Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik 9783825349509, 3825349500

Die vorliegenden Studien zur Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik sollen eine Lücke schließen. Zwar gibt es ein

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German Pages 160 [162] Year 2022

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Die Quellenlage
1. Grundsätzliche Überlegungen zur Quellensituation
2. Aristoteles als Vermittler der Philosophie der Klassik
3. Die Rolle Platons
II. Ontologie
1. Die Entdeckung des Seins als historisches Erbe der Vorsokratiker
2. Ontologie als Bewusstseinsproblem
III. Logik
1. Die Rolle der Logik im Prozess der Erkenntnis
2. Logik als Propädeutik? Aristoteles und seine Vorgänger
3. Die Axiomatik im Denken der Griechen
IV. Metaphysik
1. Historische Perspektiven
2. Metaphysik und Kosmologie
3. Die Rolle der Teleologie in anderen Bereichen
V. Ethik
1. Der Wendepunkt der griechischen Philosophie
2. Wegmarken
3. Ethik und Anthropologie
4. Platon über Ethik
5. Individualismus und Gesellschaft im Denken der Griechen
VI. Ergebnisse und Ausblick
VII. Appendix
I. Vorsokratiker
II. Die Logik bei den Megarikern
III. Aristoteles, Topik
IV. Aristoteles, Sophistici Elenchi (Sophistische Widerlegungen)
Literaturverzeichnis
Rückumschlag
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Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik
 9783825349509, 3825349500

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christian mueller-goldingen

Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik

   ie vorliegenden Studien zur Philosophie der Griechen    zur Zeit der Klassik sollen eine Lücke schließen. Zwar gibt es eine enorme Zahl an Forschungsliteratur zu einzelnen Philosophen wie Anaxagoras, Parmenides, Demokrit, Sokrates und natürlich Platon und Aristoteles – nicht zu vergessen die Logik der Megariker mit ihren Paradoxien, die bis in die moderne Mathematik weiterwirkt. Es fehlt jedoch eine umfassende Darstellung der klassischen griechischen Philosophie.   Die Studien sind historisch und systematisch angelegt. Es geht in ihnen um den Begriff der Klassik und die Chronologie derselben, ferner um die klassischen Teildisziplinen Ontologie, Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik. Darüber hinaus werden große Entwicklungslinien dieser Epoche der Philosophie thematisiert und Konstanten aufgezeigt. Die einschlägigen Texte der namhaftesten Philosophen werden in Übersetzung geboten, um den Zugang zu erleichtern. Dies gilt ebenso für die Appendizes mit Texten in Übersetzung zur griechischen Logik, Erkenntnistheorie und Dialektik.

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mueller-goldingen Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik

 Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik

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Heidelberg

kalliope Studien zur griechischen und lateinischen Poesie Band 22

christian mueller-goldingen

Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

umschlagbild Sharon Mollerus: Parthenon, Athens 3/9/09, https://www.flickr.com/photos/clairity/38903155284/ Bild freigestellt und rechts ergänzt, Baustellengerüste entfernt, verwendet unter cc by2.0, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

isbn 978-3-8253-4950-9 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2022 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

          pour Franziska, mon amour

 

Inhalt Einleitung ................................................................................................ 9 I. 1. 2. 3. II.

Die Quellenlage ............................................................................ 17 Grundsätzliche Überlegungen zur Quellensituation ................ 17 Aristoteles als Vermittler der Philosophie der Klassik ............. 20 Die Rolle Platons ..................................................................... 23

Ontologie ...................................................................................... 27 Die Entdeckung des Seins als historisches Erbe der Vorsokratiker ........................................................................... 27 2. Ontologie als Bewusstseinsproblem ........................................ 38 1.

III. Logik ............................................................................................ 43 1. Die Rolle der Logik im Prozess der Erkenntnis ....................... 43 2. Logik als Propädeutik? Aristoteles und seine Vorgänger ......... 48 3. Die Axiomatik im Denken der Griechen .................................. 55 IV. 1. 2. 3. V. 1. 2. 3. 4. 5.

Metaphysik ................................................................................... 71 Historische Perspektiven .......................................................... 71 Metaphysik und Kosmologie ................................................... 78 Die Rolle der Teleologie in anderen Bereichen........................ 96 Ethik ........................................................................................... 105 Der Wendepunkt der griechischen Philosophie...................... 105 Wegmarken ............................................................................ 109 Ethik und Anthropologie .........................................................116 Platon über Ethik ................................................................... 123 Individualismus und Gesellschaft im Denken der Griechen ................................................................................ 129

VI. Ergebnisse und Ausblick ............................................................... 135

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VII. Appendix .................................................................................... 141 I. Vorsokratiker .......................................................................... 141 II. Die Logik bei den Megarikern ............................................... 144 III. Aristoteles, Topik ................................................................... 147 IV. Aristoteles, Sophistici Elenchi (Sophistische Widerlegungen) ..................................................................... 150 Literaturverzeichnis ............................................................................ 157

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Einleitung Wenn man auf die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik reflektiert, gilt es zunächst, den Begriff „Klassik“ thematisch und chronologisch einzugrenzen. Man hat zu konstatieren, dass es sich um eine Epoche handelt, die in mehrfacher Hinsicht die Blüte der griechischen Kultur darstellte. Die Wissenschaften, kulturelle Errungenschaften, technischer Fortschritt, das religiöse Denken, die Architektur und die Kunst erlebten in dieser Zeit einen enormen Aufschwung. Dies gilt auch und in besonderem Maße für die Philosophie. Das ist sozusagen der materielle und ideelle Rahmen, in dem man sich bewegt, wenn man sich mit dieser Zeit der Klassik auseinandersetzt. Chronologisch betrachtet, folgt die Epoche der Klassik nicht fugenlos auf die Archaik. Der Klassik geht eine Zeit des Übergangs voraus, der etwa von 475-450 dauert. Die Klassik selbst erstreckt sich dann von 450 bis circa 400. In der Klassischen Archäologie und der Kunstgeschichte wird etwas anders eingeteilt. Da beginnt die Frühklassik nach dem Ende der Perserkriege (479 v.Chr. Schlacht bei Plataiai), die Spätklassik endet erst mit 323 v.Chr., dem Todesjahr von Alexander. Dieser Zeitraum ist für die Literatur und Philosophie der Griechen zu groß. Dies gilt nicht so sehr für den Beginn der Klassik, sondern für die Zeit bis 323. Die politischen und sozialen Veränderungen schon im ersten Drittel des vierten Jahrhunderts indizieren, dass gegenüber dem Zeitraum von 450 – 400 eine neue Zeit anbrach. Die Differenzen sind nicht unwichtig, weil sie zeigen, dass die Einordnung der Klassik nicht unumstritten ist und die Datierung dieser Epoche je nach Wissenschaft differiert. Ungeachtet dieser Abweichungen wird im folgenden davon ausgegangen, dass es sich bei der Klassik um eine homogene Phase der griechischen Geistesgeschichte handelte, in der eine Wertewelt zum Vorschein kam, die sich von der vorangehenden archaischen Zeit und dem Hellenismus, der durch eine Zeit des Übergangs vorbereitet wurde, grundlegend unterschied. In der Klassik kommt es zu Umbrüchen in der Gesellschaft, der Literatur und auch in ökonomischer Hinsicht. Die Bedeutung der 9

Ökonomie nimmt rapide zu, und diese größer werdende Einflussnahme von Ökonomen in der Polis hinterlässt ebenso in der Literatur Spuren. Zu nennen wäre in diesem Kontext insbesondere Xenophon, der in seinem Oikonomikos die Funktion des Oikos in der Polis und die stetige Machtausweitung der Ökonomie reflektiert. Man darf dabei, wenn man die Klassik chronologisch einzuordnen versucht, allerdings folgendes nicht übersehen: Die Menschen dieser Zeit hatten mit Sicherheit noch kein Bewusstsein von dieser Epoche in dem Sinne, dass sie geahnt hätten, dass diese Zeit um 400 endete. Aber dies ist allgemein typisch für spätere Epocheneinteilungen: sie sind viel später entstanden, und man nimmt mit ihnen unter Umständen künstliche Einschnitte vor, die die Menschen jener Zeit vielleicht ganz anders gesehen hätten. Ein gutes Beispiel liefert der Hellenismus, dessen Beginn man auf 323, das Todesjahr von Alexander d. Gr. datiert. Dies ist relativ willkürlich, weil sich die großen Umbrüche und Verschiebungen der griechischen Gesellschaft und die allmähliche Auflösung der traditionellen Polis- Strukturen zugunsten von Flächenstaaten schon vor 323 vollziehen. Auch der Hellenismus und die Klassik werden durch eine Zeit des Übergangs voneinander getrennt. Doch was versteht man unter klassisch, Klassik, klassischen Autoren? Der Begriff „Klassik“ meint zunächst Vorbilder in schriftstellerischer, künstlerischer, architektonischer und allgemein in ideeller Hinsicht. Ein Klassiker gehört in der Regel zu einem Kanon. Er wurde schon zu seiner Zeit oder bald nach seinem Tod, manchmal erst später für ein Muster gehalten. Klassiker sind in der Regel zeitlos. Die Vorgaben, die sie machten, die Regeln, die sie anwendeten bzw. selbst kreierten, werden von der Nachwelt als verbindlich betrachtet. Daneben gibt es noch ein weiteres Kriterium: die unter Umständen ungeheuer große Verbreitung, die ein Schriftsteller, Philosoph oder Künstler zu Lebzeiten oder danach erfährt. Die Resonanz, die diesen Klassikern zuteil wird, ist ebenfalls ein Maßstab für den Begriff „klassisch“. Im Bereich des Theaters zählt auch die Zahl der Aufführungen oder Wiederaufführungen, in der Literatur und allgemein die Frequenz, mit der diese Autoren in andere Sprachen übersetzt werden. So betrachtet, unterliegen Klassiker nicht oder eher selten Modetrends. Der jeweilige Zeitgeschmack ist, wie bekannt, oft sehr kurzlebig. Dies gilt meistens nicht für Klassiker. Diese begründen oft umgekehrt einen bestimmten Trend, eine „Mode“. Sie wirken eventuell

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selbst stilbildend. Aber auch in diesem Bereich gibt es durchaus zeitbedingte Wertungen, die dazu führen können, dass ein klassischer Autor für einige Jahre oder noch länger in der Versenkung verschwindet, bevor er dann wieder auftaucht und eine unvermutete oder auch logisch wirkende Renaissance erlebt. Wenn man nun diesen Begriff von „klassisch“, „Klassiker“ auf die Zeit der Klassik bei den Griechen überträgt, so zeigt sich folgendes: 1. In dieser Zeit kam zur Vollendung, was in der Zeit zuvor, der Archaik, vorbereitet wurde. Die Archaische Zeit beginnt nicht lange vor Homer, dessen Lebenszeit etwa 850-800 anzusetzen ist. Davor, also etwa 1100-900, verlaufen die sog. „Dunklen Jahrhunderte“, the Dark Ages. 2. In der Kunst lässt sich eine klassische Linienführung feststellen, in der Architektur kommt der goldene Schnitt zur Anwendung. Das Streben nach Harmonien im weitesten Sinne ist für diese Epoche charakteristisch. Im Städtebau dominiert unter dem Einfluss des Architekten Hippodamos von Milet, der in ganz Griechenland aktiv ist, die architektonische Struktur der Planquadrate, die für klare Formen einer geometrischen Urbanistik sorgen. 3. Die Zeit der Klassik bei den Griechen war auch eine Epoche, in der man nach Symmetrien strebte. Dies gilt für die Medizin, die in diesem Zeitraum stark von der Philosophie beeinflusst war, ferner für die Kunst und die politische Philosophie, wo man, vor allem unter dem Einfluss des Pythagoras, Analogien entdeckte. Diese Entsprechungen hat man besonders angewendet, um Mikro- und Makrokosmos in Analogie zu setzen, um den Menschen mit dem Kosmos zu parallelisieren. Das Streben nach Symmetrien und Analogien könnte man als eines der herausragenden Kennzeichen dieser Epoche bezeichnen. Im Bereich der Wissenschaften, besonders der Mathematik und der Geometrie, lässt sich eine ausgeprägte Freude an mathematischen Problemen erkennen. Es kommt zu neuen Lösungsvorschlägen, so z.B. für die sog. Quadratur des Kreises. All dies fand in Athen oder zumindest zum überwiegenden Teil in dieser Metropole statt. Athen war zur Zeit der Klassik das geistige Zentrum Griechenlands. Wir werden dies noch im Detail anhand der

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Biographien der zu betrachtenden Philosophen feststellen. Die meisten der herausragenden Vertreter lebten und arbeiteten in Athen. Dies gilt ebenso für die Repräsentanten der Sophistik. Athen wirkte wie ein Magnet, und dies schon in einer Zeit, bevor es zur Blüte der athenischen Demokratie kam. Die demokratischen Strukturen Athens und seine politische Liberalität ermöglichten den offenen Dialog in der Philosophie, die Entfaltung der politischen Rhetorik, die Streitkultur allgemein in der Öffentlichkeit, und ebenso lässt sich eine Freizügigkeit auf dem Gebiet der Pädagogik diagnostizieren, die dann später mit dem Rigorismus in Sparta kontrastiert wurde. 4. Es gab, soweit wir wissen, keine Muster, die man in dieser Zeit der Klassik anwendete, zumindest keine, die man aus einer früheren Zeit hätte übernehmen können. Diese Zeit war ihrerseits mustergültig. Sie hat so ziemlich in allen Bereichen der Gesellschaft als Vorbild für spätere Zeiten gewirkt. Dies gilt insbesondere für die Philosophie, wie ihre Rezeption im vierten Jahrhundert unter Beweis stellt und wie sich noch am Beispiel der Erkenntnistheorie und der Ontologie zeigen wird. 5. Die Römer haben dies ihrerseits erkannt. Platon und Aristoteles, aber auch vor ihnen Anaxagoras und Demokrit, in besonderem Maße jedoch Sokrates haben auf die Römer als Vorbilder gewirkt. Letzterer wurde in der Tradition des Peripatos besonders aufgrund seiner Lebensweise rezipiert. In diesem Kontext wurde primär das platonische Sokratesbild kanonisch, das jedoch nur eines von mehreren sokratischen Sokratesbildern darstellt. 6. Die Zeit der Klassik war noch in anderer Hinsicht mustergültig. Gemeint ist das Verhältnis von Theorie und Praxis. Die Diskussionen um die Vorzüge bzw. Nachteile dieser beiden Bereiche haben bei den Griechen bereits vor der klassischen Zeit stattgefunden. Im fünften Jahrhundert wurden sie wieder aufgegriffen und nun so geführt, dass an ihrem Ende eine Art Synthese stehen konnte. Das Ideal der Sieben Weisen, an denen man die Einheit von Theorie und Praxis zu erkennen glaubte, wurde nun aktualisiert. Die Diskussionen, die in der Klassik über Theorie und Praxis geführt wurden, kamen übrigens nicht zum Stillstand. Aristoteles hat seinerseits in der „Politik“ das Thema auf-

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9.

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gegriffen und die Diskussion auf einem sehr theoretischen Niveau fortgesetzt. Die Liste der Sieben Weisen, die erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts ihre endgültige Form annahm, gehörte zu den Leitideen, die der Epoche der Klassik entstammten und die in den folgenden Jahrhunderten rezipiert wurden. Die Philosophie hat in dem zu betrachtenden Zeitraum einen rasanten Fortschritt genommen. Sie entwickelte sich weg von der Naturphilosophie der Vorsokratiker, differenzierte sich in jene Bereiche aus, die für alle Zeiten vorbildlich und verbindlich werden sollten. Sie leistete ferner als ein kritisch beobachtendes Organ eine Arbeit in der Gesellschaft. Diese Entwicklung hatte aber auch eine Kehrseite. In der Zeit der Klassik wurde die Philosophie in Athen angefeindet, musste mit Vorurteilen leben, hatte darunter zu leiden, dass Politiker sich gegen philosophische Kritik teilweise wehrten. Sie konnte andererseits, wie noch zu sehen sein wird, zu einem gesellschaftskritischen Organ avancieren, mit dem man den Wert von Traditionen überprüfte und diese auf den Prüfstand stellte. Philosophie – und hier sind besonders die Sophisten zu nennen – konnte eine Instanz werden, die für Traditionsbrüche zuständig war. Als subversive Kraft wurde sie, wie bekannt ist, besonders in der Alten attischen Komödie dargestellt. Die klassische Philosophie fungierte als Wegbereiterin. Da wird man folgendes sagen können: die Epoche, in der Sokrates lebte, war für die Philosophie danach, also ab 400 bis zum Hellenismus, in besonderer Weise prägend. Sokrates wirkte auf die beiden folgenden Generationen in einer ausnehmenden Weise. Dies gilt zunächst für die Sokratiker, dann für Aristoteles und die Schule des Peripatos, in der man sich extensiv mit der SokratesBiographie auseinandersetzte. Auch in diesem Kontext gab es über Generationen Leitideen wie z.B. die philosophische Lebensweise. Die Zeit der Klassik als einer Blüte der griechischen Kultur war aber auch richtungsweisend, was die Rolle der Philosophie in der Gesellschaft betrifft. Es wird noch im einzelnen zu sehen sein, wie man in dieser Zeit in der Gesellschaft mit Philosophen und der Philosophie umgegangen ist, wie man sie zwar tolerier-

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te, wie sie es jedoch auf der anderen Seite, wie schon angedeutet, schwer hatte. 11. Der Umgang einer Gesellschaft mit anders Denkenden ist in der Regel ein guter Maßstab für gesellschaftliche Toleranz. Dies war schon vor 2500 Jahren so, und dies gilt auch noch heute. Da wird sich zeigen, dass die griechische Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten jeweils anders reagierte. Der Höhepunkt der Intoleranz im Athen des fünften Jahrhunderts waren die Asebie-Prozesse gegen Protagoras und gegen Sokrates. Anaxagoras entzog sich einem solchen Prozess, indem er Athen rechtzeitig verließ. Das liberale Athen zeigte auf diese Weise seine dunkle Seite, und die Toleranz drohte, wenngleich es sich um Einzelfälle handelte, zu scheitern. 12. Es gab daneben in dieser Zeit der Klassik andere Trends, die ebenfalls auf die Folgezeit wirkten. Gemeint ist die Sophistik, die sich als eine intellektuelle Avantgarde definierte und das geistige Athen zeitweise ganz schön durcheinander gebracht hat. Die Sophisten waren in der Regel Antitraditionalisten, intellektuelle Aufrührer, Unruhestifter und Provokateure. Auch auf diese Bewegung wird noch einzugehen sein, um zu zeigen, dass das intellektuelle Spektrum in Athen sehr vielfältig gewesen ist. Wenn man das soeben skizzierte Szenario der Klassik überschaut, zeigt sich, dass diese Epoche in vielfältiger Hinsicht stilprägend geworden ist und nicht nur auf dem Gebiet der intellektuellen Errungenschaften gewirkt hat. Es waren ebenso Konstellationen wie das Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft, Wissenschaften und Religion, die Auseinandersetzungen zwischen Geist und Macht, die Biographien bedeutender Personen wie Sokrates, Pythagoras und Platon, die in den folgenden Zeiten ihre Wirkung zeigten und die es erst ermöglichten, dass sich nach der Klassik der Klassizismus entwickelte, in dem man sich gegenüber dieser Epoche als inferior empfand. Dieser Klassizismus entstand bereits im vierten Jahrhundert. Er erstreckte sich nicht auf alle Bereiche. In der Literatur ist er besonders frequent zu beobachten. Bei den Wissenschaften verhält es sich zum Teil anders. Was für klassizistische Bestrebungen gilt, die sich an den alexandrinischen Kanones der besten Lyriker und Redner orientierten, hat keine besondere Bedeutung im Bereich der Naturwissenschaften und der Mathematik,

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weil diese zwar auf den Leistungen des fünften Jahrhunderts basierten, sich jedoch in keiner Weise als zweitrangig gegenüber den wissenschaftlichen Traditionen der Epoche der Klassik empfanden. Die objektiven Fortschritte in der Mathematik und den Naturwissenschaften im vierten und dritten Jahrhundert erzeugten vielmehr ein Kontinuum. Da kommt indirekt Aristoteles ins Spiel, dessen Philosophiebegriff so aussieht, dass jeder Philosoph – und dies gilt analog für die Physik, die Biologie und die Mathematik – einen originären Beitrag zur Wahrheit zu leisten vermag, so dass sich ein Traditionsstrom ergibt, innerhalb dessen jede Generation mit ihren wissenschaftlichen Leistungen ihren eigenen Wert und ihre Berechtigung hat. Im folgenden soll keine Geschichte der Klassik in einer streng chronologischen Abfolge geboten werden. Stattdessen sollen Diskurse stattfinden, in denen in einer systematischen Form die grundlegenden Felder der Philosophie, die Ontologie, die Logik, die Metaphysik und die Ethik, thematisiert werden. In dieser Blütezeit der griechischen Philosophie entwickelte man weitgehend eigenständig, jedoch unter Einbeziehung der vorsokratischen Traditionen diese diversen philosophischen Bereiche, so dass auf der einen Seite ein Kontinuum entstehen konnte, auf der anderen Seite durch originelle Neuansätze die Voraussetzungen geschaffen wurden, unter denen sich dann in der hellenistischen Philosophie die Logik der Stoiker (Chrysipp), die Ethik eines Epikur und der Skeptizismus besonders in der Neuen Akademie (Karneades und Philon) entwickeln konnten. Es soll ferner im Verlaufe dieser Diskurse deutlich werden, dass es zwischen den Wissenschaften der Griechen zur Zeit der Klassik eine rege Interaktion gab. Die Naturwissenschaften wie zum Beispiel die Medizin profitierten von der Philosophie, diese wiederum zog aus den Erkenntnissen der Mathematik einen beträchtlichen Nutzen. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung der Axiomatik in der Mathematik des fünften Jahrhunderts (Eudoxos), die auf die Philosophie und hier primär auf die Logik ausstrahlte.

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I.

Die Quellenlage

1.

Grundsätzliche Überlegungen zur Quellensituation

Das Hauptproblem, vor das sich der Interpret der griechischen Philosophie der Klassik gestellt sieht, ist folgendes: es gibt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine großen zusammenhängenden Texte. Das meiste ist in Form von Fragmenten überliefert. Ferner sind die Quellen, die diese Fragmente enthalten, in der Regel viel später. Es handelt sich um die sog. Doxographi Graeci, Diogenes Laertios, der im dritten nachchristlichen Jahrhundert eine Philosophiegeschichte geschrieben hat, ferner um die spätantiken Philosophiehistoriker, die aus den philosophischen Schriften der klassischen Zeit Exzerpte anfertigten. Das bedeutet, dass die Basis, auf der man diese Philosophie der Klassik interpretiert, in manchen Fällen relativ schmal ist. Die Schlussfolgerungen, die man zieht, wollen also sehr wohl bedacht sein. Der Zuwachs an Zeugnissen durch Papyri ist im Falle dieser Philosophie nicht sehr bedeutend. Eine Ausnahme bildet das große EmpedoklesFragment, das in den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Straßburg entdeckt wurde. Ansonsten stützen sich die hermeneutischen Analysen auf Texte, die meistens seit rund 100 – 120 Jahren bekannt sind. Doch wie sah die Situation in der Antike nach der Zeit der Klassik aus? Auf Platon und Aristoteles wird noch näher einzugehen sein. Generell wird man folgendes sagen können: die Buchproduktion im Athen des 5. Jahrhunderts florierte. Die Handschriften der einschlägigen Philosophen wurden in einem nennenswerten Umfang abgeschrieben, also vervielfältigt. Es gab in dieser Stadt eine regelrechte Lesekultur. Der platonische Sokrates erzählt im Phaidon, wie er bei einer Lesung des Naturphilosophen Anaxagoras dabei war. Platon lässt seinen Sokrates ausführlich seine Reaktionen auf das Buch des Anaxagoras schildern. Anaxagoras war kein Einzelfall. Auch andere Philosophen, ebenso die Sophisten (Protagoras, Über die Götter) trugen ihre Werke in Athen zunächst in der Öffentlichkeit vor. Das Gleiche gilt z.B. für die 17

Historiographie. Man denke an die Lesungen, die Herodot in Athen veranstaltete. Man hat sich den Austausch zwischen Autoren und Publikum als sehr lebhaft und intensiv vorzustellen. Da wurden Thesen vorgebracht, da trug man – so Protagoras im Haus des Euripides – ein provokantes Buch über die Götter vor, da las man naturphilosophische Schriften, in denen, so bei Anaxagoras, ein traditionelles Weltbild in Frage gestellt wurde. Mit einem Wort: die Lese- und Vortragskultur in den Jahren 440 – 400 in Athen boomte. Dies bedeutet ferner: wenn Aristoteles und Platon sich in ihren Werken auf die Philosophie der Klassik und auf die Publikationen der Vorsokratiker bezogen, dann taten sie dies auf der Grundlage authentischer Texte. Die Ausgaben dieser Philosophen lagen ihnen im allgemeinen noch vor. Dieser skizzierte Sachverhalt wirft ein günstiges Licht auf die kulturellen Verhältnisse in Athen im fünften Jahrhundert. Neue philosophische Thesen gelangten sehr schnell an die Öffentlichkeit. Es gab noch keine splendid Isolation. Die Philosophie sorgte für Diskussionsstoff. Es existierten anscheinend breite Foren, auf denen Neuigkeiten diskutiert und rezipiert wurden. Athen war, so betrachtet, eine kulturell aufgeschlossene Stadt, die auf eine eigenartige Weise Tradition und Innovation miteinander verband. Um nun auf die Situation der Texte in dieser Stadt zurückzukommen: die Verschriftlichung der Philosophie war also im fünften Jahrhundert weit fortgeschritten. Die mündliche Überlieferung philosophischer Texte in dieser Zeit darf freilich nicht unterschätzt werden. Dies gilt besonders für die vorsokratischen Philosophen, bei denen es zum Teil nicht ganz sicher ist, ob sie tatsächlich Bücher geschrieben haben. Auch dieser mündliche Überlieferungsstrom wird im Athen der damaligen Zeit eine Rolle gespielt haben. In solchen Fällen war natürlich, anders als im Falle von schriftlichen Texten, ein gewisser Unsicherheitsfaktor gegeben. Je länger eine solche mündliche Überlieferung dauerte, umso mehr wuchsen die Risiken der Verfälschung und der Abweichungen vom ursprünglichen Wortlaut. Dies gilt besonders für Pythagoras, der schon früh für Legendenbildung gesorgt hat und bei dem diese dazu führte, dass seine authentische Philosophie in späterer Zeit überlagert und überwuchert wurde. Das, was Platon und Aristoteles von Pythagoras lasen, stammte im wesentlichen nicht mehr von ihm, sondern von der ersten oder zweiten Generation nach ihm. Als allgemeine Regel darf in diesem

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Kontext dienen: je berühmter eine antike Persönlichkeit ist und je weniger authentische Überlieferung in einer breiten Öffentlichkeit von dieser existiert, umso stärker ist die Bildung von Anekdoten und die entsprechende Legendenbildung. Das Gleiche gilt für Personen wie Sokrates. Im Bereich der politischen Philosophie wird man an Solon und bei den Römern an Numa, den sagenhaften römischen Gesetzgeber, denken. Für Sparta wäre der ebenfalls von Legenden umrankte Lykurg zu nennen. Andererseits zeigt die Mündlichkeit aber auch, dass Traditionen trotz der skizzierten Widrigkeiten und Risiken langlebig sein sollten. Wenn ein Philosoph schon zu Lebzeiten berühmt war, wenn man sich von ihm erzählte, wenn man eifrig am Mythos dieser Person arbeitete, bestanden die besten Aussichten, dass er weiterlebte. Die Antike hatte, um dies etwas weiter zu illustrieren, über Jahrhunderte eine Vorliebe für Legendenbildung. Diese war dann imstande, die schriftliche Überlieferung zwar nicht zu ersetzen, aber doch zum Teil, wenn diese fehlte, zu kompensieren. Nicht nur Pythagoras und Sokrates liefern für einen solchen Prozess einprägsame Beispiele, sondern ebenso Thales, Epikur, ferner Platon und Aristoteles. Wenn man sich also mit Texten bzw. Fragmenten der griechischen Philosophie der Klassik auseinander setzt, muss man ebenso diesen Faktor, die mündliche Überlieferung und die Legendenbildung, in den Kalkül einbeziehen. Anders ausgedrückt, muss man sich bei diesen Texten bewusst sein, dass es auch im fünften Jahrhundert eine Tendenz gab, fehlende Quellen oder Informationen durch die mündliche Überlieferung zu ergänzen. Wenn man die antike Biographie betrachtet, zeigen sich ausgeprägte Trends, die dieses literarische Genre grundlegend von der modernen Biographie unterscheiden: 1. Fehlende Informationen wurden durch eigene Erfindungen ergänzt. 2. Wo die eigene Philosophie oder allgemein Position mit dem Standpunkt des analysierten Autors kollidierte, kam es zu Polemiken. 3. Philosophische Texte wurden unter ganz subjektiven Aspekten analysiert. 4. Die Folge war, dass es zu einer teilweise willkürlichen Auslegung kam.

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Diese Punkte zeigen, dass man bei der Analyse der fraglichen Texte der Philosophie der Klassik vorsichtig zu sein hat. Den antiken Biographen darf nur dann unbesehen geglaubt werden, wenn sie lediglich aus dem Werk des jeweiligen Philosophen exzerpieren. Kommt allerdings eine Interpretation dieser Texte hinzu, muss man mit Verfälschungen und Adaptationen an die eigene Philosophie rechnen. Oder anders ausgedrückt: man hat von der jeweiligen Position dessen, der einen solchen Text exzerpierte und interpretierte, zu abstrahieren. Man kann leicht erkennen, dass dies die Arbeit des modernen Interpreten und Philosophiehistorikers nicht gerade erleichtert. Grundsätzlich gilt es demnach festzuhalten, dass die Überlieferung der Texte bzw. Fragmente der Philosophie der Klassik für den modernen Interpreten nicht unproblematisch ist. Er hat sich mit den Eigenarten des Rezeptionsprozesses auseinander zu setzen, er hat ferner ein entsprechendes Problembewusstsein zu entwickeln, mit dem er die gravierenden Differenzen zwischen der antiken Auseinandersetzung mit philosophischen Texten und modernen Methoden zu reflektieren vermag. Auf der anderen Seite gilt es zu sehen, dass man im fünften und im vierten Jahrhundert in einer ungleich besseren Position war, als dies heute der Fall ist, denn die antiken Rezipienten konnten auf Originale zurückgreifen, und ihnen standen ungleich mehr relevante Informationen als heutzutage zur Verfügung. Dies gilt z.B. für Platon und ebenso für Aristoteles, der die annähernd gesamte philosophische Tradition insbesondere im Alpha der Metaphysik überschauen konnte. 2.

Aristoteles als Vermittler der Philosophie der Klassik

Aristoteles ist eine der wichtigsten Quellen, was unsere Kenntnis der griechischen Philosophie zur Zeit der Klassik betrifft, um nicht zu sagen: die wichtigste überhaupt. Zum einen stand er dem fünften Jahrhundert, also der Zeit der Klassik, noch relativ nahe (geb. 384 – gestorben 322). Zum zweiten hat Aristoteles im Laufe seines Lebens enorm viel gelesen. Platon soll ihm den Spitznamen „Leser“, Anagnostes, gegeben haben. Er besaß eine riesige Bibliothek. Zum dritten hat sich Aristoteles in einer systematischen Weise mit seinen Vorgängern auseinander gesetzt.

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Da beginnen jedoch schon die im letzten Kapitel bereits angesprochenen Probleme: Aristoteles hat als Systematiker, erst in zweiter Linie als Historiker, die Geschichte der griechischen Philosophie bis zu seiner Gegenwart analysiert. Er hat die erste systematische Philosophiegeschichte des Abendlandes im ersten Buch seiner Metaphysik geschrieben – angefangen mit Thales und den anderen Philosophen von Milet bis hin zu den Pythagoreern und Platon. Diese Philosophiegeschichte ist nur auf den ersten Blick wertneutral. Tatsächlich ist sie mit Aristoteles' eigenen Kategorien durchsetzt. Er wandte in diesem Abriss seine Lehre von den vier Ursachen oder Prinzipien, die sog. Teleologie, an. Er verwendete bereits in diesem ersten Buch der Metaphysik die Begriffe „Substanz“, „Wesen“ und seinen Naturbegriff und bezog diese auf die Philosophie vor ihm. Er diskutierte seine Vorgänger, besonders Platon, in seiner eigenen Weise, so dass als Resultat nicht ein historischer Überblick über die Geschichte der griechischen Philosophie, sondern eine Systemanalyse nach eigenen Kategorien herauskam. Gleichwohl wird man sagen können: das, was Aristoteles in dieser Philosophiegeschichte geleistet hat, ist grandios. Wenn wir diesen Abriss nicht hätten, wären wir um viele Informationen und um die den Okzident prägende erste Darstellung der griechischen Philosophie ärmer. Dies gilt besonders für die Vorsokratiker, aber auch für Platon, der in diesem ersten Buch der Metaphysik sehr ausführlich vorkommt und von dessen Lehre wir von Aristoteles viele Informationen erhalten, die sich in den platonischen Dialogen nicht finden. Dieser Befund führte in der Forschung ab den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts zur sog. ungeschriebenen Lehre Platons, indem man die Diskrepanzen zwischen Aristoteles' Platon-Darstellung im Alpha der Metaphysik und den platonischen Dialogen zum Anlass nahm, eine platonische Position in der Akademie zu hypostasieren, die sich erheblich, besonders im Bereich der Mathematik (Ideenzahlen), von den publizierten Dialogen unterschied. Aristoteles stand Platon in der Regel sehr kritisch gegenüber. Die Darstellung im Alpha der Metaphysik ist noch relativ neutral. Es gibt in den Ethiken und ebenso in der Politik sehr distanzierte Passagen, was Platons Ideenlehre und seinen Idealstaat betrifft. Aristoteles besaß, und das macht ihn als Quelle für die platonische Philosophie so wertvoll, unmittelbare Kenntnisse der Akademie, deren Mitglied er zwanzig Jahre war. Er konnte die platonische, innerschulische Lehre auf diese Weise

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viel besser als Außenstehende beurteilen und einordnen. Das macht die Platon-Darstellung im ersten Buch der Metaphysik so wichtig. Aristoteles' Arbeitsweise ist in diesem Zusammenhang von einer nicht unerheblichen Bedeutung, weil sie über seinen Philosophiebegriff und seine Sicht der Tradition Aufschluss gibt. In der Regel exzerpierte er Texte, in diesen Fällen kann man seiner Analyse, soweit sie nicht von seinen eigenen Kategorien durchsetzt ist, folgen. Dann gibt es nur Paraphrasen, die man nicht unmittelbar rezipieren darf. Wir können im allgemeinen nicht verifízieren, ob Aristoteles genau paraphrasierte oder ob er nicht gleichzeitig mit seinen eigenen Kategorien umschrieb. Problematisch sind jene Passagen in der Metaphysik, wo er nur Namen nannte ohne zu zitieren, bzw. wenn er Zitate anführte, ohne Namen anzugeben. Dies korrespondiert der üblichen antiken Zitierweise, die sich in diesem Punkt fundamental von der modernen Zitiertechnik unterscheidet. Wenn Aristoteles der Tradition eine besondere Bedeutung beimaß und die Positionen der einschlägigen Autoren für erwähnenswert hielt, exzerpierte er. Wenn er z.B. im Zusammenhang mit Pythagoras keine genaue Quellenkenntnis besaß, verwies er summarisch auf den Begriff „Pythagoreer“. In solchen Fällen wird klar, dass er vom Schulgründer in Kroton kein größeres Wissen als wir hatte. Insofern haben auch diese summarischen Verweise indirekt einen gewissen Eigenwert, denn sie indizieren, dass Aristoteles im Alpha der Metaphysik den Begründer der pythagoreischen Schultradition eben nicht nannte, wenn er lediglich die Lehre der Pythagoreer nach dem Gründer kannte. Neben diesen Eigenarten der antiken und speziell aristotelischen Zitiertechnik gilt es zu sehen, dass Aristoteles einen ganz eigenen Begriff von Philosophie hatte. Er war davon überzeugt, dass die griechische Philosophie mit ihm einen Höhepunkt und Abschluss erreichte. Die Interpretation der Vorgänger erfolgte aus einer teleologischen Perspektive. Prozesse innerhalb der Philosophie sind demnach immer zielgerichtet, sie steuern, so Aristoteles' Überzeugung, auf feste Punkte zu. Es gibt einen teleologischen Prozess innerhalb der Evolution der Philosophie, der in gewisser Weise determiniert ist. Aristoteles' Philosophie avanciert dann zu einem logischen Schluss in der Genese der Philosophie. Auch dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man Aristoteles' Bedeutung als eines sehr wichtigen Philosophiehistorikers für die Philosophie des fünften Jahrhunderts einzugrenzen versucht.

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Die Philosophie hatte für Aristoteles die Funktion, die Leistungen der Vorgänger systematisch, in erster Linie dialektisch zu prüfen. Das Buch Alpha der Metaphysik liefert ein frühes Beispiel dieses philosophischen Prüfprozesses. 3.

Die Rolle Platons

Platons Position im Kontext der Rezeption der Philosophie ist eine problematische. Auf der einen Seite rezipierte er in vollem Umfang die Naturphilosophie des fünften Jahrhunderts (Anaxagoras, Parmenides), ferner die wichtigsten Sophisten wie Protagoras, Gorgias, Prodikos und Hippias, auf der anderen Seite stellen seine Dialoge ein ganz anderes literarisches Genre als die aristotelischen Schriften dar, bei denen es sich ursprünglich um Vorlesungen handelt, die nicht für die Publikation bestimmt waren. Diese Differenz ist, was die Rezeption der Philosophie des fünften Jahrhunderts angeht, ganz wesentlich. Die platonischen Dialoge basieren auf Mimesis und Rollenspiel. Vieles, um nicht zu sagen: fast alles, in ihnen stellt eine Verfremdung der von Platon bzw. seinem Sokrates zitierten/paraphrasierten Autoren dar. Das, was Sokrates im Phaidon über Anaxagoras sagt, repräsentiert nicht im Verhältnis 1:1 das Werk dieses Naturphilosophen, das Gleiche gilt für die von Platon zitierten Sophisten Protagoras, Gorgias und Hippias, die ja sogar als Namensgeber von mehreren Dialogen fungieren. Zwischen dem Dialog und dem Leser gibt es eine Distanz, die aufgrund der mimetischen Gestaltung dieser Literaturform zustande kommt. Die Werke und Positionen der Sophisten und des Anaxagoras sowie des Parmenides lassen sich durch Platons Dialoge nicht einfach rekonstruieren; diese Annahme wäre naiv. In den platonischen Dialogen gibt es keine wissenschaftlichen Diskurse wie in den aristotelischen Pragmatien, die man als Leser sozusagen schrittweise verfolgen und nachvollziehen kann. Es existieren in den platonischen Dialogen so gut wie keine wörtlichen Zitate bzw. Paraphrasen, Platon verfremdete die authentischen Lehren der zitierten Philosophen und Sophisten. Dies bedeutet für die Rekonstruktion der Philosophie des fünften Jahrhunderts, dass man Platons Mitteilungen und Positionen in den Dialogen nicht als unmittelbare Quellen nutzen sollte. Platon gibt sozusagen Skizzen und literarisch ausgeschmückte Darstellungen von

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Philosophen und Sophisten, er liefert also keine neutralen oder mehr oder weniger zuverlässige Quellenschriften. - Aristoteles' Dialoge unterscheiden sich von den platonischen Dialogen insofern, als er Thesen und Antithesen in Verbindung mit längeren Monologen verwandte und die mimetische Darstellung zugunsten von philosophischen Traktaten aufgab. Die aristotelischen Dialoge lassen sich folglich als Quellen für die Rekonstruktion philosophischer Autoren verwenden. Das Phänomen – die Integration dieser Philosophen und Sophisten in philosophische, dialogische Kontexte bei Platon – ist jedoch an sich schon interessant genug. Es zeigt zumindest drei Dinge: die Philosophie in Athen war nicht nur in der Öffentlichkeit präsent. Sie wurde auch auf der literarischen Ebene diskutiert. Zum zweiten gab es lebendige Diskussionen in der platonischen Akademie über diese öffentliche Philosophie. Die Sophisten wurden einbezogen. Zum dritten handelt es sich um ein kulturelles Phänomen. Es zeigt zum einen, dass Philosophie und Gesellschaft in der Zeit der Klassik eng miteinander zusammen hingen. Zum anderen wird die Rolle Athens in dieser Zeit sichtbar. Athen war in diesem Zeitraum das geistige Zentrum Griechenlands. Wer als Philosoph etwas auf sich hielt oder bekannt werden wollte, musste in dieser Stadt aktiv werden. Dies gilt für Philosophen wie Anaxagoras aus Klazomenai, Demokrit aus Abdera, Protagoras, der ebenfalls von dort stammte, sowie für die Sophisten Hippias von Elis, Gorgias von Leontinoi und Prodikos von Keos. Die Auseinandersetzung mit den platonischen Dialogen wird auf diese Weise auch zu einer kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. - Die Römer haben übrigens in der Republik, der späten Republik und der augusteischen Zeit diese Tradition aufgegriffen, denn es gehörte zur Erziehung, dass man als junger Römer nach Athen ging, um dort Philosophie zu studieren, meistens in der Akademie, aber auch in anderen Philosophenschulen. In Athen zur Zeit Platons gab es insgesamt drei bedeutende Philosophenschulen: das Lykeion, die Schule, in der die Sophisten unterrichteten, die Akademie Platons und das Kynosarges, jene Schule, die der älteste Sokratesschüler, Antisthenes, gegründet hatte. Dieser hat sich ebenfalls mit der Tradition der früheren Philosophie auseinander gesetzt. Er hat dies wie Platon in Form von Dialogen gemacht, was auch in diesem Falle eine Rekonstruktion früherer philosophischer Positionen erschwert bzw. sogar unmöglich macht. Die Konkurrenz zwischen diesen drei Schulen war groß. Dies zeigt indirekt die kulturelle Leben-

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digkeit, die in Athen herrschte. Es zeigt ferner, dass man sozusagen fremde Traditionen in dieser Stadt zu integrieren versuchte. Daneben gab es die Außenseiter, Personen, die sich kritisch mit diesen athenischen Traditionen auseinander setzten. Anaxagoras, der bekannteste Naturphilosoph seiner Zeit, wäre da zu nennen, ferner Sokrates. Diese Vertreter haben keine Paraphilosophie begründet, aber durch ihre Philosophie entstand eine neue Bewegung, in der man sich kritisch mit den Mitteln der reinen Vernunft mit Traditionen beschäftigte. Wenn man Platon als eine Quelle für die Rekonstruktion der Philosophie des fünften Jahrhunderts nennt, darf man die anderen Sokratiker nicht vergessen. Da kommt in erster Linie Xenophon infrage. Anders als im Falle der platonischen Dialoge sind seine sokratischen Dialoge, insbesondere die Memorabilien und der Oikonomikos, Schriften, die eine Rekonstruktion früherer philosophischer Werke eher erlauben. So reflektierte Xenophons Sokrates in den Memorabilien 4, 7 die Rolle der Naturphilosophie (Anaxagoras) im Athen des fünften Jahrhunderts und konstruierte eine Antithese zwischen einer konservativen Religion, der er anhing, und einer aufklärerischen Physik, die die Grenzen der Theologie durch ihre Forschungen transzendierte. Wie bei Platon im Phaidon, trat auch in Xenophons Memorabilien Anaxagoras als der Naturphilosoph seiner Zeit in Erscheinung. Über diesen Philosophen wurde demnach in Athen im fünften Jahrhundert von verschiedenen Seiten debattiert. Xenophon qualifizierte Anaxagoras in den Memorabilien 4,7,6 als einen unvernünftigen Philosophen, weil er den im Kosmos waltenden göttlichen Plan zu erklären versucht habe. Naturwissenschaft wurde an dieser Stelle zu einem gefährlichen Konkurrenten der Religion. Xenophons Zeugnis ist deswegen so wichtig, weil es zeigt, dass es in Athen im fünften Jahrhundert Auseinandersetzungen zwischen aufgeklärten Vertretern der Naturwissenschaften und den Traditionalisten gab. Xenophon lieferte mit seinem Sokratesbild ein Konkurrenzmodell zum platonischen Sokrates. Er bezog wie Platon Stellung zu den Sophisten, indem er z.B. in den Memorabilien 2,1 den Sophisten Prodikos mit dessen Fabel von Herakles am Scheideweg zitierte. In Memorabilien 3,1 reflektierte er auf die Unterrichtspraxis zweier namhafter Sophisten, die einem Sokratesschüler Unterricht in der Strategie erteilten. Die Sophistik ist neben der aufgeklärten Naturphilosophie in

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Xenophons Werk präsent. Da trifft er sich mit Platon, der, wie soeben angedeutet, die Sophisten und ihre Positionen rezipiert, indem er sie in seinen Dialogen verfremdet. Als philosophische Quellen für die Erhellung der Philosophie des fünften Jahrhunderts kommen beide Autoren in Frage, aber man hat zu berücksichtigen, dass Platon durch seine mimetische Darstellung einen direkten und unmittelbaren Zugang zu zeitgenössischen oder früheren Philosophen und Sophisten versperrt. Xenophons Dialoge sind insofern anders, als in ihnen stärker als bei Platon die Lehren früherer Autoren referiert werden. Platon und Xenophon stehen allerdings als Quellen zur Rekonstruktion der Philosophie der Klassik nicht auf einer Stufe mit Aristoteles. Dies zeigt allein schon das Alpha der Metaphysik, die erste systematische Philosophiegeschichte der europäischen Literatur. Für diese Rekonstruktion bildet Aristoteles die wichtigste Quelle.

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II.

Ontologie

1.

Die Entdeckung des Seins als historisches Erbe der Vorsokratiker

Bei dem Begriff „Ontologie“ handelt es sich um ein Kompositum, das nachantik ist. Er entstand in der mittelalterlichen Scholastik und bezeichnet ganz allgemein die „Lehre vom Seienden“. Die Griechen, so bereits Parmenides, dann Platon und Aristoteles, haben in dieser Ontologie einen eigenständigen Zweig der Philosophie gesehen. Kanonisch wurde allerdings die Dreiteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik durch Xenokrates, den zweiten Nachfolger Platons in der Akademie. Diese Dreiteilung erhob den Anspruch, erschöpfend zu sein. Die Logik fungierte als die Grundlage der Beschäftigung mit Philosophie. Sie repräsentierte eine logische Propädeutik. Die Physik deckte sich weitgehend mit der Naturphilosophie. In der Ethik sah man damals die Beschäftigung mit den Charakteren der Menschen. In der Zeit der Klassik und noch bei Aristoteles gab es keine Trennung von Ethik und Anthropologie. Wer sich als Ethiker betätigte, betrieb auch Anthropologie. In der Antike hat man Ethik und Anthropologie als eine Einheit gesehen. Aristoteles kannte allerdings den Begriff „Anthropologos“. Doch was ist mit dem Titel „Die Entdeckung des Seins als historisches Erbe der Vorsokratiker“ gemeint? Genau genommen müsste man „Wiederentdeckung“ sagen. Die Ontologie als Teilbereich der Philosophie hat es bereits vor der Zeit der Klassik gegeben. Die drei milesischen Philosophen Thales, Anaximander und Anaximenes haben sich mit Ontologie beschäftigt. Sie entwickelten, ausgehend von Thales, eine regelrechte Theorie der Elemente. Sie haben insbesondere nach dem Ursprung der Welt gefragt. Das Sein, das sie analysierten, war zunächst ein eher statischer Seinszustand. Die Übergänge der Elemente in eine andere Aggregatsform waren noch nicht Gegenstand ihrer Betrachtungen. Da musste erst Xenophanes von Kolophon kommen, der sich als Physiker, Geologe und als Biologe neben seiner literarischen Tätigkeit beschäftigte. 27

Es gab in der Frühzeit der griechischen Philosophie im wesentlichen zwei Konzeptionen innerhalb der Ontologie: einerseits ging man von einem statischen Sein aus. Diese Annahme findet sich bei den genannten Philosophen in Milet. Besonders Parmenides verfocht in Elea in Unteritalien diese Position, der gleichzeitig auf diesem statischen Sein, wie noch zu sehen sein wird, seine Erkenntnistheorie aufbaute. Zum anderen rechnete man mit einer ständigen Veränderung des Seins. Nichts innerhalb des Kosmos habe Bestand. Alles sei in Bewegung, verändere sich permanent, die Elemente gingen ständig in andere Zustände über. Das einzige, was innerhalb dieser natürlichen Prozesse von Bestand und Dauer sei, sei die Veränderung selbst. Als Hauptrepräsentant dieser Position ist Heraklit von Ephesos zu nennen. In seiner Philosophie nimmt der Logos eine zentrale Stellung ein. Heraklit bevorzugte Analogien; er parallelisierte den Mikrokosmos des Menschen mit dem Kosmos, den er als erster Philosoph so bezeichnete. Es gab für ihn einen individuellen Logos und einen solchen im All, der sozusagen als Steuerungsorgan den Lebensbereich des Individuums reguliert. Berühmt wurde Heraklit in der Antike als „dunkler Philosoph“, der bereits damals schwer verständlich erschien. Heraklits Position gegenüber der permanenten Veränderung des Seins wurde in der Antike auf den Begriff „Alles fließt“ gebracht. Dieses Zitat ist nicht ganz authentisch. Platon als der früheste Zeuge zitiert den ephesischen Philosophen anders: „Wir steigen niemals zweimal in denselben Fluss“. Mit einem Wort: die Ontologie vor der Zeit der Klassik war in der Philosophie bereits etabliert. Man könnte demnach den Sachverhalt so formulieren: die Philosophen der Klassik haben einen traditionellen Zweig der Philosophie von der archaischen Zeit geerbt. Fragestellungen, die den Kosmos, die Erde, die Funktionsmechanismen betreffen, mit denen natürliche Prozesse ablaufen, waren ebenfalls schon vorgegeben. Im folgenden nun fünf Fragen: 1. Was also haben Philosophen des fünften Jahrhunderts an Neuem zu einer Entwicklung beigetragen, die schon um einiges älter war? 2. Wie sind sie mit den Traditionen umgegangen? 3. Wie haben sie sich selbst in diesen Traditionen lokalisiert? 4. Gab es Traditionsbrüche?

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5. Wie wirkte diese ontologisch orientierte Philosophie ihrerseits auf die Folgezeit? Im folgenden soll besonders auf drei Philosophen, Anaxagoras, Parmenides und Demokrit, eingegangen werden. Zuvor jedoch einige Bemerkungen zu einer Eigenart der Philosophie der Klassik: in dieser Philosophie tauchen teilweise in einem erhöhten Maße autobiographische Aussagen auf. Philosophie und Autobiographie gehören in diesem Zeitraum in einer Weise zusammen, wie sie in späteren Zeiten nicht wieder vorkommen sollte. Eine Ausnahme bildet Aristoteles. So hat Demokrit in seiner Ethik, vielleicht auch in seinen naturwissenschaftlichen Schriften, eine chronologische Einordnung seiner eigenen Person in die Geschichte der Philosophie versucht. Er sei 40 Jahre jünger als Anaxagoras. Von Demokrit wissen wir, dass er 470 geboren wurde, er war seinerseits zwei Jahre älter als Sokrates (geb. 468). Solche Informationen sind für den modernen Betrachter sehr wertvoll – allein schon deswegen, weil es sich um authentische Zeugnisse handelt, die, was den Wahrheitswert betrifft, den Wert von sekundären Quellen übertreffen. Durch Aristoteles erfährt man ein weiteres biographisches Detail. Anaxagoras, der in dieser Zeit berühmteste Naturphilosoph Griechenlands, sei zwar viel älter als Demokrit gewesen, habe aber später als dieser damit begonnen, Philosophie in Schriften zu formulieren. Die Äußerungen dieser Philosophen über die eigene Person bildeten schon in der Antike die entscheidende Grundlage, um sie chronologisch einzuordnen. Anaxagoras wurde demnach circa 510 geboren. Er gehört damit noch zum Teil in die archaische Zeit, dann in die Zeit des Übergangs zur Klassik (475 – 450) und in die Klassik selbst (450 – 400). Gestorben ist er im Jahre 428 in Lampsakos, wohin er nach einem jahrelangen Aufenthalt in Athen emigrierte, weil ihm dort ein Prozess wegen Asebie drohte. Anaxagoras übte einen eminenten Einfluss auf Sokrates aus. Er hatte Umgang mit Euripides und galt in Athen als der Naturphilosoph. Anaxagoras war ein neuer Typus des reinen Theoretikers, der der Theorie die Praxis unbedingt unterordnete. Wichtige Reflexe seiner Philosophie finden sich in Xenophons Memorabilien 4,7. Parmenides wurde circa 490 – 480 in Elea in Unteritalien geboren. Er galt in der Antike als Begründer der Schule von Elea und war stark beeinflusst von Xenophanes von Kolophon, der nach einigen antiken

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Zeugnissen sogar diese Schule gegründet haben soll. Wann Parmenides starb, ist unbekannt. Er soll sich auch eine Zeit lang in Athen aufgehalten haben. Er übte einen großen Einfluss auf Platon und dessen Ideenlehre aus. Parmenides begründete eigentlich erst die Zwei – Welten – Theorie, indem er in eine wahre Welt und eine des Scheins, diese physikalische Welt, differenzierte. Parmenides wurde zum antiken Hauptvertreter des ontologischen Dualismus. Demokrit stammte aus Abdera in Thrakien, war, wie bereits erwähnt, zwei Jahre älter als Sokrates. Abdera war auch die Heimat des Protagoras, der ebenfalls seine Aktivitäten nach Athen verlagerte. Demokrit gilt als der eigentliche Begründer der Atomistik. Er war ein universeller Geist, der nahezu auf allen Gebieten forschte. Er publizierte über Naturphilosophie, Ethik, Logik, betrieb sprachwissenschaftliche Studien und arbeitete über Mathematik und da besonders über Geometrie. Demokrit führte die Ethik auf eine neue Ebene: weg von der Ethik als einer reinen Kasuistik, hin zur Ethik als System. Er konkurrierte insofern mit Sokrates. Nun jedoch zur ersten Frage: Was haben Philosophen der Klassik an Neuem zu einer Entwicklung beigetragen, die schon um einiges älter war? Zunächst wird man sagen können, dass sich im fünften Jahrhundert Philosophie in einem anderen Rahmen und unter anderen Bedingungen vollzogen hat. Die Zeiten, in denen Philosophie integraler Bestandteil der Gesellschaft war – man denke an Thales und die anderen Philosophen in Milet - , waren erst einmal vorbei. Also hatte sich die Philosophie ihr Terrain zurück zu erobern. In Unteritalien, wo Parmenides arbeitete, war die Situation etwas anders, weil es dort eine starke Einbindung der Philosophie in die Gesellschaft gab. Die griechische Kultur war in diesem Raum präsent. Der erste, der hier eine entsprechende Tradition begründet hatte, war Pythagoras. Da gab es also so etwas wie ein Kontinuum. Die Bewohner von Elea, Kroton und auch Tarent waren an die Philosophie als einen festen Bestandteil der jeweiligen Stadt gewöhnt. In Athen mussten die Philosophen sich erst ihren Platz in der Gesellschaft erobern. Dies geschah primär durch öffentliche Vorlesungen und Vorträge sowie durch den Dialog in den Gymnasien und auf der Agora. Das öffentliche Philosophieren, das besonders Sokrates prägte, steht in dieser skizzierten Tradition. Einen wesentlichen Beitrag haben in diesem Kontext die Sophisten geleistet,

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die gegen gutes Geld in der Öffentlichkeit Vorträge hielten und die Söhne reicher Athener primär in der Politikwissenschaft unterrichteten. Das Neue, das die Philosophen des fünften Jahrhunderts beigetragen haben, bestand in folgendem: sie haben auf dem Gebiet der Ontologie systematisiert. Ferner gab es eine eindeutige Tendenz, die traditionelle Ontologie mit einer Geistphilosophie zu verbinden. Der entscheidende Philosoph auf diesem Gebiet war Anaxagoras. Er hat anscheinend als erster in der Geschichte der griechischen Philosophie den Nus, den Geist, eingeführt. Dieser Geist fungierte als ein Weltgeist, der die Raum – Zeit – Koordinaten zur Verfügung stelle, der das „Steuerungsprogramm“ für die Entstehung der Welt geliefert habe und der es dem Menschen ermögliche, in einem geordneten Koordinatensystem zu denken und zu handeln. Das war eine Philosophie, die eine echte Alternative zu den physiologischen Theorien der Weltentstehung durch die milesischen Philosophen darstellte. Anaxagoras ging anscheinend von der Unendlichkeit dieses Seins aus. Wir besitzen ein Fragment (VS 59 B 3), in dem er ausdrücklich das Prinzip der Infinitesimalrechnung formulierte. Zu jeder Zahl und zu jeder Größe gebe es eine kleinere bzw. größere Größe ad infinitum. Nun könnte man sich fragen, ob diese Aussagen auf die Mathematik oder ebenso auf die Physik bezogen waren. Der Kontext lässt keine definitive Entscheidung zu, doch der Text spricht, da er sehr allgemein formuliert ist, vielleicht eher dafür, ihn auf beide Bereiche zu beziehen. Anaxagoras war ferner, was seine Naturphilosophie und Ontologie betrifft, ein sehr fortschrittlicher Philosoph. Er hat die Leuchtkraft der Sonne analysiert und zu erklären versucht. Er führte Größenberechnungen der Planeten durch, wobei man es ihm nicht verdenken kann, dass er zum Teil zu skurrilen Ergebnissen kam. Er stellte sich mit seinen astronomischen Studien in die Nachfolge des Thales, von dem man in der Antike überlieferte, er habe die Astronomie von den Ägyptern und Babyloniern gelernt. Anaxagoras hat in seiner Naturphilosophie mit dem Prinzip der Mischung und der Trennung die Entstehung der Welt zu erklären versucht. Dies war eine reduktionistische Welterklärung, die mit möglichst wenigen Prinzipien auszukommen versuchte. Indirekt war dies eine Spitze gegen die Monisten von Milet, die ein einziges natürliches Element als Ursache der Weltentstehung angenommen hatten. Die

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Theorie, die Anaxagoras entwickelte, war weder monistisch noch war sie physiologisch. Es ergab sich folgendes Bild: als oberstes Prinzip diente der Weltgeist. Er steuert alles, ihm ist zu verdanken, dass sich die Elemente verbinden und wieder trennen. Die Logik oder anders ausgedrückt: die Naturgesetze, durch die diese Prozesse zustande kommen, werden diesem Nus verdankt. Der Mensch als Teil der Natur unterliegt diesen Naturgesetzen. Das Sein, von dem Anaxagoras sprach, war für den Wissenschaftler erkennbar. Alle Rätsel der Natur zeugen von einer Logik derselben. Diese Rätsel können vom Menschen entschlüsselt werden. Eines der Rätsel, das Anaxagoras in seinem Werk „Über die Natur“ beschrieb, lautete: wie ist es in der Natur möglich, dass bei einer permanenten Mischung und Trennung der Elemente ein Gesamtzustand erhalten ist, der sozusagen ein kosmisches Gleichgewicht darstellt? Anaxagoras hat darauf keine explizite Antwort gegeben, doch den Fragmenten ist zu entnehmen, dass er auch diesen stabilen Gesamtzustand dem Weltgeist zugeschrieben hat. Wenn man dies überschaut und nach der Eigenart dieser Ontologie fragt, zeigt sich, dass diese Seinslehre durchaus etwas Neues darstellte. Es gab die monistischen Ansätze der milesischen Philosophen, ferner existierte die Ontologie des Empedokles (483 – 423), der allerdings erheblich jünger als Anaxagoras war. Aber die Idee, einen Weltgeist als oberste kybernetische Kraft anzusetzen, die alles, auch die Menschen, steuere, war neu, und sie zeigt auch, welches Abstraktionsvermögen diese Philosophie der Klassik besaß. Was noch fehlte, und was dann eigentlich erst von Aristoteles in die Philosophie eingeführt wurde, waren die abstrakten Begriffe wie Potentialität und Aktualität, materielle Ursachen und Zwecke, mit einem Wort die Teleologie. Aber Anaxagoras ist es zu verdanken, dass die griechische Philosophie geradezu einen Quantensprung nach den Anfängen in Milet und an der ionischen Küste vollzogen hat. Die zweite Frage: Wie sind die Philosophen der Klassik mit den Traditionen umgegangen? Zunächst wird man sagen können, dass es ohne die Anfänge in Milet und auch ohne die Philosophie Heraklits in Ephesos diese Blüte der griechischen Philosophie in der Klassik nicht gegeben hätte. Man könnte es mit Aristoteles, Topik 9,34 folgendermaßen formulieren: In jedem Bereich des menschlichen Wissens sind die Anfänge das Schwerste. Wer einen solchen Anfang erst einmal

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gemacht hat, steht auf einer anderen Ebene als seine Nachfolger. Diese bauen auf dem Beginn auf. Ihre Leistungen sind leichter zu vollbringen als die des Begründers. Es gab in diesem Zusammenhang ein griechisches Sprichwort: Der gute Anfang ist die Hälfte des Ganzen. Warum dieses Zitat? Weil damit deutlich werden soll, welch große Leistung es darstellte, wenn drei Philosophen in Milet im siebten Jahrhundert eigentlich erst die Philosophie begründeten. Die späteren Generationen haben dies nicht vergessen. Zwar setzte sich Anaxagoras nicht explizit mit den Vorgängern aus Milet auseinander, zumindest liefern die erhaltenen Fragmente keine entsprechenden Informationen. Aber durch die angesprochene Einführung des Weltgeistes, ferner der beiden Prinzipien der Mischung und der Trennung, hat dieser Philosoph signalisiert, in welcher Tradition er sich befand und gesehen werden wollte. Das Gleiche gilt für die Ontologie Demokrits. Zunächst könnte man freilich den Eindruck gewinnen, dass er nicht in festen Traditionen gestanden hat. Die Begründung der Atomistik durch Demokrits Lehrer Leukipp, die sein Schüler freilich ausgebaut hat, wirkt in der Geschichte der griechischen Philosophie wie ein Solitaire. Keiner der Philosophen vor ihm ging von kleinsten, unteilbaren Teilchen aus. Das Prinzip der Unendlichkeit spielte, wie zu sehen war, in Anaxagoras' Philosophie eine wesentliche Rolle. Die Atomisten führten nun als Hypothese – und dies war insofern neu – die Annahme von der begrenzten Materie ein. Sie spekulierten über den Aufbau dieser Atome, und sie versuchten zu zeigen, dass diese unsichtbare Materie den gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten wie die gesamte Materie gehorche. Das war also eine Analogiemethode, die die noch nicht vorhandenen Möglichkeiten physikalischer Versuche kompensieren sollte. Solche Analogiemethoden spielten im Denken der Griechen eine große Rolle. Prominent war dabei die Analogie zwischen Mikro – und Makrokosmos, die zum ersten Male bei Heraklit begegnete. Pythagoras hat ähnliche Entsprechungen gesehen, indem er die Theorie von der Sphärenharmonie entwickelte. Die Natur und der Kosmos fungierten als Vorbilder für den Menschen und die Erde. Pythagoras hat seine Beobachtungen in der Harmonielehre auf den Kosmos übertragen. Etwas Ähnliches lässt sich in anderen Wissenschaften beobachten. Aristoteles kannte in seiner Politik ebenfalls Analogien zwischen kleinsten Einheiten wie dem Haus und der Polis als dem Ganzen. Platon,

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der in dieser Beziehung unter Pythagoras' Einfluss stand, entwickelte Analogien als festen Bestandteil seines Weltmodells. Der Mathematiker Theaitetos prägte im fünften Jahrhundert seine Proportionenlehre aus. Anaxagoras kannte solche Analogiemethoden (VS 59 B 21 a). Er formulierte folgendes Prinzip: die Phänomene sind die Ansicht der unsichtbaren Dinge. Er schloss demnach aus dem Sichtbaren auf das Unsichtbare. Die Phänomene wurden aufgewertet. Sie gestatteten Rückschlüsse auf die unsichtbare Materie. Diese Sicht richtete sich direkt gegen Parmenides' Zwei – Welten – Theorie, die auf der Annahme basierte, dass zwischen der physikalischen Welt und dem Kosmos der Wahrheit eine tiefe und unüberbrückbare Kluft existiere. Demokrit (VS 68 A 111) hat dieses Modell in seiner Philosophie übernommen. Vgl. dazu auch A.Stückelberger, Einführung in die antiken Naturwissenschaften, S.136. Die Empirie, die auf der Wahrnehmung der sichtbaren Materie basiert, wurde auf diese Weise entscheidend im Vergleich mit spekulativen und zugleich metaphysischen Methoden höher bewertet. Der zunächst relativ harmlose Satz des Anaxagoras gewann auf diese Weise an Sprengkraft. Für diesen Philosophen ermöglichte sich eine Brücke zwischen seiner Geistphilosophie und der physikalischen Welt. Alles, was der Mensch phänomenologisch aufgrund seiner Sinneswahrnehmungen perzipieren kann, dient dazu, die hinter der Materie existierende und unsichtbare Welt zu erkennen. Die nicht unmittelbar wahrnehmbaren Strukturen hinter der Realität werden durch empirische Beobachtungen innerhalb dieses physikalischen Raums einsichtig. Anaxagoras' Satz über die Bedeutung der Phänomene steht am Anfang einer langen Tradition, die in der Antike vom platonischen Idealismus über die Stoiker bis zu den Skeptikern reichte. Es ging grundsätzlich immer wieder um die Frage, welche Bedeutung diese Phänomene für die Erkenntnistheorie und die Erkenntnis eines metaphysischen Raums haben. Auch die Sprachphilosophie schaltete sich in diese Diskurse ein, indem gefragt wurde, inwiefern Sprache eine objektive Erkenntnis ermögliche und man mit ihrer Hilfe metaphysische Strukturen erschließen könne. - Von der Antike lässt sich der Diskurs bis ins Mittelalter mit dem sog. Universalienstreit und bis zu Edmund Husserl und seiner phänomenologischen Methode im 19./20 Jahrhundert verfolgen. Die dritte Frage: Wie haben sich die Philosophen des fünften und vierten Jahrhunderts in diesen Traditionen lokalisiert? Da lässt sich gut auf die bereits erwähnte Philosophiegeschichte des Aristoteles im Alpha

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der Metaphysik rekurrieren. Aristoteles hat die Entwicklung der Philosophie so dargestellt, als wenn sie eine logische Fortsetzung der archaischen Zeit gewesen wäre. Empedokles, Demokrit, Anaxagoras hätten auf ihren Vorgängern, so auf Pythagoras, aufgebaut. Die philosophischen Traditionen seien in der Klassik rezipiert worden. Das stimmt nur zum Teil. Es gab, wie schon mit Bezug auf Anaxagoras und Demokrit angedeutet, Traditionsbrüche. Es gab ebenfalls kritische Auseinandersetzungen mit den Traditionen der archaischen Zeit. Die Vertreter der Philosophie der Klassik haben sich einerseits ganz bewusst in diese Traditionen gestellt, teilweise jedoch sind sie eigene Wege gegangen. Ein gutes Beispiel liefert Parmenides. Seine Ontologie knüpfte zum einen an die archaischen Traditionen an, zum anderen jedoch grenzte er sich mit seinem Modell von einem statischen Sein eindeutig von den physikalischen Theorien der milesischen Philosophen ab. Auch seine Zwei – Welten – Theorie war eigentlich etwas ganz Neues. Die physikalische Welt wurde nun in diesem Modell zu einer Scheinwelt. Die wahre Welt hingegen avancierte zu einem idealen Muster, das für den Menschen unsichtbar war und erst erschlossen werden musste. Man müsste also Aristoteles' Darstellung im Alpha der Metaphysik in diesem Punkt folgendermaßen korrigieren: die Philosophen des fünften Jahrhunderts waren gegenüber den philosophischen Traditionen der archaischen Zeit aufgeschlossen. Sie basierten teilweise auf ihnen. Gleichzeitig jedoch setzten sie sich von diesen Traditionen ab. Sie waren mithin kritische Traditionalisten. Die Ontologie der milesischen Philosophen war im Grunde zu rudimentär, sieht man einmal von Anaximander ab, der das Unendliche, das Apeiron, als Grundlage seiner Ontologie ansetzte. Die Monisten in Milet leisteten aus der Perspektive der klassischen Philosophen zu wenig für die Erkenntnis der Welt. Wer ein Element für die Entstehung dieser Welt verantwortlich machte, ignorierte, so die Philosophen der Klassik, die Vielfalt der Realität und trug nicht dem Umstand Rechnung, dass die abstrakten Prinzipien der Mischung und der Trennung der physikalischen Elemente eine zentrale Rolle spielten. Die vierte Frage: Gab es Traditionsbrüche? Diese Frage ist eigentlich schon beantwortet. Es gab solche Brüche besonders bei Anaxagoras, Parmenides und Demokrit. Deren Ontologie ließ sich nur zum Teil mit den Ontologien eines Thales oder Heraklit vereinbaren. Diese Brüche

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fanden jedoch nur in seltenen Fällen an der Oberfläche statt. Die Auseinandersetzung mit diesen Traditionen erfolgte in der Philosophie des fünften Jahrhunderts eher implizit. Dies hängt auch mit den Zitiergewohnheiten in dieser Zeit zusammen. Es gab noch keine wissenschaftliche Zitierweise in dem Sinne, dass man den Autor, um den es ging, namentlich zitierte. Dieses „moderne“ Verfahren sollte eigentlich erst später kommen. Bei Platon und Aristoteles ist es dann voll ausgeprägt. Traditionsbrüche bedeuten auch, dass die Philosophen der klassischen Zeit sehr selbstbewusst waren. Sie reflektierten auf das Sein, seine Eigenarten, seine Entwicklung, und gleichzeitig reflektierten sie auf sich selbst. Die schon angesprochene autobiographische Komponente ist in dieser Zeit nicht zu unterschätzen. Wer sich dann wie z.B. Parmenides von einer Tradition abgrenzte, die Auseinandersetzung mit ihr suchte und seine eigene, neue Position beschrieb, signalisierte einen unverwechselbaren, eigenständigen Standpunkt – einen Standpunkt, der in der Gesellschaft erst einmal akzeptiert werden musste. Die fünfte Frage: Wie wirkte diese ontologisch orientierte Philosophie auf die Folgezeit? Da ist primär Platon und sein Verhältnis zu Parmenides zu nennen. Die Idee, es gebe eine Welt der Wahrheit jenseits dieser Welt, wurde von Platon aufgegriffen. Damit befürwortete er indirekt einen ontologischen Dualismus. Das Sein wurde quasi verdoppelt. Die Ideen der wahren Welt erhielten den Status logisch und ontologisch separater Entitäten. Die physikalische Welt wurde zu einem Abbild der Ideenwelt degradiert. Platon hat diese Ontologie aber in einem zweiten Schritt auf die Erkenntnistheorie bezogen. Was in dieser Welt geschieht und existiert, lässt sich mit den Sinneswahrnehmungen perzipieren. Diese Wahrnehmungen sind jedoch trügerisch, weil der bloße Schein trügt. Mit dem reinen Denken hingegen lässt sich die Welt der Ideen erfassen, „erblicken“, wie Platon oft in seinen Dialogen sagte. Erkenntnistheoretisch betrachtet, kann die Schau der Ideen nicht durch diskursives Denken erfolgen. Platon sah sich vor das Problem gestellt, die Kluft zwischen der physikalischen Welt und der der Ideen erkenntnistheoretisch überbrücken zu müssen. Dies leistete bei ihm die Dialektik, die das höchste Ziel in der philosophischen Ausbildung repräsentierte. Es kam das Theorem von der Anamnese hinzu, der Mensch könne sich an Wissen erinnern, das er bereits vor der Geburt erworben habe. Platon versuchte auf diese Weise, den Besitz apriorischen

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Wissens zu erklären. Für Aristoteles und seine empirische Erkenntnistheorie war dieser Weg nicht begehbar. Bei Platon standen sich auf diese Weise zwei Modi der Erkenntnis gegenüber: eine nur scheinbare in der Welt der Doxa und eine wahre, die sich auf die Welt der Ideen bezog. Die Wahrheit, so ein zentraler Satz im platonischen Gorgias, lässt sich nicht widerlegen, da sie immer mit sich selbst identisch ist. Damit wurde gleichzeitig die Empirie radikal abgewertet. Die praktischen Erfahrungen und das gesammelte Erfahrungswissen führten in diesem Modell nicht zu objektiven, messbaren und wissenschaftlichen Ergebnissen, sondern blieben immer aporetisch. Der Mensch gelangt durch die Sinneswahrnehmungen nicht zu definitivem Wissen. Auf der Gegenseite dieses idealistischen Modells steht Aristoteles. Seine Philosophiegeschichte im Alpha der Metaphysik macht deutlich, dass da der Empiriker sprach, der den praktischen Erfahrungen in seiner Ontologie und Erkenntnistheorie einen hohen Stellenwert einräumte. Diese andere Gewichtung hängt direkt mit der andersartigen Erkenntnistheorie zusammen. Diese Gnoseologie basierte auf den Sinneswahrnehmungen, sie war insofern sensualistisch. Auf diesen baut als zweite Stufe die Erinnerung auf. Die gebündelte Erinnerung wiederum führt in einer dritten Phase zur Empirie. Die Verarbeitung dieser praktischen Erfahrung resultiert in der vierten Phase in der Techne und den Wissenschaften. Auf der fünften und höchsten Stufe ist in diesem Modell die Erkenntnis der obersten und allgemeinen Prinzipien lokalisiert. Es handelt sich also um ein fünf – Stufen – Modell, in dem die praktischen Erfahrungen eine zentrale Rolle spielen. Ohne die sinnliche Wahrnehmung dieser physikalischen Welt gibt es keine Erkenntnis und ebenso wenig ein allgemeines Wissen. Aristoteles' Entwurf ist durch den Aufstieg vom Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen charakterisiert. Letzteres und die allgemeinen Prinzipien werden durch die „Erste Philosophie“ erkannt. Bei dieser handelt es sich um die Metaphysik, denn diese Prinzipien sind unsichtbar und können nur erschlossen werden. Dieser Entwurf bildet ein Konkurrenzmodell, mit dem sich Aristoteles von Platon abgrenzen wollte. Man kann daran erkennen, dass es bereits relativ früh gegensätzliche Positionen gab, was die Ontologie und die Erkenntnistheorie betrifft. Resümierend lässt sich sagen, dass die Blüte der Ontologie mit der Zeit der Klassik begann. Es entstanden neue Modelle vom Sein und

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seinen Eigenschaften. Die Philosophie der archaischen Zeit diente durchaus als ein Traditionsmuster. In der Klassik kam es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Vorgängern. Dies geschah nicht an der Oberfläche, sondern eher implizit und indirekt. Die herausragenden Philosophen des fünften Jahrhunderts, Anaxagoras, Parmenides und Demokrit, entwickelten ein hohes Selbstbewusstsein. Philosophie in diesem Zeitraum war besonders auf Ontologie und Erkenntnistheorie orientiert. Aber es gab auch andere Tendenzen: Philosophie konnte, so bei Empedokles, zur Verkünderin metaphysischer Wahrheiten werden. Wissen, besonders philosophisches Wissen, wurde von den Philosophen des fünften Jahrhunderts einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dies gilt besonders für Athen, damals das geistige Zentrum von Hellas. Wie es in anderen Städten, so in Korinth oder in Syrakus, aussah, lässt sich, weil einschlägige Informationen fehlen, nicht sagen. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Sophistik. Sie beanspruchte ebenfalls in Athen, eine intellektuelle Avantgarde zu sein. Es kam zu Austauschmöglichkeiten und wechselseitigen Einflüssen zwischen den Sophisten und der Philosophie. Die meisten Eindrücke und Informationen über diese Bewegung gewinnt man durch die platonischen Dialoge und durch Xenophon. Sokrates spielte in diesem Kontext ebenfalls eine wichtige Rolle. Er verkehrte mit einigen Sophisten und setzte sich mit ihnen sehr kritisch auseinander. Platons Darstellung ist jedoch in der Regel negativ gefärbt und vermittelt kein objektives und neutrales Bild der Sophistik. 2.

Ontologie als Bewusstseinsproblem

Man wird sich zunächst fragen, was denn Ontologie und das Bewusstsein miteinander zu tun haben. Die Lehre vom Sein betreffe doch objektive Gegebenheiten, sie setze sich mit der Struktur der physikalischen Welt auseinander und sie beziehe sich allgemein gesagt auf einen objektiven Raum sowie dessen Eigenschaften. Das Bewusstsein hingegen sei doch eine ganz und gar subjektive Größe. Wer über das Bewusstsein nachdenke, beschäftige sich mit den Bedingungen des Denkens, seinen Eigenarten und mit der Rolle, die z.B. das Individuum in der Gesellschaft spiele. Diese Einwände sind für sich betrachtet

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durchaus zutreffend. Im folgenden sollen einige Bemerkungen gemacht werden, die das, was unter dem Thema „Ontologie als Bewusstseinsproblem“ zu verstehen ist, verdeutlichen können. Wie im letzten Kapitel zu sehen war, haben sich die Griechen zur Zeit der Klassik nicht nur intensiv mit ontologischen Problemen beschäftigt, sondern sie konzentrierten ihr Interesse auch auf die Erkenntnistheorie. Man könnte also zunächst sagen: Ontologie und Erkenntnistheorie bildeten seit dieser Zeit durchaus einen Zusammenhang. Dieser sah so aus, dass ein Philosoph, wenn er über Ontologie schrieb, gleichzeitig etwas über die erkenntnistheoretischen Bedingungen sagte, unter denen man ein objektives Sein wahrnimmt, dieses analysiert und aus den Beobachtungen seine Schlüsse zieht. So hat dies bereits Aristoteles in seiner zuvor dargestellten Erkenntnistheorie gemacht, die ja in einen größeren Zusammenhang, die Metaphysik, eingebettet ist. Das gleiche Phänomen, die enge Verknüpfung von Ontologie und Erkenntnistheorie, begegnete auch bei dem Sophisten Protagoras, der in seinem berühmt gewordenen Homo – Mensura – Satz die Feststellung getroffen hat, der Mensch sei das Maß aller Dinge, derer, wie sie sind und derer, wie sie nicht sind. Dieser zunächst erkenntnistheoretisch gemeinte Satz stellte also eine enge Verknüpfung zwischen dem Sein und der Art und Weise her, wie man dieses Sein wahrnimmt und analysiert. Auch hier erfolgt also eine Verbindung von Ontologie und Erkenntnistheorie. In diesem Falle formulierte der Sophist freilich einen extrem subjektiven Relativismus, der darauf hinaus lief, dass die Objekte unseres Denkens und Wahrnehmens sich qualitativ so verändern, wie der Mensch sie wahrnimmt. In dem Moment, in dem man sich in der Antike, also im fünften Jahrhundert, bewusst machte, dass es auch von der Art, wie man denkt und perzipiert, abhängt, wie sich die Objekte der physikalischen Welt verhalten, konnte man von einem Bewusstsein des subjektiven Betrachters sprechen. Das Denken über die Welt wurde zum Gegenstand der subjektiven Reflexion. Platon hat dieses Phänomen als das Denken des Denkens bezeichnet. Damit war man sich der eigenen Reflexivität bewusst. Man kann daran wiederum erkennen, wie abstrakt die Griechen in diesem Zeitraum zu denken vermochten und wie sie, besonders in der Philosophie, darum bemüht waren, sich Klarheit über das menschliche Denken zu verschaffen. Das Besondere besteht in der Verknüpfung von Ontologie und

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Selbstbewusstsein: wer auf das Sein und die objektive Realität reflektiert, tut dies im gleichen Maße mit Bezug auf sich selbst. Wer über die Bedingungen dieser Realität und die objektiven Eigenschaften der Seinsobjekte nachdenkt, reflektiert zugleich auf die Erkenntnisbedingungen und damit auf das, was das Erkennen erst ermöglicht. Besonders Aristoteles ist in diesem Zusammenhang von Relevanz. Seine Erkenntnistheorie ist zwar nicht in gleichem Maße wie bei Protagoras subjektivistisch, aber sie bezieht das Bewusstsein in den Erkenntnisprozess ein. Aristoteles nannte in diesem Zusammenhang indirekt die Bedingungen, unter denen sich ein vom Einzelnen ausgehender und zum Allgemeinen tendierender Erkenntnisprozess vollzieht. Es gab von Seiten der Medizin noch keine gehirnphysiologischen Untersuchungen. Der medizinische Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Denken war noch nicht bekannt. Aber Aristoteles, der aus einer angesehenen Arztfamilie stammte, kam auch ohne entsprechende physiologische Kenntnisse auf die Idee, dass das Bewusstsein in Erkenntnisprozessen eine große Rolle spielt. Und er hat gesehen, dass man sich oft innerhalb dieser Prozesse reflexiv auf sich selbst bezieht. Der individuelle Betrachter, und dies verbindet Aristoteles' Position mit der des Protagoras, lässt sich aus der Ontologie nicht ausblenden. Auf diese Weise konnte zwischen der Position des erkennenden Subjekts und der objektiven Außenwelt eine Brücke entstehen. Der Mensch ließ sich als ein Teil der Natur begreifen. Das Denken, ob nun reflexiv oder auf äußere Objekte gerichtet, wurde auf diese Weise schon bei Platon, dann bei Aristoteles zu einem spezifisch menschlichen Kennzeichen. Wenn man in dieser Weise die Reflexivität des Denkens zu einer wichtigen Bedingung des Reflektierens auf die Außenwelt machte, ließ sich der Dualismus zwischen erkennendem Subjekt und der objektiven Welt verringern oder sogar überwinden. Subjektivismus und Objektivismus konnten so definiert werden, dass es zu einem wechselseitigen Einfluss kam. Die Erkenntnis der Außenwelt ist zwangsläufig immer subjektiv. Dies ist an sich ein trivialer Satz, denn das Wahrnehmen und Erkennen ist immer an ein Subjekt gebunden. Eine prägnante Bedeutung erhält dieser Satz freilich dann, wenn man ihn als Bedingung einer spezifisch für den Menschen geltenden Eigenschaft auffasst. In die Wahrnehmung der Außenwelt fließt immer ein subjektiver Standpunkt

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ein, so dass das Erkennen immer in Relation zu dieser Position erfolgt und selbst kein objektiver Prozess ist. Man muss nicht, wie es Protagoras machte, die objektiven Eigenschaften so definieren, dass sie von der Wahrnehmung und Analyse des Betrachters abhängen. Dieser extreme Relativismus hat in der Antike keinen ernsthaften Nachfolger gefunden. Aber Protagoras setzte, was die Erkenntnistheorie angeht, Diskussionen in Gang. Platons Idealismus und Aristoteles' Empirismus waren, wenn man die Implikationen bedenkt, Reaktionen und Gegenmodelle zu diesem relativistischen sophistischen Standpunkt. Was nimmt man wahr, wie kann man erkennen und was ist der menschlichen Erkenntnis zugänglich? Diese Fragen beschäftigten bereits die Philosophen der Zeit der Klassik, und auch danach, in der Zeit des Übergangs zum Hellenismus und im Hellenismus selbst, reflektierte man auf diese Fragestellungen.

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III. Logik 1.

Die Rolle der Logik im Prozess der Erkenntnis

Im folgenden soll keine Geschichte der griechischen Logik geboten werden. In einem ersten Schritt ist vielmehr auf die Verbindung von Logik und Erkenntnistheorie in der Zeit der Klassik einzugehen. Dadurch soll zum einen deutlich werden, welche Rolle dieser Bereich in der Philosophie des fünften Jahrhunderts gespielt hat, zum anderen soll transparent werden, wie die Diskurse verliefen. Das Problem, das bereits in den Kapiteln über die Quellenfrage angeschnitten wurde, ist auch bei der Logik der Griechen zur Zeit der Klassik zu beobachten: es fehlen weitgehend zusammenhängende Texte zur Logik, die es erlaubten, lückenlos die Beschäftigung der Griechen mit diesem Bereich der Philosophie zu rekonstruieren. Die schon erwähnte Dreiteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik durch Xenokrates in der platonischen Philosophie ist deutlich später als das fünfte Jahrhundert. Man hat also in gewisser Weise von einer etwas anderen Systematik der Philosophie in der Klassik auszugehen. Logik und Erkenntnistheorie gehörten bei den Griechen von Anfang an zusammen. Wer sich mit Logik beschäftigte, machte sich im fünften Jahrhundert gleichzeitig Gedanken über Erkenntnistheorie. Dieser Zusammenhang war auch in der späteren Zeit eigentlich eine Konstante. Noch Aristoteles ging in seiner Logik in den Ersten Analytiken von dieser Verbindung aus. Platon hat in jenen Dialogen, in denen er auf Logik reflektierte, so besonders im Parmenides und im Theaitetos, eine enge Verknüpfung von Logik und Erkenntnistheorie zugrunde gelegt. Die frühesten Dokumente, in denen Logik vorkommt, sind Texte des Parmenides aus dessen Werk „Über die Natur“. In ihnen findet noch keine explizite Auseinandersetzung mit Logik statt. Bestimmte Sätze aus diesem Bereich werden aber anscheinend als bekannt vorausgesetzt. Parmenides verwendete die Logik als ein Mittel der Erkenntnis. So ging er auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ein, indem er in einem Fragment feststellte, etwas sei entweder oder sei nicht. Dieses Axiom, 43

und darum handelt es sich, denn man kann seine Gültigkeit nur indirekt beweisen, ist neben dem Axiom vom Widerspruch für jede Logik von fundamentaler Bedeutung. Parmenides hat es nicht diskutiert, aber er hat seine Wichtigkeit anscheinend erkannt. Anders verhält es sich mit Aristoteles, der im Gamma 4 der Metaphysik eine ausführliche Analyse des Satzes vom Widerspruch bot, die sich gegen jene, besonders gegen Antisthenes, richtete, die die Gültigkeit dieses Satzes bestritten hatten. Aristoteles argumentierte folgendermaßen: wer behauptet, man könne nicht widersprechen, gerät selbst in einen Widerspruch; er wendet die Negation in seiner Behauptung an und bestätigt so ihre Existenz. Der Satz vom Widerspruch hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer Leitidee in der Logik von Parmenides bis Aristoteles. Die griechischen Logiker erkannten schon früh seine fundamentale Wichtigkeit, die in verschiedenen Bereichen zum Ausdruck kommt: der Satz vom Widerspruch wirkt im Dialog, wenn es um die Verteidigung einer These und eine entsprechende Antithese geht. Er gehört in den Kontext der Wissenschaften, denn jede Episteme basiert auf der Gültigkeit dieses Satzes. Dieser Satz wirkt ferner in den Naturwissenschaften, besonders in der Physik, in der ebenso gilt, dass man nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sich aufhalten kann. Die Logik, in der der Satz vom Widerspruch wie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten zur Anwendung kommt, ist die binäre, zweistellige Logik, von der noch die Rede sein wird. Mit Parmenides sind wir in der Schule von Elea in Unteritalien. In dieser Schule hat sich nach Parmenides die Beschäftigung mit Logik weiter entwickelt. Parmenides' Schüler Zenon formulierte die sog. Bewegungsparadoxien „Die Schildkröte ist schneller als Achill“und „Der fliegende Pfeil ruht“. In diesen Paradoxien ging Zenon anscheinend von einem diskontinuierlichen Raum aus. Seine zweite Annahme bestand darin, dass jede Strecke und jeder Raum unendlich teilbar seien. Zenon rechnete also anscheinend mit dem Prinzip der Infinitesimalrechnung – ganz analog in diesem Punkt wie Anaxagoras, von dessen Annahme, das Sein sei unendlich, bereits die Rede war. Die beiden Paradoxien Zenons sollten aber auch etwas Erkenntnistheoretisches leisten: Zenon wollte zeigen, dass die Wahrnehmung des Menschen trügerisch sei und die Erkenntnis von Sachverhalten immer mit den Sinneswahrnehmungen, die ganz subjektiv sind, korreliert sei. Er wollte mit diesen Sätzen sozusagen hinter das Sein blicken

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und darauf aufmerksam machen, dass in dieser physikalischen Welt Erkenntnis nur in einem begrenzten Maße stattfinden könne. Also gab es auch in diesem Zusammenhang die Annahme einer Zwei – Welten – Theorie, ganz ähnlich wie bei seinem Lehrer Parmenides. Der Begriff „unendlich“ tauchte in diesem Zusammenhang bei Zenon nicht auf, zumindest ist nichts überliefert. Aber er muss an ihn gedacht haben, weil sich nur so behaupten ließ, dass ein fliegender Pfeil ruhe, die Bewegung also gegen Null tendiere, wenn man die Strecke unendlich teilt. Genau genommen geht der Beweis, den Zenon anstrebte, nicht auf, weil sich bei unendlicher Teilbarkeit immer ein kleinerer Wert ergibt, der gegen Null geht, ohne diesen Wert jemals zu erreichen. Da der Begriff „unendlich“ für Zenon nicht bezeugt ist, können wir auch nicht sagen, ob er mit verschiedenen Begriffen der Unendlichkeit gerechnet hat. Dies ist eindeutig erst für Aristoteles belegt, der von einem aktuellen Begriff der Unendlichkeit in der Mathematik und einem potentiellen im Bereich der Metaphysik ausgegangen ist. Anders Paul Lorenzen, Methodisches Denken, 54ff., der meint, Aristoteles habe die aktuelle Unendlichkeit aus der Mathematik und der Philosophie verbannt. Es gibt bei Aristoteles eine Reihe von Texten zum Problem der Unendlichkeit: er diskutierte sie in der Physik 3,4, 3,5 und 3,7, ferner in Metaphysik K 10 (nach Ross in seinem Kommentar ein Exzerpt aus den Physiktexten). In der Physik findet sich ebenso eine Auseinandersetzung mit Platon und den Pythagoreern. Was können wir diesen genannten Paradoxien und den Diskussionen der Unendlichkeit bei Aristoteles konkret für die Logik entnehmen? Zunächst einmal, dass die mathematische Logik, um die es hier geht, zur Zeit des Parmenides noch nicht formalisiert war. Man hat logische bzw. physikalische Probleme im Zeitraum von circa 470–440 in Sätzen beschrieben und formuliert. Die Formalisierung, auch die von Quantoren-Aussagen so z.B. in der Syllogistik des Aristoteles, kam erst durch den Einfluss der Mathematik zustande. Bei Aristoteles ist in den Ersten Analytiken diese Formalisierung bereits voll ausgeprägt. In dem genannten Zeitraum hat man ebenfalls logische Paradoxien entdeckt, die sich auf die Mengenlehre auswirken sollten. So formulierte der Kreter Epimenides das sog. Lügnerparadox: Der Kreter sagt: „Alle Kreter lügen“. Es handelt sich um ein Paradox, das mit der „naiven Mengenlehre“, die von definiten Mengen ausgeht, die abgeschlossen sind, nicht

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lösbar ist. In der modernen Mathematik und Philosophie, bei Cantor, Frege, Russell und Gödel, hat dieses Paradox für reale Grundlagenprobleme in der Mathematik gesorgt. Um auf die Schule von Elea zurück zu kommen: die Wirkung dieser Schule auf dem Gebiet der Logik war trotz der kühn wirkenden Paradoxien, die in ihr formuliert wurden, nicht stark. Die Philosophie und die Physik des fünften Jahrhunderts zeigten sich von ihr nicht besonders beeindruckt. Man ging in der Physik weiter von einem kontinuierlichen Raum aus. Allerdings könnte die Mathematik zumindest indirekt von dieser Eleatischen Schule beeinflusst gewesen sein. Man entdeckte in diesem Zeitraum das Problem der sog. Quadratur des Kreises, das in der Geometrie unmittelbar mit dem Begriff der Unendlichkeit zusammen hing. Die Inkommensurabilität von Kreissegment und Quadrat hat dann dazu geführt, dass man in dieser Wissenschaft verschiedene Lösungsvorschläge machte, ohne dass natürlich das Problem zu lösen war. Auch die Sophisten (Hippias) haben sich daran beteiligt. Und wie steht es mit der Rolle der Logik im Prozess der Erkenntnis? Die skizzierte Entwicklung der Logik im fünften Jahrhundert verlief nicht geradlinig. Sie lieferte jedoch durch die Übertragung auf die Naturphilosophie/Physik den Philosophen neue Erkenntnisse. Der Einfluss der Logik auf die Mathematik ist besonders im Bereich der axiomatischen Methoden zu sehen, auf die noch etwas näher eingegangen werden soll. Ein Philosoph, der in der bisherigen Betrachtung eher am Rande vorgekommen ist, ist Platon. Er hat sich, soweit dies die überlieferten Texte zu erkennen geben, mit der Schule von Elea, besonders mit Parmenides, in seinem Dialog Parmenides am intensivsten auseinander gesetzt. Dieser zählt zu den schwierigsten platonischen Dialogen. Im Kapitel über die Quellenlage wurde davor gewarnt, die Texte, in denen sich Aristoteles und Platon mit der Philosophie der Klassik beschäftigt haben, als unmittelbare Dokumente für die Analyse dieser Philosophie zu verwenden. Insbesondere Aristoteles bediente sich seiner eigenen Kategorien, die einen unmittelbaren Zugang erschweren. Das Gleiche gilt auch für Platon. Dennoch soll kurz auf seinen Parmenides eingegangen werden, weil dieser Dialog die mit Abstand ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Philosophen aus Elea darstellt und weil Platon bzw. sein Sokrates mit einer sehr anspruchs-

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vollen dialektischen Methode die Seinsphilosophie des Parmenides einer Prüfung unterzogen hat. Dies allein wäre schon ein hinreichender Grund, um sich mit diesem Text auseinander zu setzen. Man muss allerdings von der platonischen Dialogfassung abstrahieren. Der Parmenides enthält ein Dreiergespräch zwischen Sokrates, dem schon alten Parmenides und dessen Schüler Zenon. Die beiden Philosophen hielten sich – so Platons Fiktion – in Athen auf. Der junge Sokrates begab sich zu ihnen, um mit ihnen zu reden. Der Dialog spielte also etwa in den Jahren 450 – 440. Was kann man aus diesem Dialog für das Thema „Die Rolle der Logik im Prozess der Erkenntnis“ gewinnen? Zunächst einmal zeigte sich im platonischen Parmenides die dialektische Kunst des Sokrates in Vollendung. Er leitete aus den Thesen des Parmenides Aussagen ab, um ihn in Widersprüche zu verwickeln. Dies wirkt teilweise etwas sophistisch. Die Logik, derer sich Sokrates und genauso seine Gesprächspartner bedienten, wurde dabei dermaßen subtil angewendet, dass dem Leser, der sich mit diesen Gedankengängen beschäftigte, durchaus schwindlig werden konnte. Die Argumentation des platonischen Sokrates zielte darauf ab zu zeigen, dass die Annahme eines einheitlichen Seins, wie sie Parmenides vertrat, zu Aporien führte. Es ging in diesem Dialog weniger um Logik als um ontologische Fragen wie die, was Identität und Differenz, Ähnlichkeit und Verschiedenheit, Gleichheit und Ungleichheit bedeuten. Dies waren alles Fragen, die später bei Aristoteles in dessen Metaphysik, aber auch im Organon wiederkehren sollten. Für die Logik im Prozess der Erkenntnis war der platonische Dialog gleichwohl ertragreich. In ihm wurde gezeigt, wie eine genaue Begriffsbildung und Begriffsverwendung den Zugang zu ontologischen Problemen mittels der Dialektik erleichtern konnte. Diese Dialektik bildete in diesem Dialog als eine Kunst der Dialogführung und als eine Prüfkunst das wichtigste Mittel auf der Suche nach Wahrheiten. Diese Wahrheiten waren im Parmenides primär ontologisch. Es geht in ihm weniger um die logische Wahrheit; die zweistellige Logik mit dem Satz des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten wurde gleichwohl angewendet, es wurde jedoch nicht auf einer Metaebene über diese Logik diskutiert. Der platonische Parmenides endete in der Aporie. Sokrates zwang seinen Gesprächspartner zu dem Eingeständnis, dass das Sein gleich-

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zeitig einheitlich und nicht einheitlich sei, dass es sowohl das Eine als auch das Viele gebe und nicht gebe – dies eine Demonstration, dass man im Bereich der Erkenntnistheorie und der Ontologie mit der klassischen Logik nur einen begrenzten Wissens – oder Erkenntnisfortschritt erfahren könne und man sozusagen auf einer höheren Ebene denken müsse. Die von Sokrates herbeigeführte Aporie setzte quasi die zweistellige Logik außer Kraft, denn die Konzessionen, die Parmenides machen musste, verstießen gegen den Satz vom Widerspruch und gegen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Dies war dennoch ein realer Erkenntnisgewinn, denn eine solche Aporie verwies darauf, dass es auf der Seinsebene etwas gibt, das über der binären Logik anzusiedeln ist. Dies besteht, so kann man das Ende des platonischen Parmenides interpretieren, in einer Harmonie der Gegensätze, die an Heraklit (VS 22 B 51) und seine „palintonos Harmonia“ erinnert. Auf diese Weise wurde in diesem Dialog in einer dialektischen Weise zwischen den Kontradiktionen des Seins vermittelt. Der platonische Dialog stellt für uns den frühesten Versuch dar, die herkömmliche, zweistellige Logik mit den Mitteln eben dieser Logik zu transzendieren und das Sein sowie seine Widersprüchlichkeit auf einem höheren Niveau neu zu begründen. 2.

Logik als Propädeutik? Aristoteles und seine Vorgänger

Wie im letzten Kapitel zu sehen war, prägten sich die Logik bzw. Vorstufen von ihr bereits im fünften Jahrhundert aus. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie die Griechen diese Logik, die von Beginn an eng mit der Erkenntnistheorie zusammenhing, in ihr Leben und ihre Kultur integriert haben. Es erheben sich drei Fragen: 1. Welche Rolle spielte die Logik im Bereich der Bildung? 2. Welche Funktion hatte sie im Kanon der Wissenschaften? 3. Ab wann wurde sie zu einem klassischen Teilbereich der Philosophie? Um mit der dritten Frage zu beginnen: Wir können nicht genau sagen, wann sich bei den Griechen der Schritt zur Logik als einem klassischen Teilbereich der Philosophie vollzogen hat. Das Wahrscheinlichste ist

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aber, dass dies durch Platon geschehen ist. Wie schon erwähnt, hat Xenokrates, der zweite Nachfolger Platons in der Leitung der Akademie, die Dreiteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik verantwortet, aber diese Dreiteilung muss bereits vor ihm statt gefunden haben. Platon hat sich zwar nicht in dem Maße und in der systematischen Form wie Aristoteles mit Logik beschäftigt, aber das Interesse war zweifellos vorhanden, wie z.B. die Dialoge Sophist und Parmenides zeigen. Als eine klassische Teildisziplin der Philosophie behandelte dann Aristoteles die Logik. Er war für ihre Entwicklung und auch für die Wirkung, die die Logik dann bei den Megarikern (Eukleides von Megara, Diodoros Kronos) und bei den Stoikern (Chrysipp) haben sollte, ganz entscheidend. Aristoteles war ferner der erste, der die Logik formalisierte. Damit war die entscheidende Voraussetzung dafür gegeben, dass man sich in diesem Teilbereich der Philosophie auf der Zeichenebene ohne konkrete Satzinhalte bewegen konnte. Die erste Frage: Welche Rolle spielte die Logik im Bereich der Bildung? Da muss man etwas weiter ausholen. Die Logik, als logikè Techne, also im spezifischen Sinne, hat im Bereich der Bildung und der Wissenschaften zunächst eine Rolle als Dialektik gespielt. Gemeint war damit die Kunst, sich sach – und fachgerecht über ein bestimmtes Thema zu unterhalten. Die Regeln, nach denen ein solches Gespräch ablief, waren die der Logik mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten und vom Widerspruch. Der Begriff „Logik“ entstand erst im vierten Jahrhundert. Aristoteles verwendete ihn in einem spezifischen Sinne, um seine Lehre vom Schluss, die Syllogistik, zu bezeichnen, und unspezifisch, um die Dialektik zu benennen. Bei den Stoikern ist der Begriff „Logik“ nur noch in der spezifischen Bedeutung anzutreffen. - Bei den Römern begegnet der Begriff ebenfalls in einem spezifischen Sinne. Man vergleiche den Wortgebrauch bei Cicero. Solange nun die Logik noch nicht als eigenständiger Zweig der Philosophie galt, hat sie in der Bildung der Hellenen keine besondere Rolle gespielt. Erst mit Platon verstärkte sich der Einfluss der Logik als einer Disputierkunst ebenso im Bildungswesen. Eine besondere Rolle kam dabei den Sophisten zu. Sie übten im Athen des fünften Jahrhunderts eine große Wirkung aus. Sie hielten, wie schon erwähnt, öffentliche Vorträge, diskutierten, hierin Sokrates vergleichbar, in den Gymnasien. Die Sophistik entwickelte ferner regelrechte Gesprächsstrategien, die in der Regel so aussahen, dass der Opponent, oder neutra-

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ler ausgedrückt: der Dialogpartner durch Fangfragen zu Schlussfolgerungen veranlasst wurde, die ihn in Widersprüche verstricken sollten. Die Prämissen in diesen sophistischen Dialogen waren oft nicht einsichtig. Der Verlauf eines solchen Dialogs war in der Regel nicht Schritt für Schritt nachvollziehbar. Platon hat uns ebenfalls Kostproben eines solchen sophistischen Gesprächs geliefert. Im Euthydemos, teilweise im Gorgias und im Protagoras zeigte er die sophistische Praxis. Die „Opfer“ dieser Disputierkunst wurden zum Teil in der Öffentlichkeit vorgeführt. Wenn man nun den Dialog formalisiert und explizite Regeln nennt, nach denen der Proponent oder der Opponent diesen gewinnen kann, erhält man die dialogische Logik. Sie funktioniert auf der Basis der binären Logik mit den Sätzen vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten. Dieses Dialogverfahren wurde in den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen begründet. Es handelt sich um Dialogspiele, die in Form von Ableitungen erfolgen, wobei die Bedingungen genannt werden, unter denen der Proponent bzw. der Opponent ein solches Gespräch gewinnen kann oder muss. Von ferne erinnert diese Praxis an die sog. Sprachspiele bei Wittgenstein, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Wittgenstein diese auf die gesamte Sprache und die Alltagssprache bezog, während die dialogische Logik nach einer Normierung der sprachlichen Äußerungen auf der Grundlage der zweistelligen Logik sucht. Man könnte mithin sagen: die Logik spielte im fünften Jahrhundert in Griechenland im Bildungskanon noch keine besondere Rolle. Zunächst war sie mehr oder weniger gleichbedeutend mit Dialektik. Insofern war die Logik im Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit durchaus verankert. Die Philosophie, insbesondere die platonische Akademie, hat dann dafür gesorgt, dass Logik als ein klassisches Teilgebiet der Philosophie einen festen Platz erobern konnte. Eine wesentliche Rolle haben innerhalb dieser Entwicklung nicht nur die Sophisten gespielt. Man muss in diesem Zusammenhang auch an Sokrates erinnern. Dieser hat sich zwar, wie bekannt ist, in erster Linie oder fast nur mit Ethik beschäftigt. Aber durch sein öffentliches Wirken und besonders durch seine Dialogkunst hat er dafür gesorgt, dass eine Art Gegenpol zu den Sophisten in Athen geschaffen wurde. Platon hat ihn in einer Reihe von Dialogen im Gespräch mit eben den Sophisten gezeigt. Diese Konstellation ist historisch. Sokrates hat auf diese Weise

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ebenfalls einen Beitrag dazu geleistet, dass sich die Logik bzw. die Dialektik als die Kunst, ein regelgerechtes Gespräch zu führen, im athenischen Bildungswesen etablieren konnte. Die zweite Frage: Welche Funktion hatte die Logik im Kanon der Wissenschaften? Da muss man ebenfalls etwas differenzieren. Da die Logik erst im fünften Jahrhundert aufgekommen ist und man in ihr ursprünglich eine Kunst der regelgerechten Dialogführung sah, spielte sie in diesem Zeitraum in den Wissenschaften noch eine eher untergeordnete Rolle. Die Einzelwissenschaften begannen sich in dieser Zeit erst auszuprägen. Logik bzw. die übergeordnete Philosophie hatten noch nicht die Funktion, auf die Methoden und Prinzipien der einzelnen Wissenschaften zu reflektieren. Besonders folgenreich für die Entwicklung sollte jedoch die Mathematik sein. Es gab in dieser Wissenschaft im fünften Jahrhundert schon erste Ansätze, sie axiomatisch zu begründen. Man begann in der Mathematik, über die besondere Bedeutung von Axiomen nachzudenken. Dies wirkte sich auch auf die Logik aus. Der Prozess der Beeinflussung war allerdings ein wechselseitiger. Die Philosophie hat ebenso auf die Mathematik und Geometrie ausgestrahlt. Mit einem Wort: die Logik war bereits im fünften Jahrhundert in den Wissenschaften mehr oder weniger präsent. Sie hatte aber noch nicht die Funktion einer Grundlagenwissenschaft oder einer logischen Propädeutik. Logische Propädeutik meint eigentlich eine Vorschule des vernünftigen Denkens. Als eine solche fungiert die Logik wie eine übergeordnete Instanz, die nicht nur auf Methoden der einzelnen Wissenschaften reflektiert, sondern auch Denken allgemein bewusst macht. Dann avanciert sie zu einer Methodologie der Wissenschaften. Wann hat die Logik jedoch die Rolle einer logischen Propädeutik übernommen? Dies geschah noch nicht im fünften Jahrhundert. Damals galt sie, wie schon festgestellt, als Dialektik, mit der sich sachgerecht diskutieren ließ. Zur Propädeutik wurde sie eigentlich erst durch Aristoteles. Dieser konnte, was seine Syllogistik in den Ersten Analytiken betrifft, auf keiner richtigen Basis aufbauen. Aristoteles hat mehrere logischen Schriften geschrieben: die Ersten und Zweiten Analytiken, die Kategorien, die Topik und die Abhandlung über die Hermeneutik. Alle diese Traktate, die ja ursprünglich Vorlesungsmanuskripte waren, hatten Grundsatzcharakter. Sie sollten in die Logik, die Sprachphilosophie und die Wissenschaftstheorie einführen. Die To-

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pik war ebenfalls neu, jedenfalls die Art und Weise, wie Aristoteles eine Theorie der Rhetorik entwickelte. Dies gilt auch für die Lehre vom Schluss, die sog. Syllogistik. Diese hatte genau genommen ebenfalls keinen eigentlichen Vorläufer. Wie schon zu sehen war, hatte man sich in der Schule von Elea mit Logik beschäftigt. Parmenides und Zenon hatten auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten reflektiert. Zenon hatte die sog. Bewegungsparadoxien entwickelt, die nicht zuletzt auf der Infinitesimalrechnung basierten. Aber einen systematischen Entwurf der Logik, die quasi als Grundlage auch für andere Wissenschaften dienen sollte, hat es vor Aristoteles nicht gegeben – auch nicht bei Platon. Zu dieser Syllogistik sollen nun einige Bemerkungen gemacht werden, die das Innovative dieser Theorie zu illustrieren vermögen. Die aristotelische Lehre vom Schluss ist eine geregelte, systematische Prädikatenlogik, die man in Form eines1 logischen Kalküls formulieren kann. Diese bezieht sich auf das empirisch wahrnehmbare Sein. Man könnte diese Aussagen als Erfahrungssätze definieren. Zwei Aussagen dienen in den jeweiligen Schlussfiguren als Prämissen, aus diesen wird dann der Schluss gezogen. Die erste Figur lautet: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich. Man kann an diesem Beispiel sofort erkennen, dass der Erkenntnisgewinn relativ gering ist. Wir wissen bereits aus der Erfahrung, dass die Menschen sterblich sind, genauso, dass dies für Sokrates gilt. - Der große Vorteil dieser aristotelischen Syllogistik ist darin zu sehen, dass man sie unabhängig von der Realität formulieren und in einen Kalkül bringen kann. Es handelt sich also um eine Logik, die den ersten Versuch darstellt, mittels Axiomen und Ableitungsregeln Deduktionen zu entwickeln, die sich innerhalb eines konsistenten Systems ergeben. Als eine formalisierte Prädikatenlogik mit Quantoren ist sie in der mathematischen Logik noch heute gültig. Die aristotelische Syllogistik und die in ihr verwendeten Aussagen lassen sich in der Regel umformen: Für alle x gilt: wenn x (=Mensch), dann y (=sterblich). Aristoteles operierte mit hypothetischen Sätzen. Dies ist freilich ein Sachverhalt, der für alle Wissenschaften von Interesse ist. In der Regel verfährt man so in diversen Wissenschaften, indem man eine oder mehrere Ausgangshypothesen wählt und zu beweisen versucht, dass ein bestimmter Sachverhalt richtig ist. Oder

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man bedient sich eines indirekten Beweises, mit dem man nachzuweisen versucht, dass die gegenteilige Annahme zu einem Widerspruch führt. Aristoteles hat in den Ersten Analytiken nicht den Nachweis angestrebt, dass sein System wahr ist. Anscheinend war er davon überzeugt, dass der Wahrheitswert bei gültigen Schlüssen bzw. der Falschheitswert bei ungültigen Schlüssen evident sei, also unmittelbar einleuchte und keines Beweises bedürfe. Es ist nun nicht uninteressant, dass Aristoteles mit seiner Syllogistik auch eine Theorie der Quantoren eingeführt hat. Alle Sätze, die in den Schlussfiguren fungieren, sind solche, in denen die sog. Quantoren vorkommen: alle x, kein x, einige x und einige x nicht. Insofern handelt es sich um eine Quantorenlogik. Diese hat besonders auf die Logik der Stoiker gewirkt. Sie hat aber auch heute noch in der Logik einen festen Platz. Mit Quantorenlogik hat sich, soweit wir erkennen können, kein Logiker vor Aristoteles intensiv beschäftigt. Die Sätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten waren Gegenstand des Interesses, nicht jedoch All-Aussagen, ihre Gegenteile und partikuläre Aussagen. - Wie Aristoteles zur Syllogistik kam, ist eine offene Frage. Am wahrscheinlichsten ist, dass er die Verfahrensweise von Wissenschaften beobachtete, in denen hypothetische Sätze in allgemeiner und partikulärer Form eine entscheidende Rolle spielen. Dann übertrug er seine Beobachtungen auf die deduktive Syllogistik. Diese bildet freilich die Wissenschaften und ihre Methoden nicht realistisch ab, denn in den Wissenschaften verfährt man in der Regel induktiv, nicht deduktiv. Man schließt normalerweise von Einzelbeobachtungen auf das Allgemeine, um so ein Gesetz oder einen allgemeinen Sachverhalt zu formulieren. Als ein formalisiertes Schlussverfahren besitzt die aristotelische Syllogistik ihre Gültigkeit und ist valabel. Als ein Modell zur Darstellung wissenschaftlicher Verfahrensweise ist diese Syllogistik nur von einem beschränkten Wert. Das Verfahren, nach dem in den Wissenschaften bewiesen wird und wissenschaftliche Hypothesen formuliert werden, fand in den Zweiten Analytiken eine adäquate Darstellung, in denen Aristoteles wissenschaftliches Erkennen und Verstehen, die Logik von Wissenschaften und die wissenschaftliche Methodologie einer ausführlichen Untersuchung unterzog. - In diesen Zweiten Analytiken ging Aristoteles ferner auf die verschiedenen Typen der Definition ein und zeigte, dass die Mathematik in seinem Denken eine große Rolle spielte.

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Die große Zeit der Logik begann bei den Griechen im vierten Jahrhundert. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Schule in Megara, die von dem Sokratesschüler Eukleides gegründet wurde. In dieser Schule wurden einige Paradoxien formuliert. Logik als Propädeutik hatte einen nicht unwesentlichen Einfluss, sie avancierte zu einer Art Grundlagenwissenschaft für andere Epistemai. Die Stoa hat diese Tradition ihrerseits rezipiert, indem sie sich mit formaler Logik, so besonders Chrysipp, auseinander setzte und ihr Interesse primär auf die Aussagenlogik fokussierte. Chrysipp formulierte bereits einen Vorläufer der modernen Wahrheitstafeln, indem er in die noch heute gültigen vier Aussagetypen unterschied: er differenzierte in Aussagen mit Konjunktion (a ^ b), inklusives Oder (a v b), Disjunktion (entweder a oder b) und Konklusion (a → b). Paul Lorenzen hat in seinem Buch Methodisches Denken folgendes Zitat aus Goethes Faust an den Anfang seiner Untersuchungen gestellt: „Mein teurer Freund, ich rat' Euch drum, zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist euch wohl dressiert, In spanische Stiefel eingeschnürt, dass er bedächtiger fortan hinschleiche die Gedankenbahn.“

Man könnte diesen Gedanken Goethes zur Funktion der Logik als einer logischen Propädeutik geradezu zu einem Motto für die antike Logik machen. Das erwähnte Collegium Logicum stammt aus der Tradition der mittelalterlichen Scholastik. Diese hat sie ihrerseits aus der römischen und spätantiken Vorstellung und Konzeption der septem artes liberales übernommen. In dieser Tradition hatte die Logik innerhalb des sog. Trivium mit der Geometrie und der Astronomie einen festen Platz, den sie bis in die Neuzeit behaupten sollte. Die Anfänge dieser Vorstellungswelt sind allerdings in der Zeit der Klassik im fünften Jahrhundert zu suchen, in jener Zeit, als man in der Naturphilosophie (Anaxagoras) und in der Schule von Elea damit begann, sich mit diesem klassischen Zweig der Philosophie zu beschäftigen.

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3.

Die Axiomatik im Denken der Griechen

Wenn man auf die Rolle und Bedeutung der Axiome bei den Griechen reflektiert, bedeutet dies, dass man die wissenschaftstheoretischen Anfänge zu bestimmen versucht. Die Blütezeit, in der man über Axiome, ihre Funktion und ihre Bedeutung in den einzelnen Wissenschaften nachdachte, war das vierte Jahrhundert. Der Begriff „Axiom“ taucht in diesem Zeitraum in der Regel in nicht – spezifischen Zusammenhängen auf. Er bezeichnet die Reputation, die Ehre, die Position einer Person und die Entscheidung, so bei Thukydides, Sophokles und Euripides. Dieser unspezifische Gebrauch deutet an, dass man sich im fünften Jahrhundert noch keine konkreten Gedanken über den Aufbau der einzelnen Wissenschaften, ihre Methoden und ihre Besonderheiten machte. Da mussten erst Platon und Aristoteles kommen. Der Ort, an dem das Nachdenken über Axiome wohl entstanden ist, war die platonische Akademie. In ihr galt als Motto, niemand solle ohne Geometriekenntnisse eintreten. Die Mathematik und die Geometrie hatten in dieser Institution eine besondere Bedeutung. Wir können dies gut daran erkennen, dass in der Akademie Mathematiker arbeiteten; an erster Stelle ist da Eudoxos von Knidos, der sich auch als Astronom betätigte, zu nennen. Die Mathematik scheint in der Entwicklung des Denkens über Axiomatik eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Eudoxos war Schüler des Mathematikers und Philosophen Archytas von Tarent, seinerseits Pythagoreer. Für das fünfte Jahrhundert bedeutet dies, dass es in der Mathematik erste Ansätze einer Axiomatik, die Grundlage für Platon und Aristoteles, gab. Eudoxos begründete ein Axiomensystem in der Mathematik, das besonders stark auf die Geometrie Euklids und im dritten Jahrhundert auf Archimedes wirkte. Archimedes verdanken wir eine Reihe von Informationen über Eudoxos, so über seine bahnbrechenden Arbeiten über die sog. Würfelverdoppelung und über Kegelschnitte. Im Bereich der Astronomie hat sich Eudoxos ebenfalls betätigt. Er berechnete die ekliptischen Umlaufbahnen von Planeten und wies nach, dass die Annahme, ewige Bewegung müsse immer kontinuierlich sein, falsch sei. Wie Eudoxos' Axiomensystem in der Mathematik aussah, können wir im Detail nicht sagen. Es war jedenfalls widerspruchsfrei – eines der wichtigsten Axiome überhaupt, wie als erster Aristoteles gesehen hat.

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Auf dieses Axiom ist noch etwas näher im Zusammenhang mit der modernen Axiomatik einzugehen. Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang Aristoteles? Aristoteles hat als erster antiker Philosoph ein regelrechtes Axiomensystem entwickelt, und er hat damit einen Prozess zu seinem Ende gebracht, der, wie zu sehen war, im fünften Jahrhundert begonnen hat. Es gab in diesem Prozess zwar einen kontinuierlichen Fortschritt, aber auch Stagnationen. So hat man sich in der Philosophie, im Unterschied zur Mathematik, nicht immer und auch nicht unbedingt in einer immer progressiven Weise mit dem Thema „Axiome“ beschäftigt. Worauf konnte also Aristoteles aufbauen? Zunächst basierte er auf Diskussionen in der platonischen Akademie, der Aristoteles zwanzig Jahre angehört hat. Als er in die Akademie eintrat, war er gerade mal siebzehn Jahre alt. Da die Mathematik, wie schon angesprochen, in dieser Institution eine große Rolle spielte, kam Aristoteles zwangsläufig mit dieser Wissenschaft in Berührung. So diskutierte man über Grundlagenprobleme der Mathematik. Dies betraf besonders die Axiomatik und ihre Rolle in dieser Wissenschaft. Ferner hat man in der Akademie Fragen wie die behandelt, welche Bedeutung Beweise in den Wissenschaften haben. Ebenso standen Methoden in den einzelnen Epistemai zur Debatte. Reflexe können wir noch in Aristoteles' NE und in der EE erkennen, wo er die spezifischen Methoden in der Ethik thematisierte. Aristoteles hat methodologische Fragen in besonders ausführlicher Form in den Zweiten Analytiken und in der Metaphysik behandelt. Diese Erörterungen basierten auf Diskussionen in der Akademie. - In dieser Institution wurde ferner über den Status der Mathematik im Kontext der Wissenschaften diskutiert. Man ordnete auf der einen Seite diese Wissenschaft als Naturwissenschaft, auf der anderen als Geisteswissenschaft ein. Prinzipiell steht die Mathematik zwischen beiden Bereichen. Sie partizipiert an den Geisteswissenschaften insofern, als es sich bei Zahlenräumen um menschliche Konstruktionen zu handeln scheint. Sie ähnelt aber ebenso einer Naturwissenschaft, wenn man annimmt, dass die Mathematik auch unabhängig vom Menschen existiert. Platons Ideenzahlen, die einem separaten Zahlenraum angehören, sprechen indirekt, so Platon, für die These, bei der Mathematik handele es sich um eine unabhängige Naturwissenschaft. So stellt es Aristoteles im Alpha der Metaphysik dar, wenn er von „objektiven“ platonischen Ideenzahlen spricht.

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In Aristoteles' Zweiten Analytiken gab es wissenschaftstheoretische Diskussionen, die teilweise ebenfalls auf die Akademie zurückgingen. Wenn Aristoteles über die Definitionen in den Wissenschaften reflektierte und deren Eigenarten traktierte, wenn er die Differenzen zwischen Fakten – und Ursachenforschung thematisierte, rekurrierte er indirekt auf Platons Akademie. Problematisch ist in diesem Zusammenhang freilich, dass wir uns solche Bezüge in der Regel erschließen müssen, weil Aristoteles in den Zweiten Analytiken ganz selten Namen nannte. Die Diskussionen über Wissenschaftstheorie und Logik waren bereits im fünften Jahrhundert in Athen sehr lebhaft. Dies zeigen eindeutig zwei Axiome, die in dieser Stadt im Zentrum des Interesses standen: zum einen das allgemeine Beweisbarkeitspostulat, zum anderen der Satz vom Widerspruch. Das erste Axiom bezog sich generell auf Wissenschaften. Die Forderung negierte die Möglichkeit von Wissenschaft, wobei sie völlig irrational war, denn in keiner Wissenschaft, auch nicht in der Mathematik, lässt sich alles beweisen. Keine der Epistemai bildet ein abgeschlossenes, finites System, denn dann müsste es, wenn dieses Prinzip der allgemeinen Beweisbarkeit zuträfe, ebenso einen Beweis dieses Prinzips geben und es käme zu einem infiniten Regress. Wenn eine Wissenschaft hingegen offen ist, sind Ausnahmen der Beweisbarkeit zugelassen, und die Fundamente dieser Wissenschaft werden nicht in Frage gezogen. Ferner spielt in Wissenschaften die Induktion eine große Rolle; auch diese stünde, falls dieses Postulat stimmte, zur Disposition. Ein induktiver Beweis beruht immer auf der Annahme, dass man von Einzelfällen auf das Allgemeine schließt. Das Induktionsprinzip selbst kann nicht bewiesen werden, weil man es nicht deduktiv gewinnt. Es kann nur intuitiv ohne diskursiven Beweis erschlossen werden. Dieses Prinzip müsste jedoch, wenn das allgemeine Beweisbarkeitspostulat richtig wäre, ebenfalls nachgewiesen werden. Die Forderung zielt also an der wissenschaftlichen Realität und den Eigenheiten von Wissenschaft vorbei. Der Satz vom Widerspruch und seine Negation stellen einen radikaleren Fall dar. Wie bereits erwähnt, war insbesondere Antisthenes, der älteste Sokratiker (geb. 447), einer der Verfechter der Behauptung, es gebe keinen Widerspruch. Radikal war diese Position insofern, als man generell die Negation leugnete. Sie bezog sich auf alle Äußerungen der Sprache, so dass die mündliche und schriftliche Kommunikation, der Dialog und ebenso die wissenschaftlichen Diskurse betroffen waren.

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Dagegen hat sich insbesondere Aristoteles im Gamma 4 der Metaphysik gewendet. - Diese radikale Position erinnert im Rahmen der modernen Philosophie des 20.Jahrhunderts an Wittgenstein in den sog. Wiener Gesprächen, der ebenfalls die logische Funktion der Negation herunter spielte. Doch wie kann es die Affirmation geben, wenn die Negation nicht existiert? Jede positive, wahre Aussage impliziert unmittelbar, dass die Negation falsch ist. Diese Relation ist symmetrisch, sie gilt also auch umgekehrt. Affirmation und Negation können, so betrachtet, nicht voneinander unabhängig existieren. Dies ist, wie es scheint, ein Prinzip, das für Sprache allgemein zutrifft. Es ist ebenfalls in formalen Sprachen wie in der Mathematik gültig. Der Gültigkeitsanspruch der Negation ist demnach ein universaler. Er bezieht sich auf alle Formen der Artikulation. Man hat sich demnach in Athen in dieser Zeit auf mehreren Ebenen mit wissenschaftstheoretischen Problemen auseinander gesetzt. Diese Diskussionen dürften kaum eine große Mehrheit interessiert haben. Aber für die Entwicklung der Wissenschaften, besonders der Mathematik, waren diese Diskussionen von einem besonderen Interesse. Da auch die Geometrie schon im fünften Jahrhundert eine rasante Entwicklung genommen hatte, war man in den Kreisen der Wissenschaft daran interessiert, sich über die Grundlagen dieser und anderer Wissenschaften theoretische Klarheit zu verschaffen. Eine herausragende Rolle spielte Aristoteles in diesem Prozess. Wenn man von Wissenschaftstheorie bei den Griechen spricht, muss auch von ihm die Rede sein. Er war auf diesem Gebiet ein besonderer Systematiker. Vieles von dem, was vor ihm nur angedacht war, hat er in Systeme gebracht. Auf dem Gebiet der systematischen Begriffsbildung hat er Entscheidendes geleistet. Im folgenden soll einigen Fragen nachgegangen werden. 1. Wie hat sich Aristoteles mit dem Begriff „Axiom“ auseinander gesetzt? 2. Gab es eine Entwicklung in seinem Denken? 3. Hat Aristoteles einen vertikalen Wissenschaftsbegriff wie Platon gehabt? Gab es also eine Hierarchie der Wissenschaften wie bei seinem Lehrer? 4. Wie hat sich Aristoteles über die Methoden in den Wissenschaften geäußert?

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Die erste Frage: Wie hat sich Aristoteles mit dem Begriff „Axiom“ auseinander gesetzt? Um dies zu illustrieren, sollen zunächst zwei Texte präsentiert werden, in denen Aristoteles den Versuch einer Begriffsbestimmung bzw. einer Definition jener Wissenschaft unternommen hat, die sich mit den Axiomen als den ersten Prinzipien beschäftigt. 1. Analytica posteriora 1,10.76b23-34: Es gibt keine Hypothese und kein Axiom, das durch sich notwendig ist oder notwendig erscheint. Denn der Beweis erfolgt nicht mit Blick auf die äußere Rede, sondern mit Bezug auf den seelischen Begriff. Denn auch die Schlussfolgerung läuft so ab. Denn gegen den äußeren Logos kann man immer entgegnen, nicht immer hingegen lässt sich dies gegen den inneren Logos (Begriff) machen. Was nun jemand annimmt, das beweisbar ist, ohne dass er beweist, dies nimmt er in Form einer Hypothese an, falls es dem anderen, der lernt, einleuchtet. Und dabei handelt es sich nicht um eine Hypothese an sich, sondern um eine, die nur an jenen gerichtet ist. Falls er hingegen dasselbe annimmt, ohne dass irgendeine Wahrscheinlichkeit damit verbunden ist oder sogar eine gegensätzliche Wahrscheinlichkeit im Spiel ist, dann stellt er ein Axiom auf. Ein Axiom nämlich ist das Gegenteil der Meinung dessen, der lernt, oder jenes, das einer als beweisbar annimmt, ohne es zu beweisen.

Axiome waren für Aristoteles nicht beweisbare, erste Sätze. Sie werden in den Wissenschaften vorausgesetzt. Für Aristoteles bedeutete dies: sie sind evident. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass er sich im Gamma der Metaphysik mit großem Nachdruck gegen jene Leute richtete, die annahmen, der Satz vom Widerspruch existiere nicht. Ohne Axiome kann es keine Wissenschaften geben, was nicht nur für die beweisenden, strengen Wissenschaften, sondern ebenso für die anderen gelten muss. Dies bildet sozusagen die axiomatische Basis, auf der Aristoteles in seinem gesamten Werk seine wissenschaftstheoretischen Überzeugungen vertreten hat. Nun differenziert Aristoteles in dem vorgestellten Text zwischen Hypothese und Axiom danach, dass der, der eine Hypothese formuliere, etwas sage, das dem anderen einleuchte, derjenige hingegen, der ein Axiom aufstelle, dies ohne irgendeine Wahrscheinlichkeit tue. Dies ist eine etwas problematische Unterscheidung. Gemeint sein könnte, dass im Falle des Axioms die rhetorische Überzeugungskraft keine Rolle spielt. Da Axiome evident sein müssen – dies ist auch eine

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Grundüberzeugung des Aristoteles – genügt es, dass sie eingeführt werden, ohne dass irgendeine rhetorische Plausibilität mit ihnen verbunden sein müsste. Der Satz vom Widerspruch muss nicht rhetorisch überzeugen. Wir wenden ihn in unserem Denken sozusagen schon immer an. Was nun die Hypothesen betrifft, so hätte man sich in diesem Text noch eine andere Unterscheidung gewünscht. Hypothesen werden in der Regel auf der Grundlage von Axiomen formuliert. Sie sind in Texten, aber auch in Beweisen oft die Basis, die ihrerseits auf den Axiomen als der ersten Basis beruht. Der zweite Text stammt aus der Metaphysik Γ 8.1005a19ff.: „Wir müssen nun sagen, ob es die Angelegenheit einer einzigen oder einer anderen Wissenschaft ist, über die in den Wissenschaften sogenannten Axiome zu handeln. Es ist nun klar, dass die Betrachtung, die darüber angestellt wird, Sache einer einzigen, und zwar der Philosophie ist. Denn diese liegt allem Seienden zugrunde, und dies nicht bloß der Gattung nach getrennt von den anderen. Und alle bedienen sich ihrer, weil sie in den Bereich des Seins als solches gehört...Die Wissenschaften gebrauchen nun die Philosophie, soweit es ihnen möglich ist; dies aber bedeutet, soweit es die Gattung ermöglicht, in der sie sich bei den Beweisen bewegen. Da nun klar ist, dass das Sein als solches allen Wissenschaften zugrunde liegt – dies nämlich ist ihr gemeinsamer Nenner – so bezieht sich die Betrachtung auf den, der sich mit dem Sein als solchem beschäftigt, und auf diese Gegenstände (das Sein als solches).“

Aristoteles hat an dieser Stelle die „Erste Philosophie“, womit die Metaphysik gemeint ist, im Blick. Deren Aufgabe besteht in der Betrachtung der Axiome, also der ersten unbeweisbaren Sätze jeder Wissenschaft, und in der Betrachtung des Seins, und zwar des Seins als solches. Die Wissenschaften hingegen beschäftigen sich – so ist an dieser Stelle zu ergänzen – mit seins-spezifischen und wissenschaftsspezifischen Gegenständen. Die „Erste Philosophie“ ist somit eine Grundlagenwissenschaft für die anderen Epistemai. Ob es in Athen im fünften Jahrhundert, also zur Zeit der Klassik, bereits Grundsatzdiskussionen über die Bedeutung der Philosophie als der Basis aller Wissenschaften gegeben hat, lässt sich nicht definitiv sagen, weil die entsprechenden Texte fehlen. Dies ist jedoch anzuneh-

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men, weil die Philosophie als die Mutter der Wissenschaften fungierte. Der vorangestellte Metaphysiktext setzt einfach als wahr voraus, dass es eine erste Philosophie neben den Epistemai gibt. Die „Erste Philosophie“ wurde demnach von den fachspezifischen Wissenschaften abgehoben. Ihr Gegenstandsbereich, das Sein als solches, war ein anderer. Wer auf diese Form des Seins reflektiert, beschäftigt sich mit den Grundlagen, die streng von den fachspezifischen Wissenschaften zu unterscheiden sind. Der Ethiker reflektiert demnach anders auf das Seiende als der Physiker, dieser wiederum anders als der Logiker etc. Als eine Grundlagenwissenschaft ist die sog. Erste Philosophie indispensabel. Dies gilt insbesondere für ihre Beschäftigung mit den ersten unbeweisbaren Sätzen jeder Wissenschaft, also mit Axiomen. Dazu sind z.B. der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und der Satz vom Widerspruch zu zählen. Was die Axiome betrifft, so können an dieser Stelle eigentlich nur die für alle Wissenschaften gültigen gemeint sein. Es würde den Kompetenzbereich der Philosophie überschreiten, wollte sie sich mit wissenschaftsspezifischen Axiomen wie z.B. mit dem Kommutativ – oder dem Distributivgesetz in der Mathematik beschäftigen. Demnach ist festzuhalten, dass Aristoteles in der sog. Ersten Philosophie eine Basiswissenschaft gesehen hat. Er hat ferner zwischen allgemeinen Prinzipien und Axiomen und speziellen, spezifischen differenziert. Da es in der Mathematik, auch in der platonischen Akademie, Diskussionen über die Bedeutung solcher Axiome in der Episteme allgemein gab, fragte man sich bereits in der Philosophie der Klassik, welches denn die Grundlagen dieser Wissenschaft seien. Dabei darf man allerdings folgendes nicht übersehen: eine beweisende Wissenschaft wie die Mathematik oder die Physik hat in einem ganz anderen Maße als die Philosophie Axiome als Grundlage nötig. Allerdings gilt dies nicht für die Logik, sei es nun die Aussagen -, Quantoren – und Prädikatenlogik. Wenn man einen Kalkül formuliert, bedarf es der Axiome, nach denen abgeleitet wird. - Was die allgemeinen Postulate wie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und den Satz vom Widerspruch angeht, so sind diese nicht beweisbar, wie Aristoteles in den Zweiten Analytiken festgestellt hat. Sie bilden die Basis in jedem wissenschaftlichen Beweis. Aristoteles, und diese Sicht teilt er mit früheren Logikern des fünften Jahrhunderts, hat in der Leugnung des Satzes vom Widerspruch, wie schon angedeutet, ein echtes Risiko gesehen, denn dies betraf alle

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Lebensbereiche und insbesondere die Möglichkeit von Wissenschaft. Wie Antisthenes, einer der Hauptvertreter dieser Position, zu dieser Leugnung kam, lässt sich nicht mehr sagen. Aber wir können indirekt sehen, dass es bereits im fünften Jahrhundert wissenschaftstheoretische Diskussionen innerhalb der Sokratik gab und man demnach von Seiten der Philosophie in fachspezifische Diskurse eingriff. Dies wiederum stand in jener Tradition, derzufolge man in der Philosophie die Mutter der Wissenschaften sah. Man kann daran ferner erkennen, dass man sich in der sokratischen Philosophie nicht auf genuin philosophische Themen wie Ontologie, Metaphysik oder Ethik beschränkte. Die Sprachphilosophie und die Logik – zu beiden sind der Satz vom Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu rechnen – wurden anscheinend in der Sokratik einbezogen. - Dahinter verbirgt sich auch ein erkenntnistheoretisches Interesse, nämlich die Frage, was Sprache leistet, um die Strukturen der physikalischen Welt zu erkennen, und damit verbunden die weitere Frage, ob man mit der Sprache eine objektive oder nur eine subjektive Erkenntnis gewinnen kann. Aristoteles hat demgegenüber ein Theorem formuliert, das noch heute in der modernen Sprachphilosophie von Bedeutung ist. Gemeint ist seine semantische Theorie, mit der er feststellte, dass Aussagen und Sätze, um wahrheitsdefinit zu sein, immer an die Wirklichkeit und ihre Objekte gebunden sind. Wahrheit und Falschheit kann es demnach nur dann geben, wenn man mit der Sprache etwas bezeichnet bzw. mit Namen benennt. Die Sprache muss ein ontologisches Fundament haben, andernfalls wird sie zu einem bloßen Reden. Dann ergeben sich Zeichenrelationen zwischen der Sprache und der bezeichneten Realität. Dass es andererseits in einer formalisierten Sprache andere Kriterien für wahr oder falsch gibt, die nicht von der Wirklichkeit abhängen, wird von dieser semantischen Theorie anscheinend nicht genügend berücksichtigt. Man kann z.B. in der Aussagenlogik Sätze bilden und deren Wahrheitswert nach formalen Kriterien bestimmen, indem man die Bedingungen nennt, unter denen Aussagentypen wahr oder falsch sind, ohne auf die Wirklichkeit zu rekurrieren. Im wesentlichen haben diesen Sachverhalt, die strikte Trennung von Aussagen – und Sachebene, erst die Stoiker in ihrer Logik erkannt. Dann ist eine formale Logik unabhängig von der Realität funktionsfähig und wahrheitsdefinit. Was die Axiome/Prinzipien betrifft, so hat Aristoteles gesehen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen und den Beweisen

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selbst gibt. Die Prinzipien werden vorausgesetzt. Aristoteles hat diesen Standpunkt nicht nur in der Metaphysik, sondern ebenso und besonders in den Zweiten Analytiken vertreten. Am Ende dieses Traktats, in 2,19, finden sich grundsätzliche Überlegungen über die Methode, die man anwendet, um zu den Prinzipien zu gelangen, und zugleich Reflexionen auf das Wesen von Beweisen. Das Resultat dieser Überlegungen lautet: nur mit der Intuition lassen sich diese Prinzipien erfassen, also nicht diskursiv, wie das in der Regel in den Beweisen geschieht. Mit der Intuition gelingt es dem Menschen, die Beweisprinzipien zu sehen, ferner zu erkennen, dass sie selbst nicht mehr beweisbar sind. Das ist also kein logischer Diskurs, sondern es handelt sich bei der Intuition um etwas Irrationales, das nicht gesteuert werden kann, sondern von außen kommt. Platon hat dies im Siebten Brief mit dem plötzlich aufleuchtenden Funken verglichen. - Auf der anderen Seite kann diese Fähigkeit in gewisser Weise beeinflusst werden, wenn man eine entsprechende Schulung durchlaufen hat. Die Intuition spielte in der modernen Philosophie, und zwar im Wiener Kreis (Moritz Schlick) und im Logischen Empirismus (Bertrand Russell) eine zeitweise dominante Rolle, wobei diese beiden Strömungen letztlich auf die Antike (Platon und Aristoteles) rekurrierten. - Die sogenannte intuitionistische Logik trägt insofern dem Faktum Rechnung, dass es sich bei der Intuition um einen irrationalen Vorgang handelt, als in ihr die binäre, also zweistellige Logik überwunden werden soll. Aber diese intuitionistische Logik ist ihrerseits nicht unproblematisch. Eine andere, plausiblere Alternative erfolgt zum Beispiel in der dreistelligen Logik des polnischen Mathematikers und Logikers Jan Lukasiewicz, in der es drei Wahrheitswerte, w, f und einen dritten unbestimmten Wert gibt. Aber auch diese dreistellige Logik lässt sich, da in ihr zwischen diesen drei Werten distinguiert wird, auf die binäre Logik reduzieren. Die zweite Frage: Gab es in Aristoteles' Denken eine Entwicklung? Aristoteles hat, was seine Wissenschaftstheorie und seine Sicht axiomatischer Methoden betrifft, keine signifikante Entwicklung durchgemacht. Wir wissen zwar nicht genau, wann die Zweiten Analytiken und das Gamma der Metaphysik entstanden sind, aber die erste Schrift gehört mit Sicherheit zum Frühwerk wie das gesamte Organon, zu dem die Zweiten Analytiken zu rechnen sind. Das Buch Gamma der Metaphysik ist hingegen später entstanden. Mit den Fragen über das Wesen der Axiome und mit wissenschaftstheoretischen Überlegungen

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hat sich Aristoteles anscheinend sein ganzes Leben lang beschäftigt. Auf der anderen Seite darf man Diskussionen in der platonischen Akademie nicht unterschätzen. Wir besitzen zwar keine konkreten Informationen, doch es hat sich bereits gezeigt, dass auch die Axiomatik Gegenstand des Interesses in dieser Institution war, weil die Mathematik eine derart große Rolle in der Akademie spielte. Wenn Aristoteles über Axiome schrieb, rekurrierte er immer indirekt auf Platons Schule. Platon hatte in den Dialogen keine eigentlichen Diskurse zur Axiomatik vorzuweisen. Dies unterscheidet ihn von Aristoteles. Er hat jedoch, so im Philebos, auf Wissenschaftstheorie reflektiert, und die Frage, wie sich Epistemai konstituieren, war für ihn zumindest in den späteren Dialogen von aktuellem Interesse. Da er, wie bereits erwähnt, im Siebten Brief auf die Besonderheiten der Intuition einging, zeigt sich deutlich, dass es in der Akademie entsprechende Diskussionen zum logischen Diskurs und zur intuitiven Wahrnehmung von Axiomen/ Prinzipien gegeben hat. Platon und Aristoteles waren die einzigen Philosophen des damaligen Zeitraums, die der Intuition als einem maßgeblichen Faktor im Denkprozess einen derart großen Raum einräumten. Sie haben in der späteren Zeit kaum einen Nachfolger gefunden. Dabei kommt der Intuition im Vorgang der nicht-diskursiven Erkenntnis eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Viele Entdeckungen und Erfindungen geschehen auf diesem Wege, ohne dass man rationale Ursachen angeben könnte. Ein berühmtes Beispiel liefert im dritten Jahrhundert Archimedes mit der spontanen Entdeckung des spezifischen Gewichts. Platons Bemerkung im siebten Brief trifft genau diesen Sachverhalt. Doch warum haben sich die Griechen derart selten Gedanken über die Intuition und ihre Bedeutung gemacht? Die Griechen hatten im allgemeinen im damaligen Zeitraum ein mechanistisches Weltbild. Sie nahmen an, zu jeder Folge gebe es eine fest begrenzte Ursache, man könne Prozesse sozusagen lückenlos zurück verfolgen. Die Spontaneität des Denkens, das Irrationale und die Intuition hatten in diesem Modell keinen Platz. Die Griechen tendierten zu überschaubaren Prozessen. Die Philosophie ließ sich in diesem Zusammenhang primär von der Physik beeinflussen. Die Intuition als ein Vorgang, der quasi aus dem Nichts entsteht und sich nicht rational erklären lässt, konnte sich folglich in der Philosophie nicht etablieren. Das Gleiche gilt für die Physik. - Da werden in diesem Zusammenhang zwei miteinander konkurrierende

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Modelle sichtbar: auf der einen Seite rechneten die Griechen mit einem begrenzten Sein, was zu der Annahme passte, dass die Welt mechanistisch zu erklären sei. Zum anderen gibt es, wie bereits Anaxagoras zeigte, die Infinitesimalrechnung mit dem Begriff des Unendlichen. Das Apeiron widerspricht unmittelbar einem mechanistischen und limitierten Sein. Beide Theorien lassen sich nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren, denn sie basieren auf kontradiktorischen Annahmen. Auf die Zeit übertragen, bedeutet dies: eine zeitliche begrenzte Welt hat einen Anfang und ein Ende, während die Ewigkeit zeitlos ist und sich nicht nach den Kategorien der Zeit berechnen lässt. Dies hat Aristoteles in der Physik erkannt und beschrieben. Die Diskussionen in der Philosophie über das Wesen der Axiome und die Bedeutung der finiten und infiniten Welt wurden nicht zuletzt von der Mathematik beeinflusst. Dabei hat man, wie auch Aristoteles' Analyse der Bewegungsparadoxien Zenons in der Physik 6,2 zeigt, nicht immer strikt zwischen Logik, Physik und Ontologie differenziert. Die Seinsebene und die Ebene der Logik und der Sprache gingen teilweise ineinander über. Die dritte Frage: Hat Aristoteles wie Platon einen vertikalen Wissenschaftsbegriff gehabt? Gab es bei ihm eine Hierarchie der Wissenschaften? Da muss man differenzieren. Die Vorstellungen, die man im fünften Jahrhundert von Wissenschaften hatte, waren andere als bei Platon und bei Aristoteles. Platon gab das vorherige horizontale Modell der Wissenschaften zugunsten einer Hierarchie auf, bevor Aristoteles zu der ursprünglichen Konzeption zurück kehrte. Es gab auch in diesem Punkt, der Klassifizierung von Wissenschaften in der Akademie Diskussionen. In der Zeit der Klassik hat man sich bereits gefragt, welche Rolle die Philosophie im Zusammenhang mit anderen Wissenschaften spielen könne, ob sie auf deren Grundlagen zu reflektieren habe. Es gab also in Athen theoretische Debatten. - Das Thema lässt sich, wie schon angedeutet, bis ins fünfte Jahrhundert zurück verfolgen. In der Zeit der Klassik hat man sich bereits gefragt, welche Rolle die Philosophie im Zusammenhang mit anderen Wissenschaften spielen könne, ob sie auf deren Grundlagen zu reflektieren habe. Platon hatte an die oberste Stelle der Wissenschaften die Dialektik gesetzt – als eine Wissenschaft und Methode, mit der man zu den obersten Prinzipien, den Ideen, gelangen könne. Dieser Weg war für Aristoteles nicht begehbar, da die Ideen in seinem Wissenschaftsmodell

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keinen Platz hatten. Damit entfiel auch die exzeptionelle Rolle, die Platon der Dialektik zugedacht hatte. Ferner war bei Platon die besondere Bedeutung, die Aristoteles den Axiomen einräumte, nicht gegeben. Aristoteles setzte an die Stelle der platonischen Hierarchie der Wissenschaften ein eher horizontales Modell. Dieses war durch eine weitgehende Autonomie dieser Wissenschaften, eine Gleichberechtigung und wissenschaftsspezifische Prinzipien und Methoden charakterisiert. Dies waren gleichsam die Grundpfeiler. Die Darstellung und Begründung dieser Theorie fanden vor allem in den Zweiten Analytiken statt. Doch warum unterschieden sich Platon und Aristoteles in diesem für die Bedeutung und Funktion der Wissenschaften fundamentalen Punkt? Platon dachte auch im Rahmen seiner Erkenntnistheorie mit der Dialektik an der Spitze idealistisch. Er nahm an, man könne in einem kontinuierlichen Aufstieg der Erkenntnis und einem anschließenden Abstieg von der Ideenwelt zur physikalischen Welt zu den obersten Prinzipien gelangen. Das Gleiche galt auch für die allgemeinsten Begriffe, die Platon mittels der Dialektik zu erfassen versuchte. Daneben gab es bei ihm wie auch bei Aristoteles das apriorische Wissen, das man nicht diskursiv erreichen kann. Aristoteles ging in seinem wissenschaftstheoretischen und gnoseologischen Modell einen anderen, eher empirischen Weg. Die Empirie bildete die Basis für jede Erkenntnis. Die Anamnese bei Platon, mittels derer er die Dichotomie zwischen dieser Welt und dem Raum der Ideen zu überwinden versuchte, entfiel bei Aristoteles. An die Stelle der Wiedererinnerung trat bei ihm die Intuition, mit der sich nicht nur Axiome erfassen lassen, sondern die auch die Wahrnehmung allgemeinster Begriffe ermöglicht. Da standen sich ein metaphysisches und ein empirisch orientiertes Modell gegenüber. Die vierte Frage: Wie hat sich Aristoteles über die Methoden in den Wissenschaften geäußert? Da kommen zunächst die beiden Ethiken in Frage. Aristoteles hat als erster antiker Wissenschaftler für die Ethik spezifische Methoden reklamiert. Dies bedeutete eine strikte Abgrenzung von beweisenden Wissenschaften wie der Mathematik und der Physik. Gleichzeitig hob er die Ethik von der Syllogistik, der deduktiv verfahrenden Logik ab. Die Quantorenlogik spielt in Aristoteles' Ethik keine Rolle, weil in ihr mit Prämissen und Konklusionen operiert wird, während der Ethiker à la Aristoteles prinzipiell von Einzelbeobachtungen ausgeht und auf dieser Basis auf Definitionen schließt. Die Ni-

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komachische und die Eudemische Ethik sind Traktate, in denen solche Definitionen eine erhebliche Rolle spielen. Sie bilden jedoch nicht die Ausgangspunkte des Diskurses, sondern stehen als Zwischenstationen einer induktiv verfahrenden Wahrheitsfindung am Ende einer Etappe. Eine Definition fungiert dann wiederum als Ausgangspunkt eines neuen Diskurses. Die einzelnen Elemente einer definitorischen Begriffsbestimmung gewann Aristoteles durch die Kombination apriorischer und empirischer Begriffe. Die Methode in der Ethik differiert von anderen Wissenschaften auch in dem Punkt, dass in ihr die Empirie eine dominante Rolle spielt. Dazu kommt der Rekurs auf einen Common Sense, der in den empirischen Wissenschaften bei Aristoteles generell von großer Bedeutung war. Ein solcher Rekurs diente der Absicherung der eigenen Argumentation. In allen Schriften betonte Aristoteles mehr oder weniger die Bedeutung des gesunden Menschenverstandes für die Wissenschaften. Dies galt in größerem Maße für die empirischen Epistemai, während Naturwissenschaften weniger auf einen solchen Verstand rekurrieren. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften basierte Aristoteles seine Argumentation vielmehr auf den wissenschaftlichen Positionen der Vorgänger. Sein Prinzip lautete: prinzipiell kann jeder einen Beitrag zur Findung der Wahrheit leisten, so dass sich ein Kontinuum zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ergibt: Diese Position begegnet besonders in der Metaphysik. Methodologische Reflexionen finden sich bei Aristoteles in größerer Intensität als bei seinen Vorgängern, wenn man mal die Erkenntnistheorie ausnimmt. Er reflektierte primär deswegen so häufig auf wissenschaftliche Methoden, weil er auf einigen Gebieten der erste war, der eine Methodik begründete. Zur Zeit der Klassik lässt sich ein solches Methodenbewusstsein, von Ausnahmen abgesehen, noch nicht beobachten. Aber es gab in den Fachwissenschaften wie z.B. in der Medizin theoretische Diskurse, mit denen man die Besonderheiten und methodischen Verfahrensweisen der jeweiligen Wissenschaft reflektierte. Auch in dieser Hinsicht war das fünfte Jahrhundert richtungsweisend. Zum Abschluss dieses Kapitels soll ein Blick auf die Axiomatik in der modernen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts geworfen werden. Da wird man zunächst feststellen, dass seit etwa 1905 – 1910, dem Zeitraum, in dem die Principia Mathematica von B.Russell und A.N.Whitehead erschienen sind, die Diskussionen über die Axiomatik

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nicht aufgehört haben. Besonders der logische Empirismus in England, Karl Popper, der Wiener Kreis und hier besonders Rudolf Carnap waren an diesen Diskussionen beteiligt. Carnap hat mit seinen Untersuchungen zur allgemeinen Axiomatik entscheidend dazu beigetragen. Auf der Seite der Mathematiker wären ebenso Gödel, Hilbert und Ackermann zu nennen. Das Unvollständigkeitsaxiom von Gödel hat in diesem Zusammenhang besondere Wirkung auf die Diskussionen in der Mathematik gehabt. Gödel richtete sich mit diesem Axiom im Jahre 1931 besonders gegen die Annahme, es gebe in der Mathematik finite, also endliche Systeme, oder anders ausgedrückt: es sei unmöglich, alle Sätze in einem solchen System abzuleiten und zu beweisen. Dies war in erster Linie gegen die Principia Mathematica von Russell und Whitehead gerichtet. Gödel hat in diesem Kontext präzise zwischen Objektsprache und Metasprache, also jener Ebene, auf der über Axiome und die Ableitbarkeit aus ihnen gesprochen wird, differenziert. Dieser Versuch richtete sich ferner gegen den Wiener Kreis und dessen sog. Logizismus. Die Diskussionen gingen auch nach der Formulierung des Unvollständigkeitsaxioms in der Mathematik und der Philosophie weiter. Den besten Überblick über die Debatten und die Entwicklung der Mathematik in den 30er Jahren des 20.Jahrhunderts findet man in der Einleitung der genannten Untersuchungen zur allgemeinen Axiomatik von Rudolf Carnap. Wie steht es jedoch mit den beiden Sätzen vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten in der Philosophie des 20.Jahrhunderts? Sie spielen auch in den modernen Logiken eine Rolle. Zu nennen wäre hier besonders der polnische Logiker Jan Lukasiewicz. Er hat, wie schon erwähnt, eine dreiwertige Logik begründet, in der neben den Wahrheitswerten wahr und falsch noch ein dritter, unbestimmter Wert eine Rolle spielt. Aber auch diese mehrwertige Logik und generell die n – stelligen Logiken lassen sich auf den Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten reduzieren. Sie sind wie die klassische Aussagenlogik und wie die Quantorenlogik axiomatisch aufgebaut. Insofern bestätigen sie die Gültigkeit und die fundamentale Wichtigkeit klassischer Logiken: der Aussagenlogik, der Prädikatenlogik und auch der Modallogik. Resümierend lässt sich Folgendes sagen: Die Anfänge der Reflexionen auf die Logik sind im fünften Jahrhundert, in der Zeit der

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Klassik, zu finden. Die Schule von Elea in Unteritalien ist in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen. Parmenides reflektierte auf die Sätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten. Zenon, sein Schüler, formulierte seine Bewegungsparadoxien, die mit einem diskontinuierlichen Raum rechneten. Der Abstraktionsgrad war mithin in dieser Schule von Anfang an sehr hoch. Die Philosophen von Elea standen in einer direkten Tradition, indem sie sich auf Anaxagoras und dessen Einbeziehung der Infinitesimalrechnung bezogen. Es ist anzunehmen, dass Anaxagoras und die Eleaten unter dem Einfluss der Mathematik arbeiteten, in der die Infinitesimalen schon im fünften Jahrhundert eine eminente Rolle spielten. In dieser Wissenschaft wurde in diesem Zeitraum die sog. Quadratur des Kreises formuliert, für die es keine mathematische Lösung gab. Inkommensurable Werte hatten prinzipiell nur in der Mathematik eine Bedeutung, während sie in anderen Wissenschaften, so auch in der Logik, nicht vorkamen. Die Logik war bei den Griechen von Anfang an mit der Erkenntnistheorie verknüpft. Wer sich im fünften Jahrhundert über logische Probleme äußerte, bezog gleichzeitig Stellung, was die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen und die Bedingungen der Gnosis betrifft. Wir können dieses Phänomen besonders deutlich bei Platon erkennen, der im Parmenides und im Theaitetos Gnoseologie und Logik verbunden hat. Da stand Platon bereits in einer festen Tradition. Erkenntnistheorie ist zunächst gleichbedeutend mit der Frage, was der Mensch erkennen kann und was dieser Erkenntnis entzogen ist. In jenen Modellen, in denen mit zwei Welten gerechnet wurde (Parmenides, Zenon), kam es zu einer Abwertung der erkenntnistheoretischen Möglichkeiten. Da standen sich die Welt der Doxa und die der Wahrheit gegenüber, was dann auf Platon und dessen Welt der Ideen im Unterschied zur physikalischen Welt wirkte. Platon hat im Gorgias seinen Sokrates folgendes Theorem formulieren lassen: die Wahrheit kann nicht widerlegt werden. Dieser erkenntnistheoretische Satz diente dazu, die mit sich immer identisch seiende Wahrheit gegen eine bloß scheinbare Wahrheit zu verteidigen und zu retten. Der Satz zeigt in ganzer Deutlichkeit den idealistischen Standpunkt des platonischen Sokrates, der sich mit ihm von der physikalischen Welt als einem Raum abgrenzte, in dem die bloße Meinung immer wieder variabel ist und die Wahrheit verfehlt. Die bei Parmenides festzustellende Skepsis, was die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen angeht, deutet auf Xenophanes, der

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Parmenides' Lehrer gewesen sein soll und sich, was die Erkenntnistheorie angeht, als skeptisch erwies. Da gab es also in gnoseologischer Hinsicht in Elea anscheinend eine Tradition. Der antike Skeptizismus in hellenistischer Zeit hatte in der Schule von Elea seine historischen Wurzeln. Wenn man die Entwicklung der Logik im fünften und vierten Jahrhundert überschaut, wird man eine mehr oder weniger geradlinige Entwicklung konstatieren. Reflexe auf die Logik zur Zeit der Klassik erfolgten weitgehend ohne eine Formalisierung dieser Wissenschaft. Wichtige Aporien wie der sokratische Satz vom Wissen des Nichtwissens oder die zenonischen Bewegungsparadoxien zeigen, dass man bereits in diesem Zeitraum Grundprobleme der Logik erkannte und formulierte. Die Mengentheorie war im fünften Jahrhundert noch nicht bekannt. Man hat allerdings anscheinend gesehen, dass es mengentheoretische Probleme gibt, wenn man in der Logik/Mathematik mit finiten Ensembles rechnet. Das Problembewusstsein auf dem Gebiet dieser beiden Wissenschaften war mithin vorhanden. Aristoteles hat in seiner Syllogistik die Logik so formalisiert, dass sie zur Ausgangsbasis für die Entwicklung von Kalkülen in der modernen mathematischen Logik werden konnte. Seine Leistungen in diesem Bereich wären jedoch nicht ohne die Tradition des fünften Jahrhunderts denkbar.

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IV. Metaphysik 1.

Historische Perspektiven

Die Metaphysik begann bei den Griechen mit Xenophanes von Kolophon im 7./6. Jahrhundert. Der Naturwissenschaftler und Philosoph reflektierte in seinem Werk extensiv auf die homerische Theologie und die anthropomorphe Gestalt dieser Religion und setzte ihr seine eigene, neue Theologie entgegen, die ohne die Menschengestalt der Götter auskam und ein sehr abstraktes und reflektiertes Götterbild vermittelte. Metaphysik und Theologie waren in diesem Zeitraum noch eng miteinander verknüpft. Dies gilt mutatis mutandis ebenso für die Zeit der Klassik. Wer sich als Philosoph über metaphysische Probleme äußerte, machte in der Regel auch Aussagen über die Theologie. Metaphysik und Theologie waren zu dieser Zeit Geschwister. Die Frage stellt sich, wie es dazu kommen konnte. Zunächst einmal war die homerische Theologie im Denken der Griechen, in ihrer Bildung und Kultur dominierend. Die homerischen Theoreme über die Götter, das gesamte homerische Götterbild, das besonders von anthropomorphen Vorstellungen geprägt war, waren über Jahrhunderte für die Griechen richtungsweisend. Es gab in der Theologie der Griechen bis ins fünfte Jahrhundert weitgehend keine Alternativen. Die einzigen Instanzen, die diese etablierte homerische Theologie hinterfragten, waren die Philosophie und die Sophistik. Letztere (Kritias) hat die Ursprünge der Religion allgemein in Zweifel gezogen und rationalisiert. Die Thematisierung traditioneller theologischer Theoreme führte dann in der Zeit der Klassik zu einer oppositionellen Aufklärung, in deren Zuge freilich die traditionelle homerische Theologie nicht einfach aufgehoben und abgelöst wurde. Wenn man sich die Frage stellt, wann in Hellas vor Xenophanes die Voraussetzungen für eine regelrechte Metaphysik geschaffen wurden, wird man auf Milet verwiesen. Dort gab es erste Tendenzen, sich mit der Metaphysik zu beschäftigen. Anaximander soll als erster Philosoph den Begriff des Unendlichen in seine Philosophie integriert haben. Dies war 71

eine hohe Abstraktionsstufe: der Begriff des Unendlichen war nichts, was dem gegenständlichen Denken unmittelbar zugänglich war. Er musste erst erschlossen werden. Eigentlich widersprach dieses Unendliche in der Physik der Anschauung und jeder Empirie. Anaximander hat also einen Begriff in seine Philosophie eingeführt, der empirisch nicht verifizierbar war. Die Schule von Elea stand vielleicht ebenfalls in dieser Tradition von Milet. Ob Anaximander den Begriff des Apeiron nur im Zusammenhang mit seiner Physik, oder ebenso mit Bezug auf die Mathematik verwendet hat, lässt sich nicht sagen. Man kann jedoch bis zu diesem Punkt festhalten: Anaximander hat mit dem Begriff des Unendlichen folgenreiche Traditionen und Diskussionen ausgelöst. Die Sinneswahrnehmungen haben im Zuge dieser Traditionen an Bedeutung verloren. Sie wurden in Elea und dann von Platon radikal abgewertet. Für die Metaphysik hatte dies natürlich Folgen. Wenn man behauptete oder in der Philosophie zu zeigen versuchte, dass diese Sinneswahrnehmungen trügerisch seien, nicht geeignet für wirkliche Erkenntnis, besonders nicht für den Bereich der Metaphysik, beschränkte man sich darauf, sozusagen im Analogieverfahren von dieser physikalischen Welt auf einen Raum im Jenseits zu schließen. Dieser Weg des Analogieverfahrens war im wesentlichen jener, den Parmenides und seine Schule gegangen sind. Man schloss aus den Erfahrungen im Bereich dieser Welt auf einen metaphysischen Raum. Dies war eine riskante Verfahrensweise, denn man suggerierte mit ihr, es gebe tatsächlich Analogien zwischen dem Hier und dem Jenseits. Dies war der eine Trend. Man übertrug erkenntnistheoretische Annahmen und Schlussfolgerungen auf einen metaphysischen Raum. Dies war zugleich der Versuch, mittels der begrenzten Erkenntnismöglichkeiten in einen Bereich vorzudringen, der eben nicht unmittelbar oder mittels der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich war. Der zweite Trend bestand darin, dass man die Sinneswahrnehmungen aufwertete. Sie sollten dann als Basis für den Logos, das vernünftige Denken, dienen. So verfuhr besonders Heraklit. Heraklit rechnete ebenfalls mit den Möglichkeiten, die eine Analogiemethode bietet. Er nahm an, der Mensch könne die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos dadurch erkennen, dass es eine Entsprechung zwischen dieser Welt und einem metaphysischen Raum gibt. Die Empirie, mit der man die physikalische Welt erfahren und erkennen kann, indem man sich der

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naturwissenschaftlichen Methoden der Physik bedient, bildet das Bindeglied zur Metaphysik. In der Moderne ist man im Logischen Empirismus in England im wesentlichen den gleichen Weg gegangen. Daneben gab es einen dritten Standpunkt, der sich mit dem Begriff „Positivismus“ notieren lässt. Protagoras und ebenso Hippias vertraten diese Position. Wissen ist demnach nur in einem diesseitigen Raum möglich, alle metaphysischen Aussagen sind quasi leer, weil man sie nicht verifizieren kann. Im Bereich der Metaphysik gibt es, so der Positivismus, kein gesichertes Wissen, nur Vermutungen. Protagoras hat dies, wie bereits angedeutet, zu der Aussage veranlasst, der Mensch könne nicht erkennen, ob es die Götter gebe oder nicht, weil das Leben zu kurz sei. Das war ein agnostischer Skeptizismus. In Athen gab es um diesen Wissensbegriff hitzige Debatten. Auf der einen Seite standen aufgeklärte Philosophen wie Anaxagoras, die durch eine rein theoretische Philosophie die Totalität der physikalischen Welt erforschen und erklären wollten, auf der anderen Seite befanden sich die Konservativen, die bemüht waren, die Metaphysik und auch diese physikalische Welt als Domäne der Götter zu erweisen und den Naturphilosophen wie Anaxagoras das Handwerk zu legen. Die zentrale Figur in diesem Streit scheint Anaxagoras gewesen zu sein, gegen den Xenophon in den Memorabilien 4,7 und der platonische Sokrates im Phaidon polemisierten. Diese Diskussionen drehten sich ferner um die Frage, bis zu welchem Punkt die Autonomie der Wissenschaften gehen solle. Die Konservativen plädierten für eine Beschneidung dieser Unabhängigkeit. Es sollte keine Grenzenlosigkeit von Wissenschaft und Forschung geben. Die Religion sollte als eine Kontrollinstanz fungieren. Es durfte keine Aufklärungsarbeit der Naturwissenschaften in der Bevölkerung stattfinden. Wenn ein Sophist wie Protagoras erkenntnistheoretisch sich eindeutig von der traditionellen Religion und dem Götterglauben abgrenzte, indem er seine Skepsis bekundete, löste dies in den konservativen Kreisen Athens Aufruhr aus. Von Seiten der Philosophie gab es hingegen eher Akzeptanz. Euripides hat sich wohl unter dem Einfluss der Sophistik ebenfalls in seinen Tragödien eher skeptisch geäußert, was die Erkenntnisse der Metaphysik und der Theologie betraf. Er hat in den Troerinnen Hekabe, die trojanische Königin, ein aufgeklärtes Gebet an Zeus formulieren

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lassen. In diesem ging es um das traditionelle Zeusbild, aber auch um fortschrittliche Gedanken über den Göttervater, die sich mit der Tradition schwerlich vereinbaren ließen. Da gingen also Tradition und Fortschritt eine bemerkenswerte Verbindung ein. Der traditionelle Glaube an einen anthropomorph gedachten Zeus wurde dabei nicht durch ein philosophisch reflektiertes Götterbild, das sehr abstrakt und modern war und quasi naturwissenschaftliche Kenntnisse einbezog, abgelöst. Vielmehr ergab sich eine Synthese: Euripides zeigte durch das Gebet Hekabes, dass sich beides durchaus miteinander vereinbaren ließ. Man kann an diesen Stationen des Denkens in Athen aber auch folgendes erkennen: Themen wie die Metaphysik und die Theologie waren sozusagen an der Tagesordnung. Man diskutierte in der Öffentlichkeit, man las aus neuen Büchern öffentlich vor. Es gab im Athen der damaligen Zeit eigentlich keine strikte Trennung zwischen einem privaten und öffentlichen Raum. Metaphysik und Theologie waren hochbrisante Themen. Die aufgeklärten Geister wie einige Sophisten und Euripides im Bereich der Tragödie gingen damit relativ freimütig um. Die Konservativen auf der anderen Seite bestritten, wie schon angedeutet, die Freiheit der Wissenschaft und intervenierten zugunsten einer staatlichen Kontrolle. Texte wie Xenophons Memorabilien 4,7 oder Platons Phaidon bezeugen indirekt die Auseinan‐ dersetzungen zwischen den Aufklärern und den Konservativen, die anscheinend zeitweise die Form eines Kulturstreits annahmen. So betrachtet, führte die Philosophie einen Kampf gegen das Establishment. Gleichzeitig zeigte sich schon in der Zeit der Klassik die gesell‐ schaftliche Relevanz dieser Philosophie. Sie spielte die Rolle der Beobachterin, Kritikerin politischer Missstände und sozialer Ungerech‐ tigkeiten. Wir können dies gut in den Dialogen Platons beobachten, der seinen Sokrates immer als eine Art Gewissen Athens auftreten ließ und der auch die sozialen Spannungen, unter denen diese Stadt zu leiden hatte, thematisierte. Dies gilt ferner für Texte wie Xenophons Memora‐ bilien, in denen Sokrates in ganz verschiedenen Situationen als Mahner und Kritiker Athens in Erscheinung trat. Die beiden Sokratiker entwarfen auf diese Weise Gegenbilder, die auch dazu dienten, diese Stadt zu restaurieren und ihr neuen Schwung auf dem Weg in die Zukunft zu verleihen. Der Bezugspunkt politischer Diskurse war immer die Polis. Sie bildete den Rahmen und stellte den politischen Raum zur Verfügung, in

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dem sich politisches Handeln im weitesten Sinne realisieren ließ. Bereits Demokrit definierte in seiner Ethik die Polis als das beste Korrektiv, durch das der Mensch seine Anlagen und Begabungen am ehesten verwirklichen kann. Um noch einmal auf Euripides zurückzukommen: Er soll erneut einbezogen werden, weil er der mit Abstand philosophischste Tragiker seiner Zeit gewesen ist und weil er sich durch seine dramatis personae kritisch zur Metaphysik und Theologie geäußert hat. Euripides war ein unbequemer und ungeliebter Zeitgenosse in Athen. Er hat nur vier Mal einen Sieg bei den Großen Dionysien gewonnen. Er war stets gesellschaftskritisch, bildete wie Sokrates ein Gewissen Athens, hat zeitgenössische Trends aufgegriffen und in seine Tragödien integriert. Euripides war mit Sokrates, Protagoras und Anaxagoras befreundet. Er hatte also mit den besten Intellektuellen Athens Umgang. Er hat von ihnen gelernt und seine Erfahrungen seinen Stücken zugute kommen lassen. Philosophie auf der Bühne, besonders wenn es um Metaphysik und Theologie ging, war eine Mischung, die bei den Konservativen im damaligen Athen nicht besonders gut ankam. Die Fragen, die Euripides seine Figuren auf der Bühne stellen ließ, die Aporien, die in einer ganzen Reihe seiner Tragödien aus einem traditionellen Götterverständnis resultierten, die Fehler und Unzulänglichkeiten, die diese Götter bei Euripides an den Tag legten – all dies war enorm sozial – und religionskritisch, und so wurde es von der Jury im Theater und vom Publikum auch verstanden. Man hat in der zeitgenössischen Kritik dieses Theater des Euripides als gesellschaftlich subversiv interpretiert. Die Götter waren in ihm nicht gut. Sie verhielten sich wie Menschen. Sie überließen den Menschen seinen Nöten und Ängsten. Sie dirigierten oft das Geschehen auf der Erde, ohne dass der Mensch in irgendeiner Weise eine Chance hatte, selbst einzugreifen. Das war demnach ein desillusioniertes Götterbild. Es war ferner in einigen Punkten von der Sophistik beeinflusst. Euripides hat wie kein anderer Tragiker Zeitströmungen auf die Bühne gebracht, kritisch reflektiert und mit dem Theater ein Medium gewählt, durch das sich auch Themen wie die Metaphysik und die Theologie einem großen Publikum und einer breiten Öffentlichkeit näherbringen ließen. Dann konnte Theater zu einem öffentlichen Forum und zu einem Ort des kritisch – aufgeklärten Räsonnements werden.

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Man kann sich nun die Frage stellen, was diese Eigenheiten und Charakteristika des euripideischen Theaters mit der Metaphysik und der Theologie zur Zeit der Klassik zu tun haben, weil es sich doch um mimetische Texte handelt, die diese beiden Bereiche nicht unmittelbar tangieren. Euripides ist jedoch in diesem Kontext ein ganz wichtiger Autor, weil er sein Theater instrumentalisierte, um Diskussionen über Metaphysik und Theologie im zeitgenössischen Athen zu reflektieren. Gleichzeitig zeigt sich, dass solche Debatten, indem sie indirekt Eingang in das attische Theater fanden, in dieser Polis virulent und aktuell waren. Es gab demnach Auseinandersetzungen mit der Metaphysik und der Theologie auf zwei Ebenen: auf der einen Seite diskutierte man in der Öffentlichkeit und publizierte einschlägige Texte, auf der anderen führte man, an erster Stelle Euripides, philosophische Diskurse in Form von Tragikertexten auf der Bühne. Wir wissen nicht, welche Zwecke der Tragiker mit solchen kritischen Reflexionen verfolgte. Das Wahrscheinlichste ist vielleicht, dass Euripides durch die Einbeziehung von Zeitströmungen auf Probleme aufmerksam machen wollte, die durch die Konfrontation traditioneller religiöser Theoreme mit aufgeklärtem, primär naturwissenschaftlichem Gedankengut entstanden. Er war ferner ein Meister der Sentenzen, Gnomen, mit denen er das aktuelle Theater transzendierte. Diese Sentenzen waren oft das Mittel, um auf Missstände im Verhältnis zwischen den Menschen und den Göttern aufmerksam zu machen. Die Theologie und die Metaphysik wurden auf diese Weise reflektiert. Metaphysik im fünften Jahrhundert bedeutet die Suche nach den „letzten Dingen“ jenseits der Sinneswahrnehmungen und der empirischen Erfahrungen. Empirie und Metaphysik haben sich schon in dieser Zeit nicht miteinander vertragen. Wer empirisch forscht, verzichtet in der Regel auf metaphysische Fragestellungen. Umgekehrt gilt dies auch für den Philosophen, der Metaphysik betreibt. Dabei fällt an diesem Zeitraum auf, dass auch die Metaphysiker wie z.B. Anaxagoras sich oft eines Vokabulars bedienten, das den diesseitigen Lebensbereich betrifft. Sie operierten mit einer Terminologie, die mittels eines Analogieverfahrens dazu diente, auf einen metaphysischen Raum zu schließen. Es ging in diesem Kontext auf der anderen Seite auch um gesellschaftsrelevante Fragen: Welches Wissen braucht eine Gesellschaft, damit sie funktioniert? Benötigt sie Metaphysik und Theologie? Wie

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sehen die Mechanismen aus, mit denen man eine solche Gesellschaft von oben manipulieren kann? Die Brücke zwischen solchen Fragen und der Metaphysik bestand darin, dass man besonders in den Kreisen der Sophistik das Naturrecht aus einem metaphysischen Raum abzuleiten versuchte. Auf diese Weise entging man einem Legitimationszwang. Die Physis wurde als oberste Instanz gesetzt. Die genannten Fragen wurden damals nicht explizit formuliert. Die breite Mehrheit scheint sich nicht so sehr für metaphysische Fragen interessiert zu haben. Metaphysik war schon immer eine Angelegenheit der Minorität. Die Nomos – Physis – Antithese freilich hatte eine gesellschaftliche Relevanz. Sie war prinzipiell revolutionär, denn durch einen solchen Rekurs auf die Physis ließ sich die rechtliche Ordnung einer Gesellschaft in Frage stellen. Was die Zeit nach der Klassik betrifft, so hat es Metaphysik und Theologie auch in den folgenden Generationen gegeben. Da ist zunächst Platon zu nennen. Seine Ideenlehre entwickelte er schon früh, zum ersten Male eigentlich in der Politeia. Das Ideenwissen sollte auf dem Wege des aufsteigenden Diskurses mittels der Dialektik erworben werden, ohne dass freilich Platon restlos auf eine rationale Weise erklären konnte, wie dieser Aufstieg zu den obersten Prinzipien vonstatten gehen sollte. Die Intuition wurde von Platon in diesem Kontext nicht eliminiert. Wissenschaftstheoretisch betrachtet, ließ Platon Fragen offen, die Aristoteles, der sie in seiner Erkenntnistheorie aufgegriffen hat, ebenfalls nicht aussparte. Die aristotelische Epistemologie bestand in einer Mischung aus empirischen und metaphysischen Elementen, indem Aristoteles die offenen Lücken in der Erkenntnis der physikalischen Welt durch Elemente füllte, die dem metaphysischen Raum zuzurechnen waren. In dieser Hinsicht waren Platon und Aristoteles gar nicht so weit voneinander entfernt. Aristoteles war nicht ein reiner Empiriker, und auch bei Platon begegneten, was den Prozess der progressiven Erkenntnis angeht, Elemente, die dieser Welt angehörten. Die Griechen der klassischen Zeit und der nächsten Generation tendierten dazu, abstrakte theologische Modelle zu entwerfen, die Metaphysik und Theologie in Einklang bringen sollten. Sie haben in diesem Zusammenhang keine streng wissenschaftlichen Beweise für die Richtigkeit ihrer Theorien erbringen wollen. Platon und Aristoteles wussten genau, dass sich im Bereich der Metaphysik keine empirische

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Sicherheit gewinnen lässt. Dies hatten schon Pythagoras und seine Schüler erkannt. In der Schule in Kroton und ebenso in Tarent wurde natürlich Metaphysik groß geschrieben, denn die von Pythagoras initiierte Übertragung der musikalischen Harmonielehre auf den Kosmos stellte reine Metaphysik dar. 2.

Metaphysik und Kosmologie

Metaphysik und Kosmologie hängen, ähnlich wie die Logik und die Erkenntnistheorie, miteinander zusammen. Dies bedeutet, dass die Philosophen, die sich im fünften Jahrhundert zur Metaphysik äußerten, in der Regel Aussagen über Kosmologie machten. Dies galt auch umgekehrt. Zwar beschreibt die Kosmologie keinen metaphysischen Raum, sondern gehört eigentlich in den Bereich der Physik, aber wenn ein Philosoph der Zeit der Klassik seine Kosmostheorie entwarf, bediente er sich sprachlicher Kategorien, die zu Überschneidungen mit der Metaphysik führten. Wir können dieses Phänomen gut an Empedokles beobachten, der in seinem Werk Über die Natur beide Bereiche integrierte und keine genaue Differenzierung vornahm. Seine Lehre von der Seelenwanderung und den gefallenen Dämonen gehörte zur Metaphysik, während seine Theorie von der Entstehung der Welt mit den vier distinkten Phasen der Umwandlung und Veränderung des Seins eher der Kosmologie zuzurechnen ist. Im folgenden soll in einem kleinen Diskurs untersucht werden, welche Begriffe für die Metaphysik und die Kosmologie des Zeitraums der Klassik und der Zeit danach von zentraler Bedeutung waren. Sie bildeten die terminologische Basis, auf der die Metaphysiker und Kosmologen operierten. Der vielleicht wichtigste Begriff in diesem Zusammenhang ist der der Substanz, der Ousia. Er gehört sowohl in die Metaphysik als auch in die Kosmologie. Der Begriff bezeichnet das Wesen und die Substanz eines Subjekts oder Objekts. Im Deutschen ist er am ehesten mit „Seiendheit“ auszudrücken. Es handelt sich um ein Abstraktum, abgeleitet vom Verbum sein. Der Begriff hat in der Geschichte der griechischen Philosophie eine wechselvolle Entwicklung genommen. Er kam bereits bei Herodot vor. Als abstrakter philosophischer Begriff

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fehlte er weitgehend bei den Vorsokratikern. Die Blütezeit dieses Worts waren das fünfte und vierte Jahrhundert. Der zweite Begriff ist der der Essenz, der direkt aus dem Griechischen, von Ousia, abgeleitet wurde. Auch er notiert die Substanz. Im Lateinischen wurde er erst relativ spät ausgeprägt. Bei Cicero begegnet er nur einmal in den Fragmenten. Dann findet er sich erst wieder bei Seneca. Beide Termini, Substanz und Essenz, sind dann über die Spätantike, das Mittelalter und die Neuzeit in den modernen Sprachgebrauch eingegangen. Es ist anzunehmen, dass Cicero für die Prägung des Begriffs „essentia“ zuständig war. Das lateinische Wort ist eine genaue Übersetzung des griechischen Begriffs „Ousia“ und ist ebenfalls vom Verbum sein, esse abgeleitet. Anscheinend haben die Römer im Unterschied zu den Griechen keine besondere Neigung zu abstrakten philosophischen Begriffen gehabt. So erklärt sich vielleicht am besten, wieso Begriffe wie „Substanz“, „Wesen“ erst relativ spät in der lateinischen Sprache, also in der späten römischen Republik und dann in der frühen Kaiserzeit aufgetaucht sind. Die Substanz und das Wesen wurden in der Philosophie des fünften Jahrhunderts als etwas begriffen, das unveränderlich und konstant ist. So konnte es dazu kommen, dass Ousia fast synonym mit dem Begriff „Physis“ verwendet wurde. Das Wort „Physis“ bezeichnete im Denken der Vorsokratiker, also bei Thales, Anaximander und Anaximenes, dann auch bei Xenophanes, Empedokles und Parmenides nicht nur das Entstehen, sondern ebenso die unvergängliche, immer mit sich identische Natur. Der Gegenbegriff zu Ousia lautete im fünften Jahrhundert vor allem Genesis. Damit bezeichnete man in der griechischen Philosophie das Werden und die Entwicklung natürlicher Prozesse, die Entstehung des Kosmos – mit einem Wort kein statisches, sondern ein dynamisches Sein. Anstatt des Abstraktums Ousia begegnete bei den Vorsokratikern in der Regel To On, das Seiende, wobei man da differenzieren muss. Heraklit kannte anscheinend diesen Begriff, um das zu bezeichnen, das den Logos, der alles Sein dominiert, ausdrückt. Ousia und Logos waren demnach bei ihm Synonyme. Auch bei Demokrit kam der Begriff „Ousia“ vor, in diesem Falle allerdings im Plural, womit so etwas wie Existenzen, in Abgrenzung von Gattungen und Arten, gemeint waren.

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Bei Platon und Aristoteles ist der Begriff „Substanz“ zweifellos am häufigsten vertreten. Da wird man zunächst feststellen, dass Platon mit dem Terminus „Ousia“ auf dem Sprachgebrauch des fünften Jahrhunderts aufgebaut hat. Er verwendete den Begriff „Substanz“ besonders in seinen Dialogen Parmenides, Sophistes und Timaios. Bei Platon fungierte „Substanz“ in der Regel als Gegenbegriff zu zufälligen Seinsweisen. Im Phaidon definierte er Ousia als das, was jeweils ist. Dies klingt zunächst wie ein Widerspruch, weil ein solches Subjekt anscheinend einem zufälligen Wechsel unterworfen ist. Der Kontext macht jedoch klar, dass Platon auch an dieser Stelle die Substanz als etwas Unveränderliches betrachtet hat. In seiner Philosophie kam es dabei zu einer Hierarchie. Das physikalische Sein wird durch zufällige Eigenschaften, nicht durch die konstante Natur geprägt. Darüber jedoch gibt es die immer identische Welt der Ideen. Sie weisen immer die gleichen Eigenschaften auf – eine Voraussetzung, um dieses intelligible Sein durch reines Denken erkennen, „schauen“ zu können. Eine ähnlich große Bedeutung hatte die Substanz bei Aristoteles, der diesem Thema und Problem die Bücher Zeta, Etha und Theta in der Metaphysik gewidmet hat. Der Begriff war also in seinem Denken zentral. Für Aristoteles gab es keine Ideen. Also beschränkte er den Begriff „Substanz“, „Wesen“ auf das Diesseits, aber nicht so, dass er wie zum Beispiel die Atomisten wie ein Materialist argumentiert hätte. Auch für Aristoteles war es eine Tatsache, dass die Substanz sozusagen hinter den Dingen, den physischen Objekten, zu suchen sei. Zweitens stand für ihn fest, dass die Substanz etwas Unveränderliches sein müsse. Insofern kongruierte sein Standpunkt mit dem Platons. Eine ganz wichtige Stelle ist in diesem Zusammenhang Metaphysik ∆ 8. 1017b21-23. Aristoteles definierte dort das Wesen einer Sache mit dem ominösen Ausdruck „das zu sein, was es war“. Diese Formel meint nichts anderes als die Konstanz, die ein Subjekt oder Objekt bei aller Veränderung auszeichnet. Der Mensch wächst und verändert sich, aber das Wesen, das Menschsein, bleibt das Gleiche. Der genannte Ausdruck war für Aristoteles ein Notbehelf, weil es im Griechischen keinen prägnanten Begriff gab, um die Konstanz in der Veränderung auszudrücken. Er war in diesem Kontext davon überzeugt, dass dieses Wesen dann zum Vorschein komme, wenn man die Akzidenzien wegnimmt. Diese gehörten in der griechischen Philosophie immer zusammen. Die Substanz ließ sich erst dann definieren, wenn es zufällige Eigenschaften

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gab. So besteht Sokrates' Menschsein nicht aus Akzidenzien, doch diese sind logisch notwendig, um Sokrates als Menschen zu bestimmen. Ob Aristoteles der erste war, der die Substanz auf diese Weise definierte, ist eine offene Frage. Die Kategorie der Ousia spielte in seiner Kategorienlehre eine dominante Rolle, wobei Aristoteles in erste und zweite Substanzen differenzierte. Doch dies allein entscheidet diese Frage nicht. Dass die Griechen Substanz und Akzidenzien zusammen betrachteten, scheint aus der Beobachtung natürlicher Prozesse zu stammen. Man sah, wie sich Lebewesen zufällig oder genetisch bedingt veränderten. Gleichzeitig erkannte man, dass es Konstanten geben müsse, die von diesen Veränderungen unberührt sind. Bei der Betrachtung des Kosmos fiel schon früh die Konstanz der Planetenbewegungen auf. Die Abweichungen von angenommenen idealen Bewegungen konnte man erst in hellenistischer Zeit (Ptolemaios) entdecken. Ein weiterer metaphysischer Begriff ist „das Sein als solches, das Sein als Sein“. Im fünften Jahrhundert war er noch nicht ausgeprägt. Der Ausdruck könnte von Aristoteles stammen, der als die Instanz, die sich mit Metaphysik jenseits der physikalischen Welt zu beschäftigen hatte, die sog. Erste Philosophie definierte. Aristoteles kam zu diesem Ausdruck durch die Sprache. Sie bildete für ihn in der Metaphysik den Ausgangspunkt. Das Verbum sein wird – so seine Überzeugung – in vielfältiger Weise ausgesagt, prädiziert. Das Sein als solches ist jedoch uniform, es hat ein einziges Prinzip. Für Aristoteles war die empirische Realität zusammen mit der Sprache die Grundlage, um auf die Metaphysik zu schließen. Er war demnach kein wirklicher Metaphysiker, wenngleich er mit Ausdrücken wie „das Sein als solches, das Sein als Sein“ eine strikte Trennung zwischen der Wirklichkeit und dem metaphysischen Bereich hypostasierte. Die Metaphysik – und in diesem Punkt näherte sich Aristoteles Platon und Parmenides – repräsentiert ein unveränderliches Sein, das anders als die Prädikate, die man für die physikalische Welt verwendet, keine wechselnden und damit variablen Kategorien zulässt. Auch in diesem Zusammenhang bildete für Aristoteles die Sprache und die kategoriale Verschiedenheit, mit der man Sein prädiziert, die entscheidende Basis. Diese Beobachtungen stammten nicht von Platon und auch nicht von Parmenides. Für Aristoteles war bei der Analyse metaphysischer Probleme das wache Sprachbewusstsein entscheidend. Dieses Bewusstsein leitete ihn ebenso in seiner Kritik der platonischen Ideenlehre.

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Ein zunächst unspezifischer Begriff, der im Bereich der Metaphysik bei den Griechen Verwendung fand, ist „der Zweck, das Ziel, das Ende“. Wir handeln in der Regel zielgerichtet, wir planen, indem wir uns ein Ziel setzen. Man geht im allgemeinen davon aus, dass eine Handlung einen Anfang und ein Ende hat. Diese Überlegungen überträgt der Mensch dann auf die Wissenschaften, die Künste, die Technik etc. Bereits Aristoteles hat diesen Sachverhalt erkannt. Seine Teleologie, also die Lehre von den Zwecken und Ursachen, war in der Antike der erste umfassende und systematische Versuch, die Strukturen des Kosmos, der Natur und des menschlichen Handelns nach diesem Modell zu erklären. Die Griechen haben auch in diesem Zusammenhang eher mechanistisch gedacht. Zu jeder Folge musste es eine Ursache geben, und die Ereigniskette durfte nicht endlos sein. Das Sein definierte man in der Regel als Kontinuum mit einem Anfang und einem Ziel. Philosophen und Logiker wie Zenon von Elea waren die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Daneben hat es in der Antike, schon zur Zeit der Klassik, Versuche gegeben, die Zweckfreiheit von Künsten, Dichtung und Ästhetik in den Kalkül einzubeziehen. Dies war sozusagen die Gegenwelt zu all jenen Positionen, in denen immer wieder die Zweckmäßigkeit menschlichen Handelns und Denkens behauptet und verfochten wurde. Es gab also in der Klassik konkurrierende Standpunkte. Die Vorsokratiker wie z.B. Thales, Anaximander und Anaximenes nahmen an, natürliche Prozesse seien zielgerichtet; es gebe eine sinnvolle harmonische Struktur des Kosmos. Diese drei Philosophen haben diese Annahmen nicht auf den Begriff gebracht, aber sie dachten so. Wer wie sie an ein einziges und bestimmtes Element als physikalische Ursache der Welt glaubte – Ausnahme Anaximander, der das Unendliche ansetzte –, der rechnete auch mit zielgesteuerten Prozessen in der Natur und im Kosmos. Der Nachteil einer solchen physikalischen Theorie bestand darin, dass diese Philosophen annehmen mussten, es gebe kein immaterielles Prinzip der Welt. Die Entstehung des Kosmos muss anders erklärt werden. Da kommt wieder Anaxagoras ins Spiel, der solche physiologischen Theorien dadurch überwand, dass er den immateriellen Nus als Prinzip der Weltentstehung einführte und dadurch den physischen Steuerungsmechanismus der Vorsokratiker transzendierte. Dies war einer der wesentlichen Gründe, warum auch Aristoteles im Buch Alpha der Metaphysik Thales und Anaximenes diskutierte und

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kritisierte. Für ihn kamen wie für Anaxagoras physikalische Prinzipien der Weltentstehung nicht in Frage, sondern er suchte wie schon Anaxagoras nach immateriellen Ursachen. So betrachtet, ging die Entwicklung von einem der Natur verhafteten und physikalischen Denken hin zur Abstraktion. Das Steuerungsprinzip der Welt wurde quasi immateriell. Gleichzeitig gewann die Metaphysik an Bedeutung, denn wenn man ein Prinzip der Weltentstehung annahm, das jenseits der physikalischen Welt zu lokalisieren war, rechnete man zwangsläufig damit, dass die Steuerungszentrale in einem metaphysischen Raum anzusetzen war. Für uns ist Anaxagoras der erste Naturphilosoph, der in dieser Weise kalkulierte, doch lässt sich erkennen, dass nicht viel später Empedokles ebenfalls nach metaphysischen Prinzipien der Weltentstehung suchte. Er hat zwei immaterielle Ursachen des Kosmos und der Erde angesetzt: die Liebe und den Streit. Das waren eigentlich zwei Metaphern für die abstrakten Begriffe der Mischung und der Trennung der Elemente. Diese beiden Prinzipien – so seine Theorie – wirkten und wirken im Kosmos und auf der Erde in einem Modell mit vier Phasen. Zunächst sind alle Elemente zusammen, es kommt zu einer völligen Dominanz der Liebe und einer kompletten Mischung. Dann driften diese Elemente auseinander, der Zahl nach vier. Das fünfte Element, die sog. Quintessenz, wurde dann von Aristoteles eingeführt. Es beginnt anschließend bei Empedokles die Phase des Streits. Die dritte Phase wird durch eine völlige Trennung charakterisiert. In einer vierten Phase kommt es zu einer wieder beginnenden Annäherung und Mischung der Elemente. Das Ganze erinnert von ferne an die modernen Chaostheorien in der Physik, in der das Chaos als eine gigantische Materieanhäufung definiert wird, die dann im Urknall explodiert, worauf sich sukzessive die organische Natur ausformt. Empedokles rechnete in seinem Modell ebenfalls mit zielgerichteten Prozessen. Diese galten nach seiner Annahme sowohl für den Kosmos als auch für die Erde und die Menschen; der Mensch fungierte als ein Teil des Kosmos, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos gab es mithin Analogien. Da macht sich pythagoreischer Einfluss bemerkbar. Empedokles hat mit seiner Theorie von der Entstehung der Welt keine besondere Wirkung ausgeübt. Das ist eigentlich erstaunlich, weil dieses Modell im Grunde sehr modern war. Empedokles grenzte sich damit eindeutig von den physiologischen Theorien der anderen Vorsokratiker ab.

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Im Alpha der aristotelischen Metaphysik kam er allerdings an prominenter Stelle vor, denn da wird klar, welche innovative Rolle Empedokles mit seiner Theorie von der Trennung und Mischung der Elemente in der Tradition des physikalischen Denkens spielte. Aristoteles hob diesen Philosophen eindeutig und emphatisch von den Vorgängern und Zeitgenossen ab. Und wie steht es mit den anderen Philosophen der Klassik? Welche Rolle haben bei ihnen Begriffe wie Ziel, Zweck und Ende gespielt? Der erste Philosoph, der sich anscheinend theoretisch über Anfang und Ende der Welt und das Göttliche geäußert hat, war Thales. Wir erfahren, dass er dieses Göttliche als etwas definierte, das weder einen Anfang noch ein Ende hat. Anscheinend sprach er von einem abstrakten Göttlichen, wohl in Opposition zum polytheistischen Glauben der Hellenen. Man kann daran erkennen, dass man sich schon im siebten Jahrhundert Gedanken über den möglichen Ursprung dieses Göttlichen machte. Die Einflüsse gingen wohl vom homerischen Epos aus, das bereits Xenophanes von Kolophon heftig kritisierte. Wenn nun Thales sagte, das Göttliche kenne keinen Anfang und kein Ende, so rechnete er wie dann auch Anaximander mit dem Unendlichen. Der Kosmos, so wird man diese Information über Thales ergänzen, war vielleicht ebenfalls ohne Beginn und endlos, also ewig. Dies war bereits eine sehr abstrakte Theorie, die eventuell auf Anaxagoras und seine Theorie vom Weltgeist wirkte. Thales hat wohl nicht über das Göttliche als Urprinzip der Welt gesprochen. Jedenfalls können wir dies aufgrund der Quellenlage nicht erkennen. Aber wenn er dieses göttliche Prinzip als anfangs – und endlos definierte, muss es zumindest synchron mit der Welt da gewesen sein. Was das Unendliche betrifft, so lässt sich erkennen, dass man in der Schule von Elea auch nach Zenon darauf reflektierte. So wird folgendes von Melissos, einem Schüler des Parmenides überliefert (VS 30 B 2): „Weil nun das Sein nicht entstand, ist es und war immer und wird immer sein; und es hat keinen Anfang und auch kein Ende. Sondern dieses Sein ist endlos (apeiron). Sollte es nämlich entstanden sein, hätte es einen Beginn (denn es müsste, wenn es entstanden wäre, begonnen haben), und es müsste ebenso ein Ende haben (denn es würde zu Ende gehen, wenn es einmal entstanden wäre). Da es aber weder begonnen hat noch zu Ende ging, war es immer und wird immer existieren und hat folglich

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weder Anfang noch Ende. Denn es ist unmöglich, dass etwas immer existiert, was nicht ein Ganzes bildet.“

Dies ist ein sehr abstrakter Text, mit dem sich Melissos in die Tradition der Diskussionen über die Unendlichkeit in der Schule von Elea und des Parmenides stellte. Man wird aber auch an Anaxagoras denken, der in Fragment 3 vom Prinzip der Infinitesimalrechnung gesprochen hatte. Ob das unendliche Sein zwingend ein Ende haben muss, wenn es einen Anfang aufzuweisen hat, wie Melissos in diesem Text behauptete, ist eine strittige Frage. Es lässt sich ebenso vorstellen, und Aristoteles hat in der Physik so argumentiert, dass ein Kosmos mit einem Anfang endlos ist. Ein Beginn impliziert weder logisch noch physikalisch, dass das Sein ein Ende haben muss. An dem vorgestellten Text fallen zwei Sätze besonders auf: 1. Das Sein ist ein Apeiron, also unendlich. Dies scheint sich nur auf die Physik zu beziehen, Unendlichkeit in der Mathematik kommt nicht vor. Ob Melissos mit der mathematischen Unendlichkeit gerechnet hat, muss offen bleiben. 2. Melissos definierte das Ganze als Bedingung, damit etwas immer existiert. Er schien von einem begrenzten Sein auszugehen, denn der Begriff „Ganzes“ impliziert eigentlich eine Grenze. Es gibt dann einen Anfang und ein Ende. Dies passt nicht so richtig zu der These von der Unendlichkeit des Seins. Der Text scheint also in diesem Punkt nicht ganz kohärent zu sein. Das Ganze steht hier quasi als synonym zum Kosmos, dem All. Vielleicht hat Melissos aber auch mit einer Begrenzung im Unendlichen gerechnet. Dies klingt wie ein Widerspruch in sich. Ein solcher lässt sich jedoch auflösen, wenn man das Ganze auf einer anderen Ebene als das Unendliche lokalisiert. Was die Traditionslinie zu Anaxagoras angeht, wird man feststellen können, dass beide Philosophen zwar die Infinitesimalen formulieren, Anaxagoras jedoch sich auf die mathematische Unendlichkeit, Melissos hingegen sich auf die physikalische bezog. Letzterer lieferte eigentlich keinen Beweis für das Apeiron des Seins. Er argumentierte rein logisch, indem er das voraussetzte, was eigentlich zu beweisen war. Melissos ging in seiner Argumentation davon aus, dass das Sein nicht entstand

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und leitete daraus seine Konklusionen ab. Der Text dokumentiert darüber hinaus, dass das Problem der Unendlichkeit mindestens über zwei Generationen in der Schule von Elea aktuell war und diskutiert wurde. Wenn wir das Gesagte überblicken, zeigt sich, dass in der Philosophie des fünften Jahrhunderts teilweise ein endliches Weltbild favorisiert wurde. Zum Teil jedoch nahm man eine physikalische Unendlichkeit an. Man rechnete aber in diesem Rahmen immer mit mechanischen Prozessen, also mit Ursachen, die jeweils eine bestimmbare Folge haben. Die Unendlichkeit stand diesen Annahmen nicht im Wege. Das sollte sich mit Platon und Aristoteles grundlegend ändern. Im allgemeinen sagt man von Aristoteles, er habe in seiner Physik ebenfalls mit mechanisch ablaufenden Prozessen gerechnet. Er habe in diesem Bereich das aktuelle Unendliche nicht zugelassen, weil er ein sphärisches, also begrenztes Weltmodell angesetzt habe. Die Vertreter dieser Position können sich auf seine Physik berufen, in der er tatsächlich zwischen aktueller Unendlichkeit in der Mathematik und einer potentiellen in der Physik unterschied. Dies ist jedoch differenzierter zu sehen. Seine Teleologie, also die Lehre von den Zwecken und Ursachen, lässt auch Raum für den Zufall, für spontan ablaufende Prozesse, bei denen man eben nicht immer eine Ursache angeben kann. Wir hätten dann im aristotelischen Weltbild eine Art Mischung: einerseits eine rein physikalische und mechanistische Erklärung der Welt, andererseits die Wahrscheinlichkeit und den Zufall als zwei Faktoren, die sich nicht immer berechnen lassen. - In diesem Zusammenhang wäre auch auf seine sog. Quintessenz, das fünfte Element neben Wasser, Erde, Luft und Feuer, hinzuweisen. Das fünfte Element ist ein rein metaphysischer Begriff, der sich eben nicht auf die rein physikalische Beschaffenheit und Eigenart eines Elements bezieht. Da öffnet sich sozusagen hinter dem physikalischen Sein ein metaphysischer Raum. Diese Quintessenz ist ebenfalls nicht oder nicht im gleichen Maße berechenbar. Doch wie kam man auf diesen Begriff? Man hat erkannt, dass es neben den vier Elementen noch etwas Anderes geben müsse, das das Wesen eines Subjekts oder Objekts ausmache. Bezogen auf den Menschen bedeutete dies, dass etwas spezifisch Menschliches anzunehmen sei, das das wirkliche Menschsein beschreibt, wodurch sich der Mensch von anderen Lebewesen essentiell unterscheidet. Der

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Begriff „Quintessenz“ bezeichnet dann eine spezifische Differenz, etwas, das nur dem Menschen zukommt. So gesehen, ging die Betrachtung vom Konkreten, der Beobachtung der empirisch zu erkennenden vier Elemente hin zur Abstraktion und zur Metaphysik. Der Begriff der Quintessenz ist mit seiner metaphysischen Notation weder unmittelbar zu verifizieren noch zu falsifizieren. Die Empirie versagt. Dennoch hat er eine unmittelbare Plausibilität, denn es entspricht wohl einem consensus omnium, dass es hinter der anscheinenden und evidenten Form des Menschseins noch etwas Anderes geben muss, das sich erst aufgrund der Beobachtung der Realität erschließen lässt. Was die Ursachen im Bereich der Metaphysik und Kosmologie betrifft, so haben die Griechen schon zur Zeit der Klassik zwischen physikalischen, mechanischen und psychischen oder in einem weiteren Sinne physiologischen Ursachen unterschieden. Wie bereits mehrfach zu sehen war, gab es schon im sechsten Jahrhundert klare Vorstellungen von immateriellen Prinzipien und Ursachen. Dies zeigen deutlich Thales' Begriff der göttlichen Unendlichkeit, das Unendliche bei Anaximander, der Weltgeist bei Anaxagoras und die beiden immateriellen Kräfte Liebe und Streit des Empedokles. Dies ist aber auch ein typisch griechisches Kennzeichen. Die Griechen waren schon früh auf der Suche nach Ursachen, eigentlich in jedem Bereich, besonders jedoch im Rahmen der Wissenschaften. Aristoteles hat dies dann später in seiner Wissenschaftstheorie auf folgenden Nenner gebracht: In der Forschung ist der Suche nach den Aitia vor der bloß den Phänomenen verhafteten wissenschaftlichen Suche der Vorzug zu geben. Wer die Ursache von Phänomenen erkenne, der wisse mehr über das Wesen derselben als derjenige, der sich auf Fakten beschränke. Das sei aber auch Kennzeichen des wahren Philosophen. Der Prototyp eines solchen Forschens nach den Ursachen war im fünften Jahrhundert von Parmenides und seiner Schule in Elea geliefert worden. Bei den Vorsokratikern gab es im Bereich der Ursachenforschung noch keine besonders präzise Terminologie. Man differenzierte zum Beispiel noch nicht, wie dann später Platon und Aristoteles, in erste, sekundäre, unmittelbare und mittelbare Ursachen. Man postulierte ferner noch nicht Ursachenketten und Kettenreaktionen. Dies geschah erst bei den Stoikern, die eine Kette von objektiven Ursachen als entscheidendes Strukturmerkmal der physikalischen Welt angesetzt haben. Bei den Stoikern ging diese Vorstellung Hand in Hand mit der Annahme, es gebe

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einen kausalen Determinismus, der dem Individuum wenig Spielraum lasse. - In der Kaiserzeit hat dann Seneca den Versuch unternommen, im Bereich der Ethik zwischen diesem Determinismus und einer subjektiven Willensfreiheit zu vermitteln. Dies war im Bereich der Ethik ganz wichtig, denn wer davon ausging, dass in der Ethik die Freiwilligkeit des Handelns über die Güte einer Tat entscheidet, der musste auch die Willensfreiheit zulassen. Ein physikalischer Determinismus ist bei den Vorsokratikern in der Regel noch nicht anzutreffen. Allerdings gab es in dieser Richtung Tendenzen. Von Heraklit wird berichtet, er habe die These vertreten, alles geschehe durch eine Ananke, eine Notwendigkeit (VS 22 A 8). Dies stammt aus einem spätantiken Bericht über den Philosophen. In diesem Kontext ist auch die Rede von der Heimarmene, der objektiven Kausalkette. Dies aber ist ein zentraler stoischer Begriff, den der Autor dieses Textes bei Heraklit implantierte. Die Stoiker haben jedoch in diesem Punkt und auch anderweitig, was ihr Weltbild betrifft, auf Heraklit zurück gegriffen. Wenn wir also annehmen, Heraklit habe von einer kosmischen Notwendigkeit gesprochen, bedeutet dies, er habe dem Logos, also dem Weltgesetz und der kosmischen Vernunft, eine absolute Notwendigkeit zugeschrieben. Der Logos war zugleich in dieser kosmologischen Theorie die erste Ursache der Welt. Es handelte sich um eine Instanz, die immateriell war und die alles, wie später bei Anaxagoras der Nus, als eine kybernetische Kraft steuerte. Heraklit sah in der Welt einen Raum, in dem strukturell betrachtet eine Vielzahl von Gegensätzen regierte. Diese Gegensätze – so seine Lehre – müssten in Harmonien zusammengefügt werden. Im Bereich des Menschen könne dies durch eine entsprechend rationale Lebensweise gelingen. Da gab es also in dieser Philosophie die Vorstellung, zwischen dem kosmischen Logos und dem Logos des Individuums existiere eine Analogie. Dies ist mithin eine weitere Bestätigung, wie gerne sich die Griechen mit solchen Analogien und Symmetrien beschäftigten. Diese Entsprechung zwischen den beiden Logoi war aber für Heraklit die entscheidende Voraussetzung, unter der der Mensch überhaupt Naturgesetze, kosmische Strukturen und den Zusammenhang und Zusammenhalt dieser Welt erkennen konnte. Die Erkenntnistheorie ging also bei ihm Hand in Hand mit der Kosmologie und Ontologie. (Der Begriff „Notwendigkeit“ gehört eigentlich in die Modallogik, die

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von Aristoteles in De interpretatione begründet wurde, wo er auch eine Tabelle mit den möglichen Operatoren möglich und notwendig sowie ihren Kontradiktionen verfasste. Diese Operatoren werden in der Logik verwendet, um Kausalzusammenhänge zwischen verschiedenen Ereignissen und Sachverhalten innerhalb eines Weltensystems herzustellen. Es gibt dann mögliche und notwendige Welten). Wie steht es jedoch mit dem Begriff „Notwendigkeit“ bei anderen Philosophen? Im fünften Jahrhundert, also zur Zeit der Klassik, gab es ebenfalls die Tendenz, den Kosmos, aber auch das Leben der Menschen auf eine solche Notwendigkeit zurückzuführen. Von Parmenides ist überliefert, er habe gesagt, alles geschehe nach einer Ananke. Die Zuweisung dieses Satzes an Parmenides ist jedoch nicht sicher. Aber von der Sache her könnte man ihm einen solchen Satz zutrauen. Wer das Sein als statisch ansetzte und behauptete, es gebe kein Nichts, also auch keinen leeren Raum, der nahm anscheinend ebenfalls an, die Entstehung des Kosmos sei nach notwendigen Naturgesetzen erfolgt. Eine besondere Rolle scheint diese Notwendigkeit bei den Atomisten Leukipp und Demokrit gespielt zu haben. Dabei ging Demokrit von einer solchen Notwendigkeit im Kleinen und im Großen aus. Die Bewegung der Atome erfolge mit Notwendigkeit. Anscheinend hat Demokrit aber auch damit gerechnet, dass es in dieser physikalischen Welt neben diesen notwendigen Bewegungen auch spontane und zufällige gebe. Dies war mithin eine wichtige Voraussetzung für die Bewegungslehre des Aristoteles in dessen Physik. Aristoteles hat im Bereich des Kosmos mit notwendigen, immer konstanten Bewegungen gerechnet. Im Bereich der Menschen hingegen kalkulierte er auch mit den Faktoren Zufall und spontanen Abweichungen. Aristoteles war ferner im Rahmen seiner Physik und der Logik davon überzeugt, dass es auf der Ebene des menschlichen Handelns keinen Determinismus von zukünftigen Ereignissen gebe. Er hat dieses Axiom am Beispiel der sog. zukünftigen Seeschlacht in der Hermeneutik illustriert. In diesem Zusammenhang brachte er den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ins Spiel. Es ist notwendig, dass ein Ereignis eintritt oder nicht eintritt. Es ist aber nicht notwendig, dass eins geschieht. Aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten lasse sich also – so Aristoteles in der Hermeneutik – nicht die Notwendigkeit eines zukünftigen Ereignisses ableiten.

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Wie steht es jedoch mit den Ursachen in der Philosophie der Klassik? Wie schon angedeutet, hat man in dieser Zeit noch nicht so sehr in verschiedene Ursachentypen differenziert. Es gab jedoch klare Konzepte. In diesem Zusammenhang muss besonders auf Anaxagoras eingegangen werden. Er hat nicht nur angenommen und nachzuweisen versucht, dass der Weltgeist die Raum – Zeit - Koordinaten zur Verfügung stellt. Er hat ebenso postuliert, dass es sich um das erste Prinzip und die erste Ursache des Kosmos handle. Dies soll anhand eines längeren Fragments aus seinem Buch Über die Natur illustriert werden (VS 59 B 12): „Das Andere hat Anteil am Ganzen. Der Geist jedoch ist unendlich, selbst herrschend (autokratisch) und mit keinem Objekt vermischt, sondern er allein ist bei sich selbst. Wenn er nämlich nicht bei sich wäre, sondern in Verbindung mit etwas Anderem stünde, hätte er Anteil an allen Objekten, wenn er mit einem vermischt wäre. Denn in allem gibt es einen Teil von allem, sowie ich schon vorher gesagt habe. Und ferner würden den Geist die beigemischten Elemente behindern, mit der Folge, dass er über nichts herrschen könnte, und zwar in der Weise, wie er es kann, wenn er allein bei sich ist. Denn er ist das feinste von allen Objekten und das reinste, und er hat jedes Wissen und Einsicht in alle anderen Objekte und übt auch die größte Kraft aus. Und was nun unter den größeren und kleineren Wesen eine Seele besitzt, über sie alle herrscht der Geist. Ferner zeichnet er verantwortlich und übt seine Herrschaft aus über die gesamte (kosmische) Umdrehung, in der Weise, dass er diese Bewegung initiierte. Zunächst nun begann diese Umdrehung von einem kleinen Punkt, dann aber dehnt sie sich aus, und sie wird sich noch zu einem weiteren Punkt hin ausdehnen. Und der Geist erkannte alles, was sich da verband und voneinander trennte. Dann brachte er alles, was im Entstehen begriffen war und wie es beschaffen war, was nun nicht existiert und was wiederum ist und wie es beschaffen sein wird, in eine globale Ordnung. Dies gilt auch für die Umdrehung, die die Gestirne, die Sonne, der Mond, die Luft und der Äther, die sich voneinander absondern, vollziehen. Vom Dünnen sondert sich die Dichte ab, vom Kalten das Warme, vom Dunklen das Leuchtende, vom Feuchten das Trockene. Es sind auf diese Weise viele Teile von vielen Stoffen gegeben. Nichts aber von diesen beschriebenen Stoffen trennt sich ganz und gar vom anderen außer der Nus. Der größere Geist und der kleinere sind sich ganz und gar ähnlich. Ansonsten aber ist nichts dem anderen ähnlich, sondern es gilt:

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Wovon etwas die meisten Elemente enthält, dies ist und war auch am besten erkennbar als ein einzelnes Objekt.“

Dies ist einer der größeren Texte im Bereich der Kosmologie, den die Philosophie des fünften Jahrhunderts zu bieten hat. Verdankt wird er dem spätantiken Aristoteleskommentator Simplicius aus dem fünften Jahrhundert n. Chr., der diesen Text in seiner Physik zitiert. Die meisten Anaxagoraszitate hat er erhalten. Interessant ist nun, dass Simplicius anscheinend noch den ganzen Text der Schrift Über die Natur gelesen hat. Das bedeutet, dass dieses Werk noch bis in die Spätantike in toto erhalten war. Der Geist spielt in diesem Fragment eine Sonderrolle. Er ist das Urprinzip des Kosmos. Er steuert als eine kybernetische Kraft alle kosmischen und auch irdischen Prozesse. Anaxagoras sprach ausdrücklich von einem größeren und einem kleineren Geist, die sich einander ähnlich seien. Dies klingt zunächst überraschend. Am ehesten wird man hier an eine Analogie denken: So wie der große Geist beschaffen ist, der das kosmische Geschehen hervorgerufen hat und steuert, so verhält es sich mit dem kleineren Geist, der den Menschen charakterisiert. Es gibt also eine Entsprechung zwischen beiden – eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, die Strukturen des Kosmos zu erkennen. Da trifft sich Anaxagoras offenbar mit Heraklit, der eine Analogie zwischen dem kosmischen Logos und dem Logos auf der Ebene der Menschen postuliert hatte. Von diesem Geist heißt es in dem Fragment ferner, er sei unendlich, selbst herrschend, also autokratisch, und mit keinem Objekt vermischt, sondern immer bei sich selbst. Da hat also Anaxagoras drei Prädikate verwendet, die diesen Geist vor allen anderen Elementen auszeichnet. Es heißt ausdrücklich, er sei unendlich, was wiederum zu implizieren scheint, dass er keinen Anfang und kein Ende hat. Anaxagoras hat allerdings in diesem Zusammenhang nicht zwischen Unendlichkeit und Ewigkeit differenziert. Aber er hat mit diesem Unendlichkeitspostulat eine Kategorie eingeführt, die ihm aus der Tradition der Philosophie in Milet (Anaximander) überliefert war. Man kann daran auch erkennen, wie die Philosophie zur Zeit der Klassik auf den Vorgängern, also den Vorsokratikern, aufgebaut hat. Es gab einen kontinuierlichen Traditionsstrom in der griechischen Philosophie. Man sieht dies sehr gut dann bei Aristoteles, der im Alpha der

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Metaphysik die erste abendländische Philosophiegeschichte bis auf seine Zeit geliefert hat. Auch da kann man den Eindruck eines Kontinuums gewinnen. Was das Prädikat „selbst herrschend“ betrifft, so handelt es sich eigentlich um eine Personifizierung dieses Weltgeistes. Der Kosmos - so scheint es - ist hierarchisch gegliedert. Für alle Elemente gilt, dass sie permanent einem Prozess der Mischung und Trennung unterliegen. Dies ist bereits eine Vorbereitung der Theorie des Empedokles, der als Prinzipien des Seins Liebe und Streit ansetzte. Für den Geist gilt nach Anaxagoras, dass er allein nicht durch eine materielle Veränderung, also Mischung und Trennung, gekennzeichnet ist. Er ist völlig immateriell. Dies bedeutet wiederum bezogen auf die Entstehung des Kosmos: Das Urprinzip, das die Materie geschaffen hat, war der Geist als unendliches. Er war vor der Entstehung des Kosmos da. Er hat also auch das Chaos zu Beginn, das aus einer gigantischen Materieanhäufung bestand, gesteuert. Das dritte Prädikat lautet: Der Geist sei als einziger mit keinem anderen Objekt/Element vermischt, sondern immer bei sich selbst. Das wirkt so, als wenn Anaxagoras den Satz der Identität nur auf den Geist bezogen hätte. „Bei sich sein“ bedeutet im Griechischen, dass keine Veränderung stattfindet. Wenn man dies auf den Kosmos bezieht, ergibt sich, dass dieser entstand, während dies nicht für den Nus gilt. Wir können leider nicht entscheiden, ob Anaxagoras die Ewigkeit des Kosmos vertreten hat. Prinzipiell lässt sein Ansatz aber die Möglichkeit offen, dass das All zwar einen Anfang, aber kein Ende hat. Dies wäre dann eine Hypothese, die bei Aristoteles wiederkehrte. Aristoteles hat mit dem Beginn des Kosmos gerechnet, der aber gleichzeitig ewig sei, wie sich aus seiner Schrift Über den Himmel ergibt. Er hat gleichzeitig angenommen, es gebe eine unendliche Zahl von Kosmoi, wie sich seiner Physik entnehmen lässt. Die perfekte kosmische Bewegung war für Aristoteles die zirkuläre, woher auch seine Annahme rührte, die Planeten seien perfekte Körper. Die Herrschaft dieses Geistes bei Anaxagoras ist eine permanente. Anaxagoras sagte ausdrücklich, dieser habe jedes Wissen und Einsicht in die anderen Objekte und übe auch die größte Kraft aus. Mit „Wissen und Einsicht“ wurde der griechische Begriff „Gnome“ übersetzt. Dieser bezeichnete schon bei den Vorsokratikern eine intellektuelle Fähigkeit: die vernünftige Einsicht, aber auch die Erkenntnis und die Vernunft.

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Man hat in dieser Zeit noch nicht zwischen theoretischer und praktischer Vernunft differenziert. Vielmehr hat man beide als Kennzeichen der Gnome betrachtet. - Erst Platon und Aristoteles unterschieden dann zwischen den beiden Vernunftarten. Platon hat eindeutig die theoretische Vernunft favorisiert. Er verwendete hierfür den Begriff „Phronesis“. Aristoteles hat dann besonders in seinen Ethiken den Geltungsbereich der praktischen Vernunft, die er ebenfalls mit Phronesis bezeichnete, von dem der theoretischen Vernunft abgegrenzt. Im fünften Jahrhundert, bei den Sophisten, konnte es dann zu einer Antithese zwischen der Vernunft und der blinden Tyche, dem Zufall, kommen. Da ging man von der Vorstellung aus, man könne durch richtige Einsicht dieser Macht gegensteuern. - Dieser Gedanke kam bei Anaxagoras noch nicht vor. Wir können aber am Bezug des Begriffs „Gnome“ auf den Geist erneut erkennen, dass er diese Kraft personifizierte, sie mit sozusagen menschlichen Attributen ausstattete. Oder anders formuliert: Anaxagoras hat konsequent die Analogie zwischen dem kosmischen und dem menschlichen Geist in diesem Text fortgesetzt. Der Begriff „Gnome“ kam übrigens auch bei Demokrit vor. Dieser hat in eine echte und in eine dunkle Einsicht und Vernunft differenziert, wobei die dunkle nur eine Art Schattenbild darstelle. Demokrit hat in diesem Zusammenhang die dunkle auf die trügerischen Sinneswahrnehmungen bezogen, die echte Vernunft – so sein Credo – sei hingegen ein feineres Sinnesorgan. Mit seiner Hilfe sei es möglich, Zusammenhänge zu erkennen, die den Sinneswahrnehmungen verborgen bleiben (VS 68 B 11). Es heißt ferner im Fragment des Anaxagoras, der Geist habe die kosmische Umdrehung und generell jede Bewegung initiiert. Das ist also kein statisches Sein, sondern der Kosmos und analog die Erde sind ständig in Bewegung. Anaxagoras sprach ausdrücklich von der Bewegung der Gestirne. Er hat in diesem Zusammenhang nicht die Planetenumlaufbahnen beschrieben, aber sie waren ihm bekannt. Er ging also auch von der Kugelgestalt der Erde aus. Wenn Anaxagoras, wie schon erwähnt, von der größten Kraft, die von diesem Geist im Kosmos ausgeübt werde, sprach, so könnte damit vielleicht die Anziehungskraft der Planeten, ursächlich für deren Bewegung, gemeint sein. Das wäre dann allerdings für diese Zeit revolutionär gewesen. Aber man kann diesem Anaxagoras, der auch ansonsten in seiner Naturphilosophie

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kühne Ideen und Vorstellungen vertreten hat, sehr viel zutrauen. Er galt übrigens in dieser Zeit, aber auch ansonsten in Griechenland, als der bedeutendste Naturphilosoph – nicht nur in einer breiteren Öffentlichkeit, sondern ebenso bei Philosophen wie Sokrates. Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang Platons Phaidon, weil es sich um ein relativ frühes Zeugnis für eine Philosophiekritik durch einen Philosophen in schriftlicher Form handelt. Der platonische Sokrates prüfte Anaxagoras' Philosophie auf ihre Konsistenz, also die Widerspruchsfreiheit. Er stellte aber auch und besonders die Frage nach der praktischen Relevanz dieser Philosophie. Der Dialog Phaidon gehört in die frühe Phase der platonischen Dialoge, woraus man erkennen kann, dass Anaxagoras noch ein bis zwei Generationen nach seinem Tod in der öffentlichen Diskussion in Athen eine beträchtliche Rolle spielte. - Das Ganze ordnet sich in einen größeren Zusammenhang, die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Wissenschaften, insbesondere der theoretischen Philosophie, ein. Man fragte besonders in Athen, welche Rolle die Wissenschaften im Kontext der Gesellschaft auszuüben haben. Sollten sie eine zweckfreie Forschung betreiben, oder sollten diese Epistemai ihre Tätigkeit zum Wohle der Gesellschaft versehen? Wir können diese Fragestellung am besten in Xenophons Memorabilien 4,7 erkennen, wo ein konservativer Sokrates einer rein theoretischen und abstrakten Philosophie ihre Daseinsberechtigung absprach. Auch bei den xenophontischen Memorabilien handelt es sich um ein wertvolles Dokument, denn sie zeigen wie Platons Phaidon, dass Anaxagoras noch Jahrzehnte später in der öffentlichen Diskussion präsent war. Die Konservativen wie Xenophons Sokrates plädierten für eine Einbindung der Philosophie und der Wissenschaften allgemein in gesellschaftliche Diskurse; sie wollten, dass diese ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellten. Auf der Gegenseite trat man für einen unbedingten, von der Gesellschaft unabhängigen Progress dieser Wissenschaften ein. Am Schluss zwei Bemerkungen zu dem besprochenen AnaxagorasFragment: Anaxagoras sprach davon, dass die kosmische Bewegung noch nicht abgeschlossen sei. Der Kosmos werde sich noch weiter ausdehnen. Wenn man diesen Satz genau nimmt, deutet er darauf hin, dass Anaxagoras von einer progressiven Ausdehnung des Weltalls ausgegangen ist. Auch dies erinnert an die moderne Physik und wirkt wie eine kühne Vorwegnahme moderner astronomischer Theorien. Die

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heutige Physik rechnet ebenfalls mit einer kontinuierlichen Expansion des Alls, also mit einem Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Dieses Theorem ist aber bei Anaxagoras gar nicht so erstaunlich, da er behauptete, der Weltgeist sei unendlich. Also müssen auch die Elemente und die Himmelskörper unter diese Kategorie fallen. Die zweite Bemerkung betrifft den Satz: „Der Geist brachte alles in eine globale Ordnung“. Anaxagoras hat anscheinend als erster das vom Begriff „Kosmos“ abgeleitete Verbum διακοσμεȋν in seiner Naturphilosophie verwandt. Es spielte auch in anderen Fragmenten eine Rolle. Der Begriff „Kosmos“ wurde bei den Vorsokratikern allem Anschein nach zuerst von Heraklit verwendet. Der Kosmos figurierte als eine große Ordnung, die ewig, mithin nicht entstanden und unvergänglich ist. Das Verbum „in eine Ordnung bringen“ ist dann im fünften Jahrhundert von der Philosophie aus in die Schule des Hippokrates gelangt. Da bezeichnete es die natürliche Ordnung eines Organismus. Die Hippokratiker haben also eine ursprünglich auf den Kosmos bezogene Vorstellung auf den Menschen übertragen. Zum Schluss einige zusammenfassende Bemerkungen: Metaphysik und Kosmologie waren bei den Griechen schon früh eng miteinander verknüpft. Im fünften Jahrhundert kam es zu ersten Ausprägungen metaphysischer Begriffe. Da sind besonders „Substanz, Wesen“, „Sein als solches“ und „Zweck, Ziel und Ende“ zu nennen. Der Begriff „Telos“, der die drei zuletzt genannten Bedeutungen hat, war ursprünglich unspezifisch. Er wurde aus der Alltagswelt auf die Philosophie übertragen. Schon in der Zeit der Klassik gab es kühne Hypothesen über den Ursprung des Alls. Man entwickelte zwei entgegen gesetzte Theorien: Das All sei unendlich, oder der Kosmos sei endlich, mit einem Anfang und einem Ende. Die mit Abstand ausführlichste Theorie von der Unendlichkeit des Alls stammte anscheinend von Anaxagoras. Er führte den Geist, der kosmische Dimensionen hat, in die Philosophie ein. Diese Theorie zeigte in Athen und in ganz Griechenland große Wirkung. Anaxagoras galt schon zu Lebzeiten als der herausragende Naturphilosoph. Zwischen ihm und Sokrates kam es zu einem Antagonismus. Wie wir noch sehen werden, vertrug sich Sokrates' Philosophie nicht mit dieser Art von Physik und Naturphilosophie. Kosmologie und Metaphysik des fünften Jahrhunderts standen in der Tradition der Vorso-

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kratiker. Diese bereiteten in vielfacher Hinsicht, auch, was die Fachterminologie betrifft, die Klassik vor. Platon und Aristoteles basierten ihrerseits auf der Philosophie des fünften Jahrhunderts. Damit zeigt sich die Konstanz von Fragestellungen in der griechischen Philosophie. Die platonischen und die aristotelischen Theorien und Theoreme wären ohne diese Traditionen nicht denkbar. 3.

Die Rolle der Teleologie in anderen Bereichen

Da es sich bei der Teleologie letztlich um ein metaphysisches Modell handelt, das auch außerhalb der Metaphysik dazu dient, die Zweckhaftigkeit der Natur und des individuellen Handelns zu erklären, erscheint es legitim, dieses Modell in die Diskurse zur Metaphysik einzubeziehen. Im folgenden soll ein Exkurs zur Teleologie in anderen Bereichen erfolgen, wobei zwei Fragen im Zentrum stehen: Welche Rolle spielte die Ethik im Prozess der Begriffsbildung und beim Nachdenken über die Ziele des menschlichen Lebens? Welche Bedeutung kam der Biologie in diesem Zusammenhang zu? Was die Ethik betrifft, wird man zunächst sagen können, dass das Nachdenken über die Ziele des menschlichen Lebens, die Zwecke des Handelns des Menschen und auch über den Sinn des Lebens bei den Griechen schon früh begonnen hat. Man denke nur an die frühen Sinnsprüche „Nichts im Übermaß“ und „Erkenne dich selbst“ am Giebel des Apollontempels in Delphi. Solche Fragen standen im fünften Jahrhundert jedoch noch nicht im Zentrum des philosophischen Interesses. Man sprach über sie beim Symposion, man diskutierte solche Sinnfragen im Alltag, jedoch wohl noch nicht in den Philosophenschulen. Andererseits gab es aber literarische Gattungen wie die sehr frühe Elegie oder die Lyrik, in denen solche Sinnfragen durchaus aufgeworfen wurden. Auch an die Ilias und die Odyssee muss man in diesem Zusammenhang erinnern. In diesen Epen wurde die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens ebenfalls gestellt und diskutiert. Für ethische Fragen und Probleme waren die homerischen Epen anscheinend richtungsweisend. In den Philosophenschulen waren hingegen, wie schon mehrfach angedeutet, Naturphilosophie, Logik und Metaphysik angesagt. Da musste, damit die Ethik als eigentlich philosophische Disziplin aufblü-

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hen konnte, erst Sokrates kommen, wie wir in den nächsten Kapiteln noch sehen werden. In enger Verbindung mit der Frage nach dem Zweck des Lebens stand bei den Griechen eigentlich von Beginn an die Frage nach dem Glück. Der griechische Begriff für Glück lautet Eudaimonia. Dies bedeutet etymologisch betrachtet „einen guten Dämon haben“. Die Vorstellung, die sich dahinter verbirgt, ist die, dass jeder Mensch bei der Geburt einen Dämon mit auf den Lebensweg bekommt. Erweist sich dieser als gut, ist der Mensch auf dem richtigen Weg. Die Eudaimonie konnte in diesem Zusammenhang zum höchsten Zweck und Ziel des menschlichen Lebens avancieren. Die Griechen haben nun schon im siebten und sechsten Jahrhundert beobachtet, dass man das Leben sozusagen bilanzieren kann. Solon entwickelte einen regelrechten Glückskalkül, der folgendermaßen aussah: ein einziger Tag im Leben des Menschen könne das Glück zunichte machen, also dürfe man von diesem Menschen erst dann sagen, er sei glücklich, wenn man auf den letzten Tag seines Lebens blicke. Dies ist also eine Summierungstheorie. Was wollte man auf diese Weise erreichen? Einerseits hatte man vor, das Prekäre des menschlichen Lebens in den Griff zu bekommen. Schon in der Ilias und in der Odyssee war man davon ausgegangen, der Mensch könne letztlich über sein Geschick nicht bestimmen. Er sei diesem Schicksal ausgeliefert wie die Blätter im Wind. Was die Götter verfügen, wie sie in das Schicksal des Einzelnen eingreifen, entziehe sich dem Einfluss des Menschen. Der Sinn und der Zweck des Lebens drohten auf diese Weise und unter diesen Prämissen in weite Ferne zu rücken – nicht erreichbar und für den Menschen nicht zu realisieren. Das war Denken in der archaischen Zeit. Im Laufe der Generationen nun hat man die Perspektive geändert. Jetzt trat das Individuum in den Vordergrund. Seine Sorgen, seine individuellen Probleme, aber auch seine Hoffnungen wurden neu verhandelt. Die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens wurde unter veränderten Vorzeichen neu gestellt. Jetzt, im fünften Jahrhundert, griff auch die Philosophie in den Dialog ein. Da hat man auf diese Sinnfrage ganz verschiedene Antworten gegeben. Demokrit sah den Sinn des Lebens in der guten Laune, der Euthymie. Sein Lehrer Leukipp definierte das Ziel des Lebens folgendermaßen: Es besteht in der Freude an den schönen Dingen. Das war also in beiden Fällen eine eher hedonistische Perspektive. Mit diesen

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Antworten versuchte man offensichtlich, zu pessimistischen Standpunkten zu begegnen. Man nahm eine optimistische Haltung ein und hegte die Zuversicht, dass der Mensch sehr wohl an seinem eigenen Glück arbeiten könne – trotz der Götter, die oft gegen den Willen des Menschen zu handeln schienen. Eine sehr ausgefallene Antwort hat Anaxagoras gegeben: Der Zweck des Lebens bestehe in der Theorie und der daraus resultierenden Freiheit (VS 59 A 29). Dies war aus mehreren Gründen bemerkenswert. Der Philosoph bezog Stellung zu einer Debatte über die bestmögliche Lebensform. Da gab es, beginnend mit den Sieben Weisen, bereits im sechsten Jahrhundert philosophische Fragen, die das theoretische und praktische Leben betrafen. Die Antworten, die man gegeben hatte, waren alle noch eher unsystematisch. Im Alltagsleben favorisierte man natürlich den Bios praktikos gegenüber dem Bios theoretikos. Anaxagoras, und dies war typisch für ihn, hat eindeutig der Theorie den Vorzug gegeben. Seine Philosophie galt, wie schon mehrfach angedeutet, als rein theoretisch, ohne Bezug zum täglichen Leben. Ethik kam in ihr eigentlich nicht vor. Aber Anaxagoras bezog in diesen Debatten Stellung. Interessant ist ferner, dass Anaxagoras die Frage nach dem besten Leben mit dem Begriff „Freiheit“ verknüpfte. Als Resultat der Theorie hatte sie vor ihm anscheinend noch niemand gesehen. Wenn man das Zeugnis genau nimmt, rangiert diese Freiheit gleichberechtigt neben der Theorie. Man könnte eventuell noch einen Schritt weiter gehen: Als ein Resultat der Theorie steht sie möglicherweise noch über dieser. In jedem Falle brachte Anaxagoras mit dem Begriff der Freiheit eine neue Qualität ins Spiel. Die Freiheit war bei den Griechen, besonders bei den Athenern, ein Wert, der eine doppelte Bedeutung hatte: er war individualethisch und zugleich politisch. Bei letzterer Bedeutung haben natürlich die Freiheitskriege gegen die Perser eine große Rolle gespielt. Als individualethischer Begriff konnte Freiheit in einem doppelten Sinne interpretiert werden: als innere und äußere Freiheit. Anaxagoras hat in diesem Zusammenhang mit einiger Sicherheit die innere Freiheit und Autonomie gemeint. Dies bedeutet, dass er die Theorie nicht losgelöst von der Ethik betrachtet hat. In Athen freilich hat man dies, wie schon angedeutet, anders gesehen. Da galt Anaxagoras als reiner Theoretiker, als Naturphilosoph mit kühnen Ideen, als eine Person, die Abwegiges und Paradoxien verkünde.

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Die zweite Frage: Welche Bedeutung kam der Biologie in diesem Zusammenhang zu? Zunächst einige Bemerkungen zur Entwicklung dieser Wissenschaft. Im fünften Jahrhundert war sie im wesentlichen noch nicht eigenständig. Die Philosophie hat jedoch viel zur Entwicklung der Biologie als einer selbständigen Wissenschaft beigetragen. Da man in der Philosophie auch zu Fragen wie der der Vererbung des Menschen und der Tiere Stellung bezog, konnte es nicht ausbleiben, dass man solche Fragestellungen ebenso im Bereich der Medizin formulierte. Außerdem fragte man in der Philosophie dieser Zeit nach der Natur des Menschen, was das Besondere dieser Natur ausmache, wie es unter günstigen Umständen zu einer Konstanz einer guten Veranlagung über Generationen komme. Die Ansätze waren schon im fünften Jahrhundert mit einem Wort in diesem Bereich theoretisch. Man darf in diesem Prozess der Entwicklung der Biologie die Lyrik nicht vergessen. Schon Pindar hatte sich an mehreren Stellen seines Werkes Gedanken über die gute Naturanlage, über die Aretá, also die Tugend, gemacht. Er hatte ebenfalls bereits die Konstanz eines guten Charakters über mehrere Generationen als ein Kennzeichen der Genetik hervorgehoben. Über die strukturellen Merkmale dieser Genetik, die Vererbung von genetischem Material, die genetische Struktur des Menschen konnte er natürlich noch nichts sagen. Er hatte allerdings beobachtet, dass die Erbanlagen von Großeltern teilweise eine Generation „überspringen“ und sich dann erst wieder bei der Enkelgeneration ausprägen. Man darf innerhalb dieses Entwicklungsprozesses ferner nicht die Rolle der Sophisten vergessen. Auch sie haben sich im fünften Jahrhundert zur Genetik und ihrer Bedeutung im Leben des Menschen geäußert. Die Sophisten gingen dabei teilweise ganz empirisch vor. Sie stellten z.B. Tierversuche an, untersuchten, welche Rolle dem Milieu und der Erziehung von Hunden zukommt. Sie fragten, ob sich bei Hunden verschiedener Rasse die gleiche Aufzucht verschieden oder gleich auswirke, ob also der Genetik eine größere Bedeutung als der Erziehung zukomme. Diese empirischen Ansätze haben sich dann wiederum auf die Biologie, aber auch auf die Philosophie ausgewirkt. Diese Diskussionen zogen in der Gesellschaft weitere Kreise. Da gab es prinzipiell zwei Positionen: die eine Seite, die Aristokraten, argumentierte im Sinne einer Konstanz von Erbanlagen – wer adlig sei, zeige

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auch seine gute Natur -, die andere Seite, im wesentlichen die Demokraten, plädierten für eine „Demokratisierung“. Sie wollten damit erreichen, dass ein Individuum, auch wenn es sozial nicht begünstigt war, in den Genuss einer politischen Karriere komme. Auch in diesem Zusammenhang wirkte sich die Sophistik aus. In dieser Bewegung gab es Vertreter, die für das Recht des Stärkeren plädierten. Diese traten für eine natürliche Überlegenheit ein, die sich innerhalb einer Gesellschaft auszuwirken habe. Es kam in der Sophistik zur Polemik gegen die Gesetze, die den Schwächeren favorisierten, ferner gab es erste Ansätze eines Naturrechts, das dann bei den Stoikern eine große Rolle spielen sollte. Die Physis, die menschliche Natur, wurde in Kreisen der Sophistik gegen die gesellschaftlichen Konventionen und das positive Recht ausgespielt. Der Natur kam in diesen Argumentationszusammenhängen auf einmal eine besondere Bedeutung zu. Wie steht es jedoch mit den Zwecken in diesem skizzierten Prozess? Da hat man sich teilweise ebenfalls der Philosophie bedient. Deren Reflexionen auf den Sinn und Zweck des Lebens strahlten auf andere Bereiche aus. Die Philosophie hat umgekehrt von den Diskussionen außerhalb ihres Wirkungsbereichs profitiert. Da gab es zwei Tendenzen: Einerseits hat man in den Anfängen der Biologie philosophische Fragestellungen dazu benutzt, mit philosophischen Kategorien natürliche Prozesse zu analysieren und zu beschreiben. Man beobachtete also empirisch solche Prozesse und zog dann Rückschlüsse auf die Natur des Menschen oder des Tiers. Das war im wesentlichen jene Position, die Aristoteles so oft in seinen biologischen oder allgemeiner naturwissenschaftlichen Schriften angewendet hat. Die zweite Tendenz bestand darin, dass man im Bereich der Medizin biologiespezifische Methoden applizierte. Dies geschah besonders in zwei konkurrierenden Ärzteschulen, der Schule des Hippokrates (460-370) auf Kos und in der Schule von Knidos. Auf diese beiden Schulen hat die Philosophie kaum gewirkt. Sie haben ihrerseits auf die Philosophie Einfluss ausgeübt. Sinnfragen wie die nach dem Sinn des Lebens wurden in diesen beiden Institutionen naturgemäß nicht oder kaum gestellt. Wie steht es jedoch mit Aristoteles? Er hat in alle seine biologischen Schriften, die auf der Insel Lesbos entstanden, wo er mit seinem Schüler Theophrast zusammen arbeitete, nicht oder nur in geringem Maße philosophische Fragestellungen implantiert. Sein biologisches Interesse war rein naturwissenschaftlich. So hat er als erster Philosoph und

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Biologe umfassende Klassifizierungen der Lebewesen vorgenommen, die noch in der Neuzeit Gültigkeit besitzen. Er hat ferner nach der Bedeutung der Genetik gefragt. Dabei hatte er einen festen Naturbegriff: Die Natur sei eine konstante Größe, die nichts umsonst mache. Die Natur sei gekennzeichnet durch zielgerichtete Prozesse. Da kam in diesem Zusammenhang Aristoteles' Lehre von den Zwecken voll zum Tragen. Er war schon früh der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus auf die Polis ausgelegt sei – der Mensch als ein von Natur politisches Lebewesen. Er war ferner der Meinung, die gute Naturanlage spiele eine erhebliche Rolle innerhalb des ethischen Verhaltens des Menschen, auch wenn er über dieser Physis und Genetik die Gewöhnung an richtiges Verhalten ansiedelte. Die Genetik spielte also in seinem Denken auch außerhalb der Philosophie eine große Rolle. Berühmt geworden ist in diesen biologischen Zusammenhängen sein Satz: „Der Mensch zeugt einen Menschen“ - ein Satz, der sich auf die genetische Konstanz über Generationen bezog und mit dem Aristoteles andeuten wollte, dass das Erbmaterial des Menschen eine Konstanz aufweist, die über die relativ kurze Lebenszeit des Individuums hinaus geht. Aristoteles' Teleologie nun verlangt nach einer eigenen Erklärung. Er ist als der eigentliche Begründer dieser Lehre von den Zwecken anzusehen. Aristoteles unterschied dabei sowohl in der Philosophie wie auch im Bereich der Physik und der Biologie zwischen vier Typen von Ursachen und Zwecken. Dazu muss man sagen, dass er genau zwischen Ursache und Zweck differenziert hat. Er nannte zwar nur die Zweckursache als eigentliches Telos, daneben die Material-, Form- und Wirkursache. Aber der Clou in diesem Modell bestand darin, dass er den jeweiligen Zweck bereits in der Ursache angelegt sah: Das Holz ist die Materialursache eines Stuhles. Zugleich ist jedoch seine Verarbeitung durch den Tischler sein Zweck. Das Gleiche gilt für die Form: Der Tischler hat bereits eine Idee von dem endgültigen, fertigen Stuhl. Er formt diese Idee oder Vorstellung, indem er das Material bearbeitet. Dies hat auf den ersten Blick wenig mit der Biologie und deren Fragen nach den natürlichen Zwecken zu tun. Aber es gibt eine Brücke. Aristoteles hat dieses Telos – Konzept auf die Biologie übertragen. Er hat ebenfalls die Kategorie der Essenz, also des Wesens eines Lebewesens, in seinen naturwissenschaftlichen Schriften angewendet. So fragte er danach, was die Substanz eines Menschen ausmache, ob sie sich in

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den organischen Funktionen erschöpfe, oder ob es daneben oder dahinter etwas gebe, das konstant die Eigenart, das Menschsein des Menschen bedeute – jenseits von allen bloß biologischen Zusammenhängen. Er hat in diesem Kontext auch seine Lehre von der Form angewandt. Formen existierten für Aristoteles nicht wie die platonischen Ideen unabhängig von einem Subjekt oder Objekt, sondern in ihnen. Die Form des Menschen ist nicht ablösbar von ihrem Träger. Wenn wir erkennen wollen, worin die Eigenart des Menschen besteht, müssen wir uns nach Aristoteles zunächst an die Form halten. Sie ermöglicht dann, dass wir weiter gehen und uns fragen, worin die Essenz, die Substanz des Menschen besteht und was ein sinnvolles Leben ausmacht. Dies war eine kategorische Absage an Platons Ideenlehre, zugleich ein Bekenntnis zu empirischen Methoden. Mit diesen – so Aristoteles – forscht man als Wissenschaftler im Bereich der Philosophie, aber auch der Naturwissenschaften nach den Ursachen, um aus diesen Forschungen dann seine wissenschaftlichen Schlüsse zu ziehen. Wenn man diese knappe Skizze überschaut, war Aristoteles der erste antike Wissenschaftler, der mit einer großen Konsequenz seine in der Philosophie gewonnenen Erkenntnisse auf die Naturwissenschaften übertragen hat, der zugleich jedoch spezifische Methoden auf dem Gebiet dieser Naturwissenschaften entwickelte. Resümierend lässt sich sagen, dass die Ethik im Zusammenhang mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Spezifischen des Menschen und nach den Möglichkeiten, die ihm gegeben sind, eine tragende Rolle gespielt hat. Die Diskussionen begannen schon vor der Philosophie in der frühgriechischen Elegie (Solon) und in der Lyrik. Die Frage nach dem Glück war von zentraler Bedeutung. Es gab Glücksmodelle und Hierarchien. Der Dialog um diese Thematik fand zunächst nicht in den Philosophenschulen, sondern in der Öffentlichkeit statt. Die Philosophen gaben auf die Frage nach dem Glück verschiedene Antworten, mehr theoretische und eher praktische. Die Biologie bzw. die Philosophie griffen in diesen Diskurs im Laufe des fünften Jahrhunderts ein. Der Prozess war der einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen Biologie und Philosophie. Man beobachtete schon in der Philosophie, dass es in der Natur meistens zielgerichtete Prozesse gibt. Diese Beobachtungen waren empirisch. Die Sophistik hat in diesem Kontext eine wichtige Rolle gespielt. Auch hier gab es einen großen Anteil der Empirie, aus der man Rückschlüsse auf die Natur des Menschen und der

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Tiere zog. - Aristoteles war der erste antike Philosoph und Naturwissenschaftler, der die Teleologie, also die Lehre von den Zwecken, systematisierte. Mit ihm erlebte die Biologie einen ungeahnten Aufschwung. Die Kenntnisse von der Genetik waren in diesem Zeitraum zwangsläufig eher bescheiden. Die Griechen haben jedoch mit ihrem Hang zur Theorie und zur Verallgemeinerung ihrer induktiv gewonnenen Ergebnisse auch auf diesem Gebiet sehr schnell für Fortschritte gesorgt.

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V.

Ethik

1.

Der Wendepunkt der griechischen Philosophie

Die Ethik als eine Theorie über die Regeln des moralischen Verhaltens ist jenes Teilgebiet der Philosophie, das spätestens mit Xenokrates in der platonischen Akademie zu einer klassischen Disziplin der Philosophie werden sollte. Die Anfänge der Ethik als einer noch nicht wissenschaftlichen Beschäftigung sind jedoch viel früher anzusetzen. Ethik haben die Griechen schon im siebten Jahrhundert getrieben. Und auch im fünften Jahrhundert gab es klare Tendenzen. Zwar dominierte in dieser Zeit die Naturphilosophie, doch auch in diesem Zeitraum fragten Philosophen bereits nach ethischem Handeln und nach dessen Bedingungen. Die Griechen haben die Ethik begründet. Die Römer mit ihrem Hang zur Praxis haben sie dann voll und ganz auf diese bezogen. Sie haben, so Cicero in De officiis, primär die Moralität des Handelns untersucht. Für die Griechen war diese Ethik bereits eine Techne, also eine Kunst bzw. eine Wissenschaft. Als eine solche musste sie nach bestimmten Regeln funktionieren. Sie musste lehrbar und erlernbar sein. Diese drei Bedingungen machten dann in den Augen der Griechen die Ethik mit anderen Künsten/Wissenschaften vergleichbar. Aristoteles hat in seinen beiden Ethiken auf diesen theoretischen Voraussetzungen aufgebaut. Dies gilt vor ihm schon für Platon. Er hat in seinen Dialogen oft durch Sokrates die Parallelität von Ethik und anderen Künsten/ Wissenschaften betont. Die Rationalität der Ethik, ihre fachdidaktische Komponente und damit ihre Ablösbarkeit von bestimmten Personen haben die Griechen in dieser Zeit fasziniert. Der erste, der die Ethik dann in ein System brachte, der auf ihre Bedingungen und ihre Wissenschaftlichkeit reflektierte, war Aristoteles. Er hat auch ethikspezifische Methoden entwickelt. Aristoteles hat die Ethik, was den Genauigkeitsgrad betrifft, von den exakten Wissenschaften wie der Mathematik abgegrenzt. Dies war anscheinend die originelle Leistung, die Aristoteles auf diesem Gebiet erbracht hat. 105

Soweit war man jedoch im fünften Jahrhundert noch nicht. Da hat man in der Regel Ethik eher als Kasuistik betrieben, also Fallunterschei‐ dungen durchgeführt, mit denen man die Wirklichkeit möglichst umfassend und erschöpfend behandeln wollte.  Der Wendepunkt der griechischen Philosophie hat sich mit Sokrates vollzogen. Warum jedoch kann man von einem Wendepunkt sprechen? Zunächst einmal war die Philosophie vor ihm normalerweise Naturphilosophie. Man forschte also über die Natur, die Logik, die Ontologie und im Bereich der Metaphysik. Die Vorstellung von einem Wendepunkt durch Sokrates geht auf die Antike zurück. Cicero hat als erster antiker Schriftsteller in Sokrates einen Philosophen gesehen, mit dem sich eine Kehrtwende vollzog. Er hat in diesem Zusammenhang in den Tusculanae disputationes davon gesprochen, dass Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde herab geholt habe. Diese Metapher bedeutet: Mit dem athenischen Philosophen kam es zu einem Paradigmenwechsel, weg von der Naturphilosophie und der Kosmologie und hin zu einer auf den Menschen konzentrierten Ethik und Anthropologie. Das, was Cicero über Sokrates sagte, entspricht jedoch nur der halben Wahrheit. Mit einer solchen Aussage wird die Tatsache verschleiert, dass auch Sokrates in Traditionen gestanden hat. Es gab bereits vor ihm, wenngleich noch nicht in einer wissenschaftlichen Form, die Beschäftigung mit der Ethik. Dies geschah allerdings, wie schon erwähnt, eher in Form einer Kasuistik. Freilich hat besonders Demokrit eine Ethik betrieben, die dieses Stadium der Kasuistik hinter sich lassen wollte. Demokrit war nur zwei Jahre älter als Sokrates (geb. 470, Sokrates geb. 468). Diese Traditionen – man kann die Linie weiter bis zu Xenophanes von Kolophon zurück verfolgen – haben auch einen Sokrates geprägt. Er konnte also durchaus mit seiner Ethik auf ihnen aufbauen. Man müsste demnach den Satz Ciceros folgendermaßen korrigieren: Es gab bereits vor Sokrates eine Tradition der Ethik. Diese bildete bei bestimmten Philosophen wie Demokrit nur einen Baustein neben mehreren in der Philosophie. Sokrates hat sich als erster auf Ethik konzentriert. Er hat die Aufmerksamkeit, die Philosophen vor ihm der Naturphilosophie schenkten, in eine Betrachtung des Menschen, seiner Gepflogenheiten, seines Charakters und seines Sozialverhaltens transformiert. Dies war tatsächlich ein Wendepunkt, vielleicht eine Kopernikanische Wende.

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Wie die Zeitgenossen diese Entwicklung der Ethik durch Sokrates gesehen haben, ist eine andere Frage. In der Regel verhält es sich so, dass man als Zeitgenosse noch nicht absehen kann, von welcher Bedeutung eine bestimmte Entwicklung ist und wohin sie führt. Die, die zur gleichen Zeit leben, sind im allgemeinen nicht in der Lage, die historische Größe eines Ereignisses voll und ganz zu ermessen. Sokrates freilich war in seiner Heimatstadt stadtbekannt. Er praktizierte Philosophie tagtäglich auf der Agora und in den Gymnasien. Er traf sich mit der Jugend Athens, und er unterhielt sich auch mit den Sophisten, die in dieser Stadt die große Konkurrenz zu Sokrates und dann zu Platon und zu den anderen Sokratesschülern bildeten. Neben dieser mündlichen Kultur, die entscheidend auf dem Dialog basierte, gab es, wie schon erwähnt, eine ausgeprägte Schriftkultur. Wir haben also in Athen zwei Bausteine oder besser gesagt Säulen, auf denen die Philosophie in dieser Stadt beruhte. Die soeben erwähnten Sophisten sind in diesem Kontext nicht zu unterschätzen. Sie waren die großen Gegner der sokratischen Philosophie. Aber auch sie haben vielleicht zum Wendepunkt der griechischen Philosophie beigetragen. Oder anders ausgedrückt: Die Sokratesbilder, die wir vor allem durch Platon und Xenophon besitzen, wären ohne die Auseinandersetzung mit der Sophistik vielleicht anders ausgefallen. Diese Bilder sind ganz heterogen. In der Überlieferung dominierte Platons Sokratesdarstellung, wodurch leicht übersehen wird, dass er nur einer von mehreren Sokratesschülern war, die alle in irgendeiner Form Bezug auf den athenischen Philosophen nahmen. Die Schriftkultur der Sokratiker wurde durch Antisthenes, Platon, Xenophon, Eukleides von Megara und Aischines von Sphettos geprägt. Der Dialog galt bei ihnen als eine literarische Standardform. Die Sokratiker lieferten auf diese Weise Spiegelbilder des historischen Sokrates. Es ergaben sich verschiedene Sokratesbilder, die nur teilweise miteinander kompatibel waren. Was die Sophisten betrifft, so wollten sie in der Regel provozieren. Sie haben dies auch erreicht – mit einer Masse an Publikationen, an Vorträgen in der Öffentlichkeit und durch Dialoge mit ihresgleichen sowie mit Sokrates und dessen Schülern. Man kann sich diese Zeit in Athen gar nicht lebendig genug vorstellen. Die Konfrontation zwischen Sokrates und den Sophisten verlief auf einer realen und einer literarischen Ebene. Die literarische Auseinandersetzung erfolgte in den dialogischen Schriften der Sokratesschüler. Man könnte sie auch

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definieren als Versuche, das reale Geschehen in Athen zu spiegeln. So betrachtet, liegen in diesen Dialogen Zeitgemälde vor, literarisch natürlich gefiltert, immer oder in den meisten Fällen von der Intention des Autors zeugend, das große Erlebnis, den Umgang mit Sokrates, literarisch zu verarbeiten. Diese Dialoge waren in ihrer Art einzigartige Produkte oder Kinder ihrer Zeit. Sie erzählen uns in einer oft unmittelbaren Art und Weise von den Gepflogenheiten der Athener, von der Philosophie in dieser Zeit und natürlich von Sokrates, dem großen Begründer dieser mündlichen Philosophie. Aristoteles hat dann diese Tradition, vermittelt durch seinen Lehrer Platon, aufgegriffen. Auch er hat Dialoge geschrieben – allerdings von der Anlage und den Intentionen her ganz anders geartet. Dialoge des Aristoteles waren große Streitgespräche, mit ausführlich begründeten Thesen und Antithesen. Man merkt ihnen bzw. den Fragmenten, die erhalten sind, an, dass ihnen die Unmittelbarkeit fehlt. Diese Dialoge sind auch Produkte ihrer Zeit, einer Zeit freilich, die völlig anders war. Aber man kann daran erkennen, wie sich noch zwei Generationen nach Sokrates diese literarische Form erhalten hat und weiter lebte. Vom Wendepunkt der griechischen Philosophie durch Sokrates ist bei Aristoteles keine Rede. Der genannte Satz, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde herab geholt, tauchte, wie bereits erwähnt, erst bei Cicero auf. Aber Aristoteles hat sich besonders in seinen beiden Ethiken sehr intensiv mit Sokrates' Ethik auseinander gesetzt. So hat er dessen Satz, niemand tue freiwillig Unrecht, diskutiert – mit dem Ergebnis, dass dieser Satz falsch sei, weil er nicht den Tatsachen entspreche. Da sprach also der Empiriker, der sich gegen ein solches Paradox deswegen wandte, weil es seinem realistischen Gespür von Gegebenheiten und gesellschaftlicher Wirklichkeit widersprach. Die idealistische Begründung einer solchen Ethik durch Sokrates hatte in dem empirischen Gebäude der aristotelischen Ethik keinen Platz. Aber Aristoteles hat anscheinend sehr wohl erkannt, wie wichtig dieser Satz von der Unfreiwilligkeit des Unrechts für Sokrates gewesen war, so dass darauf ein Großteil seiner Ethik basierte. Er musste diesen Satz in seinen Ethiken diskutieren, weil er seinen empirisch gewonnenen Annahmen und Prämissen diametral entgegen gesetzt war.

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2.

Wegmarken

Im folgenden soll auf einige signifikante Stationen der griechischen Ethik vor Sokrates eingegangen werden, um zu zeigen, dass es, wie schon im letzten Kapitel angedeutet, eine Tradition vor ihm gab, auf der er aufbauen konnte. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Ethik als Wissenschaft in der archaischen und frühen klassischen Zeit noch nicht existierte. Stattdessen waren jedoch wichtige Vorarbeiten vorhanden, die auch von Seiten der Elegie gekommen sind. Diese sehr frühe literarische Gattung hat bereits auf ethische Probleme reflektiert. Im Zentrum standen dabei Alltagsprobleme, die Liebe, Möglichkeiten eines sozialen Verhaltens und allgemein Reflexionen über den Sinn des Lebens. Das waren mithin erste Ansätze. Die frühgriechische Elegie stand mitten im Leben. Sie war mit der sie umgebenden Gesellschaft eng verzahnt. Man reflektierte in dieser Gattung ferner auf das Verhältnis zwischen dem Nutzen und dem Schönen. Dies bedeutet: Man machte sich in diesem literarischen Genre Gedanken über Ästhetik, ihre Rolle in der Gesellschaft und über die Frage der Einbindung dieser Ästhetik in die Gesellschaft. Nun könnte man einwenden, das habe doch nicht viel mit eigentlicher Ethik zu tun. Wenn ein Elegiker auf Ästhetik und das Schöne reflektiert habe, so zeuge dies eher von der thematischen Vielfalt dieser Gattung, sei hingegen nicht als Vorstufe der Ethik als einer Wissenschaft zu verstehen. Das ist im Grunde gar nicht so falsch. Wenn man allerdings einen Blick auf Solon, vielleicht den herausragenden Repräsentanten dieser Gattung wirft, so wird man sofort Folgendes sehen: Solon hat seine Philosophie in Form von Elegien vermittelt. Er hatte philosophische Vorstellungen von einem geregelten Leben in der Polis. Er äußerte sich ferner zu den sozialen Nöten seiner Mitbürger. Solon hat in seinen Elegien die Funktion und den Wert schriftlicher, also positiver Gesetze mehrfach hervor gehoben. Er war Dichter, Staatsmann, Gesetzgeber und Philosoph in einem. Solon übte also quasi mehrere Berufe gleichzeitig aus. Der athenische Gesetzgeber, der in der Antike zusammen mit Lykurg in Sparta als der bedeutendste Nomothet galt, hatte auch ein festes Weltbild. Dieses war sehr religiös geprägt. Zeus, der Göttervater, stand im Zentrum. Seine Gerechtigkeit wurde von Solon als der überragende Wert überhaupt betrachtet. Der Gesetzgeber Solon hat Zeit seines

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Lebens versucht, durch seine Gesetzgebung etwas von dieser göttlichen Nomothesia, der Gesetzgebung, in der Praxis umzusetzen. Die Elegie erreichte auf diese Weise durch Solon einen neuen Reflexionsstand. Sie avancierte zu einem Mittel, die Moral der Gesellschaft zu kritisieren, ihre Bräuche kritisch zu reflektieren und diese Gesellschaft vielleicht aus ihrer selbst verschuldeten Trägheit wach zu rütteln. Mit einem Wort: Diese Dichtung fungierte als ein sozialkritisches Instrument. Die Elegie dieser Zeit war jedoch noch mehr. Sie operierte bei Solon als ein Medium der Aufklärung. Solon wollte auch bewusst machen, dass Traditionen an sich noch nichts Wertvolles sind, das man unreflektiert übernehmen sollte. Das Reflexionsniveau dieser Elegien war also beträchtlich. Noch in einem weiteren Punkt gab es Vorarbeiten dieser Elegie für eine künftige, wissenschaftlich betriebene Ethik. Eine solche Ethik ist im allgemeinen so formuliert, dass die in ihr stattfindenden Reflexionen auf die Moral und das Verhalten in einer Gesellschaft verallgemeinert werden können. Dies gilt auch für Solons Elegien. Sie besitzen einen beträchtlichen Abstraktionsgrad. Da wurden in diesen Gedichten nicht mehr oder weniger zufällige Beispiele ausgewählt, sondern sie hatten eine philosophische Eigenart, den spürbaren Hang zur Verallgemeinerung und zu einer philosophischen Durchdringung der Materie. Damit hängt auch zusammen, dass Solon wie ein Philosoph nach der Wahrheit suchte. Die solonischen Elegien sind für uns die ersten Muster einer Gattung, in der es um Ethik und Wahrheit ging. Zugleich zeugen sie von dem philosophischen Bestreben, diese Wahrheit quasi „hinter den Dingen“ sichtbar zu machen. Der Dichter und Staatsmann konnte in seiner Dichtung als der Weise in Erscheinung treten. Solon gehörte in der Antike zu den Sieben Weisen, die eine weitere Station auf dem Weg zu Sokrates darstellen. Der athenische Gesetzgeber stellte in diesem Katalog der Septem Sapientes neben Thales eine konstante Größe dar. Er galt ferner als der ideale Repräsentant der so seltenen Synthese von Theorie und Praxis. Solon fungierte auch bei den Römern als ein Symbol und als ein Mythos. Man vergleiche die Darstellung Ciceros im zweiten Buch von De re publica. Die Präsentation Solons als eines Weisen wirkte bei Platon und besonders bei Aristoteles weiter. Zu nennen ist in diesem Kontext seine Nikomachische Ethik, in der Aristoteles die Ethik Solons ausführlich

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zitiert und diskutiert hat. Ein weiteres aristotelisches Werk, in dem Solons weise Gesetzgebung und seine Rolle als athenischer Staatsmann zur Sprache kommen, ist die Athenaion Politeia, der Staat der Athener, dem wir eine ganze Reihe von Zitaten aus Solons Werk verdanken. Solon hat sich auch zum Thema „Glück“ geäußert. Berühmt war sein Ausspruch, man solle keinen Menschen vor seinem letzten Tag glücklich preisen. Dies war eine typisch archaische Ethik: die Vorstellung, dass ein einziger Tag im Leben des Menschen sein Glück ruinieren könne. Ferner stand die Überlegung im Hintergrund, der Mensch könne eben nicht die Zukunft vorausschauen, das Leben bringe immer wieder unwägbare Ereignisse, die die Pläne des Menschen über den Haufen werfen. Daneben stellte Solon eine Summierungstheorie auf. Man müsse auf das ganze Leben des Menschen blicken, um von ihm sagen zu können, er habe glücklich gelebt. Auf Aristoteles haben diese Überlegungen in seinen Ethiken besonderen Eindruck gemacht. Er setzte sich mit ihnen sehr ausführlich in der Nikomachischen Ethik auseinander, freilich sehr kritisch und mit einem etwas anderen Ergebnis. Die Vorstellung, man könne Glück gleichsam addieren, eine Art Buchhaltung des Lebens veranstalten, gefiel Aristoteles nicht. Wir können an diesem Rezeptionsprozess aber auch Folgendes erkennen: Die Elegie wurde schon im fünften Jahrhundert in den philosophischen Diskurs einbezogen. Sie galt als ernstzunehmender Vertreter, wenn es um die Diskussion ethischer Probleme ging. Dieses Phänomen ist aber auch bezeichnend für die Stellung der Dichtung neben der Philosophie in der Gesellschaft. Dichtung war im fünften Jahrhundert in dieser Gesellschaft eine anerkannte Größe. Zwar gab es einen alten Streit zwischen Dichtung und Philosophie, wie Platon es in der Politeia formulierte, aber die Elegie und ihre Rezeption in der Folgezeit zeigen auch, dass die beiden miteinander auskommen konnten. Dieses Phänomen hat sich übrigens über Jahrhunderte noch bei den Römern bis in die Spätantike gehalten. So traten in Boethius' Consolatio Philosophiae Dichtung und Philosophie als gleichberechtigte Partner auf. Bei Platon hat diese frühgriechische Elegie freilich nicht gut abgeschnitten. In seiner Dichtungskritik in der Politeia spielte sie keine besondere Rolle, was die Vermittlung ethischen Wissens betrifft. Platon hat sie ebenso wie die übrige affektive Dichtung – Ausnahme der

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Hymnus und die Enkomien – aus dem Staat verbannt. Das Gleiche hat übrigens Boethius in seiner Consolatio getan. Bei ihm war freilich die Elegie die einzige Dichtungsart, die gehen musste – als eine emotionsgeladene, die Affekte steigernde Dichtung, die nichts zur Wahrheitsfindung beitragen könne. Wenn man diesen Prozess überschaut, so zeigt sich folgendes: Die Anfänge der griechischen Elegie waren viel versprechend. Man reflektierte in ihr schon früh (Solon) auf ethische Probleme. Man versuchte einen eigenständigen Beitrag zur Lösung philosophischer Problemstellungen zu leisten. Dies blieb freilich nicht immer so. Auch die Elegie wurde in den angesprochenen Streit zwischen Dichtung und Philosophie hinein gezogen. Dieser Prozess begann eigentlich schon in der Frühzeit der Philosophie, die ihre Eigenständigkeit und Autonomie unter Beweis zu stellen versuchte. Die spätere Zeit (Platon und Aristoteles) hat auf die Elegie zurückgegriffen, freilich in jeweils verschiedener Weise. Aristoteles hat sie voll und ganz in seine ethischen Diskurse einbezogen, während Platon eigentlich mit ihr im Rahmen seiner Dichtungstheorie nicht viel anfangen konnte. Wenn man nun in einem weiteren Schritt die Ethik im fünften Jahrhundert reflektiert, ist etwas näher auf Demokrit einzugehen, der schon mehrfach begegnete. Demokrit hat nicht nur über Naturphilosophie (Atomistik), Logik, Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie geschrieben. Unter seinem Namen lief in der Antike auch eine große Zahl von Fragmenten zur Ethik. Das Problem besteht darin, dass nicht alle diese Fragmente von ihm stammen. Eine beträchtliche Zahl ist später zu datieren. Dieses Problem spielt aber in diesem Zusammenhang keine besondere Rolle. Es sollen im folgenden einige Gedanken Demokrits vorgestellt werden, die sich in sicherlich echten Fragmenten finden. Eine zentrale Rolle spielte in dieser Ethik der Begriff „Euthymie“, die gute Laune und die Ausgeglichenheit. Der Begriff scheint zuerst von Demokrit verwendet worden zu sein. Gemeint war damit eine richtige Mitte zwischen Extremen. Gleichzeitig hat Demokrit in diesem Zustand das Ziel des menschlichen Lebens gesehen. Der Mensch müsse permanent auf dieses Ziel hinarbeiten. Falls man diesen Zustand erreicht, steht man quasi „über den Dingen“, fühlt sich wohl, innerlich ausgeglichen und kann auch den Widrigkeiten des Lebens trotzen. Das

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war mit einem Wort Lebensphilosophie – handfest, sehr praktisch und zugleich voller Weisheit. Demokrit bezweckte damit eine praktische Unterstützung der Leser in deren Alltagsleben. Es gab keine trockene Theorie wie innerhalb seiner Naturphilosophie, statt dessen konkrete Handlungsanleitungen. Man kann an diesem kleinen Ausschnitt aus seiner Ethik aber auch folgendes erkennen: Dieser Philosoph war imstande, je nach Thema die Tonlage zu wechseln, sich auf die praktischen Bedürfnisse seiner Leser einzustellen. Wie steht es jedoch mit dem Verhältnis zu Sokrates? Die beiden haben sich mit Sicherheit gekannt. Da Sokrates nichts geschrieben hat, sondern nur mündliche Philosophie praktizierte, lässt sich nicht erkennen, ob es eine wechselseitige Beeinflussung gegeben hat. Platon hat jedenfalls in seinen Dialogen kaum auf Demokrit Bezug genommen. Demokrit reflektierte hingegen in seinen ethischen Fragmenten teilweise Sokrates' Wissensethik. Ein zweiter Faktor, der in Demokrits Ethik eine Rolle spielte, war die Polis. Es gibt ein Fragment, in dem er diese als das „beste Korrektiv“ qualifizierte. Damit war folgendes gemeint: Die Polis repräsentiert einen Zustand, der für den Menschen besser als der Naturzustand ist. Sie korrigiert gleichzeitig die Natur des Menschen. Vielleicht war mit diesem Satz auch gegeben, dass der Mensch auf die Polis hin angelegt ist. Dann hätte man einen frühen Vorläufer der aristotelischen Theorie, dass sich in der Polis als dem Zweck und dem Ziel menschlichen Handelns die Natur des Menschen realisiere. Man kann daran erkennen, dass Demokrit ebenso anthropologische Gedanken im Rahmen seiner Ethik geäußert hat. Diese war keine Kasuistik. Dies unterschied seine Theorie grundlegend von anderen ethischen Ansätzen der archaischen und auch der klassischen Zeit. Dieser Philosoph machte keine Fallunterscheidungen, um auf diese Weise Wirklichkeit sozusagen erschöpfend zu behandeln. Seine Ethik weist bereits einen hohen Abstraktionsgrad auf. Und da ist noch ein Gesichtspunkt: Demokrit betätigte sich auf dem Gebiet der Ethik als Psychologe. Er hatte offenbar erkannt, dass Menschen, wenn sie einen konkreten Rat für ihr Leben brauchen, gerne auf theoretische Überlegungen verzichten, weil diese unfruchtbar sein können. Statt dessen gab es konkrete Hinweise für eine bessere Lebensgestaltung, Gedanken, die wie aus dem Leben gegriffen wirken. Demokrit reflektierte ferner auf die schlimmen Folgen, die sozialer Neid haben kann,

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und er gab Ratschläge, die zu einer inneren Balance und damit zu einem ausgeglichenen Leben führen sollten. Diese Ethik war also zum Teil auch Verhaltensforschung. Wie muss sich das Individuum in der Gesellschaft verhalten, damit es die erwähnte innere Ausgeglichenheit und die gute Laune sozusagen als Dauerzustand erreichen kann? Welche Mechanismen gibt es, um zu diesem Ziel zu kommen? Welche Möglichkeiten bietet die Polis dem Einzelnen, damit dieser eine innere Balance erlangt? Demokrit hat freilich keine expliziten Antworten gegeben. Er vermittelte jedoch Einblicke in die eigene Sicht der zeitgenössischen Gesellschaft als des Rahmens, in dem individuelles Verhalten und Handeln stattfindet. Ferner gab es etwas Bemerkenswertes in dieser Ethik, indem Demokrit die Autobiographie einbezog. Dieser autobiographische Anteil in seinen ethischen Fragmenten hängt auch damit zusammen, dass bei Demokrit Sätze über ethische Sachverhalte immer gleichzeitig Erfahrungssätze sind. Der Empirie kommt gegenüber der Theorie eine viel größere Bedeutung zu. Auch in dieser Beziehung, der Integration des Erfahrungswissens in die Ethik, hat Demokrit anscheinend richtungsweisend gewirkt. Wir können das gleiche Phänomen in der Ethik des platonischen Sokrates und bei Xenophons Sokrates feststellen. Was den Zusammenhang von Ethik und Politik betrifft, so hat Demokrit die Politik nach ethischen Maßstäben bemessen. Er hat damit eine Tradition begründet, die beim historischen Sokrates, bei Antisthenes, Platon und Xenophon weiterwirkte. Aristoteles hat diese Politik übrigens ebenfalls nach ethischen Kriterien bewertet. Dies geschah in seiner Politik, aber auch in den Ethiken. Er wollte besonders mit seiner Eudemischen Ethik Einfluss auf Politiker nehmen, ihr Methodenbewusstsein schärfen, sie sensibler für eine wissenschaftliche Ethik machen. Man kann daran erkennen, dass man im vierten Jahrhundert immer noch in der Politik eine Beschäftigung mit einem besonderen Ethos, einer besonderen Verantwortung und eine Tätigkeit gesehen hat, die immer sehr viele Menschen unmittelbar betrifft. Diese Einheit von Ethik und Politik ist in der Geschichte des abendländischen Denkens zum ersten Male von Niccolo Machiavelli in seinem Principe und in den Discorsi in Frage gestellt worden. Demokrit hat in seinen ethischen Schriften die Position des Weisen vertreten. Darin unterschied er sich grundlegend von Sokrates, der kategorisch behauptete, er wisse, dass er nichts wisse. Bei Demokrit

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kam es zu kritischen Selbstreflexionen und zu weisen Empfehlungen für die richtige Lebensweise. Zu dieser Philosophie gehörte auch die Körperlichkeit des Menschen. Demokrit hat nicht für eine Überbetonung des Geistes plädiert. Obwohl in der Tradition des Anaxagoras stehend, trat er für beide, Körper und Geist, ein. Dabei gilt es zu sehen, dass Demokrit anscheinend die Grenzen der griechischen Welt überschritten hat. So sprach er von den Vorteilen, die ein Leben im Ausland mit sich bringe. Dadurch werde die Autarkie ermöglicht. Diese Autarkie spielte in Demokrits Ethik durchaus eine Rolle: als ein Mittel gegen allzu große Bedürftigkeit, als ein Medium, um sich zu bescheiden und auch als eine Form des intellektuellen Trainings. Dies stand in gewisser Weise in der Tradition Heraklits. Diese philosophische Haltung entsprach der griechischen Werteethik mit ihren Appellen, das richtige Maß zu wahren, Grenzen zu respektieren und sich im Leben nicht zu übernehmen. Das subjektive Bedürfnis spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. So findet sich bei Demokrit eine Definition von Armut und Reichtum, die beide nach eben diesem Bedarf und der Sättigung definiert wurden: wer entbehre, sei nicht reich, wer nicht entbehre, nicht arm. Dies war für die griechische Ethik dieses Zeitraums durchaus typisch. Demokrit hat den Versuch unternommen, etablierte Begriffe neu zu bestimmen, nach Maßgabe des subjektiven Bedarfs. Dies konnte dann zu einer Subjektivität des Glücks führen, unabhängig von gesellschaftlichen Werten wie dem Reichtum. Zugleich ließ sich dies, was Demokrit sagte, wie eine versteckte Sozialkritik lesen. An die Stelle etablierter Werte setzte der Philosoph seine eigene Sicht, indem er Reichtum und Armut neu definierte. Demokrit sagte in diesem Kontext nicht, was denn das für ein neuer Reichtum sei, der dabei heraus kam. Aber gemeint war wohl ein innerer Reichtum, verkörpert durch eine Haltung, dessen Träger im materiellen Besitz nicht das Glück sah. Also gab es auch hier einen Appell, sich von solchen äußeren Werten frei zu machen. Zur Weisheit gehört es ferner, dass der betreffende Philosoph etwas vorleben will. Leben und Lehre bilden, wie im Falle des Sokrates, eine Einheit. Die antike Überlieferung hat mit Bezug auf Demokrit nicht von einer solchen Einheit gesprochen. Vielleicht war in seinem Leben zu viel Theorie im Spiel. Es mag aber auch sein, dass Demokrit gar nicht Wert darauf legte, wie eine Art Sokrates gesehen zu werden. Die Weisheit, die

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er verkörperte, war eine umfassende, und sie war eine Qualität, mit der Demokrit besonders auf die Lebensweise der Menschen Einfluss nehmen wollte. Hinter dieser Ethik steckt aber auch ein bestimmter Philosophiebegriff. Die Philosophie hat auf gesellschaftliche Prozesse Einfluss zu nehmen. Sie ist als praktische Ethik in der Lage, sich einzumischen und zu zeigen, wie der Mensch sich im Alltag verhalten sollte, um ein gutes Leben zu führen. Demokrits Ethik differiert erheblich von der sokratischen Ethik, was die Einbindung in die Öffentlichkeit betrifft. Während Sokrates seine Philosophie in der Gesellschaft und an den öffentlichen Orten Athens betrieb, hat Demokrit eher im Privaten philosophiert. Sokrates lehnte einen positivistischen und zugleich naiven Wissensbegriff radikal ab. Seine Skepsis gegenüber einem Wissenserwerb gehörte zu den berühmtesten philosophischen Positionen der Antike. Die mündliche Philosophie war für ihn die einzig wahre Form eines philosophischen Dialogs. Demokrit hingegen glaubte an den Erwerb von Wissen, wie sein enzyklopädisches Werk hinreichend andeutet. Beide Philosophen haben sich mit Sicherheit gekannt, wenngleich Platon auf Demokrit in seinen Dialogen kaum Bezug nahm. Demokrit war, was sein Werk angeht, ein eminenter Wissenschaftler, während Sokrates Philosophie nicht als Wissenschaft betrieb, sondern diese vorlebte. Demokrit bildet gleichwohl eine wichtige Station auf dem Weg zu Sokrates. Er entwickelte eine nicht-kasuistische Ethik mit einem beträchtlichen Abstraktionsgrad, die teilweise den Eindruck einer Vorwegnahme der sokratischen bzw. platonischen Ethik erweckt. 3.

Ethik und Anthropologie

Anthropologie als eine eigenständige Wissenschaft hat es in der Antike noch nicht gegeben. Sie bildete vielmehr mit der Ethik eine feste Einheit. Wenn ein Philosoph sich im fünften Jahrhundert mit ethischen Problemen beschäftigte, betrieb er auch anthropologische Studien. Beide Wissensbereiche haben sich also in der Antike thematisch überschnitten. Dabei ist es auch in späteren Zeiten geblieben. Als eine eigenständige Wissenschaft kann die Anthropologie ab der Neuzeit gelten. Dabei unterscheidet man zwischen einer historischen und einer philosophischen Anthropologie. Die historische beschäftigt sich mit der Ge-

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schichte der Menschheit, verschiedenen Phasen dieser Geschichte und mit vornehmlich historischen Phänomenen. Die philosophische Anthropologie hingegen konzentriert sich auf überzeitliche Konstanten in der Menschheitsgeschichte. Im folgenden sollen einige Ausschnitte und Themen aus der Anthropologie in Verbindung mit der Ethik im Verlaufe des fünften Jahrhunderts geboten werden. Aristoteles ist einzubeziehen, weil er diese Anthropologie um ganz wichtige Aspekte erweitert hat. Die „Lehre vom Menschen“ hat bei den Griechen so richtig in diesem Zeitraum begonnen. Eine große Rolle spielten in diesem Prozess die schon mehrfach genannten Sophisten. Sie betrieben nicht nur Politologie, sondern auch historische Anthropologie. So fragte Protagoras nach den Anfängen der Menschheit, nach der Funktion der Gesetze, nach den menschlichen Eigenarten im Vergleich mit den Tieren. Der Sophist bezog, wie sich Platons Protagoras entnehmen lässt, den Mythos ein. Demokrit hat ebenfalls in diesem Zusammenhang Sätze zur Ethik und Anthropologie beigetragen. Seine Aussage über die Polis als das „beste Korrektiv“ wurde bereits erwähnt. Dieser Satz war auch anthropologisch gemeint, da er sich auf die Natur des Menschen und seine Eigenart sowie den Sachverhalt bezog, dass diese Natur ihre Erfüllung in der Polis finden könne. Die Theoretiker, die im fünften Jahrhundert nach der Eigenart des Menschen fragten, stellten zwangsläufig die Frage nach seinem Wesen. Damit war man auf dem Wege der Abstraktion schon einen weiten Schritt vorangekommen. Man versuchte sozusagen in diesem Stadium bereits zu abstrahieren, und man löste bestimmte Fragestellungen von den historischen Konkretisierungen ab. Aber man blieb auf der anderen Seite noch auf halbem Wege stehen. Die Sophisten, besonders Protagoras, untersuchten im Rahmen dieser anthropologischen Fragestellungen auch die Ursprünge der menschlichen Kultur. In diesem Stadium bezog man noch die Götter in diesen Prozess ein. Das Feuer z.B. sah man als eine Gabe des Prometheus an. Die Menschen im Urzustand wurden als defizitäre Wesen betrachtet, die zu Beginn ihrer Geschichte weit hinter den Tieren zurückblieben. Das waren also Aszendenztheorien. Nur langsam habe sich die menschliche Zivilisation aus diesen Anfängen entwickelt. Die Griechen haben in diesem Kontext gerne auf die Erfindungen verwiesen. Der Erfinder oder Entdecker konnte an die Stelle von Göttern treten. Wer etwas entdeckt oder erfunden hatte, galt bei ihnen als eine in der Regel

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unerreichte Größe. Die Menschen nach einem solchen Erfinder oder Entdecker konnten auf dessen Leistungen aufbauen. Sie erreichten jedoch in der Regel nicht den ersten Erfinder. Dahinter steckte eine Ehrfurcht vor den Leistungen einer herausragenden Persönlichkeit, die Außerordentliches vollbracht und die die Voraussetzungen für spätere Generationen geschaffen hatte. Das Reflektieren auf anfängliche Höchstleistungen war mithin Teil von Anthropologie. Die Griechen haben auf diese Weise Traditionszusammenhänge hergestellt. Es handelte sich um ein festes Schema, in das sie diese Leistungen einordneten. Wir können diesen Prozess schon sehr früh bei den Griechen konstatieren. Der schon erwähnte Naturwissenschaftler und Philosoph Xenophanes hat eine Art Geschichte der Wissenschaften geschrieben. Wie diese genau aussah, lässt sich nicht mehr sagen, da nur Fragmente überliefert sind. Aber folgendes steht fest: Xenophanes ging wohl zu Beginn dieser Wissenschaftsgeschichte an prominenter Stelle auf Thales ein. Dieser galt schon damals als der Entdecker der griechischen Geometrie. Von ihm erzählte Xenophanes anscheinend, wie er die Geometrie entwickelte. Ebenso war die Rede von Thales' astronomischen Leistungen. Man hat bereits im sechsten Jahrhundert berichtet, er habe eine Sonnenfinsternis (28.5.585) vorausgesagt. Er habe diese Voraussage als politischer Berater des lydischen Königs gemacht. Die Griechen haben jedoch – und dies gilt es in diesem Zusammenhang immer mit zu berücksichtigen – nicht nur auf die eigene Kultur geblickt. Thales war ein Beispiel für die außerordentliche Fruchtbarkeit der multikulturellen Begegnung in Milet; seine Mutter war Phönizierin. Thales selbst hat Ägypten und Babylon bereist, um seine Mathematikkenntnisse zu verbreitern. Die Griechen blickten in solchen Zusammenhängen gerne auf Ägypten. Dieses Land war für sie der Hort uralter Weisheit, auch der Ursprungsort einiger Wissenschaften wie der Mathematik. Da gab es allerdings eine Konkurrenz mit dem Zweistromland Euphrat und Tigris. Platon hat in einem seiner Dialoge diese Bewunderung für Ägypten auf die Formel gebracht, die Griechen seien im Vergleich mit der ägyptischen Kultur wie Kinder. Man kann daran auch erkennen: Die Griechen begannen schon im sechsten und dann wieder im fünften Jahrhundert mit Kulturvergleichen. Sie haben früh ein Bewusstsein vom Wert der hellenischen Kultur

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entwickelt. Dies hinderte sie aber nicht daran, andere Kulturen, die sie als überlegen empfanden, in die Betrachtung einzubeziehen. Die Vorreiter dieser synkritischen Betrachtungsweise waren die Sophistik und die Historiographie. Die Sophisten haben die Perspektive auf andere Länder im fünften Jahrhundert geweitet. Indem man nun das „Fremde“ und Andersartige betrachtete, konnte man für die Eigenarten der eigenen Kultur sensibilisiert werden. Dann gelang es, die Werte der griechischen Kultur besser einzuschätzen. Herodot hat in seinem Werk solche transkulturellen Betrachtungen angestellt. Er hatte einen Großteil der Länder, die er in seinen Historien beschrieb, selbst bereist, konnte sich also auf Autopsie berufen. Da man bereits im fünften Jahrhundert nach dem Wesen des Menschen und seinen Eigenarten fragte, blieb es nicht aus, dass man Ethik und Anthropologie miteinander verknüpfte. Dies ließ sich bereits gut an Demokrit beobachten. Auch der historische Sokrates hat die Verbindung von Ethik und Anthropologie gekannt. Wenn man die platonischen Dialoge auf diese Verbindung hin betrachtet, wird man folgendes feststellen: In diesen Dialogen ist in der Regel auch eine anthropologische Komponente vorhanden. Sokrates hat nach dem Wesen des Schönen, Guten, Gerechten etc. gefragt. Er nahm also eine allgemeine Perspektive ein. Der Dialog und die Sprache allgemein fungierten als die spezifischen Kennzeichen des Menschen, die ihn vor allen anderen Lebewesen auszeichneten. Sprachphilosophie war ein allgemeiner Bestandteil der Reflexion des Menschen auf die Sprache als die höchste Form der Selbstvergewisserung. Sprache rangierte ferner als ein zentraler Bestandteil der Ethik und Anthropologie. Sie bildete vielleicht das Kennzeichen der menschlichen Kultur. Bei den Griechen allgemein gab es schon früh ein Bewusstsein von der großen Bedeutung von Sprache. Sie diente als ein Mittel, um die Welt zu erschließen. Sie war die anthropologische Bedingung, unter der sich der Mensch in dieser Welt zurecht findet. Platon hat in seinen Dialogen nirgends explizit auf diese Zusammenhänge und die zentrale Bedeutung von Sprache reflektiert. Indem er jedoch die Form des Dialogs gewählt hat, indem er seinen Sokrates so oft in Gesprächen mit Anderen zeigte, machte er indirekt bewusst, dass das Leben ohne Sprache und Verständigung für den Menschen kein spezifisch menschliches Leben wäre.

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Auch die attische Tragödie (Euripides) hat diese spezifische Bedeutung, die Sprache hat, erkannt. Euripides hat im Rahmen einer Kulturentstehungstheorie in den Hiketiden, den Schutzflehenden (V.195ff.) besonders auf diesen Sachverhalt reflektieren lassen. Auch in dieser Beziehung zeigt sich also die kulturelle Vielfalt dieses fünften Jahrhunderts. Der erste antike Philosoph, der systematisch Sprachphilosophie betrieben und damit ebenfalls indirekt die besondere Bedeutung von Sprache für das Leben der Menschen angedeutet hat, war Aristoteles. Er hat sich nicht weiter mit Sprache als dem Kennzeichen des Menschen auseinander gesetzt. Für ihn waren diese Zusammenhänge einfach gegeben, er hat sie als evident vorausgesetzt. Aristoteles hat z.B. die Metaphysik mit dem Satz begonnen: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Dies war ein anthropologischer Satz. Mit ihm machte Aristoteles indirekt die besondere Bedeutung von Sprache deutlich. Wissen und Wahrheit sind immer an Sprache gebunden. Ohne sie lässt sich nicht von der Wahrheit eines Satzes bzw. von seiner Falschheit sprechen, ohne sie ist es nicht möglich, Erkenntnis zu gewinnen. Diese intellektuellen Vorgänge setzen immer schon Sprache voraus. Und diese Sprache ist auch das Instrument, um abstrakte Sachverhalte bezeichnen zu können. Aristoteles hat all dies bereits erkannt. Ein weiterer anthropologischer Satz, den Aristoteles formuliert hat, lautet: „Der Mensch ist von Natur aus ein politisches Lebewesen“. Er hat ihn in der Politik (1,2. 1253 a 2-3) zum Ausdruck gebracht. Um ihn als eine anthropologische Aussage voll erfassen zu können, muss man den Begriff von Natur, der dahinter steht, verstehen. Aristoteles greift hier auf eine eigene Vorstellung zurück: Die Natur ist immer von zielgerichteten Prozessen gekennzeichnet. Sie macht, wie schon erwähnt, „nichts umsonst“. Dies war für Aristoteles die Basis. Zum zweiten sind die Zwecke, die der Mensch in seinem Handeln erstrebt, in dieser Natur angelegt. Natur wird dann zu einem Ziel. So konnte Aristoteles in diesem Kontext behaupten, die Polis existiere von Natur aus. Da haben wir also einen Begriff von zwei Naturphänomenen, die sozusagen parallel wirken. Der Mensch bringt, indem er in der Polis eine Familie gründet und Verbindungen mit anderen Politen eingeht, Freundschaften schließt und seinen Teil zum Gedeihen dieser Polis beiträgt, seine eigene Natur zum

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Vorschein. Die Polis kommt auf diese Weise ihrem natürlichen Zweck ebenfalls näher. Sie liefert dem Individuum die Lebensbedingungen, die spezifisch für die Stadt sind. Sie ermöglicht es diesem Individuum, sein eigentliches Menschsein zur Entfaltung zu bringen. Der innere Zusammenhang zwischen Ethik und Anthropologie, der hier sichtbar wird, spielte bei Aristoteles ebenso in seinen Ethiken eine Rolle. Dazu und zu seinem Technikbegriff abschließend einige Bemerkungen. Auch in den Ethiken ging Aristoteles davon aus, dass es ein spezifisch menschliches Handeln geben muss, das den Menschen von den Tieren unterscheidet. Er stellte auf den Begriff der Essenz, des Wesens des Menschen, ab. Dieses Wesen bestand für Aristoteles darin, dass der Mensch nach Tugenden strebt. Die Areté war also von ganz entscheidender Bedeutung. Aristoteles nahm dabei an, es gebe zwischen den Künsten und Handwerken sowie den ethischen Tugenden Analogien. Was für diese Technai gelte, habe auch im Bereich der Ethik Gültigkeit. Dies war sozusagen das Erbe Platons, der in seinen Dialogen permanent auf solche Analogien verwiesen hatte. Aristoteles hat jedoch gesehen, dass es zwischen den Künsten/ Handwerken auf der einen Seite und den ethischen Tugenden auf der anderen Unterschiede gibt – Unterschiede, die in der Natur des Menschen begründet sind. So hat er als erster antiker Philosoph den Begriff des Willens in seine Ethik eingeführt, um zu zeigen, dass eine sittlich gute Handlung auch dann Respekt verdient, wenn sie zu keinem Ergebnis führt. In den Technai hingegen gilt, dass ein fachspezifisches Ziel erreicht werden muss, um die entsprechende Handlung als gut und gelungen qualifizieren zu können. Wenn ein Architekt einen guten Bauplan hat, diesen aber nicht realisieren kann und das Haus dann schlecht gebaut ist, so gilt dies in der Regel als Versagen und als ein Kunstfehler. Das Gleiche Phänomen lässt sich ebenso in anderen Künsten beobachten. Die Techne, womit bei den Griechen natürlich auch die Technik generell gemeint war, spielte bei Aristoteles eine besondere Rolle. Er hat sich in einer Vielzahl von Schriften, insbesondere in der Metaphysik zu ihr geäußert. Dabei gab es in seinem Denken Konstanten. Zunächst einmal war die Technik für Aristoteles ein spezifisches Kennzeichen des Menschen. Zwar wenden auch Tiere wie z.B. die Ameisen bestimmte, sozusagen rationale Konzepte an, wenn sie etwas bauen, aber sie können nicht in einer rationalen Art und Weise auf ihr Tun reflektieren. Die

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Kunst des Menschen hingegen ist in der Regel das Resultat rationaler Planung und der Reflexion. Aristoteles hat, wie bereits erwähnt, die Technik in seine Erkenntnistheorie integriert. Sie bildete bei ihm die dritte Stufe, direkt unterhalb der Wissenschaften. Zur Erinnerung: Es handelt sich um ein Fünf – Stufen – Modell mit der sinnlichen Wahrnehmung auf der untersten Stufe und der Erkenntnis der obersten und allgemeinen Prinzipien an der Spitze. Jede Kunst und jedes Handwerk ist nach Aristoteles nach rationalen Kriterien aufgebaut. Jede dieser Künste und alle Handwerke sind für den Menschen spezifisch. Das bedeutet: nur der Mensch – so Aristoteles – verfügt über einen entsprechenden Erfahrungsschatz, um eine solche Kunst zu entwickeln. Der Gegenbegriff zur Technik und den Künsten und Handwerken im allgemeinen lautet Natur, Physis. Das war ein Modell, das nicht Aristoteles erfunden hat. Man ist im Verlauf des fünften Jahrhunderts auf diese Antithese gestoßen. Man hatte in diesem Zeitraum beobachtet, dass der Mensch im Bereich der Technik eine große Verfügungsgewalt besitzt. Die Natur hingegen entzieht sich oft seinen Einflussmöglichkeiten. Sie ist in der Regel autonom, gehorcht also eigenen Gesetzen. Zwar könne der Mensch durch die Technik auf die Natur Einfluss ausüben, aber es gebe Naturgesetze, die er nicht steuern kann. Dies war der Hintergrund, vor dem Aristoteles seine eigene Techniktheorie entwickelte. Er hat ferner die Analogie zwischen der Natur im Großen und der Natur des Menschen betont. Der Mensch – so seine Überlegung – ist Teil der Natur. Es gibt natürliche Grenzen, die er nicht überschreiten soll. Aristoteles war im Rahmen seiner Anthropologie nicht der Überzeugung, der Mensch dürfe alles tun, was er durch Technik erreichen kann. Auch dies war Teil einer Tradition. Bereits Xenophon hatte in seinen Memorabilien 4,7 für einen bewussten Umgang mit der Technik und mit physikalischen Errungenschaften plädiert. Allerdings hatte Xenophon als Gegenpol zu den Wissenschaften die Religion ins Spiel gebracht. Sein Sokrates argumentierte wie ein Konservativer, der die Religion gegen die Wissenschaften auszuspielen versuchte. Diesen Weg ist Aristoteles nicht gegangen. Auf die Dauer, besonders im Hellenismus, hat sich der aristotelische Wissenschaftsbegriff durchgesetzt, weil er in einem hohen Maße wertneutral war und weil Aristoteles den Wissenschaften weitgehend ihre Freiheit beließ.

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4.

Platon über Ethik

Die platonische Ethik bildet kein geschlossenes System. Man muss ihre Elemente aus den Dialogen rekonstruieren. Im wesentlichen hat Platon seine Ethik durch die Gestalt des Sokrates vermittelt. Sie war an die Polis gebunden, in der sie sich entfaltete. Der Bezugspunkt war besonders in den frühen Dialogen Athen. Es darf als gesichert gelten, dass Platons Ideenlehre, die er zunächst in der Politeia entwickelte, nicht vom historischen Sokrates stammte. Diese Theorie wurde von Platon unter dem Einfluss von Parmenides' Zwei – Weltentheorie entwickelt. Im Zentrum sollen drei Fragen stehen: Kann man Platons Ethik von den Positionen, die Sokrates eingenommen hat, trennen? Wie hat sich Platon in diesem Kontext zu Traditionen verhalten? Wie hat Platon das Verhältnis von Ethik und Politik gesehen? Die erste Frage betreffend, wird man zunächst folgendes feststellen können: da wir von Platons ungeschriebener Lehre nur indirekt oder mittelbar wissen – Aristoteles ist da eine ganz wichtige Quelle -, fällt es in der Regel auch schwer, zwischen seiner und der Position des historischen Sokrates zu differenzieren. Wir müssen uns Platons Position oft aus seinen Dialogen bzw. aus Aristoteles erschließen. Wir wissen, dass Platon mindestens eine Vorlesung Über das Gute geschrieben und in der Akademie gehalten hat. Er ist damit auch in die Öffentlichkeit gegangen. Ferner wissen wir, dass die Enttäuschung bei diesem Publikum groß war. Anscheinend erwartete man sich bei diesem Titel etwas Anderes, Konkretes und auch Praktisches. Platon hat aber in seinen öffentlichen Vorträgen wohl über die Idee des Guten, vielleicht über die Ideenlehre gesprochen. Das kam bei einem breiteren Publikum nicht an. Was diese Ideenlehre und generell die platonische Lehre vom Sein betrifft, so muss man sich immer vergegenwärtigen, dass Platon damit auch ein axiologisches System, also ein Wertesystem, begründet hat. Die physikalische Welt und damit der Raum, in dem sich Ethik entfalten kann, rangieren in der platonischen Ontologie immer unter den Ideen. Diese sind nicht wertneutral, sondern bei Platon immer positiv besetzt. Ontologie und Ethik hängen bei ihm immer eng zusammen. Was die angesprochene Unterscheidbarkeit der Position Platons von der des Sokrates angeht, so muss man in der Regel abstrahieren. Da, wo der platonische Sokrates Positionen vertritt, die auch bei Xenophon und

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Aristoteles wiederkehren, können wir im allgemeinen annehmen, dass es sich um Standpunkte des historischen Sokrates handelt. Dies gilt für den Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ oder den Satz „Niemand tut unfreiwillig Unrecht“. Und noch eine weitere Aussage, „Wer das Gute kennt, tut es auch“ scheint vom historischen Sokrates zu stammen. Dies bedeutet, Platon hat in diesen Zusammenhängen nicht seine eigene Position implantiert. Vieles von dem, was Sokrates ansonsten vertreten hat, ist den literarischen Arbeiten der Sokratesschüler zuzurechnen. Aber auch da gibt es Ausnahmen. Wenn Platon im Phaidon die These von der Unsterblichkeit der Seele vertreten lässt, so wirkt dies auf den ersten Blick wie die Position der Pythagoreer mit der Seelenwanderungslehre, der sog. Metempsychose. Wenn man dann genauer hinschaut, wird man merken, dass dieses Modell aber auch sehr gut zum historischen Sokrates und zu Platon selbst passt. Sokrates und Platon waren anscheinend Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass dem Geist der Vorzug vor dem Körper zu geben sei. Dies war ein Standardtheorem innerhalb der von Sokrates initiierten Philosophie der Sokratesschüler. Platon war vielleicht in diesem Punkt von der Philosophie des Pythagoras und der Pythagoreer beeinflusst. Seine Bewunderung für Pythagoras war notorisch. Er hat sich sogar für teures Geld ein Buch des Pythagoreers Archytas von Tarent besorgt. Aber Platon und sein Sokrates waren gleichzeitig selbständige Denker. Schriftliche Traditionen spielten da zwar eine Rolle, aber entscheidend war die mündliche Philosophie. Was die Relation von Geist und Körper betrifft, so haben Sokrates und Platon die gleiche Position, den Primat des Geistes, vertreten. Von da zur Erkenntnis, dass die Seele sich vom Körper befreien müsse, war es nur ein kleiner Schritt. Dies bildete den gemeinsamen Nenner von Sokrates und seinem Schüler. Von Platon hingegen scheint ein weiteres Theorem zu stammen. Der Geist muss sich vom Körper trennen, damit er zum reinen Denken kommen kann. Erst dann vermag er vollständig die Ideen denken. Dies war die platonische Zutat zu dieser Geistphilosophie. Die Ethik der beiden Philosophen war aber ebenfalls sehr intellektuell, also vom Geist dominiert. Man müsse das Gute nur erkennen, dann werde man es in die Tat umsetzen. Dies war die Position des historischen Sokrates. Das war eine reine Wissensethik. Platon hat dies dann in seinen Dialogen, besonders in denen der mittleren Periode,

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aufgegriffen. Aristoteles hingegen hat sich im sechsten Buch seiner Nikomachischen Ethik vehement gegen diesen Standpunkt gewendet. Die zweite Frage betreffend, wie sich Platon in diesem Kontext zu Traditionen verhalten hat, wird man folgendes sagen können: Von Pythagoras und dessen Schülern war bereits die Rede. Platon hat sich, wie dann auch sein Schüler Aristoteles, intensiv mit philosophischen Traditionen auseinander gesetzt. Aber diese Traditionen waren im Bereich der Ethik für ihn noch nicht per se gut. Er hat sie in seinen Dialogen und wahrscheinlich ebenso in der Akademie einem permanenten Prüfprozess unterzogen. Platon hat sich auch mit anderen Vorsokratikern als Pythagoras beschäftigt. Dies gilt besonders für Anaxagoras und dessen Geistphilosophie. Diese Philosophie war ebenfalls sehr intellektualistisch ausgerichtet. Der Geist fungierte als oberstes und erstes kosmisches Prinzip – ein Prinzip, das alles steuert und die Raum – Zeit – Koordinaten zur Verfügung stellt. Der Geist war in diesem Modell sozusagen der erste Beweger und das Schöpferprinzip der Materie – eine Theorie, die sowohl auf Platon als auch auf Aristoteles großen Eindruck gemacht hat. Wir können an dem Verhältnis Anaxagoras – Platon aber noch etwas erkennen. Das fünfte und das vierte Jahrhundert war eine wahre Blütezeit, was die Auseinandersetzung zeitgenössischer Philosophen mit Traditionen betrifft. Diese Traditionen wurden als etwas sehr Lebendiges empfunden. Man konnte sich mit ihnen auseinander setzen, um so seine eigene Position zu bestimmen. Man distanzierte sich auch von ihnen. Anaxagoras war in diesem Zeitraum in Athen der berühmteste Naturphilosoph überhaupt. Wenn sich nun der historische Sokrates, Platon, ebenso Euripides, der ebenfalls mit Anaxagoras Umgang hatte, mit diesem Philosophen beschäftigten, signalisierten sie, dass an ihm kein Weg vorbei führte. Wenn man die Frage nach der Bedeutung von Traditionen im Denken Platons resümiert, zeigt sich, dass Platon in einem Traditionsstrom stand. Die lebendige Beschäftigung mit solchen Traditionen zur Zeit der Klassik sollte auch für spätere Zeiten Folgen haben. Aristoteles, später dann die von seinem Schüler Theophrast gegründete Schule des Peripatos, setzten sich immer wieder mit den Vorgängern auseinander. Die Griechen haben übrigens in diesem Zusammenhang in Diadochai, in Nachfolgen, gedacht. Da war es ganz wichtig, was ein Vorgänger, ein Lehrer oder ein Schüler und deren Nachfolger dachten,

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wie sie sich zu Traditionen äußerten und diese rezipierten. Dann konnte ein Traditionskontinuum entstehen - eine ganz wichtige Voraussetzung, damit diese Positionen die Antike überdauern konnten. Zur dritten Frage, wie Platon das Verhältnis von Ethik und Politik gesehen hat, wird man sagen können, dass es schon im fünften Jahrhundert eine Einheit von Ethik und Politik gegeben hat. Die Politologie als eigenständige Wissenschaft existierte noch nicht. Also hat man sich im Bereich der Ethik jener Fragestellungen angenommen, die sich auf die Polis, die Politik und allgemein auf das Leben des Menschen in der Gesellschaft bezogen. Mit dem Entstehen und Aufkommen der Demokratien in Griechenland, die in der Regel die Aristokratien abgelöst haben, kam es zwangsläufig auch zu einem größeren theoretischen Interesse an Themen, die den politischen Rahmen des menschlichen Handelns in der Gesellschaft betrafen. Die Sophisten haben auch in diesem Zusammenhang ganze Arbeit geleistet. Es gab in sophistischen Kreisen eine wahre Masse an Literatur zu diesen politologischen Themen. An erster Stelle wäre Protagoras von Abdera zu nennen, der, wie schon gesehen, über die Anfänge der Menschheitsgeschichte, ferner über die Götter und politologische Fragestellungen geschrieben und publiziert hat. Aus Platons Dialog Protagoras erfahren wir, dass dieser Sophist in Athen den Anspruch erhob, die Politikwissenschaft zu lehren, gegen gutes Geld und in öffentlichen Vorträgen. Sokrates war auch in diesem Punkt einer ganz anderen Meinung. Jedenfalls trat er in diesem platonischen Dialog gegen Protagoras in Erscheinung, um dessen Kunst kritisch zu prüfen und in Frage zu stellen. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, dass Platon gegenüber diesem Sophisten, anders als bei den anderen Vertretern der Sophistik, durchaus positiv eingestellt war. Protagoras war nicht wie viele seiner Kollegen ein unbedingter Gegner des Regimes. Er hat in der neu gegründeten Stadt Thurioi in Unteritalien im Jahre 444v.Chr. als Gesetzgeber fungiert. Dies zeigt, dass er dem jeweiligen Establishment gegenüber durchaus positiv eingestellt war. Dies zeigt ferner, dass die Bewegung der Sophistik keinesfalls so homogen war, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. Was Platon betrifft, so hat er – in diesem Punkt dem Trend des fünften Jahrhunderts vergleichbar – ebenfalls die Einheit von Ethik und Politik vertreten. Da war er zeitweise ganz rigoros. So hat Platon in seinem Politikos das Bild des idealen Politikers gezeichnet, den er mit

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strengen ethischen Maßstäben beurteilte. Dieses Ideal war in der Realität unerreichbar. Es gab keinen Politiker, der diesen Maßstäben an einen gerechten, unparteiischen und über der Moral der breiten Mehrheit stehenden Staatsmann genügen konnte. Der ideale Staatsmann verhielt sich in diesem platonischen Modell wie ein guter Hirte zu seiner Herde. Oder anders ausgedrückt: Es gab essentielle Unterschiede zwischen dieser Person und dem Volk. Die Ethik und ein dementsprechendes Verhalten bildeten in diesem Modell den nahezu absoluten Maßstab, dem eigentlich kein Mensch gerecht werden konnte. Platon hat in diesem Zusammenhang durchaus nicht-griechische Einflüsse zugelassen. Schon im Alten Testament, zuvor bei den Ägyptern und im Zweistromland hat es ähnliche Vorstellungen vom idealen Herrscher gegeben. Der Monarch fungierte als der gute Hirte seines Volkes, mit absoluter Macht ausgestattet, keinem außer sich selbst rechenschaftspflichtig. Dieses vom Orient inspirierte Modell barg aber auch Risiken. Es konnte absoluten Machtbestrebungen einen gefährlichen Vorschub leisten. Es gab in diesem Modell eigentlich keine übergeordnete Kontrollinstanz, die dafür sorgte, dass der Alleinherrscher sich an die Gesetze hielt. Ob Platon dieses Risiko erkannt hat, ist etwas fraglich. Aber da es auf der Hand lag, ist dies anzunehmen. Platon hat Sicherungen in diesem Modell eingebaut. Aber diese waren eher idealistischer Natur. So erwartete er von diesem idealen Staatsmann ein hohes Verantwortungsbewusstsein und ein hoch reflektiertes Ethos. Die Griechen haben dieses beschriebene Risiko dann voll und ganz im vierten Jahrhundert erkannt. So kamen sie auf die Idee, den Herrscher mit einem lebendigen Gesetz gleichzusetzen. Dies war die sog. Nomos – empsychos – Konzeption. Zum ersten Male begegnet diese Vorstellung bei Isokrates, Xenophon hat sie dann übernommen und ausgebaut. Der Herrscher als eine oberste Kontrollinstanz bedeutete auch, dass man auf diese Weise die Risiken einer nicht im eigentlichen Sinne legalen Kontrolle minimieren wollte. Dieses Modell hat sich dann bei Aristoteles und in einer besonderen Weise im Hellenismus ausgewirkt. Platon hat diese im Politikos entwickelte Vorstellung vom idealen Politiker und Staatsmann später revidiert. In der Politeia ist es nicht mehr diese Person, sondern der Philosophenherrscher, der den Staat lenkt. Auch dieses Konzept war freilich idealistisch. Die von Platon

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beschriebene Erziehung des Philosophen war derart anspruchsvoll, dass ihr nur wenige genügen konnten. In anderen Dialogen hat Platon konstant die Einheit von Ethik und Politik gefordert. Dabei ging er von der Überlegung aus, bei der politischen Kunst handle es sich um eine königliche Kunst. Sie steht also über allen anderen Künsten und Handwerken. In diesem Anspruch war impliziert, dass an die Kunst des Herrschens besondere Anforderungen gestellt waren. Es ergab sich demnach eine Analogie zum Politikos, in dem ebenfalls die Sonderstellung des Politikers betont wurde. Platon hat diesen rigorosen Anspruch an das Amt des Regierens sowohl in seinen frühen Dialogen als auch in der Spätphase erhoben. Die zeitgenössischen Politiker konnten diesen Anforderungen nicht genügen. Politiker früherer Zeiten wie Themistokles und Militiades versagten angesichts dieser idealistischen Ansprüche. Dies zeigte sich im platonischen Gorgias und im Protagoras. Wie sich Platon gegenüber der zeitgenössischen Politik konkret positioniert hat, erfahren wir im Siebten Brief, der zwar in der Forschung lange Zeit für unecht gehalten wurde, der aber hier als echt vorausgesetzt wird. Platon beschreibt dort seine Enttäuschungen, die er mit der Politik in jungen Jahren gemacht hat. Sein Onkel Kritias, der einer der dreißig Tyrannen gewesen war, hatte in einer besonderen Weise demonstriert, wie man absolute Macht missbrauchen kann. Platon, der ursprünglich ebenfalls in die Politik gehen wollte, hat aus diesen Erfahrungen gelernt. Er hat der aktiven Politik den Rücken gekehrt, zugleich jedoch hat er, wie bekannt sein dürfte, in diese Politik eingegriffen, indem er dreimal nach Sizilien gereist ist, um den jungen Dion zu protegieren und an die Regierung in Syrakus zu bringen. Das waren also in der Praxis idealistische Bemühungen. Platon hat anscheinend nicht gesehen, dass sich die geforderte Einheit von Ethik und Politik in dieser Praxis nur ganz selten, wenn überhaupt realisieren lässt. Die platonische Akademie war anscheinend, was die Arbeit in der Öffentlichkeit betrifft, zu dieser Zeit sehr aktiv. Man versuchte, besonders natürlich Platon, die eigenen Theorien über das Amt des Herrschers und über gute Politik in die Tat umzusetzen. Das war dann nach Platons Tod so etwas wie ein Auftrag. Auch die mittlere und neue Akademie hat in dieser Richtung gewirkt. Eben diese Tendenz zur praktischen Umsetzung eigener idealer Vorstellungen hat auch Aristoteles beeinflusst, schon, als er in die

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Akademie eingetreten ist. Aristoteles hat ebenfalls Zeit seines Lebens versucht, Theorie und Praxis, in diesem Falle Ethik und Politik, miteinander zu vereinbaren. Dies geschah allerdings in einer anderen Richtung. Er hat erkannt, dass idealistische Vorstellungen wie der Philosophenherrscher in der praktischen Politik nichts zu suchen haben. Aristoteles hat an die Stelle solcher idealistischer Entwürfe praktische Konzepte gesetzt. Der Philosoph sollte nicht selbst regieren, sondern den Herrscher als Ratgeber beeinflussen. Aristoteles hat diese Vorstellung in die Tat umgesetzt, indem er Erzieher des jungen Alexander wurde. Wenn man dies überblickt, so zeigt sich folgendes: die enge Verbindung von Ethik und Politik war bereits im fünften Jahrhundert im Denken der Griechen eine Konstante. Politik wurde von Philosophen, allen voran von Platon, nach ethischen Maßstäben bemessen. Die praktische Politik hatte es da schwer. Sie konnte strengen ethischen Kriterien oft nicht genügen. Selbst so große Staatsmänner wie Themistokles oder Miltiades fielen in den platonischen Dialogen durch. Die Verbindung von Ethik und Politik ist eine idealistische. Sie setzt voraus, dass der Praktiker in der Öffentlichkeit so handelt, wie er denkt. Es geht insofern um eine Ethik des richtigen und guten politischen Handelns. Diese Vorstellung ist immer gefährdet. Wer wie Platon die Forderung vertritt, es müsse in den Koordinaten dieses Handelns jederzeit einen festen Bezugspunkt, nämlich das Gewissen, geben, der riskiert zwangsläufig Enttäuschungen. Platon wurde dementsprechend Zeit seines Lebens von der praktischen Politik enttäuscht. Sein Schüler Aristoteles war da realistischer. Er hat keinen Idealstaat wie Platon geschrieben. Sein eigener Entwurf in den Büchern 7 – 8 in der Politik orientierte sich in viel stärkerem Maße an den politischen Realitäten. So standen sich zwei Konzeptionen von Ethik und Politik gegenüber: eine idealistische und eine realistische oder pragmatische. Während Platon nicht zu hoffen wagte, dass seine Politeia in die Tat umgesetzt würde, hat Aristoteles anscheinend zumindest Teile seiner Politik für die Praxis geschrieben. 5.

Individualismus und Gesellschaft im Denken der Griechen

Wenn man auf das Verhältnis von Individualismus und Gesellschaft bei den Griechen reflektiert, kommen zwangsläufig wieder die Ethik, aber

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auch die Vorformen der Politikwissenschaft in den Blick. Das Individuum lebte in der Regel entweder in kleinen Dörfern auf dem Land oder in der Stadt. Das waren im fünften Jahrhundert sozusagen zwei Welten. Athen bildete schon in diesem Zeitraum einen großen Anziehungspunkt für Fremde. Das Phänomen ließ sich bereits im Zusammenhang mit Anaxagoras, Demokrit und den Sophisten beobachten. Dies gilt für das fünfte Jahrhundert aber auch für die Kaufleute, die nach Athen kamen, um dort ihrem Beruf nachzugehen. Attika und Athen waren sehr vom Import abhängig, weil es, abgesehen von den Silberbergwerken in Braurion, keine oder keine nennenswerten Bodenschätze gab. Der Begriff „Individualismus“ setzt voraus, dass es im fünften Jahrhundert bereits ein Bewusstsein vom Individuum gegeben hat. Dieses war zweifellos vorhanden Man sagt in der Regel, das Individuum sei im Denken der Griechen schon in der Lyrik seiner selbst bewusst geworden. In dieser Zeit habe man dessen Möglichkeiten entdeckt. In der Dichtung, besonders in der Elegie und in den Jamben des Archilochos, machte sich bereits im siebten Jahrhundert ein solches Phänomen bemerkbar. Archilochos hat in seinen Gedichten von sich selbst gesprochen – sehr selbstbewusst, von seinen Qualitäten überzeugt und mit einem großen Berufsstolz ausgestattet. Die Philosophie des fünften Jahrhunderts hat diese Tradition fortgesetzt. Nun mit einem theoretischen Repertoire ausgestattet, haben Philosophen auf sich selbst, ihre Individualität und ihre Fähigkeiten reflektiert. Die Griechen begannen so richtig über den Individualismus in der Gesellschaft mit dem Aufkommen der Demokratien nachzudenken. Demokratie in dieser Zeit hat zunächst einmal bedeutet, dass das Volk in einem größeren Maße als unter der Tyrannis oder während der Aristokratien an der Macht partizipieren konnte. Es gab einen eindeutigen Trend: weg von den überkommenen politischen Traditionen und hin zu einem Fortschrittsdenken. Natürlich hat es auch weiter die Konservativen gegeben, die an ihren Traditionen festhalten wollten. Das Individuum konnte nun gleichzeitig in den Mittelpunkt rücken. In einer Demokratie wie der athenischen waren alle Bürger irgendwann in ihrem Leben an der Macht beteiligt. Das war in der Regel keine exzeptionelle Macht, sondern sie geschah immer im Rahmen der demokratischen Institutionen wie des Rats und der Volksversammlung. Letztere fand in der Regel wöchentlich statt, so dass man vom einzelnen

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Bürger eine regelmäßige Teilnahme erwartete. Mehr oder weniger zeitgleich mit dieser Entwicklung kam es zur Ausprägung verschiedener Literaturformen. Die schon genannten Ansätze einer Politikwissenschaft in diesem Zeitraum legen davon Zeugnis ab. Daneben begann man in den 50er und 40er Jahren des fünften Jahrhunderts verstärkt auf das Individuum und die Gesellschaft zu reflektieren. Dieser Trend hat sich ebenfalls in der Tragödie des fünften Jahrhunderts, besonders bei Sophokles und Euripides, bemerkbar gemacht. Die politischen Reflexionen im attischen Theater haben in dieser Zeit stark zugenommen, und auch das Individuum, seine Möglichkeiten, aber auch die Risiken einer zu starken Individualisierung, kamen ins Blickfeld. Man hat also in der damaligen Literatur die politische Realität und die Chancen des Einzelnen verarbeitet. In diesem Zusammenhang gab es in der Literatur Aussagen über die demokratischen Institutionen. Nicht nur die athenische Demokratie, sondern auch andere Verfassungen in anderen Städten wurden reflektiert. So hat Kritias, der Onkel Platons, Verfassungsvergleiche geschrieben. Kritias gehörte als Aristokrat zum Lager der Konservativen. Also wurde auch von dieser Seite im Athen des fünften Jahrhunderts eine verstärkte literarische Tätigkeit entwickelt. Diese Verfassungsvergleiche führten ferner zu einer lebhaften Beschäftigung mit dem Phänomen Sparta. Es gab bereits im fünften Jahrhundert eine regelrechte pro – und contra-spartanische Literatur. Die Anhänger dieser Stadt plädierten für einen staatlichen Dirigismus, eine autoritäre Erziehung und eine strenge Kontrolle der demokratischen Institutionen. Von dieser Seite kam dann auch immer mehr Kritik am Liberalismus Athens. Dessen Erziehungssystem, seine relative Freizügigkeit und sein laisser faire waren den Spartafreunden ein Dorn im Auge. Auf der Gegenseite machte man sich natürlich für eben diese Institutionen Athens und dessen Demokratie stark. Der Liberalismus dieser Stadt wurde mit dem streng kontrollierten und autoritären Regime in Sparta kontrastiert. Dessen konstitutionelles Doppelkönigtum, die Ephoren und der Rat der Gerusia wurden von den liberalen Befürwortern der athenischen Demokratie auf das Schärfste verurteilt und abgelehnt. Wie konstant und langlebig im übrigen diese Sorte von Literatur bei den Griechen gewesen ist, zeigt sich daran, dass sie noch im vierten Jahrhundert bei Xenophon und Aristoteles fortgewirkt hat.

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In der politischen Literatur des fünften Jahrhunderts wurde nicht nur viel über staatliche Institutionen, Verfassungen, über die Entstehung der Demokratien und die Entwicklung des politischen Denkens, sondern ebenso über das Individuum, seine Chancen und die Risiken in einer Demokratie nachgedacht. Dies geschah paradoxerweise zunächst weniger in der Philosophie. Da diese sich vor allem als Naturphilosophie, Ontologie, Logik und Metaphysik ausprägte, hat man in diesem Bereich erst einmal weniger auf politologische oder soziologische Fragestellungen reflektiert. Die Bewegung, die maßgeblich an der Entwicklung solcher Probleme beteiligt war, war die Sophistik. Die Sophisten fragten in Athen im fünften Jahrhundert verstärkt nach dem Individuum. Sie propagierten das Recht des Stärkeren – nicht alle unter ihnen, aber einige wichtige Vertreter. Das starke, autonome Individuum war in diesem Zusammenhang geradezu ein Ideal. Dies richtete sich gegen die Gesellschaft, ihre Konventionen, ihre Sitten und indirekt auch gegen eine einseitige Demokratisierung der politischen Strukturen. Das Naturrecht wurde von den Sophisten gegen das positive Recht ausgespielt. Letzteres wurde zu einem Recht des Schwächeren degradiert, gegen das sich der Stärkere aufzulehnen hatte. Von da zur Theorie vom Übermenschen bei Nietzsche war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Das Recht, also das positive Recht und die Satzungen der Menschen, galt in diesem Kontext als eine Behinderung. Diejenigen Sophisten, die für das Naturrecht und das Recht des Stärkeren plädierten, sahen in den Gesetzen nur ein Mittel, um die Schwachen gegen die Starken zu schützen. Das starke Individuum hatte sich demzufolge über positives Recht hinweg zu setzen und so die Voraussetzungen zu schaffen, die eigene Natur auszuleben. Man hat in diesem Zusammenhang von sophistischer Seite gerne den Vergleich zwischen diesem autonomen Individuum und dem Löwen gezogen. Auf diese Weise versuchte man eine natürliche, von den positiven Gesetzen unabhängige Herrschaft des Individuums oder eine Hierarchie mit dem Stärksten an der Spitze zu begründen. Die Gefährlichkeit dieses Ansatzes war einigen zeitgenössischen Philosophen unmittelbar klar. Besonders Platon hat sich gegen diese Übersteigerung des Individuums und seine auf der Natur basierenden Herrschaftsansprüche gewendet. Er hat dies besonders im Gorgias getan,

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wo er die Position des Sophisten Kallikles mit seinem Recht des Stärkeren ausführlich kritisierte. Man kann an diesen Sachverhalten aber auch folgendes erkennen: Einige der Sophisten mit ihrem extremen Individualismus wollten die zeitgenössische Gesellschaft radikal verändern. Sie setzten mit ihrer Kritik an den überkommenen Sitten und Gebräuchen an. Sie wollten eine fundamentale Neubegründung des Staates. Die politischen und sozialen Traditionen hatten in diesem Kontext ausgedient. Sie gehörten nach sophistischer Vorstellung abgeschafft oder zumindest so modifiziert, dass sich natürliche Hierarchien in der Gesellschaft etablieren konnten. Wenn man dies überblickt, zeigt sich, dass das Thema „Individualismus und Gesellschaft“ schon im fünften Jahrhundert sehr aktuell war. Es existierte zunächst im Bereich der politologischen Literatur ein besonderes Interesse an Verfassungen, an der Entstehung der Demokratie und eher soziologischen Fragestellungen. Es gab ferner Verfassungsvergleiche, wobei Athen und Sparta die Favoriten waren. Zu diesem Thema kursierte im fünften und vierten Jahrhundert eine ganze Literatur. Das Interesse am Individuum wuchs, ein Phänomen, das in der Nachfolge der frühgriechischen Dichtung zu sehen ist. Eine besondere Rolle im Diskurs über Individuum und Gesellschaft spielte die Sophistik. Es gab einen Konfrontationskurs einiger Sophisten gegen gesellschaftliche Konventionen und gegen das positive Recht. Man plädierte für das Recht des Stärkeren. Gegen diese subversiven Ansätze gab es teilweise heftige Reaktionen, so besonders von Platon. Daneben traten aber auch Vertreter der sokratischen Philosophie in Erscheinung, bei denen dieser sophistische Ansatz und der extreme Individualismus einen positiven Eindruck hinterließen. An erster Stelle wäre da der älteste Sokratiker Antisthenes zu nennen, der eine Theorie von der natürlichen Überlegenheit des Herrschers in seinem Dialog Herakles entwickelt hat. Aristoteles hat diesen Ansatz im dritten Buch seiner Politik diskutiert und die gefährlichen Implikationen untersucht.

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VI. Ergebnisse und Ausblick Die Epoche der Klassik war für die Philosophie, aber auch für andere Wissenschaften eine Zeit der Blüte. Athen war das geistige Zentrum der griechischen Welt. Diese Epoche begann nach einer Zeit des Übergangs von der Archaik zur Klassik circa 450 und endete um 400, bevor auf eine weitere Phase des Übergangs der Hellenismus folgte. Die Klassik war ferner jene Epoche, in der sich die Einzelwissenschaften auszuprägen begannen. Dies erfolgte nicht zuletzt unter dem Einfluss der Philosophie. Die Mathematik wäre da an erster Stelle zu nennen. Sie war schon im siebten Jahrhundert eine eigenständige Disziplin, hat aber im Prozess der Entwicklung im fünften Jahrhundert eine sehr spezialistische Wende genommen. Die Geometrie übte eine starke Dominanz aus. Im fünften Jahrhundert wurde man sich ferner bewusst, dass man in großen Traditionen stand. Die Dichtung und die Philosophie waren historisch betrachtet enge Verbündete. Oder anders ausgedrückt: sie hatten eine natürliche Affinität. Daneben gab es freilich einen Konflikt zwischen den beiden. Dies war der „alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung“, wie Platon es im Staat ausgedrückt hat. Dieses Verhältnis soll noch einmal etwas näher erläutert werden. Dichtung versuchte schon sehr früh, die Welt zu erklären. Da wäre an erster Stelle das Lehrgedicht, das mit Hesiod begann, zu nennen. Was die Philosophie betrifft, so brauchte sie eine Zeit, bis sie eine eigenständige Fachterminologie ausprägte. Es gab in diesem Zusammenhang zwei Tendenzen, die auch im fünften Jahrhundert weiter wirkten: Philosophie in Form des Lehrgedichts (Xenophanes, Empedokles, Parmenides) und Philosophie in Prosa. Im Verlauf der Klassik hat sich mehr und mehr die Philosophie in Prosa durchgesetzt. Wir können diesen Prozess, die Auseinandersetzung der Philosophie mit der Dichtung, noch bei Platon erkennen. Er hat in seinen Dialogen sehr oft die Dichtung in den Diskurs einbezogen. Die Konstellation Dichtung und Philosophie war eine Beziehung, die auch bei den Römern

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weiter gewirkt hat. In der Spätantike hat sie noch einmal Boethius in seiner Consolatio Philosophiae aufgegriffen. Die Zeit der Klassik war jedoch nicht nur traditionsgebunden. Man hat ebenso innovative Ideen entwickelt, die die Traditionen zu einem festen Element in einem zukunftsorientierten Denken werden ließen. Das von den Vorfahren geerbte Traditionsgut und die Innovation standen fast tagtäglich in den öffentlichen Diskussionen zur Debatte. Diese Epoche war in einem hohen Maße an Öffentlichkeit gebunden. Die Philosophie, aber auch die Mathematik grenzten sich nicht ab. Sie suchten vielmehr den lebendigen Dialog auf der Agora und in den Gymnasien. Sokrates war da wohl eine der entscheidenden Gestalten – eine Person, die im permanenten Dialog nach der Wahrheit strebte, andererseits jedoch ihr eigenes Nichtwissen eingestand. Die Philosophie machte auf diese Weise definitive Fortschritte. Diese waren natürlich nicht objektiv messbar wie z.B. im Bereich der Mathematik. In der Philosophie setzte man jedoch alles daran, das Stadium der Vorsokratiker hinter sich zu lassen. Die Vorsokratiker, besonders Thales, Anaximander und Anaximenes aus Milet, waren mit ihren Ideen und Arbeiten richtungsweisend. Philosophie in dieser Phase war besonders Naturphilosophie, also der Vorläufer der Physik. Thales hat sich aber auch intensiv mit Geometrie beschäftigt. Er stand seinerseits unter dem Einfluss Ägyptens und Babylons. Der Trend zur Naturphilosophie sollte sich im weiteren Verlauf als eine Konstante erweisen. Parmenides, Empedokles und besonders Anaxagoras haben sich besonders auf diesem Gebiet betätigt. Dies gilt in einem hohen Maße für Anaxagoras, der in der Klassik den Ruf eines herausragenden Naturphilosophen genoss. Anaxagoras hat eine Geistphilosophie entwickelt, die sich nicht nur in diesem Zeitraum, sondern auch in der Neuzeit ausgewirkt hat. Hegels Weltgeist und der deutsche Idealismus wären da zu nennen. Die Vorsokratiker vertraten in der Regel eine Philosophie des Monismus, indem sie eine einzige Ursache für die Entstehung des Seins annahmen. Eine Ausnahme bildete Anaximander mit dem Unendlichkeitsbegriff. Die spätere Philosophie ist auch ein Prozess weg von diesem Monismus gewesen. Gleichzeitig kam es zu einer Entwicklung zu abstrakten Ideen, was die Kosmologie und die Ontologie betrifft. Auch in dieser Beziehung hat die Mathematik gewirkt. Durch sie

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erkannten die Griechen zum ersten Male die Bedeutung von Axiomen für die Wissenschaften. Ebenfalls im fünften Jahrhundert begann man, sich intensiv Gedanken über das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Logik zu machen. Diese beiden Felder gehörten bei den Griechen von Anfang an zusammen. Zugleich wurden in diesem Zeitraum die Grundlagen für Platons Forschungen über Logik gelegt. Aristoteles bildete dann den Höhepunkt dieser Entwicklung. Das war kein Erbe des Sokrates, der sich besonders mit Ethik beschäftige. Die klassischen Teildisziplinen der Philosophie, Logik, Ethik und Physik, blieben trotz Sokrates weiter bestehen. Die Logik, auf die anscheinend als erster Parmenides in einer theoretischen Form reflektiert hat, sollte dann im Laufe der nächsten Generationen eine besondere Bedeutung erhalten. Zu nennen wäre neben Aristoteles die Schule von Megara, von Eukleides, einem Sokratesschüler gegründet, ferner die Stoiker. Die Stoiker haben ab dem dritten Jahrhundert die Forschungen über Logik, besonders die Aussagenlogik, sehr vorangetrieben. Was die Römer betrifft, so haben sie sich bei weitem nicht in diesem Maße mit Logik beschäftigt. Wahrscheinlich nahmen sie an, die Griechen hätten bereits fast alles gesagt. Ferner kam ihnen die Logik nicht entgegen, waren sie doch in erster Linie Praktiker, und die Wissenschaften wie die Jurisprudenz waren primär praktisch ausgerichtet. Aber durch Cicero kam in Rom auch die Erkenntnistheorie zur Geltung, besonders der Skeptizismus der Neuen Akademie. Die Fortschritte der Philosophie allgemein waren besonders auf dem Gebiet der Naturphilosophie, der Metaphysik und der Ethik zu spüren. Ein kosmisches Prinzip, das die Welt geschaffen hatte, wie der Weltgeist des Anaxagoras, war wirklich etwas Neues. Ungeheuer abstrakt, dabei doch sehr anschaulich beschrieben, hat sich dieses Prinzip auch auf spätere Zeiten ausgewirkt. Aristoteles' unbewegter Beweger stand in dieser Tradition. Dies gilt ferner für alle jene Philosopheme, die in irgendeiner Form mit einem abstrakten immateriellen Prinzip rechnen. Der Weg der Philosophie in der Zeit der Klassik ist auch durch eine immer größer werdende Abstraktion charakterisiert. Dies gilt ebenso für die Logik und die Mathematik. Beide Wissenschaften strebten nach Formalisierung und natürlich nach Verallgemeinerung. Man hat in dieser Phase die Bedeutung von Axiomen für alle Wissenschaften erkannt. Es

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gab dabei in Athen heftige Diskussionen um den Wert dieser Axiome. Es standen sich in diesem Kontext zwei Parteien gegenüber: Die eine plädierte für einen Verzicht auf axiomatische Methoden und negierte deren Bedeutung. Die andere hob den Sinn und die fundamentale Wichtigkeit dieser Axiome besonders hervor. Wir können diese Diskussionen noch aus Aristoteles' Metaphysik und aus seinen Zweiten Analytiken erschließen. Aristoteles war sozusagen ein unbedingter Axiomatiker, der seine Position besonders mit Bezug auf den Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten verdeutlicht und vertreten hat. Er hat als erster antiker Philosoph erkannt, dass es neben diesen für alle Wissenschaften und das Denken des Menschen wichtigen Axiomen auch solche gibt, die fachspezifisch sind. Mathematische Axiome wie das Kommutativ – und Distributivgesetz spielen in einer empirischen Wissenschaft eine eher untergeordnete Rolle. Umgekehrt weisen diese empirischen Wissenschaften Axiome auf, die in der Mathematik, der Logik oder in der Physik nicht diese Bedeutung haben. Aristoteles war anscheinend auch der erste, der diesen fachspezifischen Zusammenhang auf die Ethik angewandt hat. Er hat diesen Standpunkt zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik sehr deutlich gemacht. Was die Metaphysik angeht, so gab es auch auf diesem Gebiet Fortschritte. Anaxagoras ist hierfür vielleicht das beste Beispiel. Man hat allerdings in dieser Zeit noch nicht so ganz erkannt, dass sich Sätze über metaphysische oder theologische Sachverhalte nur mit einer sehr relativen Gültigkeit formulieren lassen. Aber gerade wegen dieser Unsicherheit hat die Metaphysik in diesem Zeitraum eine Blüte erlebt – eine Blüte, die sie dann erst wieder im Mittelalter erreichen sollte. Der Begriff der Metaphysik war in der Regel in der Antike etwas weiter als das moderne Verständnis. Das beste Beispiel liefert Aristoteles' Metaphysik. So gehörte die Empirie, die in seiner Erkenntnistheorie eine große Rolle spielte, ebenso zur Metaphysik wie die Untersuchungen zur Substanz in den Büchern Zeta, Eta und Theta des aristotelischen Werkes. Dieses Phänomen hängt auch damit zusammen, dass die Griechen bei der Metaphysik immer die Ontologie mit verstanden haben. Wer sich über Sachverhalte jenseits der Physik im fünften und vierten Jahrhundert äußerte, bezog ebenso die Lehre vom Sein, also die Ontologie, ein.

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Wer wie Aristoteles im Bereich der Metaphysik über Logik und Axiome sprach, signalisierte, dass er von den „letzten Dingen“ einen weiteren Begriff hatte, als das heutzutage der Fall ist. Man kann an diesem Sachverhalt aber noch etwas anderes erkennen: Die Einzeldisziplinen der Philosophie des fünften Jahrhunderts hingen in einer viel stärkeren Art und Weise zusammen, als dies in der Neuzeit, Moderne oder Postmoderne der Fall ist. Wir sind daran gewöhnt, die Logik als eine ganz und gar selbständige Teildisziplin der Philosophie zu betrachten. Wir gehen ferner davon aus, dass die Philosophie als mathematische Philosophie auf die Grundlagen der Mathematik reflektiert. Da war der Beginn des 20.Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Analytischen Philosophie und des logischen Empirismus ganz entscheidend. Ferner ist man heutzutage daran gewöhnt, die Metaphysik unter dem Einfluss dieses logischen Empirismus und des Wiener Kreises als eine mehr oder weniger nicht – empirische Disziplin der Philosophie zu betrachten. Daneben gibt es natürlich die Ethik und die Anthropologie als eigenständige Wissenschaftsbereiche. Alle diese Domänen haben ihre eigenen Methoden und bestätigen insofern das, was bereits Aristoteles über die fachspezifischen Methoden und Ansätze gesagt hat. Die Tradition dieser Verzweigung geht letzten Endes indirekt auf die Antike, unmittelbar aber auf die frühe Neuzeit zurück. Eine nicht unwesentliche Rolle spielten in diesem Kontext die Septem artes liberales in der Spätantike. Da hatte die Logik als Dialektik einen festen Platz im Trivium. Es gab drei Wissenschaften, die dieses Trivium bildeten: die Grammatik, die Rhetorik und die Dialektik. Die anderen Vier, das sogenannte Quadrivium, umfasste vier mathematische Disziplinen: die Arithmetik, die Geometrie, die Musik und die Astronomie. Man kann an diesem Kanon erkennen, dass die Logik noch als Dialektik gehandelt wurde und man sie zu den rhetorischen Künsten rechnete. Sie war in diesem Zusammenhang nicht die klassische Teildisziplin der Philosophie wie im Dreier – Schema des Xenokrates im vierten Jahrhundert. Ferner fällt an diesem Kanon das Fehlen der Mutter der Wissenschaften, der Philosophie, auf. Man könnte diesen Befund so interpretieren, dass die Philosophie alle sieben Teildisziplinen umfasst. Sie ist übergeordnet. Das fünfte Jahrhundert, also die Zeit der Klassik, ist in diesen Kanon ebenfalls eingegangen. Aus dieser Epoche stammt die große Bedeutung der Dialektik, ferner der Rhetorik und ebenso der Musik. Es fällt auf,

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dass die Musik in dieser Liste als mathematische Disziplin gerechnet wird. Das ist die Tradition des Pythagoras und der Pythagoreer. Die Zeit, in der sich die klassische Philosophie der Griechen entwickelte, hat ein Traditionskontinuum hergestellt. Im fünften Jahrhundert wurden vorsokratische Traditionen rezipiert und an den Hellenismus weitergegeben. Die Epoche der Klassik wirkte ihrerseits traditionsbegründend. Sie war zugleich paradigmatisch in dem Sinne, dass sie zeitlose Vorgaben für spätere Zeiten leistete. Erst auf diese Weise konnte ein Klassizismus im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit entstehen. In diesem Zeitraum empfand man die eigenen Leistungen auf dem Gebiet der Literatur gegenüber der Klassik des fünften Jahrhunderts als inferior; man erachtete die klassischen Vorbilder als im Grunde unerreichbar. Der Klassizismus war keine Epoche des Niedergangs, und auch nicht auf allen Gebieten kam es zu einer klassizistischen Haltung. Im Bereich der Mathematik und der Naturwissenschaften, in dem es gegenüber dem fünften Jahrhundert im Hellenismus definitive Fortschritte gab, war man selbstbewusst genug, um die eigenen Leistungen vor dem Hintergrund der Klassik nicht abzuwerten und herunter zu spielen. Beide Epochen hatten in der Antike ihren Eigenwert, beide trugen dazu bei, dass die Errungenschaften auf dem Gebiet der Naturwissenschaften für spätere Zeiten mustergültig werden konnten. Einen Archimedes und seine mathematischen Ergebnisse sowie seine Leistungen auf dem Gebiet der Ingenieurswissenschaften hätte es ohne die Klassik nicht gegeben. Die Wissenschaften, sowohl die theoretischen als auch die empirischen, bauten im Laufe der Zeit aufeinander auf. Es entstand ein Kontinuum, das vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zu den Römern reichte.

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VII. Appendix Texte in Übersetzung zur griechischen Logik, Erkenntnistheorie und Dialektik I.

Vorsokratiker

1.

Xenophanes 1. Vorsokratiker 21 B 34: „Und das Deutliche (Wahre) über die Götter und das, was ich über alles sage, sah noch kein Mensch, und es wird auch keinen geben, der es wissen wird. Denn wenn es jemandem auch in höchstem Maße gelänge, Wahres (Vollendetes) zu sagen, weiß er selbst es gleichwohl nicht. Schein (bloße Meinung) liegt über allem.“ 2. B 35: „Dies soll zwar vermutungsweise als dem Wahren gleichend gelten...“ Oder: „Dies soll zwar als Vermutung gelten, weil es der Wahrheit (nur) gleicht...“

2.

Parmenides 1. Vorsokratiker 28 B 2: „Wohl an, ich will sagen..., welche Wege der Forschung alleine denkbar sind: der eine Weg, dass „ist“ existiert und dass „nicht ist“ nicht existiert, ist der der Überzeugung, denn diese folgt der Wahrheit. Der andere Weg aber, dass es „nicht ist“ gibt und dass Nichtsein notwendig sei, dieser, so sage ich dir, ist gänzlich unerkundbar. Denn weder dürfte man das Nichtexistierende erkennen, da es unerfüllbar ist, noch aussprechen.“ 2. B 3: „Denn dasselbe ist Denken und Sein.“ Oder: „Denn für alles gilt: Gedachtwerden und Sein sind dasselbe.“

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3. B 6: „Denn das Ausgesagt – und Gedachtwerden muss existieren (Oder: Man muss sagen und denken, dass nur das Seiende ist.“ Oder: „Es muss Sagen und Denken vom Seienden geben.“). Denn es gibt Existieren, nichts aber gibt es nicht. Dies befehle ich dir zu bedenken. Dies ist der erste Weg der Untersuchung, von dem ich dich , dann jedoch von diesem Weg, auf dem Sterbliche in ihrer Ahnungslosigkeit (ihrem Nichtwissen) doppelköpfig umherirren. Denn Ratlosigkeit (Hilflosigkeit) steuert in ihrer Brust ihren schwankenden Sinn. Sie aber werden dahin getragen, stumm und blind zugleich, staunend, Horden ohne Urteilskraft, die das Sein und Nichtsein für dasselbe halten und meinen, von allem gebe es einen gegenstrebigen (d.h. in entgegengesetzter Richtung verlaufenden ) Weg.“ 4. B 7: „Denn gewiss kann dies niemals zwingend behauptet werden, dass es Nichtseiendes gebe. Doch du halte von diesem Weg der Forschung deinen Sinn fern und lasse es nicht zu, dass dich die Gewohnheit, entsprungen aus reicher Erfahrung, auf diesen Weg herab zwingt, so dass du dich eines Auges bedienst, das nicht zu schauen vermag, und eines dröhnenden Gehörs und der Sprache (Zunge). Vielmehr beurteile mit der Kraft der Vernunft die viel umstrittene Widerlegung aus meinem Mund.“ 5. B 8, 1-21: „Nur noch eine Kunde vom Weg bleibt, nämlich dass „Ist“ existiert. Auf diesem Wege gibt es gar viele Marken, dass es, weil es nicht entstanden ist, auch unvergänglich ist. Denn es ist ganz und einzig und unerschütterlich und endlos. Es war niemals und wird auch niemals sein, da es jetzt gänzlich zusammen existiert, als Eines und als ein Zusammenhängendes. Denn welchen Ursprung von ihm wirst du suchen? Wie oder woraus soll es gewachsen sein? Wahrlich, ich werde nicht zulassen, dass du sagst oder denkst, [das Sein sei] aus Nichtexistentem [entstanden]. Denn es ist nicht aussprechbar und auch nicht denkbar, dass Nichtsein existiert Welches Bedürfnis hätte es denn auch dazu bewegen sollen, früher oder später zu entstehen, wenn es seinen Anfang aus dem Nichtseienden nahm? Folglich muss es entweder ganz und gar sein oder nicht. Und auch die Macht der Evidenz wird es niemals zulassen, dass etwas neben ihm aus Nichtseiendem entsteht... Es ist oder es ist nicht. Es ist aber nun entschieden worden, sowie es notwendig ist, dass man den

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einen Weg als undenkbar und namenlos beiseite lässt, denn es handelt sich nicht um den wahren Weg, dass der andere hingegen existiert und wirklich ist. Wie aber könnte denn das, was ist, zugrunde gehen? Und wie könnte es entstehen? Denn wenn es entstand, existiert es nicht, und das Gleiche gilt, wenn es jemals entstehen wird. So ist Entstehung ausgelöscht und Vergehen unerfahrbar.“ 3.

Zenon von Elea

Die Paradoxien 1. Vorsokratiker 29 A 25 (=Aristoteles, Physik 239 b ff.): „Es gibt vier Argumente Zenons über die Bewegung, die den Analytikern Probleme bereiten: das erste betrifft die Unmöglichkeit von Bewegung aus dem Grund, weil das, was sich bewegt, erst die Hälfte einer Strecke zurück legen muss, bevor es das Ziel erreicht.“ 1.1 Aristoteles' Kritik an diesem Argument (Physik 233 a 21ff.): „Deswegen ist Zenons Argument, demzufolge es unmöglich sei, eine unendliche Strecke in einer begrenzten Zeit zu durchmessen oder die einzelnen Endpunkte (auf dieser Strecke) zu erreichen, falsch. Denn Länge und Zeit werden in doppelter Weise unendlich genannt – und dies betrifft jedes Kontinuum – entweder bezogen auf die Zeit oder auf die Länge. Eine unendliche Strecke nun lässt sich in einer begrenzten Zeit nicht zurück legen, sehr wohl aber eine unendlich teilbare Strecke in einem begrenzte Zeitraum.“ 2. Vorsokratiker 29 A 26 (=Aristoteles, Physik 239 b 14ff.): „Das zweite Argument trägt den Namen „Achilleus“. Es besagt, dass der Langsamste nie vom Schnellsten eingeholt werden kann. Denn zuvor muss dasjenige, was folgt, den Punkt erreichen, von dem das andere ausging, so dass das Langsamere immer einen Vorsprung besitzt. - Auch dieses Argument beruht wie das erste auf Dichotomie (Teilungen einer Strecke in Abschnitte). Es unterscheidet sich aber dadurch, dass die jeweils hinzukommende Strecke nicht halbiert wird.“

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3. Vorsokratiker 29 A 27 (=Aristoteles, Physik 239 b 30ff.): „Das dritte Argument trägt die Bezeichnung „Der fliegende Pfeil ruht.“ Es basiert auf der Annahme, die Zeit (während der Pfeil fliegt) setze sich aus jeweils gegenwärtigen Abschnitten zusammen (in denen der Pfeil nur einen Raum einnimmt, der mit ihm selbst gleich ist).“ Das heißt, wenn das Objekt immer während seines Fluges nur den mit ihm gleichen Raum ausfüllt, kann es nicht fliegen, sondern muss in diesem Raum ruhen.“ 3.1 Aristoteles, Physik 239 b 5ff.: „Zenon zieht einen Trugschluss. Denn wenn immer, wie er sagt, alles ruht oder sich bewegt [ nichts aber bewegt sich], wenn es den jeweils (mit sich) gleichen Raum einnimmt, das sich Bewegende sich aber immer im jeweils gegenwärtigen Raum befindet, dann sei der fliegende Pfeil unbewegt.“ II.

Die Logik bei den Megarikern

1.

Die Paradoxien

1.1

Das Lügner-Paradox

  Der Kreter Epimenides sagt: „Alle Kreter lügen.“ (Quellen: Cicero, De divinatione 2,4,11. Academica priora 2,49,96.) 1.2

Elektra und der Verhüllte

Du sagst, dass du deinen Bruder kennst. Dieser Mann aber, der gerade mit verhülltem Haupt eintritt, ist dein Bruder, und du erkanntest ihn nicht.“ (Quellen: Lucian, Vitarum auctio 22. Diogenes Laertios 2,108 = Fr.13 Giannantoni (Socraticorum Reliquiae, ed. Gabriele Giannantoni Vol. I, Rom 1983, 53).

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1.3.

Der kahle Mann oder der Haufen (griechisch: Sorites. Lat.: acervalis. Zu Sorites = acervalis vgl. Cicero, De divinatione 2,4,11).

  „Würdest du einen Mann kahl nennen, wenn er nur ein Haar hätte?“ „Ja.“ Würdest du sagen, dass ein Mann kahl sei, wenn er nur zwei Haare hätte?“ „Ja.“ „Würdest du...etc.?“ „Wo legst du dann den Maßstab an?“ (Quellen: Diogenes Laertios 7,82. Cicero, Academica priora 2,49,92ff. Horaz, Epistulae 2,1,45ff. Bei Horaz Anspielung auf den Sorites im Rahmen der Frage, wann man ein Gedicht als „alt“ bezeichnen kann). 1.4.

Der gehörnte Mann

  „Was du nicht verloren hast, besitzt du immer noch. Jetzt hast du aber keine Hörner verloren. Folglich besitzt du Hörner.“ (Quellen: Diogenes Laertios 7,187 = Fr.13 Giannantoni). Literatur zu den Paradoxien: W.Kneale, M.Kneale, The Development of Logic, 113ff. G.Giannantoni, Socraticorum Reliquiae Vol.III, 59ff. B.Russell, Die Philosophie des logischen Atomismus, 23ff. W.V.O.Quine, Von einem logischen Standpunkt, 127ff. R.M.Sainsbury, Paradoxien, 2010. - Zum Lügner-Paradox besonders K.Gödel, Russells mathematische Logik, Xff. 2.

Die Kontroverse zwischen Aristoteles und den Megarikern über den Begriff der Möglichkeit: 1. Aristoteles, Metaphysik Θ 3, 1046b29-1047a7: „Es gibt welche, die wie die Megariker behaupten, Möglichkeit gebe es nur, wenn Tätigkeit stattfinde, wenn aber nicht, gebe es keine Möglichkeit, wie z.B. der, der nicht ein Haus baue, nicht bauen könne, sondern der Hausbauer, wenn er diese Tätigkeit ausübt. Ähnlich verhalte es sich auch mit dem anderen. Es ist nicht schwer, die daraus resultierenden Paradoxien zu erkennen. Denn es ist klar, dass er auch nicht ein Hausbauer sein wird, falls er nicht ein Haus baut, denn ein Hausbauer zu sein, bedeutet, die Fähigkeit 145

zu besitzen, dies zu tun, und ähnlich verhält es sich auch mit den anderen Künsten. Wenn es also unmöglich ist, solche Künste zu haben, ohne sie einst gelernt und bekommen zu haben, und es nicht möglich ist, sie nicht zu haben, ohne sie zu verlieren – sei es durch Vergessen oder ein Leiden oder aufgrund der Zeit, wobei nicht die Sache verschwindet, denn sie existiert immer – falls man eine Pause macht, dann wird man die Kunst nicht haben; wie aber wird man dann erneut bauen können, indem man sie aufgreift? Und im Bereich des Unbelebten verhält es sich ebenso. Denn dann wird es weder Kaltes noch Warmes noch Süßes noch überhaupt etwas Wahrnehmbares geben, wenn man es nicht wahrnimmt. Folglich kommen sie zu dem Punkt, dass sie den Satz des Protagoras verkünden.“ 1047a10-20: „Wenn ferner das der Möglichkeit Beraubte unmöglich ist, dann wird das, was nicht wird, unmöglich werden können. Der aber, der behauptet, es könne das, was nicht werden könne, sein oder werden, der lügt – der Begriff „unmöglich“ bedeutet dies – so dass diese Thesen Bewegung und Entstehung beseitigen. Denn dann wird das, das steht, immer stehen, und das, das sitzt, immer sitzen. Denn falls es sitzt, wird es nicht aufstehen. Unmöglich ist es nämlich, dass jenes aufsteht, was nicht aufzustehen vermag. Wenn man also diese Behauptung nicht aufstellen kann, sind offenbar Möglichkeit (Dynamis) und Tätigkeit (Energeia) etwas Verschiedenes. Jene Behauptungen setzen hingegen Potentialität und Aktualität gleich, weswegen sie auch den Versuch unternehmen, etwas nicht Kleines zu entkräften.“ 2. Boethius, Commentarii in librum Aristotelis De interpretatione, p. 234 Meiser: „Diodorus definiert das Mögliche als das, was entweder ist oder sein wird (quod aut est aut erit), das Unmögliche als dasjenige, das, weil es falsch ist, nicht wahr sein wird (quod cum falsum sit, non erit verum), das Notwendige als das, was, weil es wahr ist, nicht falsch sein wird (quod cum verum sit, non erit falsum), und das Nichtnotwendige als das, das bereits falsch ist oder falsch sein wird (aut iam est aut erit falsum).“ 3. Cicero, De fato 17: Placet igitur Diodoro id solum fieri posse quod aut verum sit aut verum futurum sit. „Diodorus vertritt die

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Ansicht, dies allein sei möglich, was entweder wahr ist oder sein wird.“ III.

Aristoteles, Topik

1,1, 100a18ff.: „Die Absicht der Abhandlung besteht darin, eine Methode zu finden, die uns dazu befähigt, aufgrund von allgemein akzeptierten Anschauungen über jeden Gegenstand schlussfolgernd zu verfahren und selbst, wenn wir Rechenschaft ablegen, keinen Widerspruch zu begehen. Zuerst nun ist dazulegen, was ein Syllogismus ist und welche Unterschiede es gibt, damit der dialektische Syllogismus erfasst wird. Denn diesen suchen wir in der vorliegenden Untersuchung. Der Syllogismus ist ein Argumentationstypus (Logos), in dem unter bestimmten Annahmen mit Notwendigkeit etwas Anderes als diese Annahmen folgt, und zwar aufgrund eben dieser Voraussetzungen. Ein Beweis liegt dann vor, wenn die Schlussfolgerung aus wahren und ersten Prämissen zustande kommt, oder wenn aus solchen Prämissen, deren Kenntnis ihren Anfang aus bestimmten ersten und wahren Prämissen nimmt. Ein dialektischer Syllogismus ist jener, der aufgrund von allgemein akzeptierten Anschauungen stattfindet. Wahr und erste sind jene Sätze, die nicht durch andere Sätze, sondern durch sich selbst überzeugen. Denn im Bereich der Wissensprinzipien ist es unangebracht, nach ihrer Ursache zu fragen, vielmehr hat jedes von ihnen aufgrund seiner selbst Überzeugungskraft zu haben. Allgemein akzeptierte Anschauungen sind solche, die allen oder den meisten oder den weisen Menschen richtig erscheinen, und was die letzte Gruppe betrifft, entweder allen oder den meisten oder denen, die am bekanntesten sind oder die höchste Anerkennung genießen. Eine eristische Schlussfolgerung ist diejenige, die auf scheinbar akzeptierten Anschauungen basiert, die in Wirklichkeit keine sind, wie auch der Syllogismus, der aus akzeptierten oder scheinbar anerkannten Prämissen erfolgt, ein scheinbarer ist. Denn nicht jede Anschauung, die den Anschein vermittelt, generell akzeptiert zu werden, ist auch in Wirklichkeit eine solche. Denn keine dieser allgemein akzeptierten Anschauungen manifestiert zur Gänze auf den ersten Blick ihren Charakter, sowie es der Fall bei den Prinzipien der sophistischen Über-

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legungen ist. Denn bei jenen ist die Natur der Lüge für jene, die imstande sind, auch Kleines (oder: nur Weniges) zu erkennen, auf der Stelle und in den meisten Fällen evident. Die erste der beiden genannten Formen soll eristischer Syllogismus und Syllogismus genannt werden, die zweite zwar eristischer Syllogismus, nicht aber Syllogismus, da in ihm zwar geschlossen zu werden scheint, dies jedoch nicht de facto der Fall ist. Ferner gibt es neben allen aufgeführten Formen von Syllogismen die Paralogismen, die durch die jeweils eigentümlichen Bedingungen bestimmter Wissenschaften zustande kommen, wie es bei der Geometrie und den mit ihr verwandten Disziplinen der Fall ist. Dieser Modus nämlich scheint von den erwähnten Syllogismen verschieden zu sein. Denn derjenige, der sich einer falschen Figur bedient, schließt weder aus wahren und ersten Prämissen noch aus allgemein akzeptierten Anschauungen. Die Ausgangsbasis des Paralogismus fällt nämlich nicht unter den Begriff dieser letzteren Anschauungen. Weder nimmt der Betreffende etwas an, das allen Menschen so erscheint, noch das, was von den meisten, noch, was von den Weisen akzeptiert wird, und im Bereich der letzten Gruppe weder von allen noch den meisten noch den berühmtesten. Seine Ausgangsbasis für seine Schlussfolgerung sind vielmehr Annahmen, die für die betreffende Wissenschaft charakteristisch, nicht jedoch wahr sind. Dadurch nämlich, dass der Betreffende die Halbkreise anders zeichnet, als man es darf, oder dadurch, dass er bestimmte Linien anders zieht, als sie gezogen werden dürfen, bringt er den Paralogismus zustande. Von dieser Art seien also, um es skizzenhaft zu sagen, die Formen der Syllogismen. Um es generell auszudrücken: Über alle vorgenommenen Definitionen und die folgenden soll nur bis zu diesem Grad der Genauigkeit eine Bestimmung erfolgt sein, weil wir nicht die Absicht haben, von einer dieser definierten Formen eine genaue Formulierung zu geben. Vielmehr intendieren wir eine summarische Diskussion dieser Begriffe, weil wir es für ganz und gar hinreichend halten, wenn man auf der Grundlage der zugrundeliegenden Methode und Untersuchung in der Lage ist, jeden dieser Begriffe auf die eine oder andere Weise zu erkennen.“ 1,2.101a25ff.: „Nach diesen Bemerkungen dürfte es angemessen sein zu sagen, für wie viele und welche Zwecke die gegenwärtige Untersuchung nützlich ist.

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Sie dient drei Zwecken: dem geistigen Training, den Gesprächen und dem philosophischen Erkenntnisgewinn. Dass sie von Nutzen für das geistige Training ist, ist aufgrund ihrer natürlichen Beschaffenheit evident. Denn wenn wir erst die Methode besitzen, werden wir imstande sein, leichter zum jeweils anstehenden Thema Argumente zu entwickeln. Mit Bezug auf die Gespräche ist sie nützlich, weil wir uns auf der Basis eines Katalogs der Meinungen der Vielen nicht mittels ihnen fremder, sondern bekannter Meinungen mit ihnen unterhalten werden, indem wir den Versuch unternehmen, sie von jenen Behauptungen abzubringen, die uns nicht richtig erscheinen. Bezogen auf den philosophischen Erkenntnisgewinn zeigt sie sich von Nutzen, weil wir durch die Fähigkeit, eine Aporie in beiden Richtungen zu entwickeln, leichter auf jedem Gebiet die Wahrheit und die Lüge erkennen werden. Ferner ist diese Untersuchung von Vorteil mit Bezug auf die ersten Begriffe (Prinzipien) jeder einzelnen Wissenschaft. Aufgrund der Prinzipien, die für die zur Diskussion stehende Wissenschaft gelten, ist es unmöglich, etwas über sie zu sagen, da die Prinzipien von allem die ersten sind. Es ist folglich notwendig, mittels der allgemein über die jeweiligen Prinzipien akzeptierten Anschauungen in eine Erörterung über sie einzutreten. Dies aber ist charakteristisch oder zumindest am eigentümlichsten für die Dialektik. Denn da sie eine Kunst der Prüfung darstellt, besitzt sie Zugang zu den Prinzipien aller Disziplinen.“ 1,3.101b5ff.: „Wir werden im vollständigen Besitz der Methode sein, wenn wir am gleichen Punkt wie bei der Rhetorik, der Medizin und den anderen gleichartigen Fähigkeiten ankommen. Weder nämlich wird der Rhetor auf jede Weise Überzeugung erzeugen noch der Arzt heilen, sondern dann, wenn er keine der vorhandenen Möglichkeiten außer Acht lässt, werden wir behaupten, er besitze seine Wissenschaft in hinreichendem Maße.“ 1,4.101b11ff.: „Zuerst also haben wir zu schauen, aus welchen Elementen die beschriebene Methode besteht. Wenn wir folglich bestimmen können, auf wie viele und welche Objekte sich die Überlegungen beziehen und welche Elemente sie konstituieren, ferner, wie wir uns dieser in hinreichender Zahl versichern können, dürfte unsere Aufgabe hinreichend erfüllt sein.

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Es gibt eine numerische und natürliche Gleichheit zwischen den Elementen, aus denen diese Überlegungen bestehen, und den Gegenständen der Syllogismen. Diese Überlegungen entstehen nämlich aufgrund von Prämissen. Die Objekte der Syllogismen dagegen sind die Probleme. Jede Prämisse und jedes Problem offenbart entweder eine Gattung oder ein Spezifikum oder ein Akzidenz. Auch die Differenz, die zum Bereich der Gattung gehört, hat man unter dieselbe Kategorie wie die Gattung zu zählen. Da es aber Kennzeichen des einen Spezifikum ist, die Essenz des Gegenstandes zu bezeichnen, ein anderes aber dies zu leisten nicht imstande ist, soll das Spezifikum in die beiden genannten Teile differenziert werden, und es soll jener Begriff, der die Essenz bezeichnet, „Definition“ heißen. Der zweite jedoch möge gemäß der für beide üblichen gemeinsamen Bezeichnung „Spezifikum“ genannt werden. Aufgrund des Gesagten wird nun klar, dass nach der gegenwärtigen Einteilung vier Begriffe im Ganzen zustande kommen: das Spezifikum, die Definition, die Gattung und das Akzidenz. Niemand soll aber annehmen, wir behaupteten, dass jeder dieser genannten Begriffe an sich schon Prämisse oder Problem darstellt, sondern wir meinen dies so, dass von diesen die Probleme und Prämissen ihren Ausgang nehmen. Das Problem und die Prämisse unterscheiden sich durch die Ausdrucksweise voneinander. Formuliert man nämlich so: “Ist 'auf dem Land lebendes, zweifüßiges Lebewesen' die Definition des Menschen?“ und: „Ist Lebewesen die Gattung von Mensch?“, so entsteht eine Prämisse. Falls man aber fragt: „Ist 'das auf dem Land lebende, zweifüßige Lebewesen' die Definition des Menschen oder nicht?“, kommt es zum Problem. Genauso verhält es sich mit den anderen Begriffen. Folglich ist es evident, dass die Probleme und die Prämissen der Zahl nach gleich sind. Denn aus jeder Prämisse lässt sich ein Problem formulieren, wenn man den einen Ausdruck durch den anderen ersetzt.“ IV.

Aristoteles, Sophistici Elenchi (Sophistische Widerlegungen)

1,1.164a20ff.: „Wir wollen über die sophistischen Widerlegungen und die scheinbaren, die in Wirklichkeit Paralogismen (Trugschlüsse), keine Widerlegungen sind, sprechen, indem wir gemäß der Natur mit dem ersten beginnen.

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Klar ist nun, dass die einen Syllogismen sind, die anderen aber nur so erscheinen. Denn wie dieses Phänomen auch in den anderen Bereichen aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit eintritt, so verhält es sich auch bei den Reden. Denn die eine Gruppe ist bezüglich ihres Zustandes und ihrer Haltung in einer guten Disposition, die andere erweckt den Anschein, indem sie sich nach Art Stammesangehöriger aufblasen und aufputzen, und die einen sind schön aufgrund ihrer Schönheit, die anderen scheinen es zu sein, indem sie sich selbst verschönern. Im Bereich der unbelebten Natur steht es genauso. Denn auch hierbei ist das eine wirklich Silber und Gold, das andere hingegen ist es nicht, erweckt aber durch die Wahrnehmung den Anschein, wie das Bleimonoxyd und das Zinn silbern, die gelb gefärbte Farbe golden wirkt. In der gleichen Weise handelt es sich beim einen um einen Syllogismus und eine Widerlegung, beim anderen nicht, letzterer aber erweckt wegen der Unerfahrenheit den Anschein. Denn die Unerfahrenen betrachten die Angelegenheit wie aus großer Entfernung. Denn der Syllogismus besteht aus bestimmten Prämissen, so dass man mit Notwendigkeit etwas Anderes als die Voraussetzungen durch eben diese Voraussetzungen formuliert. Die Widerlegung ist ein Syllogismus in Verbindung mit der Negation der Schlussfolgerung. Die Erwähnten tun dies aber nicht, sie scheinen es nur wegen vieler Ursachen zu tun. Ein Topos unter ihnen, der durch die Begriffe zustande kommt, ist der anmutigste und gängigste. Denn da es nicht möglich ist, ein Gespräch zu führen, indem man die Gegenstände selbst vorbringt, sondern wir anstelle der Gegenstände uns der Begriffe wie Symbole bedienen, nehmen wir an, das, was sich im Bereich der Begriffe ereigne, trete auch im Bereich der Gegenstände ein, sowie bei den Rechensteinen es denen passiere, die rechnen. In Wirklichkeit besteht jedoch keine Gleichheit. Denn die Zahl der Begriffe und die der Wörter sind begrenzt, die Ereignisse (und Gegenstände) sind numerisch unendlich. Es ist folglich notwendig, dass das gleiche Wort und ein Begriff mehreres bezeichnen. Wie nun auch dort diejenigen, die des Rechnens unkundig sind, von den Kundigen getäuscht werden, so ziehen auch im Bereich der Wörter die, die der Möglichkeiten der Begriffe unkundig sind, falsche Schlüsse, wenn sie sich selbst unterhalten und wenn sie anderen zuhören. Aufgrund dieser und der im folgenden genannten Ursachen gibt es einen scheinbaren Syllogismus und eine dementsprechende Widerlegung, die in Wirklich-

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keit keine sind. Da es aber für einige von größerem Nutzen ist, wenn sie weise zu sein scheinen als zu sein und nicht zu scheinen – denn die sophistische Kunst ist eine Scheinweisheit, keine wirkliche, und der Sophist ist ein Geldmacher mittels scheinbarer Weisheit, nicht wirklicher – ist klar, dass für diese eher die Notwendigkeit besteht, auch die Tätigkeit des Weisen scheinbar auszuführen als dies wirklich zu tun und nicht den Anschein zu erwecken. Es ist nun, um es im Detail zu sagen, bei jeder Betätigung Kennzeichen des Wissenden, nicht in dem, was er weiß, zu lügen, den aber, der lügt, sichtbar zu machen. Diese Fähigkeiten beruhen darauf, dass man einerseits in der Lage ist, Rechenschaft zu geben, andererseits eine solche erhält. Notwendigerweise werden also die, die sich sophistisch betätigen wollen, die Art der genannten Reden suchen. Denn dies ist von Nutzen. Eine derartige Fähigkeit wird nämlich den Anschein erwecken, dass sie in dem Bereich weise sind, für den sie sich gerade entscheiden. Dass es nun eine solche Art von Reden gibt und dass die, die wir Sophisten nennen, nach einer solchen Fähigkeit streben, ist offenbar. Wie viele Formen es von den sophistischen Reden gibt, und aus wie vielen Elementen diese Fähigkeit besteht und wie viele Teile die Abhandlung umfasst sowie über die anderen Komponenten, die diese Kunst vollenden, wollen wir nun reden.“ 1,2.165a38ff.: „Von den Reden, die im Bereich des Dialogs anzusiedeln sind, gibt es vier Arten, die didaktischen, die dialektischen, die prüfenden und die eristischen. Didaktisch sind jene, deren Schlussfolgerungen auf den spezifischen Prinzipien eines jedes Wissensgebietes und nicht auf Meinungen des Antwortenden beruhen – der Lernende muss nämlich Vertrauen haben -, dialektisch sind solche, die imstande sind, aus allgemein akzeptierten Anschauungen Schlüsse auf die Negation zu ziehen. Prüfend sind die Reden, deren Schlussfolgerungen aus den Prämissen erfolgen, die dem Antwortenden richtig zu sein scheinen und für den, der den Anspruch erhebt, das Wissen zu besitzen, notwendigerweise zu wissen sind. Wie dies geschieht, ist an anderer Stelle definiert worden. Eristisch aber sind jene Reden, die aus den scheinbaren, nicht wirklichen allgemein akzeptierten Anschauungen schlussfolgern, und zwar zum Syllogismus geeignet oder auch nur scheinbar syllogistisch. Über die beweisenden Syllogismen nun wurde in den Analytika gesprochen, über die dialektischen und prüfenden an anderer Stelle. Über die

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im Wettstreit sich entfaltenden und die eristischen wollen wir jetzt reden.“ 1,3.165b12ff.: „Zunächst nun müssen wir feststellen, wie viele Zwecke die, die sich in den Reden streiten und durch und durch streitsüchtig sind, verfolgen. Der Zahl nach sind es fünf, Widerlegung, Lüge, das Paradoxe, unkorrekte Redeweise (Soloikismen) und schließlich die Absicht, den Gesprächspartner zur Geschwätzigkeit zu bringen – diese besteht darin, oft gezwungen zu werden, dasselbe zu sagen – oder jenes, das es zwar nicht ist, jedoch den Anschein erweckt, jeder einzelne dieser Zwecke zu sein. Denn am meisten bevorzugen sie es, den Anschein der Widerlegung zu erwecken, zweitens, mittels einer Lüge etwas zu beweisen, drittens (den Dialog) zu einem Paradox zu bringen, zum vierten, unkorrekte Redeweisen zu erzeugen. Dies besteht darin, dass man den Antwortenden dazu veranlasst, aufgrund seiner Rede unkorrekt zu sprechen. Der letzte Zweck aber ist die häufige Wiederholung.“ 1,4. 165b23ff.: „Von der Widerlegung gibt es zwei Formen: die eine findet gemäß der Redeweise und des Stils, die andere außerhalb dieser statt. Die Mittel, die gemäß der Redeweise die Vorstellung erzeugen, sind sechs an der Zahl: Homonymie, Amphibolie (doppeldeutige Redeweise), Synthese, Dihairese, Betonung, Form der Darstellung. Die Überzeugung, die daraus resultiert, kommt durch Induktion und durch Syllogismus zustande, ferner, wenn man einen anderen Schluss hinzunimmt und weil wir auf so viele Weisen durch die gleichen Wörter und Begriffe nicht dasselbe zeigen. Entsprechend der Homonymie kommen Reden von solcher Qualität zustande: die Wissenden lernen, denn die, die sich mit Grammatik beschäftigen, lernen das, was diktiert wird. Denn das Wort „lernen“ wird homonym verwendet, im Sinne von „verstehen, indem man sich des Wissens bedient“ und in der Bedeutung „Wissen erlangen“. Und ferner die Behauptung, das Schlechte sei gut. Denn das Notwendige ist gut, das Schlechte aber ist notwendig. Denn das Notwendige ist doppelt und das Nötige, das oft auch im Bereich des Schlechten eintritt. Denn es gibt ein notwendiges Schlechtes, und das Gute nennen wir notwendig. Ferner die Behauptung, dass derselbe sitze und stehe und krank und gesund sei. Denn der, der aufstehe, stehe, und derjenige, der gesund werde, sei gesund. Es stand aber der Sitzende auf, und es wurde der Kranke ge-

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sund. Denn die Redeweise, dass der Kranke irgend etwas tue oder erleide, bedeutet nicht ein und dasselbe, sondern einmal die Tatsache, dass der jetzt Kranke (etwas tue oder erleide), ein andermal meint man den, der früher krank war. Gesund aber ist nicht ein Krankender, sondern der Kranke, nicht, der jetzt so ist, sondern der, der früher krank war.“ […] 166b21ff.: „Von den Trugschlüssen außerhalb der Darstellung gibt es sieben Formen: die eine beim Akzidenz, zweitens, wenn etwas generell oder nicht allgemein, sondern mit den Kategorien irgendwie, irgendwo, irgendwann oder bezogen auf etwas ausgesagt wird, drittens, wenn um die Widerlegung Unkenntnis herrscht, viertens im Bereich der Schlussfolgerung, fünftens, indem man die zu Beginn gemachte Annahme als erwiesen verwendet, sechstens, wenn man das, was nicht ursächlich ist, als Ursache ansetzt, siebtens, indem man mehrere Fragestellungen zu einer verkürzt. Die Trugschlüsse, die im Bereich des Akzidentiellen anzusiedeln sind, treten dann ein, wenn man behauptet, irgendeine Qualität liege in gleicher Weise dem Gegenstand und dem Akzidenz zugrunde. Da nämlich demselben Vieles zukommt, besteht keine Notwendigkeit, dass all dem Ausgesagten und dem, wovon es ausgesagt wird, dasselbe alles zugrunde liegt. Zum Beispiel: „Wenn Koriskos etwas vom Menschen Verschiedenes ist, ist er selbst von sich verschieden. Denn er ist ein Mensch.“ Oder wenn jemand von Sokrates verschieden ist, Sokrates aber Mensch ist, man behauptet zuzugeben, er sei vom Menschen verschieden, weil es zutrifft, dass der, von dem man ihn verschieden bezeichnete, ein Mensch ist. Die Trugschlüsse, die anzutreffen sind, wenn „dies“ oder „wie“ generell und nicht im speziellen Sinne ausgesagt wird, treten dann auf, wenn man das vereinzelt Gesagte für allgemein Gesagtes nimmt, wie zum Beispiel, dass, wenn das nicht Seiende etwas ist, das in den Bereich der Meinung gehört, das nicht Seiende existiert. Denn nicht sind das Sein von etwas Bestimmtem und Sein an sich dasselbe. Oder umgekehrt, dass das Sein nicht seiend ist, wenn es nicht etwas des Seienden ist, wie zum Beispiel, wenn es nicht Mensch ist. Denn wenn etwas nicht etwas Bestimmtes ist und Nichtsein an sich sind nicht dasselbe. Es hat den Anschein, als wenn aufgrund der sprachlich einander nahe stehenden

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Formulierungen auch zwischen dem etwas Sein und dem Sein nur ein kleiner Unterschied besteht. […] Die Trugschlüsse aber, die mit der fehlenden Differenzierung, was ein Syllogismus oder was eine Widerlegung ist, zu tun haben, kommen auf andere Weise gemäß der Auslassung in der Rede zustande. Eine Widerlegung ist nämlich die Negation desselben und einen, nicht eines Namens, sondern einer Sache, und eines nicht synonymen, sondern desselben Namens, aufgrund der notwendigen Voraussetzungen, wobei die Ausgangsannahme nicht mitgezählt wird, gemäß desselben Gegenstandes und mit Bezug auf dasselbe und in der gleichen Weise und in der gleichen Zeit. Auf die gleiche Weise findet auch die Lüge über etwas statt. Einige aber erwecken, indem sie eine der genannten Bedingungen weglassen, den Anschein zu widerlegen, wie zum Beispiel mit der Behauptung, dass dasselbe doppelt und nicht doppelt sei. Denn die Zwei ist das Doppelte der Eins, von der Drei aber nicht das Doppelte. Oder wenn dasselbe das Doppelte und nicht das Doppelte desselben ist, aber nicht gemäß demselben. Gemäß der Länge nämlich ist es doppelt, der Breite nach hingegen nicht doppelt. […] 167b1ff.: Die Widerlegung, die mit der Schlussfolgerung zu tun hat, kommt zustande, weil man annimmt, die Konklusion lasse sich umkehren. Denn immer wenn aufgrund des einen mit Notwendigkeit das andere ist, meinen sie, es sei mit Notwendigkeit auch das andere (d.h. das erste), wenn dieses der Fall ist. Daher rühren auch im Bereich der Meinung die trügerischen Eindrücke aufgrund der Sinneswahrnehmung. Denn oft setzen sie die Galle mit Honig gleich, weil der Honig die gelbe Farbe nach sich zieht. Und da es zutrifft, dass die Erde, wenn es regnet, nass ist, nehmen wir an, es regne, wenn sie nass ist. Das ist aber nicht notwendig. Und auch in den Reden erfolgen die Beweise auf der Basis eines Indizes aus den Konsequenzen. Denn wenn sie zeigen wollen, dass jemand ein Ehebrecher ist, greifen sie die Konsequenz auf, dass er nämlich ein Dandy sei oder dass er des Nachts spazierend beobachtet wurde. Für Viele trifft dies aber zu, das Ausgesagte hingegen nicht. Ähnlich verhält es sich auch bei den schlussfolgernden Überlegungen, wie zum Beispiel der Logos des Melissos behauptet, dass das

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Ganze unendlich sei, unter der Annahme, das Ganze sei nicht geworden, denn aus nicht Seiendem könne nichts werden. Das, was entstehe, entstehe aus einem Prinzip. Wenn das Ganze also nicht geworden sei, habe es kein Prinzip, so dass es unendlich sei. Es ist aber nicht notwendig, dass dies eintritt. Denn nicht ist, wenn jedes Entstehende ein Prinzip hat und wenn etwas ein Prinzip hat, etwas geworden, sowie auch nicht, wenn der Fiebernde heiß ist, auch der Heiße notwendigerweise fiebert.“

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Die Philosophie der Griechen zur Zeit der Klassik

   ie vorliegenden Studien zur Philosophie der Griechen    zur Zeit der Klassik sollen eine Lücke schließen. Zwar gibt es eine enorme Zahl an Forschungsliteratur zu einzelnen Philosophen wie Anaxagoras, Parmenides, Demokrit, Sokrates und natürlich Platon und Aristoteles – nicht zu vergessen die Logik der Megariker mit ihren Paradoxien, die bis in die moderne Mathematik weiterwirkt. Es fehlt jedoch eine umfassende Darstellung der klassischen griechischen Philosophie.   Die Studien sind historisch und systematisch angelegt. Es geht in ihnen um den Begriff der Klassik und die Chronologie derselben, ferner um die klassischen Teildisziplinen Ontologie, Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik. Darüber hinaus werden große Entwicklungslinien dieser Epoche der Philosophie thematisiert und Konstanten aufgezeigt. Die einschlägigen Texte der namhaftesten Philosophen werden in Übersetzung geboten, um den Zugang zu erleichtern. Dies gilt ebenso für die Appendizes mit Texten in Übersetzung zur griechischen Logik, Erkenntnistheorie und Dialektik.

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