, sondern auch in der heutigen Gegenwart von Historiographen. Die „Moabiter Seifenoper“, also der Hergang des Verfahrens selbst, wurde und wird ebenso aufgefasst172. Das Ritual und die Normen einer Strafprozess171 W. Kraushaar: Die Bombe, S. 271. Zum Gerichtsverfahren vgl. W. Kraushaar: Die Bombe, S. 271 ff.; U. Enzensberger: Die Jahre der Kommune I, S. 178 ff; S. Aust: BMK, S. 58. 172 Eine sehr aufschlussreiche Lektüre des Verfahrens mit Austins Performanzbedingungen für Sprechakte hat Joachim Scharloth vorgelegt, indem er die performativen Techniken der Kritik an der symbolischen Ordnung eines Strafprozesses verfolgt. (Scharloth, Joachim: „Ritualkritik und Rituale des Protests. Die Entdeckung des Per-
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ordnung wurden in den Befragungen und Anhörungen durch Zwischenrufe, Kleiderwahl, Bewegungsmuster u.ä. lächerlich gemacht und zum Teil außer Kraft gesetzt. Aber die Urteils-, Wirk- und Deutungsmacht des Gerichts wurde nicht erschüttert oder gar aufgehoben. Der Freispruch für die Kommunarden erfolgte am 22. März 1968. Zugleich wurden die Flugblätter Kraft des richterlichen Urteils wieder ins Feld der Kunst zurückgeführt. Mit dem Prozess und durch den Streit um die Flugblätter war jedoch die Beurteilung nicht abgeschlossen – und einhergehend damit die Form der Präsentation und der ‚Hegung‘ in eine Erzählgattung. 2.3.2 Der Hund brennt: Aktion als Fiktion Günter Grass war einer der von Anwalt Mahler rekrutierten Gutachter. Der Schriftsteller konnte weder für Form noch für Inhalt der Flugblätter Verständnis aufbringen. Stellte er sie zunächst der Form nach in die Tradition des „Hessischen Landboten“ („obwohl ihnen die sozialrevolutionäre Kraft fehlt“173), rückte er sie anschließend in die Nähe der futuristischen Manifeste. Wie diese auch gaben sie unbewusst geäußerte „postfaschistische Züge frei“174. In der „lautstarke[n] Unverbindlichkeit und [der] überhebliche[n] Ausschließlichkeit einer Avantgarde“175 stünden sie künstlerisch in der Tradition von Futurismus und Dadaismus, ideologisch in der des Anarchismus – ohne jedoch von den Quellen Kenntnis zu haben oder haben zu wollen. Sprachlich zeigten „Werbesprache, BZ-Sprache und Kommune-Sprache“ „gleichermaßen faschistische Symptome“176. Grass wolle die Flugblätter weder verharmlosen noch sie als „Schwarzen Humor“ ästhetisieren, konnte sich aber letztlich nicht durchringen, diese „pubertären Erzeugnisse einiger verwirrter, schon ältlicher Knaben als ernstgemeinte oder ernst zu nehmende Aufforderung zur Brandstiftung zu werten.“177 Im Übrigen war es auch Grass, der den ersten Kommuneversuch auflöste. Uwe Johnson, in dessen leer stehender Berliner Wohnung in der Niedstraße 13 die Kommunarden ab März 1967 untergekommen waren, las in der New York Times den besagten Artikel über das Bombenattentat und bat umgehend seinen
formativen in der Studentenbewegung der 1960er Jahre“, in: M. Klimke/J. Scharloth (Hg.), Handbuch, S. 75-88) 173 Kommune I. Zerschmetter, S. 44. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 45. 177 Ebd.
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Freund und Nachbarn Günter Grass, die Gruppe aus seiner Wohnung zu entfernen. Mit dem Gutachten endete aber nicht Grass‘ Beschäftigung mit dem Themenkomplex. Konnte er die Aktionen und Flugblätter der Kommune I auch nicht als Aufruf zur Brandstiftung bewerten, so verwertete er sie doch als Impuls zum eigenen literarischen Schreiben, nahm sie durchaus ernst in diesem produktiven Sinne. Grass unternahm den Versuch, die Aktion der Kommunarden in traditionelle Erzählkunst zu transferieren, die sich politisch gerierte, indem sie über Politik sprach. In seinem Roman Örtlich betäubt178 versuchte Grass sich an einer Persiflage vor allem der aufsehenerregenden Happenings und einer ganz dem Zeitgeist verschriebenen, sich linksradikal kokettierenden Bohème – und wiederholte so im Rahmen der fiktiven Erzählung seine Kritik des Gerichtsgutachtens. Die Vorgänge in Berlin wurden fiktionalisiert, aber so, dass ein Wiedererkennungswert erhalten blieb. Ein klassischer Satireversuch, der die Beobachtungen vor Ort in Literatur überführen sollte und damit den Bombenanschlag in Textform. In der Erzählung will der Oberstufenschüler Philipp Scherbaum zu Beginn des Jahres 1967 seinen Hund mit Benzin in Brand setzten und ihn über den Ku’damm vor dem Kempinski entlang rennen lassen, also seinen geliebten Dackel Max für eine ebenso spektakuläre wie provokante „Demonstrative Aufklärung“ (so betitelt seine Freundin Vero das Vorhaben) über den Vietnamkrieg opfern179. Er hat zunächst ein vages Konzept: „Ich werde die Presse, das Fernsehen hinbestellen und ein Schild malen: Das ist Benzin und kein Napalm. Die sollen das sehen. Und Max wird, wenn er brennt, laufen. Auf die Tische zu mit dem Kuchen drauf. Vielleicht fängt was Feuer. Vielleicht begreifen sie dann…“
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178 Grass, Günter: Örtlich betäubt. Neuwied und Berlin: Luchterhand 1969. 179 Eine aufsehenerregende Ankündigung gab es wohl am 30. Juli 1968 tatsächlich: „Um zu beweisen, daß der Vietnam-Krieg – würde er nur gegen Hunde, anstatt gegen Menschen geführt – schon nach kurzer Zeit durch den Protest der internationalen Tierschutzvereine und tierliebender Richter gestoppt würde, kündigt die Internationale der Kriegsdienstgegner in München die öffentliche Verbrennung eines Hundes an. Daraufhin erhebt sich eine Protestwelle; unter anderem macht eine Frau das Angebot, lieber sich als den Hund verbrennen zu lassen.“ Kraushaar, Wolfgang: „Notizen zu einer Chronologie der Studentenbewegung“, in Mosler, Peter (Hg.), Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte – zehn Jahre danach. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982. S. S. 249-295, hier S. 282. 180 G. Grass: Örtlich betäubt, S. 174.
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Der Deutsch- und Geschichtslehrer Starusch versucht daraufhin mit Nachdruck, seinen begabten Lieblingsschüler davon abzubringen, denn neben Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Aktion sorgt er sich vor allem um Leib und Leben seines Eleven. „Töten wird man Sie mit Regenschirmen und Schuhabsätzen“181, prophezeit er Scherbaum. Doch der ist nicht so leicht von seinem Vorhaben abzubringen, im Gegenteil. Für eine gewisse Zeit kann er sogar seinen Lehrer für einen demonstrativen Akt gewinnen. Mit Scherbaums Freundin Vero wird Starusch auf eine Party der linken Boheme in eine Berliner Altbauwohnung mitgenommen, bei der Vero klarstellt: „Die stehen politisch alle ganz links. Das sind unsere Leute. Der da mit dem Castrodeckel ist der linkeste Underground-Verleger, den es gibt. Und der da kommt gerade aus Milano, wo er Leute getroffen hat, die gerade aus Bolivien gekommen sind, wo sie mit Che gesprochen haben.“
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Scherbaum optimiert seinen Plan im Verlauf der Erzählung, spielt alle Eventualitäten durch und verfällt in eine geradezu phantastische Hybris bei einem Gespräch mit seinem Lehrer über die Folgen seines Fanals: „Jetzt arbeite ich mit dem Mittwochnachmittag. Und auf einmal läuft es. Schon am Donnerstag tritt das Abgeordnetenhaus zusammen. Da ich ab Freitag wieder vernehmungsfähig bin, setze ich im Krankenhaus eine Pressekonferenz an und gebe eine Erklärung ab. Es kommt zu ersten Solidaritätskundgebungen. Nicht nur hier, auch in Westdeutschland. In mehreren Großstädten werden Hunde verbrannt. Später zieht das Ausland nach. Vero nennt das die ritualisierte Form der Provokation. Naja, irgendwie muß die Sache ja heißen. 183
Ich zeige Ihnen die Formel, aber erst danach, wenn die Sache gelaufen ist.“
Auch der Lehrer Starusch war mit den Phantasien über die Ereignisse schon so fortgeschritten, dass er eines Nachmittags an den verzweifelten Punkt kommt, in Mutmaßung über die Folgen ein Gutachten für eine Gerichtsverhandlung um den brennenden Hund anzufertigen: „Ich baute um Scherbaums Tat ein Gehege literarischer Vergleiche auf, die sich aufeinander und insgesamt auf Scherbaums Tat bezogen. Ich zitierte surrealistische und futuristische Manifeste, bemühte Aragon und Marinetti als Zeugen. […] Das Happening nannte ich eine Kunstform. Dem Feuer (Brandopfer) sprach ich, bei aller Skepsis, Symbolgehalt 181 Ebd, S. 273. 182 Ebd, S. 254/255. 183 Ebd, S. 277.
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zu. Das Prädikat ‚Schwarzer Humor‘ strich ich wieder, setzte dafür ‚verfrühter Studentenulk‘, strich auch das […].“
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Schließlich kann Philipp Scherbaum von einer Lehrerin dazu gebracht werden, bei der Schülerzeitung mitzuarbeiten. So wird er schrittweise von seinem Vorhaben abgebracht. Scherbaum setzt letzten Endes seine Energie vor allem für die Einrichtung einer Raucherecke am Gymnasium ein und wird zunehmend weniger weltpolitisch engagiert und interessiert. Sein Protest gegen den Schahbesuch beispielsweise bleibt auf einen kleinen Hinweis in der Schülerzeitung beschränkt: „Der Schah von Persien kommt nach Berlin. Wir haben ihn nicht eingeladen.“185 Der Weg des Protagonisten geht vom vermeintlichen Instrumentalisieren der Presse zur eigengestalteten Pressearbeit im lokalen Rahmen. Am Ende des Romans ist Philipp Scherbaum endgültig vom linken Polithappening abgekommen und schlägt den bürgerlichen (unspektakulären) Weg des Medizinstudiums ein. Aus dem subversiv-aktionistischen Oberschüler Philipp Scherbaum wird kein gewaltbereiter Revolutionär. An Hand seiner Charaktere und des Plots vollzog Grass die zeitgenössischen Konflikte auf der politischen Linken nach, der zwischen Vertretern der Nachkriegsgeneration und der „Flakhelfergeneration“ um die Vierzig ausgetragen wurde, das heißt zwischen einem Teil der Oberschüler und Studenten und dem SPD-nahen Teil der Generation, zu der der Autor Grass selbst zu rechnen war. Grass hatte nach dem Zustandekommen der Großen Koalition 1966 in einem offenen Brief an Willy Brandt gewarnt: „Die Jugend unseres Landes jedoch wird sich vom Staat und seiner Verfassung abkehren: sie wird sich nach links und rechts verrennen, sobald diese miese Ehe beschlossen sein wird.“186 In diesem Denken war auch das Sujet des Romans verfasst. Die Stoßrichtung der Kritik war die Abgeklärtheit der protestierenden Jugend in der selbstverständlichen Planung massenmedialer Berichterstattung. Aktionen wie die (rein fiktiv gebliebene) Verbrennung des Hundes in ihrer Wirkungsabsicht wurden als spontanes Zeichen des Aufbegehrens inszeniert, waren aber im Gegensatz zu dieser öffentlichen Rezeptionsintention genau durchkalkuliert und an klaren „formalen Vorgaben“ orientiert – nicht umsonst sprach Scherbaum von einer „Formel“. Damit war nach Grass ein apolitisches Ritual nach vorgefertigten Mechanismen des Schockierens und der öffentlichen Wahrnehmung in einer vermeintlich zunehmend auf Bilder und Skandale fixierten Medienlandschaft in184 Ebd, S. 259. 185 Ebd,S. 431. 186 Grass, Günter: „Offener Briefwechsel mit Willy Brandt vom 26.11.1966“, in: Die Zeit Nr. 49 vom 2.12. 1966.
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szeniert. Zu dieser Kulturkritik kam der Vorwurf einer maßlosen und theatral ins Existenzialistische übersteigerten Selbstüberschätzung der jugendlichen Protagonisten bei inhaltlicher Substanzlosigkeit des Happenings, im Roman sogar stellvertretend für die Gesamtheit zeitgenössischer künstlerischer Verfahren – ähnlich wie im Flugblattgutachten, in dem Grass abschätzig die „seit einigen Jahren weltweit geübte Form des Happenings“ als „spätfuturistische Kümmerform“187 bezeichnete. So war die fundamentale und sehr skeptische öffentlich vorgetragene Kritik durch den bekennenden Sozialdemokraten Günter Grass in seinem Roman „Örtlich betäubt“ noch einmal wiederholt und bestätigt. Die beiden Formate „gerichtliches Gutachten“ und „Roman“ blieben deutlich getrennt voneinander. Trotz gleicher Kritikpunkte folgten beide ihren spezifischen Verbreitungswegen und Adressaten, ihren jeweiligen Genregesetzmäßigkeiten. Mit der Erzählung offenbarte der Autor ein bestimmtes programmatisches Verständnis davon, was ein ‚politischer Roman‘ sein solle, wie Literatur und Ereignisse des Zeitgeschehen sich zueinander zu verhalten hatten und dementsprechend die belehrende Rolle eines Schriftstellers zu gestalten sei. Der Bürgerschreck der Kommunarden war im literarischen Feld aufgegangen, Grass hatte die „Moabiter Seifenoper“ nach dem Gerichtsurteil ästhetisch ‚hegen‘ wollen. Die Kommune I nutzte hingegen das Grass’sche Gutachten selbst für ihre Erzählung der Ereignisse, für eine zusammenkopierte Broschüre und damit für eine Literatur in gänzlich anderem Format. Lakonisch wurde dieses Heft der Kommunarden ebenfalls mit einem Hundemotiv eingeleitet: „Die Humphreyaktion haben wir reinergänzt, ein toter Hund.“188 2.3.3 Material und Handbuch: Fiktion als Aktion In der Zeitschrift Konkret wurde im Oktober 1968 in einer Werbeanzeige von einem „Franktireur-Angriff auf die geheiligten Piedestale ‚unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung‘“189 gesprochen. Damit war weder angekündigt worden, dass jene französische Freischärler einen Kleinen Krieg gegen deutsche Truppen eröffneten wie 1870/71, noch waren Anschläge französischer Partisanen wie in den beiden Weltkriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint, wofür der Begriff „Franktireur“ ebenso stand. Beworben wurde in der Annonce ein Buch namens Klau mich, als dessen Autoren auf dem Titelblatt Rainer Langhans und Fritz Teufel genannt wurden. Als „Franktireur-Angriff“ wurde das Gerichtsverfahren dieser beiden Autoren betitelt und sprachlich in die 187 Kommune I: Zerschmettert, S. 44. 188 Kommune I: Zerschmettert, Notiz zur Gliederung, o.A. 189 Konkret 13/68, S.35. Zitiert nach A. Holmig: Wahrheitsfindung, S. 6.
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Nähe der Attacke von Partisanen und Guerilleros gerückt. Auf der letzten Buchseite stand als Copyright die „Edition Voltaire“ beziehungsweise „Hrsg. Bernward Vesper, die Sau“190. Klau mich erschien in der Reihe „Voltaire Handbuch“, und über diese Funktionalordnung hinaus wollte es sich als „StPO der Kommune I“ verstanden wissen. In der Inhaltsangabe einer Werbung im eigenen Verlag wird es angepriesen: „In diesem Buch zeigen die Kommunarden ihren Weg durch die Berliner Gerichte anhand von Dokumenten, Anklageschriften, Prozeßprotokollen, Zeitungsausschnitten u.a. auf und geben Anleitungen zum erfolgreichen Verhalten vor diesen staatlichen Organen. […] Die zentrale Motivation des Franktireur-Angriffs auf die geheiligte Piedestale ‚unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ wird durch die Lektüre des Bandes ‚Klau mich‘ evident: Die bisher allgemein akzeptierte, Richter wie Angeklagte gleichermaßen verbindende, Basis wird negiert, der gesellschaftliche Rahmen gesprengt. Die Satire will hier nicht Justizkritik üben, sie ersetzt in ihrer Totalität die antiquierten Rechtsnormen be191
reits!“
Mit einer solchen Anpreisung des Buches wird die Irritation des FlugblattVerfahrens nachträglich nicht nur zu einer Partisanenattacke erklärt, gleichzeitig wird sie metaphorisch zu einer Art Bombe, die einen konsensuellen gesellschaftlichen Rahmen ‚sprengt‘ – mit der Veröffentlichung nachvollziehbar gemacht für alle Leser. Der Weg durch das Verfahren sollte jedoch nicht nur gezeigt, er sollte auch angeleitet werden. Schon mit den Angaben „Handbuch“ und „Prozessordnung“ wird deutlich, dass es sich um Regeln und Anleitungen für ein Verfahren handelt, welche die Kommunarden sich selbst und allen Interessierten zur Verfügung stellten. Gestalterisch ist es jedoch weder wie eine Strafprozessordnung aufgebaut noch nach Gültigkeiten, Zuständigkeiten, Verfahrensweisen etc. in einzelne Paragraphen aufgeteilt. Es beschreibt nicht einzelne Themenbereiche thematisch und systematisch gegliedert, es erklärt in keiner Weise Aufbau und Gebrauchsweisen wie eine Bedienungsanleitung. Vielmehr handelte es sich um 190 R. Langhans/F. Teufel: Klau mich, o.S. Das Zusammensein der Kommunarden mit Bern-ward Vesper und noch viel mehr die Zusammenarbeit waren wohl von Beginn an von Spannungen gekennzeichnet. 191 Baader, Andreas/Ensslin, Gudrun/Proll, Thorwald/Söhnlein, Horst: Vor einer solchen Justiz verteidigen wir uns nicht – Schlußwort im Kaufhausbrandprozeß. Mit einem Nachwort von Bernward Vesper und einer Erklärung des SDS Berlin (=Voltaire Flugschrift 27), Frankfurt am Main und Berlin: Edition Voltaire 1968, S. 29.
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eine Collage aus vielerlei Materialien, aus denen eine Geschichte des FlugblattVerfahrens um die Kommunarden rückblickend zusammengestellt ist. Jeweils auf der linken Buchseite wurde erst die Anklageschrift vom 27. November 1967 abgedruckt und anschließend die Mitschrift des Gutachtens von Gerichtspsychiater Dr. Spengler über Teufel und Langhans. Dann folgen die Verschriftlichung der Dialoge der Verhandlung, als „1. Moabiter Seifenoper“ und „2. Moabiter Seifenoper“ überschrieben und graphisch präsentiert wie ein Dramentext. An die zwei „Opern“ schließt der Dialog zwischen Anwalt Mahler und dem Gerichtspsychiater über dessen Befunde an. Beendet wird diese Prozessdarstellung mit dem Schlusswort von Rainer Langhans und sehr knappen Auszügen aus dem eigentlich fünfundvierzigseitigen Urteil. Kontrastiert ist diese Darstellung auf der jeweils rechten Seite mit vielfältigen Bild- und Textmaterialien: von kommentierten Zeitungsausschnitten über private Korrespondenz und eigenen photographischen Schnappschüssen bis Kunzelmanns Haftausweis, von selbstentworfenen Kreuzworträtseln über Seiten für „Notizen“ bis zu freien Seiten zum „Kleben eigener Fotos“. Dadurch ist eine polyphone, multiperspektivische Narration erzeugt, die jedoch stets darauf ausgerichtet scheint, die Stellungnahmen staatlicher Vertreter und die Berichte der Boulevardpresse in Form und Inhalt lächerlich zu machen. Der entlarvende Unernst während der Gerichts-Performance sollte so in die Gestaltung des anschließenden Buches übertragen werden. Vor allem aber wurden durch die „Buchwerdung“ die zunächst ephemere, lokale Rede von Protestkundgebung, die flüchtigen WG-Gespräche und die Gerichtsdialoge in Schrifttext umgewandelt. Außerdem sind mit dem Buch die Texte von Flugblättern und Kommunenotizen öffentlich einsehbar archiviert. All diese Einzelstücke waren durch das Buch aus ihrem Ursprungszusammenhang gelöst und in einem neu versammelten Kontext publiziert. Zugleich wurde durch die Auswahl und Anordnung alles, was in Papierform angesammelt war, so angeordnet, dass es ohne hierarchische Trennung in Dokumentationswürdigkeiten oder in Grade von Faktualität und Fiktionalität lesbar gemacht wurde. Jegliches Material, was an Gesprochenem und Geschriebenem vorhanden war, sollte für die so erzählte Geschichte auch als wahr geltend gemacht werden. Mit dieser Logik der Mischung stand das Werk damit im größtmöglichen Kontrast zu den textuellen Verfahren und Sprechakten, die im Rahmen eines Strafprozesses und einer Gerichtsverhandlung zugelassen, durchgeführt und für wahr erachtet und niedergeschrieben wurden. Zugleich versuchte eine Buchveröffentlichung wie Klau mich, die Macht des Gerichts infrage zu stellen, über die Zuteilung eines Textes oder einer textuell begleiteten Aktion in abtrennbare Felder wie Kunst, Politik oder Rechtsprechung zu entscheiden. Indem sowohl Anklageschrift, Gut-
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achten und Gerichtsrede aus dem Kontext von Gerichtsunterlagen oder Gerichtsreportage entnommen und mit den genannten anderen Text- und Bildsorten collagiert wurden, zeigte sich, dass auch die Texte von staatlichen Institutionen geprägt waren durch gewisse Gattungsgesetze, durch bestimmte Rhetoriken und durch typographische Vorgaben. Somit machte die Buchveröffentlichung deutlich, dass diese Texte ebenfalls als choreographierte und standardisierte Sprechakte und als politische Performanzen zu lesen sein müssen. Doch warf die Versammlung in einer Publikation wie Klau mich ein neues Problem auf. Das, was von der Aktion blieb, wurde durch deren Protagonisten selbst in eine literarische Erzählkunst transformiert. Damit war nicht nur per Folgerung aus dem Gerichtsbeschluss die Überführung in das Feld der Literatur abgeschlossen, sondern durch die Kommunarden selbst war nun ein Kunstformformat – trotz aller Bemühungen durch abweichende Gattungsangaben wie „Anleitung“ oder „Handbuch“ – das Ergebnis, was alleinig blieb. Aber eben jene Zuschreibung von Form und Reduzierung auf Kunst aufzulösen war der Antrieb der Kommunarden gewesen. Außerdem war auch formal mit der Buchveröffentlichung eine Eigenwerkschau abgeschlossen, die einerseits durch vorherige Veröffentlichungsformate der Kommune I selbst schon in Gange gewesen ist, die aber zugleich auch für andere Protestformen und deren Materialien um 1968 zu beobachten war. Die Sammlung als Konzentration und Aufbewahrung in Form eines Buches von archivierten Entwürfen, die ursprünglich nicht zu diesem Publikationszweck gestaltet und für diese Form hergestellt worden sind, wird ausgestellt. Zum Beispiel wurden die textuellen Formate der Situationistischen Splittergruppen editiert und in einem anerkannten Verlag publiziert. Albrecht Goeschel veröffentlichte 1968 mit Richtlinien und Anschläge. Materialien zur Kritik der repressiven Gesellschaft im Hanser-Verlag die Erklärungen, Manifeste, Briefe, Zirkulare und Flugschriften der „Gruppe Spur“, der „Subversiven Aktion“, der „Viva-Maria-Gruppe“ und der sogenannten „Vor-Kommune“, jedoch sämtlich in Satz und Layout nicht mehr als lose Handschriften, als schnelle Maschinentexte oder Flugblätter. Goeschel hatte sie als Fließtext editiert, sie ohne Bilder und Graphiken und mit erklärenden Fußnoten versehen. So gesehen blieben die Kommunarden ihrer Linie treu, die sie mit den selbstgefertigten Veröffentlichungen Zerschmettert den Moabiter Pleitegeier/Gesammelte Werke gegen uns vom September 1967 und Quellen zur Kommuneforschung von Mai 1968 zu ziehen begonnen hatten. Erstgenanntes versammelte „Post von der lieben Verwandtschaft, von Justiz- und anderen Behörden und dergleichen Schnickschnack mehr“, letzteres „alle nummerierten Flugblätter, nichtnummerierten Flugblätter, interne Zirkulare, Rundbriefe, Anmerkungen, Fotos, Personenkult“. Sämtliches zusammengetragenes und erhaltenes „Material“ erschien auf diesem Weg auf
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einfachen Matrizenabzügen, zunächst in Schwarzweiß, dann in Farbe: Flugblatt, postalischer Gerichtsverkehr, private Postkartenkorrespondenz, Kommunenotizen, Aktenmaterial, Zeitungsausschnitte mit eigenen Kommentaren – alles wurde in satirischer Absicht collagiert. Zugleich wurden diese Sammlungen als Dokumente deklariert, vor allem aber diachron geordnet und so als narrative Elemente gleichrangig behandelt. Die „Quellen“ beispielsweise bekamen Kapitel der Ereignisreihenfolge wie „I Vorgeschichte; II Kommune bis Schahbesuch; K I hat einen Sitzen; IV Nach dem Freispruch bis Ostern 1968“. Damit war die jüngere Vergangenheit in distinktive Einheiten gegliedert und kausal gereiht. Eine dergestalte Anordnung überließ die Sichtbarmachung, Verbreitung und Aufbewahrung nicht verschiedenen Textgattungen der jeweiligen Bereiche und Institutionen, getrennt in Privatsphäre, Presse, Polizei, Gericht, Universität etc.. Sie war ein Versuch, auf der Ebene von Textmaterialität und Textverfassung, die ‚öffentliche Ordnung‘ zu stören und durch eine Gegenordnung zu ersetzen. Zugleich wollten diese Werke, die sich als „Materialien zu….“, „Broschüre“, „Gebrauchsanleitung“, „Handbuch“ oder „Richtlinie“ bezeichneten, mehr als historiographisch und literarisch sein, obwohl sie alles aufwiesen, was ein Narrativ ausmacht (zum Beispiel Handlung, Ereignis, Protagonist, Erzählinstanz, Entwicklung, Spannungsbogen). Sie begriffen sich als ein Hybrid, als lesbares Ergebnis von Aktion, als materielle Performanz und damit als Aktion selbst, als Anleitung zu zukünftigen Taten. Allerdings rückten diese Publikationen die vorherigen Aktionen und Sprechakte in ein anderes Licht bezüglich ihrer Entstehungszusammenhänge und Verwertungskausalitäten. Die Überführung ins Archiv und auch die neuartigen Kontextualisierungen durften nicht anderen Autoreninstanzen überlassen werden (nicht allein aus Sicht der Beurteilung, sondern auch aus finanziellen Aspekten, wie die Kommunarden stets selbst bekundeten). So wurde der Anspruch für eine Publikation in der eigenen Schriftreihe kommuniziert. Jedoch ist damit undeutlich gemacht, ob das Spontane und das Ephemere, kurzum das angeblich „Situationistische“, erst nachträglich fixiert wurde – oder ob die ad-hoc entstehende Kurzweiligkeit der Protestformate nur als solche inszeniert und annonciert wurde, da eine instantane Fixierung und nachträgliche Weiterverarbeitung im Vorfeld bereits als gesichert vorausgesetzt werden kann.
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2.3.4 Der Film brennt, das Kaufhaus brennt: Kein Flugblatt, aber ein Schlusswort An die Verhandlung denk’ ich noch immer wie an ein finstres Kino, wenn’s hochkommt. GUDRUN ENSSLIN IN EINEM BRIEF AN ANDREAS BAADER IM GEFÄNGNIS, 1968.
Auch andere Medienformate als die benannten Druckerzeugnisse arbeiteten an der Bombe. Sieben Wochen vor dem Freispruch für die Flugblattautoren, am 1. Februar 1968, hatte an der Technischen Universität in Berlin eine (unter anderem wiederum vom Rechtsanwalt Horst Mahler organisierte) Veranstaltung stattgefunden, die ein sogenanntes „Springer-Tribunal“ initiieren sollte. Zum Abschluss wurde den über Tausend anwesenden Studenten ein Kurzfilm eines anonymen Filmemachers gezeigt. Der Film war von einem Studenten der neugegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) gedreht worden, der im Vorbereitungskomitee der Anti-Springer Kampagne mitarbeitete: Holger Meins. Sein Film hieß HERSTELLUNG EINES MOLOTOW-COCKTAILS192. Dieser Nachwuchsfilmer war das spätere RAF- Gründungsmitglied, der Film ist danach verschollen – ein nachträgliches Wissen, das dem Film und seiner Vorführung vielfache Einschreibungen in Historiographien des Linksterrorismus gesichert hat. Der Dokumentarfilmer Gerd Conradt, der seinem 1974 nach einem Hungerstreik verstorbenen Freund Holger Meins über fünfundzwanzig Jahre später ein Buch und einen Film widmete193, erinnert sich an den Inhalt und die Reaktionen des Publikums:
192 Der Originaltitel wird vereinzelt auch mit „Wie baue ich einen Molotov-Coctail?“ angegeben. Holger Meins war nicht der einzige Berliner Filmstudent, der sich nach der Herstellung von politischen Filmen dem Terrorismus zuwandte. Sein Kommilitone Philip Werner Sauber war Mitglied der „Bewegung 2. Juni“, er kam am 9. Mai 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Köln ums Leben. 193 Conradt, Gerd (Hg.): Starbuck Holger Meins. Ein Porträt als Zeitbild, Berlin: Espresso 2001. STARBUCK HOLGER MEINS (D 2002, R: Gerd Conradt). Bereits 1982 erarbeitete Conradt mit Hartmut Jahn die Videodokumentation „Holger Meins, ein Versuch – unsere Sicht heute“. Ein Jahr nach dem Tod von Meins erstellte Renate Sami den Dokumentarfilm „Es stirbt allerdings ein jeder…“ (1975), in dem sich in Interviews auch viele ehemalige Kommilitonen über den Verstorbenen äußerten.
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„Der dreiminütige Stummfilm zeigt die Herstellung jener Waffe, die erstmals im Zweiten Weltkrieg von sowjetischen Truppen zur Panzerbekämpfung eingesetzt worden ist. Bei dem nach dem sowjetischen Außenminister W.M. Molotow benannten ‚Brandkampfmittel‘ handelt es sich um eine mit einem Öl-Benzin-Gemisch gefüllte Flasche, aus deren Hals ein Docht herausragt. Vor dem Einsatz wird der Docht angezündet. Die am Docht brennende Flasche zerspringt beim Aufprall – der Inhalt entzündet sich. Am Ende des Films erscheint das Springer-Hochhaus in der Kochstraße. Die meisten Zuschauer jubeln über den Streifen, bei den Wortführern der Kampagne löst 194
er blankes Entsetzten aus.“
Dieser Film muss den Beschreibungen nach eine regelrechte Bauanleitung gewesen sein. Es gab anscheinend keine Anzeichen mehr von Ironie. Auch eine Ambiguität und Wechselwirkung von faktischer Gewaltaktion und fiktionalisierter Nachbereitung war nicht mehr so gegeben wie bei den Flugblättern der Kommune I. Zudem folgte der Film nicht mehr den westeuropäischen Neo-Avantgarden, sondern unverhohlen der Tradition von leninistischem Agitprop. Ein 1968 an der Filmakademie verteiltes Flugblatt mit der zentralen Aussage „Wir können Filmemachen nur verstehen als Teilnahme am Kampf um die revolutionäre Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung hin auf eine sozialistische“ war auch von Holger Meins unterzeichnet worden195. Viele Filmstudenten der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin sahen in ihrem Medium eine Form von politischer Agitation, die sich nicht allein in Inhalt und Form ihrer Werke niederschlug. Neben der Planung struktureller Maßnahmen wie der Gründung eines eigenen Verleihs und eines Piratensenders sowie der des „Roten Arbeiter- und Studentenkinos“ wurden sogenannte „Zielgruppenfilme“ mit Schülern, Kinderladenkindern und Rockern gedreht. Rückblickende Urteile über diese Vorhaben klingen wie folgende: „Herbert Marcuse schrieb in seinem Buch ‚Versuch über die Befreiung‘, das 1969 in Deutschland erschien und als eine Art nachträgliche Theoriebildung der Studentenbewegung gelten kann, dass ‚das Ästhetische zur Produktivkraft‘ werden und so zum ‚Ende der Kunst durch ihre Verwirklichung‘ führen sollte. Zu diesem ‚Ende der Kunst‘, zu der Realisierung einer der Kunst innewohnenden Utopie, wollten auch die politisch aktiven DFFB-Studenten vordringen. Die Filme, die um 1968 an der DFFB entstanden, träumten den geheimen Traum der deutschen Studentenbewegung. Aus dem sublimierenden, kulturellen Schaffen des Intellektuellen und des Künstlers sollte endlich die direkte, emanzipa194 G. Conradt: Starbuck, S. 72. 195 Flugblatt zitiert nach Peters, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Frankfurt am Main: Fischer TBV 2007, S. 233.
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torische Aktion werden: ein Steinwurf statt eines politischen Films, ein Brandsatz statt einer Rede.“196
Dokumentiert und damit verfügbar sind nur noch die Reaktionen der Filmzuschauer des Molotow-Films. Um ihn entspann sich eine Diskussion, die mit der um die Flugblätter vergleichbar war, wenn sie auch in kleinerem Kreis geführt worden ist. Christian Deutschmann schrieb in seiner Analyse des Films in Sprache im technischen Zeitalter 27/1968: „Der Film über Herstellung und Anwendung eines Molotow-Cocktails ist ein Aufruf zu politischem Handeln. Indem er ein Bezugsverhältnis zum Adressaten konstruiert, steckt er den Umfang des Handelns ab. Damit ruft er nicht nur auf, sondern unterweist. […] Agitation leistet der Film insoweit, als er ein dialektisches Beziehungssystem formuliert und die besonderen wie allgemeinen Konsequenzen dem Betrachter als Erkenntnis überträgt. Er analysiert nicht, sondern sendet Impulse aus, die die Analyse bereits in sich eingeschlossen haben. Auch ist er keine Satire (wie 19 Liberale nach der öffentlichen Vorführung fälschlicherweise annahmen), da er konsequent seine Bewusstseinslage vertritt, sich also nicht fremder Zutaten bedient. Er wendet sich an eine Gesellschaftsschicht, die einen Grad von Aufklärung erreicht hat, der es ihr erlaubt, die Hinweise, die der Film gibt, zu konkretisieren.“197
Dieser Film wurde, anders als noch die letztlich satirischen Flugblätter, als unverschlüsselter Aufruf und als eine Unterweisung gesehen. Der Schriftsteller Peter Schneider, Mitinitiator der „Anti-Springerkampagne“ an der TU, bestätigte rückblickend den Unterschied zwischen den Flugblättern der Kommune I und der Vorführung des Films: „[Gerd Conradt:] Holger hat den Film alleine konzipiert – auch die Vorführung war eine Einzelaktion. Vielleicht sah Holger darin auch ein Kunstwerk – im weitesten Sinne, z.B. wie das Flugblatt der Kommune I zum Kaufhausbrand in Brüssel. [Peter Schneider:] Wer so einen Film über Molotowcocktails macht, will, dass sie angewendet werden. Es war ein Agitpropfilm – eine Handlungsanweisung, die auch so verstanden wurde. Holger hatte die Verantwortung für sein Handeln und wollte es auch so. Er ist später noch viel weiter gegangen.“
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196 Baumgärtel, Tilman: „Ein Stück Kino, das mit Film nichts zu tun hatte“, in P. Kraus u.a.: Deutschland im Herbst, S. 36-47, hier S. 40. 197 G. Conradt: Starbuck, S. 74, S. 77. 198 Ebd., S. 75.
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Wohl kaum lässt sich im Rückblick das historische Mehrwissen von der Motivation und Handlungsweise Holger Meins‘ trennen. Meins war sich, gerade nach der Erfahrung der Kommune I, in der er im Jahr 1969 zeitweise wohnte, den strafrechtlichen Problemen offenbar durchaus bewusst. So machte auch er sich schon zur Vorbereitung auf eine mögliche Anklage auf die vergebliche Suche nach einem entsprechenden Gutachter: „Weil auch die Studenten der DFFB wegen des MOLOTOW-COCKTAIL-Films einen Prozeß erwarteten, fuhr Holger Meins und sein Kommilitone Günther Peter Straschek Anfang 1968 nach München, wo ebenfalls gerade eine Filmhochschule eröffnet worden war. Doch keiner der dortigen Dozenten wollte ihnen helfen. Straschek schrieb später, Alexander Kluge habe sie wenigstens zum Essen eingeladen: er ‚besah sich den Kurzfilm, ging mit uns ums Karree spazieren, Ecke Leopold-Ainmillerstrasse verabschiedete er sich mit der Bemerkung, er könne uns leider kein Gutachten schreiben, denn der MOLOTOWCOCKTAIL sei, im Gegensatz zu uns zweien, nicht dialektisch genug…“
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Peter Straschek arbeitete noch im selben Jahr mit Holger Meins zusammen an einem Schülerfilm-Projekt. Er erinnerte sich mit dem Abstand von Jahrzehnten, unabhängig von dem Weg in den Terrorismus seines Kommilitonen, an seine Studienzeit in Berlin mit einem filmischen Vergleich, der unfreiwillig Günter Grass’ Einschätzung von spätpubertärem Schabernack der Flugblätter in gewisser Weise recht nahe kommt: „Die Semester an der DFFB erinnern mich an ‚Die Lümmel von der ersten Bank‘ mit mir als ‚Pepe der Paukerschreck‘. Jedenfalls war der ganze Zinnober weniger ‚Bewußtwerdung‘ denn später Höhepunkt einer zu Ende gehenden Jugendunbeschwertheit, letztes Sichaustobenkönnen. Ein Stück Kino, das mit Film nichts zu tun hatte.“200
Die filmischen Anleitungen in öffentlicher Vorführung verführte jedoch keine direkten Nachahmer zu einem Anschlag auf ein Springergebäude und sie zog ebenso wenig, trotz ihrer Deutlichkeit, unmittelbare universitäre und juristische Verhandlung in irgendeiner Form nach sich. Ein anderer Lebensweg des Regisseurs hätte den Streifen nicht nur materiell, sondern auch in der Erinnerung verschollen gehen lassen. Ähnlich wie aus der ersten ‚echten‘ Bombe nicht mehr als eine anekdotische Randnotiz geworden ist, fand auch der Molotowcocktail eine eher periphere Erwähnung. Eine Bombe stellte die Schnittmenge zwischen der 199 Baumgärtel, Tilman: „Die Rolle der DFFB-Studenten bei der Revolte von 1967/68“, in Junge Welt vom 27./30.09 1996, S. 42/43. 200 Ebd., S. 46.
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Verhandlung um die Flugblättern und dem Molotow-Film dar. Einen Monat nach der Filmvorführung, aber noch Wochen vor dem Freispruch im FlugblattVerfahren, wurde das Berliner Gerichtsgebäude selbst zum Ort eines FanalVersuchs: „Am Vormittag des 6. März 1968 zündete, versteckt in einer Aktentasche unter einer Bank im Korridor im obersten Stockwerk des Kriminalgerichts, ein ‚Molotow-Cocktail mit Zeitzünder‘: Zwei Plastikflaschen, Taschenlampenbatterien und eine Zünduhr mit Glühzünder. In einer Flasche war Benzin, in der anderen ein Gemisch. Die Stichflamme wurde sofort mit einem Handfeuerlöscher erstickt, und der einzige Schaden, der entstand, waren ein paar Brandflecken auf dem Boden. Aber es war die allererste ‚Bombe‘, die in der Studentenbewegung überhaupt auftauchte und ihr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch zugeordnet werden konnte.“201
Nicht vergessen und ins Anekdotische verlagert worden ist jedoch, dass in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 zwei echte Brandsätze tatsächlich explodierten: im Kaufhof und im Kaufhaus Schneider in Frankfurt, einer der damaligen „APO-Hochburgen“ in Westdeutschland. Kurz vor Mitternacht gab eine Frauenstimme per Telefon bei der Deutschen Presseagentur in Frankfurt eine Meldung durch: „Gleich brennt’s bei Schneider und im Kaufhof. Es ist ein politischer Racheakt.“202 Es gab ansonsten keinerlei vorzeitige oder begleitende Ansagen, keine Bekenntnisse, keine sinnstiftende Texte, beispielsweise mit Verweisen auf den Vietnamkrieg. Allein dieser semantisch sehr weit angelegte mündliche Verweis auf „politische Rache“ sollte den Akt (er)klären203. Die Feuerwehr konnte die Brände löschen. Den Sachschaden von mehreren hunderttausend Mark trug die Versicherung, einen Schaden, der vor allem durch Löscharbeiten und die Sprinkleranlage entstanden war. Bereits am 3. April wurden nach anonymen Hinweisen Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin als Tatverdächtige verhaftet. 201 U. Enzensberger: Die Jahre, S. 261. 202 S. Aust: BMK, S. 60. Für den Brandsatz beim Kaufhof konnte die Täterschaft niemals aufgeklärt werden. 203 Im Rückblick gibt Thorwald Proll eine ganz pragmatische Erklärung für diesen Umstand: „Wir hatten auch kein Geld für Flugblätter. Also, wir hätten vielleicht für eine Aktion ein Flugblatt machen sollen, um der Sache einen besseren Dienst zu erweisen, und um alles nicht so anonym erscheinen zu lassen.“ (Proll, Thorwald/Dubbe, Daniel: Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus. Hamburg: Edition Nautilus 2003. S. 17.)
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Nicht nur das von den Kommunarden vorgestellte Wechselspiel von loser Flugschrift, Gerichtsrede und Buch sollte bei diesem Brandanschlag in wichtigen Punkten verändert werden – es nahm auch einen anderen Ausgang und zog andere Konsequenzen nach. Die Kommune I löste sich 1969 auf, die RAF hingegen gründete sich. Das machte aus dem Brandanschlag mehr als nur eine Fußnote der Geschichte von ’68, denn etwas anderes wäre der Akt nach den Schüssen auf Rudi Dutschke und dem bewegten Pariser Mai sonst nicht geworden. Ein Fanal, das in Vergessenheit geraten wäre. Aber diese Kaufhausbrandstiftung wurde im Nachhinein als eine entscheidende, wenn nicht sogar die Urszene des Terrorismus in Deutschland erzählt. Einen Text gab es jedoch durchaus, der bei den nachfolgenden Ermittlungen als vorbereitend gelesen wurde und dadurch vom künstlerischen, privaten Werk zum aktenkundigen Beweismittel wegen Brandstiftung übersetzt wurde. Bei Thorwald Proll204 entdeckten die Polizisten bei seiner Verhaftung ein Notizbuch mit handgeschriebenen Versen. Vor Gericht wurde aus dieser Sammlung ein Gedicht als „Beleg für die ‚Vorstellungswelt des Angeklagten‘“205 zitiert – welches wiederum das Flugblatt Nr. 8 der Kommunarden zitierte: „Wann brennt das Brandenburger Tor? Wann brennen die Berliner Kaufhäuser Wann brennen die Hamburger Speicher Wann fällt der Bamberger Reiter Wann pfeifen die Ulmer Spatzen auf dem letzten Loch Wann röten sich die Münchner Oktoberwiesen Wann erstickt der Nürnberger Trichter. Wann zerbricht der Kölner Dom Wann verstummen 204 Rückblickend gab Proll zwar keine genauen Beweggründe für seine Teilnahme an, billigte aber doch wenigstens dem Flugblatt der „Kommune I“ eine gewisse Vorbildfunktion zu: „Das Flugblatt war eigentlich schon eine Tat. Und die weitergehende Tat war von dem Flugblatt der K I beeinflusst.“ (T. Proll/D. Dubbe: Wir kamen, S. 7) 205 S. Aust: BMK, S. 59.
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die Bremer Stadtmusikanten Wann verseuchen die Banken Zerschlagen die Apperate die Kulturapperate zerschlagt die Syndikate das Kapital Zerschlagt den Kapitalismus Zerschlagt das kapitalistische System. Es lebe die sozialistische Weltrevolution.“
206
Der Brand im Warenhaus war als Tat und Produkt nicht nur materialiter anders als die Herstellung und Verteilung von Flugblättern, ihm wurde als Zeichen keine Kunst (mehr) zugesprochen und damit erhielt er eine andere Qualität – wenn auch 1968 noch nicht von Terrorismus gesprochen wurde. Proll selbst erinnert sich: „Vom Terrorismus hat überhaupt niemand gesprochen. Wenn, dann hat man vom Terror geredet: ‚Wir machen Terror!‘ im Sinne von Aktionen, Aufstand, Widerstand oder bei den Demonstrationen auffallen oder sich mit der Polizei Spiele liefern. Hit and run. Weglau207
fen. Wiederkommen. Aber ‚Terrorismus‘: Das gab es damals noch gar nicht.“
In der Frankfurter Wohnung, in der die vier Brandstifter unterkamen, wurde im Zuge der Ermittlungen 1968 im Mülleimer ein Zettel mit Sätzen sicher gestellt, die mit einer solchen Semantik von Terror arbeiteten: „Wir zünden Kaufhäuser an, bis ihr aufhört zu kaufen. Ihr habt nichts zu verlieren als den Gewinn der Ware. Der Konsumzwang terrorisiert euch, wir terrorisieren die Ware.“208 Sollte dies Beweisstück tatsächlich der Ausdruck einer noch zu vollziehenden Tat gewesen sein, so wäre diese als Akt der Konsumkritik dezidiert gegen Objekte, gegen die Waren, auszudeuten – und nicht gegen Personen. Ansonsten schwiegen die Angeklagten zu den Vorwürfen bis zum Prozess und auch noch während der ersten Verhandlungstage. Die Beobachter, so sie die Tat nicht gleich als ausschließlich destruktiv und a-politisch abtaten, blieben relativ ratlos bei der Entschlüsselung des Zeichens, vor allem bei der basalen Frage, was überhaupt (und wie) in dem Ablauf des Ge206 T. Proll/D. Dubbe: Wir kamen, S. 117/118. [Schreibweise von „Apperate“ übernommen, Anm. d. Verf.] 207 Ebd., S. 10. 208 Nach: S. Hakemi/T. Hecken: Warenhausbrandstifter, S. 324.
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schehens als Tat und als Zeichen, gar als Signal oder Symbol erkannt werden sollte und konnte. Das Modell der Anleitung schied aus. Wiederum war es Ulrike Meinhof, die in ihrem Kommentar in der Konkret auf den Umstand des kriminellen Aktes selbst verwies, zugleich aber auch mit ihrer Aussage erst die Ausdeutung nachlieferte: „Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch. […] Hat also eine Warenhausbrandstiftung dies progressive Moment, das verbrechenschützende Gesetze dabei gebrochen werden, so bleibt zu fragen, ob es vermittelt werden kann, in Aufklärung umgesetzt werden kann. Was können – so bleibt zu fragen – die Leute mit einem Warenhausbrand anfangen? […] So bleibt, daß das, worum in Frankfurt prozessiert wird, eine Sache ist, für die Nachahmung – abgesehen noch von der ungeheuren Gefährdung für die Täter, wegen der Drohung schwerer Strafen – nicht empfohlen werden kann. Es bleibt aber auch, was Fritz Teufel auf der Delegiertenkonferenz des SDS gesagt hat: ‚Es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben.‘ Fritz Teufel kann manchmal wirklich sehr gut formulieren.“
209
Für den Prozess im Oktober 1968 hingegen war der Interpretationsspielraum (wieder) recht deutlich, da auf der Anklagebank das Verhalten der Kommunarden kopiert wurde. Der Auftritt von Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein hatte den Berichten nach ebenfalls etwas von einer theatralen Happening-Inszenierung. Von Beginn an agierten, kleideten und gebaren sich die Vier vor dem Richter als Teil der antiautoritären Kulturszene in einem Stil, den Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann vorgemacht hatten. „Am 14. Oktober 1968 begann der Prozeß gegen die Kaufhausbrandstifter. Gudrun Ensslin trug eine weinrote Kunstlederjacke im Military-Look. Lachend umarmten die vier einander und warfen mit Bonbonpapier. Zur Anklage wollten sie sich nicht äußern: ‚Gegen eine Klassenjustiz, in der die Rollen verteilt sind‘, erklärten sie, ‚lohnt sich eine Verteidigung nicht.‘“
210
Wenn sie sich mit Minimalangaben doch äußerten – Proll beispielsweise gab als Geburtsdatum 1789 an oder bei Namensnennungen von Seiten des Gerichts gab einer sich für den anderen aus – hatte dies ebenfalls eine clowneske Komik, „so
209 Meinhof, Ulrike: „Warenhausbrandstiftung“, in: Konkret 14/1968, S. 5. 210 Aust: BMK, S. 69.
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ein Marx-Brothers-Effekt“211, wie Proll selbst es ausdrückte. Als solcher war der Effekt bekanntes Ziel und erprobte Methode zugleich: „Das war ja immer unser Wunsch: das Ganze spielerisch aufzulösen und die autoritären Strukturen zum Einfallen zu bringen.“212 Während des Prozesses merkten die Täter offenbar selbst schnell, dass die ‚reine Tat‘ von den Beobachtern nicht ‚gelesen‘ werden konnte, schon gar nicht als politisch, und dass erst ein zugänglicher Kontext dies ermöglichte. Also nahmen sie die Möglichkeit einer Rede vor Gericht wahr, die zugleich öffentlich war und auch durch Mitschrift erhalten bleiben sollte. Am dritten Tag gestanden Baader und Ensslin die Brandsätze im Kaufhaus Schneider. „Erst jetzt kommt es auch zu einer politischen Einordnung und Begründung des Brandanschlags durch die Angeklagten. Tatsächlich spielt dabei die Kulturkritik eine große Rolle. Der Anschlag hat nach der Aussage Ensslins und Baaders unter anderem dem Ziel gedient, die Ruhe einer satten ‚Konsumgesellschaft‘ zu stören.“
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Durch diese Aussage verfestigte sich die Brandstiftung zu einem Zeichen. Als ein solches wurde der Brand selbst bei der abschließenden Urteilsbegründung aufgenommen, wenn auch nicht berücksichtigt. Immerhin hieß es zu den Beweggründen dort, die Angeklagten „wollten nunmehr ein ‚Fanal‘ setzen, das die Massen aktivieren sollte“214. Zudem wurde drei Tage nach Prozessende in der ARD-Sendung Panorama ein Interview mit Gudrun Ensslin ausgestrahlt, in dem sie erneut über ihre Beweggründe sprach, durch eine Kaufhausbrandstiftung einer Konsumgesellschaft „ein Zeichen zu setzen“. Im Prozess erklärte Ensslin, sie hätten es „aus Protest gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg in Vietnam gemacht. Die USA machen in Vietnam eine Probe aufs Exempel, damit der Reichtum Amerikas erhalten bleibt. Wir lebten in der Furcht, daß verbale Proteste gegen den Krieg unserer Gesellschaft nur als Alibi dienen.“215 Das Brandzeichen wurde nicht einfach gesetzt, es musste überhaupt erst zum Zeichen erklärt und semiologisch entschlüsselt werden, um nicht allein als krimineller Akt der Warendestruktion verständlich zu sein. Das Gericht ließ sich jedoch auf die Verweisebene eines derartigen Diskurses nicht ein und verblieb im Register der unpolitischen kriminellen Tat. Die richterliche Argumentation ist 211 T. Proll/D. Dubbe: Wir kamen, S.33. 212 Ebd., S. 34. 213 S. Hakemi: Anschlag und Spektakel, S. 111. 214 Urteil des Landgericht Frankfurt, nach S. Hakemi/T. Hecken: Die Warenhausbrandstifter, S. 326. 215 Zitiert nach S. Hakemi/T. Hecken: Die Warenhausbrandstifter, S. 327.
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merkwürdig: Ein zu politisierendes Fanal werde durch das Gericht nicht anerkannt, weil die Brandstiftung nicht einem eigentümlichen Effektivitäts-Kriterium genüge, das vom Richter angelegt wurde. Im Urteil hieß es nämlich, „dass die Warenhausbrandstiftung schon ‚mangels wirksamer Effektivität‘ ein Unrecht darstelle; denn die ‚Vorstellung, vom Boden der Bundesrepublik aus mittels inländischen Terrors gegen inländische Rechtsgüter auf die Beendigung des Krieges in Vietnam einwirken zu können‘, sei ‚unrealistisch‘.“216 Wäre die logische Konsequenz aus diesen Argumenten gewesen, Brandbomben bei Macy’s und bei Bloomingdale’s zu legen? Wollten die Kommunarden das Gericht noch bloß stellen und mit Ironie die (Vor-)Urteile gerichtlicher Sprechakte entlarven, so erkannten die Brandstifter das Gericht, vor dem sie angeklagt waren, gar nicht erst an. Andreas Baader sprach im Zuge des Prozesses gegenüber den Mitangeklagten das grundlegende Problem an, das ihr Vorgehen von Aktionen aus dem Geiste der HappeningAktivisten oder der politischen Avantgardekünstler zu unterscheiden sei. Ähnlich wie schon Ensslin den ‚nur‘ verbalen Protest kritisierte und zu überwinden trachtete, suchte auch Baader das geschriebene Wort in seinem institutionalisiert-anerkannten Format abzutun: „Es sah so aus, als würde die Revolution in der Literatur hängen bleiben, ohne an die Praxis heranzukommen.“217 Erneut durch Bernward Vesper wurde die (Rede-)Praxis vor Gericht, zumindest der Wortlaut, in gedruckten Text überführt. In der Reihe der Voltaire Flugschriften veröffentlichte er im November 1968 das Schlußwort im Kaufhausbrandprozeß. Zunächst war darin das den vier Angeklagten zugeschriebene, von Thorwald Proll gehaltene Schlusswort abgedruckt, dessen Vortrag in einem Tumult im Gerichtssaal endete. Sara Hakemis Einordnung der Beendigung des Schweigens stellt die wesentlichen Punkte heraus: „Die Situation offizieller Rede lässt ihn seinen bereits habituell tief verankerten, selbstgefälligen Wortspieltrieb einmal etwas bezähmen. Die Freude an rhetorischen Effekten führt ihn nun zur traditionellen politischen und Gerichts-Rede zurück. In dutzendfacher Wiederholung schärft er dem Auditorium ein, dass dies keine Verteidigungsrede sei: ‚Vor einer solchen Justiz verteidigen wir uns nicht‘, heißt es denn auch im Titel der veröffentlichen Rede. […] Was von der Rede im Tumult vor Gericht überhaupt an die Zuhörer drang, ist allerdings ohnehin nicht mehr festzustellen. Der Grundsatz, solch ein Gericht nicht anzuerkennen,
216 S. Hakemi/T. Hecken: Warenhausbrandstifter, S. 328. 217 T. Proll/D. Dubbe: Wir kamen, S. 35/36.
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wird sich freilich jedem eingeprägt haben. Ins Urteil gelangt natürlich nur der Aufruf Prolls, ‚diese Landfriedensbude in Brand zu stecken‘.“
218
Spätestens in gedruckter Form wurde jedoch das hybride Genre der Rede deutlich. Sie machte sich nicht nur die rhetorischen Mittel und Zitate (insbesondere von Dramenmonologen) zu eigen, die durchaus mit denen einer Gerichtsrede vergleichbar sein können. Sie war zudem von Imperativen durchsetzt war, die Regieanweisungen gleichkamen. „Alle zusammen“, „aufstehen“, „nochmal und alle zusammen“, so lauteten die Aufrufe an die Mitangeklagten und die zuschauenden „Genossen“. Imperative zur Brandstiftung wie der bereits genannte oder vergleichbare Aufforderungen wie: „Noch hat jeder einzelne Kapitalist oder Sozialist die Chance, als erster ein Gefängnis zu sprengen. Lest keine Springer Zeitungen, sondern verbrennt sie. Sprengt Springer weiter“219, sollten insbesondere im Rahmen eines Brandstifterprozesses provozieren, die Erwartungshaltungen irritieren und persiflieren. Aber auch performativ war mit den Regieanweisungen eine Sprengung der Formalitäten von Gerichtsverfahren inszeniert. Nach einer Unterbrechung wegen eines Zwischenrufs von Daniel Cohn-Bendit – die Angeklagten „gehören zu uns“ – konnte das Verfahren kaum wieder auf genommen und abgeschlossen werden. Der Spiegel berichtete: „Wenig später mußte ein Polizeikommando auf Anordnung des Vorsitzenden den Saal räumen. Mit Reden und Rauchbomben taten die Zuschauer ihren Willen kund, mit den Angeklagten in einen Topf geworfen zu werden.“220 Die Bomben hatten damit den Gerichtssaal erreicht, und nicht nur die Tumult-Anweisung der Angeklagten wurde befolgt. In der Nacht nach der Urteilsverkündung wurden zwei Molotow-Cocktails durch das Fenster des Landgerichts geworfen. Das Prinzip der Eskalation fruchtete, es blieb nicht bei Sprengungen durch Wort und Geste, „Bomben“ bekamen materielle physische Zerstörungskraft. Von dem Inferno in Vietnam, von den Bomben in Südostasien, auf die bei den vorangegangenen Aktionen mit ihrem Zeicheninventar rekurriert wurde, war keine Rede mehr. Einen solchen Verweiszusammenhang machte jedoch Bernward Vesper, im Prozess selbst als Zeuge geladen, in dem kommentierenden Nachwort seiner Flugschrift deutlich. Er verortete die Kaufhausbrandstiftung und den anschließenden Prozess, nach Vesper „das abschließende Lehrstück“221, nicht nur weitumfassend im zeitgenössischen politischen Geschehen (von der 218 S. Hakemi: Anschlag und Spektakel. S. 117-119. 219 A. Baader u.a: Schlußwort, S. 13. 220 Der Spiegel Nr. 45/1968, S. 67, zitiert nach S. Hakemi: Anschlag und Spektakel, S. 117. 221 A. Baader u.a.: Schlußwort, S. 21.
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Verschärfung des Bombardements in Vietnam über faschistische Kontinuitäten im Justizapparat der BRD, von Anti-Springer-Demonstrationen zu deutschamerikanischer Wirtschaftshilfe u.v.m.), sondern auch in einem entsprechenden Referenzcharakter und damit in der Funktion als „Fanal“-Zeichen. Die Verurteilung zu Haftstrafen gehörte laut Vesper in eine Reihe von „2000 Prozesse[n] gegen Angehörige des antikapitalistischen Lagers, die das verbreiten sollten, was […] nach Ansicht ihre ‚Verurteilung‘ leitenden Zoebe ‚einen Schock‘, zu Deutsch: Schrecken, lateinisch: Terror“222 ausgelöst hatte. Der sublime „Terror“ des Gerichts ging Hand in Hand mit knüppelndem „Terror der Polizei“223. Die bestehende gesellschaftliche Ordnung werde mit der TerrorGewalt dieser beiden „Verteidigungslinien des Kapitals“224 aufrechterhalten. Nach dieser Überlegung machte Vesper einen theoretischen Gedankensprung mit einem unerwarteten historischen Querverweis: „Jeder Täter innerhalb des Kapitalismus ist mit einem Schreibtischtäter verknüpft; die Aufhebung dieser Trennung, der Zusammenfall von Theorie und Praxis ist bereits ein befreiendes, emanzipatorisches Element – der Reaktion fremd. […] ‚Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben‘ – dieser Satz des bürgerlichen Schriftstellers Schiller gilt heute noch für die schieß-, prügel- und verurteilungsfreudige Bourgeoisie, nur daß in Vergessenheit geraten mußte, daß die Rede ist vom ‚Gedrückten, der nirgends Recht finden, dem unerträglich wird die Last‘, heute anwendbar nur gegen die Bourgeoisie von den unterdrückten Massen und ihrer – vorläufig – bewußten Avantgarde.“
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Vesper sprach der Brandstiftung inklusive des Prozesses den Stellenwert eines historischen Einschnitts zu und den Brandstifter eine Avantgarde-Rolle, die in vorbildlicher Weise das in der Neuen Linken virulente Problem von Theorie und Praxis überwunden hatte. Zugleich rückte er die Brandstifter in eine Widerstands-Tradition, die mit dem völlig dekontextualisierten Zitat des Rütli-Schwurs aus Wilhelm Tell belegt wurde. Wenn auch die Zeit des gewaltlosen Widerstands nun vorbei sein müsse und Gewalt mit Gegengewalt zu bekämpfe sei, so beschränkt sich diese nicht einfach auf ein Griff zum „Schwert“. Was genau die Strategie der postulierten Avantgarde ausmacht, wurde im Weiteren nicht expliziert, aber zumindest angedeutet in Bezug auf „die Entwicklung der Strategie der neuen Phase des antikapitalistischen, antiautoritären, emanzipatorischen Kamp222 Ebd. 223 Ebd. 224 Ebd., S. 22. 225 Ebd.
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fes, die nach dem Prozeß in der Bundesrepublik […] anzuwenden ist.“226 So ergreife eine „Minderheit mit dem historisch möglichen, richtigen Bewußtsein“227 nun die Initiative und verließ die “Stufe der Theorie, der Legalität, der Demonstration“, um die „Gewalt der Herrschenden“ zu beenden. Hier deutete sich an, was mit der Lesart des historischen Mehrwissens schon bald formiert werden sollte: eine organisierte Minderheit ging Schritte in die Illegalität, um Gegengewalt auszuüben. Und genau an dieser Stelle von Repression und staatlicher Gewalt wiederholt Vesper noch einmal in einem Einschubsatz: „‚Richter Zoebe‘: Schock, das ist lateinisch: Terror“228. Damit war eine mehrdeutige Semantik eröffnet, indem nicht etwa die Geschockten allein als terrorisierte Opfer beschrieben wurden, sondern indem die Gleichung „Gewalt mit Gewalt bekämpfen“ mit einer Gleichung von „Terror mit Terror bekämpfen“ parallelisiert wurde. Welche Operation einen solchen Terror im Kern ausmachte, wurde aber klar ausformuliert: das System soll gezwungen werden. Damit war erstmalig textuell festgehalten, was kurze Zeit später mit der Stadtguerilla eintrat: „Zwang“ statt „Diskussion“ und zugleich Monolog statt Dialog. Die Kommunarden hatten den Schock der „schrecklichen Bilder“ eines brennenden Kaufhauses satirisch für eine semantische und institutionelle Verlagerung des Schockeffekts genutzt, nicht jedoch, weil „derartige Dinge wie in Brüssel den nächsten Schritt darstellen würden“229, wie Rainer Langhans in der Verhandlung betonte. Nicht die „aggressive Form“, weder „Steinewerfen und Schießen“, sondern „Autoritäten lächerlich machen“ und „in ihren Handlungen desavouieren“230 war die formulierte Stoßrichtung eines solchen Schocks. Von Vespers latinisierter semantischer Verschiebung hatten die Kommunarden deutlich Abstand gehalten. Bei den Brandstiftern wurde die Inszenierung von Gewalt auf einer anderen „historischen Bühne“231 und in anders intendierten Funktionsweisen eines solchen Spektakels herausgelesen. In Vespers Text wurde erstmalig die Logik des Zwangs eingeführt, die das unter ‚Kunst-Verdacht‘ stehende spielerisch-ironische Offenlegen von politischen Vorgängen vor Gericht oder das didaktische Prinzip eines Lehrstückes hinter sich zu lassen trachtete. Die Vorgeschichte ist nicht allein in Vespers eigener Diktion nachzuvollziehen. Sein Nachwort wurde nämlich mit einem Zitat von Gudrun Ensslin eingeleitet, das vermutlich während des Prozessverlaufs ausgesprochen wurde: „Wir können die Herrschenden und ihre Handlanger nicht 226 Ebd., S. 24. 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Zitiert nach S. Hakemi: Anschlag und Spektakel, S. 70. 230 Ebd. 231 A. Baader u.a.: Schlußwort, S. 24.
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dazu zwingen, die Wahrheit zu akzeptieren; aber wir können sie dazu zwingen, immer unverschämter zu lügen.“232 Die Politik des Zwangs ist damit eröffnet, der Terrorismus beginnt.
232 Ebd, S. 19.
3. Anschläge der RAF: Schreibmaschinerien
Die bisherigen Darlegungen über die Vorgeschichten haben gezeigt, dass der Terrorismus der RAF als ein Medienprojekt emergierte und seine Urszenen aus Protestinszenierung, Gericht und öffentlicher Kunstperformance erfahren hat. Die anschließende blutige Kriegsführung der terroristischen Vereinigung trug diese Charakteristika nur noch in Spuren. Die medialen Dispositive ihres Terrors bedurften eines anderen Vokabulars. Aus der Sicht der RAF waren ihre Maßnahmen eine Gegengewalt im Sinne eines Gegenterrors, sie waren Maßnahmen gegen die Schrecken einer staatlichen Ordnung1. Die RAF hat diese Ordnung vielfach adjektiviert als „faschistisch“, „imperialistisch“, „kapitalistisch“. Mittels solcher Adjektive wurde der herrschenden politischen Ordnung die strukturelle Ursache von Unterdrückung, Unfreiheit, Überwachung und Tod eingeschrieben. In den RAF-Pamphleten und Erklärungen vor allem aus den Jahren bis zum Deutschen Herbst 1977 ist dafür vielfach von der „Maschine“ und der „Maschinerie“ die Rede gewesen. Adressiert waren die „perfektionierten und technisch komplizierten Tötungsmaschinen des Kapitals“2, konkreter ist von der „Militär-
1
„BRD vs. RAF“: Die „Erkenntnis des politischen Ganzen [ist] nicht ohne Ausnahme zu haben. […] Die klassische Figur von Ausnahme, politischer Erkenntnis und daraus abgeleiteter politischer Praxis, nur ‚anti-souverän‘ verkehrt und nicht symbolisch, sondern als Versuchsanordnung eines blutigen Realexperiments gedacht. Erst diese Erkenntnistechnik der RAF produziert 1977 laufend jene faktischen Evidenzen, ohne die die politisch-existenzialisierende Symbolik leer laufen müßte.“ (Wagner, Benno: „Vom Licht des Krieges zur black box des Modells Deutschland. Ausnahme und Erkenntnis nach Schmitt und Foucault“, in: Friedrich Balke/Eric Méchoulan/Benno Wagner (Hg.), Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte?, München: Wilhelm Fink Verlag 1992, 233-256, hier S. 242.)
2
RAF: „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, Mai 1971“, in: ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, S. 84.
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maschine“3 und der „Vollzugsmaschine“4 gesprochen worden. Beide waren neben der kapitalistischen Produktionsmaschinerie die gewaltigen Teile der Staatsmaschine, damit galten sie als die Inkorporation von unterdrückender Macht und Gewalt. Nach Ansicht der RAF war die Maschine immer der Feind, die Maschinerie war das systemische Gegenüber. Dem konnte nur mit Gewalt begegnet werden. Dazu hat sich die RAF lange Zeit auf ihre selbsternannten Vordenker und historischen Vorbilder berufen: „Was Frantz Fanon Anfang der 60er Jahre aus der Erfahrung der Insurrektion der Völker der Dritten Welt rausfand, daß man mit nur Wut, Haß, spontaner Bewegung ‚nicht in einem nationalen Krieg siegen, die furchtbare Kriegsmaschine des Feindes in die Flucht schlagen kann‘, das fand seine Entsprechung in den Metropolen in der wesentlichen Erfahrung der Studentenbewegung: daß Spontaneität, Revolte integrierbar ist, wenn sie sich nicht bewaffnet.“5
Nun offenbarte die „Erste Generation“ der RAF ausreichend Selbstreflexion um zu wissen, dass ihrem Aufbau einer klandestinen Stadtguerilla ein Beschreibungsinventar von spontaner Revolte oder von partisanischer Insurrektion nicht gerecht werden konnte. Aus der „furchtbaren Kriegsmaschine des Feindes“ ließ sich nur ein konsequentes Selbstbild schlussfolgern: Die RAF ist selber eine Kriegsmaschine, die den Gegner zur Aufgabe zwingt. Und die RAF erkämpft als eine außerstaatliche Kriegsmaschine die Überwindung der Kriegsmaschinen der kapitalistischen Staatsmacht. Jedoch erst der missglückte Einsatz einer nicht-metaphorischen Kriegsmaschine, nämlich eines selbstgebauten Raketenwerfers bei einem Anschlagsversuch auf ein Gebäude der Karlsruher Bundesanwaltschaft im Frühherbst 1977, brachte die Sprache der RAF, ebenfalls missglückt oder zumindest unfreiwillig verfehlt, auf das eigene Maschine-Sein: „alle interpretationen der maschine, mit der wir die bundesanwälte daran hindern wollten, im komfort ihrer büros weiter darüber zu grübeln, wie sie den nächsten mord an einem politischen gefangenen arrangieren, oder die menschenjagd, die schauprozesse, die razzien
3
RAF, Mai 1971: „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa, Mai 1971“, Anmerkung 1, in: ID-Verlag, Rote Armee Fraktion, S. 109.
4
RAF: „Hungerstreikerklärung vom 13. September 1974“, in: ID-Verlag, Rote Armee
5
RAF: „Auszüge aus der ‚Erklärung zur Sache‘ vom 13. Januar 1976“, in: ID-Verlag,
Fraktion, S. 190-191, hier S. 190. Rote Armee Fraktion, S. 198-254, hier S. 238.
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auf bürger und anwälte, denen wir sympathischer sind, die lügen und die hetze der ‚offensiven information‘ zu planen – sind falsch.“6
Das Denotat von Maschine war das selbstgebaute Objekt. Aber es lässt sich konnotieren als die Kriegsmaschine, als die sich die RAF herausbildete. Demnach liest sich über die Semantik der kriegerischen Waffe oder des technischen Werkzeugs hinaus die Rede von der Maschine als eine starke Metapher für die Verfahren der RAF. Ihr Terrorismus muss neben der physikalischen Zerstörungsmaschine mit seiner Schreibmaschinerie gegen „Lügen und Hetzte“ antreten. Doch war die RAF eine Kriegsmaschine nicht allein vor dem Hintergrund einer Entgrenzung ihrer eigenen Sprache. Die Kriegsmaschine ist beinahe zeitgleich prominent geworden als ein Begriffsgefüge in Deleuze/Guattaris Tausend Plateaus aus dem Jahr 1980. Die Autoren schildern in ihrem Kapitel „Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine“7, wie ursprünglich aus antihierarchischen Ordnungen die Kriegsmaschine entwickelt worden war und wie sie damit dem Staate äußerlich zu denken ist. Insbesondere verdeutlichen die Autoren, wie der Staat sie sich in einem langen Prozess aneignen musste. Erst nach diesem Aneignungsprozess konnte staatlichen Ordnungen wieder mit Kriegsmaschinen entgegnet werden8. Das war der Beginn des Krieges, da „die Kriegsmaschine als solche nicht den Krieg zum Ziel hat. Sondern dieses Ziel zwangsläufig erst dann bekommt, wenn der Staatsapparat sie übernimmt.“9 In eine derartige Genealogie der Maschine sind mit Hans-Dieter Bahr auch die bereits erörterten proto-terroristischen Phänomene einzureihen: „Ob Partisanen oder Stadtguerilleros, sie kämpfen als Maschinisten mit technischen Einrichtungen gegen einen metropolitanen Maschinenkörper, nicht mittels Anpflanzung und
6
RAF: „Erklärung zum Anschlag auf die Bundesanwaltschaft, 3. September 1977“, in http://labourhistory.net/raf/documents/0019770903_02.pdf vom 09.06.2011.
7
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve-Verlag 1997. S. 481 ff.
8
Zur Lektüre der Kriegsmaschinen im Spannungsfeld von staatlicher Ordnung und terroristischer Aktion (v.a. nach 9/11) vgl. Jäger, Christian: „Kriegsmaschinen. Zur politischen Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari“, in: Heinz-Peter Preussser (Hg.), Krieg in den Medien, Amsterdam/ New York: Editions Rodopi B.V., S. 423435.
9
G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 709.
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Viehzucht oder mittels Industrie, Handel und Dienstleistung gegen militärische Potentiale.“10
Die RAF oder gar den Terrorismus insgesamt zu lesen wie eine Anrufung der nomadischen Kriegsmaschine nach Deleuze/Guattari – oder mehr noch, verstehen zu wollen als im Kern staatsemanzipatorischen Ansatz, der seine Grundformation dann pervertierte und so erst den Staat zu einer Neuauflage seiner Kriegsmaschine zwang – soll und kann nicht die Fragestellung des folgenden Kapitels sein. Aber wenn bei einer erweiterten Begrifflichkeit von Kriegsmaschine auch die Schrift als eine solche aufgefasst wird (hieß es doch in den Tausend Plateaus: „Schrift und Musik können Kriegsmaschinen sein“11!), dann ist keine gänzlich andere Maschine mit der titelgebenden „Schreibmaschinerie“ gemeint. Untersucht werden sollen jedoch weniger ihre Verschränkungen mit dem RAF-Terrorismus in actu als mit der Geschichte, genauer gesagt mit der Historiographie. Das griechische „gráphein“, zu Deutsch „schreiben“, soll als Schreibmaschinerie betrachtet werden, die für das Nachleben des Terrorismus wirkmächtig ist. Zu Beginn stellt sich die Frage, wie es mit der Schreibmaschinerie in einer ganz konkreten Dingreferenz bestellt ist, nämlich mit einer Schreibmaschine aus dem Besitz der RAF und den auf ihr entstandenen Texten. Davon ausgehend werden die Möglichkeiten und Grenzen dieser Textproduktion sondiert. Diese Entstehungskontexte von RAF-Geschichte werden an zwei unterschiedlichen Betrachtungszeitpunkten erörtert: Mit Die Reise von Bernward Vesper liegt ein gleichzeitiges Aufschreiben vor, mit Kontrolliert von Rainald Goetz eine nachzeitiges Erzählen, eine Historiographie.
3.1 B AADERS S CHREIBMASCHINE : G ESCHICHTSSTUNDE IM M USEUM Die Reiseschreibmaschine „Erika“ aus der Fabrikation des Herstellers Seidel & Naumann war ab ihrer Patentierung 1910 ein technisches Erfolgsprodukt und wurde von Dresden aus nach ganz Europa exportiert. Die Luftangriffe gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und die Verstaatlichung des Betriebs nach Kriegsende bedeuteten das Ende der Produktion. Die „Erika“ aber war weiterhin ein Begriff – wo erhalten, blieb sie in Benutzung. In Übernahme des berühmten
10 Bahr, Hans-Dieter: Sätze ins Nichts. Ein Versuch über den Schrecken, Tübingen: Konkursbuchverlag 1986, S. 104. 11 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 709.
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Namens produzierte das VEB Schreibmaschinenwerk Dresden weiterhin ErikaModelle bis zum Ende der DDR12. Eine Privatisierung des Betriebes und eine Weiterführung der Schreibmaschinenproduktion nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gelangen nicht nachhaltig. 2004 wurde „Erika“ als Bezeichnung für Schreibmaschinen aus dem Markenregister des Deutschen Patentund Markenamtes gelöscht. Ihren Platz im Bonner „Haus der Geschichte der Bundesrepublik“ Deutschland fand eine Erika No 6 aber nicht aufgrund ihrer bewegten Produktionsgeschichte im 20. Jahrhundert. Vielmehr ist das Eigentums- und Benutzungsverhältnis eines konkreten Exemplars geltend gemacht worden, das bis zum Umbau der Dauerausstellung im Jahr präsentiert worden ist. Es war in Sichthöhe aufgestellt in einem Schaukasten der Abteilung „1974-1989 Neue Herausforderungen“ in der fünften Ebene der Dauerausstellung. Das etwas abgegriffene Exemplar im aufgeklappten Koffer ist damit zu einem Exponat in der Reihe „Linksterrorismus“ geworden. Ausgewiesen als „Schreibmaschine von Andreas Baader“, kontextualisierte ein Hinweis: „Die Schreibmaschine von Andreas Baader (1943-1977) wurde vom Bundeskriminalamt eingezogen und als Beweismittel gegen Baader in den Stammheimprozessen verwendet. Viele Bekennerschreiben der Roten Armee Fraktion (RAF) wurden auf dieser Schreibmaschine geschrieben. Die terroristische Vereinigung RAF entstand 1970 unter der Führung von Andreas Baader und Ulrike Meinhof (1934-1976). Erklärtes Ziel der RAF war es, die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik mit Methoden der Stadtguerilla gewaltsam umzustürzen.“13
Mit diesen knappen Sätzen erklärten die Ausstellungsmacher den Museumsbesuchern die Zurschaustellung dieser Reiseschreibmaschine. Die schriftliche Ergänzung eröffnete einen Kontext, der sich aus der Betrachtung des historischen Objekts selbst nicht erschließen ließ. Das Schreibgerät war gewichtiger Anteil einer notwendigen Maschinerie, die Terrorismus überhaupt erst in Gang setzt und formiert. Entgegen der Angabe des konkreten Besitzverhältnisses jedoch war der Akt des Schreibens auf der Maschine nicht namentlich spezifiziert, sondern wurde durch eine grammatikalische Passivkonstruktion dem Kollektiv Rote Armee Fraktion zugeschrieben. In welchen Formen sich jedoch diese „Nachweise“ erfahrbar geben, bleibt offen, so dass nach den Verfahrenswegen und Produktionen von „Nachweislichkeit“ zu fragen gilt. Ein wechselseitiges Verweis- und Bestimmungsverhältnis von 12 http://www.typewriters.ch/collection/ERIKA.html vom 28.01.2013. 13 Ausstellungstext
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Gegenständen, Texten und Ausstellungswert als „Geschichte des Linksextremismus“ soll im Folgenden anhand der „Schreibmaschine von Andreas Baader“ eröffnet werden, um das Ensemble musealer Sichtbarkeit zu analysieren. Umgeben war das besagte Modell der Erika No 6 an ihrem Ausstellungsstandort hinter Glas von auffallend vielen Texten, Printerzeugnissen, Photokopien und auch Photoabzügen. Durch diese Bestückung setzte sich die Auslage „Linksterrorismus“ von den anderen Auslagen des näheren Umfeldes ab und damit von Ordnungseinheiten wie „Bürgerbewegungen“ oder „Wirtschaft im Wandel“. Diese Gruppierungen stellten deutlich mehr Alltags- und Gebrauchsgegenstände zur Schau, die der didaktischen Konzeption des Hauses folgt: „Dreidimensionale Objekte, Dokumente, Fotos, Ton- und Filmausschnitte bilden den Kern der Ausstellung. Die Faszination von Originalen gepaart mit der Lebendigkeit der Inszenierung machen das Haus der Geschichte zu einem Museum, das dem Besucher komplexe Zusammenhänge verständlich und erlebnisorientiert präsentiert.“14
Als visuell markanter „dreidimensionaler Gegenstand“ war neben der Schreibmaschine ein von der RAF selbstgebasteltes „Flächenschussgerät“ zu sehen. Mit ihm sollte im Jahr 1977 der besagte Anschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft verübt werden. Des Weiteren wurden das „Barett des Kommandeurs der GSG9“ und die Dienstpistole „Revolver 357 Magnum Mod. 19 – 3“ des ehemaligen GSG9 Kommandeurs Ulrich K. Wegener präsentiert. Die Mehrzahl des Ausstellungskonvoluts aber bildeten Schrifttext und photographische Abbildung wie Kopien aus Ermittlungsakten, Kassibern und Zellenbriefen, ‚originale‘ Fahndungsplakate, Polizei- und Pressephotographien, Zeitungsartikel, Karikaturen und ähnliches. Durch die Ausstellung der Schreibmaschine ist eine indexikalische Relation einer begleitend ausgestellten Textsorte eröffnet worden, nämlich der sogenannten Bekennerschreiben einzelner „Kommandos“, beziehungsweise des „Kollektivs RAF“. Diese Selbstbezichtigungsschriften als Teil der Konstituierungskette eines terroristischen Ereignisses15 nannten stets ein Kollektiv als Autor und vermieden jegliche Individualisierung von Seiten der Linksterroristen. Durch die Zuordnung der Schreibmaschine zu einer Person ist versucht worden, diese namenlose Anonymität des Kollektivs aufzuweichen. Dahinter mag die Hoffnung der Ausstellungsmacher gestanden haben, in eben dieser Reihung 14 http://www.hdg.de/bonn/ausstellungen/dauerausstellung/konzept/ vom 16.04.2010. 15 Zum Bekennerschreiben und zum Zusammenhang „Bekennen“ und „Terrorismus“ vgl. Unterholzner, Bernhard: Bekennerschreiben. Kommunikation als Ereignis, Saarbrücken: VDM Müller 2007, S. 38-46.
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der Exponate an diesem Ort ‚erzähle‘ und ‚bezeuge‘ der Gegenstand Erika No 6 in einer Ursache-Folge-Metonymie etwas von der Roten Armee Fraktion. Darüber hinaus könnte „Faszination“ und „Lebendigkeit“ der Betrachterimagination angestoßen worden sein. Besucher mögen überlegt haben, wie der führende Kopf und Namensgeber der „Baader-Meinhof-Bande“ mit seinen Fingern die Pamphlete niederschrieb, wie Baader seinen Hass auf das System zu Papier brachte. Die Phantasie von einem Terroristen entfaltet sich: Baader war gehetzt, im raschen Wechsel von konspirativer Wohnung zu konspirativer Wohnung, angewiesen auf ständig veränderte äußere Erscheinungen und immer wieder neue Ausweispapiere. So mag seine DDR-Schreibmaschine im Gepäck eine Konstante in diesem unruhigen Leben im Untergrund geblieben sein. Angeblich hat sich Andreas Baader in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vielfach als Journalist ausgegeben und gar kurzzeitig für das Haus Springer als freier Mitarbeiter16 gearbeitet. Baader und seine „Erika“ rückten phantasmagorisch in die Nähe solch mythischer Verhältnisse wie von Friedrich Nietzsche und Malling-Hansens „Schreibkugel“, von Egon Erwin Kisch und seiner „Adler No 7“ oder von Paul Auster und seiner „Olympia“. Unter museumsstrategischen Aspekten mag das Ausstellen der Schreibmaschine vielleicht so gemeint gewesen sein. Es bleibt aber über die Spekulation von didaktischen Intentionen hinaus nicht klar zu fassen, was das Exponat und die beigefügte Angabe an „komplexen Zusammenhängen“ „verständlich präsentierte“, wie das Museum ausdrücklich betonte. Für ein Verständnis der Bekennerschreiben bringt es im Gegensatz zu einem Blick auf reproduzierte Visualisierungen wie Tatortphotographien zunächst wenig Mehrwert, das Schreibgerät anschauen zu können, auf denen die Texte verfasst wurden. Wenn die „Erika“ allerdings weniger in direktem kausalen Bezug auf das beschriebene Papier betrachtet und vielmehr in die Nähe des dilettantisch gezimmerten „Flächenschussgeräts“ gerückt wird, dem größten Gegenstand hinter der Glaswand, so ließen sich schon eher „komplexe Zusammenhänge“ rekonstruieren. Gab es in dieser Kombination eine Interpretation, die beide Apparate zu mehr machte als nur zu Museumsnachbarn, weil beide zu den wenigen erhaltenen Dingen aus dem Besitz der RAF gehörten17? 16 Diese Pointe in den Biographien von Andreas Baader findet sich vielfach. Jedoch weist Klaus Stern darauf hin, dass es keinerlei Unterlagen über ein Beschäftigungsverhältnis gibt, dass Zeitzeugen aus der Redaktion der „B.Z.“ sich nicht an Andreas Baader als Mitarbeiter erinnern können und dass vom Axel Springer Verlag eine deutliche Leugnung vorgelegt wurde. Vgl. K. Stern: Andreas Baader, S. 67. 17 Der Zellennachlass des inhaftierten Andreas Baader wurde nach dessen Tod in den Kellern von Stammheim eingelagert, wo er im Sommer 1978 wie der gesamte dortige RAF-Nachlass einer Kellerflutung zum Opfer fiel und in den Müll entsorgt werden
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Unter dem Ausstellungstitel „Linksterrorismus“ initiierten sie eine physische Nähe dessen, was das Wort „Anschlag“ im Zusammenhang mit einem Terrorismus, wie ihn die „Erste Generation“ der RAF ausübte, durchaus homonym begreifen lässt. Der Anschlag wurde zur Schau gestellt als Tat, als konkreter physischer Zerstörungsakt, der aber nicht vorrangig auf die Vernichtung des Gegners aus war, sondern im Raum des Zeichenhaften operieren sollte, als Fanal oder Mindbomb etwa. Diese Medialitäts-Operation wiederum entstand nicht aus einem solchen Akt sui generis, sondern war – wie bereits im ersten Kapitel mehrfach erwähnt – in sprachlichen Zeichen zu (er-)klären. Die beiden Exponate montieren also in der Dauerausstellung die dreidimensionalen, ausstellbaren und damit begreifbaren Anteile der Dispositive der RAF: Zerstörung und Erklärung, Bombe und Text, Schussapparat und Schreibmaschine. Mit der Schreibmaschine als Abbildung selbst wiederum wurde auch außerhalb des Museums Geschichte gemacht. Als „Fundstück“ war sie einleitend auf Seite 3 des Journals Die Zeit Geschichte abgebildet und führte dort in die „Jahre des Terrors“18 ein, deren Höhepunkt sich 2007, im Erscheinungsjahr dieses Magazins, zum dreißigsten Mal jährte. In einem knappen Text ist zunächst auf die „geradezu manische Textproduktion, ein endloses Begründen, Erklären, Analysieren, Hassen“19 der RAF hingewiesen, die gesammelt und herausgegeben mehr als 500 Textseiten ergab. Das „Fundstück“ ist folgendermaßen erläutert: „Zahlreiche der frühen Bekennerschreiben und Schriften entstanden dabei auf dieser Schreibmaschine Andreas Baaders, einem DDR-Fabrikat aus den fünfziger Jahren. Beschlagnahmt vom Bundeskriminalamt Wiesbaden, diente es im Stammheimer Prozess gegen die Mitglieder der ersten RAF-Generation als Beweismittel. Heute ist die Schreibmaschine in der Dauerausstellung des Hauses der Geschichte in Bonn zu sehen (www.hdg.de).“20
musste. Allein die Liste des LKA Baden-Württemberg für die Zelle 719 existiert noch. Auf ihr sind u.a. 974 Bücher verzeichnet, 2 Sonnenbrillen – und eine „Olivetti“Schreibmaschine. Vgl. K. Stern: Andreas Baader, S. 308. 18 Erenz, Benedikt/ Ullrich, Volker (Hg.): „Die Jahre des Terrors. Ulrike Meinhof, die RAF und der Deutsche Herbst: Geschichte einer Republik im Ausnahmezustand“, in: Die Zeit Geschichte Nr. 3 (2007), S. 3. 19 Ebd. 20 Ebd.
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Unter dem Text ist ein Photo der Schreibmaschine abgebildet. Auch hier wird ein Dreischritt vorgeführt, in dem sich das Objekt Erika No 6 vom Textproduktions- zum Beweismittel wandelt, um anschließend zu einem Geschichtsmedium ernannt zu werden. Doch auch in dieser Darbietung stellt sich die Frage: Was macht das Abbilden der Schreibmaschine mit den Texten oder gar mit der Geschichte dieser RAF-Texte? Ebenso wie in der Bonner Ausstellung ist die Erika No 6 auf die Bekennerschreiben der RAF mittels kurzer Erläuterungstexte bezogen. Sowohl im „Haus der Geschichte“ als auch in dem Geschichtsjournal der Zeit wurde sie auf ein bestimmtes Schriftstück konkretisiert. In die Erika No 6 war ein Papierbogen eingespannt, auf dem ein Text zu lesen ist, der als unter- oder abgebrochene Niederschrift inszeniert war, obwohl die zweite Seite im Museum neben der Schreibmaschine ausgestellt wurde. Es gab also neben dem erklärenden Beitext auch noch einen Text mit direktem Produktionsbezug. Dieser Text lässt sich relativ leicht identifizieren. Von der Textsorte her ist er weder ein Bekennerschreiben noch ein Strategiepapier, sondern ein Lebenszeichen von Andreas Baader21. Und als ein ganz besonderer Text in Form und Inhalt ist er in die Darbietung von RAF-Geschichte eingespannt. 3.1.1 Die Typen von der RAF und ein Schreiben Als „Schreiben von Andreas Baader“ im musealen Sammlungsbereich „Urkunde und Akte“ war die erste Seite halb in die Schreibmaschine eingezogen und die zweite Seite nebengestellt: „Das zweiseitige Schreiben von Andreas Baader (1943-1977) von 1972 wurde vom Bundeskriminalamt eingezogen und als Beweismittel gegen Baader in den Stammheimprozessen verwendet. Baader beschreibt Ziele und Methoden der Roten Armee Fraktion (RAF): den gewaltsamen Sturz der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik mit Methoden der Stadtguerilla. Der Schlusssatz lautet: ‚Der Kampf hat erst begonnen‘. Die terroristische Vereinigung RAF entstand 1970 unter der Führung von Andreas Baader und Ulrike Meinhof (1934-1976).“22
Es ist ein eigentümliches Schriftstück aus dem umfangreichen RAF-Archivmaterial (Abb. 2 und 3). Der Text besagt, dass sein Autor nicht tot sei. Er lebe und er 21 In digitalisierter Fassung ist eine Kopie nach der Beweismittelaufnahme als „Brief an die Deutsche Presse Agentur vom 24.1.1972“ im Internet aus dem Archiv der „International Association of Labour History“ (IALHI) verfügbar unter http://labourhistory .net/raf/documents/0019720124.pdf. 22 Ausstellungstext
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sei frei und das sei „die Wahrheit“. Und es ruft zum „bewaffneten Kampf“ auf. Unterschrieben ist mit „A. Baader“, besiegelt ist es zusätzlich noch mit einem Daumenabdruck. Der martialisch-pathetische Ton und der politische Gehalt der militanten Selbstvergewisserungen sind für einen Text aus dem Milieu der linksradikalen Stadtguerilla der frühen 1970er Jahren weder außergewöhnlich noch überraschend. Der Aufbau des Briefes folgt einem für diese Phase der RAF typischen Muster. Zunächst wird ein Zitat eines Revolutionärs vorangestellt, in diesem Fall ist es Carlos Marighellas Handbuch des Stadtguerillero23 entnommen. Damit holt sich der Text eine Aussage desjenigen Stadtguerilleros ein und übernimmt die Rede desjenigen Handbuchs, nach denen der Aufbau der Roten Armee Fraktion maßgeblich vorangetrieben wurden. Mit einem solchen markanten Zitat ist ein übernationaler Zusammenhang der eigenen Bemühungen durch die vermeintlich authentische Autorität der Stadtguerilla in einem sogenannten „Dritt-WeltLand“ Lateinamerikas oder Südostasiens herbeigeholt. Auch das ist ein Paradigma der RAF-Schreiben dieser Zeit. In dem Brieftext lassen sich verschiedene Adressaten ausmachen, aber die Grundfigur ist das deutliche Freund/Feind-Schema „Wir“ versus „Ihr“. Der Feind ist im Kollektivsingular benannt, er beinhaltet ohne Differenzierung staatliche Organe, vor allem der Exekutive wie Polizei, Bundesnachrichtendienst und Bundesanwaltschaft. Es werden des Weiteren ebenso Einzelpersonen aufgerufen, beispielsweise Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher. Für die Einordnung in die Dramatis personae der Geschichte des Linksterrorismus sind spätestens an dieser Textstelle Detailkenntnisse vonnöten.
23 Vgl. Kapitel 2.2.1 „Stadtguerilla und Medium I: Handbuch und Propaganda“.
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Abbildung 2: Ein Brief von Andreas Baader, erste Seite
Quelle: http://labourhistory.net/raf/documents/0019720124.pdf
Als Proto-Kampferklärung an diese Adressaten verlässt der Text die Ebene der Aufzählung von „Wahrheiten“ und ist damit auch mehr als ein Katalog konstativer Äußerung. Dem Feind gegenüber offensiv, behauptet sich die RAF als „die Gruppe“, der „politisch-militärische Kader“ oder die „Revolutionäre“. Entschlossenheit ist ein unabdingbarer gemeinsamer Nenner: „Kein Typ von der RAF denkt daran, sich zu stellen.“ Der Text entwirft eine unzertrennliche und entschlossene Gemeinschaft, die auch über die Trennung der Gefangennahme einzelner Mitglieder hinaus bestehen bleibt. Die „Gefangenen aus der RAF“ zeigen aber weiterhin Treue durch Schweigen. „Es gibt für keinen von uns einen subjektiven oder objektiven Grund, den Kampf, zu dem er sich entschlossen hat, zu verraten […]“.
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Eine solche Behauptung entwickelt mindestens zweierlei Lesarten. Einerseits ist sie der öffentliche Befehl an die Gruppenmitglieder außerhalb des unmittelbaren Einflussbereichs, weiterhin keinerlei Information preiszugeben. Ganz offen wird andererseits befohlen, wie hoch der Preis dafür sein muss, da ein Vorhaben auf Leben oder Tod vorhergesagt ist. Nach der eventuellen Gefangennahme hat der bewaffnete Kampf demnach eine andere Form anzunehmen: Treue durch Schweigen bis zum Äußersten, bis zum Tod. „Die Stärke der Guerilla ist die Entschlossenheit jedes einzelnen von uns.“ Das Guerillero-Sein wird dergestalt – und auch in diesem Punkt ist der Inhalt typisch für Schriften aus der Aufbauphase der Roten Armee Fraktion – als ein neues Dasein entworfen, bei dem der selbsternannte Guerillero ganz bei sich ist, bei einem neu definierten und gelebten „Ich“ und zugleich unzertrennlich ein Teil des Kollektivs. Die RAF ist ein Lebens- und Selbsterfahrungsprojekt ihrer Mitglieder gewesen über die Notwendigkeit illegaler Identitäten hinaus. Dieses Projekt „Stadtguerilla“ befindet sich dem Brief nach noch in einem Übergangsstadium, nämlich auf dem Weg zur militärischen Auseinandersetzung, zum „Aufbau der ersten regulären Einheiten der Roten Armee im Volkskrieg. Der Kampf hat erst begonnen.“ Der Brief ist eine Absichtserklärung mit der Dramatik von „Dead-or-alive“-Parolen aus Westernfilmen und der Rhetorik nazistischer „Treue-im-Endkampf“. Diese Passage deutet an, dass der nächste Schritt, die nächste Veröffentlichung, die folgende Aktion eine offene Kriegserklärung an die BRD sein wird. Der Inhalt überrascht bei historischer Kenntnis solcher Schreiben zunächst nicht, da er viele, beinahe als standardisiert zu bezeichnende Semantiken und Figuren von RAF-Schriftstücken in Pamphleten, Kommandoerklärungen und Kassibermitteilungen enthält. Singulär ist jedoch die Textform, weil der Brief an die Deutsche Presse Agentur als Lebenszeichen für die Öffentlichkeit zu lesen ist. In der Textsorte des Dementi, als eine Gegendarstellung oder Richtigstellung wird erst- und vor allem einmalig in der ersten Person Singular formuliert. Das „Ich“ ist zudem durch die Signatur mit dem Eigennamen „Andreas Baader“ personalisiert. Des Weiteren ist auf und im Schriftstück über den Inhalt hinaus nicht jegliches Indiz zu tilgen versucht worden. Das Blatt wurde offensiv unterschrieben und zusätzlich mit einem Daumenabdruck signiert. In diesen Punkten ist das Schriftstück weit mehr als ein Schreiben unter vielen gleichartigen, es ist kein beliebiges Textblatt, sondern ein sehr spezielles Dokument. Hierauf fußt die weitere Funktionalisierung. Zuerst ist es Indiz im Rahmen von polizeilichen Ermittlungsverfahren, anschließend ein Archivstück und schließlich ein Museumexponat.
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Abbildung 3: Ein Brief von Andreas Baader, zweite Seite
Quelle: http://labourhistory.net/raf/documents/0019720124.pdf
Für eine Betrachtung dieser Argumentationsketten ist es unerlässlich, den historischen Entstehungsmoment des Briefes darzulegen. Denn als Dementi und IchKonstruktion gelesen, stellt sich die Frage, aus welchen Gründen Baader überhaupt zu diesem Zeitpunkt behaupten musste, dass er nach wie vor im Untergrund lebe und zugleich das Wissens- und Auskunftsmonopol für dieses Leben in der Illegalität für sich postulierte. Einmalig ist das Schriftstück im Hinblick auf seine Veröffentlichungsumstände. Es erschien nicht als Reaktion auf eigene, d.h. im Namen der RAF gestaltete Aktionen, sondern es versucht, eine gewisse Form der eigenen Kollektivexistenz sowie gegenwärtiges und zukünftiges Handeln zu er- oder besser verschreiben. Es reagiert auf andere Texte. Dieser geschichtliche Kontext erschließt sich jedoch nicht aus dem dargebotenen Material
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der Museumsausstellung, er muss aus den vielfältigen RAF-Historiographien zusammengesucht werden. Der Text selbst verweist darauf, dass die „Entwicklung der Propaganda der Stadtguerilla“ zum angegebenen Veröffentlichungszeitpunkt 1972 ein gerade intensiv bearbeitetes Betätigungsfeld der militanten Linken war. Als Teil dessen ist dieser Brief zu lesen, der sich an ein Publikum über die „noch legalen revolutionären Organisationen“ hinaus wandte. Die PR in eigener Sache ist notwendiger Teil eines Konzepts von klandestiner Organisation bei größtmöglicher öffentlicher Aufmerksamkeit. Eine Gruppe im Untergrund musste sich in der Strategie der Stadtguerilla wiederholt selbst erklären und auch gruppenextern das Bild etablieren, sie sei „im Untergrund“. Dazu waren Formen der Sichtbarkeit unvermeidbar. Mag der Text hier auch ausdrücklich vermerken, die Entwicklung des Kampfes finde nicht von Schlagzeile zu Schlagzeile statt, so unterwandert der Brief mit seiner eigenen Existenz und seiner postalischen Adresse, der dpa, diese Aussage gleich wieder. Die Vorgänge im Januar 1972 hatten einen Ausgangspunkt in der im Text selbst vermerkten Person des verhafteten RAF-Mitglieds Karl-Heinz Ruhland und der Verbreitung seiner (angeblichen) Aussagen bei polizeilichen Verhören24. Gegen Ende 1971 war, wenn man dem RAF-Masternarrativ Der Baader-Meinhof-Komplex von Stefan Aust folgt, der Höhepunkt des Schlagzeilenkampfes mit der Ernennung des „Staatsfeindes Nr. 1“ erreicht: „Die Fahndung nach Terroristen wurde zum beherrschenden innenpolitischen Thema. Die ‚Welt am Sonntag‘ brachte es auf die Formel: ‚Bonner Geheimpolizei jagt Staatsfeind Nr. 1: Die Baader-Bande.“25 24 Karl-Heinz ‚Kalle‘ Ruhland wurde im Jahr 1970 als Mitglied der RAF verhaftet, später trat er als Belastungs- und Kronzeuge in Prozessen gegen weitere inhaftierte RAFTerroristen auf. Laut Stefan Aust wurden durch die Aussagen von Ruhland, der innerhalb der Gruppe als „ewig besoffen“ (S. Aust: BMK, S. 146) galt, nach dessen Verhaftung nicht nur Wohnungen durchsucht und Quartiergeber verhaftet, sondern sie „lieferten der Boulevard-Presse Tag für Tag Schlagzeilen“ (S. Aust: BMK, S. 158) und der Polizei hysterische Falschmeldungen über Aufenthalte von Bandenmitgliedern (ebd.). Durch den Vergleich Ruhlands mit van der Lubbe wird im Übrigen die Faschismus-Semantik weitergeführt („Faschisierung der parlamentarischen Demokratie“). Sie zählt zu einem der maßgeblichen Narrative des Selbstverständnisses der RAF, das sich folgendermaßen paraphrasieren lässt: Die Geschichte wiederhole sich, selbst unter der SPD-Regierung und Kanzler Willy Brandt nach 1969, aber die Stadtguerilla würde als wahrer antifaschistischer Vorkämpfer dieses aktiv zu verhindern wissen. 25 S. Aust: BMK, S. 159.
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An dieser Stelle lässt sich der Brief selbst und sein Einsatz im historiographischen Narrativ der RAF ausmachen. Baaders Text entstand in dem Moment der höchsten Popularität bei gleichzeitiger Verwirrung der staatlichen Organe und den ungehaltenen Spekulationen in Presseveröffentlichungen. Beispielhaft für die Einordnung und den Stellenwert zwischen Kriegserklärung und „Triumphpamphlet“26, wie das Schreiben in einem Artikel des Stern im Juni 1972 bezeichnet worden ist, sei erneut Stefan Aust zitiert. Im Baader-Meinhof-Komplex bekommt der Brief ein eigenes, wenn auch kurzes Kapitel. Über „Andreas Baaders Daumen“ ist zu lesen: „Ende Januar hatte ‚Bild‘ wieder Sensationelles zu berichten. Angeblich hatte sich Andreas Baader bei einem Hamburger Rechtsanwalt gemeldet. Er wollte den Kampf aufgeben und sich stellen. Das las auch Andreas Baader und war empört. Er schrieb an das bayerische Landesbüro der Deutschen Presseagentur und dementierte ‚Bild‘. Seinen Brief unterzeichnete er eigenhändig mit ‚A. Baader‘ und setzte seinen Daumenabdruck daneben. Der Abdruck war echt. […] Der Brief wurde in Millionenauflage von den Zeitungen verbreitet.“27
Klaus Stern ergänzt in seiner Baader-Biographie die Reaktionen auf Veröffentlichung von Auszügen aus dem Brief: „Tags darauf titelt ‚Bild: ‚Baader droht: Volkskrieg in Deutschland.‘ Beim BKA ist man verärgert: ‚Wir haben das als maßlos überzogen von seiner Seite eingestuft! So nach dem Motto: Was fällt denn dem Lümmel ein, uns da eine Kriegserklärung ins Haus zu schicken!‘ Die Vorbereitungen für die ‚Mai-Offensive‘ laufen bereits.“28
Der Vorlauf dieses Schlagzeilenkriegs vor den Attentaten, die Homonymie der „Anschläge“ und der „Typen von der RAF“, waren in der musealen Ausstellung 26 Jaenecke, Heinrich: „Die Baader-Story. Die Geschichte des Staatsfeindes Andreas Baader“ in: Der Stern Nr. 25 vom 11. Juni 1972, S. 28. 27 S. Aust: BMK, S. 215. 28 K. Stern: Baader, S. 173. Zwischen dem 11. und 24. Mai 1972 forderte die besagte „Mai-Offensive“, eine Anschlagserie auf US-Einrichtungen in Heidelberg und Frankfurt sowie auf Polizeistellen in Augsburg und München und schließlich auf das Hamburger Springerhochhaus, 4 Tote und 38 Verletzte. Nach einer Großfahndungsaktion („Aktion Wasserschlag“) am 31. Mai mit Beteiligung von mehr als 130.000 Polizisten wurden im Verlauf des Monats Juni mit Andreas Baader, Holger Meins, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt, Ulrike Meinhof beinahe alle Gründerpersonen der Ersten Generation der RAF verhaftet.
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in anderen Verkettungen präsentiert als in den historiographischen Erzählungen. Bei beiden stand jedoch sowohl Unterschrift als auch Daumenabdruck als Graphem für Echtheit und historische Authentizität im Blickpunkt. 3.1.2 Unterschrift: A. Baader Das Schriftstück erscheint signiert durch Andreas Baader mittels Unterschrift und Daumenabdruck. Er versah den Brief entgegen dem proklamierten Kollektivgedanken mit seiner individuellen Signatur und dem Abdruck seines rechten Daumens. Dies lässt sich für den Entstehungsaugenblick als ein Lebens- und zugleich Freiheitszeichen begreifen auf einem Dokument, das selbiges inhaltlich bekunden wollte und sich dafür mit einer Echtheit etablierte, wie dies beispielsweise durch eine Urkunde geschieht. Der erst durch das Signieren namhaft gewordene Autor Baader stellte sich demnach seine eigenen Papiere aus, er unterschrieb seine Kampfansage als personifizierter Staatsfeind Nr. 1 mit seinem Autogramm. Die Aussage, der Autor befinde sich im terroristischen Untergrund, war, wie bereits erwähnt, mehr als konstativ. In dem Moment, in dem gruppenextern mitgeteilt wurde, dass der Schritt in den terroristischen Untergrund vollzogen sei und in der Illegalität gelebt würde, trat das Verkündete auch ein. Der Sprechakt markierte die Grenzüberschreitung. So sind zwar weitere Rituale dieses Schritts überliefert, wie das Verbrennen des Personalausweises und die Annahme eines neuen, gefälschten Ausweispapiers oder aber das permanente Tragen einer Schusswaffe. Das waren Rechtsverstöße, die für die gruppeninterne Kommunikation als der Grenzübertritt in die Illegalität gelesen wurden. Nach außen blieb nur der Sprechakt. Baader bestätigte seine Untergrundexistenz durch den Akt des Unterschreibens und hielt sein Verweilen entgegen anderweitigen Vermutungen aufrecht. Er spitzte seinen Existenzstatus sogar noch zu, indem er eine Quasi-Kriegserklärung an die politischen Organe der BRD anhängte. Mit dem historischen Mehrwissen ist dieser Fingerabdruck zu interpretieren als das erste Einbringen eines (individuellen) Körpers in den terroristischen Kommunikationsprozess nach der Phase der „Körperlosigkeit“, die mit dem Fenstersprung von Baader, Meinhof und anderen als Akt des Entzugs aus dem öffentlichen Leben begann. Nach der Gefangennahme der „Ersten Generation“ setzte sich der Entzug mit seinem Gegenteil fort. Der Körper war das wichtigste Präsenz- und Kampfmittel: von Isolationsfolterkampagnen und Hungerstreiks bis zum letzten Gefecht im siebten Stock des Hochsicherheitsgefängnisses von Stammheim und schließlich der eigenen Tötung. Diese Auffassungen legen zugrunde, dass die Person Andreas Baader der Autor und Täter war. Er wird als das handelnde Subjekt fokussiert, und den Ma-
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terialien kommt eine Rolle als Medium im Sinne eines Mittlers zu. Das bedeutet aber, dass die Konvention vom Autoren als alleinigem Textverfasser sowie die zeitliche Einheit von Maschinentextverfassung, dann Signatur und schließlich Daumenabdruck akzeptiert und als Dokument dieses Vorgangs angenommen wird. Als Person ist und hat sich der terroristische Autor immer durch seine vermeintliche Abwesenheit ausgezeichnet. Dieser Adressierung via Bekennerbrief von Nicht-Präsens und Nicht-Habhaftwerdung des Terroristen durch Leben in einem Kollektiv im Untergrund liegt die paradoxe Konfiguration zugrunde, jene persönlich-leibliche Abwesenheit hinter den Bekennerschreiben aufgeben zu müssen zugunsten eines physischen Abdrucks, einer körperlichen Spur, mit der bezeugt werden soll, was nur mit einer persönlichen Einschreibung und dadurch Präsenz erreicht werden kann. Das Schriftstück selbst steht zum Kollektivgedanken und zur Abwesenheit im Gegensatz, es liegt sogar weiterhin bis in die Gegenwart vor und ist immer noch als technische Reproduktion verfügbar. Begriffen als eine Erklärung mit selbstproklamiertem Wahrheitsanspruch ist das Schreiben und Abschicken dieses Briefes Teil eines Vorgangs, in dem nicht mehr der Terrorist, auch nicht das Kollektiv RAF, sondern der Brief selbst Handlungsträger wird. Wenn eine Untergrundorganisation als im Aufbau begriffen benannt wird, existieren dieser Untergrund und die Organisation mit der Benennung. Dieses glückliche Vollziehen eines Statements ist mit dem Augenmerk auf Unterschrift und Daumenabdruck zu betrachten und erklären. Doch was machen diese beiden Spuren als lesbare Zeichen auf und mit dem Brief? Funktionieren sie als Dokument und Zeugnis, sowohl im Moment des Erscheinens als auch im historischen Wandel, beispielsweise als Medien der Ich-Konstruktion? Zunächst inszenieren beide einen Ursprung des Geschriebenen, der das zuvor formulierte „Ich“ des Textes authentifizieren soll, indem sie dessen Anwesenheit und Kontakt indizieren. Gerade die Signatur ist Indikator und erwirkt das sprachliche Performativ dieses Schriftstücks. Als Sprechakt begriffen kann der Unterschrift eine Ersetzungsfunktion für den Sprecher der Aussage eingeräumt werden. So reflektiert der Linguist J.L Austin über die Erscheinungsformen der grammatisch ersten Person im Zuge einer performativen Äußerung, insbesondere für schriftliche Verfahren: „Wo die sprachliche Formulierung der Äußerung auf den Sprecher und damit den Handelnden nicht mit Hilfe des Pronomens ‚ich‘ (oder mit seinem Eigennamen) hinweist, da wird diese Beziehung durch eines der beiden folgenden Mittel hergestellt: […]
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(b) in schriftlichen Äußerungen (‚Inschriften’) dadurch, dass er unterzeichnet. (Tun muß man das natürlich deshalb, weil schriftliche Äußerungen nicht so an ihren Ursprung gebunden sind wie mündliche.)“29
Das „Ich“ bleibt im Rahmen des maschinengeschriebenen Teils des Baader Briefs zunächst namenloser Teil eines Kollektivs, wenn auch durch die geschilderten Umstände des Verfassers einige Rückschlüsse auf seinen Namen und damit die Person möglich sind. Doch erst durch die leserliche Unterschrift „A. Baader“ wird daraus eine identifizierbare Identität, ein Signifikant aus dem terroristischen Milieu. Zugleich ist die Signatur lesbar als die Setzung einer authentifizierbaren Originalität, die das Sprechen des Textes zu verantworten hat. Diese Verantwortung kann einer bestimmten Person zugesprochen werden. Somit eröffnet das Schriftstück auch auf diese Art den Führungsanspruch des Unterschreibers und es wird eine Dokumentation seines Befehlsmonopols in einer hierarchischen Struktur. Wenn also die Unterschrift als das Medium „der Autorisierung und der Authentifizierung“30 gelesen wird, dann ist dieser spezielle Fall durch Andreas Baader die Eigenautorisierung eines Führungsanspruchs und Wahrheitsmonopols zugleich. Diese Auffassungen sind dem Begriff der Unterschrift als unmittelbare Fährte recht eng verhaftet. Die Konvention von der Ursache-Wirkung-Relation einer Signatur, nämlich „ihre Beziehung zur Anwesenheit und zur Quelle“31, wurde von Jacques Derrida einer kritischen Analyse unterzogen. Er bemerkt im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie: „Eine geschriebene Signatur impliziert per definitionem die aktuelle oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners. Aber, wird man sagen, sie kennzeichnet – und bewahrt auch sein Anwesend-Gewesen-Sein in seinem vergangenen Jetzt [maintenant], welches ein zukünftiges Jetzt bleiben wird, also in einem Jetzt im allgemeinen, in der transzendentalen Form der Jetztheit/Bewahrung [maintenance]. Diese allgemeine Jetztheit/Bewahrung wird in der immer offensichtlichen und immer einmaligen Punktualität der Unterschriftsform gewissermaßen eingeschrieben, aufgespießt. Darin liegt die rätsel29 Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2002, Stuttgart: Reclam 2007, S. 80. 30 Macho, Thomas: „Handschrift-Schriftbild. Anmerkungen zu einer Geschichte der Unterschrift“ in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sibylle Krämer (Hg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S. 413-422, hier S. 413. 31 Derrida, Jacques: „Signatur Ereignis Kontext“ in: Ders., Die différance, Stuttgart: Reclam 2004, S. 68-109, hier S. 103.
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hafte Originalität aller Paraphen. Damit die Anbindung an die Quelle hergestellt wird, muß daher die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses und einer Unterschriftsform festgehalten werden: die reine Reproduzierbarkeit eines reinen Ereignisses.“ 32
Derrida verweist darauf, dass es Signaturen selbstverständlich gibt, dass es ebenso zwar Unterzeichnungsereignisse gibt und ihre Wirkungen die „alltäglichste Sache der Welt“33 sind. Die Möglichkeitsbedingung dieser Wirkung ist jedoch, so die entscheidende Wendung Derridas in der Argumentation zur Unter-Schrift, genau die Unmöglichkeit der oben zitierten „Reinheit“. Sie wohnt der Unterschrift ebenso wenig wie dem gesprochenen oder dem auf irgendeine Art geschriebenen Wort inne: „Um zu funktionieren, das heißt um lesbar zu sein, muß eine Signatur eine wiederholbare, iterierbare, imitierbare Form haben; sie muß sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion loslösen können.“34
Dass ein Papier handschriftlich unterschrieben worden ist, heißt in letzter Konsequenz nicht vielmehr, an Signaturformen die gleichen Kriterien in Bezug auf „Kontext“, „Ereignis“, „Autor“ an das Medium Schrift anzulegen wie an maschinengeschriebene, gedruckte oder sonstige. Damit ist schließlich und letztendlich auch ihre „Kommunikation“ dementsprechend nicht anders zu beurteilen: „Schreiben ist das Produzieren eines Zeichens [marque], das eine Art Maschine darstellt, die ihrerseits produktiv ist und die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert werden wird, zu funktionieren und sich lesen und umschreiben zu lassen.“35
Als eine eigene Produktion, als das wirkmächtige (Um-)Schreiben in den drei historischen Funktionszusammenhängen von terroristischem Kommunikationsversuch, von Beweismittelerhebung im Terrorismus-Ermittlungsverfahren und vorerst letztlich als Teil der Verfügbarmachung einer terroristischen Vergangenheit ist auch diese Signatur „A. Baader“ vorgestellt. Sie kann darin sowohl unter verschiedenen Strategien mit anderen schriftlichen „Kontexten“ gelesen werden,
32 Ebd. 33 Ebd., S. 104. 34 Ebd. 35 Ebd.
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indem sich die Unterschrift in andere „Ketten“ „einschreiben“, „herauslösen“ oder „aufpfropfen“36 lässt. Aber wie ist die Unterschrift „A. Baader“ als Schriftzeichen nicht nur oder vorwiegend in ihrem Bezug auf den Text verkettbar, sondern auch auf den Daumenabdruck? Kann für ihn dasselbe wie für die Schriftzeichen geltend gemacht werden? 3.1.3 Daumenabdruck Unter den nicht-schriftlichen Abdrücken war und ist besonders der Fingerabdruck im Zusammenhang mit Kriminalität und Verbrechen prominent. Carlo Ginzburg erstellte seine Historie in ihren verschlungenen Pfaden. Seit dem Einzug in das Feld der sich wissenschaftlich gerierenden Analyse, also ab den 1820er Jahren durch die Untersuchungen von Jan E. PurkynƟ, sind Fingerabdrücke als das „geheime Kennzeichen der Individualität in den Linien der Fingerkuppe“37 gelesen und verschiedenartig praktisch verwendet worden. Verbunden mit Namen wie Francis Galton und William Herschel, wurden die Fingerabdrücke ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Klassifizierungsdaten in Aufgaben der Verwaltung und als Identifizierungsdaten für polizeiliche Verfahren eingesetzt. Nach Ginzburg machten sie einen maßgeblichen Teil der Etablierung von „Techniken von Identität und Individualität“38 aus. Fingerabdrücke sind in dem Kontext der Kriminalistik seit der „Methode Bertillion“ bis heute als probates Mittel in der Strafverfolgung anerkannt. Vergleichbar mit Unterschriften in ihrem Status als „Urheberzeichen“39 verweisen Fingerabdrücke, insbesondere auf Urkunden, auf „den Urheber, die Autorität, den Autor“40 und autorisieren oder authentifizieren diesen zugleich. Die Unterschrift wiederum mag sich unter Umständen zwar aus dem Abdruck von Körperteilen entwickelt haben, wahrscheinlicher hat sie sich aber eher in Abgrenzung zu dieser Art von graphischer Spur etabliert:
36 Ebd., S. 84. 37 Ginzburg, Carlo: „Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst“ in: Ders., Spurensicherungen. Über Geschichte, Kunst und Soziales Gedächtnis, Berlin: Wagenbach, 1988, S. 78-125, hier S. 113. 38 Ebd., S. 109. 39 Ebd. 40 Ebd.
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„Im Fall der Unterschriften soll das Dispositiv des Abdrucks vielmehr eine Markierung generieren, die auf einen Urheber verweist – ein Zeichen, das nicht mit einer ungewollt erzeugten Spur verwechselt, sondern geradezu als eine bestimmte, individuelle Signatur entziffert und gelesen werden kann. Während wir sonst darauf achten, keine ‚verräterischen‘ Spuren zu hinterlassen, sollen Abdrücke der Urheberzeichen und Unterschrift von vornherein ‚verraten‘ und anzeigen, wer sie gesetzt hat.“41
Der Fingerabdruck, der also längst in den technischen Verfahren der sozialen Kontrolle, insbesondere der polizeilichen Arbeit seinen Platz gefunden hatte, wurde in dem Schreiben Baaders nicht zufällig eingesetzt. Jedoch allein die Nähe der drei graphischen Zeichen Type (zurückführbar auf eine bestimmte Schreibmaschine), Unterschrift (zurückführbar auf die Führung eines Stiftes mit einer bestimmten Hand) und Fingerabdruck (zurückführbar auf ein bestimmtes Körperteil) beweist als Spur auf einem Blatt wenig. Die Gleichzeitigkeit von Zeit und Ort und Person in diesen Abdrücken bleibt ein nicht ersichtlicher Umstand. Diese Einheit ist die zu akzeptierende Konvention, sie bleibt der hinzuzufügende Kontext beim Betrachten und Lesen – der immer auch anders denkbar sein könnte. Die Kuppenlinien auf dem Blatt ‚sagen‘ also wenig an sich aus durch ihr reines Vorhandensein. Dem kann auch die polizeiliche chemophysikalische Analyse des Briefpapiers durch das Bundeskriminalamt wenig hinzufügen. Nur als Spuren des Untersuchens mit der Kenntlichmachung anderer Fingerabdrücke bleiben sie auf dem archivierten Originalbrief sichtbar, wohlweislich mit dem Vermerk: „Der Brief sollte nun nicht mit ungeschützten Händen angefasst werden, weil sich sonst neue Fingerabdrücke entwickeln, die jedoch ohne beweiswert [sind, Erg. d. Verf.]“. Die Lücken im Identifizierungsprozess und in der Auffassung von Authentizität liefert der Brief mit diesen Bemerkungen der kriminaltechnischen Untersuchung auf seiner archivierten Version gleich mit. Dies wird der Grund gewesen sein, aus dem die Ermittlungsvermerke in der Präsentation als historisches Dokument im Bonner Haus der Geschichte retuschiert wurden. Oder, um die Diskussion dieser Zeichenhaftigkeit mit Derridas Worten zu beenden: „Das heißt nicht, daß das Zeichen [marque] außerhalb eines Kontextes gilt, sondern ganz im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.“42 Was passiert in der hier betrachteten Verkettung von Spuren? Was ereignet sich, wenn dieses Schriftstück in eine Schreibmaschine eingespannt ausgestellt wird und zwar genau so, dass vor allem das Schreibmaschinen-Brief-Ensemble mit dem Vermerk eines authentischen Zeugencharakters in einem Museum zu 41 T. Macho: Handschrift, S. 415/416. 42 J. Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 89.
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sehen ist, beziehungsweise wenn es in dieser Konstellation als Photographie in eine Zeitgeschichte einleitet? Durch das Ausstellungsstück wird eine Neubewertung vom „Kontext“ des Schreibaktes initiiert. Die Schreibmaschine überdeckt und ersetzt die IchIdentifizierung von Signatur und Abdruck, beziehungsweise sie verschiebt diese Operation. Das präsente Objekt Schreibmaschine von Andreas Baader mit seiner dem zeitlichen Verfall relativ resistenten Materialität ersetzt in der vorliegenden Musealisierungsoperation eine Organisation wie die RAF oder eine Person wie Andreas Baader als Herkunft und Quelle. Der organische Körper hinterlässt weniger stabile und verlässliche Zeichen als diese Maschine. Im Vergleich zu Körperabdrücken ist die Schrift der Schreibmaschine immer gezielt und höchst selten wandelbar – oder gar aus Versehen eingesetzt. Die Schreibmaschine hinterlässt mit ihren Buchstaben abgedrückte Zeichen, aus denen sich Sinn konstanter produzieren lässt als aus den anderen beiden Verfahren. Gleichsam werden der Unterschrift und dem Abdruck erlaubt, in der Ausstellung zur Geschichte des RAF-Terrorismus sichtbar zu sein. Sie tauchen im Museumsarrangement peripher auf, werden retuschiert aus der Umnachtung des Archivs befreit, um die aus ihrer Medialität selbst resultierende Infragestellung von Indexikalität und Körper nicht im Zuge des musealen Betrachtens offensichtlich werden zu lassen. Die Iterabilität des Schriftbildes wäre durch die Schreibmaschine gegeben, mehr allerdings auch nicht. Eine „Kette“ entsteht erst durch die anderen Exponate der Ausstellung, aber wohlgemerkt nur eine „Kette“43.
43 Jene Infragestellung von ‚Offensichtlichkeiten‘ dieses Schriftstückes hat durchaus auch andere prominente Orte gefunden. Ganz anders geartet als das Ausstellungsarrangement ist beispielsweise die Sichtbarkeit des „Fingerabdruck-Briefs“ im Bildband „Hans und Grete“ (Proll, Astrid: Hans und Grete. Bilder der RAF 1967-1977, Göttingen: Steidl Verlag, 1998, S. 84/85.). Ihre Anordnung des Materials auf einer Doppelseite steht sowohl Stefan Austs Narrativ im Baader-Meinhof-Komplex als auch dem Bonner Museumswerk entgegen. Proll konfrontiert eine Photographie des Briefes mit einem Photoportrait von Andreas Baader. Das Photo des Briefes zeigt einen Ausschnitt des Textes, ohne jedoch ganze Sätze und damit Aussagezusammenhänge erkennbar werden zu lassen. Allein Schlagworte wie „politisch-militärische Strategie“, „Widerstand“, „Demokratie“ und „Rote Armee im Volkskrieg“ stehen in der Bildmitte. Darunter sind, ebenfalls abgeschnitten, die Unterschrift „A. Baader“ und der Fingerabdruck zu erkennen. Rechts neben dieser Inszenierung ist ein Photo von Andreas Baader in einer Achse angeordnet, so dass er auf seine eigene Unterschrift zu blicken scheint. Proll stellt mit ihrer dezidiert photographisch-bildhaften Arbeit die Frage von Original und Reproduktion in eine andere Form und eröffnet mit ihrem Arrangement
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Auf diese Erkenntnisse aufbauend und sie weiterführend, wird der Schwerpunkt der kommenden beiden Kapitel auf zwei Texte gelegt. Als jeweils eine eigene „Produktion“, die umschreibt und die diese Umschreibungsmaschinerie zugleich reflektiert in ihrem Einsatz für den RAF-Terrorismus und dessen Historiographie, werden Texte von Bernward Vesper sowie Texte von Rainald Goetz gelesen. Sie verfolgen und legen eigene Spuren abseits von Ereignisgeschichten und Biographien. Als mit diesen anderen schriftlichen „Kontexten“ inszenierte Brüche aufgefasst, sind es Texte, die sich – um hier wiederholt das Vokabular Derridas als Leitgedanken für die folgenden Kapitel zu verwenden – in andere „Ketten“ „einschreiben“, „herauslösen“ oder „aufpfropfen“44 und darin eine eigenständige Produktivität von RAF-Geschichte entfalten.
3.2 D IE R EISE
VON
B ERNWARD V ESPER
das buch wird jetzt veröffentlicht. die haut der schlange, die ich zurücklasse. ich lese es, als wäre es das leben eines andern. noch einmal: richtig oder falsch, es zu veröffentlichen. alle argumente, die für ‚falsch‘ sprechen haben ihre wurzel in der angst, einen fehler zu begehen: indem ich in diesem buch ein ‚ich‘ in die welt setze, von dem ‚ich‘ mich nie mehr befreien kann. BERNWARD VESPER: KARTEIKARTE 39 DES EPPENDORFER NACHLASSES.
Die Reise zur historiographischen Urszene der RAF führt weder in das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, wo schon allein das Material der Sondersammlung „Protest, Widerstand und Utopie in der BRD“ zirka eintausend Regalmeter einnimmt, noch in das Archiv des International Institut of Social History in Amsterdam, ein Ort, an dem die Stammheimer Bibliothek eingelagert wurde und an dem das ehemalige RAF-Mitglied Ronald Augustin über 17.000 Seiten Veröffentlichungen von und über die Rote Armee Fraktion zusammenstellte. Es geht weder um eine breite Menge an Textmaterialien noch darum, das bisher Unbekannte aus dieser Fülle zu entdecken. Das Manuskript der historiographischen Urszene ist in Marbach im Deutschen Literaturarchiv gelagert. Die geographische Nähe vom Stammheimer Gefängnisbau, vom Staatsarchiv Lud-
eine Verschiebung in Bezug auf „Kontext“, „Identität“ sowie deren Archivierungsund Ausstellungswert. 44 Vgl. J. Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 84 ff.
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wigsburg, das für die Sicherung der Überlieferung aus dem Hochsicherheitstrakt zuständig ist und ebenso von Bad Canstatt, dem Geburtsort von Gudrun Ensslin, ist dabei Zufall. Und wie es ebenfalls ein Zufall will, begrüßt auf der Marbacher Schillerhöhe eine Tafel mit einem Schillerwort die interessierten Besucher: „Wo die Tat nicht spricht, da wird das Wort nicht viel helfen.“ Mit diesem Ausspruch ist der Verhandlungsgegenstand beziehungsweise die folgende Lesedisposition der in drei Kladden aufbewahrten über vierhundert Schreibmaschinenseiten bestens problematisiert. Es gilt zu ergründen, wie Bernward Vesper sein Projekt Die Reise zusammenstellte, jenen Textversuch, der in Teilen als erstes zeitnahes Aufzeichnungsverfahren und historiographisches Projekt von der Formierungsphase von militanten politisierten Strategien und Aktionen in der BRD gelesen werden kann – und der sich damit zugleich an den Beziehungen von Tat und Wort abarbeitete. 3.2.1 Die Vorstellung eines Textes Das Buch, sein einziger Roman, verkaufte sich im Sommer 1977 sehr schlecht. Bernward Vesper hatte sich am 15. Mai 1971 in der Psychiatrie in HamburgEppendorf das Leben genommen. Danach hat der Herausgeber Jörg Schröder sechs Jahre über dem hinterbliebenen Erbe eines unvollendeten Werkes gesessen, um es als „Romanessay“ endlich heraus zu bringen. Ein Projekt, das Vesper im Jahr 1968 Schröders März-Verlag schon im ersten Kontaktschreiben in großen, ja größenwahnsinnigen Worten angepriesen hat: „Ich arbeite zur Zeit an der ersten Hinschrift eines mühsam mit ‚Romanessay‘ bezeichneten Textes namens: TRIP. Es ist die versuchsweise genaue Aufzeichnung eines 24stündigen LSD-Trips, und zwar sowohl in seinem äußeren wie in seinem inneren Ablauf. Der Text wird dauernd durch Reflexion, Aufzeichnung aus der momentanen Wahrnehmung usw. unterbrochen; im gesamten Inhalt erscheint aber deutlich meine Autobiographie und daraus folgend die Gründe, warum wir jetzt aus Deutschland weggehen etc. (wir sprachen kurz darüber). Ich nahm den Trip mit einem amerikanischen Juden in München (!). Diese erste Niederschrift will ich dann in weiteren Trips umdiktieren, bis eine ‚endgültige Form‘ erreicht ist. Das stellt, wie jeder, der Erfahrungen hat, weiß, eine ungeheure psychische und physische Anstrengung dar. Man muß mit Tonbändern arbeiten etc. Das Buch wird dann aus den Texten seitenweise hergestellt, weil es als Ausdrucksmedium mit dazutreten muß. Ich will auch Bilder beifügen (eigene) usw., die sich auf Orte und Situationen beziehen (LSD-Zeichnungen). Das ganze – dies zum Verleger – ist mir sehr wichtig, weil es doch etwa 30 Jahre aufarbeitet. Ich nehme an, dass für oberflächliche ‚Le-
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ser‘ die Sache dadurch interessant wird, dass die gesamte Wirklichkeit des Erlebens (von Ginsberg bis Schiller, Bloch bis Grass) auftaucht. Ein ungeheuer ausgearbeiteter Report wie jener vor dem Frankfurter Gericht. Da er im Hinblick auf einen Amerikaner entstand, kann er vielleicht auch im Ausland Interesse erregen. Dazu kommt die blödsinnige (verständliche) Neugier der Leute an den Rauschgiften, unter denen sie sich sonst was vorstellen, und dass natürlich die Presse etc. darüber herfallen wird, dass ein Buch eines ‚Linken‘ so entstanden ist. Ich halte das hingegen für einen der Versuche, (historisch gesprochen): Abstand von der Zeit zu nehmen, um die eigenen Verhaltensweisen, also die ‚Politik‘, zu überprüfen usw.“45
Vesper begann zu schreiben, zu sammeln, zu zeichnen. Als alleinerziehender Vater des Sohnes Felix zog er stets mit leerem Geldbeutel unruhig von Ort zu Ort. Dieses Selbstbild eines reisenden, suchenden „Ichs“ namens „Vesper“ setzte Bernward Vesper mit seinem Vorhaben in die Welt, sein Nachlass und seine biographische Selbstinszenierung lassen sich kaum voneinander befreien. Vesper hatte von Anfang an sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart in dem Projekt bedacht. Aber seine eigene Zukunft nicht: Die Arbeit an und mit seinem Buch, das Leben mit und an der Arbeit, die gleichzeitig Arbeit mit und an LSD war, ebnete dem Autor den direkten Weg in die Psychiatrie – und dort nach kurzer Zeit den selbst gewählten Tod. Oder war sein Leben gar seinem Romanhelden „Bernward Vesper“ gefolgt?46 45 Vesper, Bernward: Die Reise – Ausgabe letzter Hand. Reinbek bei Hamburg, 1983. S. 603/604. 46 Vergleichbares findet sich in Bezug auf seine Psychose. Das Verwahrungsgericht München hielt auf dem Formular zur Einweisung mit der Diagnose „Katatonischer Schub (Drogeneinfluß nicht ausschließbar)“ fest, dass Vesper am 21.2.71 randalierend aufgefunden wurde, nackt im Garten tobend, Dinge zerschlagend, sich selbst und andere verletzend: „Er bezeichnete sich als Jesus und Sohn Gottes. Als er von der Polizei ins Haus verbracht wurde, sprang er mit beiden Füßen auf ein im Flur stehendes Fernsehgerät und beschädigte das Gehäuse ganz erheblich.“ Doch schrieb er bereits am 29.6.70 unter Einfluss von Haschisch und „Mikro Meskalin“ einen Trip durch den Garten Gethsemane: „und ich wusste, dass ich nur noch wenige stunden zu leben hatte. […] und im coma überblickte ich mein ganzes leben und alles, was ich gemacht hatte und sah, dass es gut war und zeit zu sterben. und ich sah im weiß der wolke über den baumkronen den VATER und ich breitete die arme aus, kniete ins gras und flüsterte: ‚vater, ich bin gekommen, ich bin jesus!‘ und der himmel schloß sich vor meinen augen wie zwei aluminiumweiße baggerschaufeln und ich rief ‚warum hast du mich verlassen‘ und mein körper krümmte sich und ich wälzte mich im gras und
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„Ich merkte, daß dies eine gute literarische Geschichte war, an deren Ende die Szene auf der nächtlichen Straße, als der Mond über dem Golf stand und ein ‚allen unbegreiflicher Selbstmord‘ [sich sehr gut machen würde].“47 „/ende des romans: der held stirbt – aus verzweiflung, verwirrung, schmerz, depression. grund genug hätte er, merde!“48
Hätte Vesper die Arbeit an seinem Buch überlebt, würde er feststellen, dass sich die namenlos gebliebene Form seiner ambitionierten Versuche zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter einem Wort spekulativ subsumieren ließen: ‚Blog‘. Ein öffentlich einsehbares und instantan publiziertes tagbuchartiges Journal aus Texten, Bildern, Sounds und Querverweisen aller Art im Internet. Vesper wäre wohl begeisterter Blogger geworden. Gab es zwar noch kein elektronisch vernetztes Hypertext-System, so war der zweite Teil dieses Kofferwortes für ihn bereits gewiss und sollte zum Charakteristikum seines Buches werden. In einem seiner letzten Briefe an den Verleger Schröder schrieb er aus der Hamburger Klinik am 6. März 1971: „Übrigens, der endgültige Titel ist Logbuch.“49 Bernward Vespers langjährige Freundin, die Mutter von Felix, hatte beide 1968 für einen Anderen und für etwas Anderes verlassen. Doch dazu findet sich nur eine einzige Notiz im Nachlass. Handschriftlich wurde auf der hundertdritten von einhundertvier Karteikarten im DIN-A5 Format notiert: „Frau apokalyptische vision von endkampf – dieser unmaterialistischen annahme wurde felix geopfert“50. Diese Frau saß als berüchtigte Berühmtheit im Sommer 1977 in einem der sichersten Gefängnisse der Republik. Doch nachdem sie, Gudrun Ensslin, am 18. Oktober tot in ihrer Zelle im siebten Stock des Gefängnisgebäudes in Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden wurde, verkaufte sich sein Buch. Es verkaufte sich sehr gut sogar und wurde schon nach kurzer Zeit in Besprechungen als „der Nachlass einer ganzen Generation“51 gepriesen. Das Buch wiederum zu lesen hieß und heißt, mit Die Reise die jüngere Geschichte verstehen können zu wollen: Vespers Werk galt in Rezensionen und Aufsätzen als ein beinahe einzigartiges „Dokument“. Dieser Lesedisposition nach ist seit mittlerweile über dreißig Jahren geschlussfolgert worden, was Gerd Koenen folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Die Reise [...] avancierte über schrie.“ (Deutsches Literaturarchiv Marbach [im Folgenden DLA abgekürzt], Originalmanuskript S. 163) 47 B. Vesper: Reise, S. 21. 48 DLA, Rückseite der Seite 191 des Originalmanuskripts. 49 B. Vesper: Reise, S. 618. 50 DLA, A:März 125 p/q. 51 Vesper: Reise, S. 625.
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Nacht zum Generationsdokument par excellence, zu einem protokryptischen Familienroman, worin der rebellische Sohn am faschistischen Vater und der restaurativen Gesellschaft zerbricht und stirbt. Anti-Ödipus, Anno 1968.“52 Große Teile des Nachlasses von Bernward Vesper hatte Jörg Schröder dem Marbacher Literaturarchiv übergeben, so wie einst Bernward Vesper den Nachlass seines Vaters Will Vesper, einem dem NS-Regime treuen Schriftsteller, in Marbach deponierte. Mittlerweile lagern im Literaturarchiv aber überwiegend Kopien, denn die Originale sind im Besitz von Felix Ensslin aufbewahrt. Allein den Besitzverhältnissen nach handelt es sich um einen Generationsroman und ein Familiendokument! Die Vorstellung nun, dass beinahe alles Entscheidende zum großen Phantasma ‚1968‘ und den daraus resultierenden Entwicklungen in diesem einen Werk vereint wurde, ist ohne weiteres übertragbar auf dessen Einordnungen in eine Textsorte. Als Autobiographie, Reisebericht, Tagebuch, psychedelische Offenbarung, Bildungsroman, Schelmenroman und Briefroman ist Vespers Buch gelesen worden. Über das Erzählende hinausgehend vermerkte der Autor selbst noch den Versuch einer kulturwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Analyse53 für einen universitären Rahmen. Und in der Gestaltung des Buches setzte sich der Anspruch fort: Nicht allein Druckbuchstaben sollten die Typographie bestimmen, vielmehr sah Vesper von Anfang an eine Text- und Bildcollage54 vor. In seinem Nachlass finden sich Zeitungsausrisse aus Spiegel, Bild, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau, daneben farbige Zeichnungen, Briefe, Karten, Flugblätter, Photographien, Aquarelle. Sie alle hätten neben den Manuskriptseiten zur „endgültigen Form“ beitragen sollen. In diese heterogene, ausufernde Vielheit ergänzt sich das Erzählte. Die Reise wurde in fünf „Erzählebenen“55 durch ein erzählendes „Ich“ namens „Vesper“ 52 Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2003, S.13. 53 Vesper dokumentierte seinen Anspruch: „Dieses Buch ist in einer den Vorschriften über die Anfertigung von Dissertationen entsprechenden Ausfertigung der Philosophischen Fakultät der Freien Universität zwecks Erlangung eines Doktorgrades vorgelegt worden.“ (B. Vesper: Reise, S. 7) 54 „Zur typographischen Technik, Montage von Photos, Briefen, Karten, etc., etc. bin ich noch kaum gekommen, doch habe ich davon schon ganz genaue Vorstellungen, das ist ja auch das, was nachher am meisten ‚Spaß‘ macht“ (Brief von Bernward Vesper vom 11.9.1969 an Karl Dietrich Wolff. B. Vesper: Reise, S. 607). 55 Vesper selbst stellte sich den vorläufigen Aufbau laut einem Brief an die Herausgeber zunächst in drei Ebenen vor: „1. Erzählebene: Der Bericht der realen Reise. […] 2. Erzählebene: die sogenannten ‚Trips‘ – Einblendungen, die aus dem großen Trip abzweigen (psychedelische Reise), die mit einem Schlag ganze Abläufe erhellen […] 3.
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gestaltet. Neben den vielzähligen Reisen durch Deutschland und Europa, nur unterbrochen von kurzen Zwischenstopps sowie diversen Drogen-Trips, nimmt ein sogenannter „Einfacher Bericht“ einen Großteil der Erzählzeit ein. Die langen Abschnitte dieses „Einfachen Berichts“ bestehen aus der Biographie des Aufzeichnenden, angefangen in frühen Kindheitstagen. Unterbrochen werden diese Rückblicksebenen, die eine große Abrechnung mit dem Elternhaus und der Adenauer-Ära ergeben, durch die Thematisierung tagesaktueller Ereignisse der Aufzeichnungsgegenwart und die dazugehörigen Reflexionen des Erzählers sowie schließlich ausgiebige Überlegungen über die Möglichkeiten von erzählerischen Verfahren. In einem Brief an den März-Verlag nennt Vesper seine Technik „Montagetechnik“56, bei der vom Arbeitsablauf her „in einem späteren Stadium, beim Umdiktieren, eine allgemeine Verschmelzung der drei Ebenen eintreten“57 sollte. Im Übrigen sind viele Manuskriptelemente mit Daten versehen und dazu die Haschischsorten ergänzt, die gerade konsumiert wurden. Roman Luckscheiter resümiert den Roman und seine Varietät in Erscheinung und Inhalt als „Dokument“ für zweierlei – und auch er ist dabei der Ansicht, „alles“ sei in diesem Roman zu finden: „In ihm spiegeln sich zahlreiche Facetten wider, die sowohl für die Protestbewegung als auch für die postmoderne(n) Ästhetik(en) relevant sind.“58 Über siebenhundert Seiten Nachlass von Bernward Vesper: Ein Magnum Opus eines zu früh verstorbenen Schriftstellers und zugleich Opus Magnum für eine kulturrevolutionäre Epoche? Wenn in einen Text so viel hineingelesen werden kann, dass der Autor retrospektiv zwischen Kronzeuge und Seismograph angesiedelt wird, dann erscheint Erzählebene: sie gibt die ‚momentane Wahrnehmung‘ wieder und stützt die beiden anderen durch neues Material […]“ (B. Vesper: Reise, S. 606/607). Zur ausgiebigen Analyse der Ebenen vgl. Luckscheiter, Roman: „Fliegender Teppich oder Versuch einer Reise in die Postmoderne: Bernward Vespers Romanessay ‚Die Reise’“, in: Ders., Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung, Berlin: Duncker und Humblot 2001, S. 121-167. Auch zu Fragen der Gattungseinordnung, der Gestaltung und Einordnung in die literarische Tradition und in poetologische Gegenwartstendenzen gibt Roman Luckscheiter Analysen. Detaillierte formale Analysen mit Augenmerk auf der Erzählinstanz und den Erzählebenen liegen vor durch Guntermann, Georg: „Tagebuch einer Reise in das Innere des Autors. Versuch zu Bernward Vespers ‚Romanessay‘ ‚Die Reise’“,: in: Besch, Werner/ Moser, Hugo/Steinecke, Hartmut/von Wiese, Benno (Hg.): Zeitschrift für deutsche Philologie, 100. Band 1981, Berlin: Erich Schmidt 1981, S. 232-253. 56 B. Vesper: Reise, S. 606. 57 Ebd., S. 607. 58 R. Luckscheiter: Fliegender Teppich, S. 121.
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es auch wenig verwunderlich, wenn die Geschichte des Buches neben den vielen Verständnissen auch als Geschichte seiner Missverständnisse erscheint. Georg Guntermann hatte schon 1981 auf die Probleme verwiesen, die bei der Rezeption und Rezension des von der Akademie für Sprache und Dichtung zum Buch des Monats Februar 1978 gewählten Textes auftraten: „Die Gesichtspunkte jedoch, auf die sich die Literaturkritiker für ihre Beurteilung stützen, erscheinen mitunter willkürlich aufgesetzt, eher zufälliger Lesedisposition als kategorialer Sicherheit entsprungen.“59 Zugespitzt lassen sich zwei dichotome Lesarten und daraus resultierende Schlussfolgerungen finden. Geradezu exemplarisch standen sie sich in den feuilletonistischen Rezensionen im Jahr 2005 anlässlich einer Neuauflage der sogenannten Ausgabe zweiter Hand60 gegenüber. Auf der einen Seite offenbarte sich ein Dokumentationscharakter, der sich aus der Reise als authentischem Protokoll eines bestimmten Milieus und seines Denkens zu einer bestimmten Zeit ergab: „Auch deshalb ist es gut, dass nun ein Reprint dieses linken Klassikers erschienen ist – zum besseren Verständnis sozusagen. Denn hier ist gar nichts kryptisch oder subkutan. Im Gegenteil, in diesem Buch protokolliert Vesper in entlarvender Offenheit den Versuch eines Selbst-Exorzismus […]. Anstatt der wachsenden Sekundärliteratur sollte man vielleicht einfach wieder einen Blick in den Originaltext werfen: in dieses hybride, ausfasernde Konvolut aus Zeichnungen, Rechnungen, Briefen, Zeitschriftenschnipseln, Reisebeschreibungen, Reminiszenzen an die Triangeler Kindheitszeit, Rauschbeobachtungen etc. ‚Die Reise‘ liest sich nicht immer spannend, ist nicht zuletzt in den reflexiven Passagen bisweilen zäh, verliert aber nur selten – vielleicht gerade wegen der Unfertigkeit – an Überzeugungskraft, die sich wohl vor allem daraus speist, dass hier Authentizität nicht nur literarisch behauptet, sondern tatsächlich eingelöst wird; dass Vespers Ringen um seine Existenz eben keine Fiktion ist, sondern der Ernstfall.“61
Das Gegenteil wurde zeitgleich in einem anderen Zeitungsartikel durch die Betonung der fiktionalen Möglichkeiten in der Kunstform „Roman“ expliziert:
59 G. Guntermann: Reise in das Innere, S. 233. 60 Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine Erweiterung beziehungsweise Anreicherung des Textes des unvollendeten Originalmanuskripts mit Notizen, Aufzeichnungen u.ä., die Jörg Schröder sechs Jahre nach der Erstveröffentlichung publizierte. 61 Schäfer, Frank: „Verseuchtes Leben“, in: taz Nr. 7611 vom 10.03.2005.
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„Es liegt nahe, dass einer Bernward Vesper, den Autor, mit Bernward Vesper, der Romanfigur, verwechselt, und wenn man arbeitshypothetisch von der Identität beider Figuren ausginge, hätte man natürlich noch ein paar Fragen an das Buch. […] Aber ‚Die Reise‘ ist ein Roman und keine Beichte, und dass Schröder das Buch im Untertitel ‚Romanessay‘ nannte, ist nur dem Umstand geschuldet, dass der Versuch, einen Roman zu schreiben, nicht ganz vollendet wurde. […] Natürlich, es ist ein Wahnsinn, dieses Buch, das seinen Leser anstrengt, aufregt, manchmal hochgradig verwirrt, es ist ein Wahnsinn, so wie Rainald Goetz’ ‚Irre‘ ein Wahnsinn ist und Christian Krachts ‚Faserland‘ auch – und natürlich bohrt es sich so tief hinein in die deutschen Seelen, die deutschen Köpfe, bis es an den Punkt gelangt, wo es furchtbar weh tut, […].
Natürlich erzählt dieses Buch von einem sehr deutschen Wahnsinn und von einem sehr deutschen Leiden daran. Aber dass ihm das gelingt, ist nicht Bernward Vespers Wahn. Es ist Bernward Vespers Kunst.“62 Unbezweifelbar hat Die Reise fasziniert und ist so selbst zu Ausgangsmaterial und Sujetvorgabe unterschiedlicher Erzählformate geworden. Markus Imhoof arbeitete 1986 DIE REISE zu einem Kinofilm um; Gerd Koenen veröffentlichte auf Vespers Text basierend die Dreifachbiographie Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus; Alban Lefranc betitelte seine drei fiktionalisierten Lebensgeschichten als Angriffe. Fassbinder, Vesper, Nico; Marc Pommering schrieb Die Reise im vierzigsten ‚1968‘-Jubiläumsjahr zum Bühnenstück um und Andres Veiel schließlich brachte mit WER WENN NICHT WIR zum vierzigsten Todestag von Vesper die verfilmte Dreifachbiographie von Vesper, Ensslin und Baader in die Kinos. Was ist zunächst aus dem Text über das eigene Entstehungsverfahren zu entnehmen? Was hat dieser Text mit der zeitgleich stattfindenden Formierung einer Terrorgruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin zu tun? Steht Vespers Schreiben mit dem Sujet Stadtguerilla und der Roten Armee Fraktion in einem engeren und zugleich anders gearteten Zusammenhang als mit dem eines Chronisten und damit der Beschränkung auf die Wiedergabe der Ereignisse? Auf der Rückseite des Softcovers der Reise ist mit einem kurzen Text ein Verfasser eines anderen vermeintlichen Schlüsselromans zitiert worden. Heinrich Böll mutmaßte über die Arbeit des Schriftstellers Vesper: „Die Auseinandersetzung mit den Ursachen des Terrorismus hat noch lange nicht begonnen, es 62 Seidl, Claudius: „Hitlers Hippies“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 10 vom 13.03.2005.
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wird nicht weiterführen und weiterhelfen, es beim bloßen Abscheu bewenden zu lassen. Die Lektüre der ,Reise‘ wäre ein Anfang…“ 3.2.2 Die Krise der Linie, aber Schreibmaschinenkampf trotz alledem ...! Selbst ohne Kenntnis der langen und schwierigen Veröffentlichungsgeschichte und der verschiedenen Eingriffe und Anordnungen erscheint es beim Lesen erstaunlich, dass dieser Text überhaupt als Text existiert. Der Autor Vesper inszenierte in ihm einen Textproduzenten „Bernward Vesper“, dem Aufzeichnung, Schreiben, literarische Textverfassung als inhaltsleer und aussichtslos erscheinen, als vergeblich, unzeitgemäß und nichtig. Dieses „Ich“ haderte mit den Dispositiven des Schreibens, mit der Schreibmaschine, dem Papier, dem eigenen und dem Text-Körper, dem Lesen und Verstehen. Aber er schrieb, trotz alledem. Bereits die Voraussetzung seines Schreibens – er nannte hier immer wieder die Schreibmaschine und das Papierblatt – war Vesper zuwider. Bereits zu Beginn des Vorhabens im August 1969 ist notiert: „Ich fragte Jorge Amado: ‚Was ist die Ursache für die Krise unserer Literatur?‘ Und Jorge antwortet: ‚Wir haben nicht mehr genügend junge Autoren, weil diese jungen Künstler alle Musiker oder Filmemacher sind.‘ Das individuelle Produktionsmittel Schreibmaschine, die technische Fortsetzung des Gänsekiels, ist veraltet. Die Bibel ist verschwunden, doch die Zelle ist geblieben. Und die Zeile. Sie zwingt die Gedanken in einen linearen Prozeß, die Widersprüche erscheinen als Hierarchie, eins ‚folgt‘ aufs andre, also auch aus dem andren, wat schrifft, das blifft, bleibt gleich für alle, obgleich nicht alle gleich sind. Niemand, der schreibt, kann sich dem Zwang der Linie entziehen. Immer entstehen Zeilen, Geschichten, ohne daß zugleich Gegen-Zeilen, Gegen-Gegen-Geschichten sichtbar würden. Standpunkt und Gegenstandpunkt müssen sich auf einer Waffenstillstandlinie einfrieren lassen, die ihnen beiden nicht adäquat ist. Der inner space hängt ja schließlich auch nicht auf einer Linie (daß wir dann mit Sätzen, Wörtern, Buchstaben noch ein bißchen auf der Seite rumrutschen, ändert an der bestehenden Kommunikations-Misere gar nichts).“63
Das Verb „schreiben“ ist zwar in diesem kurzen Absatz nicht genannt, aber Vesper macht deutlich, dass Buchstaben mittels Schreibmaschine zu Papier zu bringen ebenso veraltet ist wie Schreibvorgang mit noch älteren Aufzeichnungsutensilien. Das anachronistische Schreiben ist mit dieser Feststellung zumindest in
63 B. Vesper: Reise, S. 17.
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einem Punkt aber nicht veraltet, nämlich eben festzustellen und festzuhalten, dass es anachronistisch sei. Vesper nimmt als Ausgangspunkt seiner Reflexion eine kurz eingeführte Konversation. Wo und wann er den brasilianischen Autoren, den Kommunisten und Exilanten Amado in Europa gefragt haben könnte, bleibt völlig unklar. Und wie dieser Jorge Amado aus dem Nichts im Text auftaucht, verschwindet er schon wieder. Er bekommt eine kurze, aber komplexe Frage gestellt und beantwortet diese ebenso bündig. Von dem kurzen Absatz aus beginnt Vespers radikale Kritik an den Unmöglichkeiten eines Schreibverfahrens, das relevant sein könnte im Hinblick auf einen „Standpunkt“. Zugleich wird der Kern einer „Krise unserer Literatur“ lokalisiert. Was dieses „unser“ einschließt, muss unklar bleiben: Unserer Zeit, fragt Vesper den Erfahrenen? Unserer Generation, fragt er den Alten? Unserer Kultur, fragt er den Exilant? Oder unser aller? Die Alternativen zur Schrift als Literatur liegen, Amados Aussage nach, an einer Verdrängung durch zwei andere Techniken. Zunächst setzt diese Differenz auf eine Trennung, nämlich die Trennung und damit Trennbarkeit sowohl dieser Künste als auch der Künstlerpersönlichkeit: Musik oder Film versus Literatur, Musiker und Filmemacher versus Autor. Der entscheidende Unterschied beruht auf den verschiedenen technischen Verfahren. Musik und Film unterliegen weniger dem Paradigma der Linie, die als Ordnungsinstanz für das Aufgezeichnete und damit für dessen Vermittlungs- und Erfahrbarkeit gilt. Diese Ordnung ist für Vesper der maßgebliche „Zwang“. Das ließe sich übersetzten als eine dem Schreibakt vorgelagerte und nicht umgehbare technische Bedingung der Schriftentstehung, die sich auf die syntagmatische Anordnung der Zeichen auswirkt. Der Gänsekiel als Produktionsmittel bei diesem Akt wird von Vesper zusammen mit der Bibel genannt. Zu verstehen ist die Gegenüberstellung mit diesem Produktionsmittel in der Tradition der Erstellung einer christlichen Bibel nach dem Vorbild mönchischer Schreibstuben – sprich: manueller Reproduktion. Entstehen die Zeichen auf dem Papier, eingespannt in eine Schreibmaschine, auch nur (noch) auf einer imaginären Linie auf einem ansonsten leeren, weißen Blatt, so folgen sie doch nach wie vor dem Zeilenprinzip. Der Federkiel und seine Nachkömmlinge, die handgeführten, Tinte transportierenden Röhren zur Schriftanfertigung bieten noch die Möglichkeit, sich an keine Linie zu halten und die Abfolge von Schrift beispielsweise schneckenförmig ausufernd zu Papier zu bringen oder Schrift in Graphik, Ornament, Zeichnung übergehen zu lassen. Das hat Vesper zwar nicht in seinen Erörterungen ausgeführt, aber in seinem eigenen Schriftbild angewendet. So hat er diese fließenden Übergänge selbst in seinen recht raren handschriftlichen Aufzeichnungen mit Bleistift und Filzstift mehrfach umgesetzt. Die Abweichung von der Konvention der horizon-
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talen Linie ist bei der Schreibmaschine durch ihr Konstruktionsprinzip aufgehoben. Als Ordnungsprinzip zunächst der Grapheme, der damit unmittelbar verbundenen, wörtlich zu nehmenden Linearität des Syntagmas folgert Vesper, dass dadurch der „Gedanke“ in einen linearen Prozess gezwungen und durch verschieden organisierte Reihungen aufgebaut wird, Reihungen wie „Gänsekiel – Bibel – Zelle – Zeile“ oder „veraltet – verschwunden – geblieben“. Wie stark sich eine solche Prägung der Schreibapparatur auf die Niederschrift des Autors Vesper ausgewirkt hat, inwiefern also auf die Textproduktion jenseits der Selbstinszenierung im Romanmanuskript, lässt sich wiederum anhand von Schriftstücken des Nachlasses verhandeln64. In mehreren Heften ist der handschriftliche Versuch eines „Philosophischen Tagebuchs“ zu finden: Arbeiten, die den Anspruch „Zum Abschluß der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus“ formulierten. In einem linierten „Pinguin“-Notizbuch mit dem Titel „phil. tagebuch (1) hamburg, märz 1971 b vesper“65 schrieb Vesper kurz nach der Einlieferung in die Psychiatrie: „…ich ohne schreibmaschine ohne den flotten takt der typen auf meinen tanzenden manuskriptseiten nur noch den stift, bald werden wir ziegenhirnig…“66. Mit dem Verlust einer derartigen letzten ordnenden Tätigkeit, dem Schreibmaschineschreiben, dem Taktgeber sind dann Vespers nachgelassene Aufzeichnungen nicht mehr entzifferbar. Es sind BleistiftWellenlinien auf liniertem Papier. Doch solange Vesper noch an der Reise arbeitete, „zwang“ die Schreibmaschine das Geschriebene in die Anordnung als Zeile und diese wiederum „zwang“ die Gedanken. Und die Schreibmaschine „zwang“ den linearen Aufbau von Geschichten – der Zwang spielt also im Schaffen von Vesper eine wichtige, wenn auch anders geartete Rolle als zeitglich in den Vorhaben von Ensslin und Meinhof67. An anderer Textstelle, ebenfalls bereits im August 1969 zu Papier gebracht, findet sich der Übergang zu Überlegungen, der Sprache insgesamt nichts Pro64 Die „Schreibszene“, wie sie in Anschluss an Rüdiger Campe in den Kulturwissenschaften etabliert wurde, wäre hier für eine weiterführende Analyse sicherlich eine geeignete theoretisch-methodische Rahmung, um das von Vesper inszenierte Ensemble aus Instrumenten, Körperbewegungen und sprachlichen Möglichkeiten zu analysieren. Vgl. Campe Rüdiger: „Die Schreibszene, Schreiben“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 759-772. 65 DLA, A:März, 125 n 66 B. Vesper: Reise, S. 2. 67 Zum Zwang und der Politik des Zwingens, vgl. Kapitel 2.2. Techniken: Wer zwingt wem wie etwas auf.
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duktives mehr abgewinnen zu können. Gleichzeitig verschränkt Vesper jedoch gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, die Materialitäten des Schreibvorgangs und Grenzen der sprachlichen Zeichen zu einer Diagnose. Der Topos einer „Schlachtlinie“ wird erneut aufgenommen, deren Verbindung von Schreibkampf, Kriegs- und Vernichtungssemantik und entsprechendem Bewusstsein ist eine motivische Rekurrenz der Reise. Vesper arbeitete eigenem Verständnis mit seinem Text nach an einem Frontverlauf. Diesen situiert er zwischen der Auflösung beziehungsweise Ausdifferenzierung einer noch zumindest halbwegs homogenen rebellierenden Studentenschaft, dem eigenen Schreiben und den Unmöglichkeiten von materieller Aufzeichnung gegenüber seinem individuellen „inner space“. „Es ist bereits so weit, daß ein Professor auf einem medizinischen Kongreß die Zeiten zurückwünscht, wo die Apo das System auf seinem eigenen Terrain bekämpfte. Inzwischen ist der Satz, daß zwei Heere, die sich bekämpfen, notwendigerweise immer eine Schlachtlinie haben, anachronistisch. Ich hasse das Klappern der Schreibmaschine, weil es den Strom der Imagination zerhackt. Handschrift, Sprechzwang beim Tonband, das gleiche. Von dem, was bis in die Vorstellung vordringt – wenig genug –, gelangt doch nur sehr wenig aufs Papier. Deshalb müssen Zeichnungen, Schriftbild usw. zur Übermittlung hinzugezogen werden. Kein Wunder, daß McLuhan gerade jetzt ‚Erfolg‘ hat. Aber was verstehen diejenigen von ihm, die nicht vom Kern der Sache ausgehen, sondern wieder nur von der ‚Form’!“68
Vesper inszeniert eine entsprechende Medien(handlungs)macht. Schreibend an der Schreibmaschine zu sitzen ist als ein körperlicher Akt beschrieben, mehr noch: als körperliche Qual oder körperliches Ausscheidungsprodukt („kotzen“, „scheissen“). Von solchem physischen Elend ausgehend nimmt der Text in veränderter Form das kurz angedeutete Motiv der Zelle wieder auf – jedoch nicht im mönchischen Zusammenhang. „Schreiben: Harakiri, ich ziehe meine Gedärme heraus. Dazu die totale ISOLATION. Konfrontiert mit den Tasten, der Walze, der kahlen Wand. Gefängnissituation. (Tatsächlich sind so zahlreiche Bücher im Gefängnis geschrieben worden. […])“69 Die Gefängniszelle ist hier als Metapher enggeführt mit dem rituellen, qualvollen Selbstmord der japanischen SamuraiKrieger, die in aussichtsloser Situation durch verletzte Ehre diesen Schritt wählen. Die beiden Metaphern eröffnet eine Schreibsituation, bei der das Innerste nach außen gestülpt und offenbar wird, aus dem Körper und aus der Zelle. Der Schreibende selbst jedoch ging dabei am Schreiben zugrunde mit dem sicheren 68 B. Vesper: Reise, S. 45. 69 Ebd., S. 116.
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Tod vor Augen, ihn ritterlich nicht fürchtend, die Schreibmaschine wie ein Schwert gegen sich selbst gerichtet. Ein solch doppeltes Buch anzufertigen ließe sich erneut sowohl als Selbststilisierung des Kämpfers, Outlaws, Gefangenen als auch als Schreiben am Rande des Todeswahns begreifen70. Diese Harakiri-Gefängniszelle-Textstelle, mit der die bis dato dargelegten Überlegungen zum Schreiben sich radikalisierten, war auch in der graphischen Erscheinung der Niederschrift eine Grenzziehung zu einer veränderten Aufzeichnung. Ab der Überschrift „II 11.5.1970 (roter Libanon)“ auf Seite fünfundsiebzig des Originalmanuskripts erfolgte nach beinahe achtmonatiger Schreibpause der Wechsel zu einer konstanten und konsequenten Kleinschreibung. Während Vesper also seinen Schreibstil radikalisierte, radikalisierte sich auch ein Teil seiner ehemaligen Freunde und Bekannten mit der BaaderBefreiung. Wahrendessen entwirft er ein Verhältnis zwischen Schreiben und Gefängniszelle, welches in umgekehrter Konstellation zwei Jahre später im sogenannten „Toten Trakt“ der Haftanstalt Köln–Ossendorf niedergeschrieben werden wird. Das Schreiben half Vespers langjähriger Bekannte Ulrike Meinhof als der vielleicht einzige Weg aus der Isolation der Einzelhaft, unter dem Vorwurf der „weißen Folter“ durch sensorische Deprivation. Schreiben war ihre Maßnahme, ohne anhaltenden psychischen und auch physischen Schaden heraus zu kommen und das Erlebte darzulegen. Meinhof notierte die durch den BaaderMeinhof-Komplex berühmt gewordenen Zeilen: „Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf. Das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen. Das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Hirn gepresst... […] Klares Bewußtsein, daß man keine Überlebenschance hat. Völliges Scheitern, das zu vermitteln.“71 Während Meinhof also tatsächlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1972 in der Gefängnissituation schrieb, dezidiert aussichtslos schrieb, da im Moment der Aufzeichnung sowohl das eigene Überleben als auch die Vermittlung der Situation aussichtslos erschien, eröffnete sich Vesper eine solche Situation als Fiktion der Schreibsituation. Die Journalistin hatte zum Aufzeichnungszeitpunkt der genannten Textstelle aus Vespers Aufzeichnungen im Mai 1970 bereits einen Schritt vollzogen, mit dem Vesper noch haderte. Meinhof hatte das Schreiben als Praxis vermeintlich hinten angestellt zugunsten anderer Praktiken. Vesper jedoch schrieb und haderte nach einem Jahr Aufzeichnung zu Die Reise im August 1970: 70 Vesper schwärmte mehrfach über Schriftsteller, die als randständige Schriftstellerfiguren erscheinen und unter diesen Bedingungen schreiben, beispielsweise Jean Genet und Eldridge Cleaver. 71 S. Aust: BMK, S. 258.
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„Schreiben: was immer die Apologeten auch darüber sagen mögen, und, zur Rationalisierung ihrer eigenen Praxis, sagen müssen, die heutige Literatur ist eine einzige chronique scandaleuse. Das alles sind keine Anleitungen zum Handeln. Man ist stolz darauf, die Wirklichkeit zu verleugnen, Destillate zu Papier zu bringen, die Ort, Zeit, unten, oben, nur noch ahnen lassen. Das ist die ganze Moderne. […] Aber, aber, in diesem Klima künstlich erzeugten Hasses kann doch wirklich keine Kultur mehr gedeihen, soll sie auch nicht. Und komme jetzt niemand, schreie: Masochist! Es ist einfach das Ergebnis des Frustrationsprozesses nach 210 Seiten Niederschrift. Humanistisches Zwangskotzen! Aber, verflucht, im Grunde möchte ich wirklich lieber ganz was anderes, da mit der Veränderung der Wirklichkeit fortfahren, wo ich aufgehört habe, statt diese Wirklichkeit in das Hintereinander der Buchstaben zu zwängen, wo sie getrost veröden kann, angenehm für jeden, der seine geilen Augen die Linotype entlanghuschen lässt. […] Warum schreiben Sie: ‚Weil ich es kann!‘ Weil ich nur das kann, weil ich weiß Gott im Augenblick keine andre Möglichkeit sehe, einige Probleme zu lösen und einige gelöste in den Orkus hinabzukippen. Aber das wird doch hoffentlich mal ein Ende haben.“72
Aus diesen Zeilen spricht eine Sehnsucht nach einer Wirklichkeit und einem Handeln, die jenseits des Schreibens liegen. Vesper sah eine Rettung und Berechtigung neben der erwähnten Ergänzung des Textes durch andere zweidimensionale Darstellungen wie Zeichnungen und Collagen. Gerade diese Form der Aufzeichnung gab ihm den Halt, wenigstens ansatzweise Grenzlinien überschreiten zu können. „Das Tagebuch ist gegenüber dem Roman ein ungeheurer Fortschritt, weil der Mensch sich weigert, seine Bedürfnisse zugunsten einer ‚Form‘ hintenanzustellen. Es ist die materialistische Auflösung der Kunst, die Aufhebung des Dualismus von Form und Inhalt. Die Form erscheint in ihm, überhaupt im kreativen Schreiben, nurmehr als ‚Grenze der momentanen Wahrnehmung‘. Und terminologische Grenze. Die Sprache, ihre völlig im System verhafteten, jedem andern Ausdruck unzulänglichen Wort- und Syntax-Fossilien!“73
Und so warf Bernward Vesper keine Bomben, er schrieb Tagebuch. Wenn auch nicht selbst proto-terroristisch, erschien er in seinen Aufzeichnungen überwiegend als ein der Stadtguerilla solidarischer Erzähler. Er bewertete den aufkeimenden Terrorismus nicht moralisch, er äußerte sich nicht zu der billigenden Inkaufnahme von Körperverletzung oder gar Mord, er theoretisierte auch nicht über die politischen Unmöglichkeiten einer revolutionären Avantgarde in der 72 B. Vesper: Reise, S. 298. Zu Vesper und den Diskursen „Tod der Literatur“ und „Ende der Kunst“ um 1968 vgl. R. Luckscheiter: Fliegender Teppich. 73 B. Vesper: Reise, S. 46/47.
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Bundesrepublik. Dafür war er den Akteuren, den ehemals engen Freunden viel zu sehr verbunden, er war zu nahe an dem Sammelbecken der subversiven Linken, er fühlte sich als ein Teil von ihr. Darüber hinaus ist er viel zu sehr mit privaten Nöten und den Sorgen um sein Schreiben beschäftigt gewesen, was ja auch wiederum sein ‚eigentliches‘ Sujet sein sollte. 3.2.3 Terroristen, die nicht Gudrun heißen DIE WAFFEN NIEDER DIE WAFFEN NIEDER DIE WAFFEN NIEDER am anfang war das wort tat steht am ende BERNWARD VESPER: SCHLUSSWORT DES SELBSTGESTALTETEN FLUGBLATTES „BOTSCHAFT DER WELTBEFREIUNGSFRONT AN DIE VÖLKER DER WELT“.
Nachdem Vesper mit seiner Voltaire Flugschrift im Jahr 1969 (und damit unmittelbar vor Beginn der Arbeit an seinem Buchprojekt) ein ganzes Heft der „Großstadtguerilla“ widmete74, hat sein Interesse an taktisch-theoretischen Überlegungen in seinem Nachlass und auch in den Notizen zu Die Reise daran gemessen wenig Eingang gefunden. Allein eine Notiz, auf einer Karteikarte handschriftlich festgehalten, zeugt von einem kurzen Aufblitzen, das sich als eine explizite Reflexion über die Stadtguerilla bezeichnen ließe. Auf einer Karteikarte führte Vesper eine (abrupt wieder abbrechende) Notiz über das „1. stadium der illegalen arbeit“ aus: „im frühstadium illegaler aktivität dominieren zwei gruppen: die eine meist bürgerlicher (universitärer) herkunft, die die notwendigkeit gezielter gegengewalt erkannt und mit ihrem (in der zeit der studentenrevolte aquirierten [?]) anspruch auf die avantgarderolle ein revolutionären kampf verbunden haben, die andere aus dem „subproletariat“ rockergruppen, individuell lehrlingen, zöglingen etc. die erstere kann mit der zweiten [unleserlich] zusammenarbeiten, sie auch dominieren, wobei es immer noch zur klassischen arbeitsteilung der intellektueller – körperlich arbeitender kommen kann. erhält bei der ersten gruppe die illegale arbeit häufig etwas zwanghaftes, da der avantgardeanspruch (der durch privilegien honoriert wird) einen ungeheuren druck ausübt. misstrauen, mangelnde 74 Vgl. Kapitel 2.2.3. Stadtguerilla und Medium III: Werkzeug und elektrisches Licht.
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solidarität, neurosen, elitetick und verfolgungswahn und [unleserlich] lassen immer wieder [unleserlich] die leute ausflippen. ihr verhalten, zu dem sie sich oft von einem tag zum anderen entscheiden, durch einen existentiellen kraftakt ihre bürgerlichen hänger zu überwinden, schlägt in resignation, fehler, irrationale agression gegen genossen etc. um, in der zweiten gruppe – die meistens schon vor der aufnahme ihrer revolutionären arbeit zusammenarbeitete“
75
Hier schreibt Vesper eine Entwicklung nieder, die von Beginn der Stadtguerilla an zu beobachten gewesen ist und die sich in der Dualität zwischen terroristischen Konzepten und deren Konkretisierungen offenbarte, wie sie sich zwischen der Roten Armee Fraktion auf der einen Seite und den Berliner Gruppen zuspitzten76. Dabei hat Vesper sehr wohl bemerkt, dass er zunächst von den ersten Überlegungen an im Hamburger linksintellektuellen Milieu dabei gewesen war, sprich vor Ort bei Diskussionen um strukturelle Gewalt und mögliche Maßnahmen der Gegengewalt. „Wallraffs Urteil liegt aber eine weitere Motivation zugrunde, die er – genauso wenig wie Brotherr Röhl zuvor – auszusprechen scheut: dass er revolutionäre Gewalt, die immer ‚planmäßig und straff durchgeführte Bewaffnung von Minderheiten‘ war, überhaupt ablehnt. Das kam heraus, als wir in Ulrike Meinhofs Wohnung über das Projekt ‚Gewalt in der herrschenden Gesellschaftsordnung‘ diskutierten. Entlarvt werden sollte in einer Kette von Untersuchungen, jene Lüge der Herrschaftsideologie, die kapitalistische Gesellschaft sei eine Ordnung, die sich ohne Gewalt aufrechterhält.“77
Vespers hinterlassene Materialsammlung und eine Reihe von kurzen Textpassagen in Die Reise zeigen, dass ein Interesse am weltweiten bewaffneten Kampf jedoch anhaltend geblieben war. Bereits der Blick auf den Einband der Softcoverausgabe des Buches kann dies offenbaren. Herausgeber Jörg Schröder hat dort ein Photo platziert, das Vesper bei der Lektüre eines Fahndungsplakats zeigt, ein Fahndungsplakat von Angela Davis. Die Bürgerrechtlerin, zu diesem Zeitpunkt wegen „Unterstützung des Terrorismus“ auf der Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher der USA, gibt einen Verweis auf das Hauptinteresse Vespers, die Black Panther. Was sich durch Vespers Herausgeberschaften im Voltaire-Verlag bereits abzeichnete, war auch in seinem eigenen Schreiben präsent. Immer wieder sind Zitate aus Soul on Ice von 75 DLA, A.März 125 p/q, Karteikarte 99 76 Vgl. D. Kunzelmann: Kein Widerstand, Fußnote 23 77 B. Vesper: Reise, S. 249.
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Eldridge Cleaver auszumachen. Personen und Aktionen rund um diese militante Gruppierung werden vielfach aufgerufen und selbst in Formulierungen schlägt sich das Interesse nieder, indem Vesper beispielsweise den Ausdruck „pigs“ für Polizisten übernimmt. Darüber hinaus findet sich im Nachlass vielfältiges Material. Neben einzelnen Artikeln ist dies gar eine komplette Zeitung namens Extra, Ausgabe 93 vom 25. November 197078, mit Angela Davis auf dem Titel und „Die Regeln der Black Panther Party“, in denen Vesper handschriftliche Bemerkungen eingetragen hat. Oder ein Flugblatt79 ist archiviert, das den Auftritt von Kathleen Cleaver in der Frankfurter Uni ankündigt. Darüber hinaus deckt seine Materialsammlung Artikel eines breiten Feldes zwischen Revolution und Gewalt ab. Das erstreckt sich von Statistiken über den Staatsbankrott des vom Guerillakrieg geplagten Ecuador und Flugblättern über die Tätigkeiten des iranischen Studentenvereins in der Bundesrepublik bis hin zu Artikeln wie „Der Mann, der das Herz eines Menschen aß“, einen Stern-Artikel über den laufenden CharlesManson-Prozess in den USA. In seinen Roman sind dann die Anschläge auf IBM80, ein selbstgestaltetes „Bild-Zeitungs-Gedicht“ über die kanadische FLQ81 und die Erzählung einer Bekannten von ihrer Guerilla-Ausbildung im PLOLager82 eingegangen. Über den Stellenwert für sein Projekt lässt sich insofern nur spekulieren, als dass erstens in seinem biographischen Bericht nicht bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre gekommen ist und zweitens eine endgültige Form nie erreicht wurde. Doch Hinweise wie im „endgültigen Themenkatalog“ mit „Schluß: Brief eines Weatherman Bombenĺ Organisation“83 oder Gliederungsangaben wie „1 gudrun/felix 21 über die droge 31 über den bewaffneten kampf 40 notizen zu (unleserlich)“84 lassen annehmen, dass Vesper wohl durchaus etwas Ausführlicheres über bewaffneten Widerstand hat schreiben wollen. Und er schrieb über die sich bildende bundesrepublikanische Stadtguerilla. Parallel zu den Reflexionen über das Schreiben liest sich seine Chronistentätigkeit neben der Listung von vielen Orten, Namen und Ereignissplittern als eine Darlegung der Bedingungen von Erfahrbarkeit der RAF. Vespers Projekt ist ein Hinterfragen ihrer Repräsentationslogik und der proto-terroristischen Ereigniskonstitution. 78 DLA, A:März 125 a II. 79 DLA, A:März 125 e. 80 B. Vesper: Reise, S. 269. 81 Ebd., S. 429-431. 82 Ebd., S. 435-440. 83 DLA, A:März 125 q. 84 DLA, A:März 125 s.
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Analog zum eigenen Aufzeichnen waren für Vesper jeweils spezifische Medien des Sujets Stadtguerilla erster Bezugspunkt für die Schreib- und Beschreibbarkeit. Wenn der Autor Bernward Vesper die dargelegten Grundlagen seines Schreibens aufzeigt, so kann dies auf das Schreiben über Stadtguerilla und Terrorismus erweitert werden. Die betreffenden Textstellen tauchen ebenfalls wie die mit „Schreiben: ...“ eingeleiteten als kurze Fragmente innerhalb der Aufzeichnungen auf, sie sind kleine Splitter der Beobachtung. Zunächst war die Basis der Erfahrbarkeit an das jeweilige Medium geknüpft. Im Juni 1970 hörte Vesper nach längerer Funkstille wieder etwas von Ulrike Meinhof. Funkstille ist beinahe wörtlich zu nehmen: „Es ist alles wahr, was ich schreibe, ein Geständnis (Wenn ich mich der Überlandleitung nähere, setzt das Rasseln im Autoradio ein. Befinde ich mich direkt unter den Starkstromkabeln, höre ich nur ein Blubbern, welches den Kommentar über Ulrikes Satz im Spiegel: ‚Polizisten sind Schweine, auf die geschossen werden kann‘ kaum übertönt; erst wenn ich mich wieder entferne, ist wieder dieses Rasseln da, das, während ich schnell auf der Autobahn südwärts fahre, verebbt.“85
Wie konnte ein Satz von Ulrike Meinhof in dem bekannten Nachrichtenmagazin vom Starkstromkabel gestört werden? Im Mai 1970, kurz nach ihrem Sprung in die Illegalität, hatte sie Michèle Ray ein Interview gegeben, das die französische Journalistin mit einem Tonbandgerät aufzeichnete. Im Spiegel 25/1970 wurden davon „unredigierte Auszüge“ unter der Überschrift „Natürlich kann geschossen werden“ abgedruckt. In diesem Text gab Meinhof kund, durch die BaaderBefreiung genau an dem Punkt zu beginnen, an dem die intellektuelle Linke vermeintlich haderte, nämlich mit „Handlungen“, mit „politischer Arbeit“ jenseits der Schreibmaschine und der Fernsehkamera. Mit der Befreiung von Andreas Baader hatte laut Meinhof genau jener Schritt begonnen: „Theorie zur Praxis zu machen“86 und damit den Aufbau einer „Roten Armee“. „Was wir machen und gleichzeitig zeigen wollen, das ist: daß bewaffnete Auseinandersetzungen durchführbar sind, daß es möglich ist, Aktionen zu machen, wo wir siegen und nicht wo die andere Seite siegt. Und wo natürlich wichtig ist, daß sie uns nicht kriegen, das gehört sozusagen zum Erfolg der Geschichte.“87
85 B. Vesper: Reise, S. 192. 86 Meinhof, Ulrike: „Natürlich kann geschossen werden“, in: Spiegel 25/1970, S. 75. 87 Ebd.
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Das ist ein Konzept einer politischen Aktion der maximalen Geheimhaltung und maximalen Publizität zugleich. Ihre Aussage ist jedoch nicht die Propaganda der Tat, sondern der Macht des Wortes, gesprochen vorm Mikrofon, aufgezeichnet auf Magnettonband, gehört, niedergeschrieben, gedruckt, wieder über Funk verbreitet. Damit folgt es als Wort zunächst den diesen jeweiligen Speicherungsund Übertragungstechnologien inhärenten Logiken – das stellte Vesper zunächst fest. Erfahrbar wurde es zuerst, vor jedem Sinn und Inhalt, als ein Vorgang von Signalen und Empfängern und Störungen. Ein Ereignis, eine Tat wie die „Baader-Befreiung“ und deren Bedeutung vermittelte und erschloss sich nicht aus sich selbst heraus. So reicht schon ein Starkstrommast als Störungsquelle, um Ulrike Meinhofs kämpferische Worte zu einem Blubbern werden zu lassen. „Polizisten sind Schweine“ war demnach als Aussage erst nachgeordnet ein martialisches Säbelrasseln, vorrangig ist es ein Rasseln aus dem Autoradio88. Semantisch hat Ulrike Meinhof mit ihren Worten ihr Vorhaben – im Vergleich zu Vesper – verlagert. Während Vesper nicht nur mit der Linie auf dem Papier, sondern auch mit den diversen „Schlachtlinien“ und ihren Fassbarkeiten haderte, so insistierte Meinhof auf einer ganz deutlichen Grenz- und Schlachtlinie. Der Polizist beispielsweise sei kein Mensch, mit dem zu reden ist, sondern eine Funktion innerhalb des repressiven Systems und daher ein „Schwein“ und ein „Verbrecher“, auf das geschossen werde, „und das ist eine ganz klare Front“89. Damit tauchte in einer der allerersten, wenn auch unfreiwilligen Veröffentlichungen eine Figur auf, die sich durch die Rhetorik sämtlicher Wortmeldungen verschiedenster Art der sogenannten ‚Ersten Generation‘ zieht und die in dem Diktum von Gudrun Ensslin kulminierte: „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute!“90. Vesper und Ensslin operierten an einer bestimmten Problematik, je88 Beinahe ein Jahr später schrieb die RAF dann eine offene Distanzierung, denn die Tonbandaufzeichnung sei „ohnehin nicht authentisch und stammte aus dem Zusammenhang privatistischer Diskussion. Die Ray wollte es als Gedächtnisstütze für einen selbständigen Artikel von sich benutzen. Sie hat uns reingelegt, oder wir haben sie überschätzt. Wäre unsere Praxis so überstürzt wie einige Formulierungen dort, hätten sie uns schon. Der Spiegel hat der Ray ein Honorar von 1 000 Dollar dafür bezahlt.“ (RAF: Das Konzept Stadtguerilla, S. 27). 89 U. Meinhof: Natürlich kann geschossen werden, S. 75. 90 Vgl. dazu die Einleitung, S.13. Zu Ensslins Briefen aus dem Gefängnis: Ensslin, Christiane/ Enssiln, Gottfried (Hg.): Gudrun Ensslin. Zieht den Trennungsstrich, jede Minute!, Hamburg: Konkret-Literaturverlag 2006. Die Organisation dieser Grenzziehung ist von staatlicher Seite übrigens nur noch mit der Rhetorik der verantwortlichen Politiker vergleichbar. Medientechnologisch wird sie dagegen durch den Übergang von personalisierter Fahndung zur Rasterfahndung entscheidend anders organisiert,
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doch auf zwei völlig verschiedene Arten und Weisen und von zwei völlig entgegengesetzten Richtungen. Während er möglichst sämtliche Linien auflösen oder zumindest aufweichen möchte, jedoch an den Unmöglichkeiten und Irrwegen verzweifelt, war ihr daran gelegen, überall und unter allen Umständen und mit allen Mitteln die klare Linie so deutlich wie möglich zu schaffen. Ensslins Imperativ sollte wesentlich das Kollektiv Rote Armee Fraktion nach innen konstituieren, zugleich nach außen abgrenzen und Gewaltanwendung rechtfertigen. Bernward Vesper beharrte darauf, sich seine eigene Radikalität zu erschreiben: „Es hat keinen Sinn, mir zu sagen, es wäre gescheiter, die ERFAHRUNG, diesen HASS, diese ENERGIE unverzüglich einzusetzen, um die Mine an die ganze Scheiße zu legen und die Kiste in die Luft zu jagen. Derartige Ratschläge selbsternannter Anführer gehen mir auf den Wecker. (...) Ich selbst muß herausfinden, wer ich bin, was ich will, wo ich meine Kräfte einsetzen kann. [Erst] das NEIN [,das ich allen Aufforderungen entgegensetze,] schafft mir die Sekunde Zeit, die ich brauche, um die Sache zu überprüfen; statt mich abschleppen zu lassen, will ich [die Dinge an der Wurzel] begreifen [,erst wenn du es satt hast, dich bevormunden zu lassen, überfallt dich der ungeheure Hunger nach dem Konkreten, nach Gewalt und Radikalität]. ‚Den einzig sicheren Weg – meinen eigenen Weg‘, sagte Eldridge Cleaver.“91
Bei einer anderen Urszene, dem sogenannten „Knastcamp in Ebrach“ am 15. Juli 1969, schien Vesper unvermittelt vor Ort gewesen zu sein, ebenso wie angeblich alle späteren führenden Vertreter des Terrorismus92 dort zugegen waren. Aber auch in dieser Situation herrschte Konfusion. Eine große Verwirrung war kennzeichnend für das, was nicht nur in Inhalt und Ablauf gescheitert war, sondern vor allem auch in seinen Medientransfers. Zudem macht Vesper deutlich, aus welchen Gründen er nicht sein Format gewechselt hat und selbst Filme drehte. Der Film als Repräsentation von Ereignissen mag gegenüber dem Erzählen zwar insofern den Vorzug haben, als dass er der horizontalen Linie kaum zu gehorchen hat. Jedoch war Vesper mit den Repräsentationen der bewegten Bilder und dem, was sie erschufen, genauso unzufrieden. In den Räumen der Kommune vgl. dazu Leander Scholz: BRD/RAF: „Die Intimität des Feindes“, in: Epping-Jäger/ Hahn/ Schüttpelz (Hg.): Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien. Köln, 2005. S.184-197. 91 B. Vesper: Reise, S. 15. 92 „Urszenen des Terrorismus“ in G. Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 223-226. Koenen schreibt, dass Vesper ursprünglich auf dem später teilweise vernichteten Filmmaterial kurz zu sehen gewesen sei (Ebd., S. 224). Ich habe ihn bei meiner Sichtung von DIE WILDEN TIERE jedoch nicht entdecken können.
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I zeigte Gerd Conradt ihm die Aufnahmen von dem „revolutionärem Woodstock“93, bei dem die erste Verstörung wieder von der Apparatur ausging. Vesper mäkelte, dass der Ton des Films „nicht in Ordnung“94 sei und vor allem die Abspielgeschwindigkeit zu schnell. Aber andererseits auch nicht schnell genug: „Ich erinnerte mich viel schneller, als sich der Film an der Wand vor mir erinnern konnte.“95 Vesper hatte während des Sehens einen Trip eingeworfen, um seinen „inner space“ mit den bewegten Bildern konkurrieren zu lassen, mit einem Film, „der versuchte, meiner Vision Konkurrenz zu machen, der ‚Bewegung‘ vorspielte, obwohl ich ganz deutlich 21 Bilder in der Sekunde (auf jedem der Bulle in einer ganz geringfügig veränderten Stellung) wahrnahm, der Leute zeigte, die wir gar nicht gesehen hatten, nicht das, was wir selbst gesehen hatten, die riesige, liegende Zeltplane, die Abbruchstimmung, die Lächerlichkeit und den Todernst der Landguerilla. Ich zog meinen Blick durch eine Kopfbewegung von den Bildern ab. Ich konnte diesen dreifachen Film nicht mehr ertragen: – Das Szenarium in mir; das wie eine Sartre-Bühne wirkende Zimmer; und (aufgenommen durch Köpfe) die Sequenzen an der Wand, deren Darsteller sowohl sie als auch ich selbst waren: Ich musste allein sein, irgendwohin gehen, wo es möglich war, die Übersicht zu behalten, wo die Abgeschlossenheit eines Raumes mich nicht erstickte und wo ich Menschen treffen würde, die gerade einmal nicht mit ihren Problemen beschäftigt waren.“96
Vesper sah nur eine Möglichkeit der Bewältigung dieser Überwältigung: die Flucht vor den Bildern und aus dem Raum, in dem die Bilder zu sehen waren, und die Flucht vor den Menschen, mit denen er sie betrachtet. Die Bilderreihung des Films kam seiner visionären, drogenangereicherten Vorstellung von Bewegung so wenig nahe wie die Linearität des Geschriebenen seinem „inner space“. Was als „Landguerilla“ im Sommer 1969 bereits todernst auftrat, aber im Chaos unterging, wird als „Stadtguerilla“ knapp ein Jahr später blutiger Ernst. Vesper erfährt deren Gründungsakt durch Zeitungsartikel: „Ich kann Ulrike nur begreifen, wenn ich ihre gebogenen Knie sehe (und sie, verkleinert, in ihren gebogenen Knien sitzend, betrachte), während sie am Tisch im Institut in den Karteikarten blättert, und die beiden Wachtmeister, die Knarre im Koppel, dasitzen und von dem Gespräch nichts verstehen, wenn ich dies verbinde mit dem Sprung aus dem 93 G. Koenen: Urszenen, S. 223. 94 B. Vesper: Reise, S. 203. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 204.
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Fenster im ersten Stock, nur Sekunden später, als die Bullen schon am Boden liegen und jener Kretin sich als Hilfsbulle dazwischengeworfen hat und jetzt vorn an der Tür liegt und blutet. Und ins Auto und weg, und der Coup ‚gelungen‘ und Baader ‚frei‘. Ein Schalldämpfer und eine italienische Baretta, die am ‚Tatort‘ zurückbleiben, bringen die Bullen auf die Spur von Voigt. […] Von Ulrike Meinhof, Andreas Baader ‚und den Befreiern‘ aber ‚fehlt jede Spur‘. Sie ‚sind wie vom Erdboden verschluckt‘.“97
Aufgrund der gelesenen Zeilen versucht Vesper, sich das Geschehen vorzustellen, „zu begreifen“. Aber diese Körperlichkeit des Szenarios hat sich bei ihm 97 B. Vesper: Reise, S. 158/159. Die Zeitschrift Stern gibt Aufschluss in einem Artikel über Ulrike Meinhof in der Woche nach der Baader-Befreiung und über die Person „Voigt“: „Zwei Kriminalbeamte bewachten Baader und seine Genossin, als um 11.10 Uhr die Tür zum Lesesaal aufgestoßen wurde. Drei Personen, mit Frauenperücken getarnt, stürmten herein, schossen zwei Justizbeamte und einen Institutsangestellten nieder und sprangen zusammen mit Andreas Baader und Ulrike Meinhof durchs Erdgeschossfenster in die Freiheit. Eine Stunde später, nachdem die größte Fahndungsaktion seit Kriegsende in Berlin angelaufen war, wurde zum erstenmal offiziell nach Ulrike Meinhof gesucht. Die Kripo vermutet, dass sie die Flucht geplant und geleitet hat. Mit ihr wurden Andreas Baader und die unbekannten Entführer gejagt. Vier Tage später nahm die Schweizer Polizei in Basel den 34-jährigen Günter Voigt fest. Er hatte versucht, den Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt zu einer ‚Geldspende von 60000 Mark‘ für die weitere Flucht zu bewegen. Dürrenmatt lehnte ab.“ (Stern 23/1970, S. 58) Später geht die RAF in einer ihrer Verlautbarung ebenfalls auf diese Vorkommnisse ein und findet folgende Erklärung: „Auch viele Genossen verbreiten Unwahrheiten über uns. Sie machen sich damit fett, daß wir bei ihnen gewohnt hätten, daß sie unsere Reise in den Nahen Osten organisiert hätten, daß sie über Kontakte informiert wären, über Wohnungen, daß sie was für uns täten, obwohl sie nichts tun. Manche wollen damit nur zeigen, daß sie ‚in‘ sind. So hat es Günther Voigt erwischt, der sich gegenüber Dürrenmatt zum Baader-Befreier aufgeblasen hatte, was er bereut haben wird, als die Bullen kamen. Das Dementi, auch wenn es der Wahrheit entspricht, ist dann gar nicht so einfach. Manche wollen damit beweisen, daß wir blöde sind, unzuverlässig, unvorsichtig, durchgeknallt. Damit nehmen sie andere gegen uns ein. In Wirklichkeit schließen sie nur von sich auf uns. Sie konsumieren. Wir haben mit diesen Schwätzern, für die sich der antiimperialistische Kampf beim Kaffee-Kränzchen abspielt, nichts zu tun. – Solche, die nicht schwatzen, die einen Begriff von Widerstand haben, denen genug stinkt, um uns eine Chance zu wünschen, die uns unterstützen, weil sie wissen, daß ihr Kram lebenslängliche Integration und Anpassung nicht wert ist, gibt es viele.“ (RAF, Das Konzept Stadtguerilla, April 1971)
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nicht eingestellt. Die hohe Dichte an Anführungszeichen und damit deutlichen Zitationen sowie die eigenen Kursivsetzungen nehmen die vorgefundene sprachliche Darstellung auf und stellen selbige gleich wieder infrage. Die verwendeten Worte sind alle vielfach konnotiert, vom „Tatort“ über den „Fenstersprung“ bis zur „Baretta“ sind die Konnotationen und Kontexte ausufernd. Dem Vorgang wird erzählerisch ein Ablauf, eine Choreographie verliehen, die weniger an einen revolutionären Initiationsakt denn an Groschenromane und Sensationsjournalismus erinnert. Vesper versucht, die Person „Ulrike Meinhof“ zu begreifen, aber als Protagonistin eines an eine Kinoszene anmutenden Vorganges konnte er keine Alternative aufzeigen. Er vermochte es nicht, der schriftlichen Darlegung etwas anderes abzugewinnen. So ist ihm einzig die graphische Markierung im Text geblieben. Vesper begann, neben dem Linearitätsprinzip der Schrift dem einzelnen Wort zu misstrauen und hier den vermeintlich ganz gewichtigen Worten. So hat er zwischen allen gesammelten Artikeln und Flugblättern auch eine ausgeschnittene Werbung säuberlich abgeheftet: „Die platinveredelte Gillette: Jeden Morgen DIE REVOLUTION in sanft auf ihrer Haut“98. Was sollte er diesem Revolutionsverständnis noch an Begrifflichkeiten und Verwendungen von Freiheit entgegenhalten? Nach einem vergleichbaren Muster erfolgte die Gestaltung bei zwei Szenen, nämlich den Verhaftungen von bekannten Stadtguerilleros, die unterschiedlich abliefen. Für beide wird im Text ein Kontrast zwischen einer Darstellung in der Zeitung und dem Rücksprung in die eigene erlebte Vergangenheit aufgebaut. Von der Verhaftung von Dieter Kunzelmann erfuhr Vesper seinen Aufzeichnungen nach durch Printmedien. Im Nachlass findet sich ein Zeitungsausschnitt mit einer Photoreihe von den optischen Verwandlungen, denen Kunzelmann sich auf der Flucht vor der Polizei unterzog99. Daher dienten nicht einmal mehr diese grobkörnigen Photographien zum Abgleich mit dem Bild von früher, geschweige denn mit dem Bild der eigenen Erinnerung. Zunächst nimmt Vesper diese Zeitungsmeldung als längeres Zitat auf: „Veränderung der ‚linken‘ Sprache in Deutschland; Umzug aus der Esoterik der Abstraktion ins Dickicht des Dschungels zwischen Politik, Subkultur und Unterwelt. Da komm‘ mal einer raus, verdammt! Und kein Bulle blickt durch. Und doch: Kunzel ist weg vom Fenster: NEUN MÄNNER UND DOCH NUR EINER – DIETER KUNZELMANN! ‚Monatelang hat er der deutschen Polizei das Leben mit Ver98 DLA, A:März 125 a II. 99 DLA, A:März 125 a II. Abdruck in der Süddeutschen Zeitung vom 30. November 1970.
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kleidungen, Brillen, falschen Bärten, Schnäuzern und Haarteilen sauer gemacht. Doch jetzt hat es ihn dennoch erwischt: Am Sonntagabend ist der ehemalige Westberliner Kommunarde (unsere Bilder) nach seiner Ankunft auf dem Berliner Flughafen Tempelhof verhaftet worden. Gegen den 31jährigen liegt ein Haftbefehl wegen des Verdachts der menschengefährdenden Brandstiftung vor. Nach Angaben der Polizei hat Kunzelmann die Briefumschläge adressiert, die an Weihnachten 1969 mit Drohungen, es würden Brände gelegt werden, an Westberliner Kirchen verschickt wurden. Erst aufgrund eines Hinweises (das Schwein!) konnte ihn aber die Polizei durch seine Freundin ausfindig machen, mit der er sich treffen wollte. Trotz seines falschen Bartes erkannten ihn die Beamten.’ Wieder so eine Denunzianten-Scheiße. Weil wir Menschen sind und tun wollen, was Menschen tun. Und Kunzelmann vorm ASTA FU Berlin, stoppte den Bus im Halteverbot und wir quatschten über ‚Klau mich‘, als die Bullen schon da waren, hochnervös wegen der Anti-Springer- und 1. Mai- und Notstandsdemonstration. Kunzelmann haute dem einen gleich die Mütze vom Kopf, der rannte zurück zum Streifenwagen und rief übers Telefon nach Verstärkung, während der andre pig Kunzelmann beim Schlafittchen packte und reinzerren wollte in den Streifenwagen. Und von hinten zerrten Langhans und ich am Kunzelmann, […].“100 100 B. Vesper: Reise, S. 284. Der Rückblick muss sich auf das Jahr 1968 beziehen. Das Buch Klau mich kam 1968 in Vespers Edition Voltaire heraus und wurde stolzer Bestandteil der vielfältigen Erinnerungen an die Kommune I: „Wir mauerten und betonierten und stellten dabei ein Buch zusammen: ‚Klau mich‘. Die Baukosten bestritten wir zum Teil mit dem Vorschuß für den von Bernward Vesper herausgegebenen Band. Es bestand zu einer Hälfte aus einer Dokumentation des Prozesses um die Flugblätter zum Brüsseler Kaufhausbrand, zum anderen aus gesammelten Kuriosa, Flugblättern, Zeitungsausschnitten, aus Anklageschriften und Formularen, Sprüchen und Bildern, aus so vielen Aufforderungen zu strafbaren Handlungen, wie zwischen zwei Buchdeckel passten.“ (U. Enzensberger: Die Jahre, S. 301) Außer in seiner Funktion als Verleger und Vorgänger von Andreas Baader im Leben von Gudrun Ensslin hat „der schwierige Vesper“ (Ebd., S. 187) übrigens keinen Eingang gefunden in die Erinnerungen an die Kommune I und ihr Umfeld – ganz im Gegensatz zu seiner eigenen Wahrnehmung in Die Reise, in der die Gruppe um Fritz Teufel und Rainer Langhans ein wichtiger und immer wieder angesteuerter Bezugspunkt war. Gerade Kunzelmann wurde in dieser Schnittstelle genannt, weil er die ganze Entwicklung der 60er Jahre mitgemacht hatte und bereits zu diesem Zeitpunkt zu so etwas wie einem Archetyp geworden war. Er selbst erinnerte sich an seine Verhaftung und zeigte, dass der Vergleich von Person und Bild der Person auch anderen schwer fiel: „Am 19. Juli 1970 bin ich in der Halle des Flughafens Tempelhof verhaftet worden – trotz meiner bestens gefälschten Ausweispapiere. [...] Auf der Polizeistation des Flughafens waren die Beamten zunächst jedoch unsicher, ob ich tatsächlich
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Es handelte sich also nicht um die erste Verhaftung. Auf die Zeitungsmeldung folgt im direkten Anschluss eine Niederschrift einer zeitlich zurückliegenden Verhaftung, bei der Vesper zugegen gewesen war. Doch die Entgegensetzung von vermittelter gegenwärtiger Aktion und unvermittelter erlebter vergangener Aktion entwickelt keine Qualität als Gegenposition. Der Kontrast funktionierte insofern nicht, als dass durch ihn zwar eine andere Erzähllinie eröffnet wird, aber eben nichtsdestotrotz eine Linie als Erzählstrang verlängert wird. Was 1968 in der Herausgeberschaft des Collage-Bandes Klau mich mit der Gegenüberstellung verschiedener Formate (Zeitungsartikel, Gerichtsprotokoll, Steckbrief, Comic, eigene Niederschrift etc.) noch sowohl formal originell als auch entlarvend und subversiv gewirkt haben mochte, erschien Vesper drei Jahre später kraftlos. Als ebenfalls rein sprachliche Äußerung und damit ebenso fern von dem Geschehen hat der selbstverfasste Text keine Authentizität, einer Zeitungsmeldung übergeordnet wäre. Beide Texte unterliegen denselben Prädispositionen, mit denen Vesper hadert. Schließlich erlebte Vesper sogar noch die erste Verhaftung eines RAF-Mitglieds. Erleben heißt erneut, eine Zeitungsmeldung zu lesen: „Vorgestern haben die Bullen hier in der Lessingstraße Astrid Proll festgenommen, BILD zeigte den Fang auf der ersten Seite mit der Hauptschlagzeile an (‚Geschwister Scholl – die weiße Rose des Widerstands – Geschwister Proll, die gelbe Rose der Revolution‘ schrieb ihr Bruder Thorwald, der noch wegen des Kaufhausbrandes seine Reststrafe absitzt.) Sommer 1967: Ich nehme die Tasse vom Tisch und schleudere sie, laß’ sie aber nicht los, setze sie ab und sage: ‚Am liebsten hätte ich die Tasse an die Wand geschmissen‘. Antwortet Thorwald: ‚Uns wäre es lieber, du hättest sie wirklich geworfen!’“ 101
Es erfolgt erneut ein Abgleich zwischen der Gegenwart der Zeitungsmeldung und der Vergangenheit der eigenen Zeugenschaft. In dieser Textpassage bringt er erneut die Person sei, nach der seit neun Monaten gefahndet wurde. Ich beobachtete, daß hinter einem Vorhang in dem Vernehmungsraum andere Beamte, vermutlich vom Staatsschutz, saßen, die mich über meinen Dialekt und meine Stimme identifizieren sollten. Fragen beantwortete ich daher nur knapp und bemühte mich, zum ersten Mal in meinem Leben ein perfektes Hochdeutsch zu sprechen. Kurzzeitig sah es fast so aus, als ob sie mich wieder frei lassen würden, doch dann entschied man, mich sicherheitshalber zur Überprüfung meiner Fingerabdrücke in die Gothaer Straße zu bringen. Dort waren mir in den vorhergegangenen drei Jahren mindestens zehnmal die Abdrücke aller meiner Finger abgenommen worden, so daß mir bereits auf der Hinfahrt klar war: diesmal mußt du dich auf einen längeren Zwangsurlaub einstellen.“ (D. Kunzelmann: Leisten Sie keinen Widerstand, S. 130) 101 B. Vesper: Reise, S. 588.
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beides nicht zur Deckung. Stellt sich bereits bei der Baader-Befreiung die Frage nach dem Stellenwert und dem Ort der sprachlichen Äußerung bei einem Vorgang, der eine Tat zum tatsächlichen Ereignis und damit einer Tatsache werden lässt, so stellt Vesper bei den Festnahmen die Frage nach der historischen Linie, in die sie gestellt werden konnten. Das ist wiederum ein Ablauf durch Narrativierung, durch diverse erzählerische Verknüpfungen unterschiedlichster Art. Arbeitete sich Vesper zu Beginn seiner Schreibtätigkeit noch an Gegenstrategien ab, indem er größere Erzähllinien wiedergab und selbst entwarf, so hat er sich gerade an den beiden genannten Beispielen am Einsatz anekdotischer Kontrapunkte versucht. Doch gelang auch der Form der Anekdote nicht, die großen Bögen und die von ihm selbst so vehement kritisierten Aspekte sprachlicher Wiedergabe zu entlinearisieren. Zum Jahreswechsel 1970/71 blickte Vesper auf das Geschaffene zurück, auf eine braune Mappe, sein „Buch“ – ein Wort, das er selbst mittlerweile in Anführungsstriche setzt, „der selbstgepflanzte Irrgarten, in dem ich mich verirre“, „ein Stapel Papier, eine Reise, auf der jede Situation die andere dementiert“102. Während die Rote Armee Fraktion sich zunehmend aufbaute, organisierte und in ihren Mitteln radikalisierte, verlor Vesper endgültig das Vertrauen in „Revolution“ oder „Praxis“ und gab die Hoffnung in „Schreiben“ und „Sprache“ auf. In seinen Aufzeichnungen wählt er für sich und sein Projekt eine radikale Form. In seinem Nachlass findet sich eine Vielzahl von beschriebenen linierten Karteikarten, DIN-A5 „Brunnen Nr. 8405“, die mit einer Schreibmaschine beschriftet sind, allerdings nur einzelne verstreute Wörter und Zeichen versammeln und kaum noch vollständige Sätze bilden. Zwar ließe sich sagen, dass Vesper hier lediglich konzeptuelle Stichwortsammlungen angelegt hat, Karteikarten im klassischen Gebrauchssinn. Jedoch überwand er damit sein Problem mit Satz, mit Erzählung, mit Beschreibung und mit Linie. Durch diese Anordnung entstand eine nicht-narrative Historiographie, die eher an Skizze, Liste und Tabelle orientiert war. Eventuell hat Vesper einen Zettelkasten angelegt. Für die Ausgabe letzter Hand nahm der Herausgeber Jörg Schröder einige Karteikarte in das Buch auf. So ist beispielsweise das Jahr, um das sich so viel drehte, auf der Karteikarte Nr. 95 konzentriert versammelt: „1968 aufbruch in den hass rudi: che-vorwort von rudi gudrun notstand (mai,krahl) sturm auf den justizpalast (///////), schnee, matsch, dutschke, gaston salv 102 Ebd., S. 500/501.
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vielleicht kommt eine periode, wo wir cool genug sind, Hass macht blind, wir machen fehler, aber wir sind kaputte [menschen] maschinen, die denjenigen treibstoff brauchen, der sie überhaupt noch in betrieb hält“103
Am Ende muss man sich fragen, ob nicht gerade ein derartiges Fragment der Reiz von Vespers Nachlass ist und, ungeachtet jedweder Intentionen oder Bearbeitungszustände, als Material besser so wie es ist und nicht so, wie es hätte werden können betrachtet werden muss. Mit der Zettelsammlung endet auch die Versteh- und Nachvollziehbarkeit von Vespers Aufzeichnungen. Sein „inner space“ stand in den letzten Etappen am Rande des Wahns, sein ursprünglicher Treibstoff „Schreiben“ wurde abgelöst durch den Treibstoff Lysergsäurediethylamid. LSD gewinnt im Buchprojekt zunehmend größeren Raum. Vesper entwarf beispielsweise in einem seiner letzten noch in sich geschlossenen Textbausteine zu Beginn des Jahres 1971 einen „Kleinen Trip-Baedeker“104. Aus einem bald darauf einsetzenden, nicht enden wollenden Drogentrip ergab sich, dass sein letztes Notizheft105 unleserlich ist. In Beschlag genommen von der Droge, versuchte Vesper sich ausschließlich an der Niederschrift von chemischen Formeln aus einzelnen Buchstaben und Strichen. Er suchte nach eigenem Bekunden seine „Weltformel“, mit der er den Dingen auf den Grund gehen wollte. Und so standen am Ende eines Faustischen Begehrens weder innere noch äußere Geschehnisse, weder Personen noch Abläufe oder Gedanken, sondern „die Dinge“: „Wir sollten uns nicht mit der Frage herumquälen, wie die Worte entstanden sind, sondern die Dinge – damit wir eines Tages ohne die Sprache auskommen können.“106 Mit dem Abschied von der Sprache hat Bernward Vesper sich in seinen „inner space“ zurückgezogen und kurz darauf Abschied vom Leben genommen.
103 B. Vesper: Reise, S. 688. 104 Ebd., S. 501ff. 105 DLA, A:März 125 o. 106 B. Vesper: Reise, S. 218.
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3.3 K ONTROLLIERT VON R AINALD G OETZ Die Keime und Formen der revolutionären Macht entstehen im Prozeß des revolutionären Kampfs. […] Dieser Prozeß ist nur möglich und lebt durch die Entscheidung und Anstrengung jedes einzelnen, der sich über das gemeinsame Ziel: die Zerschlagung des Systems und die revolutionäre Umwälzung – in den Zusammenhang der Front stellt, in der ganzen Konsequenz, als ganzer Mensch. Dieser subjektive Sprung ist das Entscheidende, von dem abhängt, wie weit die Front hier kommt. RAF-ERKLÄRUNG: AN DIE, DIE MIT UNS KÄMPFEN, JANUAR 1986.
Das Museum of Modern Art in New York mutet seinen Besuchern eine Erinnerungsarbeit an die Rote Armee Fraktion zu, insbesondere an den Deutschen Herbst des Jahres 1977. Der Bilderzyklus 18. Oktober 1977 zeigt die Auseinandersetzung des Malers Gerhard Richter mit den Nachbildern der RAF, „a German left-wing terrorist group that perpetrated a number of kidnappings and killings throughout the 1970s“107, wie der Erklärungstext diese Arbeiten knapp historisch umreißt. Die fünfzehn monochromen Gemälde aus dem Jahr 1988, gefertigt nach Photographien diverser Ursprünge vom „Jugendbildnis“ Ulrike Meinhofs über Andreas Baaders „Plattenspieler“ bis zur „Erhängten“108, sollen nach Meinung des Malers als Wiederholung von ästhetischem Bildmaterial, sollen als Geschichtsbilder „uns zu neuen Einsichten bringen. Und es kann auch der Versuch sein zu trösten, das heißt, einen Sinn zu geben. Es geht doch auch darum, daß wir so eine Geschichte nicht einfach vergessen können wie Müll, sondern versuchen müssen, anders damit umzugehen – angemessen.“109 Ebenso wie die Versuche von Trost und Sinn kann die Frage der Erinnerung, gar des vom Maler angesprochenen „angemessenen“ Umgangs, nicht abschließend beantwortet werden. Das war nicht nur zum Zeitpunkt dieser Äußerung umstritten, sondern wird es bleiben, mindestens solange sich noch Zeitzeugen an der Diskussion beteiligen können.
107 http://www.moma.org/collection/object.php?object_id=79037 vom 06.06.2011. 108 http://www.gerhardrichter.com/art/paintings/photo_paintings/category.php? catID=56 vom 01.05.2011. 109 Gerhard Richter im Interview: „Ich will den vollen Ernst des Todes zeigen“, in: tazJournal „20 Jahre Deutscher Herbst“ 1/97, S.18/19.
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Die Fragen jenseits seiner Erklärungen, die Gerhard Richter durch seinen Bilderzyklus selbst aufwirft, suchen nach Verknüpfungen der RAF-Erinnerung an bestimmte Materialitäten. Zugleich fragen sie die nach dem Umgang mit dieser Materialität, nach der Re-Kodifizierung und narrativen Inszenierung eben als Geschichtsschreibung. Diese Fragen waren 1988, etwas mehr als zehn Jahre nach dem Deutschen Herbst, noch ungewöhnlich und herausfordernd. Und die Antworten in der Richter’schen Umsetzung und Selbstexplikation waren bereits wieder infrage zu stellen. Am pointiertesten formulierte Klaus Theweleit mit erneut beinahe zehnjähriger Verzögerung in den „Bemerkungen zum RAF-Gespenst“: „Etwas darstellen, wofür die RAF ‚stünde‘, kann Richter […] nicht. Was bleibt, sind die Bilder der Toten selber. Sie sind schließlich malbar wegen der Abwesenheit eines Inhalts […]. Der radikale Gestus im Leeren, den sie hinterlassen und ausstrahlen, ist malbar, die Körper der Toten selber, Schreibmaschine, Plattenspieler, die Zellen, weil was anderes nicht da ist, was die RAF in irgendeiner Weise hinterlassen hätte an Konkretion, an konkreter Politik, außer Mord und dem abstrakt Exzeptionellen. Es sind gespenstische Bilder, noch ghosthafter als Richters zugehörige Rede sagt. Sein durchaus schlingernder Kommentar wiederholt dabei den Gestus des politischen Radikalen als abstrakten Gestus in der Kunst: an den großen Themen hängen; Furcht vor Produktion von Belanglosigkeiten. Letztlich verbindet allein dieser Punkt mit dem Radikalanspruch der Toten von Stammheim: nicht im Belanglosen bleiben…“110
Als Hintergrund einer solchen Aussage mag eine umfassendere Ikonophobie Theweleits in Bezug auf die RAF geltend gemacht werden können, ist ihm doch die RAF insgesamt keine Problemstellung von und für Bilder, weder von photographischen noch bewegten. Aber nicht allein aus diesem Grund verreißt er sie als Geschichtsmedien. Theweleit macht in seinen Ausführungen deutlich, dass Entstehung, Existenz und Problematisierung der Roten Armee Fraktion eine Angelegenheit der Sprache gewesen sei, „der Sprechsituation im deutschen Nachkrieg zwischen den Generationen.“111 Theweleit entwickelt seine RAF-Symptome sprachlich, mit und aus den Worten und Texten, er kritisiert die RAF als Projekt der „Sprachverengung, Denkverengung“112, als Anhäufung von „Verblö-
110 Theweleit, Klaus: „Bemerkungen zum RAF-Gespenst. ‚Abstrakter Radikalismus‘ und Kunst“, in: Ders, Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1998, S. 13-100, hier S. 69. 111 Ebd., S. 17. 112 Ebd., S. 34.
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dungssätzen“113, als „Verzweiflungsakt in der Leere“114, als in der Rückschau nichts anderes als „abstrakte[n] Radikalismus“, „der sich auf Gesten, auf Ansprüche, auf Forderungen beschränkt, revolutionäre Haltungen verbreitet in Sätzen, Parolen, dabei Analysen kaum mehr durchführt.“115 Mit dieser Kritik offenbart Theweleit zugleich, dass durchaus etwas geblieben ist von der RAF. Es bedarf nämlich eines unheimlichen Textkonvoluts, um nicht nur überhaupt, sondern insbesondere in dieser Art und Weise über ihren Terrorismus zu sprechen. Zu ergänzen ist, dass Theweleit sein RAF-Gespenst nicht allein vor eigener „biographische[r] Notiz“116 entfaltet und damit aus einer Rückschau auf selbstverfassten archivierten Text. Vielmehr entstand sein Vortrag „parallel zu ‚szenischen Einrichtungen‘ eines Teils der Gefängnisbriefe der RAF-Gefangenen auf der Bühne des Berliner Ensembles.“117 So wird schon durch den Äußerungskontext deutlich, dass es parallel und simultan geschichtet durchaus viele Praktiken gab, die Erinnerung erfahrbar zu machen und das Textkonvolut ästhetisch zu verarbeiten. Daraus resultierend offenbart sich ein Dilemma dieser Historiographie. Sie versucht, sowohl das Gespenstische als auch das Nicht-Gespenstische zu inszenieren: „Bloße ‚Erinnerung‘ ist keine brauchbare Umgangsform mit Geschychte(n), ebensowenig wie die – ja ebenfalls angelaufene – Geschichtsschreibung der ‚Fackten‘.“118 Zugleich kamen avanciertere Ansätze nicht über eine künstlerische Übernahme der RAF als „Radikale Abstraktions-Fraktion“ hinaus – beziehungsweise liefen in dieselbe Leere, in der die Terroristen sich positionierten. Neben den Arbeiten Gerhard Richters muss so auch Christian Geisslers Roman Kamalatta (1988) gelesen werden. Die sich kreuzenden Topoi im Katalysator RAF zusammen zu führen hieße nach einem solchen Anspruch, die Geschichte der RAF zu erzählen als Wortarbeit aus und mit Sprache und Bildern, Körpern und Leere, Politik und Kunst, Abstraktion und Realität – und zugleich zu hadern mit den Modi der Repräsentation und der Wiederholung. Das wäre ein Gegenprogramm zu Großerzählungen wie Austs Baader-Meinhof-Komplex, das wäre ein künstlerischer Gegengestus zu Breloers TODESSPIEL. Nicht nur Theweleit selbst meint nun (ohne es natürlich explizit auszuformulieren), diese hochgesteckten Ansprüche mit seiner Metareflexion über die terroristischen Ghosts einlösen zu können. Er erkannte schon in 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 35. 116 Ebd., S. 13. 117 Ebd. 118 Ebd. (Schreibweise des Originals übernommen)
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zeitnäheren Arbeiten der 1970er Jahren Stellungnahmen mit umfangreicherem Programm als Wiederholung oder Repräsentation von vermeintlichen Fakten. So haben sich insbesondere die Versuche von Bernward Vesper oder Rainer Werner Fassbinder an die genannten Differenzierungen herangearbeitet. Ein Autor nun – und darin vergleichbar mit Vesper –, der sich über einen langen Zeitraum mit der Roten Armee Fraktion, mit dem politischen Geschehen zu Zeiten des Terrors in der BRD und mit der eigenen Position als Schreibender auseinandergesetzt hat, ist Rainald Goetz. Er arbeitete aus einer zeitlich anders gelagerten Perspektive als Vesper, er zeichnete nicht instantan auf, sondern schaute zurück. Goetz verfasste seine Geschichte als ein Historienstück. Jedoch teilte er in gewisser Weise lange ein Schicksal mit Vesper Blick auf die Rezeption. Er wurde ebenfalls „in all den ‚Nachrufen‘ auf 68 & das RAF-Gespenst“119 ausgespart. Die Ursache hat Theweleit gleich nachgeschoben: „Die publizierende Öffentlichkeit will kein Geschichts-Bild, sie will Opfer-Täter-Perpetuierung.“120 Insbesondere in dem Roman Kontrolliert121, im selben Jahr entstanden und erschienen wie Richters Bilderzyklus, offenbart Rainald Goetz, dass er gewusst haben muss, in Bernward Vespers Romanfragment ein Protowerk vorliegen zu haben. Er bekundet, den „Schröderirrweg richtung Untergrund“122 einst angetreten zu haben, „noch so eine Märzgeschichte“123 verfasst haben zu wollen – „bis sich rausstellt, daß ich da, wo ich nicht herkomme, nicht hin kommen kann.“124 Wo kommt also Rainald Goetz’ RAF-Geschichte her und wo kommt sie hin? Und lässt sich eine an Klaus Theweleits RAF-Lektüre angelehnter Anspruch als These für Kontrolliert überhaupt aufrechterhalten? 119 K. Theweleit: RAF-Gespenst, S. 80. 120 Ebd. 121 Goetz, Rainald: Kontrolliert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 122 Ebd., S. 125. 123 Ebd. Der Herausgeber Jörg Schröder hatte in seinem März-Verlag Die Reise nach Vespers Tod publiziert, vgl. Kapitel 3.2.1. 124 Ebd. Als ausgewiesener Kenner der Schnittstellen von Literaturproduktion und Psychiatrie hätte Rainald Goetz sich sehr fundiert und ausgiebig dazu äußern können, er beschränkte sich jedoch auf die eigentümliche Sentenz: „Bücher machten Kranke kränker, Eppendorfer Psychiatrie sei Irrweg, Vesper solle sich um Felix kümmern, anstatt sich den Tod zu nehmen.“ (R. Goetz: Kontrolliert. S. 175) Nichtsdestotrotz hat sich Goetz tatsächlich einige maßgebliche Ansätze für Kontrolliert von der Reise zu eigen gemacht. Insbesondere die drogengeschwängerten Schreibversuche (Ebd., S. 92/93) sowie die Selbstimagination in eine (Schreib-)Zelle sind besonders markant, wenn auch nicht als wesentlicher Topos inszeniert.
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3.3.1 RMG begegnet RAF – Ein ‚Deutscher Herbst‘ im Jahr 1978 Oh how I realised how I wanted time, Put into perspective, tried so hard to find, Just for one moment, thought I'd found my way. JOY DIVISON: TWENTY FOUR HOURS, 1980.
Als Rainald Maria Goetz seinen zweiten Vornamen noch nicht abgelegt hatte, reüssierte er mit einem kurzen Essay, der sich im Text als die „Geschichte meiner Anpassung“125 klassifiziert und der „Tendenzen gegen die Anpassung, wider ein Leben ohne Kopf“126 proklamiert. Die sich autobiographisch gerierende Adoleszenzreflexion mit dem Titel Der macht seinen Weg. Privilegien, Anpassung, Widerstand erzählt von und mit den Klischees des Einzelgängertums in Schule und Universität, von existentialistischem Ekel und Isolation, von (sozialen) Fluchten und (intellektuellem) Freiheitswillen, vor allem aber vom Schreibprozess und der Vergeblichkeit der „Flucht […] ohne Konsequenzen“127 im Schreiben. Der Text ist ein Rückblick auf den sich jährenden Herbst des Jahres 1977. Der Ich-Erzähler hält sich in Paris auf: „Zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik die ‚Sympathisantenhatz‘ in vollem Gange ist – nach den toten Terroristen in Stammheim und nach dem toten Schleyer –, verfolge ich, informations-gierig, die linke französische Presse.“128 Goetz beschreibt die autobiographische IchFigur als eifrigen Zeitungsleser, bis zu zwei Stunden täglich, seit seinem sechzehnten Lebensjahr. Die Zeitungslektüre hat daher auch einen festen Platz in den Er- und Vermittlungstechniken der besagten „Tendenzen gegen die Anpassung
125 Goetz, Rainald Maria: „Der macht seinen Weg. Privilegien, Anpassung, Widerstand“, in: Kursbuch 54 – Jugend, Berlin: Rotbuch 1978, S. 31-43, hier S. 34. 126 Ebd., S. 42 127 Ebd. Diese Fluchten finden sich im Text noch medial und topographisch erweitert. So ließ ihn seine „linke Extremisten-freundliche Literatur“ (Ebd.) im Auto beim deutsch-französischen Grenzübertritt vor Angst erzittern, der Besitz blieb jedoch vollkommen folgenlos. Ebenso blieben von der verbotenen Asta-Wahl nur „ein Stempel im Studienausweis“ (Ebd.) und von dem Aufruf zur universitären Urabstimmung eine Unterschrift auf der Liste. Markante Schriftbelege der Konsequenzlosigkeit von Schrift auf Papier, mündend in eine „Grauzone politischer Positionslosigkeit“ (Ders., S. 35), waren die achselzuckend belächelten „täglichen Stöße Flugblattpapier auf den Mensatischen“ (Ebd.). 128 Ebd., S. 35.
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[…]: die Bücher, die Zeitung, das Schauen, Gespräche.“129 Sie sind im Text als die Medienpraktiken der Welterfahrung, der Reflexion und der Nicht-Anpassung stilisiert. Während des Aufenthaltes in Frankreich bekommt das Zeitunglesen in den Zeiten der bundesrepublikanischen Nachrichtensperre einen neuen Stellenwert: „Die fremde Sprache erleichtert mir, paradoxerweise, den Zugang zu den Inhalten eines revolutionären Vokabulars, das mir seit meinen Oberschultagen in seiner Etiketten- und Schablonenhaftigkeit als denkfeindlich erschienen und darum zuwider war. Plötzlich durchstoße ich jetzt diesen Ekel, weil es nicht mehr um die bloße Äußerlichkeit von Benennungen geht.“130
Ein Zugang zur RAF, zu ihrem Terrorismus und den beteiligten Terroristen erschließt sich zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort durch den Sprachtransfer, durch den Prozess der Übersetzung. Der besagte Ekel an den Formen von Repräsentation in der BRD, ausgewiesen als regelrecht körperliche Grundhaltung seiner Umwelt gegenüber, ist dem „Ich“ dadurch genommen worden. Dieser Ekel wird ersetzt durch eine Aufteilung in zwei ineinander verschränkte Paradigmen: körperliche Reaktion und geistige Verfassung. So ist zunächst die körperliche Reaktion auf das „politische und öffentliche Klima“131 erzählt, das „den Atem“ nahm, also weder Aussprechen zuließ noch Zeit und Ort zum Verschnaufen gewährte, und zu jenem Durchatmen, das die Grundvoraussetzung für die „besonnene[n] Köpfe“132 war, nach denen sich der Erzähler vergeblich sehnt. Eine weitere Rekurrenz ist die Semantik des Wahns in dieser längeren Textpassage. Aus dem Schrecken der Radiostimmen und der „kriegerische[n] Hysterie“133 der Zeitungstexte resultiert eine Nivellierung der „Terrorismen“ unter dem Zeichen des Wahnsinns, „der politische Wahnsinn des Terrors verliert angesichts des staatlichen Wahnsinns der Reaktion viel von seinem scheußlichen Gesicht.“134 Obwohl „Goetz“ sich also mit Druckerzeugnissen und Radio in Frankreich über die Geschehnisse informierte, so ist es doch weniger gehörter und gelesener Text, der diesem Klima sowohl Form und Verarbeitung verlieh und ihn in die Erinnerung einschrieb. Es ist vielmehr ein Film:
129 Ebd., S. 40. 130 Ebd., S. 35. 131 Ebd., S.36. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd.
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„Mein ‚Deutschland im Herbst‘, von Frankreich aus gesehen, ist ein bizarres, mich beängstigendes Bild, ein Lehrstück zu Massenhysterie und Volkszorn, Selbstzensur und Denkverbot. Wie oft habe ich, nachdem ich Monate später von Frankreich zurückgekommen war, die selbst hysterische und rundum psychopathologisch erscheinende filmische Eigendarstellung des Rainer Werner Fassbinder verteidigt: Diese ohnehin kaputte Persönlichkeit leidet mit jeder Faser seines Körpers an dem politischen Klima, wird von ihm vollends zerstört. Ich sah darin Ansätze meiner eigenen Betroffenheit: ins Extrem verlängert.“135
Es waren die Filmbilder des Rainer Werner Fassbinder aus dem Kompilationsfilm DEUTSCHLAND IM HERBST aus dem Frühjahr 1978, die eine Stelle zwischen den Nachrichten, den Geschehnissen und der Verortung des Selbst überbrückten136. Das, was sich die Person „Goetz“ in ihrer rückblickenden Selbstdarstellung als ein Selbst entwirft, hatte sein Zerrbild im Kino erblickt und trägt es in das Format der Verschriftlichung zurück. Ein Einbringen des eigenen Körpers in den Textkörper nach dem filmischen Fassbinder-Vorbild war ihm im Text zwar weiterhin unmöglich. Dennoch wurde dieser Herbst auch zu einer Transitionsphase einer zunehmend körperlichen Politikerfahrung des Erzählers. In diesem Zeitraum trat eine Abstraktion der Text- und Bildkorpora zurück zugunsten der eigenen Physis. Intellekt, Psychopathologie und Körper fielen im Pariser Herbst des Jahres 1977 erstmalig und besonders intensiv mit dem Topos „Politik“ zusammen. Sie ent-abstrahierten politische Vorgänge und bestimmten dementsprechend auch die Semantik des Schreibens. So lautet die Essenz des Rückblicks mit dem Abstand von beinahe zwölf Monaten: „Vom Kopf, der bislang dafür zuständig war, ist mir die Politik mit einem Schlag ins Herz gerutscht: das bin ich selbst, der da betroffen ist, meine eigene Freiheit, zu denken, mich zu äußern, zu handeln, die bedroht ist, mein eigenes Recht auf Information; das sind keine Abstrakta mehr, ich bin Bürger dieses Staates, der mir Angst macht, fast nur noch Angst macht in seinem Gleichschritt von panischem Volksempfinden und regierendem Machtapparat.“137
Zugespitzt wurde diese Entwicklungstendenz durch die „reale Situation in Paris“138. Dort kam es im Rahmen der Diskussion um die Auslieferung des inhaf-
135 Ebd. 136 Vgl. Kapitel 4.2.1 Nach der Krise: Der RAF Orte und Geschichtsbilder finden. 137 Goetz: Der macht, Fußnote 1, S. 37 138 Ebd.
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tierten Anwalts Klaus Croissant139 nicht nur zu Aufrufen und Petitionen, sondern auch zu (verbotenen) Demonstrationen. Im Zuge einer Solidaritätskundgebung machte Goetz Bekanntschaft mit den „aggressive[n] Rollkommandos der Demonstrationspolizei CRS“140. Er wurde von der Polizei festgenommen, malträtiert, erkennungsdienstlich behandelt, ausgefragt und ohne weitere Information eine halbe Nacht in einer Arrestzelle festgehalten. Neben der Wut und Verzweiflung wuchs im Zuge dieser Maßnahmen am eigenen Leib auch die „politische Hoffnung“141 und die „radikalere Bereitschaft zur politischen Tat“142. Für den jungen Mann stellte diese Nacht eine ganz neue, einschneidende Erfahrung in der Konfrontation des eigenen Körpers mit dem Körper der Staatsmacht dar. Jedoch war ihm bewusst, dass es nur für ihn als jungen Menschen neu war, denn seine Eindrücke waren „vermutlich ein alter Hut für die Aktiven von 1968“143. An dieser Konstellation setzt das zentrale Problem von Dokumentation und Literatur ein: „So hingeschrieben sind das nur wieder Worte, die ich längst vorher kannte, aus den zahllosen Erfahrungsberichten, wie oft man das liest. Und doch sind sie für mich jetzt voll von Erlebnis und von erschreckender Wahrheit. Ich scheue das Pathos nicht: Wie ich wünschte, gerade wenn ich diesen Pariser Herbst erinnere, daß meine Worte mehr sein könnten als nur immer wieder Worte.“144
Die ‚Realerfahrung‘ lässt sich mit Buchstaben nicht darstellen, gar an die Leser vermitteln. Für die sprachliche Formgebung und die damit zusammenhängende Archivierung dieses Herbstes und für die Verzweiflung sind Wörter nicht als annähernd adäquater Signifikant aufzufassen. Sie beziehen sich stets auf andere Wörter. Lediglich die Filmbilder von Rainer Werner Fassbinder vermochten es, diese Zeiten des Terrorismus zerrspiegelbildähnlich zu gestalten. Goetz haderte 139 Klaus Croissant (1931-2002) war unter anderem Wahlverteidiger von Andreas Baader und einer der sogenannten „RAF-Anwälte“, die wegen „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt wurden. Croissant versuchte, sich der Verhaftung durch Flucht nach Frankreich und Beantragung von politischem Asyl zu entziehen. Er wurde dort jedoch im September 1977 festgenommen und am 17. November 1977 an die BRD ausgeliefert, wo er schließlich 1979 zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt wurde. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 38 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Ebd.
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im Deutschen Herbst und zu Beginn seiner Veröffentlichungen mit den Aufzeichnungsmöglichkeiten und -formen des Schriftstellers, als er auf den Terrorismus der RAF stieß. Damit entwarf er eine Grundfiguration, wie sie analog auch Bernward Vesper für sich und sein Schreiben feststellen musste, als er neun Jahre zuvor mit seinem Projekt Die Reise begann. Der Autor Rainald Maria Goetz jedoch überlebte im Gegensatz zu Vesper. Er hatte als Schriftsteller Rainald Goetz zunehmenden Erfolg und arbeitete kontinuierlich an den aufgeworfenen Problematiken weiter. Können seine Texte wie Irre (1983) und Subito/Hirn (1986) als Arbeit am RAF-Terrorismus gelesen werden, so wird doch mit Kontrolliert aus dem Jahr 1988 dezidiert „die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig“145 zu erzählen versucht. Damit hat Rainald Goetz mit dem zehnjährigen Abstand zu den Ereignissen und zugleich zu seinen ersten eigenen Zeitzeugenschaftsdokumentationen einen Roman vorgelegt, der vor dem biographischen Hintergrund des Autors als ReLektüre, Re-Flexion und Re-Skription der unter dem Namen „Rainald (Maria) Goetz“ unternommenen Versuche gelesen werden kann. 3.3.2 Materialschlacht – Ein ‚Deutscher Herbst‘ im Jahr 1988 Heute gestaltet sich mein Verhältnis zu der Zeit in der RAF als Wechselspiel von Distanz und Nähe. ASTRID PROLL: VORWORT VON HANS UND GRETE, MÄRZ 1998.
Bereits im ersten Satz der im Paratext sowohl mit „Roman“ als auch eher homonym mit „Geschichte“ ausgewiesenen Erzählung ist konstatiert, es werde im „Hier“ durch ein „Ich“146 erzählt. Das Erzählen selbst ist explizit thematisiert. Ein solches selbstreferentielles Erzählen von fiktiven Notationsmomenten147 erscheint regelrecht überbetont in den drei eigenständigen Teilen, „Schwarze Zelle“, „Diktat“ und „Im Namen des Volkes“, aus denen sich „Kontrolliert“ zu145 R. Goetz: Kontrolliert, S. 15. 146 Wenn auch auf Seite 104 zu lesen ist: „[…] ich heiße Rainald […]“, und dieser Rainald in Studium und Beruf dieselben Stationen nachzeichnet wie die Biographie des Autors, so wird doch für die Textanalyse in diesem Kapitel der autobiographische Pakt zunächst nicht akzeptiert, d.h. der Erzähler ist nicht gleichzusetzen mit dem Protagonisten, der wiederum nicht als der Autor verstanden werden sollte. 147 Auch hier ließe sich mit Blick auf Originalmanuskripte mit Rüdiger Campes „Schreibszene“ eine weiterführende Analyse durchführen.
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sammensetzt. Vor allem der genaue Augenblick der Niederschrift, von dem aus erzählt wird, erscheint zeitlich präzise im Präsens markiert, beispielsweise: „Heute ist Montag, der siebzehnte Oktober, kurz nach zwölf, nein, null Uhr zwei.“148 Das Jahr dieses „Heute“ ist im Text an keiner Stelle erwähnt, obwohl er sehr dicht angereichert ist mit Angaben zu Uhrzeiten, Wochentagen und Monaten. Abgesehen vom Eingangsverweis auf die zu schreibende und zugleich niedergeschriebene „Geschichte“ des Jahres 1977 lässt sich zunächst nur mit textexternen Recherchen dieser diegetische Notationszeitpunkt in das gleiche Jahr datieren. Denn wenn beispielsweise „am letzten Donnerstag die Entführung der Landshut“149 gewesen ist, also damit nur der 13. Oktober 1977 gemeint sein kann, so lässt sich zurückrechnen, dass der 17. Oktober 1977 tatsächlich auf einen Montag fällt. Die Präsenserzählung des ersten Kapitels gibt an, in zeitlicher Nähe, geradezu mittendrin und mit nur ganz knapper zeitlicher Verzögerung zu den laufenden Ereignissen aufgezeichnet zu werden. „Geschichte“ ist diesem Einstieg nach zunächst nicht als Rückblick auf Vergangenheit zu verstehen, sondern als gegenwärtiges und zeitnahes Miterleben, im Sinne von Mitlesen und Mitsehen. Den zeitlichen Momenten vergleichbar stark betont und rekurrent sind die örtlichen Umstände des Aufschreibens. Das erste Kapitel ist nach einem Raum benannt, „Schwarze Zelle“. Was genau damit bezeichnet werden soll, bleibt im Unklaren. Jedoch ist der Schreibort im ersten Kapitel wiederholt benannt als ein kleines Pariser Wohn- und Arbeitszimmer, beispielsweise „ […] hier in dem Paris in dieser Kammer […]“150 oder „Die Kammer hier, gut drei Meter fünfzig auf zwei fünfzig, hat kein Telefon [...]“151. Die Erzählposition wird durch ihre betonten Zeit-/Raumkoordinaten als eine Fern-Nah-Betrachtung auf die Ereignisse des Jahres konstruiert, eng angelehnt an die von Goetz geschilderte Situation seines Debüttextes von 1978. Synchron im bundesrepublikanischen Terrorherbst inszeniert, räumlich hingegen auf Abstand gehalten durch den Aufenthalt im westlichen Nachbarland, dafür aber befreit von der journalistischen Nachrichtensperre, wird vor allem das Geschehen des Terrorherbstes erzählt. Zugleich ist die Pariser Kammer zum Ort eines Reenactments von Gefängniszelle stilisiert, wenn beispielsweise behauptet wird, dass „…meine Kammer, die ich für mich natürlich Zelle nenne, komplett von außen kontrolliert, um mich und alles, was ich tue, total zu überwachen.“152 148 R. Goetz: Kontrolliert, S.15. 149 Ebd., S. 24. 150 Ebd., S. 18. 151 Ebd., S. 25. 152 Ebd., S. 19.
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Mehrfach zusammen mit den Aufzeichnungsmomenten genannt, werden zwei Aspekte der Arbeit in dieser Kammer eröffnet. Einerseits erscheint dieser kleine Raum über die Textverfassung hinaus als das permanent anwachsende Material- und Quellenarchiv, auf dem die Niederschrift fußen soll. Ihre wiederholte Charakterisierung als „Aktenzelle“153 lässt offen, ob sie entweder als mit Akten angefüllter Raum oder als Raum, der selbst als eine Akte fungiert, zu verstehen ist. Solche Erwähnungen von Aktenorten leiten über zum Aufschreiben aus einem ganz bestimmten Medienmaterial, beispielsweise: „Ich saß also am Tisch, um mich Materialien, Akten, Karten, Notnotizen, und das ganze ordnete sich mir und war so augenblicklich klar. Ich hörte, bitte sprechen, ich höre, was diktiert, diktiert, ich schreibe.“154 Das „Material“ ist mit einer Gestaltungsmacht ausgestattet, so dass es vorgibt, was an (Erzähl-)Text produziert wird. Aus Text entsteht neuer Text: Die Ordnung ist durch das „Material“ dem Autor vorgegeben, der als aufschreibender Mittler nur die Aufzeichnung vornimmt, ohne selbst Ordnung und Gestalt hineinzubringen. Die zu lesende Geschichte wäre demnach das, was neu geordnet das Ausgangsmaterial selbst verordnet hat. Eine detailliertere explizite Beschreibung jenes Ausgangsmaterial, also Art des Ursprungs, Inhalts und Formates, ist im Text trotz vielfach variierender Wiederholungen nicht zu finden. Es ist stets „Material“, und diese Betonung erklärt die Semantik diverser materieller Textträger als besonders wichtig für die Arbeit am Schreiben. Jedoch scheint es sich vorrangig um Zeitungartikel verschiedener Zeitungen und Zeitschriften zu handeln. Gänzlich verschiedene Beispiele sind einerseits eine Gerichtsverhandlung im Frühjahr 1977 (gegen Ingrid Bergen wegen Mordes an ihrem Ehemann)155 in einem entsprechenden Boulevardartikel genannt oder andererseits Feuilletonrezensionen zu Karl Poppers fünfundsiebzigstem Geburtstag (am 28. Juli 1977, das Datum wird nicht erwähnt) und dem Erscheinen seiner Memoiren156. Diese Artikel tagesaktueller Meldungen werden, zum Teil mit kurzen zynischen Kommentaren, oftmals jedoch ohne weitere Erläuterung in einfacher Aneinanderreihung angeordnet. In der Erzählung bekommt das folgende Form: „Kanzler Schmidt weiß, welche Sprengwirkung mit der Neutronenbombe auf uns zukommt. Christian [bester Freund und Studienkollege des Erzählers, Anm. d. Verf.] liest gerade Kaiser über Butt. Im Vermischten gibt es jetzt ein Poster, auf dem Willy Brandt mit einer Mandoline spielt. Sartre hat mit Guattari und Foucault ein Manifest geschrieben über 153 Ebd., S. 20, S. 66. 154 Ebd., S. 15. 155 Ebd., S. 70. 156 Ebd., S. 71.
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Kommunisten in Bologna. Plötzlich war es brüllend heiß. Ich warf die Zeitung von mir, sprang auf […]“157
Die Meldungen geraten zu einem Strom, in dem nicht mehr kategorisiert, beund gewertet wird. Der Ich-Erzähler präsentiert sich als manischer Leser, er geht „vom lesen“158 (sic!) aus und wird dadurch „paranoisch ichbezogen“159 gemacht. Jedoch bezieht sich seine Lektüre nicht allein auf faktuale Textgenres wie journalistische Artikel, sondern auch auf das fiktionale Erzählen – jedoch mit weitaus geringerer Begeisterung: „Ausgedachte Bücher halte ich nicht aus, da kriege ich, wie durch Kritizistik, körperliche Allergieanfälle, bewirkt durch Antikörper gegen alles ausgedachte Literatenzeug. Als gäbe es nicht eine Wirklichkeit, so reich und herrlich kompliziert, tatsächlich kaum zu fassen, gleich wie man sich müht, der jeder Bücherschreiber lebenslänglich gern der Diener sein darf, sich und ihr zur Ehre. Lesen ist deshalb Geheimdienst, nicht an sich, sondern am nächsten, weshalb man nur allein lesen darf. Zu zweit wird lesen Terror des Erforschens gegenseitiger Verdächtigung und Ausspähung.“160
Im Kontrast zur Lektüre des gedruckten und geschriebenen Wortes steht das Lauschen des gesprochenen Wortes vor dem Radio. Obwohl gerade hier die Worte hintereinander ertönen, gerade hier ein diachroner Strom produziert wird und die Unterteilung disjunkter Teile erschwert, ist Radio das technische Medium vor allen anderen, das dem Hörer Rainald die Geschehnisse des deutschen Herbstes als live erlebbar gestaltet. Die Entführung der gekaperten LufthansaMaschine „Landshut“ verfolgt er über Deutschlandfunk161, dieses Mithören wird nacherzählt. Doch ist eine gewisse Differenz zum Format des gedruckten Textes, zum immer wieder lesbaren und archivierbaren Wort ausgemacht: 157 Ebd. Diese Textstelle legt nahe, dass es sich um die „Süddeutsche Zeitung“ handelt, in der Joachim Kaiser Günter Grass' Neuerscheinung des Jahres 1977, „Der Butt“, rezensiert („Gelang Grass ein Danziger Zauberberg? SZ 13./14.08.77). Bereits am 29. Juli 1977 forderten französische Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Pierre-Félix Guattari, Gilles Deleuze, Roland Barthes und andere gegenüber der italienischen Regierung die sofortige Freilassung aller verhafteten „Genossen“, die Beendigung der „politischen Verfolgungen“ und der „Diffamierungskampagne gegenüber der linken Bewegung“. 158 Ebd., S.43. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd., S. 71f.
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„Natürlich macht das Radio sich keine rechte Vorstellung, was alle diese Worte in einem Hirn aus lösen können, auch wenn das Hirn vom Radio nicht gesteuert wird, obwohl die Radiowellen, auch wenn man das Radio aus schaltet, trotzdem in genau der Luft sind, die man dauernd atmet.“162
Die benannten Passagen sind explizite Markierungen von übernommenem Text im Erzähltext. Sie sind nicht immer als Zitat oder ursprünglich fremde Rede gekennzeichnet, jedoch aus dem Kontext recht deutlich als solche Übernahme und Hereinholung erzählt, sowie mit den Reflexionen angereichert. Doch damit endet die Gestaltungsmacht in der Form des Textes. Denn dem aufbewahrten und angeordneten „Material“, so schwierig der Umgang damit auch sein mag, steht nicht nur die unkalkulierbare und vage Eigenleistung des Lesers, Hörers oder Betrachters, sondern ebenso deren Folgen in den weiteren Übertragungswegen zur Sinnproduktion entgegen – unüberschaubar wird dem Erzähler, „was alle diese Worte in einem Hirn aus lösen können“163. Noch viel stärker als gegenüber dem materiellen Archiv ist dem biologischen Gedächtnis als Ort für Erinnerung Misstrauen und Nicht-Wissen entgegengestellt. Zunächst ist in Anbetracht der gesammelten Text- und Bildkonvolute die Frage formuliert, „welche Dinge sich warum in ein Gemüt einprägen.“164 Die Antwort auf das „Was“ und das „Warum“ bleiben offen. Das „Wie“ ist hingegen deutlich ausformuliert, wenn eine „Konsequenzlüge“ zur Sprache kommt, „die stetig ihre Arbeit tut, Erinnerung zu fälschen, um sie falsch zu speichern.“165 Bereits als Prozess der Wahrnehmung im Übergang zur Speicherung ist die fehlerhafte Leistung induziert. Im Sinne von begrenzten Möglichkeiten und zeitlichen Einschränkungen werden solche Fehler in Extremsituationen deutlich und damit rückgekoppelt an übernommene Fremderfahrungen in Zeiten des Terrors: „Hungerstreik und Schlafentzug schärfen zwar die Sinne, doch die Erinnerung im Kürzestspeicher in dem Hirn verflüchtigt sich vermutlich umso schneller, je überreizter der Beobachter seine Beobachtung, wie sich selbst, beobachtet.“166 Als einzige Hilfe für diese fehlerhaften internen Speicherungsvorgänge könnten externe Speicher (wie beispielsweise gedruckte Texte) eine Erinnerung katalysieren, wenngleich dies auf der Ebene eines Gedankenspiels verbleibt:
162 Ebd., S. 25. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 21. 165 Ebd., S. 23. 166 Ebd., S. 27.
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„Wenn also Erinnerung nur schadhaft und defektuös die Bilder des erinnerten [sic!] erinnert und dennoch willentlich unmöglich ganz zu unterdrücken und derart vergessen in sich ein geschlossen zu halten ist, so wäre umgekehrt totales Sehen einmal angeschauter Bilder zu jeder Zeit sehr wünschenswert, um sich so nach vielen Jahren die mit schwarzer Schrift bedruckten weißen Seiten eines Buches vor die Augen hin zu stellen, um sie noch mal zu entziffern.“167
Handelt es sich in dieser Passage weniger um ein mögliches selbstreflexives Konstruktionsprinzip der Erzählung als vielmehr um eine Art Gebrauchsanweisung für den Leser? Die Schnittstelle zwischen dem eigenen Erinnern, durchgängig als fehlerhaft, gestört oder selbstmanipulierend konnotiert, und dem angelegten Archiv, das vorwiegend funktional beschrieben und kaum mit wertenden Adjektiven belegt ist, bekommt aus einer Wechselwirkung eine besondere Eigendynamik zugesprochen. Eine Goetz’sche Theorie des Archivs in nuce ist dargelegt, die nicht nur für die Geschichte des Jahres 1977 gilt: „Bestimmte Sachen meiner Vergangenheit, in Zahlen ausgedrückt, das meiste, möchte ich möglichst rückstandslos vernichten. Ein Vernichtungsort ist mein so tadellos geführtes Archiv, daß es inzwischen zu einem derartigen Zeitmassiv angewachsen ist, daß alles weitere dort eingespeiste unauffindbar dort verschwindet. So quält mich alles Wichtige doppelt nicht mehr, weil ich es nicht weggeschmissen habe, sondern aufgehoben, prinzipiell jederzeit zugänglich, in wirklichkeit aber im Zeitmassiv verloren. Paradox klingt das nur so gesagt, weil das Archiv in echt auf Anfrage seine eigene interne Struktur zur Antwort entfaltet, und mich so mit was bereichert, was ich weder jemals eingegeben hätte, noch mir selber denken könnte.“168
Wenn die Gestaltungsmacht des Archivmaterials derart betont und detailliert ausformuliert vorgelegt ist und zugleich dem menschlichen Speichervermögen rekurrent so viel Misstrauen entgegengebracht wird, stellt sich die Frage, wie das erzählende „Ich“ mit dem trotz allem unverhohlenen Drang zur Narration zusammen zu bringen sein kann. Was charakterisiert die Schreiber-Figur „Rainald“ selbst und wie stilisiert sie sich als Akteur in der Produktion dieser Geschichte des Jahres 1977 – beispielsweise als freier Erzähler, als Sammler von Dokumenten, als Collagist und Arrangeur von Fundstücken oder doch als jemand jenseits dieser konventionellen Erzählerfiguren?
167 Ebd., S. 29. 168 Ebd., S. 87.
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Ganz deutlich betont ist die Abkehr vom klassischen Romanerzähler, er ist verschoben auf den „Schreiber“: „Der Schreiber ist eben ein Schreiber, nicht der Vorsteller, der Ausdenker oder Phantast.“169 Und als solcher betrachtet und beobachtet sich der „Ich-Erzähler“. Denn nicht allein um das Anordnen und Archivieren geht es in vielen zum Teil sehr ausführlichen Textpassagen, sondern um ein schöpferisches Schaffen, das in diesem Fall das Schreiben ist. Hier ist proklamiert, dass sich der Erzähler im Selbstentwurf der Autorenschaft stark zurück nimmt und eben jenes „Material“ in den Vordergrund rückt (und nichtsdestotrotz immer von sich und seinem „Ich“ schreibt). Statt des personalen Autors werden auffällig häufig und beinahe ausschließlich Vergleiche und Metaphern aus dem technisch-mechanischen Bereich verwendet, beispielsweise „… ich bin nämlich Wortkraftwerk, richtig ist natürlich eine Werkanalage, nicht nicht konstruiert, mit anderen Worten, lässig fest, unterstellt also einem Diktat der Gegengegenkonstruktion, natürlich konstruiert.“170 Die Selbstabgleichung mit einem technischen Produktionsapparat wird an anderer Stelle ausführlicher erläutert: „Ich zum beispiel [sic!] wäre augenblicklich gern der Automat, der alle Äußerungen zur Geschichte Schleier Wort für Wort gespeichert hätte und hier schnell wiederholen könnte. Da hätte man den ganzen Staat in einem ausgespuckt. Automatisch müßte man das Hirn umgehen, das wertet, ordnet, sichtet, sieht und hört, damit man nur der reine Sprecher wäre, der auf Wunsch die Wortsumme der letzten vierundzwanzig Tage ganz erbräche. Aber auch dieser Traum, sichtlich manieristisch, ist selbstverständlich nicht die Lösung. Es gibt genügend solcherlei Versuche, daß man ihr Scheitern kennen und die Gründe untersuchen kann. Die Leidenschaft ist nur zu gut verständlich, die durch das Abschreiben von öffentlich gesagten Sachen, im Fernsehn etwa, in dem Schreiber, der das mitschreibt, sich entfacht, weil er schreibend wirklich mitschreibt mit der Wirklichkeit.“171
Als Variation, gar als konsequente Weiterführung eines Reproduktionsautomaten wird im Verlauf der Erzählung die automatische Selbstreproduktion der Geschichte postuliert, wenn es im Erzählteil „Diktat“ einleitend heißt: „Systematisch erzählt sich hier die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig. Heute ist Sonnabend, der erste erste, Neujahr“172 Nichtsdestotrotz ist eine „Geschichte Schleier“ gespeichert, aber nicht allein mitgeschrieben, sondern erzählt.
169 Ebd., S. 118. 170 Ebd., S. 18/19. 171 Ebd., S. 49. 172 Ebd., S. 115.
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3.3.3 Kontrollverlust: Ich ist ein anderer. Und Schleier auch Was in Kontrolliert als (Un-)Möglichkeiten des Erzählens von Ereignissen und Erlebtem aufgefächert ist und zugleich diese beiden Kategorien problematisierend hinterfragt, mag mit Blick auf das Jahr 1977 und dessen innenpolitisches Geschehen gemünzt zunächst unspezifisch erscheinen. Der Erzähler hätte durchaus auch ein anderes Jahr mit anderen aufsehenerregenden, Geschichtemachenden Phänomen für seine Poetologie wählen können und einen ganz anderen Plot. Aber gerade in dem, was als RAF-Terrorismus zutage trat und zugleich in der Erzählung erst als RAF-Terrorismus Form bekommen soll, kristallisiert sich Probleme einer Historiographie. Die aufgeworfenen Fragen kamen in so vermeintlich unterschiedlichen Kategorien wie Politik, Repräsentation, Erfahrung, Geschichte im Deutschen Herbst nicht nur zeitlich zusammen, sondern sie amalgamieren. Goetz erzählt diese Geschichte des Jahres noch einmal, ebenso wie viele Texte zuvor und nachher. Was passiert ist in diesem Herbst 1977, oder kurz davor, wird berichtet, beispielsweise der Selbstmord von Ulrike Meinhof173. Viele Daten, Orte, Personen, Abläufe werden aufgerufen und kommentiert, zum Teil mit nur einem Satz in Erzählströme von Alltag und Arbeit eingeschoben. Anderen Begebenheiten widmet sich der Text ausführlicher. So sind die Vorfälle, die Taten und insbesondere das Versagen am 5. September 1977174, dem Tag der Entführung Hanns-Martin Schleyers in Köln durch ein Kommando der RAF, nachgezeichnet. Aber Nacherzählung und analysierender Kommentar sind die erzählerische Ausnahme, sie sind eigentlich nicht mehr als eine Randnotiz. Der Text setzt als bekannt vorausgesetzt, was geschah und wie die Ereignisse polarisierten. Ebenso geht der Text nur en passant auf die ausufernden PolitDiskurse ein, beispielsweise, was der Deutsche Herbst für das Politikverständnis der regierenden Personen im sogenannten Bonner Krisenstab offen legte oder auch, was die Geschehnisse für das Vorgehen und die Selbsteinschätzung der Polizei und der Ermittlungsbehörden beziehungsweise der inhaftierten Terroristen oder der sogenannten „Zweiten Generation“ der RAF bedeutete. Kontrolliert ist keine Ereignishistorie. Der Roman ruft die Texte, Töne und Bilder auf, die dieses Wissen formieren und die eben jenes Erzählmaterial ausmachen. Das jeweilige Ereignis gewinnt Form durch ein umfangreiches mediales Dispositiv, Kontrolliert führt diesen Umstand immer wieder vor Augen. So liest sich die Attentats- und Entführungsszene von Hanns-Martin Schleyer, jene „präzise Orgie des Untergrunds“175, wie eine Bildbeschreibung von Filmstills oder wie eine 173 Ebd., S. 119 f. 174 Ebd., S. 98ff. 175 Ebd., S. 188.
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Analyse einer Krimisequenz176. Der Anschlagsort in Köln wird durch ein technisches Bildgebungs- und Übertragungsverfahren und einen Sprechakt zum politischen Tatort, genauso wird er RAF-Terrorismus. Erst nachdem die vier Toten vor den zerschossenen Autos liegen, wird „die Nachricht vom geschehenen jetzt schon sogenannten Attentat mit hochrasantem Tempo vorallem mittels nicht sichtbarer Wellen und Ströme schnell leitender Kabel“177 von Köln nach Bonn transportiert. Sodann reisen Politiker an, „um sich schnell an Ort und Stelle den vermeintlich persönlichen Eindruck zu verschaffen, da die Kameras des zweiten deutschen Fernsehns auch nicht ewig warten können. Vom Eindruck zum Wort ist ein sehr weiter Weg, schätzungsweise einmal Mond tour retour.“178 Diese Reflexionen bewegen sich immer auf der Ebene der Nacherzählung eines Ereignisses und sind eine Wiederholung, bei der die wertende Stimme des Erzählers deutlich markiert ist, vor allem in Abgrenzung beispielsweise zu wörtlich wiedergegebenen Nachrichtenmeldungen. Das Zitat und der Kommentar bleiben unterscheidbar. In anderen Szenen sind Stimmen in die Erzählrede herein geholt, ohne sie als Zeitungsartikel, Radiobericht oder derartiges Zitat zu markieren, ohne sie zu erörtern und zugleich von der Erzählposition abzugrenzen. Beispielsweise hört sich der „Ich-Erzähler“ im Deutschlandfunk Nachrichten an, die mit der wohlbekannten Einleitung anheben: „Bonn. Soeben wird gemeldet, die am vergangenen Donnerstag über Südfrankreich gekaperte, seither von bewaffneten Revolutionären kontrollierte Lufthansa Maschine Landshut …“179 etc. Das ist der Sound, in dem solche hochaktuellen Nachrichten in der alten BRD geklungen haben. Die direkt anschließenden Worte des entführten Hanns-Martin Schleyer aus einer seiner Videobotschaften jedoch fließen ohne Kennzeichnung eines Zitats oder wörtlicher Rede nahtlos ein. Ein Wechsel der Perspektive vom Erzähler in ein anderes „Ich“ erfolgt weder zuvor noch im Anschluss: „[…] Ich frage mich in meiner jetzigen Situation wirklich, muß denn nun etwas geschehen, damit Bonn endlich zu einer Entscheidung kommt. Schließlich bin ich nun fünfeinhalb Wochen in der Haft der Revolutionäre, und alles nur, weil ich mich jahrelang für diesen Staat und seine freiheitlich demokratischen Lügen eingesetzt und exponiert habe. Manchmal kommt mir ein Ausspruch, auch von politischen Stellen, wie eine Verhöhnung dieser meiner Tätigkeit bei der Schutzstaffel der Industrie staatlicherseits schon vor. Vor mir habe ich die Welt vom Donnerstag dem dreizehnten Oktober neunzehn siebenund176 Ebd. 177 Ebd., S. 189 178 Ebd. 179 Ebd., S. 74.
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siebzig in der Hand. In der Zeitung ist ein Hetzartikel eines Herbert Kremp über den Besuch in Peking, Überschrift, Chinesische Weisheit, Honig im Mund, Galle im Herzen, enthalten, weshalb ich gerne die Gelegenheit benutze, um mich bei meiner Familie und bei allen Freunden und Kollegen in allen Vorständen und Aufsichtsräten, insbesondere den vier Betrügern, die am letzten Dienstag ihre Besorgnis vorgetragen haben, endlich einmal sauber zu bedanken. Gezahlt wird später ganz diskret im toten Kofferraum im Audi hundert. Grün ist die Farbe der Hoffnung. Erschütterung und Zorn erfüllen uns, erklärt der Sprecher der Regierung, und ich suche einen neuen Sender. Mein Mann ist Alkoholiker, ich bleibe aber trotzdem bei ihm […]“180
Das „Material“, also die Inspirationsquelle zu dieser Passage, ist leicht zu rekonstruieren. Im O-Ton eines Videobandes vom 15. Oktober 1977 spricht der entführte Hanns-Martin Schleyer: „Ich frage mich in meiner jetzigen Situation wirklich, muß denn nun etwas geschehen, damit Bonn endlich zu einer Entscheidung kommt? Schließlich bin ich nun fünfeinhalb Wochen in der Haft der Terroristen und das alles nur, weil ich mich jahrelang für diesen Staat und seine freiheitlich-demokratische Grundordnung eingesetzt und exponiert habe. Manchmal kommt mir ein Ausspruch – auch von politischen Stellen – wie eine Verhöhnung dieser Tätigkeit vor.“
181
Diese Aussage hat bereits einen medialen Transfer hinter sich, bevor sie überhaupt öffentlich zu Gehör kommen konnte. Die Worte, die Schleyer ablas, wurden auf Videokassette in der Nacht zum 15. Oktober in der Genfer Kanzlei des Anwalts und Mittlers Denis Payot abgegeben, von wo aus dem Bundeskriminalamt telefonisch der Wortlaut übermittelt wurde. Am Abend des Tages wurden dann Teile des Videos in der ARD-Tagesschau ausgestrahlt. Als aktuelles Lebenszeichen hielt Schleyer die Ausgabe der Welt vom 13. Oktober in Händen und las die Überschrift eines Artikels des Journalisten Herbert Kremp vor. Der ermordete Arbeitgeberpräsident Schleyer ist schließlich am 19. Oktober 1977 im Elsass im Kofferraum eines grünen Audi 100 gefunden worden. Aus diesen Teilen setzt sich die Passage zu einem Erzählstrom zusammen, aus dem nicht mehr eine Teilung in Originalzitat, authentifizierbarem Sachverhalt, wertender Erzählposition und fiktionalisierendem Moment hervorgeht. Auch der Modus des vermeintlich instantan Aufgezeichneten wird mit nachträglich erworbenem Wissen (wie den Umständen des Todes von Schleyer) durch180 Ebd., S. 74/75. 181 http://www.sueddeutsche.de/politik/der-deutsche-herbst-tag-schleyer-junior-bittetkarlsruhe-um-hilfe-1.891125 vom 30.01.2013.
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setzt, ohne eine andere Erzählzeit anzuschlagen. Eine Geschichte in homonymem Verständnis wird geschrieben, indem die subjektivierende Haltung zu sämtlichen Eindrücken auf die Spitze getrieben ist und damit gegen die historiographischen Konventionen (auch des Genres „historischer Roman“) verstößt. Dieser Narrationsmodus wird analog auch für die RAF selbst verwendet, wenn beispielweise die Baader-Befreiungsszene erzählt ist und ähnlich indifferente Gemengelagen von Erzähler, Beobachtung, Meinung und Zitat zu einer Passage amalgamiert werden182. An anderer Stelle wiederum ist diese erzählperspektivische Anordnung umgekehrt worden, indem dezidiert der eine Name angeben ist, jedoch als ein anderer Name des offenkundig eigentlichen historischen Vorbilds. So ist von einem „Schiller“ erzählt183, der mit der Biographie der Person Hanns-Martin Schleyers deckungsgleich ist. Diese an sich schon durchsichtige Verfremdung wird „enthüllt“ und zugleich erneut verfremdet, indem der andere Name durch das als historisch richtig markierte, aber orthographisch falsch geschriebenes Homonym ersetzt ist: „Was heißt Schiller, Schiller heißt natürlich Schleier, […]“184 Nicht aufgelöst, aber doch zumindest erläutert ist diese Namensvergabe schließlich wie folgt: „Nur wenn man zaudert, kommt man auf phantastisch eng gegrübelte Gedanken, Schiller statt Schleier, solche Sachen, weil man Schiller als die Schwabenlachfigur wenigstens nicht kennt, damit man nicht das Mitleid kriegt, wie mit jedem letzten Schleier und seinem noch nicht toten Nichtgesicht.“185 Mehr noch als die radikale Subjektivierung jenseits einer Dichotomie von Fakt und Fiktion wird mit einer einfachen Buchstaben-Verschiebung wie „Schleyer ist Schleier ist Schiller“ darauf abgezielt, dass in den Möglichkeiten der Sprache „er“ jeweils nie „er“ ist. Der Signifikant wird konsequent erzählt als ästhetisch-experimentelles Sprachmaterial, das Signifikat ist stets präsent und nur scheinbar eindeutig, dabei doch nie einzuholen – oder ist gar je nach Sprechsituation ein immer anderes, verschobenes, aufgeschobenes. Eine stringente Zuordnungsoperation verweigert die Erzählung sowohl zu intra- wie auch extradiegetischen Referenten. Zugleich arbeitet an dieser Stelle der Erzähler gegen seine eigene ausführlich ausgebreitete Programmatik, nach der er selbst allerhöchstens nur ein „Schreiber“ zu sein scheint, nämlich der Schreiber einer Geschichte, die sich selbst erzählt. Wenn die Namensvergabe „auf phantastisch eng gegrübelte[n] Gedanken“ beruht, ist der Erzähler vom Ideal eines Reproduktionsautomaten weit entfernt. 182 R. Goetz: Kontrolliert, S. 246 ff. 183 Ebd., S. 26, 27, 36. 184 Ebd., S. 38. 185 Ebd., S. 40.
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In dieser Aussage benennt er sich als schreibendes Subjekt und erklärt auch, dass sich hier nicht das Material selbst anordnet, sondern dass das Erzählte das Produkt einer Phantasie ist und erst durch den Moment der Niederschrift erschaffen wird. Zugleich verdeutlicht das Beispiel des Schicksals des entführten Schleyer etwas ganz anderes. Die Macht des Wortes in seiner Verschränkung mit einer Aktion zu einer terroristischen Tat ist ausgestellt. Einer Dichotomie von Schreiben und Gewalt ist eine Verengung von Schreiben als Gewaltakt entgegengesetzt: „Zur Sicherheit ist deshalb allen Worten die Gewalt schon angeboren, wie der ganzen Welt, und sie hacken sich gewaltig auseinander und Wort für Wort vom nächsten ab. […] Hier fragt sich, ob sich so erklärt, daß Menschentöten heute nicht sehr leicht begründbar ist, gleich wie gut die revolutionäre Sache ist, für die man kämpft. Man muß den Staat ja nicht als dicken toten Haufen Fleisch im engen Hemd im Kofferraum im Auto tot erschossen ablegen. Man könnte ihm stattdessen doch ein Bein zerschießen, oder einen Bau eines Gerichts hoch sprengen, um ihm Angst zu machen und das ganze alte weg zu hauen. […] Zu lange war man in Gespräche rein verstrickt, in Nichttaten und in Gefühle.“186
Worte und Sätze sind teilbare Einheiten, und dieser der gesprochenen und gedruckten Sprache inhärente Zwang ist als Gewalt gewertet. Diese Gewalt ist wichtig, „weil jede Abtrennung und Grenze anordnet, daß da ein eines ist, und da ein eines, und nicht nichts.“187 Die Sprache des RAF-Terrorismus erschien jedoch nicht als eine damit reflektierend operierende, sondern als eine der Entwendung zur Rechtfertigung, also einer Gewalt-Tat bei- oder nachgeordnet. Der Reduktion auf „Erklärung“ ist in Kontrolliert der „Wortterror“ entgegengesetzt, dessen operativer Modus auf der Ebene des gedruckten Wortes liegt. Der Erzähler proklamiert: „Richtiger Terror heißt für mich wirklicher Terror steht mir vom Wortort her entgegen durch den Stilleterror“188. Oder: „Terror der Wirklichkeit sagen heißt Terror feiern und Wirklichkeit“189. Zu terrorisieren, Terror wirklich werden zu lassen, soll heißen Sprache zu verwenden. Was in der Erzählung als Gegenposition zum beobachteten Aktionismus der RAF aufgestellt ist, beruht durchaus auf Akzeptanz einiger theoretischer Grundzüge der „Ersten Generation“ der Roten Armee Fraktion. Insbesondere der von Gudrun Ensslin zugespitzte Ausspruch einer Freund/Feind-Operation findet in Kontrolliert großen 186 Ebd., S. 51. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 90. 189 Ebd., S. 91.
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Anklang: „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen, heißt im Konzept Stadtguerilla in der ersten Schrift der raf nach einem ersten Jahr der Praxis das erste Maomotto. Der Glanz eines richtigen Anfangs kann erblinden, aber ganz verschwindet er nie.“190 Auch der Initiationsakt, die BaaderBefreiung 1970, ist als Ende von „privatistische[r] Diskussionen und ewige[m] Gelaber“ anerkannt, als Versuch „richtung [sic!] Täter, Kämpfer“191. Aus einer solchen Bewunderung wird, nur folgerichtig und ähnlich affirmativ, die historische Bewertung des Konzeptes einer westdeutschen Stadtguerilla unternommen: „Hing im Anfang das Ergebnis der Bewertung, ob es richtig ist, den bewaffneten Kampf jetzt zu organisieren, davon ab, ob es möglich ist, zeigt sich jetzt im Schluß, daß es, da es möglich war, richtig war.“192 Allerdings bezieht sich diese Bejahung vor allem auf Konzepte, Strategien, Ansätze, also auf die theoretischen Positionen aus den Verlautbarungen der RAF. Die mörderischen Aktionen unterlaufen diese Ansätze und lassen ihre theoretischen Positionen ins Leere laufen. Andererseits können die Attentate auch durch Wortveröffentlichungen nicht mehr eingeholt werden. Ein derartiges Auseinanderklaffen markiert die Hauptursache des Scheiterns, es besiegelt das Schicksal zumindest der „Ersten Generation“: „Das Problem, an dem die ganze raf zerbricht, ist weder der Mercedes, noch der Buback, sondern sein Fahrer Wolfgang Göbel, so ging die Rechnung hier ganz klar, da halfen keine Worte revolutionärer Herrlichkeit und Härte. Deshalb wurden im Namen des Volkes drei Wochen später die Revolutionäre am Ende des natürlich kriminellen rechtsstaatsterroristischen Prozesses von der ganzen kriminellen Vereinigung zu mehreren Morden und Mordversuchen konsequent verurteilt. Die Politik saß im Gerichtssaal, nicht die Revolution, nicht ihre Gefangenen.“193
An anderer Stelle heißt es, gleichermaßen einverstanden wie auch kritisch:
190 Ebd., S. 122. Vgl dazu Kapitel 2.2 Techniken. Eine sehr aufschlussreiche Studie zum Ausnahmezustand und dem Einsatz nomadischer Kriegsmaschinerien durch RAF und Staat hat Niels Werber vorgelegt mit seiner Parallellektüre von Kontrolliert und Tausend Plateaus. Werber, Niels: „Intensitäten des Politischen. Gestalten souveräner und normalistischer Macht bei Rainald Goetz“, in: Weimarer Beiträge, Heft 1, 46. Jg. (2000), S. 105-120. 191 R. Goetz: Kontrolliert, S. 246. 192 Ebd., S. 248/249. 193 Ebd., S. 139.
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„Nur was man erlebt hat, sagt einem gesagt etwas verständliches. Macht kaputt, was euch kaputt macht, ist für jeden logisch zu verstehen und vernünftig, hingegen ist der Satz, die Knarre spricht, für mich ein Baaderschwachsinn und sonst nichts. Trotzdem weiß man nicht, was die Praxis revolutionärer Front im Kämpfer, der die Waffe trägt, im Denken im Hirn bewirkt. Die Erklärungen zur Sache der Geschichte Deutschlands, die letzten Januar von den Gefangenen in dem Prozeß verlesen wurden, sind geistig klar geordnet und politisch konsequent. Ihr Gegenstand ist die Geschichte staatlicher Gewalt, nicht nur die Waffe, die sie durchsetzt oder angreift. Man kann Gegenstände denken, die Vernunft anziehen, nicht abstoßen, und man kann die vielen vernunftabstoßenden Gegenstände, die man kennt, natürlich meiden, wenn man will.“194
Neben den Einschätzungen auf dem Feld des Politischen ist die RAF erneut als eine Projektionsfläche jugendlicher Revolutionsromantik erzählt, vor allem wegen der Möglichkeit einer partiellen Identifikation aus sicherer Ferne. Die ersten Wahrnehmungen aus der Zeitung haben einen Effekt, wie sie dem Klischee schwärmerischer Romanlektüre pubertierender Jungen entsprechen: „Wir haben die Politik nicht diskutiert, wir haben uns nur gegenseitig die Zeitungsmeldungen vorgelesen, automatisch triumphierend, als wären wir selbst die Täter, oder mindestens die Helfer mittels Sympathie.“195 Die Freunde um den Erzähler bezeichnen sich als „Sympathisanten“196, die selbst gerne terroristische Täter gewesen wären. Aber aus dem jungen Mann ist kein „Revolutionär mit Waffe“ geworden (auch aus keinem seiner Freunde), weil er das terroristische Rollenspiel und die Selbstopferung nicht eingehen konnte oder wollte, „weil ich ich, nicht nichtich bin.“197 Damit treffen die sprachlichen Möglichkeiten des Erzählens (von Terrorismus) und die Grenzen der Repräsentation (von Terrorismusgeschichte) aufeinander und verschränken sich – und sind doch auseinander zu halten. Goetz treibt diese An- und Umordnungen von eigentlich genuin sprachlichem Zeicheninventar auf die Spitze, indem er es mit visuellen Umsetzungen von Repräsentation korrespondieren lässt. „Man war die Lage selbst, blind geblendet. Die Papiere vom letzten Wochenende waren nicht verrückt, nur der Zugang zu den Gedanken ist verschüttet. Aber das Gekritzel der Worte, die Linien der Tabelle und die Skizzen von Kristallen sind Spuren, die daran erinnern, daß ordnende Prozesse stattgefunden haben, um das geschehene rekonstruktiv zu 194 Ebd., S. 63. 195 Ebd., S. 40/41. 196 Ebd., S. 90, S. 100. 197 Ebd., S. 40.
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fassen. In der Pariser Zeitung die Befreiung ist heute eine Botschaft der Revolutionäre hin gedruckt erschienen, der ein Bild von Schleier beigegeben war. Das Bild wurde am Sonntag mit einer Polaroidkamera aufgenommen. Wie in den Videos sitzt Schleier wieder vor dem Emblem des fünfzackigen Sterns, aus dem die maschinelle Waffe zielt in Leserichtung der drei Großbuchstaben, die in Sternmitte für den Namen der Gruppe Rote Armee Fraktion stehen.“198
Zur dieser immer wieder aufgeschobenen Namens(nicht)identifikation kommt eine Bildinszenierung auf dem Umschlag des Romans. „Die Lage selbst“ ist als Verortung in einer Welt aus Zeichen aufzufassen, die sich auf andere beziehen und nur über niemals fixen Referentialitäten anderes oder neue Zeicheninventar entstehen lassen. Das eröffnet und beschränkt zugleich ihre Handlungsmacht für die RAF-Geschichte – gleich, ob Worte, Tabellen oder Photos. 3.3.4 Das RAF-Gespenst erzählt sich, jetzt Was zu Beginn des Romans als instantanes Aufschreiben und Erfassen der zeitlich nahezu unversetzten Momente inszeniert wird und auch beim Tempuswechsel vom Präsens ins Präteritum199 als Gegenwart erzählt bleibt, wird doch zunehmend als abgeschlossene vergangene Zeit deutlich. Wenn Wissen über die Ereignisse beziehungsweise deren materielle Datenträger, sprich jenes „Material“, erst deutlich zeitversetzt überhaupt verfügbar war, bedeutet dies eine nachzeitige Schreibsituation. Aber mehr noch: Das rekurrent überbetonte „Aufschreiben“ wird als Reenactment, als wiedererfahrbare Szene von der eigenen Vergangenheit umgesetzt. Jenes permanent beschworene „Jetzt“ der Aufzeichnung ist nicht die Pariser Kammer des Jahres 1977. Das Verfolgen der Geschehnisse in Radio und Zeitung sowie die Beschäftigung mit den verschiedenen Schreibarbeiten findet im Moment der textuellen Verfassung statt. Die Vergangenheit ist vollendet, wenn auch 198 Ebd., S. 234/235. 199 Der Umschlag der Erzählzeit erfolgt ohne erzählerischen Bruch: „Ein Herz pocht rasend, um Vernunft ins Hirn zu pumpen, sinnlos, endlos kann man später diesen Augenblick bereden, nichts beweisen, niemals klären, was in wirklichkeit ganz klar und einfach ist. Alles das ist abzubrechen. Schlummernd, wortlos sammelt man sich neu zu neuen Kräften. Irgendwann ist Zeit, dann steht man einfach auf und geht davon, uneinholbar. Aber plötzlich war schon wieder Sommer [...]“ (S. 52) Die Zeitangaben im veränderten grammatikalischen Tempus werden jedoch weiter unvermindert eingestreut, zum Beispiel „Heute war Montag, der fünfte September“ (S. 187), was für das historische Jahr 1977 auch zutrifft.
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grammatikalisch das Perfekt nicht verwendet wird. Die immer wieder angeführten Uhrzeiten und Tages-, Monats- und Jahresdaten lokalisieren zwar den Schreibzeitpunkt vermeintlich exakt, aber dennoch losgelöst. Jenes „Man war die Lage selbst, blind geblendet“ lässt sich nicht nur semiologisch, sondern auch temporal interpretieren. Deutlich wird das erst auf einer Erzählebene, die sich als ‚Soundtrack des Romans‘ beschreiben ließe. Nicht allein auf dem Buchrücken ist in großen Lettern „Fight for your right“ gedruckt, auch in der Erzählung ‚ertönt‘ es völlig unvermittelt „Time is time was time to get ill, jetzt, time to fight, for your right, zum beispiel also hier Musik, die man jetzt automatisch hört, wenn man sie kennt, schon wieder kurz ein Augenblick von Glück.“200 Damit können das „Jetzt“ und das „Hier“ frühestens im November 1986 liegen. Das ist das Erscheinungsdatum des Albums Licensed to ill von den Beastie Boys, auf denen die beiden zitierten Songzeilen zu hören sind (in „Time to get ill“ und „Fight for your right“). Die Übernahme von Pop-Zitaten ist der entscheidende Zeitmarker, der die Differenzoperation zwischen 1977/78 und dem aufzeichnenden „Jetzt“, also den fortgeschrittenen 80er Jahren ausmacht. Der Freund Christian beispielsweise wirft „seine Don Johnson Haare zurück“201 – die Geste selbst kann 1977 gewesen sein, aber nicht die sprachliche Formulierung. Sie ist auf die Mitte der 1980er, in den Kontext der Ausstrahlung der TV-Serie Miami Vice mit ihrem stilbildenden Erscheinungsbild der Protagonisten zu datieren. Der vermeintlich gegenwärtige Erzählzeitpunkt der Wahrnehmung des RAF-Terrorismus im Jahr 1977 überschneidet sich mit der Erzählerposition um 1987, wenn beispielsweise „in diesem Augenblick daheim“202 in der Tagesschau der Sprecher Jan Hofer die gute Nacht wünscht. Hofer jedoch kam erst 1986 zur Tagesschau der ARD. Die Inszenierung nahezu simultaner zeitlicher Nähe der Erzählens zum Erzählten, später der just vergangenen Vergangenheit rückt als Perspektive mit fortlaufender Erzählung immer weiter in den Hintergrund und wird von einem Erzählzeitpunkt perforiert, der knapp zehn Jahre nach dem geschilderten Geschehen liegt: 1987. Und so offenbart sich in rekontextualisierenden Einschüben, dass es sich bei dem Versuch, diese Geschichte des Jahres 1977 in eine Form zu 200 Ebd., S. 45. „Fight for your right“ ist wiederholt in der Erzählung, stets im Jahr 1977 historisch deplaziert, zum Beispiel auf S. 144. Als Variation des Soundtracks ertönt beispielsweise als Mitgröhlschlager auf dem Oktoberfest „Live is life“, der große Hit der Band „Opus“ aus dem Jahr 1985 (S. 48). Oder auch: „Atlantis is calling, sang der Sänger meines Herzens Thomas, anders genannt die schwarze Nora […]“ (S. 85) – womit Modern Talking und einer ihrer Hits aus dem Jahr 1986 gemeint ist. 201 Ebd., S. 140. 202 Ebd., S. 61. Auch S. 276.
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bringen, um ein Langzeitprojekt des Erzählers gehandelt hat: „Seit sieben Jahren hängt bei mir im Schrank der gleichermaßen täglich angeschaute deutsche Herbst, habe ich mir vor gut drei Jahren gesagt, da war Granit im Kopf schon fertig. Es fehlte nur das Dynamit, ein Menschenich, zum beispiel ich, um es gescheit heraus zu sprengen.“203 Am Ende verdichtet sich mit der Künstlerfigur „Andy Warhol“ die Aufschreibe-Gegenwart des Romans nahe der vermutlich tatsächlichen Notation durch den Autor Rainald Goetz. „Die Bilder aber des in dieser Nacht verstorbenen Amerikaners hatten natürlich augenblicklich aufgehört zu atmen, wie ihr Schöpfer. Seine Ziffern standen endlich fest, und sie lauteten achtundzwanzigster zehnter neunzehnhundert dreißig, Stern, Vorname Name Andy Warhols, Kreuz, zweiundzwanzigster zweiter neunzehn siebenundachtzig. Und ich holte tief Luft und beatmete so seine Bilder.“204
Hier findet der Erzähler nun endlich ein Material, das zu leben scheint, so die Metapher des Atems in Bezug auf Bilder. Wie eine Erlösung erscheinen die Arbeiten Warhols, um endlich einer Kunst gegenübertreten zu können, die als Repräsentation weder tot noch leer ist, sondern die sowohl für sie selbst als auch für den Erzähler ein Subjekt verlebendigt. Ebenso deutlich wie dieser Verweis auf einen anderen Künstler, ein anderes Genre und ein bewundertes Werk ist die Geschichte eine Abrechnung mit dem Schreiben des Rainald Goetz als Rainald Goetz, also mit der eigenen bisherigen Arbeit an der eigenen Vergangenheit, in der sich vieles immer wieder um die RAF dreht und in der bis dato eben jene Reanimation misslang. Verhandelt wird mit dem Roman demnach weniger die Geschichte des Jahres 1977, verhandelt wird in Kontrolliert die Geschichtsschreibung für dieses Jahr, das sich trotz der Überfülle an „Material“ niemals selbst schreibt und sich nicht automatisch erzählen lässt durch ordnende Eingriffe. Das Subjekt positioniert sich in dieser Geschichte und reichert sie nicht nur mit nachträglichem Wissen an, sondern arbeitet immer auch mit einer fortschreitenden Referentialität der Zeichen, die das „Material“ trägt und dieses Wissen formiert. Somit wird in Kontrolliert eine Vergangenheit mitverhandelt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der RAF, nämlich die Vergangenheit der eigenen Prosa des Autors mit ihren historiographischen (Fehl-)Versuchen. Das bedeutet zum einen, dass in Kontrolliert nicht mehr der Anspruch maßgeblich ist, „den Staat“ „zu verhandeln“, wie Rainald Goetz es noch in seinem 203 Ebd., S. 76. 204 Ebd., S. 212.
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Kursbuch-Essay tat. Bereits als Einstieg ins Erzählen ist deutlich gemacht, dass sich ein solcher Anspruch rückblickend nur erweisen konnte als „vermessen, falsch, nicht richtig vermessen, nicht für mich, Resultat war Lähmung. Der Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit, die ein einer, wie ich hier, nicht fassen kann.“205 Neben die Kapitulation vor einem Erzählgegenstand ist auch die in Kontrolliert wiederaufgenommene Identifikation und Gleichsetzung des „Ichs“ mit „Raspe“, dem „Baader-Haß“206, uneinlösbar. Und bereits in den vorangegangenen Texten Subito/Hirn und Irre ist sie ein Irrtum gewesen: „Ich war nicht Raspe. Was denkt der Raspe, unvorstellbar. Ich bin nicht berechtigt, mir was auszudenken. Habe ich den Raspe nicht in echt gesehen, und ich habe immer wieder nur die Raspefotos angeschaut, habe ich die Raspestimme nicht in echt die Sprache sprechen hören, und ich habe Raspesprache nie wirklich gehört, weiß ich folglich über Raspe nichts, geschweige denn daß ich in Raspe Raspe wissen und ihn denken könnte. Raspe war Irrweg. War Irre, war Lähmung. Lähmung heißt mein Hirn ist tot.“207
Ebenfalls ist die Schilderung einer totalen Überwachung der Wohnung und die Endlosschleife des Beobachtens von eigenen und fremden Beobachtungen ein wiederkehrender Topos in Goetz Arbeit gewesen, beispielsweise in Polizeirevier (1982). Obgleich durchgehend thematisiert, schrumpft in Kontrolliert solch ein Paradigma paranoischen Überwachungswahns vom ehemaligen Hauptanliegen zu knappen Kommentaren im Tonfall der Selbstverständlichkeit: „Die Beschreibung der gegebenen Lage ist ein solcher Versuch, die in ihr gespeicherte Vernunft zu fassen zu kriegen, der daran scheitert, daß die Beschreibung natürlich die Lage der Lage sofort verändert.“208 Diese Befunde verschiedener Ebenen lassen sich jedoch durchaus zugespitzt bündeln zu einem umfassenderen Ergebnis der Lektüre von Kontrolliert als Arbeit an einer, eben nicht der Geschichte der Roten Armee Fraktion. Goetz steigt ins Erzählen von Kontrolliert ein, indem er die vielen vermeintlichen ‚Inhalte‘ im Katalysator RAF meint zusammen führen zu müssen und zu können: Sprache, Bilder, Körper, Leere, Politik, Kunst, Abstraktion, Realität, 205 Ebd., S. 15. 206 Ebd., S. 16. Eine ganze Episode mit „Raspe“ (alias „Ich-Erzähler“) und „Klar“ (alias Christian, der beste Freund des Erzählers) in Ferienvorbereitungen auf S. 156 ff. Das ist also die Zeit vor Paris im Herbst und damit sowohl intra- wie auch extradiegetisch eine Rückblende. 207 Ebd. 208 Ebd., S. 236.
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Materialität. Was Klaus Theweleit zehn Jahre später immer noch als einzig adäquate Geschichtsarbeit einforderte, war natürlich als Anspruch schon eine Überhöhung von ‚1968‘ und den Folgen. Vor allem war dieser Ansatz ein folgenschweres Mythologem der RAF – und erst recht eine Apotheose der Terroristen für die Geschichte der BRD. Auf diese Art ein differenziertes Geschichtsbild zu gestalten, mit der Geschichte des Jahres 1977 sämtliche Aporien offenzulegen, gelingt Goetz trotz allen Anstrengungen nicht. Es kann ihm nicht gelingen. Stattdessen macht er die Anstrengungen transparent, er offenbart die (Fehl-)Versuche und das Scheitern des Erzählens nach einer solchen Vorgabe. Damit erreicht er für den Topos und den Mythos RAF etwas, was weder einem populären Masternarrative wie dem Baader-Meinhof-Komplex als Faktenschilderung noch als „Erinnerung“ betitelten Versuchen bis dato gelingen konnte: den Ballast von Ansprüchen an die Repräsentationen der RAF abzuwerfen und eine Befreiung in den Formen der Erinnerung zu erreichen. Mit der Lektüre von Kontrolliert werden die vielgestalten Ursachen aufgedeckt, aus denen die Geschichte des Jahres 1977 und die Geschichte der RAF nicht zu erzählen sein kann. Eine Geschichte des Deutschen Herbstes ist immer auch Repräsentation, Ästhetisierung und Erzählung zugleich. Wenn weitere zehn Jahre nach Theweleit und zwanzig nach Goetz und Richter die Reihe 18. Oktober 1977 von Beat Wyss positiver beurteilt ist, dann hat das vor allem mit veränderten Ansprüchen zu tun, die der Roman Kontrolliert etabliert hat. Richter gelinge es mit seinen Gemälden aus Photographien immerhin, „den naiven Evidenzanspruch des Reproduktionsmediums [zu] unterlaufen. Er überführt das fotografische Dokument durch malerische Übertragung seiner Rhetorik“209, so Wyss. Der „Sinn“ einer solchen Bilderreihe entsteht nicht aus den von Theweleit postulierten „Inhalten“ des Sujets, sondern zielt ab auf die mediale Technik und Ästhetik von „Inhalt“. Richters Gemäldezyklus ist mit dieser Berücksichtigung betrachtet eben genau kein „Schulwandbild für deutsche Zeitgeschichte“, „sondern bietet einen Denkraum der Besonnenheit, um über das Politische in der Kunst nachzudenken.“210
209 Wyss, Beat: Nach den großen Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 162. 210 Ebd., S. 165.
4. Verhaftungen, Verhandlungen und Entlassungen der RAF: Erzählungen und Bilder
Tom Ripley hat sich so seine Gedanken über den RAF-Terrorismus gemacht, als er sich in West-Berlin Ende der 1970er Jahre mit Entführern und Erpressern herumschlagen muss: „Tom wußte auch, daß die Establishment-Gegner, die Gruppen, die Menschen entführten, in der Bevölkerung Freunde hatten, die ihnen Unterschlupf gewährten. Darüber hatte Reeves vor noch nicht langer Zeit am Telefon mit Tom gesprochen. Es war eine komplexe Situation, denn die Revolutionäre, die Gangs, behaupten, zum politischen linken Flügel zu gehören, obgleich sie dort von der Mehrheit abgelehnt wurden. Tom kamen sie ganz ziellos vor, bis auf ihre offensichtlichen Bemühungen, eine Atmosphäre der Unruhe zu schaffen und die staatlichen Organe zu provozieren, damit sie zuschlugen und ihre vermutlich wahre, das heißt faschistische Farbe bekannten. Die Entführung und der Mord an Hanns Martin Schleyer, den manche als alten Nazi, als Repräsentanten des Managements und der Fabrikbesitzer hinstellten, hatten unglückseligerweise eine behördliche Hexenjagd auf Intellektuelle, Künstler und Liberaler entfacht. Und die Rechten, die sich den Augenblick zunutze machten, behaupteten immer wieder, daß die Polizei noch lange nicht hart genug zuschlage. Nichts in Deutschland war Schwarz oder Weiß und einfach, dachte Tom.“1
Wie sich schnell herausstellte, hatten Tom und Der Junge, der Ripley folgte es nicht mit einer Entführung durch Linksterroristen zu tun, sondern mit der Mafia. In wenigen Sätzen brachte Patricia Highsmiths amoralischer Romanheld die Situation der Konfrontation zwischen RAF und Staat nach 1977 auf den Punkt. Der deutsche Herbst hatte offenbar weite Kreise gezogen, er wurde wahrge-
1
Highsmith, Patricia: Der Junge, der Ripley folgte, Zürich: Diogenes 1980, S. 252.
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nommen und wurde nun erinnert, auch von einem fiktiven Amerikaner wie Tom. Demnach musste der RAF-Terrorismus, trotz der nach wie vor akuten innenpolitischen Bedrohung, also bereits für das Jahr 1980 als prominente jüngere Zeitgeschichte betrachtet werden, die einerseits den Eingang in einen Roman einer USamerikanischen Krimiautorin findet, andererseits wiederum als Topos einer populären Erzählung schon narrative Formen gewinnt und zugleich historische Kontexte verwebt. Mit einem solchen Geschichts-Marker soll die RAF jedoch nicht begriffen werden als ein politisch-historisches Ereignis, das mit abnehmender tagesaktueller Präsens seine Repräsentation zunehmend in Fiktion von Romanen und Filmen erfährt und dadurch der populären Erinnerung, gar vermeintlichen Mythologisierung und Legendenbildung, übertragen wird2. Die Leitideen der Kapitelüberschrift, die „Verhaftungen“, die „Verhandlungen“3 und in eingeschränkter Semantik die „Entlassungen“4, stehen als juristische Begriffe für das Schicksal der meisten RAF-Terroristen. Aber weder ihre Lebenswege und Biographien noch die Verfahrenswege der staatlichen Organe stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern eben Anekdoten, Narrative, Bildmomente wie die zitierte Reflexion von Tom Ripley. Sie zeigen die Szenen des Eingangs in die Geschichte auf. Die Historisierungen sollen jedoch über ein Wortspiel mit den drei Substantiven der Überschrift hinaus analytisch fruchtbar gemacht werden mit einer Aufhebung. Aufgehoben werden soll nämlich unter 2
Zu einer solchen zweifelhaften Lesart der vermeintlich zunehmenden Mythologisierung und angeblichen Entpolitisierung der RAF durch ihre Darstellung in literarischen von den 1970ern bis in die Gegenwart vgl. Tremel, Luise: „Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004“, in: W. Kraushaar: Die RAF, S. 1117-1154.
3
Insbesondere die „Verhandlung“ ist dabei auch an die Begrifflichkeiten Stephen Greenblatts angelehnt, der den Begriff wiederum von Jacques Derrida adaptierte. Greenblatt untersuchte mit der Frage nach „Verhandlungen“ („negotiations“), nach „Zirkulation“ („circulation“) und nach „Tausch“ („exchange“) von und zwischen literarischem Text und historischem Kontext beziehungsweise von Texten und kulturellen Praktiken die „Geschichte“ Englands zu Zeiten Shakespeares. An diesen, bei Greenblatt selbst ja auch niemals dogmatisch oder paradigmatisch aufgefassten methodischen Ansätzen wird weiterführend angeknüpft. Vgl. Stephen Greenblatts: „Grundzüge einer Poetik der Kultur“, in: Ders., Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 107-122.
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In ihrer Auflösungserklärung sprach die RAF selbst ja davon, sich durch diese Erklärung als ein Subjekt „selbst in die Geschichte zu entlassen“ (RAF: Auflösungserklärung, S. 217).
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den drei Leitbegriffen vor allem die Dichotomie zwischen (literarischem) Erzählen und (‚tatsächlichem‘) Kontext5, also die Annahme eines vermeintlich faktisch fixierten historischen Bezugsrahmens für die fiktionalen Narrative. Zudem soll mit dem Begriffstrio ein dreifacher Zeitbezug aufgemacht werden. Einerseits ist die Verortung und der Anschluss in einer Geschichte zum Zeitpunkt des Auftauchens des entsprechenden Bildes oder des Erzählmoments selbst adressiert – die Verhaftung. Zum anderen ist die nachträgliche Setzung als historisches Ereignis ausgemacht, das bedeutet die Werdung von einer Geschichte, in Folge des Erscheinens und Ereignens – die Verhandlung. Und schließlich geht es um die Bewertung von Wechselwirkungen beider Zeitverhältnisse aus dem Blickfeld der zunehmenden Historisierung – die Freilassung.
4.1 V ERHAFTUNGEN IN
DER
G ESCHICHTE
Die eigentliche Politisierung kam aber erst mit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967. […] Ich kenne viele, die an diesem Tag einen Knacks gekriegt haben. Die auf einmal wußten, du mußt auf die Straße, du mußt Stellung beziehen. Die waren weder für die Studenten noch für sonst irgendwas. Aber die waren gegen diese Schüsse. RALF REINDERS, 1995.
In der Nacht des 2. Juni 1967 war nach dem Schock der Todesnachricht von Benno Ohnesorg im überfüllten Berliner SDS-Zentrum am Kurfürstendamm eine heftige Diskussion in Gange. Diese spontane Situation ist für die Geschichte der RAF als Schlüsselszene immer wieder erzählt worden: „Eine junge Frau, schlank, mit langen blonden Haaren weinte hemmungslos und schrie: ‚Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von
5
Vgl. in Bezug auf die Geschichtstheorie dazu die Aufhebungen und Wechselwirkungen einer solchen Dichotomie in der Diktion Reinhart Kosellecks als „res fictae“ und „res factae“. Koselleck, Reinhart: „Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich“, in: Ders: Vergangene Zeiten. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. S. 278-299. Koselleck, Reinhart: „Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit“, in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 80-96.
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Ausschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren!‘ Gudrun Ensslin traf damit etwas, was viele fühlten und dachten.“6
Mit einem solchen Narrativ kehren die Begründungszusammenhänge immer wieder: Die direkte Gewalterfahrung der Straße ließ das Recht, gar die Notwendigkeit einer Gegengewalt zu. Am Anfang stand der Staatsterror, der mit Benno Ohnesorg den ersten Toten auf Seiten der Protestierenden forderte. Und von dort aus wurde die Argumentationskette von Begründungen, Verweisen und Notwendigkeiten bis zur terroristischen Gewalt weiter verfolgt: In den ersten Schreiben der RAF heißt es: „Die Rote Armee Fraktion leugnet […] ihre Vorgeschichte als Geschichte der Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat.“7
Die Entwicklung einer terroristischen Vereinigung ist dabei die Folge dieses historischen Bruchs, für den die Datums-Chiffre konventionalisiert ist. Für die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte insgesamt wurde mit dem 2. Juni 1967 einer der maßgeblichen Zäsuren implementiert, vielfach erzählt und auf den Punkt gebracht im folgenden Beispiel: „Die nach dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer benannte christdemokratische Ära war vorüber, dessen Nachfolger Ludwig Erhard bald gescheitert, eine Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD inzwischen an der Macht, mit Kurt Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als Außenminister. Da die Opposition innerhalb des Bundestages stark geschwächt war, bildete sich eine von Gruppen der Neuen Linken getragene außerparlamentarische Bewegung heraus. Im Kern wurde sie von einer sich radikalisierenden Studentenbewegung dominiert, deren Motor der SDS war. Was zunächst an der Freien Universität in West-Berlin begann, sprang eines Todesfalls wegen auf die Bundesrepublik über und ergriff in einem einzigen Sturmlauf Hochschulen und Universitäten. Der Germanistikstudent Benno Ohnesorg war auf einer Demonstration gegen das Schah-Regime im Iran von einem Polizisten von hinten erschossen worden. Der 2. Juni 1967, der Tag, an dem das geschah, wurde zum Fanal.“8
6
S. Aust: BMK. S. 54.
7
RAF: Das Konzept Stadtguerilla, S. 36.
8
W. Kraushaar: Entschlossenheit, S. 141.
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Ein Zusammenkommen von einer politik- und sozialhistorischen Zäsur, einem mehr oder weniger öffentlichen Mord und dem Umschlag zur Gewalt als Widerstandsform ist zunächst einmal keine Seltenheit im Vergleich der Narrative anderer Zeiten oder anderer Nationen. Denn insofern die Geschichte das zu sein scheint, was als Vergangenheit in Wort, Bild und Zahl präsentiert und immer wieder aktualisiert wird, so ist es wenig verwunderlich, dass gerade aufsehenerregende Gewalttaten mit politischer Symbolkraft oftmals ganze ‚Kapitel‘ von ‚der Geschichte‘ beenden und neue einleiten. Derartige Chiffren als beliebter Topos der Geschichtsschreibung können historische Brüche in einer einzigen Aktion kristallisieren, so dass sich der Umschlagspunkt an einem bestimmbaren Ort, Zeitpunkt und Personenkreis formiert. Als eine Schnittstelle vieler Ebenen bekommt ein solcher Moment dann eine enorme Anschubkraft für historische Folgen zugesprochen. Ein prominentes Beispiel der jüngeren Vergangenheit ist der „11. September 2001“ – allein die Datumsangaben ist eben zu einer Chiffre von welthistorischer Zäsur geworden. Opfer und Täter sind hier bekannte und unbekannte Personen, einzelne oder viele, berühmt werdende und in Vergessenheit geratene. Auch „Berlin, 2. Juni 1967“ hat sich – kaum welthistorisch bedeutend, aber zumindest für das Narrativ ‚Bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte‘ wichtig – als ein solch wirkmächtiger Tatort erzählen lassen. Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizeimeister Karl-Heinz Kurras im Innenhof des Hauses „Krumme Straße 66/67“ erscheint im Rückblick als „der Funke, an dem sich die Studentenbewegung entzündet hat“9. 9
Kraushaar, Wolfgang: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Berlin: Propyläen 2008. S. 66. Person und Datum können je nach Autor und Ort der Historiographie mit Pars-prototo-Figuren bis zur Emphase gesteigert werden, beispielsweise bei Karl Heinz Roth: „Der 2. Juni 1967 wurde zum Nadelöhr, zum historischen Augenblick, wo Hundertausende zwischen der Unterwerfung unter die an die Wand gemalte neue Knechtschaft und dem endgültigen Bruch zu wählen hatten. Der Umschlag vom sporadischen Protest zur Umwälzung des sozialen Alltags fand an diesem 2. Juni 1967 statt. Es waren lauter Ohnesorgs, Frauen und Männer, die seither freie Kinderläden, Jugendzentren, Wohngemeinschaften, free-clinics und andere sozial-revolutionäre Kommunalprojekte gründeten.“ (Roth, Karl Heinz: „Der 2. Juni 1967 – 10 Jahre danach“, in: Baer, Willi/Bitsch, Carmen/Dellwo, Karl-Heinz (Hg.), 2.Juni 1967, Hamburg: Laika 2010, S. 65-77, hier S.68/69) Das Pars-pro-toto kann natürlich auch rückblickend auf den Täter angewendet werden: „Kurras handelte so, wie es in der Fantasie der attackierten Eliten und einem Großteil der Bevölkerung herumschwirrte, die ihre Anpassung und Verdrängung in Frage gestellt sah und ihre Ordnung wiederhergestellt sehen wollte. Für sie war er der Staatsvertreter und damit per se legitimiert. In seiner Aktion
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„Sein Tod war ein Signal für die studentische und außerparlamentarische Bewegung, die ihren Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung besonders in den Ländern der Dritten Welt mit dem Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land verband“, heißt es auf der Schrifttafel von Alfred Hrdlickas Denkmal Der Tod des Demonstranten, das 1990 vor der Deutschen Oper in Berlin aufgestellt wurde. So lautet seit drei Jahrzehnten der Konsens in der Historisierung der späten 1960er Jahre, in der nach wie vor umstrittenen Geschichtsschreibung der bundesrepublikanischen Studentenbewegung, der APO sowie der Neuen Linken. Damit nimmt diese Chiffre, vergleichend als „Fanal“, „Signal“ oder „Nadelöhr“ präsentiert, eine Initiations- und Weihefunktion in der erzählten Erinnerung einer ganzen westdeutschen Generationskohorte ein: „Wenn die 68er Bewegung ein Datum, einen Gedenk- oder Feiertag hat, dann ist es der 2. Juni 1967.“10 Mit dem Abstand von über einer Generation und dadurch zunehmend als Aufarbeitung zweiter Ordnung, lässt sich an diesem Umschlagspunkt in seinen Stellenwert offenbar nicht mehr viel umarbeiten: „2. Juni 1967“ ist und bleibt als bedeutsam gesetzt. Dennoch taucht die Frage immer mal wieder auf, ob nicht auch diese Geschichte umgeschrieben werden müsse. Aufsehenerregend war dies der Fall im Sommer des Jahres 2009, als das Ereignis in einen anderen Beurteilungsrahmen gerückt wurde. Zunächst betraf die veränderte Einschätzung nur den Täter Kurras: Als zwei wissenschaftliche Mitarbeiter der BirthlerBehörde aussagekräftige Akten öffentlich ins Gespräch brachten, wandelte sich das Bild des zu diesem Zeitpunkt 81-jährige Polizeimeisters vom obrigkeitsstaatlichen Waffennarr mit Wehrmachtvergangenheit zum Stasi-Informant mit Scharfschützenqualitäten. Der Pensionär schwieg und es blieb dem Medium Akte vorbehalten, in dieser Wendung der Geschichte die entscheidende Rolle zu spielen. Mit diesem neuen Wissen ist schlagartig aus einem bis dato genuin westdeutschen Stück Vergangenheit ein kompliziertes Beispiel deutschdeutscher Interdependenz geworden.
vollstreckte sich die latent fortdauernde, ungebrochene Gewaltbereitschaft der Kriegsgeneration. In seinem Freispruch hat diese Generation sich selbst freigesprochen.“ (Dellwo, Karl-Heinz: „Mein 2. Juni“, in: W. Baer u.a., 2.Juni 1967, S. 81-85, hier S. 83) 10 Soukup, Uwe: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967. Berlin: Verl 1900 2007, S. 244.
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4.1.1 Ein ‚Fanal‘ in bewegten Bildern? Der Polizeistaatsbesuch, 1967 Der Schock saß tief, auch für die vielen, die Ohnesorg nicht unmittelbar auf der Berliner Straße haben liegen sehen, sondern die geschockt waren von der Pressemeldung. Ohnesorgs Studienfreund Uwe Timm erinnert sich: „Einige Tage danach sah ich sein Foto in einer Zeitschrift, und dieses Wiedersehen war wie ein Schock. Er liegt am Boden, sofort erkennbar sein Gesicht, die Haare, die Hände, die langen, dünnen Arme und Beine. Er liegt auf dem Asphalt, bekleidet mit einer Khakihose, einem langärmeligen Hemd, der Arm ausgestreckt, die Hand entspannt geöffnet, die Augen geschlossen, als schliefe er. Neben ihm kniet eine junge Frau in einem schwarzen Kleid oder Umhang. […] Es hätte in diesem Schwarzweiß eine Einstellung aus dem Film ‚Der Tod des Orpheus‘ von Cocteau sein können, das war mein erster Gedanke beim Betrachten des Fotos, diese Verwandlung. Es war einer seiner Lieblingsfilme.“11
Die Verkettung von Straßenszene zu Photographie, die wiederum mit einem Filmstill abgeglichen wird und zur Erinnerung an die Person amalgamiert, verdeutlicht, dass Bildmedien einen gewichtigen Anteil nicht nur an der Formation des Ereignisses selbst, sondern auch (und vielleicht noch in viel stärkerem Maße) an der Historisierung haben. Andere Personen fixierten in anderen Formaten und für andere Institutionen ihre Erinnerung, oftmals aufgeschrieben mit Objektivitäts- und Authentizitätsmarkern wie Uhrzeit und Ortsangaben: „Auf der südlichen Fahrbahn der Bismarckstraße, unweit des Rinnsteins, hatte die Polizei ein sogenanntes ‚Hamburger Absperrgitter‘ aufgestellt, um zu verhindern, daß Demonstranten über die Straße hinweg zum Opernhaus vorstürmten. Unmittelbar davor befand sich eine lose Polizeikette. Gegen 19.15 Uhr standen die Menschen auf dem südlichen Gehweg der Bismarckstraße bereits so dicht gedrängt, daß der Fußgängerverkehr zum Erliegen kam. Schahfeindliche Plakate wurden gezeigt. […] Als – etwa 10 Minuten später – eine Gruppe von schahfreundlichen Zivilpersonen vor der Oper ankam, stimmten die Demonstranten ein lautes Protestgeschrei an. Sie begannen, Tomaten, Gummiringe und Hühnereier zu werfen. Der Zeuge Polizeioberrat I w i c k i , dem die Leitung des Gesamtabschnitts um die Deutsche Oper oblag, erkannte, daß die
11 Timm, Uwe: Der Freund und der Fremde. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2005. S. 11/12.
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Demonstranten auf dem südlichen Gehweg der Bismarckstraße offensichtlich Krawall machen wollten. […] Als gegen 19.55 das iranische Kaiserpaar eintraf, wurde das Protestgeschrei besonders stark. Knallkerzen wurden geworfen, und Nebelkerzen verbreiteten auf der Straße Rauch, so daß die Sicht zeitweilig behindert war.“12
Mit der zur Ikone gewordenen Photographie und der Ereignisschilderung aus einer Ermittlungsakte stehen sich zwei Dokumente gegenüber, zwei Arten von Dokumentation, die beide einem Ereignis eine Form geben und beide Teil des Archivmaterials sind. Im Folgenden soll die Sicht auf diese Tat als ein Topos geworfen werden, der noch werdend, als unverfestigt in die Anfertigung von ursprünglich ganz andersartig angelegtem Dokumentationsmaterial regelrecht ‚hinein platzt‘. So verändert der Schuss den Charakter einer dokumentarischen Erzählung während ihrer Verfertigung. Der Film DER POLIZEISTAATSBESUCH – BEOBACHTUNGEN UNTER DEUTSCHEN GASTGEBERN aus dem Jahr 1967 gilt heute als das Dokumentationsstück der historischen Zäsur dieses Tatorts. Die Wege wider Willen dieser Dokumentation in bewegten Bildern werden im folgenden Kapitel insbesondere in Wechselwirkung mit anderen Medien des Dokumentierens und weiterführender Geschichtsschreibung dieses Film aufgezeigt. Die Historisierung eines Dokumentarfilms wird zwischen Kriminalistik und Geschichte gelesen. Ein Filmbild trifft eine Ereignisdokumentation: ein seltener Fall, der aber einer der Besonderheiten dieser Chiffre „2. Juni 1967“ ist. Die Beobachtungen des Schweizer Regisseurs Roman Brodmann und die 16mm-Aufnahmen der beiden Kameramänner Franz Brandeis und Michael Busse sollten ursprünglich in einem heiteren ironischen Film mit dem Arbeitstitel „Der Staatsbesuch“ münden. Der Schah Mohammad Reza Pahlewi war für einen Deutschlandbesuch in der ersten Juniwoche des Jahres 1967 angekündigt. Das Filmteam reiste Ende Mai, Anfang Juni an die zu besuchenden Orte, um die Vorbereitungen zu beobachten. Dieses Sujet des Films hatte sich zuvor durch eher zufällige Umstände ergeben. Nach der Anfrage beim Regisseur Brodmann durch den Leiter der Dokumentarabteilung des Stuttgarter Süddeutschen Rundfunks (SDR), Heinz Huber, für die Reihe Zeichen der Zeit einen solchen Staatsakt genauer zu betrachten, erschien das persische Herrscherpaar schlicht als die nächstliegende Prominenz auf der diplomatischen Agenda. Dabei war der Schah gut in das Konzept einzufügen, seine aus der Boulevardpresse berühmte Gattin Farah ebenfalls, die „durch die sogenannte Soraya-Presse ungeheuer hochgeju-
12 Anklageschrift des Generalstaatsanwalts Dehnicke gegen Fritz Teufel vom 13. Juli 1967. Zitiert nach Kommune I: Zerschmettert, S. 49/50.
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belte Figur“13. Bereits im Vorfeld waren beide auch sehr kritisch kommentiert worden. Durch Bahman Nirumands Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt war beispielsweise die Journalistin Ulrike Meinhof angeregt worden, sich für die Juniausgabe der Zeitschrift Konkret mit den Umständen des Staatsbesuchs auseinander zu setzen. Ihr Offener Brief an Farah Diba14 diente als Flugblatt zum Aufruf des (vor allem studentischen) Protestes am 2. Juni. Die Kenntnisnahme von „einer gewissen politischen Spannung, die in diesen ganzen Ablauf eingebettet war“15, bestimmte aber nicht das planerische Kalkül der Filmproduktion. Denn weder diese Spannung, noch der Schah und seine Entourage sollten in den Beobachtungen im Mittelpunkt stehen. Vielmehr war das Ziel, dass „wir Deutschen selbst […] das Objekt des kritischen Berichtes“16 sein würden, dass nämlich das Verhalten der „privaten und offiziellen Bundesbürger“17 in Vorbereitung und Durchführung zur Diskussion sichtbar würde, wie es in einem Vorabschreiben des Redakteurs Heinz Huber hieß. Das Filmteam suchte zu Beginn der geplanten zehn Drehtage jene Orte auf, die Einblick in Tätigkeiten der arbeitsweltlichen Vorbereitung und Planung für diese aufwendige Visite boten. Die Filmemacher richteten den Fokus auf genau jene Taten, die das kommende Geschehen erst zu einem besonderen, staatstragenden Ereignis machen würden. Dabei konzentrierte sich ein Team um Brodmann auf den Ort Rothenburg ob der Tauber und die dortigen Vorbereitungen, ein zweites Team um seinen Assistenten Rainer C.W. Wagner begleitete den Schah und zeichnete die offiziellen Akte des Staatsbesuchs wie Ankunft, Abendempfang, Fahrt zum Rhein und ähnliches auf. Dieses zweite Team musste sich nochmals teilen, um das Programm überhaupt bewältigen zu können, so dass Filmaufnahmen teilweise ohne Ton zustande kamen. Am fünften Tag traf sich das gesamte Team wieder in Rothenburg.
13 Zitat Brodmann nach Sander, Herwig: „Basel-Stuttgart und zurück. Ein Gespräch mit dem Schweizer Dokumentarfilmer und Journalisten Roman Brodmann“, in: Zimmermann, Peter (Hg.), Fernsehdokumentarismus: Bilanz und Perspektiven, München: UKV-Medien Öhlschläger 1992. S. 93-107. S. 101. Soraya Esfandiary-Bakhtiari war von 1951-58 als Vorgängerin von Farah Diba die Kaiserin von Persien und wurde ab den 1960er Jahren Teil des europäischen Jet-Sets. 14 Meinhof, Ulrike: „Offener Brief an Farah Diba“, in: Konkret 6/1967, S. 21/22. 15 Zitat Brodmann in H. Sander: Ein Gespräch, S. 102. 16 Ebd. 17 Müller, Jürgen K.: „‚Zeichen der Zeit‘ – eine Retrospektive. Renaissance einer Fernseh-Dokumentationsreihe“, in: P. Zimmermann: Fernsehdokumentarismus, S. 107136, S. 125.
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Im Film sind zu Beginn Szenen wie die folgende montiert: Die jungen weiblichen „Hostessen“ des „Hotel Eisenhut“ in Rothenburg ob der Tauber üben fünf Tage vor dem Besuch den angemessenen Knicks unter den Augen ihrer älteren Chefin, die sich damit auf den „prominentesten Gast, seit sie für den Führer einen Apfel schälen durfte“, einstimmt, wie der Voice-Over-Kommentar unterrichtet. Ein Laienschauspieler studiert eine kleine historisierende Begrüßungsrede ein, anschließend werden die kaiserlichen Hotelzimmer vorgestellt – das Eingeübte wird dann aber schließlich doch „aus Sicherheitsgründen“ (Kommentar) verboten. Und eben solche Formen von „Sicherheit“ (Kommentar) bestimmen das Sujet weiter, indem ab da der besondere Augenmerk in diesem Film auf die Praktiken der Polizei18 gelegt wurde. Schon in dem ersten Rothenburg-Teil werden die immensen Sicherheitsmaßnahmen angesprochen, die den Alltag einschränken oder gar außer Kraft setzen: „Jeder Turm ist besetzt, jedes Fenster um den Marktplatz ist polizeilich erfasst“, so wird erklärt, denn mehrfach betont der Kommentar: „Der Schah ist eine besonders gefährdete Person“. Als die Zeichen der Zeit präsentiert und mit entsprechenden, ironischen Kommentaren („Rothenburg ob der Tauber, das Mekka der deutschen Romantik, erwartet den Kaiser aus dem Morgenland […], der seit fünfzehn Jahren eine Lücke im deutschen Bürgersinn schließen hilft“) unterlegt, sind die Filmszenen interpretierbar als Dokument von obrigkeitsstaatlichem Denken und zutage tretender Autoritätssehnsucht. Das war durchaus im konzeptuellen Paradigma der gesamten Sendereihe. Das Konzept der Zeichen der Zeit-Redaktion des SDR, auch als „Stuttgarter Schule des Dokumentarfilms“ bekannt geworden, erklärte Wilhelm Bittorf, ein Kollege von Brodmann: „Ich glaube, unser Ausgangspunkt war unterschwellig immer, das Gegenteil mit Film zu machen von dem, was die Nazis damit gemacht hatten, die ihn äußerst geschickt dazu benutzt hatten, zu heroisieren, die Wirklichkeit zu überhöhen, um gewaltige patriotische Emotionen auszulösen. […] Wir waren entschlossen, […] den Film kritisch einzusetzen. Diese Mittel der Vergegenwärtigung, der Lebendigkeit zu benutzen, um Wirklichkeit unheroisch und eher entlarvend und kritisch darzustellen.“19 18 Der Filmkommentar klärt dazu mit Zahlen auf: „Es ist ein Staatsbesuch der Superlative, wo immer von der Polizei die Rede ist. 4000 Uniformierte und 680 Kriminalbeamte hat man alleine in Nordrhein-Westfalen dem Staatsbesuch zu bieten. Über 4000 sind es in München, 5000 in Berlin, wieder 4000 in Hamburg. In der ganzen Bundesrepublik inklusive Westberlin sind rund 30000 Menschen aufgeboten zur Sicherheit des Gastes, der eine besonders gefährdete Person ist.“ 19 Steinmetz, Rüdiger/Spitra, Helfried: Dokumentarfilm als ‚Zeichen der Zeit‘. Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. München: Ölschläger 1992, S. 27. Ihre Sujets
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Roman Brodmann (1920–1990) stieß 1965 zum SDR und war mit seinem Film DIE MISSWAHL im Jahr 1966 der erste, der die Faszination der Stuttgarter Dokumentarfilmer für das amerikanische „Direct Cinema“ eines Richard Leacock, Don Allen Pennebaker oder Robert Drew in den Stil seiner eigenen Arbeit umsetzen konnte. Dies lag insbesondere an der Verfügbarkeit und damit den Einsatzmöglichkeiten filmtechnischer Innovationen. Brodmann nutzte „eine geblimte, d.h. geräuschgedämpfte 16mm-Kamera sowie hochsensible Richtmikrophone und hochempfindlichen Film. Auf Zusatzlicht konnte somit verzichtet und mit dem Mikrophon konnten entfernt geführte Gespräche dezent aufgenommen werden.“20 Die Frage stellt sich dabei, wie denn programmatischer Titel der Reihe und das Gesehene in Beziehung stehen. Die Beziehung zwischen „Zeichen“ und „Zeit“ ist in der Schwebe gehalten, die Intention der Namensgebung ist offen für verschiedene Verständnisse: Handelt es sich bei den Filmaufnahmen um das Festhalten von Zeichen, die die Zeit hervorbringt? Sind diese Zeichen gar allegorisch für die Zeit? Sind die Filmaufnahmen selbst diese Zeichen? Sind sie die Zeichen für oder von der Zeit? Was bedeutet überhaupt Zeit – inwiefern beinhaltet das eine Einordnung in die Zeichen aus oder für die Vergangenheit oder gar die Zukunft im Sinne vorausdeutender Zeichen? Jenseits der von dem Autor intendierten Bestimmungen des Films, obrigkeitsstaatliches Gedankengut und demokratieferne Kontinuitäten in der jungen Bundesrepublik zu entlarven, ist der Film eine Gesamtschau von Zeichenträgern, Zeichenproduzenten und Zeichenübermittlung seiner Zeit. In ihm sind die unterschiedlichen Materialitäten der Zeichen in verschiedenster Form und verschiedensten Kontexten rund um den Staatsbesuch auszumachen – vor allem mobile Filmkameras sind in den Bildern wechselnder Orte beinahe durchgängig zu sehen. Die permanente Anwesenheit sowohl von Aufzeichnungsapparaturen als auch materiellen Zeichenträgern machte sich Brodmann bei der Montage seiner Filmbilder zu Nutze. Durch einen besonders bemerkenswerten Schnitt beispielsweise wird eine Überleitung zwischen zwei unterschiedlichen Orten und fanden die Filmer und Autoren im wirtschaftswunderlichen Alltag der Bundesrepublik. Hinter Titeln wie Der Autokult oder Schützenfest in Bahnhofsnähe reichte die thematische Bandbreite vom Kölner Karneval bis zum Kongress der religiös motivierten Vegetarier. Sowohl die Misswahl als auch der Polizeistaatsbesuch wurden 1967 beziehungsweise 1968 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Brodmann prägte die Sendereihe maßgeblich: Er gestaltete bis zum Ende im Jahr 1973 von den insgesamt 56 Beiträgen genau die Hälfte. 20 Hoffmann, Kay: Zeichen der Zeit. Zur Geschichte der Stuttgarter Schule. München: TR 1996, S. 38.
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Veranstaltungen hergestellt. Die erste Sequenz inszeniert eine studentisch organisierte Veranstaltung an der Münchner Universität, wo der regimekritische Vortrag von Bahman Nirumand über den Iran von bejubelten Plakatentrollungen und Applaus unterbrochen und aufgehoben wird. Die Anschlusssequenz führt zum Aufbau eines temporären Pressezentrums Berlin, und die Großaufnahme einer mit „Achtung Umsturz“ beschrifteten Transportkiste eröffnet bildlich Fragen zu den Zeichen der Zeit und den Ereignissen. Handelt es sich hier um ein Ungleichgewicht bei den beiden kontrastierten Formen und Institutionen, bei Plakat versus Rundfunkübertragung, bei improvisierter Spontanität versus institutionalisierter Professionalität? Oder nivelliert sich eine solche Dichotomie, trotz sichtbarer Unterschiede, eben durch die Linse der 16mm Kamera und durch die anschließende Sichtbarmachung in der filmischen Montage? Sind nicht Rundfunkübertragung und Studentenprotest Teil eines Spektakels, vielleicht sogar sich gegenseitig bedingende konstitutive Elemente des Großereignisses? Nach den sechs Drehtagen in Rothenburg reiste Brodmann nach Berlin, wo er erkannte: „[H]ier wird’s heiß. Und dann ganz schnell der Beschluß gefaßt: das Protokoll interessiert mich nur ganz zweitrangig, jetzt muß der Film auf zwei Ebenen gestellt werden. Die eine Ebene ist der Staatsbesuch, und die andere Ebene ist der Protest dagegen.“21 Sein Assistent Wagner verfolgte den ursprünglichen Plan und war für Aufnahmen weiterer Reisestationen nach München gereist. Bilder von dort sowie aus Hamburg und Lübeck sollten den Film ausklingen lassen. Der Schweizer Dokumentarfilmer selbst war mit Toningenieur Bosch und Kameramann Busse vor Ort am 2. Juni 1967. ‚Vor Ort‘ bedeutet in diesem Fall nicht, im Smoking in der Aufführung der Zauberflöte zu sitzen, sondern vor der deutschen Oper zu stehen. Dieser Ortswechsel machte den entscheidenden Perspektivwechsel aus, denn „dann kam genau diese Situation, die etwas wichtiges ist für den Dokumentarfilmer meines Erachtens überhaupt. Daß man nämlich nicht ein Gefäß aufstellt und sagt, das will ich jetzt im Sinne meiner Vorgabenpläne füllen. Durch das Protokoll des Auswärtigen Amtes hätte man sich praktisch das Drehbuch schreiben lassen können. Alles, was sich abspielte innerhalb von diesen 10 Tagen, das stand schwarz auf weiß ausgedruckt, man brauchte nur hingehen und drehen. Aber das Entscheidende war eben, daß man nicht nur das Protokoll verfolgte, sondern auch die zweite Linie suchte und die dritte Linie dahinter und mit der entsprechenden Bereitschaft, so wie die Verhältnisse sich je nach dem ändern, auf die Veränderung einzugehen, und den Film möglicherweise etwas anderes werden zu lassen,
21 Zitat Brodmann in K. Hoffmann: Zeichen, S. 111.
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als man ursprünglich einmal gedacht hatte. An einem ganz bestimmten Punkt; von einem gewissen Punkte an war nichts mehr an diesem Staatsbesuch Folklore, sondern Politik.“22
Die Gewalt der „Jubelperser“ und der Berliner Polizei machen im Film die Wende aus, an der die bis dato unterschiedlichen arbeitsweltlichen, polizeilichen, auf Kommunikation gerichteten Blickpunkte umschlagen zu einem kriminalistischen Tatort im Sinne eines Raumes, in dem eine oder mehrere einen Straftatbestand erfüllende Handlungen vollzogen werden. Vor der Deutschen Oper wären es zunächst Körperverletzungen, zum Teil schwere, sowie Amtsmissbrauch der Polizisten und unterlassene Hilfeleistung. Mit Beginn der Dämmerung kommt eine weitere, aus der Nachbetrachtung die strafbare Handlung hinzu: Die Erschießung von Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras. Und so verändern sich auch die bewegten Bilder als die Zeichen der Zeit. Der Moment einer Ausnahmesituation und das Geschehen, nämlich jener tödliche Schuss auf den 26jährigen Studenten, holen diese Zeichen ein. Das Filmteam war zum Zeitpunkt des Schusses nur ungefähr zwanzig Meter von der Stelle entfernt.23 Einen derartigen Gewaltexzess konnte Brodmann in keiner Weise erahnen. Die Geschehnisse greifen in den Prozess der Filmentstehung ein und der Filmemacher verweigert sich nicht, aus einem Film mit dem Arbeitstitel „Der Staatsbesuch“ den „Polizeistaatsbesuch“ zu machen – regelrecht machen zu müssen: „Von einem gewissen Augenblick an war das deutlich genug, und von einem nächsten Augenblick an wurde es dann zwingend, da hat man gesehen, es gibt gar keinen anderen Weg mehr, als abzukippen auf diese Ebene des Handlungsverlaufs. In Berlin hat sich ganz klar erwiesen, da wird ein anderer Film draus, oder da wird ein falscher Film draus.“24
Der Film ist ab diesem Punkt eine Chronologie der Geschehnisse des Tages und der Nacht, überwiegend mit Originaltönen unterlegt. Wenn ein kurzer Kommentar gesprochen ist, dann sachlich und ironiefrei. Der Film endet schließlich mit dem Kaiserpaar bei einem Orgelkonzert in der Lübecker Marienkirche, es wird Bach gespielt, und anschließend das letzte Defilee aufgefahren. Hier, bei den „Tagen danach“, setzt dann wieder die bissige Ironie des Kommentars ein.
22 Zitat Brodmann in H. Sander: Eine Gespräch, S. 102. 23 Vgl. H. Sander: Ein Gespräch, S. 103 24 Zitat Brodmann in H. Sander: Ein Gespräch, S. 103.
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Mit den Aufzeichnungen von Benno Ohnesorgs Todesumständen verschiebt der titelgebende Begriff des „Zeichens“ seine Semantik. Das Indexikalische, einhergehend mit der einsetzenden strafrechtlichen Auseinandersetzung, wird an den Film herangetragen. Die optische und akustische Aufzeichnung bekommt den Status von Indizien und Beweisen. In einem Brief der SDR Pressestelle vom 3. August 1967 heißt es dazu: „Der Toningenieur Rainer Bosch und der Kameramann Michael Busse waren während der Aufnahmen in Berlin unmittelbar hinter dem Polizeikordon und dem Wasserwerfer mit vorgegangen. Das Tonband lief etwa 3 Minuten, bevor der Schuß fiel (der, wie wenige Augenblicke später erkennbar wurde, den Studenten Ohnesorg tödlich verletzt hatte) und lief danach auch noch 2 Minuten weiter. Toningenieur und Kameramann waren zu diesem Zeitpunkt 15 bis 20 Meter von dem Zwischenfall entfernt. Die Aufnahme am Ort des Geschehens und die Wiedergabe in der späteren Sendung enthielten in einer tatsächlichen Einheit von Zeit und Ort. Die Aufnahme diente übrigens inzwischen als Indiz für die Ermittlung der Staatsanwaltschaft in Berlin, und zwar auf deren ausdrücklichen Wunsch.“ 25
Damit wird ein zweiter Tatort eröffnet, der Tatort der Zeugenschaft, für die Sicht- und Hörbarmachung, die Vermittlung, und letztlich das Archiv. Zugleich wird das, was getrennt aufgezeichnet und erst im Filmschnitt zusammengefügt wird, nämlich Bild und Ton, in seinem Dokumentationscharakter fragil. Die Einheit von Bild und Ton ist mit Blick auf ihre technischen Voraussetzungen eine nachträglich behauptete. Von dem Stellenwert der Ton-/Bildaufnahmen jenseits von polizeilichen Ermittlungen erzählt das Kursbuch 12/1968 Der nicht erklärte Notstand. Diese Ausgabe macht den Versuch, nach einem Jahr die Vorgänge rund um den 2. Juni 1967 zu rekonstruieren in Form einer großen Materialsammlung an Zeugenprotokollen, Polizeiakten, Presseberichten, offiziellen Stellungnahmen, Leserbriefen, Flugblättern mit einem deutlichen Rekurs auf Film- und Photoaufnahmen. So werden die bewegten Bilder zum Zeichen im Sinne eines Belegs von Tatsachen für die politisch-moralischen Diskussionen: „Filmaufnahmen, Photographien und Zeugenaussagen belegen den Tatbestand, dass die Polizei den Angriff der Schahfreunde auf die Demonstranten zuließ.“26 Die Einheit von Personen, Ort und Zeit ist erneut als der entscheidende Faktor benannt: „Auch Benno Ohnesorg gehört zu denen, die den Hof nicht mehr rechtzeitig verlassen konnten. Er wurde zu einem Zeitpunkt erschossen, als sich bereits Photo- und Filmreporter 25 Zitiert nach K. Hoffmann: Zeichen, S. 111/112. 26 Kursbuch 12 – Der nicht erklärte Notstand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 121.
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auf dem Grundstück befanden.“27 Dass diese Reporter nicht nur Augenzeugen waren, sondern Personen im Besitz von Aufzeichnungstechniken, schien einigen anwesenden Polizisten durchaus als problematisch bewusst, so dass sie in die Aufzeichnung eingriffen. Eine Zeugin sagte später über die herbeieilenden Filmleute aus: „Die sind rüber gekommen und haben alles ausgeleuchtet. Und das sind die Aufnahmen, die da entstanden sind. Daraufhin kam ein Polizist und hat geschrien: Licht aus! Licht aus!“28 Und selbst mit dem Abstand vieler Jahre wird beispielsweise das Tonband von Rainer Bosch immer noch als der Schlüssel inszeniert, der alle Verteidigungsaussagen für Kurras ad absurdum hätte führen können. In der Recherche von Uwe Soukup aus dem Jahr 2007 heißt es über das Band: „Darauf ist nicht nur zu hören, dass nur ein Schuss fiel, sondern auch die kurz darauf einsetzenden ‚Mörder, Mörder‘-Rufe von Demonstranten. Man hätte aber noch etwas anderes hören können, wenn man das Band zugelassen hätte: den Ruf einer männlichen Stimme ‚Kurras, gleich nach hinten! Los! Schnell weg!‘ – etwa eine Minute nach dem Schuss. Wer das gerufen hat, konnte nicht ermittelt werden – weil das Tonband vom Gericht unterdrückt wurde. Würde nicht in jedem anderen Verfahren fieberhaft nach demjenigen gesucht werden, der hier (dem Anschein nach wie ein Vorgesetzter von Kurras) Befehle zu geben scheint?“29
Es ist also weniger das, was im Film zu sehen ist, als das, was zu hören sein könnte: Ein akustischer Moment, ein hörbares Indiz. Aber die Schussgeräusche verbleiben und verhallen im historischen Konjunktiv. Spätestens an dieser Stelle entsteht entweder ein Bruch oder eine Deckungsungleichheit zwischen kriminalistischen, juristischen Ermittlungen und historischem, „Geschichte-machendem“ Ereignis. Denn dass etwas zu hören ist, beleuchtet noch nicht, warum es zu hören ist. „Wie es zu diesen Rufen gekommen ist und ob sie sich allein auf das Schussgeräusch beziehen, ist aus heutiger Sicht nicht mehr sicher festzustellen.“30 Mit den Resten und Fragmenten ihres Recordings wurde das Geschehen freigegeben für Spekulationen aufgrund einer Gemengelage von Verschwörungstheorien und medialen Splittern, Geisterstimmen und Gespensterbildern, wie sie 27 Ebd. S. 78 28 Zitiert nach U. Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg, S. 130. Bei den Lichtverhältnissen in der Dämmerung und in einem Hinterhof musste offenbar Zusatzlicht installiert werden. 29 Ebd., S. 106/107. 30 Ebd., S. 148.
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vergleichsweise vom Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas aus einer ganz ähnlichen Gemengelage heraus ein ausuferndes NachLeben perpetuierten. Doch existiert zum 2. Juni 1967 nicht ‚die eine‘ Bildaufnahme. Noch viele andere machten Photos, privat bleibende und publizierte. Bernard Larsson gelang das berühmte und weit verbreitete, welches sich im kollektiven Gedächtnis verhaftet hat. Auch andere Filmaufnahmen und daraus resultierende Dokumentarfilme entstanden. Beispielsweise schnitten die beiden DFFB-Studenten Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow aus ihrem Material den Film BERLIN 2. JUNI ’67 zusammen. Ihre Arbeit ist jedoch viel mehr auf den Protest und die Folgen zugeschnitten, mit rückblickenden Zeugeninterviews, zum Beispiel von Rudi Dutschke, Rainer Langhans, aber auch Polizeibeamten auf der Straße, die angesprochen wurden. Hier bestimmte die Tat aus dem Rückblick heraus die Machart und das Narrativ und wurde dementsprechend ex post auf sie zurückgearbeitet – eine Dokumentation mit dem Mehrwissen um die Tat von der ersten Minute an. Im Unterschied zu Brodmann brachten sich auch die Filmemacher selbst ein, sie waren im Bild zu sehen: Die „Krumme Straße“ haben sie beispielsweise für eine Augenzeugin noch einmal als Interviewort besucht. Damit legten die beiden studentischen Filmemacher einen Dokumentarfilm mit dem dezidierten Willen zur Auf- und Erklärung des Vergehens vor. Unter Einarbeitung von Photographien und Nurtönen, beziehungsweise von unvertontem Filmmaterial, entstand der Charakter einer Collage – eine Rekonstruktion eines Ereignisses. Die Tendenz war dabei ganz deutlich gegen die Polizei und deren Brutalität gerichtet. „Wir müssen Widerstand leisten“, so lautete der letzte Satz des Kommentars und spätestens damit wurde es Protestpropaganda. Aber auch in Giefer/Minows Aufnahmen sind immer wieder 8- und 16mm-Kameras im Bild zu sehen – es muss demnach tatsächlich sehr viel (privates) Material geben. Jedoch ist auch Brodmanns Film nicht mehr anders als aus heutiger Sicht anzuschauen. Diesen Film gegenwärtig als ein Dokument zu sehen, fällt entgegen der Belegung mit diesem Begriff insofern schwer, als dass er als Dokument nicht glückliches Instrument der Geschichte ist, die auch ohne dieses Dokument als sie selbst existiert hätte – wie es sich in Anlehnung an Foucaults berühmte Gedanken zum Dokument zu deuten ist31. Doch was ist der Film dagegen? Wie verhält er sich zur Tat zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem zwar seit 1990 vor der Deutschen Oper das Monument Der Tod des Demonstranten steht, zugleich jedoch die berühmt-berüchtigten Zeitzeugen noch zum Teil wortmächtig, zum Teil schweigend privat und öffentlich erinnern? 31 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 14.
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Eine mittlerweile käufliche Verfügbarkeit des Films auf DVD in jüngerer Zeit ist mit folgenden Worten begründet worden: „Brodmann ist der einzige, dessen Kamera diesen schicksalhaften Moment einfängt – einen Moment, der als Auftakt der deutschen Studentenrevolte in die Geschichte eingehen wird. So erweist sich sein Film in der Rückschau als ein einzigartiges Zeitdokument: als ein hellsichtiges Portrait der bundesdeutschen Gesellschaft am Vorabend von 1968.“32
So widerfährt dem Film also eine Setzung: die Setzung, er sei „Zeitdokument“, was in dieser Publikationsreihe wiederum in einen noch größeren historischen Rahmen von einem halben Jahrhundert eingefügt ist: „Die große ZEIT-DVD-Edition berührt die brennenden Themen der jüngeren deutschen Geschichte. 12 Filme beleuchten Schicksalsstunden der letzten 60 Jahre: Von der Wannseekonferenz, mit der ‚Das Böse in die Welt gesetzt wurde‘ bis zur Wiedervereinigung. Themen, die dieses Jahr aus einem veränderten historischen Bewusstsein heraus in den Blickpunkt treten, wie die Erschießung von Benno Ohnesorg oder der Olympiamord. Die 12 vielfach preisgekrönten und eigens von der ZEIT ausgewählten Dokumentationen schrieben Filmgeschichte.“33
Eine anders geartete Verfügbarkeit auf DVD erfolgte durch die Bibliothek des Widerstands, Ausgabe 1. Damit in eine gänzlich andere Genealogie als die der BRD-Geschichte eingereiht, ist in der dort angefügten Beurteilung deutlich gemacht worden, dass der 2. Juni 1967 harte politische Auseinandersetzungen, Gewalt und auch den RAF-Terrorismus zur Folge hatte: „Der Startschuss zu diesem mörderischen Konflikt fiel mitten in Westberlin – aus der Pistole des Beamten der Politischen Polizei, Karl-Heinz Kurras. Die destruktive Energie, die niemand mehr unter Kontrolle bekam, wurde am 2. Juni 1967 freigesetzt.“34 Diese „Zeichen der Zeit“, ihre Chiffren und Bildinhalte sind nachträglich zu deutende gewesen. Erst in der Nachträglichkeit und dem Ex-post-Wissen ergeben sich „Sachlagen“ und „Fakten“, die sich allerdings nur in seltenen Fällen wie dem 2. Juni 1967 auch auf instantane Aufzeichnungstechniken stützen können.
32 DVD-Beilage der 4-teiligen Geschichte-Serie „Deutsche Schicksalsjahre“ der Wochen-zeitung Die Zeit. Inhaltlich ist diese vermeintliche Einzigartigkeit nicht richtig. 33 Ebd. 34 U. Soukup: Wie starb, S. 242.
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4.1.2 Eine radikale Gewalt, die nicht von der Straße kommt. La Chinoise, 1967 Wo sollten, wo konnten die Bezugspunkte einer Vorgeschichte des linksradikalen Terrorismus gesetzt werden? Die Kette der Anschlüsse, Ansätze und Verweise auf Vorläuferorganisationen, -aktionen und -ideale ließ sich historisch noch weiter zurückknüpfen als es das erste Kapitel dieser Arbeit vorführt, bis zu den persischen Assasinern, den Sicarii im Palästina unter römischer Besatzung oder auch den Erläuterungen Platos und Aristoteles über Tyrannenmord.35 Doch das Problem von historischem Anschluss und von Abgrenzung bleibt bestehen, wenn das ab ovo auf jüngere Daten verlagert ist. Das findet sich bereits in den Aussagen über Vorbilder und Traditionen der terroristischen Akteure selbst. So lassen sich im Ursprung des modernen Terrorismus im zaristischen Russland um 1880 solche Verweise finden auf Vorbilder, zu Selbsteinreihungen in historisch-kulturelle Kontexte und für regelrechte Idole. Im ersten Programm der Narodnaja Volja stand die deutliche Markierung: „Wir werden mit den Mitteln Wilhelm Tells kämpfen“36. Viele der jungen russischen Anarchistinnen und Anarchisten sollen gar ganze Passagen aus Schillers Die Räuber auswendig gekannt haben. Andere Proto-Terroristen haben sich zur selben Zeit in ihren Flugschriften an die Französische Revolution gehalten und dort Zitate von Antoine de Saint Just und Maximilien Robespierre als Motto gesetzt37. Die Geschichte des Terrorismus war also auch schon vor der Faszination für die Stadtguerilla in den 1960er Jahren eine Intertextualitätsgeschichte, gleichermaßen aus dem Blickwinkel und der Selbsterzählung der Terroristen wie aus dem Sprechen durch Beobachter zweiter Ordnung. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um ‚sauber trennbare‘ Diskursmodelle, sondern eher um narrative Einsprengsel, in denen selten eine Trennschärfe auszumachen ist zwischen Propaganda, Analyse und Poetik. Die Kontextualisierung soll im Folgenden auf eine Frage zugespitzt werden: Musste der westdeutsche Linksterrorismus, der sich stets auf den 2. Junin 1967 beruft und auf ihn berufen wird, einen Vorlauf in Studentenprotesten auf der
35 Vgl. Laquer, Walter: Terrorismus. Kronberg/Ts.: Athenäum 1977, S. 4ff. Dieser langen Diskurslinie muss man natürlich nicht folgen, es gibt sicherlich viele Gründe, eher von einem Bruch zur Überlegung von ‚Tyrannenmord‘ und ‚gerechtem Krieg‘ durch die Theorie und Methode des neuzeitlichen Terrorismus auszugehen. 36 W. Laquer: Terrorismus, S. 23. 37 Ebd.
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Straße haben? Kann er nur durch eine Vorerfahrung von Gewalt und Öffentlichkeit vermittelt werden? Nicht allein die gezielte Lektüre von Analysen und Rückblickserzählungen, auch ein Blick auf das öffentlich gemachte Photobildinventar zum 40-jährigen Jubiläum legt diesen Zusammenhang von Gegengewalt und öffentlichem Protest erneut nahe. So wurden für das Beispiel der Stadt Berlin unter dem Namen 68 – Brennpunkt Berlin38 im Amerikahaus Photostrecken ausgestellt, die den studentischen Aufruhr auf Straßen, auf Plätzen und vor Universitäts-, Presse-, Regierungs- und vielen anderen Gebäuden zeigten. In den Ausstellungen Berlin 68: sichten einer revolte39 im Berliner Stadtmuseum erwarteten den Besucher ähnliche Motive, ebenso in den Bildsujets der Werke, die unter dem Titel 1968. Die unbequeme Zeit40 in der Akademie der Künste präsentiert wurden. Die öffentlichen und veröffentlichten Orte sind inszeniert als elementar und nicht wegzudenken mit einer Doppelfunktion als Medien von Protest und Utopie, als Dispositive eines sich zur Epoche ausdehnenden sehr kurzen Zeitraums. Die berühmt gewordenen Straßen und Plätze waren immer auch Bildinhalt anderer Medien – aber durch die ihnen zugesprochene Subversivität und Direktheit prägen gerade sie bis heute die besondere oder vermeintliche Authentizität der 68er Proteste. So schrieb der Medienapokalyptiker Jean Baudrillard, der 1968 an der umkämpften Universität Nanterre mit Le système des objects promovierte und für den es ansonsten keine Indizien gibt, dass er ein glorifizierender Historiograph der 68er-Bewegung sei: „Das wahre revolutionäre Medium des Mai waren die Wände mit ihren Parolen, die Siebdrucke oder die handgemalten Plakate, die Straße, in der das Wort ergriffen und ausgetauscht wurde – all das, was unmittelbare Einschreibung war, was gegeben und zurückgegeben, was ausgesprochen und beantwortet wurde, was sich bewegte, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort, reziprok und antagonistisch. In diesem Sinne ist die Straße die alternative und subversive Form aller Massenmedien, denn anders als jene ist sie nicht objektivierter Träger von Botschaften ohne Antwort, nicht auf Distanz wirkendes Übertragungsnetz, sondern Freiraum des symbolischen Austauschs der ephemeren und sterblichen
38 „68 – Brennpunkt Berlin“, Ausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. 31. Januar bis 31. Mai 2008, Amerika Haus/ Berlin. 39 „Berlin 68: sichten einer revolte“. 10. Juli bis 2. November 2008, Stadtmuseum Berlin/ Ephraim-Palais. 40 „1968. Die unbequeme Zeit“, Fotografien von Michael Ruetz. 17. April bis 31. August 2008, Akademie der Künste/ Berlin.
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Rede, einer Rede, die sich nicht auf der platonischen Bildfläche der Medien reflektiert. Wird sie institutionalisiert und zum Spektakel durch die Medien, muß sie krepieren.“41
Hier lieferte Baudrillard eine Laudatio auf die Straße als ein beinahe mythisches Moment von unmittelbarer und nicht reproduzierbarer, geschweige denn archivierbarer Einschreibung und damit eine Stätte für eine Kommunikation eines freiheitlichen Systems inmitten einer mediatisierten Gesellschaft. Und doch ist in den Dokumentationen über Benno Ohnesorg auch eine andere Szene auszumachen, ein anderer Raum zu erkennen, aus dem die Überlegungen zur Gewalt sprechen. Im bereits angesprochenen Film BERLIN 2. JUNI ’67 der beiden damaligen DFFB-Studenten Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow sind es zunächst auch Straßenszenen, die sowohl die dominierenden Bildräume des 2. Juni, die der nachträglichen Ortserkundungen wie auch die der Interviews von Zeugen vor Ort bilden. Aber nach knapp zehn Filmminuten ist eine langsame Kamerafahrt in einem Innenraum zwischen die vielen Außenaufnahmen montiert. Der Innenraum offenbart: Stühle und Tische wild gestapelt, lose Papieranhäufungen und Stifte. Mit Farbe ist auf die helle Wand im Hintergrund geschrieben: „ES BRENNT ES BRENNT DAS KAUFHAUS BRENNT ERST EINS DANN ZWEI DANN DREI DANN VIER DANN STEHT DER KUNZE VOR DER TÜR“42. Daneben hängt ein Plakat, dessen Schrift und Graphik nicht zu entziffern ist, außer den großen Lettern „KULTURREVOLUTION“. Eine große Fahne verhängt die Wandaufschrift „Rot Front“. Auf dem Tisch sitzt Rudi Dutschke im kurzärmeligem Hemd und spricht mit wippenden Körperbewegungen. Kurz kommt der Arm des Tonmannes mit einem Mikrofonkabel ins Bild, dann ist er halb am Bildrahmen zu sehen – die gefilmte Interviewsituation, die Anwesenheit eines Kamerateams wird dadurch auch im Bild selbst sichtbar. Dutschke spricht mit monotoner Stimme vom 2. Juni, von der Gewalt der herrschenden Klasse und vom internationalen Befreiungskampf. Die Kamera fährt weiter durch den Raum und endet bei einem durch ein Plakat verdeckten Graffiti: „Miau Mio Miau Mio [unleserlich] brennt bald lichterloh.“ Dutschke kommt zu seinem Anschlussstatement, während die Kamera langsam auf den unruhig sitzenden Studentenführer zufährt: „Für uns war gerade am 2. Juni die Möglichkeit, die ganze Dritte Welt hier in Berlin versammelt zu sehen, denn schließlich steht der Schah und repräsentiert der Schah einen Teil der Dritten Welt. Und diese Dritte Welt wird 1970, wo sie die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht, nur ein Sechstel aller Dienstleistungen und Güter haben. Nun sind wir hier in 41 Baudrillard, Jean: Requiem für die Medien, Berlin: Merve 1978, S. 100/101. 42 Mit „Kunze“ wird Dieter Kunzelmann gemeint sein.
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den Metropolen dazu verpflichtet, wir, die wir ein bisschen Bewusstsein entwickeln dürfen – das ist kein elitäres Bewusstsein, allein: wir haben die Chance es zu tun – müssen gegen dieses System, was notwendigerweise zur Katastrophe drängt, müssen gegen das System mit aller Gewalt vorgehen; und zwar mit Formen, die die organisierte Gegengewalt des Systems unterlaufen beziehungsweise adäquat begegnen. Bisher haben wir da die richtige Antwort nicht gefunden. Wir werden aber von vornherein nicht auf eigene Gewalt verzichten, denn das würde nur ein Freibrief für die organisierte Gewalt des Systems bedeuten.“
Es ist auch und gerade dieser Raum, der den Ursprung einer anderen Form, Organisation und Bestimmung von Gewalt als die der Straße offenbart – nämlich die systemherausfordernde, die zwingende und nicht zur nackten Selbstverteidigung: die Gewalt „mit Formen, die die organisierte Gegengewalt des Systems unterlaufen beziehungsweise adäquat begegnen“. Das ist die Anrufung derjenigen Gewaltidee, aus der die RAF zwar nicht notwendig und kausal, aber doch nicht zusammenhangslos emergieren wird. Der Film des studentischen Regieduos – und in ihm diese kurze, aber prägnante Raumsequenz – hatte auf dem Leipziger Filmtagen 1967 seine Premiere. Dann wurde er in einigen westdeutschen Universitätsstädten gezeigt. „Sämtliche Versuche, den Film auch in der ARD oder ZDF zu zeigen, scheiterten am Desinteresse der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten.“43 Während die Straße der Brutalität vorbehalten zu sein scheint, der körperlichen Gewalt und der spontanen Äußerung sowie dem quasi-theatralen Protest, so werden gerade diese Innenräume damit kontrastiert, bekommen ein eigenes Zeicheninventar, werden Zeichen und Zeichenträger in einem. Dass es die Straße zu solchen Räumen für einen dann daraus resultierenden Terrorismus eigentlich kaum benötigt, dass jedoch eben viel mehr ein derart gestaltetes Raumarrangement als Ursprungsort sichtbar wird, ist bei einem quasi zeitgleich entstandenen Film inszeniert worden: Jean-Luc Godards LA CHINOISE. Der Film hatte im August 1967 in Frankreich Premiere. Als ein Kammerspiel in einer Pariser Studentenwohnung arbeitet Godard mit dem gleichen Raum-/Medien-Arrangement, das die beiden Berliner Dokumentarfilmer bei Dutschke zeigen. Ein Szenenvergleich beider zeitgleich produzierten, gänzlich verschiedenen Filme erscheint deckungsgleich. Godard ließ seine Protagonistin Véronique von der linken Studentin zur mordenden Terroristin werden, in einer filmischen Anordnung, die als eine zeitgemäße Umsetzung des Romans Die Dämonen von Fjodor Dostojewski erkannt werden konnte, ohne historische Parallelen zu erzwingen. So begab Godard sich 43 U. Soukup u.a: 2.Juni 1967, S. 93.
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auf Spurensuche, auf Fährten von Texten und Bildern sowohl einer terroristischen Historiographie als auch einer terroraffinen Gegenwartskultur, in der allerdings eine Mehrzahl der Ereignisbausteine einer Vorgeschichte, wie sie das erste Kapitel dieses Buches eröffnet, noch gar nicht stattgefunden hatte. Erzählt wird von der sich selbst als revolutionär marxistisch-leninistischmaoistisch gerierenden Gruppe Aden arabie (benannt nach einer Erzählung von Paul Nizan aus den frühen 1930er Jahren), deren Alltag in Szene gesetzt wird und die in Interviewsequenzen zu ihrem Leben befragt werden. Die fünf jungen Menschen wohnen in einem bourgeoisen Dach-Appartement, das Bekannten der Bankiers-Eltern der besagten 19-jährigen Philosophiestudentin Véronique zu gehören scheint und vorübergehend von seinen Besitzern nicht bewohnt wird. Die zwei Frauen Véronique und Yvonne sowie die drei Männer Guillaume, Henri und Serge schulen sich dort in marxistischer und maoistischer Theorie. Ihre Ergebnisse übertragen sie auf diverse Lebens- und Alltagsbereiche, sie halten Referate und führen Diskussionen, um ihre Analysen in verschiedene experimentelle Praktiken münden zu lassen, beispielsweise Agitationstexte und Kunstwerke, Teilnahme an studentischen Veranstaltungen oder öffentliches Verteilen von Mao-Bibeln. Schließlich gründen sie besagte Zelle mit dem deutlich formulierten Ziel „Terror“. Sie verstehen sich als „eine der Revolution verpflichtete Kampfeinheit, die – indem sie sich auf die strikte Einhaltung der Grundsätze von Verschwörung und Arbeitsteilung begründet – sich nur desorganisatorischer und terroristischer Aktivität widmen wird“, wie Véronique aus einer Art Gründungsmanifest laut vorliest. In ihrem Referat gibt sie dabei die prägnante Marschroute vor: „Wir müssen erstens die Universitäten schließen, zweitens Terror schüren.“ Véronique ist es schließlich, die ausgelost wird, um ein Attentat zu verüben, das sie dann dilettantisch ausführt und zwei Menschen erschießt. Letztlich wird die Gruppe von den zurückkehrenden Töchtern der Besitzer aus der Wohnung gescheucht, löst sich damit auf und jedes Mitglied geht eigene Wege. Doch muss dieses Ende keine Beendigung sein, denn der Film schließt mit der Einblendung „Fin d’un début“ – Ende eines Anfangs. Vor dem historischen Hintergrund der Studentenproteste geht der Film aber über den Vergleich mit einem Seismographen, der das Kommende bereits anzeigt, hinaus: „In der Forschung wird dieser Film (ebenso wie der wenige Monate danach fertiggestellte Film Week-end) häufig einseitig als Antizipation oder filmische ‚Verarbeitung‘ der Utopien und politischen Projekte aufgefaßt, die wenig später zu den Revolten der 68erBewegung führen sollten. Indem Godard gewohnte Wahrnehmungsmuster und Filmtraditionen durchbricht und ideologische Sinnzuweisungen dekonstruiert, überführt er die Uto-
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pien der 68er in Heterotopien. […] Der Film stellt sich dar als Interpretation der Interpretationen, die sich die 68er selbst gegeben haben. Dadurch leistet Godard einen Beitrag zu einem ‚audiovisuellen Archiv‘ des Sichtbaren und Sagbaren einer Epoche […].“44
Eine Straßenprotestszene, gar eine markante, fügte der Film dem „audiovisuellen Archiv“ nicht zu. Es gibt nur eine einzige mit den Akteuren bespielte, sehr kurze Außenszene an einer Straße, jene besagte Verteilung von roten Mao-Bibeln an Autofahrer. Der Film demonstriert dagegen die hermetische Selbstreferentialität der sich zur Terrorzelle Aden Arabie entwickelnden Gruppe in einem topologisch doch recht beengten und abgeschlossenen Raum. Als eine Außenseite dieser kleinen Einheit bleiben allein rare, menschenleere Einstellungen von Baustellen rund um die Universität von Nanterre, des damals verhältnismäßig jungen Ablegers der Pariser Universitäten. Diese, sich kurze Zeit später zur Urszene der Pariser MaiUnruhen entwickelnde trostlose Vorstadtszenerie45 wird von Godard in unkommentierten, quasi-dokumentarischen Zwischenschnitten in den Erzählfluss montiert. Diese Bilder verdeutlichen kontrastierend diese Nicht-Orte. Im Nachhinein kann man jedoch Jean-Luc Godard in Hinsicht auf die Gewichtung dieses spezifischen Ortes seismographische Qualitäten zuschreiben, da Nanterre durch die
44 Lommel, Michael: „68er-Reflexion. Zur Heterotopie und Theatralität des politischen Engagements in Godards La Chinoise“, in: Roloff, Volker/ Winter, Scarlett (Hg.), Godard intermedial, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 67-98, hier S. 68/70. Lommel bietet selbstverständlich die retrospektive Ein- und Wertschätzung der Person Godard und seiner Werke. In der zeitnäheren Kritik des Milieus, in dem der Film angesiedelt ist, wurde ihm weniger Wohlwollen entgegengebracht, ausgehend von einem berühmten Graffitti des Pariser Mai `68 „L’art est mort, Godard n’ y pourra rien“: „Nicht einmal Godard, dessen Filme schon dazu dienen mussten, die Mai-Ereignisse auf den ästhetischen Begriff zu bringen, um sie heimzuholen in die westliche Kultur, ins Weekend der leistungsorientierten Gesellschaft, das jene gerade verschmähen: ‚L’Art est mort, libérons norte vie quotidienne.‘“ (Michel, Karl Markus: „Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These“, in: Kursbuch 15, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, 169-186. S. 170) 45 „Und es begann auch nicht im Pariser Quartier Latin, sondern an der Universität Nanterre. Dort, in dem trostlosen, seit Jahren halbfertigen Vorort-Ableger der ehrwürdigen Pariser Sorbonne, hatten rund hundert Aktivisten verschiedener linker Grüppchen nach einer Aktion gegen den Vietnamkrieg eine ‚Bewegung des 22. März‘ aus der Taufe gehoben.“ (Norbert Frei: „Paris im Mai“, in: Die Zeit, Nr. 8 vom 14. Februar 2008. http://www.zeit.de/2008/08/A-Pariser-Mai-68 vom 31.10.2008)
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Enragés um Daniel Cohn-Bendit kurz nach Erscheinen des Films sehr stark eine Geschichte, eine Identität verliehen wird. Das Pariser Appartement, in dem sich der überwiegende Teil der Handlung abspielt, ist selbst eine große Mediensammlung, ein Medium selbst – und damit weitest möglich entfernt von „unmittelbaren Einschreibungen“, wie sie Jean Baudrillard im Rückblick auf 1968 der Straße zuwies. Die Wohnung ist von der Studentengruppe ausgeschmückt mit beschreibbaren Tafelwänden, Postern und Wandzeitungen, es finden sich Plattenspieler, Telefon und Radiogerät darin ebenso wie Bücher. Ihren jugendlichen Bewohnern dienen die Räume als Diskussions-, Vortrags- und Proberaum, als Testbühne – und letztlich sind sie auch Filmkulisse für die Interviewsituationen. Es wird in ihnen weiter- oder wiederverwendet, um- und mitgeschrieben, überschrieben und übermalt etc., sprich: dort werden aus Bildern und Texten neue Bilder und Texte produziert. Dieser Vorgang wird von der Kamera im Film als intradiegetischer und natürlich von der das alles unverhohlen aufzeichnenden Kamera als extradiegetischem Aufzeichnungsapparat festgehalten. Das Appartement kann nun – und da mag es der von Baudrillard beschriebenen Straßensituation entgegen kommen – als diskursives Versuchsfeld gesehen werden, aus dem überbordenden, nie ruhenden Medienangebot so etwas wie ‚Botschaften‘ zu kreieren und ‚Parolen‘ zu gestalten. Godards LA CHINOISE ist ein filmisches Ausloten, Kunst und Zeichen und einen Begriff von Leben zusammenzubringen, ein filmischer Essay über die Möglichkeiten, Film und Politik zu gestalten. Damit leitet er ein in Godards Kinofilme und Fernsehproduktionen der folgenden Jahre, die zum Teil nicht unter seinem Namen veröffentlicht werden, sondern unter dem Kollektivnamen Groupe Dziga Vertov. Diese Werke drehen sich mal offensichtlicher, mal diskreter um „68“ und decken den von ihm selbst ex-post als seine „Mao-Jahre“ benannten Zeitraum ab. Ist an einer Wand zu Beginn des Films das selbstgeschriebene Motto „Les Idées vagues avec les images claires“ zu lesen, so zeigt der Film, das die Semantik der Bilder nicht klar sind im Sinne von Eindeutigkeit und Repräsentation, sondern viel vager als die diffusen Ideen der Studenten. Godards Film ist dieser Lesart nach eine Verhandlung des Verhältnisses vom Realen zum Zeichen. „La réalité“ taucht allein als Wort neben einem für die Wandzeitung aufgehängten Zeitungsausschnitt auf, auf dem allerdings Mao abgebildet ist unter der Titelzeile „Contre le culte du livre“. Vor diesem Bild wird in der Mao-Bibel gelesen und auf den Wochenplan die Schulungskurse geschrieben. Semiotisch auflösbar im genannten Sinn auf eine wirkliche, also nicht-zeichenhafte Referenz oder wenigstens auf „unmittelbare Einschreibun-
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gen“, um die Diktion Baudrillards erneut aufzunehmen, ist das nicht. „Klar“ ist das Zeichen und seine Materialität wie Photopapier, Buchseite oder Schallplatte, mit denen die Zellenmitglieder gemeinsam leben. Und selbst diese „Gemeinschaft mit den Zeichen unter ihnen“46 wird durch Godards Montagetechnik heterogen. In Bezug auf die Entwicklung der Gewaltfrage sind die Zeichen unter den jungen Zellenmitgliedern durchaus produktiv, da auch bei Programmatik, Figuration und Anwendung von Gewaltformen „das Konzept des Zeichens miteinbegriffen“47 ist. Das erste und einzige Mal, dass körperliche Gewalt in irgendeiner Weise in das Appartement einzieht, ist in Form von Blut auf der Brust von Henri. der Chemiestudent und Theoretiker, als „Revisionist“ verschrien, wird später rausgeworfen, nachdem er die KP Frankreichs verteidigt (die von den anderen rundherum abgelehnt wird). Er stimmt auch noch als einziger gegen den geplanten Terror. Allerdings wurde Henri nach eigener Aussage bei einer Diskussion über die Kulturrevolution von Jungkommunisten zusammengeschlagen und kommt mit blutigem Hemd heim. Von einer ‚Gewalt des Systems‘ hat er also nichts erfahren. Durch den jungen Schauspieler Guillaume Meister wird „Gewalt“ sprachlich genannt. In seinen Reflexionen behauptet dieser Namensvetter Wilhelm Meisters, dass ein zeitgemäßes sozialistisches Theater in gleichem Maße „Ehrlichkeit“ und „Gewalt“ brauche (und wie der junge Wilhelm Meister sucht er ewig und findet nicht, wird offensichtlich kein Theatermann und scheitert auch als Mitglied einer revolutionären Loge). Die so benannte Gewalt erschöpft sich aber allein in ihrer Aussprache in der Interviewsequenz. Da dieser Sprechakt keinerlei Folge in Gang setzt, liegt der Verdacht nahe, dass es dem Schauspieler vorrangig um das Wort und die Rede ging, um die zunächst ästhetisch-sinnliche Valenz der Gewalt. Guillaumes Freundin Véronique zitiert das geflügelte Mao-Wort, nach dem die Revolution niemals ein Gala-Diner sein könne und behauptet, dass sie bei einer wirklich intensiven Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus die „Sorbonne“, die „Comédie Française“ und den „Louvre“ „in die Luft sprengen“ müsste. Konsequenz und Ernst tauchen hier im gesprochenen Wort, in der vorgetragenen Theorie auf. „Die Revolution unterscheidet sich von literarischen Werken oder Zeichnungen, da sie als Endpunkt des Klassenkampfes ein Akt der Gewalt sein muss“, so die junge Frau. Doch ist das keine Gegengewalt als Resultat unmittelbarer, nicht-codierter Gewalterfahrung. Es handelt sich um eine gewalt46 Rancière, Jacques: Politik der Bilder. Berlin: Diaphanes 2005, S. 45/46 47 Ebd.
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bereite ‚Kulturrevolution‘ im engeren Wortsinn mit der Zielerfassung von Orten der Wissenschaft, des Theater und der bildenden Kunst. Der Krieg in Vietnam als der letztlich kleinste gemeinsame Nenner der Gegenbewegungen wird konsequent in die Paradigmen eingepasst. Die Gewalt des Krieges wird über eine Formation seiner Bilder durch theatral-szenisches Adaptieren in die Wohnung eingeführt. Als Re-Inszenierung wird dabei dieser Vorgang selbst aufgegriffen, in dem sich beispielsweise aus einem Spielzeugradio ein Maschinengewehr herausklappen lässt. Das gezielt alberne Reenactment von Nachrichtenbildern mit Spielzeugwaffen aus Plastik bleibt die ‚unmittelbarste‘ Gewaltwirklichkeit und -realität für die Zelle Aden Arabie. 4.1.3 Nichtanschlüsse an eine Terrorismusgeschichte. Bakunin, eine Invention, 1970 Eine Entwicklung von der idealistischen Studentenboheme zur gewalttätigen Terrorzelle wird nur in Ausnahmefällen zeitnah, häufiger hingegen mit großem zeitlichem Abstand in historischen Rückblicken deutlich: „Aus der studentischen Boheme wurde eine anarchistische Terroristenvereinigung: ‚Das Komitee erkannte schließlich, daß Agitation und Terror, Traktat und Bombe, nur zwei Aspekte derselben Sache waren; es handelte in gewisser Weise öffentlich: jeder terroristischen Aktion ging eine öffentliche Ankündigung voraus; jedes Attentat war zugleich ein Mittel der Propaganda von weitreichender Wirkung. ‘ […] An die Stelle des Beiles trat endgültig das Dynamit. Die Organisation verfügte über eigene Chemiker, die mit Pyroxilin umgehen und Nitroglyzerin herstellen konnten, Mechaniker, die sich auf Zündvorrichtungen und elektrische Kabel verstanden, und Sappeure für den Stollenbau. Mit der Sorglosigkeit der Nihilisten-Jahre war es vorbei. Ein System von Sicherheitssignalen wurde entwickelt. Die konspirativen Wohnungen wurden nach strategischen Gesichtspunkten gewählt und ausgerüstet. Die alte, zum Gespött gewordene Tracht der Revolutionäre verschwand: an die Stelle des obligaten Plaids, der hohen Stiefel und der blauen Brille trat ein gewisser Luxus. Die Verschwörer hatten erkannt, daß Reichtum schützt.“48
Was sich deckungsgleich für die Situation in linksradikalen Kreisen der BRD um 1970 zusammenfassen ließe, war Mitte der 1960er Jahre für die Situation in Russland in der frühen 1880er Jahre geltend gemacht. Hans Magnus Enzensberger beschrieb diesen Wandel in nachzeitiger Kenntnis der russischen Quellen,
48 H. M. Enzensberger: Politik und Verbrechen, S. 314/315.
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jedoch in völliger Unkenntnis des anderen, noch kommenden und in seiner unmittelbaren Nähe entstehenden Terrorismus. Aber trotz des vergleichbaren Verlaufs, trotz der Kontinuitäten von Mythologemen wie „Propaganda der Tat“, schien für den neuerlichen Terrorismus kein Anschluss an die Geschichte einer proto-terroristischen Bohème der vergangenen hundert Jahre möglich. Der Konnex wurde durchaus gesucht. Denn wenn die Tat als das Entscheidende für ein revolutionäres Verständnis wiederholt wurde, wie wäre dann ein historischer Zugang möglich gewesen, wo es doch allein die Schriften waren, die eine Art fiktives internationales Archiv des Terrorismus formiert hatten? Und war gar irgendeine Form von Transfer in die Gegenwart der rebellierenden Studenten und den Umschlag zur terroristischen Gewalt möglich? Oder zumindest beschreibbar aus der zeitnahen Betrachterperspektive? Diesen Fragen ist Horst Bienek mit Bakunin, eine Invention49 nachgegangen. In dieser Lektürevorgabe durchaus vergleichbar mit Godard, begab er sich ebenfalls auf Spurensuche, ebenfalls auf Fährten von Texten und Bildern einer terroristischen Historiographie und genauso wie Godard zu einer quasi-terroristischen Gegenwartskultur im Entstehen, in der die Vorgeschichte der Studentenunruhen bereits den Erfahrungshintergrund bildet, aber die Radikalisierung zum Terrorismus noch nicht vollzogen worden ist. Bienek schrieb die Recherchegeschichte eines namenlos bleibenden Protagonisten, der sich eine Erlösung in den Wirren des außerparlamentarischen Protestes durch seine Vor-Ort-Archivarbeit über den Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) in dessen Schweizer Exil erhoffte. Dieser Zeitraum des Exils wird rückblickend montiert, dargestellt50 mit Collagen und Überschneidungen einerseits aus autobiographischen Nachlässen des studentischen Protagonisten bis um das Jahr 1970 und andererseits aus den Biographien des theoretisierenden und praktizierenden russischen Revolutionärs ungefähr einhundert Jahre zuvor. Das vage politische Ziel der Handlungen des jungen Mannes um das Jahr 1968 besteht zunächst in einer gesellschaftlichen Veränderung nach nicht näher 49 Bienek, Horst: Bakunin, eine Invention. München: Hanser 1970. 50 Das dabei entstehende „Geflecht aus Interpolationen, dokumentarischen Fragmenten und imaginierten biographischen Momentaufnahmen erklärt auch, weshalb Bienek dafür die Bezeichnung ‚Invention‘ gewählt hat. Denn das zugrundliegende lateinische Zeitwort bedeutet ursprünglich beides: finden und erfinden.“ (Laemmle, Peter: „Horst Bienek/Bakunin, eine Invention“, in: Urbach, Tilman (Hg.), Horst Bienek. Aufsätze, Materialien; Bibliographie, München: Hanser 1990, S. 129-135, hier S. 132) So bezeichnet der Ausdruck in der Musiklehre auch Musikstücke, deren Gattungsname nicht angegeben wird, beziehungsweise Stücke, die für besonders ideenreich oder neuartig gehalten werden.
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definiertem revolutionärem Muster. Von ihm ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob er Student war oder zum Aufzeichnungszeitpunkt noch ist. Sein Weg der Politisierung und Radikalisierung wird ausgebreitet: von einem beginnenden Interesse an politischer Theorie und der Praxis des Protestes über öffentlichen Aktionismus und Propaganda bis hin zum Versuch eines terroristischen Attentats. Diese ‚Er‘-Figur durchläuft biographisch in den Jahren 1967 bis 1970 eine eskalierende Gewaltspirale. Der Roman inszeniert den mehrfach angesprochenen Auflösungsprozess um 1969 und die ausfasernde Suche nach etwas Neuem, nach der Weiterführung und nach der Steigerung der Protestbewegung und der Lebensstile im linksintellektuellen Milieu, aus der dann auch der RAF-Terrorismus entsteht. Bieneks Erzählung markiert weniger den Ansatz, die Proteste in eine offen gelegte Traditionslinie der linksradikal-anarchistischen Revolutionsversuche einzureihen, er demonstriert vielmehr das Scheitern solcher Präfigurationen. Die Erzählung zeigt auf, was sowohl das Ende der anarchistischen Authentizität im Unmittelbarkeitsversprechen der Tat als auch das Ende einer authentischen künstlerischen Kodierungsform für solche historischen Prozesse bedingt. Der biographische Weg des Romanprotagonisten beginnt wie viele andere Lebenswege zu dieser Zeit auch. Zunächst nimmt er in Frankfurt, Ulm, München an eher spielerischen Happenings, Protestversammlungen und Demonstrationen teil: „Er dachte zurück an den Augenblick, als sie in der Akademie in München die schwarze Plastikfahne hißten. Da war etwas in ihm, das ihn erregte; ein Gefühl der Befreiung. […] Er wünschte damals, daß das Leben aus solch aneinandergereihten Augenblicken bestehen müßte.“51
Bereits in diesem Ansatz wird deutlich, dass das Primat der Tat im bewusst gelebten Augenblick den jungen Mann wesentlich mehr beeindruckt und mitreißt als die Vorstellung einer wie auch immer gearteten sozialen oder politischen Umwälzung in der Zukunft. Der politisierte Aktionismus wird von ihm selbst kaum nach dem programmatischen Gehalt bewertet, sondern er hat eine stark vitalistische Komponente. So ist konsequenterweise der Redebeitrag seines ersten öffentlichen Auftritts bei einer Protestkundgebung nicht nur eine Leerstelle, sondern er wird als unbedeutend, sogar irrelevant abgetan und findet außer der knappen Erwähnung und Bewertung keinerlei Eingang in die Erzählung. Von seinen Beitrag zu einer Demonstrationen in München, von dem ein abgeschrie-
51 H. Bienek: Bakunin, S. 14.
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benes Flugblatt in den Erzähltext eingefügt wird52, vernichtet der Protagonist gar die eigenen Wortaufzeichnungen, so dass kein geschriebener Text mehr existiert. „Manchmal fragte er sich, ob er noch derselbe sei, der damals auf dem Beethovenplatz eine Rede zu den Notstandsgesetzen gehalten hatte, vor fünftausend Menschen, er glaubte jetzt, er sei diese Person nicht mehr, er kramte eine Broschüre unter Büchern und Zeitungen hervor, er schlug sie auf, da stand sein Name eingedruckt, aber als er es las, merkte er, es waren nicht seine Worte, nicht seine Sätze, nicht die von heute, es war nicht seine Stimme. Er zerriß das Heft.“53
Den eigenen Texten wird Zeugnischarakter und dokumentarische Fähigkeit abgesprochen, sie wurden zerstört und damit aus dem Textarchiv entfernt. Öffentliche Reden jedoch waren nur ein kleiner Teil des politisierten Engagements, beziehungsweise ein erster Schritt von öffentlicher Aktion. Der Protagonist wohnte in einer kommunenartigen Wohngemeinschaft in München. Dort wurden auch andere Formen der politischen Arbeit diskutiert und schließlich geplant. Während ihm zum „individuellen Terror“54 zunächst der Mut zu fehlen scheint, wird nach langen Diskussionen der Druck zu gesteigerter Aktion so stark, dass es nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben soll: „Theoretisch hatten sie einen solchen Fall auch schon durchgespielt, sozusagen als Sandkastenspiel beim Begräbnis von Loebe. Ein Attentat. Er selbst war dabei ausgelost worden, sich vor den Trauerzug zu werfen, um ihn zum Halten zubringen, Reimer sollte in diesem Moment eine Bombe auf das Regierungsauto werfen. Sie waren dann auch zu dritt nach Berlin geflogen und hatten sich am Kurfürstendamm ganz vorn auf die Straße gestellt, er in der Höhe vom Kino Die Lupe, Reimer etwa am Maison de France, K. dazwischen, als Beobachter und Signalgeber. Als die Polizeikader an ihm vorbeigefahren seien, habe er einen Stich verspürt, jetzt also hätte er vorspringen und sich vor das erste Auto hinwerfen müssen.“55
Das als „Sandkastenspiel“ zunächst verharmloste Attentat, nur einen Monat nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg, hätte also ortsgeschichtlich gesprochen beinahe exakt an der Stelle stattgefunden, an der am 11. April 1968 ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt worden war. Die Fiktion des Anschlags ist explizit über 52 Ebd., S. 15. 53 Ebd., S. 73. 54 Ebd., S. 59. 55 Ebd., S. 59. Paul Loebe (14.12.1875 – 03.08.1967) war SPD-Politiker, Parlamentarier in der Weimarer Republik und später Alterspräsident des deutschen Bundestages.
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ein verbürgtes Ereignis ausgebreitet: Am 9. August 1967 fand ein Staatsbegräbnis für Paul Löbe mit anschließender Trauerveranstaltung im Schöneberger Rathaus statt. Auch gab es eine Gegenkundgebung, initiiert von der Kommune I. Hierbei handelt es sich um eine weitere der vielbenannten „Urszenen der RAF“56: Ein Sarg wurde herumgetragen mit der Aufschrift „Senat“, aus dem heraus Dieter Kunzelmann Flugblätter warf. An dieser Polit-Performance waren jedoch nicht ausschließlich Kommune-I-Mitglieder wie Rainer Langhans und Ulrich Enzensberger beteiligt. So waren Andreas Baader und Peter Urbach57 die „Sargträger“ von Kunzelmann, und auch Gudrun Ensslin ist vor Ort gewesen. Durch diese Personenkonstellation und mit dem Ex-Post-Wissen scheint die Idee von einer realen Bombe aus der Fiktion in gar nicht in so weiter Ferne. Die Berliner Gedächtniskirche war im Juli '67, wiederum durch Andreas Baader und Gudrun Ensslin, bereits Opfer eines „Rauchbombenattentats“ geworden. Andererseits waren beim Löbe-Begräbnis auch Personen wie Hans Magnus Enzensberger zugegen, der zwar von solcherlei Taten weit entfernt war, allerdings ausgiebige Kenntnisse über den russischen Anarchismus und Terrorismus veröffentlichte. Wenige Jahre später begab er sich selbst intensiv auf Spurensuche eines bedeutenden Anarchisten und ist rückblickend darin durchaus vergleichbar mit dem Protagonisten von Bieneks Erzählung58. Wenn auch Bombenattentate bei den linksextremen Terrorgruppen der 1970er Jahre ein vielfach angewendetes Mittel waren, so erinnert der geschilderte Anschlag auf ein fahrendes Politikerauto bei einer öffentlichen Veranstaltung weniger an die Spaßguerilla der Kommune I und die Puddingattentate der APO, vielmehr an die Bomben- und Dynamitattentate aus der Hochphase des militanten Anarchismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der besagte Freund „Reimer“, schon am Berliner Attentatsvorhaben beteiligt, wird später zum Bombenleger, wenn auch in einem beinahe absurden Kon56 Beispielsweise: S. Aust: BMK, S. 57. K. Stern: Baader, S. 85-87. G. Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 126-128. 57 Peter Urbach war V-Mann des Verfassungsschutzes in radikalen APO-Kreisen und kann als „Agent Provocateur“ angesehen werden, der bis zu seiner Enttarnung bei der Baader-Verhaftung 1970 über einen längeren Zeitraum für den Nachschub an Molotowcocktails, Pistolen und eventuell Sprengstoffen sorgte. Seine Rolle bei der Eskalation der Gewalt aus der Studentenbewegung heraus in Richtung bewaffneter Kampf ist zwar nach wie vor umstritten, ein erheblicher Einfluss gilt aber als zweifelsfrei belegt. (Vgl. dazu W. Kraushaar: Die Bombe) 58 DURRUTI – BIOGRAPHIE EINER LEGENDE (D 1972, R: Hans Magnus Enzensberger ) und Enzensberger, Hans Magnus: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972.
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text. Per Zeitungsbericht erfährt der Protagonist, „daß Reimer mit einer Plastikbombe einen Ölbehälter in Ingolstadt zur Explosion gebracht habe“.59 Der Protagonist hat keinen Kontakt mehr zu seinem ehemaligen Freund, will auch nichts Näheres über die Umstände in Erfahrung bringen, doch nach dessen Verhaftung hält er die Zeit für gekommen, den lange gehegten Gedanken eines Aufenthaltes in Locarno und Neuchâtel zu verwirklichen und sich mit der Biographie Bakunins zu beschäftigen. So dient ihm die Zeitungsmeldung als privates Aufbruchssignal, wobei es sich partiell bei den Recherchen auch um eine Flucht oder zumindest eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber polizeilichen Ermittlungen handelt. Die Entwicklung von den Studentendemonstrationen über die Planspiele bis zum Attentat durchläuft zwei Dreischritte. Einerseits entwickelt sich die Gruppengröße von einer Massendemonstration über eine Kleingruppe hin zu der Einzelaktion eines Individuums. Andererseits durchlaufen die erzählten Gewaltformen die Stadien von einem Ereignis mit eindeutiger Zeit- und Ortsangabe über ein fiktiv bleibendes Vorhaben bei einem Datum jüngerer Zeitgeschichte bis hin zu einem irrealen Vorgang, einer Zeitungsmeldung mit nicht auszumachendem Kontext. Die Gruppe wird kleiner, die Taten werden konkret destruktiv, aber ihre Signalwirkung und Zeichenhaftigkeit sind vager, ihre Möglichkeiten der Kontextualisierung ebenso. Im Rückblick auf seine Politisierung nun muss der Protagonist konstatieren, dass die Demonstrationen und öffentlichen Aktionen „die einzigen Augenblicke von Revolution waren, die ihm zuteil geworden sind“.60 Während er in den Biographien des Revolutionärs Michail Bakunin nachlesen kann, dass dieser bis ins fortgeschrittene Alter aktiv an bewaffneten Aufständen teilnahm, zudem aber auch eine beinahe unüberblickbare Anzahl an theoretischen Reflexionen zu Papier brachte und in ständigem persönlichen oder postalischen Austausch mit Gleichgesinnten in ganz Europa stand, so hat sich der Protagonist für eine solche Einheit von Wort und Tat nicht begeistern können: „Was ihn mit den anderen verbunden habe, war der Wille zur Aktion, zum Handeln, die Philosophie der Tat, obwohl auch das schon wieder ungeheuer pathetisch klinge, aber da war etwas geschehen, was vorher nicht da war und was auch später nicht mehr kam, sie saßen nicht mehr da und rauchten und redeten, sie saßen nicht mehr da und soffen und redeten, die saßen nicht mehr da und flipperten und redeten, sie gingen jetzt einfach auf die Straße.“61
59 H. Bienek: Bakunin., S. 59. 60 Ebd., S. 14. 61 Ebd., S. 24.
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Das Solidaritätsgefühl dieser gemeinsamen Proteste ist ein Akt vermeintlich unmittelbarer Erfahrung. Darüber ist sie auch eine nicht vermittelbare Tätigkeit, sondern einzig nur persönlich über Emotionen zu erlebende Praxis. An diesem Punkt kommt der schreibende Protagonist von der politischen Aktion zum Ende der Kunst‘ – einem Ende in dem bestimmten Sinne, dass eine Aufzeichnung und ästhetische Formgebung in sprachlichen Codes und Vermittlungen zunächst gar nicht möglich zu sein scheint: „Mit Worten wäre das nicht auszudrücken. Bei jedem Wort würde das gewaltige Gefühl der Unmittelbarkeit erstarren zu … Sprachmüll. Seine Utopie sei es vielleicht, die Dinge in der Zerstörung zu sehen – damit man sie neu und schöner machen könne.“62
Doch schon bei der Recherchearbeit kommt der Protagonist ins Stocken und Zweifeln. „Bakunin“ bleibt ihm nur ein Wort mit sieben Buchstaben, als Repräsentation verfügt er nur über ein einziges Photo. Über diese Zeichen hinaus kann die ersehnte unvermittelte Bezugnahme nicht zustande kommen. Bei Stippvisiten der topographischen Wegmarken des russischen Revolutionärs stellt der Protagonist fest, dass vor Ort nichts Greifbares, kein Ding, nicht einmal die ersehnte „Atmosphäre“ an Bakunin gemahnt, erinnert, verweist. Die ersehnte Zeugenschaft durch Erzählungen von entfernt persönlich bekannten Personen oder deren Nachfahren kann er nicht ausfindig machen. Damit hat der junge Mann nach viel Aufwand nicht mal sein Minimalziel, die Einlösung einer Oral History, erreicht. Er erfährt über die umfangreiche literarische und die marginale photographische Aufzeichnung von Bakunins Geschichte und Person hinaus nichts, „was nicht schon irgendwo publiziert worden wäre.“63 Auch durch Ortsbegehungen, Gespräche und ähnliches kann er dieses Minimalarchiv nicht erweitern oder verändern. Nach dem Zerfall der studentischen Bewegung und der Einsicht in die Unmöglichkeit authentischen revolutionären Lebens sowie einer als angemessen bewerteten literarischen Produktion ist der Protagonist gegen Ende der Erzählung im Zustand einer „Trauerrevolte“64. Trotz der gescheiterten Versuche in Leben und Schreiben endet der Protagonist vorläufig nicht in einer bedingungs-
62 Ebd., S. 25. So erarbeitet er Schlussfolgerungen für ein poetologisches Konzept seiner Arbeit: „Zuerst müsse man die Sprache befreien.“ (Ebd.) Das langfristig angestrebte Ziel steht ebenso fest: „Sätze schreiben, die nicht der Verdinglichung verfallen“ (S. 74). 63 Ebd., S. 61. 64 Ebd., S. 85
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los resignativen Absage, sondern in der Erkenntnis: „Es gibt keine Revolution, es gibt nur revolutionäre Augenblicke. Diese müssen wir perpetuieren.“65 Neben den Demonstrationserlebnissen, bei denen durch kollektives Handeln ein dezidiert nicht-sprachlicher Konsens zwischen Individuen zu entstehen vermag, wird auch ein weiteres gegenkulturelles Modell kurz angesprochen. Die besagte Perpetuierung von revolutionären Augenblicken könnte in der Schnittstelle zwischen politischer Handlung und künstlerischer Performance liegen, angedeutet dadurch, dass der Freund „J.“ in einer Kommune des Living-Theatre in Berlin66 lebt. Ein derartiges theatral-performatives Modell wird jedoch nicht weiter ausgeführt. Letzten Endes greift der Protagonist zur finalen Option, zu einer Handgranate in seiner Schublade. In Gedanken spielt er Sprengungsszenarien als Märtyrer durch, sieht sich selbst gar als Selbstmordattentäter. Doch bleiben auch diese Phantasien allein Gedankenspiele und Traumgebilde: „Aber das wird nicht geschehen. Er wußte es.“67 So ist letzten Endes einzig die Erfahrung aufzuschreiben, aus Worten neue Wörter zu erlangen. Diese Versuche enden in einer Übersteigerung, beinahe einer Persiflage. Beispielsweise werden die Lebensstationen des nihilistischen Revolutionärs Netschajew, über den kaum etwas in Erfahrung zu bringen ist, in einer bloßen, minimalnarrativen Aneinanderreihung von Stichworten oder Überschriften zusammengefasst. Mag ein solches Ergebnis für den Geschichteschreibenden Protagonisten auch als unbefriedigend und erfolglos angesehen werden, so ist es aber dennoch nicht unproduktiv. Ein solches Modell verlagert nur den Schwerpunkt des Erzählens von der Vergangenheit auf das Erzählen der Darstellbarkeit der Vergangenheit. Bleiben wiederum ‚nur‘ Wortreihen als Historiographie nach einer ausweglosen Suche, so kann doch die Suche selbst narrativiert und die Entstehung und Prozessualität von Geschichte aufgezeichnet werden – wenn auch ohne konventionelles Ergebnis im Sinne einer neuer Datenlage über Personen und Ereignisse. An anderer Stelle ist vom „Revolutionär als Genrebildchen/ Kinobildchen“ erzählt, nachdem bereits die Ankunft Bakunins in Neuchâtel wie eine Filmsequenz aufgeschrieben ist68. Durch eine Assoziation mit einem anderen Medium 65 Ebd., S. 88. 66 Ebd. S. 54. Das 1947 in New York gegründete „Living Theatre“ war seit Mitte der 1960er Jahre in Europa unterwegs. Die Mitglieder lebten und arbeiteten als Kollektiv miteinander und wollten dem eigenen Anspruch nach durch eine neue Form des „nonfitional acting“ über das Medium Theater soziale Prozesse in Gang bringen. 67 Ebd., S. 87. 68 Ebd., S. 50, 52-54.
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wird ersichtlich, dass nicht nur die Darstellung und Vermittlung durch Sprache und Zeichen die Rezeption dominiert, sondern ebenso die Erwartungshaltung des Rezipienten durch ahistorische mediale Formate geprägt ist. Die anvisierte Befreiung der Sprache misslingt in diesen Passagen, während in gleichem Maße die Zerstörung tradierter Narrations- und Vermittlungsschemata vorgeführt wird. Letztlich ist damit ein Ausweg aus der angeprangerten Verdinglichung der Zeichen unerreichbar, der beschrittene Weg einer neuen Poetologie scheitert letztlich konzeptionell. Denn Bakunins Leben sollte ursprünglich als Folie für dreierlei Zwecke herhalten: Erstens der Übertragung der persönlichen Fragen und Problemstellungen des Protagonisten und damit einer Doppelung von historischem Vorbild und eigener Biographie. Zweitens als lebensnahes Vorbild, das an der Dichotomie von Wort und Tat gescheitert sein mag, nichtsdestotrotz aber ein ‚authentisches‘ anarchistisches und revolutionäres Leben geführt haben soll. Drittens sollte „Bakunin“ als Diskussionsstoff für eine Abhandlung der Differenz von literarischem, historischem und biographischem Erzählen dienen. Doch dem grundlegenden Problem aller drei Felder entkommt der junge Mann nicht. Er entkommt dem literarischen Erzählen nicht, er ist den Worten in seinen eigenen Schöpfungen verpflichtet und in den eigenen Taten verhaftet. Als Beispiel für diese ‚Gefangenschaft‘ in der Literatur sei ein gewichtiges Detail wie die Selbstcharakterisierung als „Basarow“69 genannt, einer Figur aus Iwan Turgenjews Roman Väter und Söhne (1861). Dem Protagonisten wird klar, „daß er kein Anarchist sei, wenn man die politische Bedeutung dieses Wortes dafür nähme, eher ein Basarow-Typ“70. Wie eine Folie für Identifikation und geschichtliche Situation dient ihm eine literarisch bezeugte Figur, keine historische wie Bakunin. Der Freund Reimer mit seinem quasi-literarischen Sprengstoffanschlag wäre ähnlich zu lesen. Hier greifen in der Erzählung ähnliche semiotische Verfahren, wie sie auch in Godards LA CHINOISE aufgezeigt sind. Erscheint bei Bienek ein explodierter Öltank in Ingolstadt als absurdes Fanal, dem jeglicher politisch aufgeladener Kontext abzugehen scheint, so zeugt er doch von literarisch geprägter Entstehungslogik statt historiographisch situierter Vorbilder. Sinn – wenigstens im Rahmen von Ursprungslogik oder intertextuellem Bezugsrahmen – entstünde höchstens durch die Kontextualisierung von Bertolt Brecht mit seinem Gedicht 700 Intellektuelle beten einen Öltank an in Kombination mit Marieluise Fleißers Drama Pioniere in Ingolstadt, von Brecht uraufgeführt. So sehr ein Anschluss an die anarchistische Historie unmöglich scheint, so sind es Prototypen der Literaturgeschichte, die wirkmächtig bleiben oder werden. Die Verhandlungen von Aktion, von Radikalität, von einem revolutionären 69 Ebd., S. 57ff. 70 Ebd.
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Selbst können (wenn überhaupt) nur als Kulturem aufgefasst, als Bild und Text gestaltet werden, indem sie zunächst andere Texte und Bilder zum Inhalt hat. Mediale Operationen ermöglichen hier erst die Gestaltung. Trotz aller Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen und sinnlichen Gewissheiten im Moment der Aktion scheitern alle diese Ansätze, Variationen der unmittelbaren Einschreibungen durch andere zu finden oder solche selbst zu erzeugen – geschweige denn, überhaupt eine Geschichte von revolutionärer Aktion zu schreiben.
4.2 V ERHANDLUNGEN
IN DER
G ESCHICHTE
Wer Schrecken verbreitet – und wäre es nur einen Tag lang – läßt zuweilen eine deutlichere Spur seines Erdenwallens zurück als etwa große Baumeister, als die Schöpfer von Werken, die die Freude am Leben gesteigert und dessen Sinn vertieft haben. Mag sein, daß wir alle den Jubel schneller vergessen als das Gruseln, denn wir lernen das Gruseln nie aus. […] Immer wieder geschah es, daß während mehrerer Tage nichts die Welt so brennend interessierte wie die allmählich dem Dunkel entrissenen Einzelheiten über die Persönlichkeiten der Terroristen, ihre Worte und Gebärden, ihre Wünsche und ihre Drohungen. MANÈS SPERBER: WANDERER IN NICHTS, 1978.
Die Ereignisse des sogenannten „Deutschen Herbstes“ haben mit dem Abstand von über dreißig Jahren ihre Festschreibung in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte gefunden. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages notierte am 19. April 2007 anlässlich des anstehenden Jubiläums: „Im Jahr 1977 erreichte die Welle terroristischer Gewalttaten der so genannten ‚RoteArmee-Fraktion‘ (RAF) ihren Höhepunkt. Die Attentate und Morde stellten Demokratie und Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland vor eine ihrer größten Herausforderungen seit 1945.“71
71 Bartsch, Kolja/Lampe, Luise: 30 Jahre ‚Terrorjahr‘ 1977. (=Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste Nr. 20/07) http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2007/30_Jahre_Terrorjahr_1977.pdf vom 25.09.2009, S. 1.
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In den berühmten sieben Wochen im September und Oktober 1977 steigerte sich der RAF-Terrorismus zur nationalen Krise, zu deren Bewältigung der sogenannte „Große Krisenstab“ in Bonn regelmäßig zusammentrat. Ihrem etymologischen Ursprung nach ist die Krise die Scheidung und Entscheidung, und als solche der Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung. Glaubt man der Gedenkrede des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages, so ist die Entscheidung in dieser schwierigen Situation zum Rechten gefallen: „Der Terror der RAF hat den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bis an seine Grenzen belastet, aber nicht aus den Angeln gehoben. […] Schließlich haben Staat und Gesellschaft diese Belastungsprobe bestanden, ohne dabei selbst die Freiheit zu gefährden, gegen die der Terror gerichtet ist.“72
So urteilte Norbert Lammert in seiner Rede zum Gedenken an die Opfer des Terrors der RAF am 24. Oktober 2007 im Deutschen Historischen Museum Berlin. Eine Wendung der Krise zum Zusammenbruch konnte abgewendet werden, oder, um im Sprachduktus von Norbert Lammert zu bleiben: „Die Freiheit ist stärker geblieben.“73 Mit dieser Krise kann im historisierenden Urteil gleichzeitig eine ganze Epoche beendet werden, nämlich das posthum sogenannte „Rote Jahrzehnt“74. Damit ist auch exakt eine Zeit umrissen, die sich als konstituierendes Kapitel des MetaNarrativs ‚Bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte‘ beinahe vollständig in Politik, Wissenschaft, Feuilleton und Literatur durchgesetzt hat. Die Bewertung dieser Etappen nehmen je nach Positionierung des Bewertenden einen Platz ein im weiten Spannungsfeld zwischen den Polen ‚Tatsächliche und fundamentale Demokratisierung der jungen Bundesrepublik in Denken und Handeln‘ und ‚Antidemokratische und totalitäre Tendenzen lassen die demokratische Republik nur weiter erstarken‘. Das ist das umkämpfte Feld der gesellschaftspolitischen Urteile über den krisenhaften Moment, das ist der langjährige anhaltende Streit 72 Lammert, Norbert: Rede zum Gedenken an die Opfer des Terrors der RAF am 24. Oktober 2007 im Deutschen Historischen Museum, Berlin. http://www.bundestag.de/bundestag/praesidium/reden/2007/015.html vom 25.09.09. 73 Ebd. 74 Die Episodenfolge in Stichwörtern ließe sich wie folgt bündeln: Studentenbewegung, Radikalisierung der Studentenbewegung, Zerfall der Studentenbewegung, Terrorismus als militantestes Spaltprodukt dessen, Herbst ´77 als Höhepunkt und End- beziehungsweise Wendepunkt dieser Gefahr, Ablöse- und Transformationsprozesse der Bewegung durch neue Formationen wie Anti-Atomkraft, Feminismus, Hausbesetzerszene, Gründung von taz und Grünen etc.
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um die Deutungshoheit der Folgen von 1968. Die Benennung der Krise, ihre Einschreibungen in die Erinnerung und ihre Abbildungen in die individuellen, die kollektiven und die kulturellen Gedächtnisse erscheinen – im Gegensatz zur Diskussion um die Deutung oder auch die Beendigung juristischer Abläufe – als überwiegend abgeschlossen. Regelrecht eingebrannt sind die Bilder der Krisenmomente unter dem Zeichen der RAF. Der immer gleiche Bilderreigen reicht dabei von Astrid Prolls Photographien von Baader und Ensslin als Guerilla-Bohémiens im Pariser Café und dem Fahndungsplakat der Anarchistischen Gewalttäter über das PolaroidPhoto von Hanns-Martin Schleyer mit dem berühmten RAF-Logo im Hintergrund bis zu den zerschossenen einsamen Mercedes-Benz-Fahrzeugen nach Entführungsüberfällen. Doch sind sie mittlerweile weder Bildmaterial einer virulenten Krise noch Arbeitsmaterial aktueller politischer Prozesse, sondern sie wurden zu Geschichtsaufnahmen, gar Geschichtsbildern – über deren Bewertung sich wiederum diskutieren lassen muss. Thomas Elsaesser beispielsweise eröffnet der vermeintlich abgeschlossenen Vergangenheit mit der Einführung des Trauma-Begriffs im Zusammenspiel von RAF-Terrorismus und Medienbildern als „Hinterlassenschaft der Geschichte“75 einen fortgesetzten Wirkungsgehalt für die Gegenwart, indem er ihre gleichzeitige Omnipräsenz und Latenz als eben traumatisch begreift. Bei der Beantwortung der Frage „nach den kulturell spezifischen Formen der Darstellung des Vergangenen und diesem Modus seiner Gegenwärtigkeit“76 hat für ihn gerade das Kino einen ambivalenten Einsatz: „Authentizität und Mythos schaffen sich im bewegten Bild eine eigene Zeitebene, sie haben einen besonderen Bezug zu Geschichte und Gedächtnis, als wiese das Kino in seinem eigentlichen Charakter schon eine strukturelle Affinität auf.“77
Und so sind es für Elsaesser aus der Rückschau des beginnenden 21. Jahrhunderts vor allem die (auch bewegten) Bilder, die den RAF-Terrorismus nicht in die Bedeutungslosigkeit verschwinden lassen wollen und derart gar ihre TerrorMaschinerie für weitere Generationen transformatorisch in Gang halten: „Die RAF legte Bomben, doch wie in allen darauf folgenden Terrorakten fungierten ihre Explosionen von Licht und Feuer auch als Foto-Blitze, die dazu dienten, den Fluss des normalen Lebens anzuhalten und stattdessen einen imaginären Filmstreifen zu belichten, 75 T. Elsaesser: Terror und Trauma, S. 16. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 17.
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der den Moment für ihre und unsere kollektive Geschichte für alle Zeit festhalten sollte. Denn da diese Bilder nicht nur in jener Epoche immer wieder gezeigt wurden und im Lauf der Zeit kontinuierlich reproduziert wurden – dann, wenn auch von der RAF die Rede war –, traten sie in einen Kreislauf der Wiederholung und des nochmaligen Zeigens ein. Emblematisch, suggestiv, niemanden in Ruhe lassend und auch selber nicht in Ruhe gelassen werdend, pflanzten sie sich in die visuelle Erinnerung einer Generation, die keine direkte Erfahrung mit der RAF hatte, außer durch ihre Bildgegenwart in diesen traumatischen, doch machtvoll ikonischen und von daher widersprüchlichen Signifikanten von Handlung und Gewalt.“78
Der historische Zeitpunkt einer solchen Aussage ist das Wissen um die weitere Geschichte der RAF, um die weiteren Geschichten ihrer unmittelbaren gesellschaftspolitischen Bedeutungslosigkeit sowie ihres wirkmächtigen kulturellen Niederschlags. Doch um zu diesem Status zu gelangen, mussten erst Narrative und Bilder geschaffen und platziert werden. Diese Verhandlungen sollen im Folgenden an einem Beispiel aus dem Zeitraum unmittelbar nach 1977 untersucht werden. 4.2.1 Nach der Krise: Der RAF Orte und Geschichtsbilder finden. Deutschland im Herbst, 1978 Der gegenwärtige Betrachter hätte es mit seinem Wissensspeicher und Bildarchiv schwer, sich in einen Kinobesuch am 17. März 1978 hineinzuversetzen. Das Datum war der offizielle bundesdeutsche Kinostart des Films Deutschland im Herbst. Die Verarbeitung der Krise durch die Filmemacher war zunächst eine Arbeit mit Filmaufnahmen an Bildern, Bildkomplexen und Ikonographien. Die bewegten Bilder des Terrorismus: Das waren Ende 1977 die Fernsehnachrichten und Magazinsendungen der beiden öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. In das Kino hatte es ein Terrorimago noch nicht geschafft. Bei RAF-Ereignissen wie der großen Anschlagsserie 1972 den Prozessen von Stuttgart-Stammheim bestanden die bildlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Terrorismus beinahe ausschließlich aus tagesaktuellem Nachrichtenmaterial – und waren damit im Hoheitsgebiet von Journalisten. So war der gewalttätige Linksextremismus bis zum Jahr 1977 verhältnismäßig bildlos am bundesrepublikanischen Kinosujet vorbei gegangen. Zwar gilt vielen die Verfilmung von Heinrich Bölls
78 Ebd.
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Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) durch Volker Schlöndorff bis heute als politisches Lehrstück für den öffentlichen Umgang mit der Terrorhysterie. Auch Rainer Werner Fassbinder mit MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL (1975) hatte ähnliche diskursive Zugänge für die Leinwand geschaffen. Aber wer im Kinosessel saß, hörte weder den Namen RAF noch sah er einen Terroristen auf der Leinwand. Unter dem Eindruck der Ereignisse des Herbstes 1977 beschloss Alexander Kluge mit anderen Regisseuren des sogenannten „Neuen Deutschen Films“, namentlich Volker Schlöndorff, Edgar Reitz, Rainer Werner Fassbinder, Alf Brustellin, Bernhard Sinkel, Maximilliane Mainka, Peter Schubert, Hans-Peter Clos und Katja Rupé, einen Film aus einzelnen Episoden zusammenzustellen. Über den Filmverlag der Autoren erschien bei Filmstart ein Presseheft, in dem die Regisseure Brustellin, Fassbinder, Kluge, Schlöndorff und Sinkel sich selbst die Frage stellten, worin die Parteilichkeit des Films liege. Ihr ‚Bekennerschreiben‘ dazu: „Man kann sicher annehmen, daß wir neun Regisseure, die diesen Film gemeinsam hergestellt haben, verschiedene politische Ansichten haben. In einem sind wir uns einig: Wir sind nicht die Oberamtsrichter des Zeitgeschehens. Als Filmemacher ist es nicht unsere Sache, zu den hunderttausend Auffassungen, die es zu Terror hier und dort, zu ‚Strafanspruch des Staates bis ins letzte Glied‘ gibt, die hunderttausendste richtige Antwort zu liefern. Das wäre übrigens ein bilderloser Film. Es ist etwas scheinbar einfaches, das uns aufgeschreckt hat. Die Erinnerungslosigkeit. Erst Nachrichtensperre, dann bilderlose Sprachregelung der Nachrichten-Medien. Auf den Herbst ’77 – Kappler, Schleyer, Mogadischu, die Toten von Stammheim – folgte, wie jedes Jahr, Weihnachten ’77 und Neujahr. Als wäre nichts geschehen. In diesem fahrenden D-Zug der Zeit ziehen wir die Notbremse. Für zwei Stunden Film versuchen wir, Erinnerung – eine subjektive Momentaufnahme – festzuhalten. So gut wir können. Niemand kann mehr als er kann. Insofern ist dieser Film ein Dokument – auch das unserer Schwäche, die wir nicht verbergen wollen. Wir rechnen in gewissem Sinne mit der Geduld des Zuschauers. […] Wir sind nicht klüger als die Zuschauer. Ein Narr, der mehr gibt, als er hat. Herbst 1977 ist die Geschichte der Verwirrung. Genau die gilt es festzuhalten. Wer die Wahrheit weiß, lügt. Wer sie nicht weiß, sucht. Insoweit unsere Parteilichkeit, auch wenn wir verschiedene Ansichten haben.“79
79 Brustellin, Alfred/Fassbinder, Rainer Werner/Kluge, Alexander/Schlöndorff, Volker/ Sinkel, Bernhard: „Deutschland im Herbst. Worin liegt die Parteilichkeit des Films?“ in: P. Kraus u.a.: Deutschland im Herbst, S. 80.
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Programmatisch ist demnach etwas Vor- beziehungsweise Außerfilmisches in diesem Film formiert, wird in Bildern und Worten perpetuiert und bleibt somit in einem Dokumentenstatus für die Erinnerung aufbewahrt: Die Verwirrung des Herbstes 1977. Interessant ist an der Wortwahl dabei, dass aus dem unmittelbaren Erleben und Zusehen eine Position entwickelt wurde, die der retrospektiven Einschätzung von Elsaesser entgegengesetzt ist, nämlich der eines Affekts durch traumatisch in den Geschichtsverlauf eingebrannter Bilder. „Erinnerungslosigkeit“, „Bilderlosigkeit“, „Notbremse im D-Zug der Zeit“ werden aufgeführt. Und erst die Filmemacher wagen nach eigenem Verständnis den Versuch, dem etwas entgegenzusetzen: Erinnerung in Form der subjektiven Momentaufnahme. Der Film generiert nach weiterer Auffassung der Filmemacher eine Archivierung des „Klimas“ oder der „Atmosphäre“, zwei Begriffe aus der Klimatologie, die keine Benennung von konkreter Substanz sind, sondern eine Gesamtheit aus Einzelelementen und punktuellen Messwerten beschreiben. Im Sprachduktus für diese Zeit sind beide Ausdrücke omnipräsent und daher verwundert es auch nicht, dass mit einem von ihnen der Begleittext im Presseheft abgeschlossen wird: „‚Deutschland im Herbst‘: Das Ehrlichste und Anständigste ist die Wiedergabe von Atmosphäre! Und das ist sehr viel!“80 Das meint also eine Art Zeitgeist, eine gesamtgesellschaftliche, durchaus diffuse Affektlage und Mentalitäts-Rekonstruktion, die in bewegten Bildern verarbeitet wird. Das war nicht nur von und für die Filmemacher eine Vorgabe, sondern daran wurde der Film auch in seiner Bewertung gemessen, beispielsweise in einer Auseinandersetzung mit „Terrorismus im Film“ anlässlich einer Filmreihe 20 Jahre Deutschland im Herbst im Jahr 1997. Der Dokumentarfilmer Wolfgang Landgraeber urteilte bei der Re-Vision des Films dezidiert in seiner Funktion als Zeitzeuge. Er attestierte den Filmemachern, „schlüssige Bilder und Dramaturgien“ für „die Darstellung des Klimas der Angst und der latenten Bedrohung durch die Terroristenhysterie der 70er Jahre“81 gefunden zu haben. Wenn es diese Verhältnismäßigkeit von Film zur bundesrepublikanischen Krise Ende 1977 überhaupt gegeben hat, überhaupt geben konnte, so hat sich eben dieses Verhältnis mit zeitlichem Abstand umgekehrt: Die rekonstruktive, historiographische Erarbeitung der Krisensituation erfolgt über Bildmaterial und narrative Topoi jener Art, wie sie die Episoden von DEUTSCHLAND IM HERBST anbieten. 80 O.A. „Presseheft ‚Deutschland im Herbst’“, Filmverlag der Autoren. (1978). S. 3. Zitiert nach: Begleitmaterial der DVD „Deutschland im Herbst“, 2004. 81 Landgraeber, Wolfgang: „Das Thema ‚Terrorismus‘ in deutschen Spielfilmen 19751985“, in: P. Kraus u.a.: Deutschland im Herbst, S. 16.
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Das filmische Ergebnis des gesamten Dokumentationsversuchs ist nach wie vor sehr schwer zu klassifizieren. In den Besprechungen des „Dokumentarspiels“ im Sinne von „Dokumentarfilm mit Spielanteilen“ tauchen die Bezeichnungen „Kompilationsfilm“, „Collage“ oder „Omnibusfilm“ auf. Wolfgang Landgraeber nennt „Deutschland im Herbst“ einen „Steinbruch an Ideen, Erklärungsversuchen, Beobachtungen, spannenden Assoziationen“82. Dementsprechend sei auf eine stringente Inhaltsangabe in Form einer Episodenübersicht verzichtet, um daraus gar eine homogene Analyse des Gesamtfilms zu entwerfen. In drei ausgewählten Episoden wird die Geschichtswerdung eines krisenhaften Moments durch bewegte Bilder zunächst im Film selbst untersucht sowie die Verhältnisse zwischen Konstruktions- und Rekonstruktionsleistungen der Geschichte eines deutschen Herbstes sondiert. Die filmischen Zugänge stellen sich dabei als eine Art Ortsbegehung des Politischen und politische Raumvermessungen des Herbstes 1977 heraus. Zuerst ist für die Sichtbarkeit ein Entscheidungsort inszeniert. Entschieden wird nämlich hoch oben über den Ereignissen, in einem Trutzturm aus Glas, Beton und Metall. Im Bildhintergrund ragt ein Fernsehturm in den blauen Himmel. Der topographische Ort der von Heinrich Böll geschriebenen und von Volker Schlöndorff inszenierten Episode ist mit einem kurzen untersichtigen Schwenk etabliert. Die Büroräume des Programmbeirates, der über die Ausstrahlung einer Antigone-Inszenierung entscheiden soll, werden in der vertikalen Abtastung des Gebäudekomplexes eingeführt: Diese Sicht lässt den Sitzungssaal als Ort von Maßnahmen semantisieren, die nicht geerdet sind und keine Bodenhaftung haben können. Parallelen zu den anderen Orten einsamer Entscheidungen können gezogen werden, zur Unnahbarkeit und Ferne anderer Zusammenkünfte im Kontext der sieben Wochen des Herbstes 1977: zum Stammheimer Gefängnis und zum Kanzleramt in Bonn. An beiden Orten trafen die wenigen Personen zusammen, die über Erscheinen und Existenz von tragischen Krisenepisoden zu entscheiden hatten. Die täglichen ARD-Tagesschauen in ihren Berichten über den Krisenstab der Bundesregierung wurden mit einer horizontal ausgerichteten Einstellung auf den Eingang des Kanzleramtsgebäudes in Bonn eröffnet. Fernsehnachrichten über die Inhaftierten von Stammheim wiederholten stets menschenleere Luftbilder des Gefängnisareals. In diese ungleichgewichtige Dichotomie von Einstellungsvarianten wird nun ein dritter Part eingebracht, der zunächst vor jeder erzählerischen Ausdeutung in architekturästhetischer Dimension mit den beiden anderen gleichrangig ist. So gesehen stellt die Eröffnung die Frage nach dem Stellenwert des Fernsehhauses: Potentiell zwar gleichrangig, also in eigen82 Ebd., S. 14.
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ständiger dritter Position, aber ob als Ergänzung, Vermittlung oder Parteilichkeit gesehen, das kann nur ein Blick hinter die Fassade erkennen lassen und in der Narration gelöst werden. An diesem Ort nun, der durch die steile Aufsicht der Kameraeinstellung uneinsehbar und intransparent wie ein Trutzturm ist, beleuchtet Schlöndorffl in seinem Beitrag die Unmöglichkeiten, sich in Zeiten des Terrors mit einem antiken Stoff und vermeintlich überzeitlichen Fragestellungen desselben auseinander zu setzen. Die fiktive Spielszene ironisiert die Probevorführung einer Fernsehadaption des bekannten Bühnenwerks Antigone von Sophokles für die Sendereihe „Die Jugend begegnet Klassikern“. Das Rauminterieur wird dominiert vom großen „Runden Tisch“ der verschiedenen Beteiligten des Programmbeirates. Neben dem Regisseur sind noch „der Herr Intendant“ und „der Herr Abgeordnete“ sowie die beiden kirchlichen Vertreter funktional festgelegt. Die An- und Einbindung in Institutionen der anderen Gremienmitglieder ist nicht zu bestimmen. Es wird jedoch schnell deutlich, dass es sich nicht um einen „Runden Tisch“ handelt, sondern dass der Regisseur, sein Assistent sowie die zur Vorführung bereitstehenden Fernsehbildschirme die abgesonderte Stirnseite der Tischverteilung formieren. Die Situation ist damit allein schon von ihrer Rauminszenierung eine Verhandlung oder gar ein Tribunal, weniger eine offene Diskussion von Mandatsträgern. Der Intendant nimmt dann auch im Verlauf der Diskussion die Rolle des Richters ein. Der Abgeordnete und sein Tischnachbar sprechen wie Staatsanwälte. Dem können der Regisseur, sein Assistent sowie die schwachen Einwände der Kirchenvertreter als Anwälte und Fürsprecher des angeklagten Fernsehspiels wenig entgegensetzen. Auch die Selbstverteidigungsversuche, drei zunehmend absurder werdende sogenannte „Distanzierungen“ der Rollencharaktere beziehungsweise ihrer Schauspielerinnen und letztlich gar des ganzen Ensembles sind ineffektiv. Im Gegenteil: Sie erhärten die Verdachtsmomente aus Sicht der Ankläger nur noch. Politisch verfänglich wird das Bühnenstück Antigone im Jahr 1977 durch Elemente wie Recht auf standesgemäße Bestattung, Selbstmord, Handeln aus Idealismus durch das Aufbegehren gegen den herrschenden politisch-moralischen Status quo. Damit an dieser Tragödie bloß nichts „falsch verstanden“ werden kann und werden darf, entsteht ein Zwang zur Distanzierung zum eigenen Werk – die aber wiederum nicht selbstbestimmt gestaltet ist, sondern von einem Gremium abgenommen wird. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist schließlich eine Behörde. Der Intendant gibt das Ziel vor, nicht über Sophokles zu diskutieren, sondern darüber, ob die Distanzierung glaubwürdig sei. Der Abgeordnete argumentiert mit einem „Sachzwang“ zur Intervention in Bezug auf die Ausstrahlung. Er bittet um Verständnis für seine vermeintlich dramatische
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Situation: „Wir kämpfen mit dem Rücken zur Wand!“ Aus diesem Grund muss eine Distanzierung dergestalt unmissverständlich vor allem mit dem Wort „Gewalt“ und dessen Flexionen umgehen, dass „die Jugend“ das Stück aufgrund des Statements nicht als „Aufforderung zur Subversion“ interpretiere. Ein weiterer Vertreter erweitert die Vorgabe auf die Form: „Ironie ist doch das, was wir jetzt am wenigsten gebrauchen können.“ Daher soll nach abschließendem Urteil die Produktion zwar zu Ende geführt werden, da der Beschluss des Programmbeirates keine Zensur werden darf. Die Ausstrahlung der Sophokles-Inszenierung wird jedoch auf „ruhigere Zeiten“ verschoben. Der Intendant tröstet den Regisseur letztlich mit dem Lob, dass es eine sehr gute Inszenierung sei, nur halt nicht der „rechte Zeitpunkt“: „Die Zuschauer draußen im Lande würden das nicht verstehen.“ Schlöndorff setzt eine autoreflexive Episode in Szene, insofern, als dass sie an das erwähnte ‚Positionspapier‘ der Filmemacher anschließt. In ihr wird gezeigt, warum es keine wie auch immer gearteten Filmbilder, keine Diskussion und damit auch keine Erinnerungsarbeit geben kann. Die Schaltstellen zwischen Filmproduktion und Öffentlichkeit, die Herren über die Ausstrahlung, verhindern dies. Schlöndorff und Böll demonstrieren eine Weiterführung des ‚Nicht-Nennens‘ und ‚Nicht-Zeigens‘, als gäbe es ein Tabu, dessen Kern nur umkreist, aber nicht ausgesprochen werden könne. Andererseits können gerade die Qualitäten des prosaischen Erzählens und des filmischen Gestaltens darin liegen könnten, andere Zugänge zu finden und gerade nicht die wenigen, dafür aber immer gleichen Bilder, Namen und narrativen Versatzstücke aufzunehmen und zu variieren. Denn diese werden als bekannt vorausgesetzt. Vielmehr führen Drehbuchautor Böll und Regisseur Schlöndorff vor, wie künstlerischer Aktivität durch politische und sich politisierende Institutionen eine Parteinahme aufoktroyiert wird, indem sie über die Schaltstellen eingreift, indirekt sogar in die Produktion und Inszenierung selber durch einen Druck zur affirmativen Stellungnahme. Hier hat ein Bekenntniszwang Einzug gehalten, eine unzweideutige und nicht binnendifferenzierende Entscheidung, ob Freund oder Feind. Das macht die filmische Arbeit zur politischen Arbeit. Schlöndorff stärkt dabei implizit zugleich die Möglichkeiten des Kinos gegenüber denen des Fernsehens. Ein Film wie DEUTSCHLAND IM HERBST war im Kino möglich, im Fernsehen sind solche Positionen nicht zu finden gewesen aufgrund der politisch-ökonomischen Entscheidungsstruktur. Damit hält er an der Wichtigkeit von Kinoproduktionen fest. Ihr politisches Potenzial besteht in dieser Freiheit, die zwar nicht tagesaktuell sein kann, aber trotzdem mehr oder zumindest anders über Geschehnisse der Zeitgeschichte reflektiert, indem sie
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Bilder und Dialoge möglich macht, die es so nicht zur Ausstrahlung im Fernsehen bringen würden. Gleichzeitig macht Schlöndorff aber keine politischen Kinobilder, sondern dramatisiert politisierte Abläufe im und für das Kino. Elsaesser ist zuzustimmen, wenn er meint, dass sich diese Filmepisode letztlich sein eigenes Politikkonzept versage: „Die Ironie zeigt sich aber auch auf der anderen Seite, wenn der Film offen legt, wo er selbst in die Sackgasse gerät: Er impliziert die Relevanz dieser Parallelen [zwischen dem Sophokles-Stück und den Ereignissen, Anm. d. Verf.], prangert aber die Offiziellen an, die in Anerkennung dieser Relevanz ‚politisch‘ handeln. Die von Schlöndorff angestrebte Ideologiekritik läuft Gefahr, sich in Selbstwiderspruch aufzulösen oder zu einem Baustein zu werden, der die Mythenbildung über Deutschlands Geschichte mit ihren Wendungen und Wiederkünften stabilisiert. Dadurch entsteht eine Art mise en abyme, in der die Selbstinszenierung der RAF und das Medienmanagement des Staates die Statur, den Ernst und die Allüre einer antiken Tragödie annehmen.“83
Ein dezidiertes kinematographisches Veranschaulichen gerät ins Hintertreffen. Nicht umsonst dreht sich die Spielhandlung ausschließlich um Worte und das Erzählen. Filmischer Zugang zur Krisensituation ist in dieser Episode das Anprangern durch Narrativierung von Fehlentscheidungen auf dem Feld der Politik und die Entlarvung des Machtapparates durch Ironie – und damit verbunden wäre die Hoffnung, bei unzensierter Öffnung von massenmedialen Kanälen Diskussionen herbeizuführen, die sowohl eine Krise beenden als auch eine neue verhindern könnten. Der Kinofilm und damit sein Stellenwert im Rahmen der Krisenverarbeitung wird dafür als Intervention, als mögliches Korrektiv im öffentlichen Diskurs, gedacht. Ganz anders bei Rainer Werner Fassbinder: In seiner Episode herrscht Fassungslosigkeit in einer düsteren Wohnung. Der verstörte Mann kann die Situation nicht begreifen. Er greift zu den Dingen, die ihm in den Tagen vor und nach dem Höhepunkt des Terror-Herbstes Halt geben: die Zigarette, das Trinkglas, der Telefonhörer, seine Brille. Als sein eigener Protagonist hat Rainer Werner Fassbinder in beinahe jeder Einstellung seiner ungefähr halbstündigen Episode einen Gegenstand in der Hand. Aber festhalten kann er sich nicht. Dabei nimmt auch er zunächst motivisch Diskurse auf, die für die Situation des Bundesbürgers unter dem Eindruck des Terrorismus die wahrscheinlich entscheidenden waren: die Angst vor Überwachung in der eigenen Wohnung und das Misstrauen in die Institutionen, die sich zur Hysterie und Paranoia steigerten. 83 T. Elsaesser: Terror und Trauma, S. 65.
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Fassbinder adaptiert zugleich das, was mit Stammheim und den dort inhaftierten und umgekommenen Terroristen für eine Situation eines Selbst konstituierend war: die Zellensituation, die vertrackte Außenkommunikation, die zwischenmenschlichen Spannungen und letztlich das Zurückwerfen und den gezielten Einsatz des eigenen Körpers in die Vorgänge – Biomasse im Kampfeinsatz bis zur finalen Auslöschung. Fassbinder bespielt mit seinem Lebenspartner in realita, Armin Meier, eine dunkle Wohnung, vielleicht seine eigene. Fassbinder kommt aus Paris zurück und geht ein und aus, er telefoniert, er kann nicht schlafen und nicht essen. Auch kann er nicht arbeiten, weder am Schnitt des letzten Filmes noch am Drehbuch für ein neues Projekt. Hungrig nach Informationen und Standpunkten hängt er am Radio, diskutiert mit seinem Freund, mit Kollegen und – zwischengeschnitten in diese eigentlich geschlossene Spielhandlung – mit seiner Mutter, Liselotte Eder. Armin würde am liebsten „alle abknallen“, die Mutter hat Angst vor einer zu liberalen Meinung und wünscht sich gar einen „lieben Tyrannen“ zur Lösung der Probleme des Staates. Fassbinder inszenierte sich offensichtlich in einer Krise oder eher in vielen Krisen zugleich. Hermann Kappelhoff schrieb zu diesem Schauspiel der Selbstdarstellung: „Der Film versucht Politik also dort zu greifen, wo sie sich in konkreten sozialen Beziehungen realisiert, als Familiensache und Beziehungskiste. Die familiären Konstellationen wollen keineswegs eine Parabel der Gesellschaft inszenieren. Nachgestellt ist vielmehr Szene für Szene das In-Gesellschaft-Sein als ein konkretes Erleben, das man am eigenen Leibe auszutragen hat.“84
Wenn Fassbinder nackt an der Wand lehnt, den Telefonhörer mit der einen Hand umklammert und mit der anderen am Genital spielt, während er so erschüttert und ungläubig die Todesnachrichten aus Stammheim erzählt, dann variiert er natürlich auch das alte Kinospiel mit Exhibitionismus und Voyeurismus. Der Fassbinder zwischen allen Fronten gibt sich anti-klandestin und zieht damit seinen Trennungsstrich zum Wesen des Terroristen, nämlich möglichst aus dem Geheimen und aus einem anonymen Untergrund in wandelbaren Existenzen möglichst viel Aufsehen zu erregen. Dagegen steht der Drang des Staatsapparats zum voyeuristischen Blick, zur Einsicht in private Vorgänge von der Telefonabhörung („Ja, Sie können ruhig mithören“, schreit Fassbinder während eines Gesprächs in den Telefonhörer) bis zur illegalen Verwanzung. Körper und Kom84 Kappelhoff, Hermann: Realismus – Das Kino und die Politik des Ästhetischen. Berlin: Vorwerk 8 2008, S. 105.
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munikationstechnologie als politischer Kampfapparat geraten bei Fassbinder jedoch in die Nähe der Karikatur. Seine Aufnahmen sind nicht privat, denn es handelt sich um Spielszenen, Spielszenen einer tatsächlichen oder fiktiven jüngsten Vergangenheit: Der Schauspieler Fassbinder, der unter seiner eigenen Regie und nach seinem eigenen Skript den Fassbinder im Oktober ’77 spielt. Damit geben sich seine Aufnahmen als ein Stück Reenactment einer Privatheit für eine Filmkamera, deren Präsenz sich vor allem unüberhörbar auf der Tonspur in die Episode einschreibt. Diese Aufzeichnungsmacht verdeutlicht sich in den Statements von Liselotte Eder, die durch Schnitte aus einem Gesamtgespräch isoliert worden sind. Die surrenden Laufgeräusche der Kamera sind dabei nicht nur in den Momenten der Gesprächspausen vernehmbar, sie bieten einen regelrechten durchgehenden Soundtrack der Mahnung, dass eine Kamera im Raum arbeitet. Als Filmer verfährt Fassbinder damit im Kontrast zu Schlöndorff weder illusorisch noch fiktionalisierend, sondern er liefert ein Filmdokument der Krise. Agiert er zunächst wie die Stammheimer Terroristen, indem er den eigenen, bloßen Körper in die laufende Auseinandersetzung einbringt und zunehmend ins Zentrum der Verhandlung rückt, so macht er dabei immer deutlich, dass er nur Bild-Körper produziert. Ein Großteil des permanenten Drucks, unter dem Fassbinder steht, entsteht durch die Informationsversuche, durch den Zwang zur Information, der bei ihm beinahe eine Manie wird. Die Geschehnisse lassen ihn schlaflos, denn auch des Nachts muss er aufstehen, um den aktuellen Radionachrichten zu lauschen oder besser noch gleich „die Ingrid“ in Paris anzurufen, denn die terroristische Kommunikation verlief über die AFP, zudem gab es die bundesrepublikanische Nachrichtensperre im westlichen Nachbarland nicht. Mit dem Telefonhörer hat Fassbinder wenigstens etwas in der Hand, er ist der einzige physikalische Körper in der ansonsten nicht-stofflichen Atmosphäre dieser Tage. Den Wörtern aus den Übertragungsmedien Radio und Telefon im Zusammenspiel mit dem Körper weist Hermann Kappelhoff eine konstruktive Rolle für eben das Klima der politischen Hochspannung zu. Der Filmbeitrag von Fassbinder untersuche „die Haltungen und Einstellungen, die Attitüden und Reaktionen derjenigen, die als Individuen auf die Verlautbarungen und politischen Maßnahmen reagieren, von denen sie in der Regel nur vom Sehen und Hören im Fernsehen und Radio wissen. Er sucht den Terror genau dort auf, wo er sich bei den Kritikern des Staates manifestiert: in ihren körperlichen Haltungen, Gesten und Zuständen, die das Raisonnement der kritischen Meinungen längst hinter sich gelassen hat. Diese physische Ökonomie intimer Beziehungen und dem Regelwerk staatlich regulierter Gewalt, zwischen den Strebungen des individuellen Begehrens und denen der gesellschaftlichen Mächte. Nicht das Private wird als das Politische
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gezeigt. Vielmehr wird das allgemeine und permanente politische Gerede von der Angst vor dem Polizeistaat als ein höchst infantiles Dabei- und Mittendrin-Sein greifbar.“85
Damit erhebt er Fassbinders Episode in den Rang eines „Lehrstücks“: „Der Film bezieht die Zuschauer also in das Spiel mit den fingierten Realitäten ein. […] Sie finden sich wieder als Subjekte eines überwachenden Blicks, in einer Gemeinschaft der Denunzianten und Paranoiker: ein Akt peinlicher Selbstentblößung vermeintlicher Opfer, die sich als Teil des Unterdrückungssystems ins Bild gesetzt sehen.“86
Der Filmemacher Fassbinder erinnert den Terror im eigenen Heim, indem der Schauspieler Fassbinder den Freund und die Mutter terrorisiert und bedrängt. Er verlässt in den Diskussionssituationen die Ebene des Wortwechsels, er schafft es nicht, durch sinnvolle Argumente zu überzeugen. Fassbinder inszeniert sich nicht als Diskursethiker, sondern er bedarf des aggressiven lauten Redens, des Niederschreiens, der Drohgebärde seines massiven Körpers und sogar des physischen Kampfes – ein unmittelbares, körperlich nicht ent-dingtes Terrorisieren seines Gegenübers, zugleich Gewaltausübung mit der Hoffnung auf Katharsis für beide Parteien. Diese Inszenierung vor und für die Kamera legt einen Vorgang offen. Er übernimmt die Gewalt als Mittel der Zuspitzung in Form eines Rollenspiels und kann so tatsächlich ‚Charaktermasken‘ bei Freund, Mutter und Fassbinders eigener Person entlarven. Das ist ein wesentlicher Ansatz auch von terroristischen Strategien. Aus der Arbeit einer inszenierten Krise voll Hysterie und Manie, die auf den ersten Blick das aufgeheizte Klima herunterdekliniert ins Private, entwickelt sich jedoch eine wenig aufgeregte und recht nüchterne Diagnose eben dieser Krise: „Dann sind sie Mörder, die Terroristen!“ stellt Liselotte Eder empört fest. „Ja sicher, sind sie auch meinetwegen. Aber für Mörder gibt es keine Spezialgesetze“, sagt die Figur Fassbinder im Gespräch zu seiner Mutter. Damit zielt er auf die Rechtsprechung im Fall der RAF ab und die Politik ist soweit abgehandelt. Das Politische aber wird bis in den Mikrokosmos seines Erscheinens verhandelt in einem Feld von Macht, Recht und Gewalt – und alle machen irgendwie mit. Das ist ein allgemeines Gesetz auch in Zeiten des Terrors und davon erzählen die Krisenbilder des Regisseurs Fassbinder. Doch entlässt der Kinofilm den Zuschauer nicht in Ratlosigkeit oder allgemeinen Gesetzen, sondern in eine Melancholie. DEUTSCHLAND IM HERBST endet beim Frontverlauf am Waldesrand. Auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof werden durch das herbstliche Laub die toten Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe zu Grabe getragen. Familienmitglieder, Freunde 85 Ebd., S. 106. 86 Ebd.
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und Sympathisanten sowie eine Phalanx aus Photographen und Kamerateams stellen einen Trauerzug, der unter intensiver Beobachtung von Polizeibeamten, Hubschraubern und mobilen polizeilichen Überwachungsfilmern steht. Vereinzelt gehen dazwischen die Friedhofsarbeiter ihrem Beruf nach, auch die Vorbereitungen der Gaststättenbetreiber sind zu sehen. Ein Wirtspaar hat sich bereit erklärt, das Beerdigungsessen in ihren Räumlichkeiten austragen zu lassen. Das lässt sich zunächst aus den Aufnahmen entnehmen im Sinne eines Dokuments. Oder aber hingegen als ein Monument, das durchsichtig ist und zugleich durchsichtig macht als „Moment“, wie es in der Diktion des Filmemachers Kluge später heißt: „Alle Verhältnisse werden im Moment der katastrophalen Erschütterung einen Moment durchsichtig darauf, daß sie falsch zusammengewachsen sind und an keiner Stelle ein menschliches oder auch nur mögliches Verhältnis bilden. Alle Prozesse, in Mogadischu, in Stammheim, im großen Krisenstab, im Gefängnis von Schleyer, beeinflussen und bedingen einander, aber man verfolge, was sich davon überhaupt aufeinander bezieht oder auch nur eine Berührungsfläche für Auseinandersetzungen liefert. Das unorganische Ganze hat es während der gesamten deutschen Geschichte an sich, daß es tötet. Es ist eine wirkliche Erschütterung bei den Menschen, durch Nachrichtensperre und durch nachfolgende Nachrichtenüberflutung hindurch, die das Geschichtliche in diesen Ereignissen spontan versteht, nämlich als Unmöglichkeit, als Lähmung des Verhaltens.“87
Die gesamte deutsche Geschichte? Es ließe sich beispielsweise durch den szenischen Eindruck einer ungeordneten Konfrontation am Waldesrand zwischen regulären Einheiten und wilden Haufen die römisch-germanische Varusschlacht herbeizitieren und somit das Verfahren Alexander Kluges aufnehmen, tief im „deutschen Geschichtsbild“ zu graben und zu assoziieren. Zwar lauert eine Art Kriegerhaufen auf vorbeiziehende Legionen, aber welche der Parteien dabei die Guerilla und welche die reguläre Armee ist, bleibt in dem Durcheinander unklar. Unzweideutig ist und bleibt hingegen in der Darstellung, wer auf das Gewaltmonopol pocht. Die Polizei beobachtet und schreitet ein, sie entscheidet über Ein- und Ausschluss − und sie überwacht und zeichnet auf. Es gibt kaum eine Einstellung, in der nicht ein filmender oder photographierender Mensch in Uniform zu sehen ist. Den Sympathisanten bleiben nur ihr Spruchbänder, ihre erhobenen Fäuste, ihre vermummten Gesichter und die Trauerreden. Alexander Kluge lässt DEUTSCHLAND IM HERBST mit der Beerdigung der RAF-Terroristen in einem vermeintlichen Ungleichgewicht ausklingen, dem er 87 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, Bd 2: Deutschland als Produktionsöffentlichkeit, S. 363.
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selbst mit seinem Kamerateam zunächst nur beobachtend als externe Instanz beizuwohnen scheint, um es anschließend zu kommentieren. Doch wirft er in der Beobachtung mit der Filmkamera die Frage auf, was das eigentlich sein kann, dieses Ereignis. In engem Zusammenhang mit dieser Frage wird eine Herausforderung an das Beobachten und Dokumentieren entwickelt: Film muss die Krise erst erarbeiten, bevor er sie verarbeiten kann. Wie dies in der Machart transparent wird, das ist die filmische Produktivität der politischen Ratlosigkeit des Filmemachers. Ähnlich wie Fassbinder macht auch Kluge die Gemachtheit des sichtbaren Materials augenscheinlich. Sein Filmmaterial wechselt, bedingt durch zwei Aufnahmeapparaturen. So sind die Beerdigungsbilder und Impressionen der Friedhofskundgebung im ‚Kinoformat‘ 35mm-Film gedreht. Sie werden kontrastiert in Zwischenschnitten auf ursprüngliches Videomaterial, das dann als Schwarzweiß-Aufnahmen inklusive der charakteristischen horizontalen ‚Zeilenstruktur‘ im Film seinen Platz findet88. Damit ist auch eine Differenz zum Prolog, nämlich zu den Aufnahmen des Staatsakts für Hanns-Martin Schleyer eröffnet, einem Ereignis, das vom Filmteam der Produktion DEUTSCHLAND IM HERBST ausschließlich auf 35mm festgehalten wurde. Jedoch ist der visuelle Kontrast im Material hier außerfilmisch auszumachen, da die Beerdigung und der Staatsakt live im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm übertragen wurden. Und so sind nicht nur Videobilder als Kinobilder technisch umgewandelt zu sehen, sondern in ihrem letzten Erscheinen als vom Bildschirm abgefilmte Videobilder. Die Straße, die vom Friedhof weg führt, ist mit Video aufgenommen. Die Sichtachse führt aus dem fahrenden Auto heraus, das mit der Kamera die Fronten zwischen Beerdigungsgästen, Journalisten und Polizisten durchbricht. Leise unterhalten sich die Insassen des Fahrzeugs über das, was vor ihrem Objektiv geschieht. Und so ist auch diese Front nur ein Moment, sie ist im Auflösen begriffen. Die Straßensperren werden zurückgebaut, die Beerdigungsbesucher ziehen ab, die Presse packt ein. Das dichotomische Ensemble des Ereignisses vermischt sich in seinem Abgang. Sie alle werden jedoch ins Bild geholt als Versuch, in der Gesamtschau die zuvor gesetzten Demarkationslinien aufzubrechen. Die filmische Art der Erarbeitung schreibt sich in das Ereignis ein und bestimmt damit auch, wie etwas Archivierbares angelegt wird. Dann setzt die Musik ein, noch über der Videoaufnahme. Der Schlussteil im herbstlichen Waldesrand ist wiederum auf 35mm gedreht. Und so schließt der 88 Im Bonusmaterial der DVD übernimmt Volker Schlöndorff auch mit dem Abstand von über dreißig Jahren immer noch das martialische Vokabular, indem er die Filmkameras als „großes Geschütz“ bezeichnet, die Videodrehs im Gegensatz dazu als „Heckenschützen“.
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Film mit einer längeren Sequenz, die verschiedene Motive zusammenführt. Sie ist, getragen von der traurigen Musik in Kombination mit den Aufnahmen des welken herbstlichen Blättermeers, eine Sequenz unverhohlen voll Pathos, der man mit einer Verkürzung auf die Pathosformel jedoch nicht gerecht wird. Viel eher ist es Melancholie, die hier greift und durch die Filmsequenz greifbar gemacht wird. Wenn der Hubschrauber hinter dem Hügel verschwindet, die Polizeikontrollen und Durchfahrtsperren abgebaut sind und der Weg freigemacht wird, oder um dies zu präzisieren, die gefilmten Fernsehbilder dieser Abrüstung erscheinen, setzt ein Song ein. Es ist Here’s to you von Joan Baez, nach einer Melodie von Ennio Morricone aus dem Film SACCO E VANZETTI von 1971. Also ein wiederverwerteter Soundtrack. Die beiden Namensgeber waren Aktivisten der USamerikanischen Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren. Sie wurden nach einem fragwürdigen Prozess wegen Raubmordes hingerichtet, der Regisseur Giuliano Montaldo hat ihr Leben 1971 als Kinofilm adaptiert. Verstärkt noch durch die Adaption der Protestsängerin wird eine historische Linie aufgemacht, eine Kontinuität des breiten Spektrums linker Bewegung und ihrer Toten. Neben dieser langen Traditionslinie geht das Arrangement einher mit einer für den Entstehungszeitraum recht spezifischen Melancholie: Der Diskurs dieser ‚linken Melancholie‘ wird gerade zum zehnjährigen Jubiläum der epochal anmutenden Jahre 1967/68 virulent. Nimmt man das Kursbuch als einen Hort dieses Diskurses, so ziehen sich Beiträge durch viele Ausgaben, beginnend mit dem 1977er Kursbuch 48 – Zehn Jahre danach89. Auch Klaus Hartung schrieb für verschiedene Kursbuch-Ausgaben seine biographischen Notizen und Erinnerungen an die Bewegung, so auch im Dezember 1978, kurz nach Veröffentlichung von DEUTSCHLAND IM HERBST. Bei Hartung steht der Terminus „Generation“ im Mittelpunkt, der nun im Zuge eines Wechsels der „Protestgeneration“ zur nächsten rückblickend reflektiert wird und für die der Herbst 1977 als Zäsur geltend gemacht ist. Im Zuge dessen werden auch die subjektiven Modi des Rückblickens offen gelegt: „Ich muß zugeben, daß mich gerade der Gedanke an ‚unsere‘, an ‚meine‘ Geschichte insbesondere in der letzten Zeit hilflos und unsicher gemacht hat; ein Begriff, ein Wort, bei dem sich eine Zeitlang Denkzwang und Gedankenflucht, voller Kopf und das Gefühl der Leere eigentümlich die Waage hielten. Das hielt so lange an, wie ich krampfhaft versuchte, meine Geschichte auf den Begriff zu bringen, und verzweifelt feststellen mußte, daß ich dazu immer weniger in der Lage war. 89 Michel, Karl Markus / Wiesner, Harald (Hg.): Kursbuch 48 – zehn Jahre danach, Berlin 1977.
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Diese Nicht-Erzählbarkeit unserer Geschichte bedeutet immerhin eine schwer überwindbare narzißstische Kränkung: sie würde besagen, daß wir unsere Geschichte nicht besitzen. […] Wenn ich versuche, jene Aura von Angst und Unsicherheit um den Begriff ‚meine Geschichte‘ aufzulösen, dann stoße ich auf ein Gefühl, das ich vielleicht mit vielen Genossen meiner Generation teile: das Gefühl: ‚kann das alles gewesen sein‘, dieses Aufblitzen revolutionärer Möglichkeiten in den 68er Jahren? Wollte man unnachsichtig sein, könnte man dieses Gefühl in Analogie zur Freudschen Melancholiedefinition als das Gefühl ‚des unbekannten Verlustes‘ bezeichnen, als linke Melancholie.“90
Die Einführung des Begriffs „Melancholie“ mit dem Adjektiv „links“ wird auf die Generation der 68er gemünzt. Michael Schneider führt drei Jahre später diese Überlegungen fort. Er setzt sich mit einer ganzen Reihe von Biographien auseinander, die von Autoren seiner Generation Ende der 1970er Jahre erschienen91, die sich aber auch mit literarischen Arbeiten wie dem Schelmenroman Die Glücklichen von Peter-Paul Zahl ergänzen und erweitern ließe. Jedoch beleuchten diese Erinnerungen, vergleichbar darin Alexander Kluges Filmessay in DEUTSCHLAND IM HERBST, weniger die eigene als vielmehr die Biographie der Eltern, der „Generation von Auschwitz“. Im Zuge dessen setzt auch Schneider „1968“ als Chiffre und als Zäsur im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Eltern- oder besser Vätergeneration. Indem eben deren Kinder „zu politischem Bewußtsein erwachten, fingen sie an, die sonderbaren Gesichte [sic!] zu begreifen, die ihren Halbschlaf begleitet hatte.“92 Doch Schneider schränkt gleich wieder ein und klagt über seine Generation: „Schon auf dem Höhepunkt der studentischen Revolte war übrigens zu erkennen, daß zwischen der militanten, oft kraftmeierischen Selbst- und Außendarstellung der Rebellen und ihrer psychischen Verfassung ein auffälliger Widerspruch klaffte. Es war abzusehen, daß ihnen zwar nicht sogleich die Theorie und der emphatisch bekundete Kampfeswille, wohl aber die psychischen Reserven ausgehen mußten, um den ‚Langen Marsch durch die Institutionen‘ wirklich durchzustehen.“93 90 Hartung, Klaus: „Über die langandauernde Jugend im linken Ghetto. Lebensalter und Politik – Aus der Sicht eines 38jährigen“, in: Kursbuch 54 (1978), S. 174-188, hier: S. 176-178. 91 Schneider, Michael: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1981. 92 Ebd., S. 14. 93 Ebd., S. 56.
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Ein solches Bild einer politischen Protestgeneration beinhaltet, dass diese Altersgruppe mit ihren Themenfeldern und Aktionsformen der Dreh- und Angelpunkt für entsprechendes politisches Bewusstsein und Protest in der Gesellschaft der Bundesrepublik implementiert hat. Das Folgende spätestens ab 1970 ist als ‚Post-68‘ nur als Verfall, Abkehr oder im besten Falle Fußnote einzustufen. Das ist sie bei Alexander Kluge nicht, aber er berührt diese melancholische Atmosphäre durchaus. Denn die Ereignisse des Herbstes ’77, egal wie und von welchem Standpunkt aus man sich ihnen nähert, beenden auch in und mit diesen Bildern eine Epoche. Das Ende der Krise, der politischen Krise, der Krise der Bilder, der krisenhaften Stimmung und des Umgangs mit ihr gleitet über von der Wahrnehmung eines Zustandes im Jetzt in einen anderen Betrachtungsmodus: in den der Geschichte und damit des Erinnerns. Für genau dieses transitorische Feld wurden die Bilder gemacht. Mit der Mediendifferenz von Video- und Farbnegativfilm lässt diese Episode auch ihre Filmwerdung reflektieren, ihren Status als 35mm-Filmdokument − denn so werden Heldenepen in bewegten Bildern erzählt. Kinobilder sind zwingend, auch bei allem politischen Gehalt und jedem noch so aufrechten Anspruch an das Dokumentieren, ein Teil der Kinogeschichte und behaupten sich als solche. Was nun als Bebilderung einer Austreibung und Ausgrenzung von Feinden begonnen haben mag, ist am Ende der Versuch des Gegenteils. Unter der Regie von Alexander Kluge versucht DEUTSCHLAND IM HERBST eine Heimholung der ausgegrenzten Terroristen: über den ‚Umweg‘ des Kinos heimgeholt in eine Geschichte und damit zur Weiterverarbeitung bereitgestellt, beispielsweise für eine generationelle Erinnerung in Melancholie. Dieser Verarbeitungsprozess im Sinne der programmatischen Erinnerungsarbeit wirft aber bis heute Fragen auf: er ist Aufbruch und keine filmische Abschlussarbeit. Diese setzten erst viel später ein und holten das Kino auf andere Art heim.
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4.3 E NTLASSUNGEN
IN DIE
G ESCHICHTE
Film, Literatur, Kunst und Mode machen aus der RAF eine virile Desperado-Gang, aus Andreas Baader einen Fahndungsposterboy und aus dem Deutschen Herbst einen Pop-Mythos für besserverdienende Konsumterroristen der Globalisierung […]. DER STERN, 2007.
Die Geschichte der RAF, so sie fortlaufend weiter geschrieben wird, ist immer wieder als Verfallsgeschichte eben auch in Bezug auf ihre Historiographie erklärt worden. Neubewertungen und Umwertungen wurden und werden bis hin in die Gegenwart als Abwertungen aufgefasst. Auf der einen Seite ist damit eine vermeintliche Verknappung auf einen quasi-überzeitlichen ethisch-moralischen Bewertungsstandpunkt der terroristischen Gewalt gemeint. So beklagte die inhaftierte Irmgard Möller im Interview kurz vor der Auflösung der RAF über angebliche historische Dekontextualisierung: „[W]as mir nicht paßt, ist, damit den Ausverkauf unserer Geschichte zu verbinden, indem man einfach die Hälfte unter den Tisch fallen läßt und nur noch rummoralisiert.“94 Doch um den Streit über die Deutungshoheit und die Hüter und Verwalter des vermeintlich ganzen Wissens soll es in den abschließenden Betrachtungen nicht oder zumindest nur peripher gehen. Denn entgegen diesem Ausverkauf-Vorwurf des „Rummoralisierens“ aus Reihen der wenigen sich öffentlich äußernden RAFler setzte ab Ende der 1990er Jahre etwas eher Gegenteiliges auf breiter, durchaus auch wissenschaftspublizistischer Ebene ein: „Pop“ wurde als Vorwurf, als Bestandsaufnahme der aktuelleren historiographischen Degeneration, eben als Präfix für die vermeintlich erkennbaren Abwertungsoperationen angeführt. Wolfgang Kraushaar bezeichnete den kulturell-gesellschaftlichen Umgang nach der RAF-Auflösung 1998 als die „popkulturelle Adaption des politisch verpuffenden RAF-Mythos“95. Dies soll meinen, „dass Repräsentanten einer jüngeren Generation kurz nach Auflösung der RAF damit begannen, diese in den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen zum Gegenstand einer er-
94 „‚Wir meinten es ernst‘ Gespräch mit Irmgard Möller über Entstehung, Bedeutung und Fehler der RAF.“, in: Die Beute 1/96, S. 26. Kursiv durch Verf. 95 Kraushaar, Wolfgang: „Mythos RAF. Im Spannungsfeld von terroristischer Herausforderung und populistischer Bedrohungsphantasie“, in: Ders., Die RAF, S. 15-49. S. 37 ff.
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neuten Verklärung zu machen, ihren gescheiterten Feldzug gegen Staat und Eliten streckenweise zu ästhetisieren, sich besonders spektakuläre Elemente des vermeintlichen Guerillakampfes herauszugreifen und sie zu romantisieren sowie Einzelne, wie Andreas Baader und Ulrike Meinhof, nun als Pop-Ikonen zu besetzen und erneut zu heroisieren. Das RAF-Emblem mit der quer über den fünfzackigen Stern montierten Maschinenpistole von Heckler & Koch tauchte nun auf T-Shirts und Postern, auf Buchtiteln und Filmplakaten, auf Fotostrecken in Mode- und Anzeigen von Lifestyle-Magazinen auf.“96
Prinzipiell ließe sich gegen „Pop“ als vermeintliche Degeneration einer Historisierungsverlaufs einwenden, dass es ja schon von Beginn an enge Verwandtschaftsverhältnisse von popkulturellen Mustern zu Stadtguerilla und Terrorismus gegeben hat. Über die in den ersten beiden Kapiteln angeführten Wechselwirkungen hinaus stellte Diedrich Diedrichsen bereits ein Jahr vor der Auflösung der RAF in Bezug auf Rockmusik und gegenkulturelle Attitüden fest: „Unter anderem wäre auch die Geschichte der (fixen) Idee ‚Revolution‘ über Generationen von Gegenszenen hinweg ohne das Zusammenwirken der revolutionären Denkform mit gewissen Spielarten der Pop-, besonders Rock-Musik nicht so ungefährdet verlaufen: von MC 5 bis zu Chumbawamba, von Ton Steine Scherben bis zu Public Enemy, von den Redskins bis zu Atari Teenage Riot. Umgekehrt könnte man auch sagen, daß eine bestimmte Art von charmant rechthaberischer, weltbeherrscherischer Pop-Apodiktik nur deshalb überhaupt von kleineren Kreisen als sozialverträgliche Selbstverwirklichung akzeptiert wird, weil sie von der schon bekannten Idee des Revolutionären legitimiert und vermittelt worden ist: ‚The solution, the solution, the solution is … the trigger.‘ Es ist der eigentümliche Doppelcharakter des großen endgültigen, aufgehobenen Projekts ‚Revolution‘, gleichzeitig die pragmatische Lösung sein zu sollen. Das ist natürlich komplett wahnsinnig und doch wiederum ganz sinnvoll. […] Danach kann man in die historisch konkrete Bundesrepublik schauen, in der theologische Vorstellungen schon immer eher praktische mitbestimmten, und fragen, wie sich das Verhältnis der Pop-Musik zur Revolution darstellt, wenn diese scheinbar aus dem Himmel der Wünsche und Projektionen herabsteigt, sich in konkreten militanten Aktionen als vorbereitet zu erkennen gibt, und man sich, wie etwa zu Zeiten der RAF, gezwungen sieht, eine Position zu diesen zu beziehen. […] Anders als etwa die US-amerikanischen Weathermen hatte die RAF nie viel auf bestehende gegenkulturelle Bewegungen in der BRD gegeben. Man sah sich mitnichten in einer Front mit Landkommunen und anderen ‚Verwirklichern‘ eines wie auch immer verballhornten revolutionären Lebensstils. Doch wurde die RAF umgekehrt oft im Sinne einer Überbietungsgeste gelesen und rezipiert, die den Kultur- und Attitüdenkonsum der siebzi96 Ebd.
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ger Jahre in genau solchen Kreisen entscheidend prägte. Die RAF war ‚härter‘ und ‚ging weiter‘, was in einer Welt, in der die Länge der Haare und der Gitarrensoli sich gegenseitig ständig überboten, Respekt abnötigte. Die RAF schien sich in einer Weise selbst zu verwirklichen, in der es ‚kein Zurück‘ mehr gab – wichtiges Element auch der geläufigen LSD-Ethik: bereit zu sein, daß es kein Zurück mehr geben könne –, und riskierte das Äußerste: den eigenen Tod und den anderer Menschen.“97
Doch ist die Stoßrichtung der Kritik eine, die den generationellen Wechsel in der Formensprache und in dem Umgang mit der RAF-Geschichte beklagt. Was Kraushaar noch als „Gegenstand einer Verklärung“ einer jüngeren Alterskohorte (und damit seiner eigenen Nachfolgegeneration) zu erkennen glaubte, wurde bei Autoren dieser Jahrgänge als Chance begriffen. Beispielsweise sah Ellen Blumenstein, eine Kuratorin der umstrittenen Berliner Ausstellung Zur Vorstellung des Terrors – Die RAF im Jahr 2005, gegenüber den Zeitzeugen den immensen Vorteil, vor allem mit den nun historischen „Gegenständen“ der kulturellen Erinnerung neu und anders umzugehen. Keine Ab- sondern sogar eine Aufwertung im Umgang mit der RAF-Geschichte kann so erfahren werden: „Für diejenigen, die spätestens 1977, im ‚Deutschen Herbst‘, noch Kinder waren, die Ereignisse also wahrnehmen, aber keine eigene Haltung entwickeln konnten, ist die Beschäftigung mit der RAF besonders schwierig Die Personen sind nicht mehr real, es sind keine gemeinsamen Anknüpfungspunkte mehr vorhanden, aber dennoch so präsent, dass man sich noch immer dazu verhalten muss. Auch hier ein entweder/oder: entweder noch radikaler sein oder glorifizieren, ignorieren oder negieren. Eine differenzierte, distanzierte Haltung ist erst der Generation möglich, die den ‚Deutschen Herbst‘ nicht mehr bewusst miterlebt hat. Denn jetzt ist die RAF und damit ihre Protagonisten nur noch Symbol/Zeichen, in das man sich selbst hinein imaginieren, deren Rolle man nachspüren kann, ohne sich damit festzulegen und eine politische Haltung einnehmen zu müssen: man darf ‚Prada-Meinhof‘-T-Shirts tragen (ob das besonders sinnvoll ist oder nicht) und dabei Gudrun Ensslin oder Andreas Baader ‚spielen‘, sich genauso kleiden, so sexy fühlen. Aber auch, den Ängsten und der Einsamkeit beispielsweise von Ulrike Meinhof in ihrer Zelle nachspüren. Über die politische oder gesellschaftliche Relevanz der RAF nachdenken. Oder sie für reaktionär und uninteressant halten. All das ist möglich geworden. Noch einmal: je größer die Distanz, desto bessere Voraussetzungen für Einordnung, auch Relativierung, Freiraum für Beurteilung.“98 97 Diederichsen, Diedrich: „Der Krankheitsgewinn der Revolution“ in: Die Beute 15/16, S.8/12. 98 Blumenstein, Ellen: „Zu Vorstellungen des Terrors und Möglichkeiten der Kunst“, in: K. Biesenbach, Zur Vorstellung des Terrors, Bd. 2,. S. 18.
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Es ließe sich aber auch oder wichtig ergänzend sagen, dass das, was unter „Pop“ im Wechsel der Generationen beim Historisierungsprozess der RAF zirkuliert, produktiv mehr schafft, als über „politische oder gesellschaftliche Relevanz der RAF“ nachzudenken. Denn durch eine Auseinandersetzung vor allem unter dem Paradigma der Zeichenhaftigkeit und ihrer medialen Träger (bis hin zur Mode) wird durchaus ein bestimmtes Wissen formiert, dass bis dato vielleicht eben kaum zu offenbaren, geschweige denn zu ästhetisieren gewesen ist. Wie diese Wissensformationen und -ästhetiken der Historie wie auch der Historiographie selbst aussehen können, wird anhand von Baader-Bildern in Beispielen aus Roman und Film in den folgenden zwei Kapiteln untersucht. 4.3.1 Die zerstörte Kamera und das Spektakel. Rosenfest, 2003 Die von den Schüssen aufgewachten Nachbarn aus dem Hofeckweg denken an Filmaufnahmen. Während des Schusswechsels steht Andreas Baader gebückt mit Kippe im Mund, lächelnd und mit Ray-Ban-Sonnenbrille vor der italienischen Nobelkarosse, beobachtet die Nachbarin Frau Mauerkirchner. Diese wundert sich über so viel Coolness angesichts umherfliegender Kugeln. Baader ist offenbar bereit, den Märtyrertod zu sterben – in der Autogarage! KLAUS STERN: DAS LEBEN DES ANDREAS BAADER. EIN ROADMOVIE, 2005.
Der eine Andreas Baader befand sich am 2. Juni 1967 in der Jugendhaftanstalt Traunstein: „Während der politisch heißen Wochen und Monate vor und nach dem Schah-Besuch war Andreas Baader nicht in Berlin.“99 Das ist der Andreas Baader der Biographien, der Lexika, der faktensetzenden Geschichtsschreibungen. Ein anderer Andreas Baader stand an diesem Freitag in Berlin-Charlottenburg und wartete auf den Schah Reza Pahlavi: „Es war der 2. Juni. In der Deutschen Oper wurde Mozart gegeben. Eine Handkamera fuhr durch die Menge der schreienden Studenten. Sie hoben die Fäuste und skandierten Parolen in den lauen Frühsommer des Jahres 1967. Andreas Baader langweilte sich.“100 Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Rosenfest von Leander Scholz, erstmalig veröffentlicht im Jahr 2001. Er erzählt die Geschichte der „Baader-Bande“, er erzählt von „Andreas“, „Gudrun“, „Georg“ und seiner Schwester „Peggy“. 99 S. Aust: BMK, S. 55. Vergleiche auch K. Stern: Andreas Baader, S. 80. 100 Scholz, Leander: Rosenfest. München: DTV 2003, S. 7.
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Historische Referenten für eine Vielzahl der Namen, Orte, Daten, Begebenheiten des Romans können an vielen Stellen unmissverständlich ausgemacht und häufig zumindest erahnt werden: sie sind die „Baader-Meinhof-Bande“, ihre prominenten Mitglieder und ihre Aktionen der Jahre zwischen Kaufhausbrandstiftung 1968 und Verhaftung 1972. Das Wissen um die Einträge in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte rund um die Stichworte Studentenbewegung und Rote Armee Fraktion (und die Offenbarung eventueller Bedingungsverhältnisse zwischen beiden) drängt sich als Folie beim Lesen des Romans vor das Erzählte. So aufgefasst wird in Scholz’ Roman diese überlieferte historische Faktenlage neu arrangiert und umgestaltet, fiktionalisiert, sie wird in Manier von „Popliteratur“ als ein Hybrid aus Märchen, Abenteuergeschichte und Roadmovie erzählt. Der Autor Scholz, Jahrgang 1969, ‚ermächtigt‘ sich der Geschichte, so wie sich viele Romanschreiber zuvor den vorgefundenen Geschichtserzählungen gewidmet und sich an ihnen ab- oder sie weitergearbeitet haben. Und in beinahe ebensolcher Tradition wurden nach dem Erscheinen von Rosenfest die Fragen in einer ausufernden Feuilleton-Debatten wiederholt: „Kann man das? Darf man das? Was soll das?“101 Im Folgenden wird eine andere Folie einer Romanlektüre vorgelegt. Diese basiert auf einer Beobachtung: Schon im ersten Romankapitel, in der Eröffnungsszene, ist eine 8-mm-Kamera, die der permanent filmende Andreas bei sich trägt, das zentrale Motiv – es ließe sich sogar von einem weiteren und ergänzendem Hauptakteur sprechen. Ausgangspunkt für einen Weg in den Terrorismus (der als solcher im Roman nicht benannt wird) ist also nicht eine wie auch immer geartete linksradikale Politisierung aus dem studentischen Umfeld heraus, sondern zunächst nur der Umstand, ein Teilnehmer, ein Zuschauer, ein Aufzeichner und ein Darsteller zugleich bei einem großen Krawallspektakel zu sein. Immer präsent und beteiligt bei den darauf folgenden Ereignissen der Romanhandlung sind neben Zeitungsphotos und -artikeln, neben den selbst gemachten Schmalfilmversuchen insbesondere Fernsehaufnahmen und Kinobilder. Diese tauchen als konkrete Gegenstände innerhalb der erzählten Welt auf, sie sind darüber hinaus sowohl im Denken der Personen verhaftete als auch in sprachlicher Gestaltung ebenso rekurrente wie konstante Elemente. So kann als ein Beispiel das Ende des Romans gelesen werden: In der Schlussszene des letz101 Sandra Beck sammelt die Zuschreibungen „Pop“ für Darstellungen der RAF zu Beginn des 21. Jahrhunderts und insbesondere die Diskussion um den Roman „Rosenfest“ und die „Geschichts-Ermächtigung“ des Autors Leander Scholz (Beck, Sandra: „Leander Scholz‘ ‚Rosenfest‘ (2001) – Der nachgeborene Autor und die Geschichtsbemächtigung“, in N. Ächtler/C. Gansel, Ikonographie des Terrors? S. 269294).
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ten Kapitels steht „Gudrun“ in einer Boutique, kurz vor ihrer Verhaftung. Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits das letzte noch freie Bandenmitglied: „Sie stellt sich vor, wie es ausgesehen hätte, wenn sie in dieser Bluse mit den anderen verhaftet worden wäre. Wie sie jetzt auftauchen würde in den Fernsehbildern der Sondersendung, mit nach hinten gefesselten Armen, selbstbewusst in die Kamera schauend wie eine moderne junge Frau.“102
Der Erzählverlauf entfaltet sich dabei nach einem Entwicklungsverlauf: Die Protagonisten wollen zu Beginn zunächst selbst Produzenten bewegter Bilder sein. Sie sind dabei schon in der Imitation ihres Habitus‘ Kinobildern verhaftet, denen sich sehr rasch und schnell steigernd ein Denken als (Film-)Bild, als Zeitungsschlagzeile, als Fernsehaufnahme aufdrängt. Im Fortlauf der Geschichte entpuppen sich die menschlichen Hauptakteure nun zunehmend als von Medien und Medieneffekten nicht zu separierende Darsteller in einer ebenso medial konstituierten Welt. Und darüber hinaus bedient sich die gesamte sprachliche Darstellung eines Repertoires von Momentaufnahmen, Bildausschnitten, Fokussierungen etc. So baut der Roman seine visuellen Szenarien auf. Damit findet er als literarischer Text einen Einsatz, dem nicht allein popkulturelle Anordnungsmuster als Selbstzweck unterstehen, und sondern der Roman nimmt durch seine Verfahren ein bestimmtes Medienkonzept auf und schreibt es fort. Ein solches geschildertes Erzählverfahren mag als literarisches Erzählprinzip, und als solches in Anwendung auf eine Reihe historischer Ereignisse, zunächst weder neu noch besonders gewagt sein. Bezogen auf das hier vorliegende Sujet, auf die Entstehungsmomente und Emergenzorte des RAF-Terrorismus, liest sich durch diese Anordnung des Erzählten eine spezielle Qualität heraus: Gerade der Medien-Begriff mit seinem Bezug auf den Diskurs RAF-Terrorismus muss als historischer und zu historisierender gelesen werden. Der Roman, der sich so vehement einer Treue zu den historiographischen Fakten und quellenbasierten Berichten verweigert, 103 offenbart auf einer anderen 102 L. Scholz: Rosenfest, S. 245. 103 Von gemeinsamen Taten, von Szenarien und Szenen, wie sie uns von Personen aus der bundesrepublikanischen Geschichte mit den gleichen Namen wie die Romanhelden überliefert sind, hat beispielsweise die Fahrt nach Frankfurt und die Kaufhausbrandstiftung Eingang in die Romanhandlung gefunden. Der folgende Frankreichaufenthalt ist ebenso belegt wie das dortige Wohnen bei Régis Debray. Doch im Roman wird während dieser Zeit (1969) das Attentat auf Rudi Dutschke verübt (11.04.68) und ein „Bullenmord“ geschildert, der sehr viel Ähnlichkeit mit der Ermordung von Norbert Schmid bei der Verhaftung von Margrit Schiller hat
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Ebene nicht ein historisches Erzählen. Die überlieferte Mediennutzung des terroristischen Personals zu rekonstruieren ist dabei nicht das Ziel. Eher ist der Roman Rosenfest als eine historische Beobachtung zweiter Ordnung zu lesen, indem er weniger von Medienvorstellungen in Stadtguerilla- und Terrorismusdiskursen ausgeht (wie im ersten Kapitel dieser Arbeit vorgestellt) und vielmehr von einem sich ex post offenbarendem Konzept rund um das Mediale erzählt als dem apriori dieser Art von Terrorismus. Was für ein Medienbegriff kann das sein? Zunächst sind solche Diskurse vom Autor Scholz nicht einfach in einer Romanhandlung aufgelistet worden. Wie er sie also erzählt und was er gestaltet, ob er mit seinem Roman eine eigene Verhandlung dieses Medialen für die RAF schreibt, soll in einem weiteren Schritt rekonstruiert werden. Letztlich stellt sich die Frage, ob dieser eigene Eingriff selbst wiederum ein Eingriff in ein Denken und Darstellen der RAF-Historie geworden ist. Wenn der Roman also nicht die, sondern eine, gar eine andere Geschichte der Entstehung des linksradikalen Terrorismus und der Ereignisse rund um sein schillerndsten Pärchens erzählt, dann behandelt er ein weiteres Mal diese Ikonen. Rosenfest beginnt mit Bildern, mit Bildgeschichte und Geschichtsbild. Entgegen der historischen Situation am 2. Juni 1967, in die Filme wie DER POLIZEISTAATSBESUCH von Roman Brodmann Einsicht gewähren, ist im Roman dafür allein und ausschließlich Baaders Kamera zugegen, „es war niemand da, keine Fernsehkameras, keine Öffentlichkeit, die das Verhältnis von politischem Zweck und polizeilichen Mitteln zum kritischen Thema hätte machen können. Kein gutpositioniertes Kamerateam, das die hilflosen Augen der braven Revoluzzer hätte bündeln können.“104
Und nicht allein die Fernsehkameras sind nicht zugegen. Die 8-mm-Kamera von Andreas wird noch im Verlauf des 2. Juni zerstört in der Auseinandersetzung der Demonstranten mit der Polizei. „Der kostbare einzige Zeuge wurde direkt vor den Augen von Andreas und Gudrun zertreten. Das schwarze Plastik zerbarst in Splitter, als sollte nichts mehr, nicht ein einziges Bauteil daran erinnern, daß die Welt auch anders hätte gestaltet sein können. Und je deutlicher wurde, daß die vielen Schuhsohlen keines der Super-8-Bilder übriglassen würden,
(15.07.71). Andererseits ist der Gefängnisaufenthalt der Kaufhausbrandstifter 1968/69 außen vor gelassen. Auch viele entscheidende historische Personen wie Ulrike Meinhof bleiben unerwähnt etc. 104 L. Scholz: Rosenfest, S. 13.
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desto sicherer wusste Andreas, daß sein Gedächtnis nun die Stelle des jetzt blinden und toten Kastens treten mußte.“105
Von Subversion durch Medieneinsatz beispielsweise im Enzensberger’schen Sinne wird nach diesem Auftakt im Roman nicht weiter erzählt. Die Möglichkeit, Produzent zu sein, wird dem Protagonisten genommen, aber ein Einsatz im Sinne des „Baukasten einer Theorie der Medien“ scheint von ihm auch gar nicht intendiert zu sein. Allein an einer Stelle bleibt rudimentär etwas davon übrig: „Peter“ schreibt an „Andreas“ in Rom über die Bilder der Verhaftung einer Frau nach einem „Bullenmord“: „War alles auch noch im Fernsehen und hat ordentliche Propagandabilder gegeben. Also, um es kurz zu machen, wir planen was, damit es ordentlich knallt, in Hamburg. Ihr wißt schon, worum es geht. Staatsfeind Nr. 1. Macht ihr mit?“106 Dieser „Peter“ entpuppt sich als Polizeispitzel, was diesem verpuffenden Propagandavorschlag allein eine ironische Note gibt. Der stark explizierte kommunikative Impetus von Medien spielt für sämtliche Akteure in Rosenfest keine Rolle. Er taucht am Anfang auf, ähnlich wie im Gründungsmoment der RAF bei der Baader-Befreiung, und verkümmert dann sehr rasch. Mit dem historischen Tod von Andreas Baader in seiner Stammheimer Zelle starben auch die genannten linken Avantgarde-Vorstellungen in dem Vordenken von politisch-revolutionären Medientheorien in Bezug auf kommunikative Spielräume von Emanzipation und Unabhängigkeit. In der französischen Tageszeitung Libération vom 4. November beziehungsweise vom 5./6. November 1977 schrieb Jean Baudrillard analysierend in zwei Texten mit den Überschriften „Mogadischu“ und „Stammheim“ über die Geschehnisse im rechtsrheinischen Nachbarland – eine später übernommene Arbeit für sein Requiem auf die Medien. Darin reflektiert er das Mediale des RAF-Terrorismus zwei Wochen nach dem berühmten 18. Oktober: „Die Medien sind terroristisch auf ihre Weise: pausenlos sind sie tätig, um (rechten) Sinn, bon sens, zu produzieren, den sie gleichzeitig überall wieder zerstören, indem sie skrupellose Faszination erzeugen, Lähmung des Sinns also, denn allein das Scenarion zählt. […] Allein die Radikalität des Spektakels und die Brutalität des Scenarios sind original und nicht weiter zu reduzieren. Das Spektakel des Terrorismus erzwingt den Terrorismus des Spektakels. […] Der Terrorismus an sich ist nicht gewaltsam; wahrhaft gewaltsam ist erst das von ihm entfesselte Spektakel. Das ist unser ureigenstes Theater der Grausamkeit... […] Gleichzeitig ist es ein Simulationsmodell, ein blinkendes Mikromodell, bestehend aus 105 Ebd., S. 16. 106 Ebd., S. 209.
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einem minimalen tatsächlichen Ereignis und einem ein maximales Echo erzeugenden Hallraum, wie ein Kristall in instabiler Lösung, wie eine Versuchsmatrix, eine unlösbare Gleichung, die zwar sämtliche Variablen, nie jedoch ein reales Ereignis erscheinen läßt: eine kondensierte Erzählung, ein Flash, ein Scenario, jedem sogenannten tatsächlichen Ereignis das Spektakuläre in Reinform gegenüberstellend – und ein Ritual, also das, was von allen nur möglichen Ereignissen dem politischen und historischen Ordnungsmodell die reinste symbolische Form der Herausforderung entgegenstellt.“107
Wenn der Roman Rosenfest mit seiner Arbeit am Sujet „Baader und Ensslin“ so etwas wie ein Programm besäße, wenn man ihn nicht nur als Erzählung, sondern implizit auch als Theorie liest dessen, was er erzählt und wie er das Erzählte gestaltet, so bietet er in Engführung mit Baudrillards Worten „eine kondensierte Erzählung, ein Flash, ein Scenario, jedem so genannten tatsächlichen Ereignis das Spektakuläre in Reinform gegenüberstellend“. Als Roman setzt er die „Versuchsmatrix“ um und erforscht den „Hallraum“. Innerhalb der Erzählung ist so das Mediale trotz der Abwesenheit von Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien omnipräsent. In einer regelrecht umkehrenden Abwandlung der Enzensberger-Worte aus dem „Baukasten“ ist von ihnen zu sagen: Es sind von Beginn an nicht ausschließlich die menschlichen Akteure, die den Medien etwas aufzwingen, sondern es sind in gleichem Maße die Medien, die den menschlichen Akteur in seinem Handeln beeinflussen. Die Medien können dieser kleinen Gruppe die Gesetze ihres Handelns aufzwingen. Die Thesen Baudrillards werden von Scholz also rückdatiert, sie gelten, auch wenn sie noch nicht ausgesprochen wurden, bereits für die Geschehnisse im Sommer 1967 – und Baader und Ensslin bewegen sich bereits zu dieser Zeit in einer demgemäß zu denkenden Welt. Dies setzt sich in der Romanerzählung fort bis zu ihrem Höhepunkt, einem spektakulären Sprengungsversuch des Springerhochhauses im zehnten Kapitel. Die Zerstörung, die Gewalt, die brutale Seite des terroristischen Anschlags gerinnt hier sprachlich zu einer Brutalität des Medienspektakels im Sinne des französischen Medientheoretikers. Gewalt des Wortes und Gewalt gegen Körper sind nicht mehr zu trennen: „In diesem Moment explodiert der Bildaufbau, Schlagzeilen, riesige Wortklötze fallen herunter auf die gaffende Menge, die schnell auseinanderströmt. Manche werden von abgebrochenen Titelzeilen verletzt. Ein roter Balken durchstößt lautlos die Schädeldecke eines alten Mannes, pfählt seinen Körper; schiebt sich fast widerstandslos durch den Hosenbo-
107 Zitiert nach Baudrillard, Jean: „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“, in: Ders., Requiem, S. 7-17, S. 8/9.
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den wieder hinaus und kommt erst mit einem dumpfen Geräusch auf dem Asphalt zum Stehen.“108
So wurden also nicht nur in, sondern ebenso mit dem Roman im Jahr 2001 auch vermeintlich geschlossene Diskurse nach der RAF-Auflösung und der staatstragenden Geschichtsauflösung von Heinrich Breloers TODESSPIEL (1997) ‚aufgesprengt‘ durch verwirrende Momente in Form von Um- und Dekodierungen – und dadurch rückgefragt. Anstelle des ‚Erinnerns‘ der immer gleichen Bilder, Phrasen, ideologischen und mentalitätsgeschichtlichen Ursprungstexte werden diese in einer Retrospektion ihrer Medialität arrangiert. Wie im Roman die Figur „Andreas“ sein Gedächtnis an Stelle des zerstörten Kamerakastens setzten muss und trotzdem oder gerade aus diesem Grund nichts anderes als Quasi-FilmBilder abspeichert, die selbst Medienbilder sind, und mediale Effekte, auch wenn sie ‚unvermittelt‘ wahrgenommen scheinen. Ausgedehnt mündet dies in der überspitzten These: Die Medien zwangen auch dem Roman die Gesetze seines Handelns auf. Und damit wurde dieser Roman wiederum ein Wegbereiter für eine Veränderung der historiographischen Praxis, er wurde also selbst in bestimmtem Maße historischer Akteur. Vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung an wird bis heute die nebulöse Gründungsphase der RAF immer mehr als eine Abfolge von inszenierten Filmbildern gedacht und das aufgefundene Material in einem solchen Paradigma aufgelöst. In diesem Punkt seiner Analyse durch den Baukasten sollte Enzensberger also doch Recht behalten: Die jungen Leute „gehen ins Kino zum Western oder zu Godard“109. Und sie sehen die Rote Armee Fraktion.
108 L. Scholz: Rosenfest, S. 239. 109 H. M. Enzensberger: Baukasten, S. 165.
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4.3.2 Baader, Belmondo, Brando. Eine Mediengenealogie ewig junger RAF-Terroristen Hanna: Die RAF ist eine dankbare Projektionsfläche geworden. Lutz: Was ist denn Marlon Brando in Außer Atem anderes als Andreas Baader? Hanna: Belmondo! Lutz: Okay, okay, Belmondo! Oder Bonny and Clyde, Viva Maria. Kraushaar kann doch zum Frisör gehen, aber nicht mehr ins Kino. Überall sieht er nur Baader! Die unverstandenen Helden sind überall. HANNA MITTELSTÄDT UND LUTZ SCHULENBURG IM GESPRÄCH, 2003.
„Terrorism is what the bad guys do“110. Dieses über dreißig Jahre alte Zitat des sogenannten „Terrorismus-Experten“ Brian Michael Jenkins taucht immer wieder an prominenter Stelle in den Diskussionen um Terrorismusdefinitionen auf111. Doch die Aussage, dass Terrorismus das sei, was die bösen Jungs täten, ist mehr als nur die Relativierung einer oft mörderischen Handlung durch unterschiedliche moralische Beobachterstandpunkte. In einer Übertragung ins Deutsche ließe sich die Zuschreibung „Terrorismus“ demnach sowohl mit dem eher infantilisierten „bösen Buben“ als auch mit dem eher sexualisierten „üblen Macker“ fassen. Die „bad guys“ sind als Grundfigur im Denken dessen, was der Terrorist ist oder sein kann, bis in die Gegenwart virulent. Die moralische Demarkationslinie läuft durch „die Jungs“ als dem machohaften Grundgerüst der Personalisierung des Gegners. Irritiert, unterlaufen und ausgehebelt wurde und wird das Freund/Feind-Schema des „Bad guys“ entlang einer vermeintlich so prägnanten Geschlecht-zuschreibenden ‚Achse des Bösen‘ schon seit Beginn des modernen Terrorismus an. Aus Brian Jenkins kurzem Statement ist aber auch zu entnehmen, dass „der Terrorist“ an sich keine ontologische Analysedimension aufweist: „Der Gebrauch des Begriffs impliziert ein moralisches Urteil; und wenn es einer Gruppierung/Partei gelingt, ihren Gegnern das Label ‚Terrorist‘ anzuheften, dann hat sie es indi-
110 Jenkins, Brian Michael: International Terrorism. The Other World War. A Project Air Force Report prepared for the United States Air Force. Santa Monica: Rand library collection 1985, S. 3. 111 Beispielsweise bei A. Elter: Propaganda der Tat, S. 19.
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rekt geschafft, andere von ihrem moralischen Standpunkt zu überzeugen. Terrorismus ist das, was die bösen Jungs machen.“112
Dem Terrorismus kann demnach so begegnet werden, dass er als ein Zuschreibungs- und Darstellungsmuster begriffen wird. Einhergehend damit erscheint „der Terrorist“ als eine Figur in einem Narrativ, angelehnt an „den Bösewicht“, „den Schurken“. Nun sollen im Folgenden nicht Art und Weise von moralischen Standpunkten oder Machtkämpfe um ethische Urteile im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, sondern die medialen Operationen des besagten „Anheftens“. Gegenstand der Betrachtung sind dabei aktuelle historiographische Aufarbeitungen der Entstehung der RAF Ende der 1960er Jahre und damit besagte gegenwärtige Figurationen der Terroristen der „Ersten Generation“, allen voran Andreas Baader. Jeweils historisch zu verortenden Terroristenfiguren liegt ein entsprechender Kriminellentypus zugrunde. Was dabei ein „böser Bube“ ist, wird gespeist aus Heldenerzählungen, die wiederum ebenfalls historisch wandelbar sind. Diese Figuration unterliegt in Erscheinung und ‚Materialität‘ dem Wandel medialer Dispositive. Beispielsweise im Falle der jungen russischen Anarchisten waren diese Figurationen zunächst literarische und theatrale Entwürfe. So standen laut Überlieferungen bei den Revolutionären im Zarenreich beispielsweise das Personal aus Friedrich Schillers Werken hoch im Kurs113, vor allem „Karl Moor“ aus Die Räuber und „Wilhelm Tell“. Implementierungen dieser Art lassen sich weiterverfolgen bis in das 20. Jahrhundert und darüber hinaus. Im Zuge der Historisierung der RAF nach ihrer
112 B. Jenkins: Terrorism, S. 3. 113 Beide sind prominente Stellvertreterfiguren für einen vermeintlich spezifisch russischen Revolutionsanspruch. „Der Räuber (schreibt Bakunin) sei der einzige ernsthafte Revolutionär in Rußland, ein Revolutionär ohne Phraseologie, ohne Buchrhetorik, unversöhnlich und unermüdlich, ein Revolutionär der Tat. Traditionell war der Räuber ein Held, ein Retter des Volkes, der Staatsfeind par excellence. […] Darauf beruht Bakunins Schlußfolgerung, daß eine echte Volksrevolution nur entstehen könne, wenn ein Bauernaufstand sich mit der Rebellion der Räuber zusammentreffe.“ (W. Laqueur: Terrorismus, S. 28) Die literarische Vorlage konnte allerdings genauso gut als pejorativer Vorwurf dienen, wenn beispielsweise der junge QuasiTerrorist Saitschnevski in den Vorstadien des russischen anarchistischen Terrorismus der 1870er Jahre von liberalen Kritikern zu hören bekam, seine Aufrufe seien eine Mischung aus „unverdautem Schiller (Karl Moor), Baboeuf, Blanqui und Feuerbach […].“ (Ebd., S. 30)
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Auflösung 1998 beleuchtete beispielsweise Wolfgang Kraushaar114 die im Nachleben berühmten und immer wieder zitierten Codenamen der Stammheimer Inhaftierten, mit denen sie ihre Orientierung an literarischen Charakteren offenbarten. Ganz unterschiedliche literarische Figuren aus Herman Melvilles Roman Moby Dick scheinen zwar nicht deckungsgleiche Identifikation, aber doch immerhin Parallelen zwischen literarischem und terroristischem Charakter einzugestehen. Die Narrative von den Entstehungszusammenhängen der terroristischen Vereinigung um 1970 haben jedoch eine andere Bedeutung für die Figuration. Bei ihnen sind weder die überlieferten Sprechakte noch die Namenslöschung und Eigenermächtigung durch Namensgebung auf Basis eines Transfers von Textsorten zu beobachten – wie von Walfängerroman zu Kassiberkauderwelsch beim genannten Beispiel. Vielmehr wird zunehmend deutlicher, wie sich eine Folie der Erinnerung aus einem anderen Medium, nämlich dem (Kino-)Film, in die Geschichtswahrnehmung überträgt und damit ein bestimmter ‚Filmheld‘ in vielerlei Facetten wirkmächtig wird für das, was als Terrorist rückbeschrieben wird. Es gibt bei der Lektüre von RAF-Geschichte nach der Jahrtausendwende ein zunächst erstaunliches Moment: Die Ursprünglichkeit der terroristischen Gewalt wird als eine Film-Affektion erzählt, zeitlich noch vor den mittelbaren und unmittelbaren Erfahrungen der studentischen Linken um 1968 angesiedelt. Dass jenseits des Einflussbereiches von anti-amerikanischen Guerillaphantasien und Kommune I-Lebensentwürfen eine andersgeartete Spurenforschung mit zunehmend zeitlichem Abstand evident wird, ist im Zuge der sowohl populärkulturellen als auch wissenschaftlichen Historisierung bereits mehrfach betont worden. Wolfgang Kraushaar schrieb über die Wurzeln der bundesrepublikanischen Stadtguerilla: „Wer also die Wurzeln des bewaffneten Kampfes weiter zurückverfolgen will, der kommt nicht umhin, einer Spur nachzugehen, die in jene avantgardistische Gruppierung führt, die aus dem Traditionsstrom der europäischen Postavantgarde, genauer dem Situationismus, hervorgegangen ist. Bei allen Anstrengungen, die bislang unternommen worden sind, um die Entstehung der RAF zu ergründen, ist jedenfalls die Tatsache, dass Theorie und Praxis der Stadtguerilla in Deutschland zunächst einmal auf Dutschke und Kunzelmann und damit auf zwei Protagonisten der Subversiven Aktion und die vielleicht wichtigsten Akteure der 68er-Bewegung, soweit sie sich jedenfalls als Antiautoritäre begriffen, zurückzuführen sind, bisher sträflich vernachlässigt worden.“ 115
114 W. Kraushaar: Mythos RAF. 115 W. Kraushaar: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf.
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Die Zuspitzung auf diese zwei Führungspersonen soll an dieser Stelle nicht weiter problematisiert werden. Hier wird vielmehr die Fährte dafür gelegt, eine andere ‚Urszene‘ als Straßenprotest, Universitätsbelagerung oder SDS-Diskussionsrunde zu finden. Im Zusammenhang von anarchistischen Tendenzen im SDS und dem Verweis auf das berühmte „Organisationsreferat“116 von Dutschke und Krahl wird eine Anekdote angeführt. Es ist vermeintlich ‚nur‘ ein Kinobesuch von einer Studentengruppe. Ulrich Enzensberger beispielsweise hat diese Episode in seinen Erinnerungen an die Kommune I festgehalten und präsentiert sie selbst aus zweiter Hand, nämlich durch die Sichtweise eines der berüchtigten Protagonisten: „Kunzelmann erinnert sich: ‚Im Januar oder Februar 1966 hat Ernst Bloch im Audimax der FU – ich war kurz nach der illegalen Plakataktion zwei Wochen in Berlin – einen Vortrag gehalten, der uns alle aufgewühlt hat … Am selben Abend sind wir in den Zoo-Palast gegangen, in den Film ‚Viva Maria‘, der seit zwei Tagen lief … Kino war für Rudi etwas Lustbetontes, und er war ein Asket. Wir haben ihn aber zum Glück überreden können, mitzugehen. Hameister, Dorothea Ridder, Ulrich Enzensberger, ich weiß nicht, ob schon Rainer Langhans und Fritz Teufel dabei waren … Wir sind wie betäubt aus dem Film herausgekommen … es gibt solche Erlebnisse, wo aufgrund eines gemeinsamen Erlebnisses jeder dieselbe Erleuchtung hat.‘ Der historische Kostümschinken stammte von Louis Malle. Jeanne Moreau spielte eine französische Marxistin, Brigitte Bardot eine irische Anarchistin. Die beiden tingeln mit einem Zirkus durch Lateinamerika, geraten in die mexikanische Revolution, führen die aufständischen Guerilleros zum Sieg und versetzen, nach Paris zurückgekehrt, das dortige Publikum in Ekstase. Auf der Stelle wurde im ‚Aschinger‘ die Gruppe ‚Viva Maria‘ gegründet, die nach dem Motto, Revolution muß Spaß machen, sich auch als Provokationszusammenhang gegenüber Krawattenmarxisten und Gewerkschaftsberatern im Berliner SDS verstand.‘ Dutschke sah sich den Streifen mindestens viermal an. Kunzelmann: ‚Der Film war für uns eine Bestätigung, dass wir in jeder Weise die Guerilla-Bewegung in den Ländern der Dritten Welt unterstützen müssen mit unseren Möglichkeiten und Mitteln von den Metropolen aus.‘“117
Schon in dieser Schilderung bekommt das Kino die Zuschreibung einer bestimmten Produktivkraft. Der Kinobesuch wird dargestellt als Überwindungsmoment, als eigentlich wesensfremder Vorgang für einen Teil der studentischen 116 Vgl. Kapitel 2.2.2 Stadtguerilla und Medium II: Irreguläre Aktionen und sinnliches Bewusstsein. 117 U. Enzensberger: Die Jahre der Kommune I, S. 60.
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Intellektuellen, vor allem in der Personifizierung durch Rudi Dutschke. Das Anschauen eines bestimmten Films ist eine Verführungsgeschichte, rückgedeutet als Lustmoment des asketischen Geistesmenschen. Das fremde Medium kann seine Verführungsmacht auch ausspielen. Den wortfixierten Intellektuellen „betäubt“ das Erlebnis der audiovisuellen Bewegtbilder auf eine positive Art – und lässt die Zuschauer „erleuchten“ in einer Menage aus Körperaffekt und Verstandesleistung. Dem folgt als Tat die Gründung der Gruppe, aus der Weiteres, Radikaleres entspringen sollte. Demnach in ihrer Wirkmacht der Lektüre von Guerillatexten von Guevara bis Fanon also zeitlich vorgeordnet, wird eine Filmsichtung angeführt, deren Wirkungsgrad den Vortrag von Ernst Bloch noch übersteigt. In der historischwissenschaftlichen Historiographie einer terroraffinen Gewaltbereitschaft der Studentenbewegung lesen sich der Stellenwert und die Ausweitung eben dieser Anekdote wie folgt: „Wie sehr sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), von dem sich am 6. November 1961 die SPD getrennt und eine gleichzeitige Mitgliedschaft im SDS und der SPD untersagt hatte, immer mehr radikalisierte, sieht man gerade am Beispiel der so genannten ‚Viva-Maria-Gruppe‘, deren SDS-Mitglieder eine ‚Fraktion‘ innerhalb dieses Studentenverbandes war und aus Dutschke, Rabehl und anderen bestand. Sie ist benannt nach einem Filmspektakel von Louis Malle, in dem Brigitte Bardot und Jean Moreau Anarchismus und Marxismus symbolisierten, die sich zusammenfanden und eine Einheit bildeten und eine siegreiche Revolution in Gang setzten. Inspiriert war diese Gruppe, die sich am Kochelsee in Oberbayern eingefunden hatte, vor allem von Ideen des Anarchismus. Gastgeber war das SDS-Mitglied Lothar Menne, Sohn eines Textilfabrikanten. Der sollte im Herbst 1966 nach Guatemala einreisen, wo er sich zeitweise den Fuerzas Armadas Rebeldes (FAR) anschloss. Am Kochelsee waren unter anderem versammelt: die späteren Kommune I-Mitglieder Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann, sowie das spätere RAF-Mitglied Jan Carl Raspe, ebenso Bernd Rabehl und Rudi Dutschke. Kunzelmann sollte sich bereits im Herbst 1969 von den Palästinensern militärisch ausbilden lassen und dann in den Untergrund abtauchen. Die Gruppe befasste sich insbesondere mit Fragen der Gründung einer Kommune. Die so genannte ‚Viva-Maria-Gruppe‘ löste im Februar 1966 innerhalb des Berliner SDS eine intensive Auseinandersetzung über die Gewaltfrage aus.“118
118 Langguth, Gerd: „Rudi Dutschke und das Konzept Stadtguerilla“, in: KonradAdenauer-Stiftung e.V. (Hg.): 40 Jahr 1968. Neue und alte Mythen – Eine Streitschrift. Freiburg: Herder 2008. S. 48-64. S. 51/52.
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Der Erfahrung des Kinobesuchs, der Wahrnehmung der bewegten Bilder folgt eine Affektion und eine Begeisterung, die als ein wichtiges, wenn nicht gar vielleicht entscheidendes Moment für die Auswüchse in spätere terroristische Gewalteskalation erzählt werden. Es wären nicht reale Personen der Gegenwart wie Che Guevara oder Mao Zedong, die den Einstieg in anarchistisch-terroristische Gewaltaktionen ebnen, es wären ebenso wenig deren Texte oder deren photographische und graphisch stilisierte Konterfeis, wie sie in den Jahren um 1968 omnipräsent waren. Es sollten zwei fiktive historische Frauen sein, die in bewegten Bildern den Initiationszeitpunkt der radikalen Gewalt markieren. Inwiefern jedoch das Personal des Films oder eher die gezeigten Aktionen und Umstände faszinieren und letztlich zur Nachahmung anregend wirkten, bleibt wohlweißlich offen. Festzuhalten ist aber zumindest, dass durch diesen Erzählmoment eine Urszene aufgemacht wird, die tatsächlich eine Szene wäre, nämlich eine Filmszene. Neben „Frau“ als Grund des Übels (und den in diesem Fall verbundenen Adjektiven, die nicht selten unter Generalverdacht standen: jung, wild, marxistisch, ironisch, gewaltbereit, geschauspielert) ist hiermit wiederholt der Verdachtsmoment in der Welt: Es war keine unmittelbare Erfahrung wie die Gewalt des Straßenprotestes, die als Auslösemoment fungiert. Es ist ausgerechnet ein Kinostreifen, jenes emblematische Medium der vermeintlich künstlichen, nicht-authentischen Erfahrung, durch das die terroristische Radikalität via passive Betrachtung bereitet wird. Damit verbunden wäre so etwas wie der Verdacht des vermeintlich nicht-rationalen Übertragungsweges, unter dem das Bildgebungsverfahren „Film“ seit jeher steht – eine Verzauberung. Andererseits wiederholt sich hier die Geschichte der terroristischen Figuration zunächst insofern, als dass Helden, oder in diesem Fall Heldinnen, aus einer fiktionalisierten Überlieferung bezogen werden. Jedoch handelt es sich bei den Protagonistinnen von VIVA MARIA keinesfalls um Täterinnen mit ernstem Gemüt, Freiheitskämpferattitüde und ideologisch fundiertem Märtyrerimage, sondern um ein sexuell aufgeladenes Revolutionsduo, eine Spaßguerilla avant la lettre. Wesentlich deutlicher ist die mediale Heldenkonfiguration in einem anderen Beispiel konturiert. Vom Zeitzeugen Thorwald Proll wird für den Namensgeber der „Baader-Meinhof-Gruppe“ das Kino in ähnlicher Weise als ein Inspirationserlebnis um 1966 erinnert. Er betont für diese Zeit den Einfluss von Andreas Baaders Lieblingsfilm, LA BATTAGLIA DI ALGERI von Gillo Pontecorvo aus dem Jahr 1966:
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„Geheimorganisationen, die Untergrundkämpfer in Algerien zum Beispiel, das hat ihn schon früher fasziniert. In diesem Bereich bewegten sich die Gedanken dann vielleicht auf etwas Unbekanntes zu. Da spielte auch der Film eine große Rolle, ‚Schlacht um Algier‘. Die bewaffnete Politik, das hat ihn fasziniert, Vorhut zu sein für etwas, was noch kommt, kommen soll.“119
Auch in einer solchen Analogie, in diesem Fall zwischen der filmischen Inszenierung des bewaffneten Widerstandes der algerischen FLN gegen die französischen Besatzer im Jahr 1957 in den verwinkelten Gassen von Algiers Kasbah und der selbsternannten Avantgarde der Stadtguerilla in den westdeutschen Metropolen, erscheint hauptsächlich das Vorbild eines revolutionären Aufstandes unter Waffen das ausschlaggebende Moment zu sein. Weniger oder erst nachgeordnet ist eine Imitation Baaders vom charismatischen Anführers Ali La Pointe gemeint. Jedoch wird in Bezug auf ein filmisches Ideal eine andere Proliferation des Vorlaufs jener besagten Brandstifter-Ur-Aktion deutlich – mit einer ähnlichen, aber doch entscheidend variierenden Erinnerung. Die Künstlerin Margita Haberland, damals eine Münchner Freundin von Gudrun Ensslin, erinnerte sich in der Dokumentation Verschwende Deine Jugend daran, wie „unangenehm drauf“ Ensslin, Baader und Proll bei ihrem Besuch in München einen Tag vor der Brandstiftung gewesen sind: „Die haben sich auf den Godard-Film mit Belmondo bezogen – von der Romantik her, die das Ganze hat: ‚Elf Uhr nachts – Pierrot le fou‘. Der einsame Held bricht aus der bürgerlichen Gesellschaft aus. Weg ohne Wiederkehr. Ganz naiv. Am Abend, bevor sie von München nach Frankfurt fuhren, hat Andreas Baader zu mir gesagt: ‚Pierrot le fou. Ha! Das machen wir selber‘. So ungefähr: Denen zeigen wir’s.“120
Eine Deutung bietet die Erinnernde also gleich mit. Der Ursprung im Naiven und Romantischen wird als das entscheidende Element des Nachahmungsimpulses genannt. Und erneut ist es eine Übertragung von Leinwandgeschehen auf das eigene Handeln, der Versuch, das vielgerühmte Primat der Praxis aus dem Kinosessel in die Wirklichkeit zu holen.
119 K. Stern: Andreas Baader, S. 104. Zu den Analogien des Films und dem späteren Lebensweg Baaders sowie Aktionen der Stadtguerilla und der RAF vgl. dessen Kapitel „Schlacht um Algier“, S. 104-106. 120 Teipel, Jürgen: Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. S. 13 ff. Zitiert nach K. Stern: Andreas Baader, S. 98/99.
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Jedoch spricht aus dieser Anekdote eine andere Nachahmungskonstellation. Während der Plot von VIVA MARIA von einer gelungenen Revolution erzählt, ist PIERROT LE FOU (dt. Elf Uhr nachts) aus dem Jahr 1965 eine Aussteigergeschichte mit tragischem Ausgang um das Pärchen Ferdinand alias Pierrot und Marianne. Weder aktiver politischer Widerstand noch eine bewaffnete Revolution, geschweige denn Guerillamethoden wurden hier von Jean-Luc Godard inszeniert, sondern eine romantische Flucht zweier junger Menschen aus der Pariser Bourgeoisie. Der Aufbruch scheitert am Alltag einer Landstreicherexistenz in Südfrankreich. Marianne stirbt am Ende bei einem dramatischen Schusswechsel, Ferdinand tötet sich selbst, indem er Dynamitstangen um seinen Kopf bindet und anzündet. Aufgrund dieser Erzählhandlung scheint die Referenz zwischen realem Tatmotiv und Konzeption vorrangig nicht die einer Anlehnung an die dargestellte Aktion zu sein, sondern eher eine Imitation der Filmatmosphäre und des Habitus der Protagonisten. Nicht mehr das Was des Films auf der Darstellungsebene, sondern das Wie wird zum Paradigma. Nach dieser Lektüre-Beobachtung eines Erzählbausteins der zeitgenössischen RAF-Historiographie stellt sich weiterführend die Frage, inwiefern es weitere Beispiele für eine Rückführung der gewaltbereiten, terroraffinen Stadtguerilla gibt und inwiefern andere historiographische Medien und nicht nur die Geschichts- und Erinnerungstexte allein ebenfalls ein solches Filmparadigma eröffnet haben. Im Rahmen der Erinnerungsarbeit nach der Selbstauflösung der RAF im Jahr 1998 und im Zuge der daraufhin einsetzenden Historisierung ist es nämlich zuerst ein Film gewesen, der das Paradigma eines solch filmisch inspirierten Männlichkeitsideals eröffnete. Als Andreas Baader im Jahr 2002 zum Titelhelden eines Kinofilms wurde, geisterte er bereits seit über fünfzehn Jahren über Filmleinwände und Mattscheiben121. Also spielte Frank Giering unter der Regie von Christopher Roth nicht den ersten BAADER, aber doch den ersten, der an ‚das Filmische‘ der Vorstellung dieser Figur zurückgeführt wurde und ihr zugleich einen speziellen Stil verpasste. Regisseur Roth beleuchtete „erstmals einen Aspekt, der in der Forschungsliteratur schon lange diskutiert wird: nämlich Baaders starker Hang zur Selbststilisierung, sein deutliches Beeindruckt- und Beeinflusstsein durch Kinobilder sowie sein ausgeprägtes Gespür dafür, welche Bilder den Me-
121 In STAMMHEIM-DIE BAADER-MEINHOF-GRUPPE VOR GERICHT (BRD 1986, R: Reinhard Hauff) übernimmt Ulrich Tukur diese Rolle, in DIE REISE (CH/BRD 1986, R: Markus Imhoof) spielt Claude-Oliver Rudolph die unverkennbare Baader-Figur „Schröder“, in der TV-Produktion TODESSPIEL (TV, D 1997, R: Heinrich Breloer) schließlich spielt Sebastian Koch den „Baader“.
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dienbildern der (Springer-)Presse sowie den Fahndungsplakaten der Polizei entgegengesetzt werden müssen.“122
Der Film macht beispielsweise durch eine pointierte Präsenz von Kleinbildkameras deutlich, wie sehr auch gruppenintern eine (Film-)Pose für die Aufzeichnung im technischen Bild einflussreich für die Nachbilder und die damit einhergehenden Betrachtungen gewesen ist. Auf diese Art wurde via Selbstinszenierung für ein Bildimage jenes Material erzeugt, das heute das Archiv für die Historisierung bildet. Zu nennen wäre hier beispielsweise DIE WILDEN TIERE von Gerd Conradt und Katrin Seybold aus dem Jahr 1969, der die „Roten Knastwochen“ in Ebrach dokumentiert, also eine weitere ‚Urszene‘ des deutschen Terrorismus123. Ein kurzes Reenactment dieses mittlerweile in der Deutschen Kinemathek Berlin eingelagerten Films wurde von Christopher Roth als Eingangsszene eingebaut. Jedoch begnügt sich der Film BAADER nicht allein damit, diese Gesten, Posen und Stilisierungen vor der Kamera zu zeigen. Er verweist auch auf ihre Herkunft, auf ihren ureigenen Ursprungsort. In einer kurzen Sequenz wird so der Initiationsmoment des berühmten Terroristenpärchens Baader/Ensslin als untrennbares Gespann etabliert. Beide schauen sich den Film 48 STUNDEN BIS ACAPULCO von Klaus Lemke124 an, beim Verlassen des Kinogebäudes gehen sie dann auffallend schlendernd am Plakat von Rainer Werner Fassbinders LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD vorbei. Sowohl Lemkes Debütspielfilm aus dem Jahr 1967 als auch Fassbinders Filmdebüt aus dem Jahr 1969 sind damit unverhohlen fiktionalisiert, also entgegen der Diachronie biographischer Daten eingesetzt. Aber sie eröffnen selbst wiederum durch ihren Einsatz ein bestimmtes Filmparadigma: 122 Tacke, Alexandra: „Bilder von Baader. Leander Scholz ‚Rosenfest‘ (2001) & Christopher Roth ‚Baader‘ (2002)“, in: I. Stephan/A. Tacke, Alexandra, NachBilder der RAF, S. 63-87, S. 65. Alexandra Tacke sieht den Film eher als Analyse des „subtilen Kampf(es) um Bilder“ (Ebd., S. 66) denn als Analyse des „Kampf(es) der Ideologien und Worte“ (Ebd.)., indem er „die Mechanismen hinter den Ikonisierungsprozessen sichtbar“ (Ebd., S. 67) mache. Leider liefert die Autorin keinerlei Belege dafür, dass Baaders Selbststilisierung nach Kinovorbild „schon lange“ wissenschaftlich diskutiert ist. 123 Dort waren viele versammelt, die später Terroristen und Sympathisanten wurden, beispielsweise Brigitte Mohnhaupt oder Georg von Rauch. Wolfgang Kraushaar nennt das „Knastcamp Ebrach“ einen „Meilenstein“ in der Emergenz des Terrorismus, Gerd Koenen nennt es eine „Urszene“ (G. Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 223/224.) 124 Klaus Lemke selbst wiederum drehte 1969 für die ARD den Film BRANDSTIFTER, der den Frankfurter Prozess des Jahres 1968 fiktionalisierte.
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Bei beiden ist es vor allem der zeitgenössische französische Krimi, zum Beispiel Jean-Pierre Melvilles LE SAMOURAI aus dem Jahr 1967, in dem Alain Delon als Killer Jef Costello seine vielleicht bis heute berühmteste Rolle spielte. Diese Manier des Verweisens in bewegten Bildern als Anlehnung an einen kinematographisch konstruierten Zeitgeist und an dessen Gesten, unter Verzicht auf historische Korrektheit, ist dabei in dieser Art nur wieder vom Film zu erbringen. Und tatsächlich tauchen zunehmend biographische Splitter auf, die eine Verkettung dieser Art zu erinnern scheinen. Das kann dabei (noch) ohne Bezug zur späteren Terroristenkarriere sein, wie die Erinnerung an Andreas Baaders Nacheiferung von Stil und Gestus eines Alain Delon: „Antje Krüger, ein späteres Mitglied der Kommune I, lernt ihn [Baader, Anm. d. Verf.] um 1965 in der Filmbühne am Steinplatz kennen. Oft ist er gepudert, trägt Hut und Trenchcoat wie Alain Delon in ‚Der eiskalte Engel‘; gemeinsam sitzt man oft im Kino.“125
Hier leistet der fiktive Film also einen Vorschub, der erst nachträglich durch Geschichtsschreibung im Sinne von Erinnerung und Biographie eingeholt wird. Zugleich ist es ein harmloser Einstieg in eine Darstellung, die sich auf einen Kleidungsstil beschränkt. Der nachahmende Vergleich ist allein der einer äußeren Erscheinung. Doch dann nehmen Filmszenen auch Einzug in das Schreiben über die Anfänge der RAF in der Betrachtung des erhaltenen Quellenmaterials. Dabei muss nicht mehr explizit auf Filme wie VIVA MARIA oder PIERROT LE FOU rekurriert werden. Vielmehr wird das Denken von Film- als Urszenen jenseits der VorbildNachahmung zu einer Wahrnehmungs- und Rückdeutungsfolie, die über das historische Material gelegt wird. Solch eine Verschiebung bekommen vor allem die Photos des historischen jungen Baader, die ihn auf der Flucht in Paris zeigen und damit kurz nach der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung, aber kurze Zeit vor dem Schritt in den terroristischen Untergrund. Folgende Sichtungsart aus dem Band Die Bilder der RAF 1967-1977 überführt sie in ein anderes Medium, in den Film: „Baader lässt sich in diesem Café fotografieren, wahrscheinlich von Astrid Proll, eine Serie, fast ein kleiner Film, kleines Kino. Er zeigt sich. Und in der Art wie er posiert, und ich glaube durchaus mit einem augenzwinkernden Einverständnis Baaders, wirkt er wie ein cooler, dem Kino sehr verwandter Typ. Diese Bilder wären sozusagen erst einmal harmlos, wenn es nicht Baader gewesen wäre. Wenn diese Bilder nicht ein Schicksal hätten,
125 K. Stern: Andreas Baader, S. 69.
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das mit der Person und dem Aktionismus von Baader ein seltsames Amalgam eingegangen ist.“126
In dieser Manier gibt es also wechselseitige Überlagerungen zwischen ‚dokumentarischem‘ und ‚künstlerischem‘ Material und damit zwischen dem Fakt und der Fiktion. Das verdeutlicht, dass es eigentlich keinen Blick (mehr) auf diese Photos geben kann, der sie als reines und ausschließliches Medium des Dokumentierens für ein historisch Gegebenes klassifiziert. Die Trennung der einzelnen medialen und semantischen Elemente der Komposition „Baader“ (Mann, Terrorist, junger Rebell, Bildmotiv etc.) wird mit zeitlichem Abstand kaum mehr möglich, so sie es denn jemals überhaupt gewesen ist. Der Blick auf die heute noch vorliegenden Photographien von Andreas Baader ist ab diesem Punkt qualifiziert. Sie erscheinen als Filmstils, sie sind Filmszenen. So sitzt im Rückblick beispielsweise der angeklagte Baader während des Kaufhausbrandstifterprozesses wie ein Filmidol auf der Anklagebank. Er wird selbst zum Schauspieler, der Schauspieler nachahmt. Mit dem Abstand von fünfunddreißig Jahren erscheint so ein gewisser Männlichkeitstypus aus dem Kino entliehen, wenn Baader „mit bewährter Attitüde den Belmondo oder Brando, nach einem Text von Genet oder Bukowski“127 gab. Und nicht nur Photozeugnisse werden dergestalt betrachtet und interpretiert, sondern Zeitzeugen durchsetzen auch die eigene, an sich immaterielle Erinnerung mit Filmidolen. Klaus Eschen, Wahlverteidiger von Andreas Baader im Prozess nach den Brandstiftungen, besinnt sich mit dem Abstand vieler Jahre auf das Gefühl, in der Besuchszelle „mindestens zwei Personen gegenüberzusitzen. Zwei Kinoleitfiguren jener Zeit. Zum einen dem schon verstorbenen James Dean: Frauenheld und zorniger Jugendrebell. Zum anderen Jean Paul Belmondo. Der spielt 1959 in Jean-Luc Godards ‚Außer Atem‘ den kleinen Ganoven Michel Poiccard. Als dieser von einer Polizeikugel getroffen sterbend in die Arme von Jean Seberg sinkt, haucht er ihr als letzte Worte zu: ‚Du kotzt mich an.‘“128
Hier wird ein Stereotyp in der physischen Präsenz aus Erotik und Zorn erzählt. Dieser sexuell aufgeladene Rebellengestus kann vermeintlich nur aus dem Kino stammen. Die Vorlage bieten entweder als Schauspieler oder als Rollenfigur ge126 Probst, Jörg/Horstmann, Friederike: „Aktion der Bilder. Aus einem Gespräch mit Hanns Zischler“, in: Probst, Jörg/Zischler, Hanns: Großes Kino, kleines Kino. 1.968 Bilder, Berlin: Merve 2008, S. 8-25, S. 15. 127 G. Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 110. 128 K. Stern: Andreas Baader, S. 129.
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storbene, am Ende nicht triumphierende jugendliche Helden. Es sind junge Männer mit einem Hauch von Todessehnsucht, die in ihrem Lebensweg prinzipiell durchaus vergleichbar mit dem der Terroristen der ersten RAF-Generation gedeutet werden, insbesondere natürlich dem exponierten Andreas Baader. In der logischen Konsequenz sind sie dadurch ewig jung, ewig rebellisch und verzweifelt. Zudem verlieren sie auch nie die erotische Attitüde und die sexualisierten Gesten. Im Gegensatz zum Terroristen kann eine Figur wie der Rebel without a cause oder Godards Hommage an Hollywoods „Film noir“-Gangster jedoch nicht ideologisch, zumindest nicht weltanschaulich explizit, verortet werden. Durch die Parallelführung mit Schauspielern und Filmhelden wird eine andere Herkunft als die eines politisierten Studentenprotestes eröffnet. Der terroristische Protagonist entstammt in dieser Darstellung semantisch eher entweder dem halbstarken Jugendprotest der Nachkriegsjahre oder dem Kleinkriminellenmilieu der urbanen Nachtclubs. Ob und wie auch immer dies zueinander passen mag – auf jeden Fall entstammt er als Figur dem Dunkel des Vorführungssaals, dem Typenrepertoire des Kinos. Wirkungsmächtig erstrebt dieser Typus nach und nach die Dominanz über das Erinnerungsobjekt, dem die Bildquellen angeglichen werden. So resümieren die Baader-Biographen Klaus Stern und Jörg Hermann: „Wenn sich heute Zeitzeugen an jene Zeit mit Andreas Baader erinnern, setzt meistens die Erzählung bei seinen großen blauen Augen und seinem überbordenden Sex-Appeal ein. Schaut man sich die wenigen Fotos aus jenen Jahren an, die es von ihm gibt, meint man, er hätte vor dem Spiegel den untergründigen Blick von Marlon Brando aus ‚Endstation Sehnsucht‘ geübt.“129
Aus einer solchen Darstellung spricht eine doppelte Zeitlichkeit. Die Selbstinszenierung eines Andreas Baader wird als historisch Dagewesenes protokolliert, sie ist im gleichem Maße ein ‚neues‘ Narrativ durch die Engführung mit einer geradezu prototypischen, quasi-rebellischen Männlichkeit aus dem HollywoodKino, angesiedelt zwischen Gewalttätigkeit und Zerbrechlichkeit, zwischen Misogynie und erotischer Verführungskraft. 129 K. Stern: Andreas Baader, S. 78. Stern zieht als Schlussfolgerung aus der Gretchenfrage folgendes Resümee für Andreas Baaders Biographie: „Welche Rolle spielten das französische Autorenkino und die Hollywood-Filme der 60er-Jahre für Baaders Selbstinszenierung? Fakt ist: Andreas Baader, offensichtlich stark beeinflusst von filmischen und literarischen Vorbildern, beginnt, sich zu einem eigenen unverwechselbaren Typus zu entwickeln. Einer, der anderen bald zum – wenn auch zweifelhaften – Vorbild dient.“ (Ebd., S. 129/130)
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Ein Überlagerungsverhältnis von jungem Mann, späterem Terrorist und Filmidol ist nicht allein auf das wohl prominenteste Mitglied der Roten Armee Fraktion beschränkt. Filmemacher Harun Farocki erinnert sich an seinen Kommilitonen Holger Meins, mit dem er ab 1966 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) studierte. Auch hier bekommt in der Erinnerung eine mediale Formation Kontur, aus der heraus sich die „Erste Generation“ der RAF bildete. Es ist ein spezifisch filmischer Jugend-Habitus, ein suchendes Rollenspiel in der Postadoleszenz, das nicht zwingend, aber eben wohl auch in der (selbst-)mörderischen Absolutheit des RAF-Terrorismus enden kann. Farocki pointiert sie in der Erinnerung an das erste Zusammentreffen mit dem späteren Terroristen Meins im Zuge der Aufnahmeprüfungen für die DFFB im Sommer 1966: „Das Vorbild jeder stilisierten Jugendunsicherheit muss James Dean sein, der nicht zu agieren scheint, vielmehr seine Handlungen wie etwas vorstellt, das er vorgefunden hat und der Wiedergeburt wert findet. Der wissen lässt, wenn er eine Schülerrolle annimmt, dass er schon längst erwachsen ist oder auf etwas aus, das jenseits von diesem Gegensatz von Jugend und Erwachsensein liegt. Das schien mir auch für Holger Meins zu gelten […].“130
Vielleicht liegt in einer derartigen Figur auch der Konnex zu den russischen Karl-Moor-Afficionados des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht das männliche Spielen einer Rolle, sondern das Annehmen über Identifikation hinaus: ‚Der-anderesein‘, um so ein ‚Ich‘ zu formieren und daraus eine Identität zu bilden. Farocki kannte Meins nur und ausschließlich als Filmschüler, beide haben „niemals miteinander über die ‚Frage des bewaffneten Kampfes‘, wie das damals genannt wurde, gesprochen“.131 Den RAF-Terroristen Holger Meins hat der Dokumentarfilmregisseur vor allem als Zeitungsnachricht wahrgenommen. Aber in seiner rückblickenden Imagination ist er eine Genre-Figur: „Ich stelle mir Holger Meins bei der RAF als eine der Nebenfiguren vor, die im GangsterGenre nicht das Wort führt, vielmehr eine stille technische Arbeit tut, das Fluchtfahrzeug vorbereitet oder die Sprengung des Tresors. Diese Gangster-Arbeiter hat oft eine unglückliche Liebe ins Verbrechen verschlagen, auch die unglückliche Liebe zu einem Beruf, wie im Falle der Boxer und Rennfahrer. Über Liebesdinge habe ich mit Holger Meins nie ge-
130 Farocki, Harun: „Das Vorbild jeder stilisierten Jugendunsicherheit muss James Dean sein“, in G. Conradt, Starbuck Holger Meins, S. 178-182, hier S. 180. 131 Ebd., S. 181/182.
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sprochen. Konnte es sein, dass er den Film tief geliebt hatte und enttäuscht worden war?“132
Der eingangs genannte „bad guy“ bekommt hier eine Genre-Kontur zugedacht, die sich nicht aus revolutionär-politischer Weltsicht und intellektuelltheoretischem Fundament speist. Viel eher ist darauf verwiesen, dass der Terrorist vor seinem Zugang zur terroristischen Gewalt die Übernahme gewisser Rollen und Verhaltensmuster zugesprochen bekommt und sich verorten ließe zwischen „James Dean“ und dem „Gangster-Genre“, das man an dieser Stelle durchaus als Filmgenre begreifen kann. Unglück und Unsicherheit als Adoleszenzphänomen sind nicht terrorspezifisch und in ihrer Auswirkung auf einen Lebensweg kontingent. Dennoch formen sie das Bild der Terroristen – beziehungsweise seine Außen- und Spätwahrnehmung. Nun wäre an diesem Beispiel einzuwenden, dass ein Filmschaffender über einen ehemaligen Filmschaffenden spricht und daher Parallelfiguren aus dem naheliegenden Medium verwendet. Jedoch legen nicht ausschließlich Regisseure diese Folie aus Filmszenen, Kinotopoi und Starfiguren über die Urszenen der RAF und an ihr Personal. Bis zu welch fortgeschrittenem Grade eine „GangsterArbeit“ auch Arbeit am Mythos des „Film-Gangsters“ ist, erklärt Kaufhausbrandstifter Thorwald Proll im Rückblick und mit dem Abstand vieler Jahre: „Ich war auf jeden Fall romantisch. Ich war pierrot le fou. Wie in dem GodardFilm: der immer träumt und die Realität erst auf den zweiten Blick mitkriegt.“133 Im Grunde liegt der Übernahme des Filmtypen dieses Modell des „Romantischen“ zugrunde, eine Komponente, für die einerseits linksanarchistische Theorietexte keine Bezugsquelle sein können und für die andererseits offenbar die Narrative von Literatur und Theater in den späten 1960er Jahren keine Figur mehr anbieten. Für die Rückbetrachtung ist die Paradigmenwahl auf auch „Film“ gefallen aufgrund der historiographischen Medien. Der Zugang zum RAFPersonal bietet sich in der Gegenwart über die immer gleichen Bilder an, die wenigen Photographien und noch rareren bewegten Bilder, die mit der Ästhetik des französischen Kinos der 1960er Jahre, vor allem der sogenannten „Nouvelle Vague“, verbunden werden. Beides scheint einen gemeinsamen Ursprung in der zunächst spielerisch-experimentellen Verschränkung von Politik, Leben und Kunst zu haben und müsste mindestens zur Ergänzung des ‚unmittelbaren‘ Protesterlebens um 1968 gelesen werden. Wenn aber auf diese Art terroristische Gewalt und politische Kunst um „68“ verlinkt werden, dann ist unter Umständen der Filmheld als Terrorist nur eine Subkategorie der revolutionären Romantik 132 Ebd., S. 182. 133 T. Proll/ D. Dubbe: Wir kamen vom anderen Stern, S. 25.
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einer Generation. Vielleicht ist „Film“ nämlich auch über die RAF hinaus eine wichtiger werdende Erinnerungsfolie für die Einschätzung eines ganzen Zeitkomplexes. Wenn man beispielsweise den bereits vielfach zitierten Historiker und Publizisten Gerd Koenen liest und sein autobiographisches Statement zur Einleitung seiner Untersuchung über Das rote Jahrzehnt, dann ist erstaunlich, dass der Autor sich selbst im Rückblick als eine Filmfigur sieht – ähnlich wie die Gründer der Viva-Maria-Gruppe: „In der Erinnerung haftet noch eine ganz andere Schlüsselszene: Als Yves Montand in Alain Resnais’ Film ‚La guerre est finie‘ dem Mädchen den Laufpaß gibt, das er auf irgendeiner Existenzialisten-Party am Rive Gauche aufgegabelt hat, wo ihn Studenten vom Typ der Pariser Mairevolutionäre mit linksradikalen Phrasen attackierten, ohne auch nur zu ahnen, dass auf ihn, den Kommunisten aus dem spanischen Untergrund, eine neue ernste Mission wartete. Im nächtlichen Nebel der Tübinger Neckarinsel im Sommer 1968, kurz vor meiner Übersiedlung nach Frankfurt, war ich Yves Montand, wie er diese mythische Grenze wieder überschritt – in den Widerstand, die Revolution oder den Tod. So kitschig es klang, so kitschig war es auch. Man war von Filmbildern okkupiert, weil man die gesellschaftliche Realität selbst als bloße Staffage und falsches Spiel empfand und die Politik als mediale Inszenierung und Manipulation, die man mit provokanten Aktionen durchbrechen musste – deren Wirksamkeit man wiederum an den Reaktionen der Medien ablas. Eine der ersten kulturrevolutionär auftretenden Gruppen im Vorfeld des SDS, zu der auch Rudi Dutschke gehörte, nannte sich 1965 – nur scheinbar ironisch – die „Viva-Maria-Gruppe“ (nach dem Spielfilm von Louis Malle mit Brigitte Bardot und Jeanne Moreau). Viele, die später in den Terrorismus abglitten, haben berichtet, alles sei ihnen anfangs „wie ein Film“ vorgekommen, ein Kriminalfilm, Politthriller oder Italo-Western, je nach Temperament.“134
In den erinnernden Narrativen handelt es sich um eine Re-Okkupation von Filmbildern, die herangezogen werden, um ganz bestimmte Elemente des männlichen Terroristen135 zu proliferieren wie eben „Unsicherheit“, „unglückliche Liebe“, „Romantik“, Träumerei“. Diese werden in der Verschränkung mit dem Film als jenseits sowohl der primär intellektuellen und ethischen Komponenten des Terrorismus angelegt als auch jenseits der dezidiert textuell verfassten und rekonstruierbaren Begründungszusammenhänge.
134 Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt – Unsere kleine Kulturrevolution 1967-1977, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2001, S. 13/14. 135 Belegbeispiele für Frauen habe ich nicht finden können.
5. Schluss: Hans und Grete forever?
Eine Verschränkung von den Medien der Geschichte mit einer Geschichte von Medien stellt sich für die Untersuchung der Roten Armee Fraktion und ihrer Geschichtswerdung als ein furchtbarer Erkenntnisansatz heraus, insbesondere durch eine doppelte Bindung an das zu rekonstruierende historische Objekt „RAF“: Die Rote Armee Fraktion selbst konstituierte sich bereits maßgeblich über mediale Operationen, die wiederum die Möglichkeiten formieren, eine RAF-Erzählung zu gestalten. So waren das Projekt Stadtguerilla und ihr Terrorismus von der Entstehung Ende der 1960er Jahre bis zum Ende der „Ersten Generation“ im Herbst 1977 nur denk- und machbar mit Texten und Bildern, mit Übertragungsund Speichermedien, mit medialen Praktiken und medialisierten Orten. Der Aufbau einer klandestinen Gruppe in der Illegalität ist aus einem Diskurs hervorgegangen, bei dem sich sowohl paramilitärische Taktiken und mediale Strategien durchkreuzten als auch Medientheorien für die urbanen Massengesellschaft im Umlauf waren, die variierende Formen einer Großstadtguerilla implizierten. Die Maßnahmen, Verortungen und Artefakte der terroristischen Gewalt haben ihren genealogischen Ursprung über diesen diskursiven Vorlauf hinaus in Zirkulationen zwischen universitären Protestformen, künstlerisch-theatralen Inszenierungen und Gerichtsverhandlungen. Die Ästhetiken und institutionellen Zuschreibungen ihrer textuell-graphischen Präsentationen werden in und zwischen Flugschrift, Gerichtsdokumenten, Romanerzählung, Handbuch und Regieanweisung verhandelt. Daraus resultieren schließlich die Materialien einer Vorgeschichte der RAF, die selbst an eine Mediengeschichte geknüpft ist. Eine zentrale Rolle in dem Geschehen, das die Zuschreibung RAF-Terrorismus bekommen hat und das sich als eine „Politik des Zwangs“ auch im Hinblick auf seine medialen Konfigurationen beschreiben lässt, nehmen der Akt des Schreibens, das Schriftstück selbst wie auch der resultierende Sprechakt ein. Zugleich bilden die Resultate dieses konstitutiven Parts der terroristischen Kriegsmaschinerie das RAF-Archiv. Eine Historiographie der RAF muss an diesem
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Material arbeiten, indem es für erzählerische Gestaltungen gewisse „Verkettungen“ vonnöten macht, die selbst erneut als mediale Operation zu betrachten sind. Das lässt sich an der Arbeit an der Schreibmaschine von Andreas Baader über Bernward Vesper Die Reise und Rainald Goetz kontrolliert bis in die jüngsten, auch wissenschaftlichen Historiographien nachverfolgen. Dieser Verlauf muss mittlerweile selbst historisiert werden. Die ‚Verortungen‘ in der Geschichte der RAF sind wiederum rückwirkend – in den verschiedenen Stadien von den Urszenen im Jahr 1967 bis zur fortschreitenden Historisierung nach der Auflösung im Jahr 1998 – nicht ohne mediale Dispositive und Verkettungen zu untersuchen. Die Zuschreibung von ‚Dokumentieren‘ als deren Praktik und des ‚Dokuments‘ als deren Medium ist bereits beim Fanal der Ermordung Benno Ohnesorgs ein Ergebnis aus sich durchkreuzenden medialen Verfahren sowie aus Speicherungs- und Wiedergabetechniken. Hingegen ist einer Logik der Eskalation des Protestes und der Gewalt auf der Straße das Zeichenuniversum bestimmter anderer Räume zu ergänzen, um sowohl die spätere Medienpraktiken der bundesrepublikanischen Stadtguerilla als auch ihre dezidierte Nicht-Anschlussfähigkeit an historische Vorbilder des terroristischen Anarchismus zu erklären. Vergleichbares gilt für den Geschichtemachenden „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. Sowohl diese ‚Geschichte‘ als auch dieses ‚Machen‘ sind an die reglementierenden Möglichkeiten von Bildgebungsverfahren gebunden. Ein derartiges Bindungsverhältnis ist aber nicht allein als Rückblick festzuhalten, sondern auch in seiner Veränderbarkeit für die Geschichte der RAF-Geschichtsschreibung auszumachen. Das Medienverständnis der RAF und die Figurationen des RAF-Terroristen wandeln sich mit den Medienwechseln in der Historiographie selbst. Diesen Untersuchungsergebnissen, den Sichtungen und Lektüren wohnen die Möglichkeiten von Erweiterungen, Fortführungen und Widersprüchen inne, wie das bei so umfangreichem Material und mehrschichtigen theoretischmethodischen Ansätzen geradezu zwingend der Fall ist. Vertiefungen und Erweiterung einer Operationalität der Begriffe „Medium“ und „Medialität“ würden sich als bereichernd erweisen, beispielsweise in Richtung (Ver)Kleidung und Körpertechniken, für andere Topographien wie konspirative Wohnungen und die ominöse siebte Etage des Stammheimer Gefängnisses, aber auch von Medientechniken und Apparaten wie beispielsweise Abhörband, Rasterfahndung, Videoaufzeichnung, Polaroid und elektronischen Datenaustausch. Zudem wäre geboten, die Historie auf die sogenannte „Zweite“ und „Dritte Generation“ der RAF auszuweiten oder aber sie mit anderen linksradikalen Gruppierungen zu vergleichen. Genauso ergiebig wäre eine weitere historisch-genealogische Vertiefung des Terrorismus als performatives Sprechen und mediales Projekt bis zu-
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rück zu den Ursprüngen des „Grande Terreur“ der Französischen Revolution. Das für dieses Buch vorliegende präsentierte Material stellt selbstverständlich eine kleine Auswahl aus einem großen Archiv dar, aus dem das hier Weggelassene oder Periphere sehr fruchtbar sein kann. Eine Erweiterung der vorliegenden medienwissenschaftlichen Ansatzes auf den Bestand an RAF-Pamphleten, Gerichtsakten, persönlichen Nachlässen sowie das Nach- und Weiterleben der RAF in Formaten wie Theater oder musealer Ausstellung wäre ebenso wünschenswert. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass ein Teil der eröffneten medialen Figurationen für eine persönlichere Geschichtsarbeit zur Roten Armee Fraktion wirkmächtig und fruchtbar zugleich ist. Felix Ensslin schreibt im Nachwort zur Publikation des Briefwechsels seiner Eltern, Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, über seine eigene Erinnerungsarbeit als eine mit den Briefen, mit dem beinahe einzigen Geschichtsmaterial, das seine Eltern ihm hinterließen: „Man stelle sich eine Welt vor, in welcher die Sehnsucht nach einem Ort erfüllt wäre, und diese Platzanweisung ohne Bruch befolgt würde. Der Traum einer jeden Ordnungsmacht: einen Kosmos zu bewohnen, in dem jeder an seinem Platz das seine tut, und sie selbst das ihre. Alles Überschüssige, Abfällige kommt darin nicht vor, darf darin nicht vorkommen. Es ist die Logik der Verdrängung. In dieser Logik liegt begründet, daß Verluste konservativ machen, wenn man die Gespenster nicht aufnimmt, annimmt. Und verabschiedet. Doch, so diktiert die Dialektik der Trauer, das kann nur gelingen mit Hilfe der Spuren, der Realitätsflecken, die sich in unseren Bildern und Träumen hinterlassen. Diese Briefe sind solche Spuren. Die Bilder und Träume müssen tanzen lernen, spielen, sich bewegen. Sie müssen Platz räumen durch die Trauer, die darin liegt, daß die Toten tot sind und nie wiederkehren.“1
Ihre historischen Platzanweisungen zu befolgen oder zu brechen, das ist genau das, was in der RAF-Erzählung geschieht, was die Logik ihres Funktionsmusters zu sein scheint. Die Spuren, die Realitätsflecken in Bewegung zu setzen, das treibt die RAF als Schreibmaschinerie immer weiter, ohne zum Ende, zum Abschluss kommen zu können. Einen Platz in der Geschichte konnten und können sich aber nur die noch lebenden RAF-Terroristen zuweisen. Den Opfern ihrer terroristischen Gewaltakte bleibt das verwehrt. So gesellschaftspolitisch folgenlos die RAF auch gewesen 1
Ensslin, Gudrun/Vesper, Bernward: Notstandsgesetze von Deiner Hand. Briefe 1968/ 1969. Hg. von Harmsen, Caroline/ Seyer, Ulrike/ Ullmaier, Johannes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S.289/299.
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ist und so gespenstisch sie in ihrem Nachleben nicht zur Ruhe kommt, so bleibt doch dieser terroristische Sprechakt einer Eigenverortung erfolgreich, eben jener bis in die eigene Auflösungserklärung verfolgte Anspruch, „Subjekt“ sein zu wollen. Das gilt posthum für die Toten, allen voran die prominenten Gründerinnen und Gründer der Roten Armee Fraktion. Als sich die flüchtigen Kaufhausbrandstifter Andreas Baader und Gudrun Ensslin Anfang des Jahres 1970 bei Ulrike Meinhof aufgehalten haben, sollen sie von deren Zwillingen nur als „Hans“ und „Grete“ kennengelernt worden sein: „Die beiden Namen behielten Baader und Ensslin auch später als Decknamen.“2 Sich einen Namen zu geben war der erste und wichtige Schritt im Projekt Stadtguerilla. Und Märchen sind die Narrative, die immer wieder und weiter erzählt werden. Sie sind Geschichten wundersamer Begebenheiten und seltsamer Figuren, die faszinieren und die vor allem ihre eigene Geschichte und Wahrheit beanspruchen, ohne sich auf historische Referenten zurückführen lassen zu müssen. So gesehen lässt sich mit dem Ex-postWissen unterstellen, dass als Movens der RAF-Gründergeneration dieser Wunsch nach Geschichte, in einem dem Märchen vergleichbaren überzeitlichen Sinne, stand. Gudrun Ensslin schrieb bereits zuvor aus der Haft an Bernward Vesper: „Begreifst du denn gar nicht. ‚Unsere‘ Geschichte mag zehnmal zuende sein, die Geschichte ist es nicht, solange F. lebt.“3 Die Selbstermächtigung über Namens- und Sprechakte gilt aber auch für die noch Lebenden, für die sogenannten Ex-RAFler. Sie haben die Möglichkeit, sich das Präfix „Ex“ zu verleihen oder es zumindest zugesprochen zu bekommen und anzunehmen. Auf die Performanz dieser Nennung weist Corinna Ponto, Tochter des 1977 ermordeten Jürgen Ponto, hin: „Und die Freiheitsberaubung geht auf andere Weise auch über zwei Generationen. Meinen jungen Kindern wurde auch die Freiheit geraubt, mit dem Großvater zu albern, übermütig zu sein, ihn zu kitzeln oder auch mit ihm zu streiten, zu diskutieren. Ein großer Teil der eigenen Geschichte ist gestohlen. Mord ist immer auch Raubmord. Und klar ist: Die Täter der RAF hatten und haben immer die Möglichkeit gehabt, zu ‚Ex-Tätern‘ zu werden. […] Wer einmal Opfer ist, kann nie Ex-Opfer sein. Bei den Tätern wird heute doch vielfach von ‚ehemaligen‘ Terroristen gesprochen. Dieses ‚Ex‘ ist ein Privileg.“4
2
S. Aust: BMK, S. 89.
3
G. Ensslin/ B. Vesper: Notstandsgesetze, S. 38
4
Siemens, Anne: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus. München: Piper 2007, S. 119.
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Die Macht des Sprechaktes über das Objekt, die Selbstermächtigung als historisches Subjekt – hier wird sie ein letztes Mal eingesetzt. Und hier hat sie Erfolg. Die Hinterbliebenen der Opfer müssen nämlich eine andere Erinnerungs- und Trauerarbeit leisten, sie haben sich ihre ganz persönliche RAF-Erzählung zu schaffen. Auch Corinna Ponto spricht dabei von einer eigenen Dynamik ihrer RAF-Geschichte und der Politik des Zwangs: „,Zeit heilt alle Wunden‘ ist eine ambivalente Redewendung. Zeit ist Raum. Und der öffnet sich manchmal auch ganz ungefragt. […] Was mich betrifft: Für mich war das Attentat auch eine Freiheitsberaubung. Die Täter fanden darin ihre Identität. Wir bekamen eine aufgezwungen. Das haßte ich.“5
5
Ebd.
6. Literaturverzeichnis
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6.1 F ILMOGRAPHIE 48 STUNDEN BIS ACAPULCO (BRD 1967, R.: Klaus Lemke) BAADER (D 2002, R: Christopher Roth) BAMBULE (TV) (BRD 1970, R: Eberhard Itzenplitz) BERLIN 2. JUNI ’67 (BRD 1967, R: Thomas Giefer/Hans-Rüdiger Minow) BRANDSTIFTER (TV) (BRD 1969 R: Klaus Lemke) DER POLIZEISTAATSBESUCH – BEOBACHTUNGEN UNTER DEUTSCHEN GASTGEBERN (TV) (BRD 1967, R: Roman Brodman) DIE REISE (CH/BRD 1986, R.: Markus Imhoof) DIE WILDEN TIERE (BRD 1969, R.: Gerd Conradt, Katrin Seybold) DURRUTI – BIOGRAPHIE EINER LEGENDE (BRD 1972, R: Hans Magnus Enzensberger) HERSTELLUNG EINES MOLOTOW-COCKTAILS (BRD 1968, R: Holger Meins) LA BATTAGLIA DI ALGERI (I/ALG 1966, R.: Gillo Pontecorvo) LA CHINOISE (F 1967, R.: Jean-Luc Godard) LE SAMOURAÏ (F/I 1967, R.: Jean-Pierre Melville) LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969, R.: Rainer Werner Fassbinder) MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL (BRD 1975, R.: Rainer Werner Fassbinder) PIERROT LE FOU (F 1965, R.: Jean-Luc Godard) SACCO E VANZETTI (I 1971, R.: Guliano Montaldo) STAMMHEIM – DIE BAADER-MEINHOF-GRUPPE VOR GERICHT (BRD 1986, R.: Reinhard Hauff) STARBUCK HOLGER MEINS (D 2002, R: Gerd Conradt) TODESSPIEL (TV) (BRD 1997, R.: Heinrich Breloer) VIVA MARIA (F 1965, R.: Louis Malle) WER WENN NICHT WIR (D 2011, R.: Andres Veiel)
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Januar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes Oktober 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-2422-9
Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Februar 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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