Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes: Eine vergleichende Analyse von 'The Elements of Law', 'De Cive' und den englischen und lateinischen Fassungen des 'Leviathan' 9783110209983, 9783110203141

The goal of this book is to compare the various versions of Thomas Hobbes' famous and influential theory of the sta

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German Pages 617 [620] Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie
3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes
4. Die Herleitung des ‚state of war‘
5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘
6. Die natürlichen Gesetze
7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie
8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand
9. Schlussbetrachtung
Backmatter
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Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes: Eine vergleichende Analyse von 'The Elements of Law', 'De Cive' und den englischen und lateinischen Fassungen des 'Leviathan'
 9783110209983, 9783110203141

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Daniel Eggers Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes



Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante

Band 84

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes Eine vergleichende Analyse von The Elements of Law, De Cive und den englischen und lateinischen Fassungen des Leviathan von

Daniel Eggers

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020314-1 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Meinen Eltern

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im April 2007 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Sie ist das Ergebnis einer fortgesetzten Beschäftigung mit der Hobbes’schen Theorie, die ohne die Unterstützung zahlreicher Personen nicht in dieser Form möglich gewesen wäre. Mein besonderer Dank gilt Professor Kurt Bayertz, der meine Doktorarbeit betreut und mich in den vergangenen Jahren in jeder nur wünschenswerten Weise unterstützt und gefördert hat. Ich danke auch Professor Ludwig Siep, der als Ko-Referent der Arbeit fungiert und sich auch bei anderen Gelegenheiten als Gutachter zur Verfügung gestellt hat. Mein Dank gilt zudem Ulrike Kleemeier, in deren Hauptseminar zum Leviathan meine eingehendere Beschäftigung mit der Hobbes’schen Theorie ihren Anfang genommen hat und die erheblichen Anteil daran hat, dass es letztlich nicht bei einer bloßen Hauptseminararbeit geblieben ist. Der erste Entwurf zu ungefähr einem Sechstel der vorliegenden Arbeit ist im Jahr 2005 während eines Studienaufenthalts in Cambridge entstanden. Ich danke Annabel Brett und Richard Serjeantson, die mich im Rahmen des Master-Studiengangs in Political Thought and Intellectual History als Supervisoren betreut haben und auf deren Hilfe ich seither auch in zahlreichen anderen Zusammenhängen zählen konnte. Bedanken möchte ich mich auch bei Quentin Skinner, von dessen Vorlesungen „Thomas Hobbes and the English Revolution“ meine Arbeit in vielerlei Hinsicht profitiert hat. Für ihre Bereitschaft, meine Arbeit zu betreuen, danke ich außerdem Raymond Geuss und David Runciman. Der Bibliothek der Universität Cambridge und den Mitarbeitern im Rare Books Room danke ich für die Möglichkeit, wiederholt auf Erstausgaben der englischen und der lateinischen Fassung des Leviathan zurückgreifen zu können. Die Abfassung der restlichen Teile der vorliegenden Arbeit wurde gefördert durch ein Promotionsabschlussstipendium der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Für die Bewilligung dieses Stipendiums danke ich der Kommission für Forschung, Forschungsförderung und Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses der Westfälischen Wilhelms-Universität. Dem Verlag Walter de Gruyter und den Herausgebern Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler und Jens Halfwassen danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“. Gertrud Grün-

VIII

Danksagung

korn und Claudia Hill danke ich für ihre freundliche Betreuung und ihre Hilfbereitschaft. Wilfried Hinsch danke ich für seine Vermittlung und seine hilfreiche Kritik. Ein besonderer Dank gilt meinen Freunden und Freundinnen, die in den vergangenen Jahren auf verschiedenste Weise an meiner Arbeit Anteil genommen haben: Ich danke Oliver Konen und Patricia Gozalbez Canto, Andreas Steinbrück, Chatharina Busse-Dolfen, Anne Bußmann, Mario Brinkmann, Daniel Wichmann sowie Steve Keen und Giedre Motuzaite Matuzeviciute. Der größte Dank gilt meinen Eltern, Theodor und Gisela Eggers, denen ich nicht nur meine ersten Begegnungen mit der Sphäre der praktischen Vernunft verdanke, sondern ohne deren fortgesetzte Unterstützung auch weder der Studienaufenthalt in Cambridge noch die Durchführung der Promotion möglich gewesen wären. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Ibenbüren, im Januar 2008

Daniel Eggers

Siglenverzeichnis Werke von Hobbes C = =

DC = =

DDC = =

DH = =

E = =

EDC = =

Considerations Hobbes, Thomas (1680): Considerations upon the Reputation, Loyalty, Manners & Religion of Thomas Hobbes of Malmsbury. Written by Himself By way of Letter to a Learned Person. London. De Cive Hobbes, Thomas (1983): De Cive. The latin version entitled in the first edition Elementorum Philosophiae Sectio Tertia De Cive and in later editions Elementa Philosophica De Cive. A critical edition by Howard Warrender. Oxford. Deutsche Übersetzung De Cive Hobbes, Thomas (1994c): Vom Bürger. In: Hobbes: Thomas: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick. Hamburg. S.57-327. De Homine Hobbes, Thomas (1658): Elementorum Philosophiae Sectio Secunda De Homine. London.

The Elements of Law Hobbes, Thomas (1969): The Elements of Law Natural and Politic. Edited with a Preface and Critical Notes by Ferdinand Tönnies. Second Edition with a new Introduction by M. M. Goldsmith. London. Englische Übersetzung De Cive Hobbes, Thomas (1998): On the Citizen. Edited and translated by Richard Tuck and Michael Silverthorne. Cambridge.

X EL = = LL = = PL = =

VL = =

Siglenverzeichnis

Englischer Leviathan Hobbes, Thomas (1651): Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-wealth Ecclesiasticall and Civill. London. Lateinischer Leviathan Hobbes, Thomas (1668): Leviathan, sive De Materia, Forma, & Potestate Civitatis Ecclesiasticae et Civilis. Amsterdam. Prose Life Hobbes, Thomas (1994a): The Prose Life. In: Hobbes, Thomas: The Elements of Law, Natural and Politic. Edited and with an Introduction and Notes by J.C.A. Gaskin. Oxford. S.245-253. Verse Life Hobbes, Thomas (1994b): The Verse Life. In: Hobbes, Thomas: The Elements of Law, Natural and Politic. Edited and with an Introduction and Notes by J.C.A. Gaskin. Oxford. S.254-264.

Werke anderer klassischer Autoren P = =

Pol. = =

Refl. = =

Politeia Platon (1958): Politeia. In: Platon: Sämtliche Werke. Bd. 3: Phaidon. Politeia. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg. S.67-310. Politik Aristoteles (1958): Politik. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen und Registern versehen von Eugen Rolfes. Hamburg. Reflexionen Kant, Immanuel (1934): Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd.XIX. Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlaß. Sechster Band: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie. Berlin; Leipzig.

Siglenverzeichnis

RS = =

TT = = ZeF = =

Religionsschrift Kant, Immanuel (1914): Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd.VI. Erste Abtheilung: Werke. Sechster Band: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Berlin. Two Treatises Locke, John (1988): Two Treatises of Government. Edited with an introduction and notes by Peter Laslett. Cambridge. Zum ewigen Frieden Kant, Immanuel (1923): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd.VIII. Abhandlungen nach 1781. Berlin; Leipzig. S.341-386.

XI

Inhaltsverzeichnis Danksagung.............................................................................................................. VII Siglenverzeichnis ..................................................................................................... IX 1.

Einleitung...................................................................................................... ... 1

2.

Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie....................................................................................................... 9 2.1 The Elements of Law .................................................................................. 9 2.2 De Cive ..................................................................................................... 13 2.3 Die englische Fassung des Leviathan .................................................. . 15 2.4 Die lateinische Fassung des Leviathan ................................................ 17 2.5 Die Theorie des menschlichen Naturzustandes im Argumentationszusammenhang der verschiedenen Schriften ........ 20

3.

Das Konzept des menschlichen Naturzustandes.................................... 24 3.1 Einleitung ............................................................................................... 24 3.2 Das grundlegende Konzept: Die Opposition von Naturzustand und bürgerlicher Gesellschaft ............................................................. 27 3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes.................................. 29 3.4 Sozialer Atomismus? ............................................................................. 39 3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘ ................................................................ . 42 3.6 Zur Vernünftigkeit der Hobbes’schen Individuen .......................... 52 3.7 Zusammenfassung ................................................................................ 56

4.

Die Herleitung des ‚state of war‘ ............................................................... 60 4.1 Einleitung ............................................................................................... 60 4.2 The Elements of Law ................................................................................ 69 4.2.1 Zu den Ursachen des naturzuständlichen Konflikts .................... 69 4.2.2 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen ......................................................................... 76

XIV

Inhaltsverzeichnis

4.3 De Cive ..................................................................................................... 79 4.3.1 Zu den Ursachen des naturzuständlichen Konflikts .................... 79 4.3.2 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen ........................................................................ 86 4.4 Die englische Fassung des Leviathan ................................................... 87 4.4.1 Zu den Ursachen des naturzuständlichen Konflikts .................... 87 4.4.2 Der ‚Krieg aller gegen alle‘ und die Voraussetzung der Güterknappheit ................................................................................ . 100 4.4.3 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen ...................................................................... 104 4.5 Die lateinische Fassung des Leviathan .............................................. 111 4.5.1 Zu den Ursachen des naturzuständlichen Konflikts .................. 111 4.5.2 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen ....................................................................... 115 4.6 Zusammenfassung .............................................................................. 116 5.

Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘ .............................................................................................................. 121 5.1 Einleitung ............................................................................................. 121 5.2 The Elements of Law .............................................................................. 131 5.2.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung ........................................................................... 131 5.2.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ ............. 140 5.3 De Cive ................................................................................................... 147 5.3.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung ........................................................................... 147 5.3.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ ............. 155 5.3.3 Zur vermeintlichen Widersprüchlichkeit des ‚Rechts aller auf alles‘ .............................................................................................. 158 5.4 Die englische Fassung des Leviathan ................................................ . 165 5.4.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung ........................................................................... 165 5.4.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ ............. 179 5.5 Die lateinische Fassung des Leviathan .............................................. 185 5.5.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung ........................................................................... 185 5.5.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ ............. 188 5.6 Zusammenfassung .............................................................................. 190

Inhaltsverzeichnis

6.

XV

Die natürlichen Gesetze ........................................................................... 198 6.1 Einleitung ............................................................................................. 198 6.1.1 Die Debatte um die Hobbes’sche Naturgesetzlehre und die ‚Taylor-Warrender-These‘ ............................................................... 198 6.1.2 Die traditionelle Lesart (Teil 1) ...................................................... 201 6.1.3 Alfred Taylor ..................................................................................... 203 6.1.4 Howard Warrender .......................................................................... 205 6.1.5 F. C. Hood - K.-M. Kodalle - A. P. Martinich ............................ 208 6.1.6 Die traditionelle Lesart (Teil 2) ...................................................... 213 6.1.7 Die natürlichen Gesetze als strikt verpflichtende säkulare Moralgesetze ...................................................................................... 223 6.1.8 Die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen als tugendethische Theorie................................................................... 230 6.2 The Elements of Law .............................................................................. 236 6.2.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur ................................. 236 6.2.2 Die weiteren Naturgesetze .............................................................. 242 6.2.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze .............................. 251 6.2.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre ............................................................................... 277 6.3 De Cive ................................................................................................... 283 6.3.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur ................................. 283 6.3.2 Die weiteren Naturgesetze .............................................................. 291 6.3.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze .............................. 299 6.3.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre .............................................................................. . 315 6.4 Die englische Fassung des Leviathan ................................................ . 319 6.4.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur ................................. 319 6.4.2 Die weiteren Naturgesetze .............................................................. 326 6.4.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze .............................. 334 6.4.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre .............................................................................. . 358 6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan .............................................. 362 6.5.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur ................................. 362 6.5.2 Die weiteren Naturgesetze .............................................................. 364 6.5.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze .............................. 369 6.5.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre .............................................................................. . 378 6.6 Zusammenfassung .............................................................................. 379

XVI

7.

Inhaltsverzeichnis

Die Hobbes’sche Vertragstheorie ........................................................... 397 7.1 Einleitung ............................................................................................. 397 7.2 The Elements of Law .............................................................................. 402 7.2.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre ..................................................... 402 7.2.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen ..................... 415 7.3 De Cive ................................................................................................... 429 7.3.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre ..................................................... 429 7.3.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen ..................... 438 7.4 Die englische Fassung des Leviathan ................................................ . 447 7.4.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre ..................................................... 447 7.4.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen ..................... 478 7.5 Die lateinische Fassung des Leviathan .............................................. 490 7.5.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre ..................................................... 490 7.5.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen ..................... 500 7.6 Zusammenfassung .............................................................................. 504

8.

Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand .................. 514 8.1 Einleitung ............................................................................................. 514 8.2 The Elements of Law .............................................................................. 519 8.2.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse .................................................................. . 519 8.2.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand ............................................ 524 8.3 De Cive ................................................................................................... 529 8.3.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse .................................................................. 529 8.3.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand ............................................ 533 8.4 Die englische Fassung des Leviathan ................................................ . 538 8.4.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse .................................................................. 538 8.4.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand ............................................ 542 8.5 Die lateinische Fassung des Leviathan .............................................. 548 8.5.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse .................................................................. 548 8.5.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand ............................................ 549 8.6 Zusammenfassung .............................................................................. 551

9.

Schlussbetrachtung ............................................................................... ..... 555

Inhaltsverzeichnis

10.

XVII

Literaturverzeichnis ............................................................................ ....... 572 10.1 Primärliteratur ................................................................................. ... 572 10.1.1 Werke von Hobbes ..................................................................... ... 572 10.1.2 Werke anderer Autoren ................................................................. 573 10.2 Sekundärliteratur ............................................................................. .. 575

11.

Personenregister ......................................................................................... 594

12.

Sachregister ............................................................................................ ..... 597

Some think, that Hobbes’s political theory is part of his scientific philosophy, some deny it. He has been identified with Bacon, Galileo, Aristotle and the scholastics. He has been described as an evil atheist and as a moral rationalist. But we have recently been told that Hobbes was neither Satan nor Kant. He was a traditional christian natural law theorist - apparently he was either Richard Hooker or Thomas Aquinas...To be told that a man frequently accused of atheism was really a traditional orthodox Christian might astonish us - until we remember that we have also been told that Locke was really Hobbes by those who do not seem to know that Hobbes was really Hooker. M. M. Goldsmith

1. Einleitung Es gibt wenige philosophische Theorien, die so viele verschiedene, einander mitunter strikt entgegengesetzte Deutungen hervorgerufen haben wie die Theorie des Thomas Hobbes. Man mag Maurice Goldsmiths oben zitierte Beschreibung der Forschungsituation aus dem Jahre 19681 als Karikatur ansehen, die wahren Verhältnisse tragen in jedem Fall kaum weniger groteske Züge: Von einer mehr oder minder einheitlichen Einschätzung der Hobbes’schen Lehre ist man auch über 300 Jahre nach Hobbes’ Tod noch weit entfernt, ja die Uneinheitlichkeit der Ansätze scheint sich vielmehr in den letzten vierzig Jahren eher noch verstärkt zu haben. Wie Nida-Rümelin zurecht feststellt, kulminieren die verschiedenen Deutungen von Hobbes’ Theorie dabei oftmals in unterschiedlichen Interpretationen des Hobbes’schen Naturzustandes.2 Diese Tatsache kann darauf zurückgeführt werden, dass die Naturzustandstheorie eine entscheidende „Gelenkstelle“3 der Hobbes’schen Theorie bildet, in der sich Anthropologie, Moralphilosophie und politische Philosophie in eigentümlicher Weise miteinander verbinden: In der Theorie des ‚state of nature‘ bzw. der ‚natural condi_____________ 1 2 3

Goldsmith 1968: 68f. Vgl. Nida-Rümelin 1996: 109. Weiß 1980: 133. Die zentrale Stellung der Naturzustandstheorie betonen auch McNeilly 1968: 159; Tricaud 1988: 107; Curley 1989: 175; Nida-Rümelin 1996: 109; und Tuck 1999: 135. Dass es sich bei dieser Sichtweise um die Standardmeinung der Hobbes-Forschung handelt, wird auch von Lloyd bestätigt, die selbst allerdings gewisse Zweifel an der Sichtweise anmeldet (vgl. Lloyd 1992: 263).

2

1. Einleitung

tion of mankind‘ wird das im Rahmen der Anthropologie Erarbeitete auf die Ebene des sozialen Handelns übertragen; es wird die Theorie der natürlichen Rechte und Pflichten des Menschen entwickelt; und es wird die Notwendigkeit des Staates im Allgemeinen und einer absoluten souveränen Gewalt im Besonderen begründet. Wenn die verschiedenen Lesarten von Hobbes’ philosophischem Projekt häufig unterschiedliche Deutungen des Naturzustandes nach sich gezogen haben, vermag dies daher kaum zu überraschen. Zu einem großen Teil freilich ist die Naturzustandstheorie auch ihrerseits für die Existenz der vielen stark voneinander abweichenden Deutungen verantwortlich zu machen und hat in diesem Sinn weniger als Kulminations-, denn als Ausgangspunkt für die Uneinigkeit innerhalb der Forschung zu gelten. Betrachtet man die Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte, so lässt sich festhalten, dass praktisch alle zentralen Elemente der Naturzustandstheorie den Anlass zu kontroversen und manchmal lang anhaltenden Debatten geliefert haben. Der ‚Krieg aller gegen alle‘ und die Faktoren, auf die Hobbes diesen Krieg zurückführt; das natürliche Recht auf Selbsterhaltung und die Tatsache, dass dieses Recht den Umfang eines ‚Rechts auf alles‘ annimmt; die verschiedenen natürlichen Gesetze und der Status, den Hobbes diesen Gesetzen zuschreibt; die Notwendigkeit einer souveränen Zwangsgewalt und die Frage, warum genau sich diese letztlich für Hobbes als unverzichtbar erweist: Alle diese Probleme und Fragen haben die Forschung unausgesetzt beschäftigt, und alle von ihnen sind von großer direkter oder indirekter Relevanz für eine Bewertung der Hobbes’schen Theorie in ihrer Gesamtheit. Eine eingehendere Betrachtung dieser Debatten zeigt aber auch, dass die Debatten allesamt unter einem generellen Problem der Hobbes-Forschung zu leiden gehabt haben, unter der Tatsache nämlich, dass viele der Interpreten bis vor kurzem dazu geneigt haben, Hobbes’ politische Schriften als einen zusammenhängenden, konsistenten Textkorpus zu behandeln, und es unterlassen worden ist, in ausreichender Weise zwischen den verschiedenen Versionen der Hobbes’schen Theorie zu unterscheiden, wie sie zwischen 1640 und 1668 entstanden und veröffentlicht worden sind. So ist es gemeinhin üblich gewesen, sich vorrangig auf den englischen Leviathan von 1651 zu beziehen, der von der Mehrzahl der Autoren als Hobbes’ Meisterwerk und als definitive Formulierung seiner Lehre angesehen wird,4 daneben aber auch recht freimütig aus anderen von Hobbes’ Werken zu zitieren, und zwar zumeist dann, wenn sich dies im Hinblick auf die vertretenen Interpretationen als hilfreich erwies. Sowohl die Annahme, dass die verschiedenen Fassungen der Hobbes’schen Lehre nicht in substanzieller Weise voneinander abwei_____________ 4

Vgl. etwa Laird 1968: 14; Goldsmith 1969: XX; Peters 1956: 32f.; Oakeshott 1960: VIII; Braun 1963: 117; Hood 1964: VIII und 41; Watkins 1965: 20f.; Gauthier 1969: 34; Hampton 1986: 1 und 5; Kavka 1986: XII; Willms 1987: 126; Kersting 1992: 9 und 64; Martinich 1992: 15; Lloyd 1992: 2; Münkler 1993: 49; Kersting 1996a: 1; Kersting 1996b: 14; und Ludwig 1998: 38.

1. Einleitung

3

chen,5 als auch die Annahme, dass es sich beim englischen Leviathan um die überzeugendste und die endgültige Version dieser Lehre handelt, sind jedoch in der jüngeren Vergangenheit von einer beträchtlichen Anzahl von Autoren in Frage gestellt worden.6 Es kann kein Zweifel bestehen, dass die betreffenden kritischen Anmerkungen inzwischen bereits zu einem veränderten Umgang mit den Hobbes’schen Texten geführt haben. So wird einerseits in den meisten jüngeren Arbeiten zu Hobbes’ Philosophie versucht, der Existenz der verschiedenen Fassungen insofern Rechnung zu tragen, als diese Fassungen mehr oder weniger unabhängig voneinander behandelt werden.7 Auf der anderen Seite findet sich eine zunehmende Anzahl von Studien, die die verschiedenen Fassungen direkt miteinander vergleichen und etwaige Veränderungen oder Akzentverschiebungen innerhalb der Hobbes’schen Argumentation zu identifizieren versuchen.8 Trotz ihrer zentralen Bedeutung für Hobbes’ übergeordnete politische Theorie ist die Theorie des Naturzustandes aber nur sehr selten zum Gegenstand solcher vergleichender oder genetischer Studien gemacht worden. Die bisherige Debatte zur Entwicklung des Hobbes’schen Denkens hat sich vielmehr zumeist auf solche Probleme konzentriert, die gar nicht oder nur sehr indirekt mit dem Naturzustandsargument in Verbindung stehen. Zu nennen wären etwa Hobbes’ Haltung zum Gebrauch rhetorischer Mittel und zur antiken Lehre der eloquentia,9 seine Ausführungen zur verpflichtenden Kraft faktischer politischer Macht,10 seine Motivations- und Handlungstheorie und die sich vermeintlich darin vollziehende Abkehr von einer _____________ 5

6

7 8 9 10

Die Übereinstimmungen und Parallelen zwischen den verschiedenen Fassungen von Hobbes’ Theorie werden beispielsweise hervorgehoben von Stephen 1961: 42; Lips 1970: 29; Warrender 1961: VIII; Peters 1956: 36; Raphael 1977: 13; Willms 1987: 126f.; Tuck 1989: 28; Sorell 1990: 344; Sommerville 1992: 3, 80 und 162; Tuck 1993: 316 und 326; und Malcolm 2002a: 15f. Hinweise auf bemerkenswerte oder sogar substanzielle Unterschiede zwischen den verschiedenen Schriften finden sich bei Taylor 1993: 22; Hood 1964: 41; Gert 1967: 510; Gauthier 1969: 51 und 120ff.; Gehrmann 1970: 65f.; Kavka 1983: 291; Hampton 1986: 61 und 74; Münkler 1993: 17ff.; Skinner 2002a: 12; Skinner 2002b: 80; sowie in allen in Fußnote 8 angegebenen Studien. Vgl. auch Schilling, der in seiner Studie aus dem Jahr 1947 zwar die Auffassung vertritt, es gebe keine wirklich bedeutenden Unterschiede zwischen den Hobbes’schen Schriften, der aber nichtsdestotrotz festhält: „Eine neue ausdrücklich vergleichende Untersuchung der drei Darstellungen und auch der zwei verschiedenen Texte des Leviathan wäre wünschenswert.“ (Schilling 1947: 277). Für die Sichtweise, dass der englische Leviathan nicht ohne Weiteres als beste oder endgültige Fassung der Hobbes’schen Lehre angesehen werden sollte, vgl. Strauss 1965: 159f.; Geismann 1982: 161; Geismann/Herb 1988: 32f.; Gert 1991: 3; Taylor 1993: 22; Hüning 1998a: 49f. und 53; Schuhmann 2004: 14. Vgl. zudem auch Schilling 1947: 277, 280 und 281. Vgl. etwa Sommerville 1992; Tuck 1993; und Martinich 1999. Vgl. etwa McNeilly 1968; Wolf 1969; Goldsmith 1969; Johnston 1986; Tricaud 1988; Skinner 1996; Brett 1997; Ludwig 1998; Skinner 2002d; Schuhmann 2004; und Foisneau 2004. Vgl. vor allem Johnston 1986; Skinner 1996; und Skinner 2002b. Vgl. Metzger 1991; Skinner 2002f; und Hoekstra 2004.

4

1. Einleitung

egoistischen Psychologie11 sowie die Theorie repräsentativer Herrschaft, die der Hobbes’schen Lehre nach übereinstimmender Ansicht im englischen Leviathan hinzugefügt wird.12 Zu den wenigen Studien, die sich der Naturzustandstheorie aus einer evolutionären Perspektive genähert haben, zählen die Arbeiten McNeillys und Wolfs aus den späten 1960er Jahren. Beide Autoren konzentrieren sich allerdings vornehmlich auf einen bestimmten Teil der Naturzustandstheorie, nämlich auf die Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes, und zudem schließen sie, wie auch alle anderen im folgenden genannten Autoren, die lateinische Fassung des Leviathan vollständig von ihrer Analyse aus. Gerade in den letzten Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die nach einer umfassenderen Einbeziehung dieser Version der Hobbes’schen Lehre verlangen, bei welcher es sich immerhin um die letzte von Hobbes selbst autorisierte Veröffentlichung seiner umfassenden philosophischen Theorie handelt.13 Erwähnung verdient ohne Zweifel auch Goldsmiths Einleitung zu der 1969 erschienenen zweiten Auflage von Ferdinand Tönnies’ kritischer Edition der Elements of Law aus dem Jahr 1889. Die Einleitung widmet sich zwar zunächst durchaus in der zu erwartenden Weise den Entstehungsbedingungen und dem spezifischen argumentativen Aufbau der Elements. Darüber hinaus bemüht Goldsmith sich aber auch, die Elements mit den anderen Fassungen der Hobbes’schen Theorie zu vergleichen. Die räumlich begrenzten Ausführungen Goldsmiths konzentrieren sich dabei allerdings vorrangig auf die Hobbes’sche Ableitung der natürlichen Gesetze, die Goldsmith weniger mit Blick auf die drei grundlegenden Naturgesetze als vielmehr mit Blick auf die oftmals vernachlässigten weiteren Naturgesetze untersucht.14 Daneben widmet Goldsmith sich denjenigen Passagen, in denen Hobbes in den verschiedenen Werken die Einrichtung der souveränen Gewalt beschreibt, einem Teil der Hobbes’schen Argumentation also, der nicht mehr zu den eigentlichen Elementen der Naturzustandstheorie zu zählen ist.15 Die von McNeilly und Wolf in den Mittelpunkt gerückte Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes bildet auch einen der Schwerpunkte von Tri_____________ 11

12

13

14 15

Entsprechende Positionen finden sich bei Gert 1967; und McNeilly 1968. Eine kritische Diskussion liefert Kavka 1986. Zum Problem der egoistischen Psychologie vgl. auch Sorell 1986: 98; Curley 1989: 171ff.; und Chwaszcza 1996: 103. Hinweise auf diesen Sachverhalt finden sich bereits bei Hood 1964; Pitkin 1967 (vgl. auch Pitkin 1993a und 1993b); Goldsmith 1969; und Gauthier 1969. Vgl. auch Tuck 1989: 66f.; Kersting 1992: 148; Tuck 1993: 327; Schuhmann 2004: 14 und 31; Martinich 2004: 228ff.; und Skinner 2005: 167f. Vgl. etwa Curley 1994: LXXIIIf.; Skinner 1996: 3; und Schuhmann 2004: 14. Laird verweist schon 1934 auf die Tatsache, dass Hobbes selbst die lateinische Fassung des Leviathan als endgültige Fassung seiner Philosophie angesehen habe (vgl. Laird 1968: 33). Vgl. Goldsmith 1969: Xff. Vgl. Goldsmith 1969: XVff.

1. Einleitung

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cauds Aufsatz „Hobbes’s concept of the state of nature 1640 to 1651: Evolutions and ambiguities“ aus dem Jahre 1988. Tricaud widmet sich zudem Hobbes’ theoretischem Begriff des Naturzustandes und den vermeintlichen Modifikationen, denen dieser Begriff zwischen 1640 und 1651 unterworfen gewesen ist. Die juridische Diskussion des Naturzustandes, in der die Notwendigkeit für die Einrichtung einer politischen Zwangsgewalt ihren theoretischen Ausdruck findet und Hobbes’ Theorie absoluter Souveränität ihre Fundierung erfährt, wird dagegen von Tricaud ausgeklammert. Zudem bleibt anzumerken, dass einige der Ergebnisse, zu denen Tricaud im Zuge seiner Analyse des Naturzustandskonzepts und des ‚Krieges aller gegen alle‘ gelangt, durchaus zu einer kritischen Überprüfung einladen, wie auch die zentralen Thesen von McNeilly und Wolf gerade in letzter Zeit von einigen Autoren nachdrücklich in Frage gestellt worden sind. Ein zentrales Element der von Tricaud nicht diskutierten juridischen Analyse des Naturzustandes, nämlich Hobbes’ Analyse des natürlichen Rechts, bildet den Gegenstand von Annabel Bretts genetischer Untersuchung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie in ihrer Monographie „Liberty, right and nature“. Brett widmet sich dem Hobbes’schen Freiheitskonzept und vor allem seinem Begriff der natürlichen Freiheit (‚natural liberty‘) und vertritt die These, dass Hobbes in den Elements of Law einen relativ kohärenten Begiff natürlicher Freiheit entwickelt, dieser aber in seinen späteren Schriften mehr und mehr an Klarheit und Kohärenz einbüßt.16 Indem sie den Begriff der natürlichen Freiheit zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht, beschränkt Brett sich allerdings noch wesentlich stärker als Tricaud auf einen Teilaspekt der Naturzustandslehre. Die Untersuchung des Hobbes’schen Naturrechts wird zudem zeigen, dass Bretts Deutung des Begriffes ‚natural liberty‘ mit einigen noch näher zu erörternden Problemen verbunden ist. Die bislang umfassendste Untersuchung zur Entwicklung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie ist von Bernd Ludwig vorgelegt worden. Ludwig geht der Frage nach, inwieweit sich die Koordinaten der Hobbes’schen Theorie in den Jahren des Pariser Exils verschoben haben, und untersucht dabei sowohl die Lehre vom natürlichen Recht und den natürlichen Gesetzen als auch die Hobbes’sche Vertragstheorie. Nach Ludwig ist der englische Leviathan, der gleichsam als Summe der Exilzeit begriffen werden kann, insofern deutlich von den früheren Schriften verschieden und ihnen überlegen, als in ihm eine eindeutige Abkehr von der stoischen Naturrechtstradition vollzogen und eine konsequent säkulare ‚civil philosophy‘ auf epikureischer Basis entwickelt wird. Indem er die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ weitgehend aus seiner Analyse ausschließt, versucht Ludwig allerdings ebenso wenig wie Tricaud oder Brett, eine Darstellung der Entwicklung _____________ 16

Vgl. Brett 1997: 211.

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1. Einleitung

der gesamten Naturzustandstheorie zu liefern, sondern beschränkt sich auf einige, wenn auch sehr umfangreiche, Teile der Theorie. Zudem sind auch Ludwigs Ergebnisse, so detailliert und sorgfältig seine Analyse der verschiedenen Schriften auch ausfallen mag, weit davon entfernt, als unstrittig gelten zu können. Nach Ludwig ist Hobbes’ Argumentation im englischen Leviathan charakterisiert von einer strikten Trennung zwischen einer deskriptiven Moralphilosophie auf der einen und einer normativen Vertragstheorie auf der anderen Seite.17 Ludwig vertritt die Ansicht, dass es sich bei der Lehre von den natürlichen Gesetzen im Leviathan um eine reine Analyse der ‚consequences of the human passions‘ handle, in der folglich der Begriff der Verpflichtung (‚obligation‘) keinen Platz mehr habe. In der Vertragstheorie hingegen, die eine sprachphilosophisch fundierte Analyse der ‚consequences of speech‘ darstelle, entwickle Hobbes sehr wohl einen solchen Begriff, und zwar im Sinne der willentlichen Selbstbindung des Individuums.18 Sowohl die Behauptung, dass die natürlichen Gesetze im englischen Leviathan von Hobbes nicht mehr als verpflichtend dargestellt würden, als auch die damit zum Teil zusammenhängende Sichtweise, dass die Verpflichtungskraft von Verträgen allein auf der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbindung beruhe und vom dritten Naturgesetz pacta sunt servanda logisch unabhängig sei, müssen jedoch als ausgesprochen umstritten bezeichnet werden. Auch der aus dieser Lesart abgeleiteten Einschätzung, der englische Leviathan liefere gegenüber den früheren Schriften die säkularere Fassung des Hobbes’schen Naturzustandsarguments, ist prominent widersprochen worden. So hat etwa Martinich, wenn auch ohne expliziten Verweis auf Ludwig, kürzlich vertreten, dass die Bezugnahme auf einen göttlichen Gesetzgeber in der Moraltheorie des englischen Leviathan eine größere Rolle spiele als in den stärker rationalistischen Theorien der Elements of Law und von De Cive.19 Nach Martinich ist es gerade diese stärkere Einbeziehung Gottes, über die Hobbes im englischen Leviathan den verpflichtenden Charakter der natürlichen Gesetze theoretisch absichert. Die von Ludwig vertretene entwicklungsgeschichtliche Deutung ist kürzlich zudem auch von Sprute ausdrücklich in Zweifel gezogen worden.20 Nimmt man also die Tatsache, dass sich die bisherigen Studien zur Entwicklung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie allesamt auf Teilelemente dieser Theorie konzentrieren und zudem den lateinischen Leviathan vollständig von der Untersuchung ausschließen, mit der Tatsache zusammen, dass die jeweiligen Ergebnisse einer kritischen Überprüfung bedürfen, so kann kein Zweifel bestehen, dass die Notwendigkeit zu einer genetischen Untersuchung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie – und zwar der Theorie in ihrer _____________ 17 18 19 20

Vgl. Ludwig 1998: 10f. Vgl. Ludwig 1998: 10f. und 236. Vgl. Martinich 1999: 147f. Vgl. Sprute 2002: 846.

1. Einleitung

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Ganzheit – unverändert besteht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, dieser Notwendigkeit Genüge zu tun und die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ Naturzustandsanalyse eingehend miteinander zu vergleichen. Ein derartiges Projekt scheint nicht nur deshalb als dringend geboten, weil ein angemessenes Verständnis der Entwicklung der Hobbes’schen Theorie ohne eine gründliche Analyse der Entwicklung der Naturzustandstheorie als ihrem zentralen Element nicht zu erreichen ist. Angesichts des auffallenden Sachverhaltes, dass sowohl die grundsätzliche Verschiedenheit der Hobbes’schen Schriften als auch die Überlegenheit der früheren Schriften über den Leviathan vorrangig von solchen Interpreten behauptet worden sind, deren Lesarten des Hobbes’schen Naturzustandes in wichtigen Punkten von der traditionellen Lesart abweichen,21 lässt sich zudem die Vermutung äußern, dass eine solche vergleichende Untersuchung helfen kann, die Existenz der vielen lang anhaltenden Debatten um den Hobbes’schen Naturzustand besser zu erklären und womöglich gar einzelne dieser Debatten aufzulösen. Mit anderen Worten: Es wäre zu zu prüfen, ob nicht einige der Debatten gerade ihren Grund darin haben, dass nicht hinreichend zwischen den unterschiedlichen Fassungen der Hobbes’schen Theorie unterschieden worden ist und sich die Interpreten zum Teil eben nicht konsequent auf einund dieselben Textgrundlagen gestützt haben. In methodischer Hinsicht bleibt anzumerken, dass ich bei der folgenden vergleichenden Analyse der Hobbeschen Schriften versuchen werde, historische und systematische Aspekte miteinander zu verbinden. So werde ich nicht in dem Sinne konsequent historisch verfahren, dass jede Fassung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie zunächst vor dem Hintergrund ihrer biographischen und politischen Entstehungsbedingungen in ihrer Gänze analysiert würde, um erst dann zur jeweils zeitlich folgenden Fassung überzugehen. Ich werde stattdessen die Hobbes’sche Naturzustandstheorie systematisch in ihre elementaren Bestandteile auflösen, um dann diese Bestandteile in historischer Folge vergleichend zu analysieren. Angesichts der Tatsache, dass die Hobbes’sche Naturzustandsargumentation in allen ihren Fassungen einer nahezu identischen äußeren Struktur folgt, scheint mir dieses Vorgehen ohne Probleme durchführbar. Da sich gerade in der direkten Gegenüberstellung der jeweiligen Teilelemente der durchaus umfangreichen Naturzustandslehre die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen besonders pointiert herausstellen lassen dürften, scheint mir ein in dieser Weise kombiniertes Verfahren aber einer ausschließlich an der historischen Abfolge orientierten Behandlung der Schriften auch aus inhaltlichen Gründen überlegen. _____________ 21

Vgl. etwa Taylor 1993: 22; Gert 1991: 3; Geismann 1982: 161; Geismann/Herb 1988: 32f.; Hüning 1998a: 49f. und 53.

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1. Einleitung

Bei den Aspekten und Elementen der Naturzustandstheorie, die in der genannten Weise untersucht werden sollen, handelt es sich um a) b) c) d) e) f)

das Konzept bzw. den theoretischen Begriff des menschlichen Naturzustandes selbst, die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘, das natürliche ‚Recht auf alles‘, die natürlichen Gesetze, die im Kontext des zweiten und des dritten natürlichen Gesetzes entwickelte Vertragstheorie und den notwendigen Ausgang aus dem Naturzustand durch Errichtung einer souveränen Zwangsgewalt.

Die konsequente Einbeziehung der ausgesprochen komplexen Entstehungsbedingungen der Hobbes’schen Schriften muss im Folgenden auch deshalb unterbleiben, weil eine solche Einbeziehung zwangsläufig auf Kosten des eigentlichen Analysegegenstandes gehen müsste, der in allen Fassungen der Hobbes’schen Theorie mindestens vier Kapitel des jeweiligen Werkes umfasst. Wie oben deutlich geworden sein dürfte, stünde eine Beschränkung der vorliegenden Untersuchung auf eine bloße Skizzierung der wichtigsten Differenzen zwischen den Naturzustandslehren der verschiedenen Werke aber zum Anliegen dieser Arbeit in Widerspruch. Es mangelt innerhalb der Hobbes-Literatur durchaus nicht an mehr oder minder ununtermauerten Hinweisen auf Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen der Hobbes’schen Naturzustandstheorie. Was fehlt, sind Studien, die sich a) der Theorie in ihrer Ganzheit widmen, und b) alle relevanten Unterschiede oder Gemeinsamkeiten auch in angemessen detaillierter Weise herausarbeiten und belegen. Aus diesem Grund werde ich im Zuge meiner Analyse der Hobbes’schen Schriften die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Kontext der Werke weitestgehend zurückstellen. Da die biographischen und politischen Entstehungsbedingungen der Schriften den Hintergrund bilden, vor dem manche Veränderungen in Hobbes’ Argumentation erst angemessen verstanden werden können, werde ich im nun folgenden Kapitel jedoch nicht nur kurz die vier Hobbes’schen Werke benennen, mit denen ich mich im Rahmen dieser Arbeit beschäftigen werde, und die Beweggründe für die damit getroffene Auswahl angeben, sondern darüber hinaus auch zumindest skizzenhaft auf die biographischen und politischen Umstände der Abfassung und Veröffentlichung des jeweiligen Werkes eingehen.

2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie 2.1 The Elements of Law Es ist vor einigen Jahren die Meinung vertreten worden, Hobbes sei der Autor dreier Diskurse mit den Titeln „Of Rome“, „Of Laws“ und „A Discourse upon the beginning of Tacitus“, die 1620 anonym unter dem Namen Horae Subsecivae in einer Sammlung von Essays und Diskursen veröffentlicht wurden und 1637 dann als Schriften von Hobbes’ Zögling William Cavendish, dem zweiten Earl of Devonshire, registriert worden sind.1 Die Vermutung, die Horae Subsecivae seien möglicherweise kein Werk des Zöglings, sondern vielmehr das seines Tutors Hobbes, ist 1936 zuerst – wenn auch sehr vorsichtig – von Leo Strauss geäußert worden. Strauss bezog sich dabei auf ein von ihm in Chatsworth entdecktes Manuskript, das zehn der zwölf in den Horae Subsecivae veröffentlichten Essays enthielt und nach Strauss’ Einschätzung in Hobbes’ Handschrift abgefasst war.2 Auf Grundlage einer kürzlich von Noel Reynolds und John Hilton durchgeführten statistischen Analyse der Horae Subsecivae ist Strauss’ Vermutung aber als falsch zurückgewiesen worden. Hobbes ist danach weder Autor der zehn im Manuskript enthaltenen, noch ist er der Autor der beiden dort nicht enthaltenen, aber in den Horae Subsecivae abgedruckten Essays. Zugleich ist von Reynolds und Hilton jedoch die Behauptung aufgestellt worden, die statistische Wortanalyse weise Hobbes zweifelsfrei als Verfasser von dreien der vier in der Sammlung enthaltenen Diskurse aus.3 Soweit ich sehe, hat die Mehrheit der Interpreten mittlerweile Hobbes’ Autorschaft ausdrücklich oder stillschweigend akzeptiert.4 Die Analyse von Reynolds und Hilton hat aber, vor allem in methodischer Hinsicht, durchaus einige Kritik erfahren, und einzelne Autoren – wie etwa Noel Malcolm – haben mit Nachdruck angezweifelt, dass die betreffenden Diskurse tatsächlich von Hobbes geschrieben worden sind.5 Es ist nicht möglich, im Rahmen _____________ 1 2 3 4

5

Vgl. Reynolds/Saxonhouse 1995. Vgl. auch Overhoff 2000: 91. Vgl. Strauss 1952: XVIf. Vgl. Reynolds/Hilton 1994. Eine ausdrückliche Übernahme der Ergebnisse von Reynolds und Hilton findet sich etwa bei Tuck 1996a: XVIff.; und Overhoff 2000: 88 und 91. Etwas zurückhaltender äußern sich Skinner 1996: 238; und Martinich 1999: 44. Vgl. Malcolm 2002a: 25f.

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

dieser Arbeit die Debatte um die Herkunft der drei Diskurse eingehender zu diskutieren oder sie gar einer Lösung zuzuführen. Da Hobbes’ Autorschaft aber nach wie vor als kontrovers gelten kann und da der für unser Thema am ehesten interessante politische Diskurs „Of Laws“ zwar einige Überlegungen zum Leben in der Abwesenheit positiver Gesetze, aber keine Naturzustandsanalyse im eigentlichen Sinn enthält, werde ich die Diskurse von meiner Untersuchung ausschließen. Es folgt hieraus, dass die 1640 in handschriftlichen Kopien veröffentlichten Elements of Law Natural and Politic im Rahmen dieser Arbeit als die erste Manifestierung von Hobbes’ politischem Denken begriffen werden und als solche den Ausgangspunkt der Analyse bilden.6 Wie Malcolm kürzlich betont hat,7 ist Hobbes’ intellektuelle Entwicklung in den 1630er Jahren immer noch zu einem gewissen Grade ungeklärt. Zwar ist in einer beträchtlichen Anzahl von Studien versucht worden, mehr Licht auf diesen Teil von Hobbes’ Leben zu werfen. Die genauen Umstände, unter denen sich Hobbes von einem bloßen Tutor im Hause der Cavendishs zum eigenständigen und respektierten Philosophen entwickelt, bleiben aber auch heute noch Gegenstand der Spekulation. So ist beispielsweise nach wie vor nicht vollkommen klar, was Hobbes veranlasst hat, sich mit Fragen der Politik und der politischen Philosophie zu beschäftigen, nachdem er sich lange Zeit mehr oder minder ausschließlich Fragen der Physik und hierbei insbesondere denen der Optik gewidmet hatte, und ebenso unklar ist, zu welchem Zeitpunkt genau diese Interessenverlagerung stattgefunden hat.8 Es ist allerdings unstrittig, dass Hobbes spätestens im Jahr 1637 Pläne für ein dreiteiliges philosophisches Werk entwickelt, das unter anderem eine Schrift zur politischen Philosophie beinhalten sollte.9 Auch scheint ein allgemeiner Konsens zu bestehen, dass Hobbes’ Beweggründe dafür, die Elements of Law zu verfassen und sich darin mit denjenigen Fragen zu beschäftigen, die ursprünglich für den zweiten und den dritten Teil des umfassenderen philosophischen Werkes vorgesehen waren, in der Verbin-

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7 8 9

Eine autorisierte Druckfassung der Elements of Law ist zu Hobbes’ Lebenszeiten nicht veröffentlicht worden. Eine unautorisierte, zweiteilige Fassung erschien allerdings unter den Titeln „Human Nature“ und „De Corpore Politico“ im Jahr 1650. Ich werde mich im Folgenden auf die immer noch einschlägige Edition von Ferdinand Tönnies stützen, wobei ich allerdings auf die 1969 erschienene und oben bereits angesprochene zweite Auflage zurückgreifen werde. Vgl. Malcolm 2002a: 9f. Vgl. hierzu auch Tuck 1993: 296; und Martinich 1999: 59. Vgl. beispielsweise Skinner 1996: 255; Skinner 2002a: 7f.; Martinich 1999: 59 und 118. Vgl. auch Tönnies 1971: 19; Lips 1970: 27; und Baumgold 2004: 20f., die übereinstimmend davon ausgehen, dass Hobbes um diese Zeit auch bereits simultan an allen drei Teilen der Elementa Philosophica gearbeitet hat.

2.1 The Elements of Law

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dung zum Earl of Newcastle zu suchen sind, dem Hobbes die Elements of Law widmete.10 Der Earl of Newcastle, ein Cousin von Hobbes’ erstem, im Jahre 1628 gestorbenen Zögling William, Mitglied des House of Lords und seinerseits seit 1638 Tutor des Prince of Wales (dem späteren Charles II.), war gegen Ende der 1630er Jahre stark in die königliche Politik Charles I. involviert. Aufgrund seiner Anstellung im Haus der Cavendishs war Hobbes gut mit Newcastle bekannt, und es ist sogar denkbar, dass Hobbes Mitglied der sogenannten ‚Welbeck Academy‘ gewesen ist, einer Gruppe von Philosophen, die in enger Verbindung mit Newcastle standen und zu der unter anderen Newcastles Bruder Charles Cavendish sowie Robert Payne und Walter Warner gehörten.11 Dass Hobbes selbst sich im Laufe der späten 1630er Jahre in zunehmendem Maße für Fragen der aktuellen Politik zu interessieren begann, lässt sich schon allein daran ablesen, dass er sich im Jahr 1640 mit Unterstützung des dritten Earl of Devonshire als Kandidat für die Wahl zum House of Commons aufstellen ließ,12 und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass zu dieser Zeit die politische Sache Charles I. und des Earl of Newcastle auch die Sache Hobbes’ war. Wenn seine eigene Kandidatur auch scheiterte, so begleitete Hobbes doch fortan aufmerksam die Sitzungen des im April 1640 einberufenen Short Parliament, und sowohl die Darstellung John Aubreys in seiner BiographienSammlung „Brief Lives“ als auch eine Passage in den Considerations upon the Reputation, Loyalty, Manners & Religion of Thomas Hobbes, einer der späteren autobiographischen Schriften von Hobbes, legen nahe, dass Hobbes bereits während dieser Zeit Kopien der Elements of Law unter den Abgeordneten zirkulieren ließ.13 Die Spannungen zwischen Charles und den Parlamentariern, die sich weigerten, dem König die Gelder zu gewähren, welche er für seinen Krieg gegen Schottland benötigte, und die stattdessen Fragen der Grenzen monarchischer Macht, der Rechte des Parlaments und der fundamentalen Freiheiten und Eigentumsrechte der englischen Bürger zu diskutieren verlangten, erwiesen sich jedoch bald als unüberwindbar, und als Hobbes am 9. Mai 1640 letzte Hand an eines der bis heute erhaltenen Manuskripte der Elements of Law legte, war das Parlament von Charles bereits wieder aufgelöst worden. _____________ 10 11

12 13

Vgl. etwa Tönnies 1971: 19; Lips 1970: 27; Laird 1968: 9; Metzger 1991: 15f.; Tuck 1993: 297; und Münkler 1993: . Hobbes’ Verbindungen zur ‚Welbeck Academy‘ und daneben auch zum ‚Great Tew‘-Zirkel Lord Falklands sind besonders von Tuck betont worden (vgl. Tuck 1989; und Tuck 1993). Malcolm hat die Vorstellung, Hobbes sei eine Art permanentes Mitglied der entsprechenden Gruppen gewesen, aber kürzlich als „misleadingly schematic“ zurückgewiesen (vgl. Malcolm 2002a: 11). Zu Hobbes’ Kandidatur vgl. Sommerville 1992: 18; Tuck 1993: 314; Skinner 1996: 227f.; und Martinich 1999: 121. Vgl. Aubrey 1982a: 152; und C: 4f..

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

Bis heute ist nicht vollständig geklärt, wann genau Hobbes mit der Arbeit an den Elements of Law begonnen und wann er sie beendet hat. Die genannten Passagen bei Aubrey und in den Considerations upon the Reputation &c. of Thomas Hobbes lassen zwar vermuten, dass Hobbes sein Manuskript schon vor der Auflösung des Short Parliament am 5. Mai 1640, also vermutlich noch im April abgeschlossen hat.14 Die Datierung des oben angesprochenen Exemplars des Manuskripts scheint dem jedoch zu widersprechen. Auflösen ließe sich dieser Widerspruch durch die Annahme, dass es sich bei den unter den Abgeordneten verteilten Kopien lediglich um Teile oder frühe Entwürfe des Werkes gehandelt hat. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, dass es sich bei der auf den 9. Mai datierten Fassung schlicht um eine spätere, von Hobbes selbst angefertigte Kopie des Manuskripts handelt. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass der Großteil der Arbeit an den Elements of Law in den frühen Monaten des Jahres 1640 ausgeführt wurde und somit ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Anfertigung des Manuskripts und der Einberufung des Short Parliament besteht. Ebenso wenig kann angezweifelt werden, dass die Elements of Law auch in inhaltlichem Zusammenhang zum Short Parliament und zu den Diskussionen stehen, die dessen Einberufung vorangegangen waren. Wie von einer Vielzahl von Interpreten hervorgehoben worden ist, können die Elements of Law bis zu einem gewissen Punkt als theoretische Untermauerung der Politik Charles I. gelesen werden.15 Sie widmen sich nicht nur einer Reihe von Fragen, die die politischen Debatten der späten 1630er Jahre bestimmt haben, sondern liefern dabei sowohl eine generelle Verteidigung der Rechte der souveränen Gewalt als auch direkte Widerlegungen einiger zentraler Positionen der Gegner des Königs. Es ist aber zurecht betont worden, dass die Elements of Law dennoch wesentlich mehr sind als eine polemische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen politischen Fragen,16 sind sie doch nicht zuletzt eine erste Realisierung von Hobbes’ umfassenderem philosophischem Projekt. Was immer Hobbes selbst ursprünglich in den Elements of Law gesehen haben mag, er machte sich jedenfalls keinerlei Illusionen darüber, dass sie ihn in der öffentlichen Wahrnehmung eindeutig auf Charles’ Seite gestellt hatten, und es war genau diese Tatsache, die ihn kurz nach Einberufung des Long Parliament im November 1640 veranlasste, England fluchtartig zu verlassen

_____________ 14 15 16

Vgl. auch Robertson 1886: 52; und Baumgold 2004: 16f. und 23. Vgl. etwa Sommerville 1992: 163f.; Tuck 1993: 313; Münkler 1993: und Malcolm 2002a: 14f. So beispielsweise noch Schilling 1947: 277. Vgl. demgegenüber Münkler 1993: 43; und Malcolm 2002a: 15. Die prinzipielle Unabhängigkeit der Elements of Law – wie der Hobbes’schen Schriften überhaupt – von den politischen Interessen der Royalisten betont daneben vor allem Lips 1970: 28f. und 36ff.

2.2 De Cive

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2.2 De Cive Es ist mitunter angezweifelt worden, ob es sich bei Hobbes’ eigenem Bericht über die Umstände, die ihn zur Flucht aus England bewegten,17 um eine verlässliche Darstellung der Stimmungslage handelt, die sich während der ersten Sitzungstage des Long Parliament in seinem Heimatland entwickelte. So ist vor allem gefragt worden, ob Hobbes’ Sorgen um die eigene Sicherheit wirklich berechtigt waren.18 Die meisten Autoren neigen jedoch heute zu der Einschätzung, Hobbes habe in der Tat gute Gründe gehabt, sich zu fürchten. Nachdem Charles I. aufgrund seiner Niederlage gegen die Schotten gezwungen gewesen war, das so schnell aufgelöste Parlament erneut einzuberufen, hatten sich die dort ausgetragenen Debatten schon in kurzer Zeit wieder auf diejenigen Fragen konzentriert, die schon die Sitzungen des Short Parliament bestimmt hatten, wobei freilich die Atmosphäre noch deutlicher von Feindseligkeit geprägt war als zuvor. Charles’ Minister wurden für ihr Verhalten in der Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen und einige prominente Mitglieder der Regierung – darunter Thomas Wentworth, der erste Earl of Strafford – wurden verhaftet und des Hochverrats angeklagt.19 Es ist fraglich, ob allein diese Tatsache Hobbes einen ausreichenden Anlass geliefert hätte, um die eigene Sicherheit besorgt zu sein. Die Bewegungen des Parlaments richteten sich jedoch nicht nur gegen Personen, die einen aktiven Beitrag zur Umsetzung von Charles’ Politik geleistet hatten, sondern auch gegen solche, die seine Politik öffentlich verteidigt oder auch nur in Büchern oder Predigten Partei für die absolute Monarchie ergriffen hatten, wie etwa der Geistliche Roger Maynwaring.20 Hobbes reagierte zügig auf diese alarmierenden Entwicklungen. Überzeugt, dass weitere Verhaftungen folgen würden, entschloss er sich kurzerhand, England zu verlassen und befand sich vermutlich bereits am 23. November,21 zwanzig Tage nach der Einberufung des Parlaments und zwölf Tage nach der Verhaftung Straffords, auf dem Weg nach Frankreich. Die Vorkommnisse in England veranlassten Hobbes freilich keineswegs, seine politische Lehre in Frage zu stellen oder sie fortan nur noch mit großer Zurückhaltung zu vertreten. Vielmehr begann er schon bald nach seiner Ankunft in Paris mit der Arbeit an einer lateinischen Schrift zur politischen Philosophie, bei der es sich um den dritten Teil des einige Jahre zuvor in den Blick genommenen umfassenden philosophischen Projekts handeln sollte, _____________ 17 18 19 20 21

Vgl. PL: 247; VL: 258.; und C: 5f. Vgl. zum Beispiel Robertson 1886: 52f.; und Goldsmith 1969: V. Vgl. dazu Tuck 1993: 314; und Martinich 1999: 161. Vgl. hierzu Aubrey 1982a: 152.; sowie Sommerville 1992: 18; Skinner 1996: 230; und Skinner 2002a: 8f. Vgl. Martinich 1999: 162.

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

und als diese Schrift schließlich im April 1642 unter dem Namen Elementorum Philosophiae Sectio Tertia De Cive erschien, erwiesen sich Hobbes’ Positionen zum Umfang der souveränen Gewalt und zur bürgerlichen Gehorsamspflicht als weitgehend unverändert. Kopien des Buches zirkulierten bald unter den gelehrten Bewohnern von Paris, vor allem unter denjenigen, die dem Kreis um Hobbes’ philosophischen Freund Mersenne angehörten. Angesichts der äußerst geringen Auflage verhalf De Cive Hobbes aber, wie Martinich es ausgedrückt hat, zunächst lediglich zu einer Art „underground reputation“22. Dass De Cive dennoch die Basis für Hobbes’ Ruf als einen der großen europäischen Philosophen legen konnte,23 ist auf die zweite Auflage des Buches zurückzuführen, die im Jahr 1647 bei Elzevir in Amsterdam erschien und eine deutlich größere Anzahl an Kopien umfasste.24 In dem Interesse, auf das diese zweite Auflage von De Cive sogar in England gestoßen war,25 mag der Grund zu sehen sein, warum dort einige Jahre später eine englische Übersetzung des Werkes vorbereitet wurde, die schließlich 1651 unter dem Titel Philosophicall Rudiments concerning Government and Society in London erschien. Man ist lange davon ausgegangen, dass Hobbes diese Übersetzung von De Cive selbst veranlasst hat. Einige Autoren haben sogar angenommen, dass Hobbes sie selbst ausgeführt habe.26 Die Hauptgrundlage dieser Vermutung besteht in einer Anekdote, die Aubrey in seiner Kurzbiographie des Dichters Edmund Waller berichtet. Nach Aubrey hatte der mit Hobbes befreundete Waller sich mit dem Gedanken getragen, De Cive ins Englische zu übersetzen, seinen Plan aber aufgegeben, als er einen Auszug aus Hobbes’ eigener Übersetzung des ersten Teils von De Cive zu Gesicht bekommen hatte.27 Es ist zwar nicht bekannt, was aus diesem Hobbes’schen Übersetzungsversuch geworden ist und ob er jemals vollendet wurde. Dank der entsprechenden Untersuchungen Noel Malcolms dürfte mittlerweile aber Einigkeit bestehen, dass es sich bei der Übersetzung, die unter dem Titel Philosophicall Rudiments in Druck ging, nicht um den betreffenden Text handelt, sondern stattdessen um eine Arbeit Charles Cottons.28 Die meisten Autoren stimmen zudem dahingehend überein, dass Hobbes auch nicht in anderer _____________ 22 23 24 25 26

27 28

Martinich 1999: 178. Vgl. außerdem Sommerville 1992: 19f.; und Tuck 1993: 315. Vgl. etwa Tönnies 1971: 24. Vgl. Malcolm 2002a: 16; und Martinich 1999: 178. Vgl. hierzu Warrender 1983: 10-12 und 17ff. Vgl. vor allem Warrender 1983: 15f. Vgl. aber auch Stephen 1961: 40 und 173; Schochet 1967: 429 (FN); Geismann 1982: 161; Gert 1991: 4; und Gawlick 1994: XXVI. Vgl. zudem Autoren wie Robertson 1886: 67f.; Macpherson 1962: 19; und Kavka 1986: 83, die die Frage nach der Identität des Übersetzers nicht eigens thematisieren, aber sich in selbstverständlicher Weise auf die Philosophicall Rudiments als ein Hobbes’sches Werk stützen. Vgl. Aubrey 1982b: 312. Vgl. auch Martinich 1999: 180. Vgl. Malcolm 2002c. Vgl. auch die Studie Miltons aus dem Jahr 1990, sowie Curley 1994: XVI; Ludwig 1998: 16-18 und 22ff.; und Martinich 1999: 118 und 180.

2.3 Die englische Fassung des Leviathan

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Weise an der Veröffentlichung der englischen Fassung von De Cive beteiligt war. Angesichts dieser Einschätzungen können die Abweichungen des englischen De Cive vom lateinischen Text nicht als Anzeichen einer Entwicklung in Hobbes’ Denken genommen werden, da der gesamte englische Text überhaupt nicht als Ausdruck und Manifestation seines politischen Denkens gelten kann. Ich werde daher auf eine Auseinandersetzung mit den Philosophicall Rudiments vollständig verzichten und zur Untersuchung der in De Cive entwickelten Naturzustandstheorie ausschließlich die lateinische Fassung heranziehen. Dabei soll allerdings grundsätzlich zwischen beiden Auflagen unterschieden werden. In der Vergangenheit ist zur Interpretation von De Cive in nahezu allen Fällen lediglich auf die zweite Auflage zurückgegriffen worden, da in ihr eine umfassendere, weil durch Vorwort und Anmerkungen erweiterte, ansonsten aber unveränderte Ausgabe der ersten Fassung gesehen worden ist. Ludwig hat kürzlich jedoch behauptet, die zweite Auflage weise neben der bloßen Ergänzung nichtvorhandener Teile auch interessante inhaltliche Abweichungen auf, an denen sich bereits die konzeptuelle Umarbeitung der Hobbes’schen Argumentation abzeichne, die im englischen Leviathan dann ihre Vollendung erfahre.29 Nach Ludwig verdienen die beiden Auflagen von De Cive daher, als zwei eigenständige Werke behandelt zu werden.30 Es erscheint mir zwar übertrieben, eine derartig klare Trennungslinie zwischen den beiden Auflagen zu ziehen. Dennoch soll im Rahmen dieser Arbeit Wert darauf gelegt werden, etwaige Unterschiede zwischen den beiden Auflagen in der angemessenen Weise zu berücksichtigen.31

2.3 Die englische Fassung des Leviathan Als Hobbes sich daran machte, die zweite Auflage von De Cive vorzubereiten, hatte sich die politische Situation in seinem Heimatland bereits beträchtlich gewandelt. Im August 1642, kurz nach der Veröffentlichung der ersten Auflage, hatte England den Ausbruch des Bürgerkriegs erlebt, und als Hobbes sich dem Werk im Jahr 1646 erneut zuwandte, hatte die königliche Armee ihre entscheidenden Niederlagen bei Marston Moor und Naseby erlitten und sowohl der Earl of Newcastle, dessen Armee bei Marston Moor 4000 Mann verloren hatte, als auch sein Zögling, der Prince of Wales, waren Hobbes ins Pariser Exil gefolgt. Als Hobbes schließlich zwei Jahre nach der Veröffentli_____________ 29 30 31

Vgl. Ludwig 1998: 147f. und 150. Vgl. Ludwig 1998: 152f. Ich werde mich bei der Auseinandersetzung mit De Cive im Folgenden auf die von Howard Warrender edierte kritische Ausgabe stützen, die 1983 als Band II der Oxforder Clarendon Edition erschienen ist und in der auf alle Unterschiede zwischen den verschiedenen Auflagen des Werkes minutiös hingewiesen wird.

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

chung der zweiten Auflage von De Cive mit der Arbeit am Leviathan, der dritten Fassung seiner politischen Theorie, begann, war England ein anderes Land: Das Rumpfparlament hatte die souveräne Gewalt übernommen, Charles I. war öffentlich hingerichtet, die Monarchie und das House of Lords waren abgeschafft und das Land war zum ‚Commonwealth and Free State‘ ausgerufen worden. Es ist bereits darauf verwiesen worden, dass die englische Fassung des Leviathan von den meisten Autoren als Hobbes’ Meisterwerk angesehen wird, und es kann kein Zweifel bestehen, dass es sich beim englischen Leviathan zumindest um die berühmteste und meistgelesene Schrift von Hobbes handelt sowie um das Werk, das seinen Durchbruch als Philosoph in seinem Heimatland England markiert. So wenig Zweifel bezüglich der Rezeption des Leviathan aber auch bestehen mögen, die Details seiner Entstehung sind mindestens so ungeklärt wie im Fall der Elements of Law. Es wird allgemein angenommen, dass Hobbes nicht vor 1649 mit der Arbeit am Leviathan begann und dass er sie wahrscheinlich in den ersten Monaten des Jahres 1651 beendete. Ob Hobbes die Arbeit aber im Winter,32 im Herbst,33 im Frühjahr34 oder schon im Januar35 1649 aufnahm ist genauso umstritten wie die Frage, warum er den Leviathan überhaupt schrieb. Es gibt Hinweise, dass Hobbes sich vor und nach der Bearbeitung der zweiten Auflage von De Cive mit De Corpore, dem ersten Teil seiner Elementa Philosophica, befasst hat. Warum er sich jedoch 1649 entschloss, diese Arbeit zu unterbrechen und sich erneut dem Studium der ‚civil science‘ zuzuwenden, ist nicht klar, und ebenso wenig ist klar, warum er, wenn ihm denn an der Veröffentlichung einer englischen Fassung seiner politischen Theorie gelegen war, ein neues Werk in Angriff nahm, anstatt einfach die Elements of Law in Druck zu geben oder De Cive ins Englische zu übertragen bzw. übertragen zu lassen.36 Es ist die Ansicht vertreten worden – insbesondere von Hobbes’ Zeitgenossen –, dass der Leviathan und vor allem die Passagen, in denen sich Hobbes’ mit der verpflichtenden Kraft einer politischen de facto-Autorität auseinandersetzt, Hobbes die Sympathien der neuen Regierung gewinnen und damit seiner Rückkehr nach England den Weg ebnen sollten.37 Ebenso ist vertreten worden, dass Hobbes mit dem Leviathan eine Antwort auf die schwierigen Gewissensprobleme liefern wollte, denen sich royalistisch gesinnte Bürger angesichts des nun von ihnen gefor_____________ 32 33 34 35 36 37

Vgl. Schuhmann 2004: 17. Vgl. Malcolm 2002a: 19. Vgl. Tuck 1993: 325. Vgl. Martinich 1999: 213. Vgl. auch Schuhmacher 2004: 15f. Vgl. hierzu Stephen 1961: 42; Lips 1970: 82ff.; Laird 1968: 14ff.; Peters 1956: 36; und Metzger 1991: 89. Vgl. auch Schilling 1947: 277. Hobbes selbst weist die betreffende Unterstellung in seinen Considerations upon the Reputation, Loyalty, Manners &c. nachdrücklich zurück (vgl. C: 7ff.).

2.4 Die lateinische Fassung des Leviathan

17

derten Oath of Engagement gegenüber sahen.38 Andere Autoren haben in anderen dringenden politischen Fragen der Zeit das Hauptanliegen des Leviathan vermutet, wie etwa in der Frage, ob der Inhaber der souveränen Gewalt verpflichtet ist, eine bestimmte Form der Staatskirche aufrecht zu erhalten – eine Sichtweise, die Hobbes in seiner ausgedehnten Diskussion des Verhältnisses von Staat und Kirche explizit zurückweist.39 Alle diese Interpretationen sind jedoch auch stark kritisiert worden, so dass von einem Konsens hinsichtlich der Intentionen, die Hobbes mit der Veröffentlichung des Leviathan verfolgt haben könnte, nicht gesprochen werden kann. Was außer Frage steht, ist, dass im Frühjahr 1651, ein Jahr bevor Hobbes Frankreich verlässt, um nach über elf Jahren des Exils nach England zurückzukehren, die englische Fassung des Leviathan in London erscheint und dass sie den Grundstein legt für den Ruhm und die Verdammung, die Hobbes zeit seines Lebens bei seinen Landsleuten erfahren hat.40

2.4 Die lateinische Fassung des Leviathan Es stellt immer noch eine offene Frage der Hobbes-Forschung dar, ob Hobbes bei der Abfassung des englischen Leviathan auf eine bereits existierende lateinische Fassung der Schrift zurückgegriffen hat. Die Behauptung, dass es in der Tat einen solchen lateinischen ‚Proto-Leviathan‘ gegeben hat, ist zuerst im Jahr 1932 von Zbigniew Lubienski aufgestellt worden,41 und sie löst noch immer kontroverse Diskussionen aus.42 Schuhmann hat kürzlich versucht zu bestimmen, in welchem Maß De Cive als Blaupause des Leviathan fungiert haben könnte. Seine Ergebnisse führen aber zu keinem abschließenden Urteil über die mögliche Existenz eines ‚Proto-Leviathan‘, und es lag auch gar nicht in Schuhmanns Absicht, ein solches Urteil zu begründen.43 Die einzige lateinische Version des Leviathan, die Hobbes ohne jeden Zeifel zugesprochen _____________ 38 39 40

41 42 43

Vgl. Skinner 2002a: 19f.; und Skinner 2002f. Vgl. Tuck 1993: 325. Da sich die von Noel Malcolm im Rahmen der Oxforder Clarendon Edition betreute kritische Ausgabe des Leviathan, die sowohl den englischen als auch den lateinischen Text enthalten wird, noch in Vorbereitung befindet, werde ich mich bei der Analyse des Leviathan auf die im 17. Jahrhundert erschienenen Originalausgaben stützen. Im Falle der englischen Fassung werde ich mich ausschließlich auf ein großformatiges Exemplar der 1651 gedruckten ‚Head edition‘ beziehen, das sich im Besitz der Bibliothek der Universität Cambridge befindet und das – wie Richard Tuck überzeugend vertreten hat – gegenüber den kleinformatigen Exemplaren den zuverlässigeren Text liefert (vgl. Tuck 1996a: XLVIff.). Vgl. Lubienski 1932: 253-274. Vgl. auch Tricaud 1971. Vgl. hierzu auch die Erörterungen des Problems bei Hood 1964: 54ff.; Curley 1994: LXXIIIf.; Skinner 1996: 3; und Ludwig 1998: 32-37. Vgl. Schuhmann 2004: 19f. und 29f.

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

werden kann, ist daher die offizielle lateinische Fassung, die im Jahr 1668 als Teil der gesammelten lateinischen Werke in Amsterdam erschien.44 Es ist unstrittig, dass Hobbes an der Veröffentlichung dieser Version beteiligt war und dass die meisten Änderungen gegenüber der englischen Fassung von 1651 sein Werk sind.45 Dies trifft in besonderem Maße auf die drei Dialoge zu, die als Appendizes dem eigentlichen Text beigegeben sind und die Titel „De Symbolo Niceno“, „De Haeresi“ and „De quibusdam Objectionibus contra Leviathan“ tragen. Diese Dialoge dürften ihre Existenz einer Erklärung gegen ‚atheism and profanity‘ verdanken, die im Oktober 1666 ins Parlament eingebracht worden war.46 In Verbindung mit der Erklärung war ein Kommitee eingesetzt worden, dessen ausdrückliche Aufgabe unter anderem darin bestand zu prüfen, ob sich gegen den Autor des Leviathan der Vorwurf des Atheimus aufrechterhalten ließe. Dass Hobbes sich in einem der Dialoge mit dem Thema der Ketzerei auseinandersetzt, kann daher darauf zurückgeführt werden, dass er selbst sich der Gefahr gegenübersah, wegen ebendieses Vergehens angeklagt zu werden, und Hobbes’ Argumentation verfolgt in der Tat eindeutig den Zweck, ihn fortan gegen derartige Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Dass Hobbes die Untersuchungen letztlich unbeschadet überstand, ist aber nicht auf die drei Dialoge zurückzuführen, die erst veröffentlicht wurden, nachdem die Untersuchungen bereits eingestellt worden waren.47 Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass Hobbes Unterstützung von seiten des Königs oder seines Staatssekretärs Henry Bennet zuteil wurde.48 Das Verhältnis zwischen Hobbes und seinem ehemaligen Mathematikschüler Charles II. hatte zwar deutlich unter der Veröffentlichung des englischen Leviathan gelitten, in dem einflussreiche Ratgeber des Königs, wie vor allem Hobbes’ früherer Freund Edward Hyde, der erste Earl of Clarendon, eine Rechtfertigung des neuen Regimes und einen Verrat am König als dem wahren Inhaber der souveränen Gewalt zu erblicken glaubten. Nach Aubreys Darstellung hatte zwischen Hobbes und Charles II. aber bereits kurz nach der Restauration eine Art Versöhnung stattgefunden,49 und Charles hatte sich sogar entschieden, Hobbes eine Pension auszusetzen.50 Wenn nicht Charles selbst hinsichtlich des Atheismusvorwurfs für Hobbes Partei ergriff, so ist anzunehmen, dass es sich bei Hobbes’ Förderer um Henry Bennet, den ersten _____________ 44

45 46 47 48 49 50

Ich werde bei der Auseinandersetzung mit dem lateinischen Leviathan daher ausschließlich auf ebendiese Ausgabe zurückgreifen, und zwar wie im Fall des englischen Leviathan auf ein Exemplar, das sich im Besitz der Bibliothek der Universität Cambridge befindet. Vgl. etwa Ludwig 1998: 30f.; und Skinner 2002a: 29. Vgl. hierzu Tönnies 1971: 60f.; Sommerville 1992: 26; und Skinner 2002a: 27. Vgl. Martinich 1999: 320 und 322. Vgl. Sommerville 1992: 27. Vgl. Aubrey 1982a: 154. Vgl. Martinich 1999: 294f.

2.4 Die lateinische Fassung des Leviathan

19

Earl of Arlington, gehandelt hat. Bennet war Mitglied von Charles’ Regierung und zählte zu dessen engsten Vertrauten, und die Tatsache, dass Hobbes ihm eines seiner weniger bekannten Werke widmete, deutet darauf hin, dass er Hobbes in den Jahren zwischen 1666 und 1668 in irgendeiner Form unterstützt hat. Wie Martinich betont, mag sich der Vorwurf der Ketzerei gegen Hobbes aber auch einfach deshalb in Luft aufgelöst haben, weil er sich bei Prüfung der Hobbes’schen Schriften letztlich als haltlos erwies.51 Während die englische Version dem Leviathan den Ruf eines philosophischen Meisterwerks eingetragen hat, ist die lateinische Version jahrzehntelang weitgehend ignoriert worden, und dies, obwohl sie die letzte Formulierung von Hobbes’ umfassender politischer Theorie darstellt und damit prima facie den Rang einer endgültigen Fassung seiner Lehre für sich beanspruchen kann.52 Erst im Anschluss an Tricauds französische Edition des Leviathan, in der das Verhältnis zwischen dem englischen und dem lateinischen Text eingehend erörtert wird,53 haben mehr und mehr Autoren begonnen, dieser vierten Version von Hobbes’ Theorie Beachtung zu schenken und sie in ihre Analysen miteinzubeziehen. Dass die lateinische Fassung des Leviathan ein deutlich höheres Maß an Aufmerksamkeit verdient, als ihr bislang zugestanden worden ist, ist dabei mit Nachdruck von Quentin Skinner vertreten worden, der betont hat, der lateinische Text weise gegenüber der englischen Fassung umfassende Revisionen auf.54 Und sowohl David Gauthier als auch Pasquale Pasquino haben kürzlich bei ihren Untersuchungen der Hobbes’schen Naturzustandstheorie auch auf einige Passagen der lateinischen Fassung des Leviathan zurückgegriffen.55 Eine begründetes Urteil darüber, welcher Platz dieser Fassung letztlich neben den drei anderen Texten zugewiesen werden muss, steht freilich bislang noch aus, und das Ziel der folgenden eingehenden Analyse des lateinischen Leviathan besteht nicht zuletzt darin, einen umfassenden Beitrag zu einem solchen Urteil zu leisten. Da nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, dass Hobbes sich bei der Abfassung des englischen Leviathan auf einen lateinischen ‚ProtoLeviathan‘ gestützt hat, kann auch nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass Hobbes bei der Vorbereitung der lateinischen Werkausgabe von 1668, anstatt den 1651 veröffentlichten englischen Text zu überarbeiten und komplett neu ins Lateinische zu übertragen, womöglich auf den ‚Proto-Leviathan‘ _____________ 51 52

53 54 55

Vgl. Martinich 1999: 320-322. Eine Ausnahme stellt die ursprünglich im Jahr 1927 erschiene Studie von Julius Lips dar, in der die beiden Fassungen des Leviathan relativ eingehend miteinander verglichen werden (vgl. Lips 1970: 75-82). Vgl. zudem den oben zitierten Hinweis Schillings aus dem Jahr 1947 (Schilling 1947: 277). Vgl. Tricaud 1971. Vgl. hierzu auch Tuck 1996a: XLV. Vgl. Skinner 1996: 3; und Skinner 2002a: 29f. Vgl. auch bereits Curley 1994: LXXIIIf. Vgl. Gauthier 2001: 259; und Pasquino 2001: 409. Vgl. auch Hoekstra 1997: 626; und Harvey 2004: 41f.

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

zurückgegriffen und bereits vorliegende lateinische Passagen direkt in den Text übernommen hat. In einem solchen Fall bestünde die Möglichkeit, dass es sich bei einzelnen Abweichungen des lateinischen Textes gegenüber dem englischen nicht um bewusste Überarbeitungen aus der Zeit nach 1651 handelt, die als Indizien für eine Weiterentwicklung des Hobbes’schen Denkens nach der Veröffentlichung des englischen Leviathan gelten könnten, sondern umgekehrt um Positionen aus der Zeit vor 1651, die bis zur letztlichen Veröffentlichung des englischen Textes von Hobbes aufgegeben oder modifiziert worden waren, die dann jedoch bei der Vorbereitung der lateinischen Werkausgabe in ihrer Bedeutung nicht angemessen erkannt oder schlicht übersehen worden sind. Es kann an dieser Stelle weder geklärt werden, ob es einen lateinischen ‚Proto-Leviathan‘ gegeben hat, noch ob diesem bei der Vorbereitung der lateinischen Werkausgabe irgendeine bedeutende Rolle zugekommen ist. Um der oben angedeuteten Problematik dennoch gerecht zu werden, sollen im Folgenden ausschließlich solche Abweichungen des lateinischen Leviathan gegenüber dem englischen Text als bewusste Überarbeitungen und als Indizien für eine Entwicklung des Hobbes’schen Denkens nach 1651 gewertet werden, die ihrem Wesen und ihrem Umfang nach zu deutlich sind, als dass angenommen werden könnte, Hobbes habe sie im Rahmen der Vorbereitung der lateinischen Werkausgabe in keiner Weise bejaht, sondern lediglich übersehen. So wird die Vermutung einer bewussten Überarbeitung etwa überall da, wo sich die Abweichung gegenüber dem englischen Text auf ein Wort oder eine einzelne Wendung reduziert, entweder gar nicht oder nur mit äußerster Vorsicht geäußert werden.

2.5 Die Naturzustandstheorie im Argumentationszusammenhang der verschiedenen Schriften Es ist bereits betont worden, dass Hobbes’ Naturzustandstheorie in allen Formulierungen der politischen Lehre eine vergleichbare Grundstruktur aufweist. Dieses trifft zu sowohl hinsichtlich der Position, die die Naturzustandsanalyse innerhalb des Gesamtzusammenhanges der jeweiligen Schriften einnimmt, als auch hinsichtlich der Struktur dieser Analyse selbst. Die Ähnlichkeiten bezüglich der Art und Weise, in der die Theorie des natürlichen Zustandes in den übergeordneten Argumentationszusammenhang eingefügt ist, treten besonders deutlich im Fall der Elements und der beiden Fassungen des Leviathan hervor. In allen drei Werken wird das Konzept des Naturzustandes innerhalb des ersten Teils der Argumentation eingeführt, der sich der Erörterung der Natur des Menschen widmet und in den Elements mit „Human Nature“ und im Leviathan schlicht mit „Of Man“ bzw. „De Homine“ überschrieben ist, und in allen Fällen liefert die Erörterung des Naturzustandes

2.5 Die Naturzustandstheorie

21

den Übergang zur Diskussion des Staates, die in den Elements den Titel „De Corpore Politico“ und im Leviathan die Titel „Of Common-Wealth“ bzw. „De Civitate sive Republica“ trägt. Im Fall von De Cive ist die Anordnung zunächst prinzipiell eine andere. Aufgrund seiner Eigenschaft als drittem und letztem Teil einer umfassenderen dreiteiligen Abhandlung, den Elementa Philosophica, enthält De Cive keine ausgiebige Erörterung der menschlichen Natur, da diese für den zweiten Teil der Abhandlung mit dem Titel De Homine reserviert war, die Hobbes allerdings nicht vor 1658 veröffentlichte. De Cive beginnt daher direkt mit der Analyse des Naturzustandes. Nimmt man De Homine und De Cive aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Elementa Philosophica jedoch zusammen, dann ist ihre Struktur mit der der Elements und des Leviathan zumindest vergleichbar, wenn auch die zahlreichen Kapitel von De Homine, die sich mit Fragen der Optik beschäftigen, keinen direkten Widerpart in den letztgenannten Werken haben: Hobbes führt den Begriff des Naturzustandes ein, nachdem er ausgiebig die physischen und mentalen Vermögen des Menschen beschrieben hat, und die Analyse des natürlichen Zustandes fungiert als Übergang zur Erörterung des staatlichen Zustandes, die unmittelbar auf die Naturzustandsanalyse folgt und den Titel „Imperium“ trägt. Die innere Struktur der Naturzustandsbeschreibung weist ein ähnliches Maß an Kontinuität auf. In allen vier Werken besteht die Analyse aus einem Kapitel, dessen Titel sich direkt vom Konzept des Naturzustandes herleitet, und einigen weiteren Kapiteln, in denen die Diskussion des Naturzustandes ohne Zweifel fortgeführt wird, wenn der Begriff selbst im Titel auch nicht mehr auftaucht. Schließlich endet die Erörterung des Naturzustandes in allen Werken mit einem Kapitel, das sich den Ursachen des Staates widmet. Zudem lässt sich hervorheben, dass die Elemente, aus denen sich die Naturzustandsanalyse letztlich zusammensetzt, in den Elements, in De Cive und in beiden Fassungen des Leviathan praktisch identisch sind. In allen Fällen beginnt Hobbes’ Argumentation mit der Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes; sie schreitet voran mit einer extensiven juridischen Erörterung, die sich dem natürlichen Recht, den natürlichen Gesetzen und der Übertragung bzw. der Aufgabe des natürlichen Rechts durch den Abschluss von Verträgen widmet; und sie endet mit der Hervorhebung der Notwendigkeit des staatlichen Zustandes und einer Beschreibung, wie dieser Zustand etabliert werden kann. Der Blick auf die Abfolge der Kapitel, die sich der Naturzustandsanalyse widmen, offenbart aber auch bereits gewisse Abweichungen zwischen den vier Werken, und eine eingehendere Betrachtung der Hobbes’schen Argumentation zeigt Unterschiede in der Art und Weise, wie die einzelnen Elemente der Naturzustandsanalyse miteinander verbunden sind. In den Elements widmet Hobbes der Beschreibung des Naturzustandes insgesamt sechs Kapitel, beginnend mit Kapitel XIV („Of the estate and right of nature“) und

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2. Die verschiedenen Fassungen von Hobbes’ politischer Philosophie

endend mit Kapitel XIX („Of the necessity and definition of a body politic“), und alle diese sechs Kapitel sind Bestandteil des Abschnittes über die menschliche Natur. In den späteren Werken reduziert sich jedoch die Anzahl der Naturzustandskapitel, und Hobbes löst das letzte Kapitel, das sich, wie gesehen, mit den Ursachen und der Gründung des Staates beschäftigt, aus der übergeordneten Erörterung der menschlichen Natur heraus und macht es zum ersten Kapitel des Teiles über den Staat. In De Cive erstreckt sich die Naturzustandsanalyse über fünf Kapitel, beginnend mit dem Kapitel „De statu Hominum extra societatem“ und endend mit dem Kapitel „De causis & Generatione ciuitatis“. Im Leviathan umfasst sie nur noch vier Kapitel, beginnend mit dem Kapitel „Of the Naturall Condition of Mankind, as concerning their Felicity, and Misery“ bzw. „De Conditio generis Humani, quantùm attinet ad felicitatem praesentis vitae“ und endend mit dem Kapitel „Of the Causes, Generation, and Definition of a Common-Wealth“ bzw. „De Causa, Generatione, et Definitione Civitatis“. Allein diese Unterschiede legen bereits die Annahme nahe, dass Hobbes seine Analyse des Naturzustandes in der Zeit nach Veröffentlichung der Elements zunehmend strafft, und die genauere Betrachtung der betreffenden Kapitel bestätigt dies. Dass sich die Analyse in De Cive nur noch über fünf Kapitel erstreckt, verdankt sich der Tatsache, dass Hobbes zwei der Kapitel der Elements, nämlich dasjenige, das sich dem dritten Naturgesetz widmet, und dasjenige, das die Herleitung der weiteren Naturgesetze zum Gegenstand hat, zu einem Kapitel zusammenzieht, eine Veränderung, die im Leviathan beibehalten wird. Dass beide Fassungen des Leviathan gegenüber De Cive ein Kapitel weniger aufweisen, geht auf die Tatsache zurück, dass die in Kapitel IV von De Cive vorgenommene Bestätigung der natürlichen Gesetze aus dem Text der Heiligen Schrift vollständig gestrichen wird. Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass Hobbes die Naturzustandskapitel keineswegs nur einer rein formalen Überarbeitung unterzieht, sondern dass er auch Teile des eigentlichen Arguments neu anordnet. Die entsprechenden Umarbeitungen betreffen vor allem die Erörterung des natürlichen Rechts. Wie von einer Reihe von Autoren hervorgehoben worden ist,56 wird das natürliche Recht auf Selbsterhaltung in den früheren Werken, d.h. in den Elements und De Cive, an einer früheren Stelle eingeführt. In beiden Schriften beginnt die eingehende Erörterung des natürlichen Rechts und damit die juridische Analyse des Naturzustandes innerhalb des ersten Naturzustandskapitels, d.h. im Rahmen der Herleitung des Kriegszustandes. In beiden Fassungen des Leviathan beginnen dagegen die entsprechenden Ausführungen erst im zweiten Kapitel, d.h. nachdem die Herleitung des Kriegszustandes bereits _____________ 56

Vgl. etwa Hood 1964: 49; Gauthier 1969: 32 und 51; Gehrmann 1970: 65f.; Bittner 1983: 395; Hampton 1986: 60f.; und Gert 1991: 3.

2.5 Die Naturzustandstheorie

23

abgeschlossen ist. Dieser Unterschied zwischen den Schriften lässt sich nun deshalb nicht einfach als bloße Formalität beiseite schieben, weil die frühere Behandlung des natürlichen Rechts in den Elements und in De Cive auch von direkter inhaltlicher Relevanz zu sein scheint, insofern nämlich, als das ‚Recht aller auf alles‘ in beiden Schriften explizit als eine der Ursachen des allgemeinen Kriegszustandes präsentiert wird. Wie weit dieser Unterschied aber letztlich die Hobbes’sche Argumentation beeinträchtigt oder verändert, wird in den späteren Kapiteln dieser Arbeit näher zu untersuchen sein. An dieser Stelle sollte es ausreichen, darauf hinzuweisen, dass die Hobbes’sche Naturzustandstheorie in allen vier Schriften weitestgehend die gleiche Struktur aufweist, dass Hobbes aber einige Modifikationen an seiner Theorie vornimmt, die schon für sich genommen die Frage aufwerfen, ob das Hobbes’sche Argument nicht zumindest teilweise seinen Charakter verändert.

3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes 3.1 Einleitung Das Konzept des menschlichen Naturzustandes stellt ein charakteristisches Merkmal der staatsphilosophischen Theorien des 17. Jahrhunderts dar. Es findet sich nicht nur in den Schriften von Hobbes, sondern zumindest der Sache, zumeist aber auch dem Begriff nach ebenso in denen von Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, John Locke und Baruch de Spinoza, sowie bei einer ganzen Reihe weniger einflussreicher Autoren. Die Bedeutung des Konzeptes freilich endet keineswegs mit dem Ende des 17. Jahrhunderts: Rousseau und Kant entwickeln berühmte Beschreibungen des menschlichen Naturzustandes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und während das Konzept im 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich weniger Beachtung gefunden haben mag, wird es von John Rawls unter dem Begriff der ‚original position‘ doch wieder wirkungsvoll in die philosophische Diskussion eingeführt, wenn auch mit einigen entscheidenden Modifikationen. Obwohl die überwältigende Bedeutung des Naturzustandstheorems für die politische Theorie der frühen Neuzeit und der Neuzeit absolut unstrittig ist,1 hat es bis heute fast keine Studien gegeben, die sich gezielter mit den historischen Ursprüngen des Konzeptes beschäftigt hätten. Nicht zuletzt aufgrund dieses Fehlens einschlägiger Studien herrscht bezüglich der Frage, wann und durch wen das Naturzustandskonzept in die staats- und rechtsphilosophische Diskussion eingebracht worden ist, eine erstaunliche Uneinigkeit. Richard Tuck hat in seiner 1999 erschienenen Schrift „The rights of war and peace“ die Behauptung aufgestellt, es handle sich beim Konzept des menschlichen Naturzustandes um eine Errungenschaft des 17. Jahrhunderts, und Hobbes habe das Konzept zwar nicht selbst erfunden, er habe aber zumindest den Begriff ‚Naturzustand‘ geprägt und darüber hinaus das Konzept endgültig in der philosophischen Diskussion etabliert.2 Quentin Skinner hat jedoch bereits 1978 darauf hingewiesen, dass sich nicht nur das theoretische Konzept schon in den Schriften der Spanischen Spätscholastik des 16. Jahrhunderts nachweisen lasse – so etwa bei Soto, Molina und Vitoria –, sondern im Falle von Molina auch der Begriff selbst.3 Johann Sommerville schließlich _____________ 1 2 3

Vgl. etwa Kersting 1992: 28f. und 98f.; und Tuck 1999: 6ff. Vgl. Tuck 1999: 135. Vgl. auch Harrison 2003: 70. Vgl. Skinner 1978: 155.

3.1 Einleitung

25

hat gar die Auffassung vertreten, die Ursprünge der Naturzustandstheorie ließen bis zu Jean Gerson im frühen 15. Jahrhundert zurückverfolgen.4 Wenn vor diesem Hintergrund die Einschätzung Tucks, Hobbes habe den Begriff des Naturzustandes geprägt, auch ausgesprochen fragwürdig erscheint, so kann Tuck doch darin zugestimmt werden, dass Hobbes einen entscheidenden, wenn nicht den entscheidenden Beitrag zur Etablierung des Konzeptes leistet. In der Tat dürfte es kaum einen Interpreten geben, der Hobbes’ diesbezügliche Bedeutung in Abrede stellen würde. Es kann daher kaum verwundern, dass der Begriff des Naturzustandes üblicherweise eng mit dem Namen Hobbes verbunden wird. So einig man sich im Hinblick auf Hobbes’ Bedeutung für die Wirkung des Naturzustandstheorems aber auch sein mag: Wenn es um die Beschreibung der konstitutiven Elemente und des genauen Charakters der Hobbes’schen Naturzustandskonzeption geht, kann von einem derartigen Konsens kaum die Rede sein. Sowohl die Frage nach den definitorischen Bestandteilen des Naturzustandes als auch die vieldiskutierte Frage nach dem theoretischen Status dieses Zustandes werden in der Forschung durchaus unterschiedlich beantwortet, und schon aus diesem Grund scheint es geboten, zunächst einmal das Konzept des Naturzustandes selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Die Notwendigkeit, das theoretische Konzept, das Hobbes’ Naturzustandsanalyse zugrundeliegt, eingehender zu untersuchen und dabei der Frage nachzugehen, ob dieses theoretische Konzept als solches zwischen 1640 und 1668 eine signifikante Veränderung erfährt, erscheint aber noch aus einem zweiten Grund als besonders dringlich. Blickt man noch einmal auf die Gegenüberstellung der Naturzustandstheorien in Hobbes’ verschiedenen Werken, wie sie im vorangegangenen Kapitel vorgenommen worden ist, so fällt ein Umstand ins Auge, dem von Seiten der Hobbes-Interpreten bislang nur ausgesprochen selten eingehender Beachtung geschenkt worden ist, nämlich die Tatsache, dass Hobbes in den verschiedenen Werken den Naturzustand mit Hilfe verschiedener Termini in die Diskussion einführt.5 So erscheint der Naturzustand in den Elements als „estate of nature“6, in De Cive als „statu[s] Hominum extra Societatem civilem“7 und in den beiden Fassungen des Levia_____________ 4

5 6 7

Vgl. Sommerville 1992: 37. Vgl. zudem Tönnies, der das Naturzustandstheorem zum biblischen Urzustand, zum Begriff des Goldenen Zeitalters und zur Lehre Epikurs in Beziehung setzt (Tönnies 1971: 200). Tönnies widmet den Unterschieden zwischen den jeweiligen Konzepten aber zu wenig Aufmerksamkeit, und seine daran anschließende Behauptung, Hobbes entnehme das Konzept des Naturzustandes der herrschenden Lehre seiner Zeit, stellt fraglos eine Übertreibung dar. Eingehendere Auseinandersetzungen mit diesem Sachverhalt finden sich, soweit ich sehe, lediglich bei Macpherson (Macpherson 1962: 25f.) und Ludwig (Ludwig 1998: 206f.) E: XIV. DC: 89.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

than als „Naturall Condition of Mankind“8 bzw. als „Conditio generis Humani“9. Im Rahmen der eigentlichen Argumentation verwendet Hobbes weitere, sich mitunter abwechselnde Ausdrücke, um auf den natürlichen Zustand Bezug zu nehmen. Die konsistenteste Verwendung findet sich in De Cive. Abgesehen von der oben zitierten Überschrift des ersten Kapitels und einer Stelle im Praefatio der zweiten Auflage von 1647,10 erscheint der Naturzustand konsequent als „status naturae“ oder „status naturalis“.11 Im englischen Leviathan verwendet Hobbes am häufigsten den Begriff „condition of meer nature“, der in der lateinischen Ausgabe seine Entsprechung in den Wendungen „conditio merae naturae“ und „conditio mere naturalis“ findet.12 Den am wenigsten konsistenten Gebrauch zeigen die Elements. Der natürliche Zustand erscheint mal als „condition of men in mere nature“, mal – wie schon in der Überschrift zu Kapitel XIV – als „estate of nature“, mal als „state of nature“, mal als „natural estate of man“ und mal schlicht als „estate of man“.13 Vor allem der relativ konsequente Wechsel von den Begriffen „estate“, „state“ und „status“ in den früheren Werken zum Begriff „condition“ bzw. „conditio“ im Leviathan wirft nun jedoch die Frage auf, welche Gründe Hobbes zur Verwendung solch verschiedener Begriffe zur Bezeichnung des Naturzustandes veranlasst haben könnten und ob die sprachliche Neuorientierung gegebenenfalls mit einer Veränderung in seinem theoretischem Konzept des Naturzustandes einhergeht. Zwar muss darauf hingewiesen werden, dass Hobbes den für den Leviathan charakteristischen Begriff der „condition“ bzw. „conditio“ auch schon in den Elements und in De Cive zur Bezeichnung des Naturzustandes benutzt14 und dass der Begriff „state of nature“ aus den früheren Werken auch noch in einer Passage des englischen Leviathan Verwendung findet.15 Allein die Tatsache, dass die zuletzt genannte Passage in der lateinischen Fassung des Leviathan abgeändert worden ist und Hobbes damit in der letzten umfassenden Formulierung seiner politischen Theorie konsequent und vollständig auf den Begriff ‚state of nature‘ bzw. ‚status naturalis‘ verzichtet,16 macht aber deutlich, dass die Abweichungen und Wechsel in Hobbes’ Terminologie kaum als zufällig gelten können. Die terminologischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Schriften geben daher ausreichend _____________ 8 9 10 11 12 13 14 15 16

EL: 60. LL: 63 Vgl. DC: 81. Vgl. etwa DC: 81, 93, 95, 96 und 131. Vgl. dazu EL: 68, 71, 103, 129, 168 und 186; sowie LL: 66, 69, 99, 152 und 166. Vgl. E: XIV, 73, 74, 78, 83, 107 und 127. Vgl. E: XIV; und DC: 81. Vgl. EL: 103. Vgl. LL: 99, wo der Satz „But the question lyeth now in the state of meer Nature...“ des englischen Leviathan (EL: 103) ersetzt wird durch den Satz „Sed quaestio nunc est Jure Dominii in conditione naturali...“.

3.2 Das grundlegende Konzept

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Anlass, um das theoretische Konzept, das sich hinter den wechselnden Bezeichnungen verbirgt, einer eingehenderen Prüfung zu unterziehen. Bei der diesbezüglichen Analyse von Hobbes’ Konzept des Naturzustandes sollen zwei Fragen besonders im Mittelpunkt stehen, nämlich die Frage, welche charakteristischen Merkmale den Hobbes’schen Naturzustand konstituieren, und die Frage, wie der theoretische Status dieses Zustandes zu bestimmen ist.

3.2 Das grundlegende Konzept: Die Opposition von Naturzustand und bürgerlicher Gesellschaft Bezüglich der grundlegenden Idee, die sich bei Hobbes wie bei anderen Autoren des 17. Jahrhunderts mit dem Begriff ‚Naturzustand‘ verbindet, besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit. Die Beschreibung dieser Idee, wie überhaupt die Beschreibung der konstitutiven Elemente des Hobbes’schen Naturzustandes, wird allerdings durch die Tatsache erschwert, dass Hobbes – seiner eigenen Forderung nach klaren und eindeutigen Definitionen zum Trotz – an kaum einer Stelle eine wirklich umfassende Definition dieses für ihn so zentralen Begriffes liefert. Die Passage, in der er einer solchen Definition am nächsten kommt, findet sich im Praefatio zur zweiten Auflage von De Cive, in dem er den Naturzustand als „conditionem hominum extra societatem civilem“ charakterisiert, eine Bezeichnung, die, wie gesehen, in der Überschrift des ersten Kapitels in leicht veränderter Form wieder auftaucht. Immoto igitur quod jeci fundamento, Ostendo primò conditionem hominum extra societatem civilem (quam conditionem appellare liceat statum naturae) aliam non esse quam bellum omnium contra omnes [...]17

In den anderen Werken finden sich keine derartigen Definitionen, und die Überschriften der betreffenden Kapitel bieten ebenfalls nur sehr geringe Hilfe. Das vierzehnte Kapitel der Elements beinhaltet lediglich den Begriff „estate of nature“, und die Überschriften von Kapitel XIII im englischen („Of the Naturall Condition of Mankind, as concerning their Felicity, and Misery“) und im lateinischen („De Conditione generis Humani, quantùm attinet ad felicitatem praesentis vitae“) Leviathan kündigen zwar mit großer rhetorischer Kraft die Beschreibung des Naturzustandes an, liefern aber ebenfalls keine Erläuterung des Begriffes selbst. Es kann jedoch letztlich kein Zweifel bestehen, dass der Begriff des Naturzustandes in den Elements und im Leviathan in der gleichen Weise als Gegenbegriff zu den Begriffen „state“, „commonwealth“ oder „societas civilis“ fungiert, wie dies offensichtlich in De Cive der Fall ist. Im Leviathan wird dieser _____________ 17

DC: 81.

28

3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

Eindruck bereits in der Introduction bzw. Introductio vermittelt, in der Hobbes in pointierter Weise Natur und Kunst einander gegenüberstellt und die politische Gemeinschaft explizit der Sphäre der Kunst zuordnet.18 Die Grundstruktur der folgenden Argumentation, die sich, wie gesehen, zunächst der Untersuchung der menschlichen Natur und des menschlichen Naturzustandes widmet, um dann den Übergang vom Naturzustand in den staatlichen Zustand zu beschreiben, macht schließlich unmissverständlich klar, dass der Begriff des Naturzustandes in allen Werken zunächst und vor allem einen Zustand bezeichnet, in dem es keine bürgerliche Ordnung gibt. Es lässt sich daher im Anschluss an Goldsmith betonen, dass es sich bei Hobbes’ Naturzustandskonzept grundsätzlich um ein negatives Konzept handelt: Was den Naturzustand konstituiert, ist die Abwesenheit der charakteristischen Merkmale der bürgerlichen Gesellschaft.19 Hobbes’ zahlreiche Verweise auf den Naturzustand und den ihm entgegengesetzten bürgerlichen Zustand vermitteln einen relativ deutlichen Eindruck davon, um welche Eigenschaften es sich dabei handelt. Der bürgerliche Zustand ist charakterisiert durch die Existenz einer autorisierten souveränen Gewalt; durch positive Gesetze, die einen allgemeinen Maßstab für das Handeln der Individuen bieten; durch Richter, die das Recht und die Aufgabe haben, bei Streitfällen verbindliche Entscheidungen zu treffen; und durch Zwangsmittel, mit deren Hilfe die allgemeine Befolgung der Gesetze und der ergangenen Urteile prinzipiell sichergestellt werden kann. Entsprechend erscheint der Naturzustand bei Hobbes als Zustand ohne Regierung,20 ohne Gesetze21 (mit Ausnahme der natürlichen Gesetze) und ohne allgemeine Zwangsgewalt22 sowie als Zustand, in dem jedes Individuum Richter in eigener Sache ist.23 _____________ 18 19

20 21 22 23

Vgl. EL: 1f.; und LL: 1f. Vgl. Goldsmith 1966: 172 („The concept of the state of nature, like the concept of space, is mainly negative; it is the description of the result that is achieved when the social world is imagined to be destroyed. The state of nature is what is not a society.“) Zur prinzipiellen Opposition von Naturzustand und bürgerlichem Zustand vgl. auch Peters 1956: 202; Warrender 1961: 30; Macpherson 1962: 19; Watkins 1965: 72; Tricaud 1988: 108; Curley 1989:175; Kersting 1992: 29; Münkler 1993: 110f.; Curley 1994: XXI; Berkowitz 1999: 50; sowie Tönnies 1971: 206 und 214, der allerdings umgekehrt im staatlichen Zustand die „Verneinung des Naturzustandes“ erblickt. Lloyd ist - soweit ich sehe - die einzige Autorin, die sich dieser allgemeinen Definition des Naturzustandes widersetzt und den natürlichen Zustand als Zustand definieren will, in dem es keinen öffentlichen Standard dafür gibt, was Gut und Böse ist, sondern nur die privaten und subjektiven Urteile der Einzelnen (vgl. Lloyd 1992: 261). Vgl. E: 127; DC: 219; EL: 63 und 185; und LL: 65. Vgl. E: 80 und 188f.; DC: 208 (sowie in der zweiten Auflage zusätzlich 95); EL: 62, 63 und 110; und LL: 65. Vgl. E: 78; DC: 180; EL: 61, 62 und 68; und LL: 64 und 83. Vgl. E: 90f. und 188; EL: 70; und LL: 71.

3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes

29

Man mag nun die Ansicht vertreten, dass das Fehlen all dessen im Naturzustand im Leviathan von Hobbes deutlicher herausgestellt wird als in den früheren Werken. In der Tat verweist Hobbes in beiden Fassungen des Leviathan häufiger auf die entsprechenden Aspekte als in den Elements oder in De Cive. Aus meiner Sicht ist diese Tatsache aber nicht darauf zurückzuführen, dass Hobbes zur Zeit des Leviathan größere Klarheit über sein Naturzustandskonzept gewonnen hätte, sondern eher auf die rhetorischen Absichten, die sich in den späteren Werken stärker als zuvor mit der Hobbes’schen Argumentation verbinden. Dass Hobbes im Leviathan wiederholt auf die verschiedenen Aspekte Bezug nimmt, die den natürlichen Zustand ausmachen und prägen, verdankt sich keineswegs dem Bemühen um eine möglichst klare und wissenschaftliche Definition des Naturzustandes. Eine solche findet sich letztlich, wie gesehen, weder im englischen noch im lateinischen Leviathan, sondern am ehesten in De Cive. In den Fällen, in denen die Bezugnahmen nicht den Zweck erfüllen, einen Aspekt des Naturzustandes herauszustellen, der für den konkreten Argumentationszusammenhang von direkter Bedeutung ist, fungieren sie als Paraphrasen für den Begriff ‚natural condition‘ und steigern dabei deutlich die rhetorische Kraft der Ausführungen, vor allem, wenn der Naturzustand wieder und wieder als Zustand „without a common Power to keep them all in awe“24 erscheint. So gering die Zahl entsprechender Verweise in den früheren Schriften daher auch sein mag, ihr prinzipielles Vorkommen reicht als Beleg dafür aus, dass Hobbes sich seines grundlegenden Konzeptes des Naturzustandes als eines Gegenbegriffs zur bürgerlichen Gesellschaft schon zur Zeit der Elements bewusst ist und dass dieses grundlegende Konzept anschließend im Wesentlichen unverändert bleibt.

3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes So unterschiedlich die Beschreibungen des natürlichen Zustands in den Werken der großen Naturzustandstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts auch sein mögen: Alle diese Beschreibungen haben in nahezu identischer Weise ein- und dieselbe Frage aufgeworfen, nämlich die Frage, wie der ontologische bzw. der theoretische Status des beschriebenen Zustands zu verstehen ist.25 Handelt es sich beim Naturzustand, der, wie gesehen, prinzipiell durch die Abwesenheit politischer Herrschaft gekennzeichnet ist, um die Beschreibung _____________ 24 25

EL: 62. Vgl. auch EL: 85 und 87; sowie 61 und 68. Entsprechende Debatten finden sich etwa vor allem im Fall Lockes und Rousseaus. Für Locke vgl. etwa Strauss 1953; Cox 1960; Aarsleff 1969; Dunn 1969; Ashcraft 1991; Strauss 1991; Batz 1991; Rogers 1998; den Hartogh 1999; und Goldwin 1999. Für Rousseau siehe beispielsweise die Einschätzungen in Strauss 1953; Röhrs 1957; Rang 1959; Vossler 1963; Fetscher 1975; Forschner 1977; Bolle 1995; und Müller 1997.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

eines Zustandes, der historisch existiert hat? Basiert die Verwendung des Begriffs daher auf der Prämisse, dass die Menschen einst ohne jegliche Form politischer Herrschaft zusammengelebt haben, und besteht die Funktion der Naturzustandsbeschreibung entsprechend darin, das geschichtliche Entstehen politischer Strukturen nachzuzeichnen? Oder handelt es sich beim Konzept des Naturzustandes um eine anthropologische bzw. soziologische Hypothese, deren Aufgabe es ist, die menschliche Natur zu beschreiben und dazu vom Leben in der bürgerlichen Gesellschaft und von denjenigen kulturellen und politischen Strukturen zu abstrahieren, die das Verhalten des bürgerlichen Menschen geprägt haben und nach wie vor prägen? Oder stellt der Naturzustand weder ein geschichtswissenschaftliches noch ein anthropologisches, sondern vielmehr ein juridisches Theorem da, dessen Untersuchungsgegenstand gar nicht die empirischen Beziehungen der Menschen, sondern ihre moralischen oder (natur-)rechtlichen Beziehungen in der Abwesenheit positiver Gesetze sind? Im Falle von Hobbes reicht die Debatte um den Status des Naturzustandes bis in dessen eigene Zeit zurück. Während Hobbes’ Zeitgenossen seine Theorie noch häufig als Verweis auf eine bestimmte Epoche der Menschheitsgeschichte interpretiert haben,26 wertet die überwiegende Mehrheit der modernen Interpreten Hobbes’ Naturzustandstheorem grundsätzlich als methodische Fiktion und betont mitunter geradezu vehement die Tatsache, dass Hobbes Anliegen nicht darin bestanden habe, einen prähistorischen Zustand der Menscheit zu beschreiben oder die geschichtliche Entstehung des Staates aufzuzeigen, sondern vielmehr darin, mit Hilfe eines bloßen Gedankenexperimentes die Notwendigkeit des staatlichen Zustandes und einer souveränen Zwangsgewalt zu beweisen.27 Die Tendenz, den Naturzustand mehr und mehr von jeglichem historischen Gehalt zu säubern, hat aber in der letzten Zeit auch einige Kritik erfahren. So hat etwa Tuck darauf hingewiesen, dass die Vertragstheoretiker des 17. Jahrhunderts dem Naturzustand durchaus eine gewisse Historizität zugebilligt und ihn zumindest als einen empirisch mögli-

_____________ 26

27

Vgl. beispielsweise Bramhalls Kritik an Hobbes in „A Defence of True Liberty from Antecedent and Extrinsicall Necessity“ (Bramhall 1655: 107) und Tenisons Kritik in „The Creed of Mr. Hobbes Examined“ (Tenison 1670: 132), sowie Filmers Erörterungen in der schon 1652 erschienenen Schrift „Observations Concerning the Originall of Government“ (Filmer 1991a: 187f.). Vgl. etwa Peters 1956: 168f.; Warrender 1961: 30; Macpherson 1962: 21; Hood 1964: 74; Strauss 1965: 104f.; Watkins 1965: 72; Höffe 1981: 122f.; Johnson 1987: 149; Farrell 1989: 65; Ewin 1991: 2 und 94f.; Dix 1994: 3ff.; Hüning 1998a: 44; und Hüttemann 2004: 45. Besonders nachhaltig betonen den nicht-historischen Charakter des Hobbes’schen Naturzustandes Freund (Freund 1982: 111) und Kersting (Kersting 1992: 59 und 102).

3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes

31

chen Zustand verstanden hätten.28 Andere Autoren, wie etwa Kodalle und Nonnenmacher, haben die Tatsache betont, dass es sich beim Naturzustand zumindest um ein auf bestimmte Wesensbestandteile hin stilisiertes Abbild historischer Wirklichkeit im Sinne eines Ideals oder einer Grenzsituation handle.29 Es bleibt zudem festzustellen, dass selbst unter den Autoren, die den Naturzustand übereinstimmend als reine methodische Fiktion oder abstrakte Hypothese verstanden wissen wollen, keineswegs Einigkeit darüber besteht, wie der theoretische Status dieser Hypothese näher zu bestimmen ist. Während die meisten Autoren Hobbes’ Naturzustandstheorie als eine vorrangig anthropologische oder soziologische Analyse interpretieren, deren Ziel es ist zu beschreiben, wie sich Menschen in der Abwesenheit politischer Herrschaft konkret verhalten werden, haben andere Autoren, vornehmlich im deutschen Sprachraum, die juridischen Aspekte der Hobbes’schen Naturzustandsbeschreibung betont und dabei sogar die Behauptung aufgestellt, im Rahmen der rechtstheoretischen Analyse erfahre die Notwendigkeit der Überwindung des Naturzustandes ihre eigentliche Begründung.30 Mit Blick auf die Forschungsdiskussion und in Anlehnung an die oben formulierten Fragen erscheint es mir daher sinnvoll, im Folgenden zwischen drei möglichen Perspektiven auf den Naturzustand bzw. drei Typen von Naturzustandstheorien zu unterscheiden, nämlich zwischen a) historischen, b) anthropologischen und c) juridischen Theorien. Es ist aber bereits zu betonen, dass sich die drei Perspektiven keinesfalls ausschließen. Vielmehr können die entsprechenden Untersuchungsinteressen einander im konkreten Fall durchaus ergänzen, und im Hinblick auf die berühmtesten Naturzustandstheorien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts stellt das Nebeneinander von anthropologischer und juridischer Fragestellung aus meiner Sicht sogar den Regelfall dar.

_____________ 28

29

30

Vgl. Tuck 1999: 6ff. Vgl. auch Tuck 1996a: XXIXf. Vgl. zudem bereits Laird 1968: 176; sowie Schochet 1967: 428f. und 445; Weiß 1980: 139f.; Metzger 1991: 85f.; Chapman 1993: 632; Curley 1994: XXI; Ryan 1996: 218; Pasquino 2001: 406; und Hoekstra 2007: 117ff. Hood gesteht ebenfalls zu, dass es sich beim Naturzustand um mehr als eine reine ahistorische Fiktion handelt, will aber die entsprechenden Bezugnahmen bei Hobbes nicht als Teil des philosophischen Argumentes verstanden wissen (vgl. Hood 1964: 81). Vgl. auch Warrender 1961: 30; Tönnies 1971: 206; und Strauss 1965: 104f. Vgl. Kodalle 1972: 33; Nonnenmacher 1989: 14f.; und Münkler 1993: 111. Zur Beschreibung des Naturzustandes als „ideal limiting case“ vgl. Johnson 1987: 149; sowie daran anschließend Tricaud 1988: 111. Vgl. vor allem Geismann 1982; Geismann/Herb 1988; Herb 1989; und Hüning 1998a. Vgl. aber auch Malcolm 2002b.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

a) historische Theorien des Naturzustandes Ich verstehe Naturzustandstheorien als ‚historisch‘, wenn sie eine Aussage darüber zu treffen versuchen, wie Menschen in der Abwesenheit politischer Gewalt faktisch zusammenleben oder zusammengelebt haben. Entsprechende Theorien mögen in dem Sinne hypothetisch sein, dass sie zum Teil auf Spekulationen angewiesen sind, vor allem wenn ihr Ziel darin besteht, einen vergangenen und gegebenenfalls nicht durch Quellen bezeugten Zustand zu beschreiben. Sie sind es aber nicht in dem Sinne, dass sie nicht prinzipiell versuchen würden, Aussagen über geschichtliche Wirklichkeit zu treffen. Historische Naturzustandstheorien behaupten vielmehr ganz im Gegenteil, dass der beschriebene Zustand tatsächlich existiert hat oder noch existiert. b) anthropologische Theorien des Naturzustandes Da die Begriffe ‚historisch‘ und ‚anthropologisch‘ gerade in der angloamerikanischen Forschung oftmals synonym verwendet werden, ist es wichtig, eine klare Trennung zwischen beiden Begriffen zu ziehen. Ich bezeichne Naturzustandstheorien als ‚anthropologisch‘, wenn ihr Ziel darin besteht zu untersuchen, wie Menschen sich außerhalb staatlicher Gemeinschaften aufgrund ihrer natürlichen Neigungen und Triebe verhalten oder verhalten würden. Anthropologische Theorien des Naturzustandes zielen also wie historische Theorien prinzipiell auf die empirischen Beziehungen der Menschen. Anders als letztere implizieren sie aber keinen notwendigen Anspruch auf Historizität, sondern können auch rein hypothetische Versuche darstellen, das Leben in der Abwesenheit politischer Gewalt zu beschreiben und so etwa die Notwendigkeit einer solchen Gewalt aufzuzeigen. c) juridische Theorien des Naturzustandes Juridische Theorien des Naturzustands unterscheiden sich, wie oben schon angedeutet, von historischen und anthropologischen Theorien dadurch, dass ihr primärer Gegenstand nicht die empirischen Beziehungen, sondern die abstrakt-rechtlichen Beziehungen der Menschen sind. Die zentrale Frage lautet dabei, ob es natürliche Rechte und Pflichten der Menschen gibt, wie diese Rechte und Pflichten aussehen und auf welche Weise und bis zu welchem Grade sie übertragen oder aufgegeben werden können. Die Frage, die im vorliegenden Kontext von vorrangigem Interesse ist, ist die Frage, ob es bezüglich des Status, den Hobbes dem von ihm beschriebenen Naturzustand zugesteht, signifikante Unterschiede zwischen den vier Werken

3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes

33

gibt. Wie in Kapitel 2.531 bereits deutlich geworden ist, kann kein Zweifel bestehen, dass es sich bei Hobbes’ Naturzustandsanalyse sowohl um eine anthropologische als auch um eine juridische Analyse handelt. Das erste Naturzustandskapitel widmet sich in allen vier Schriften zumindest zum überwiegenden Teil dem konkreten Verhalten menschlicher Individuen in der Abwesenheit politischer Herrschaft, und die folgenden Kapitel widmen sich in allen vier Fällen einer umfassenden Diskussion der natürlichen Rechte und Pflichten, wenn diese Diskussion in den Elements und in De Cive auch etwas früher begonnen wird als im Leviathan. Entsprechend charakterisiert Hobbes in allen Schriften den Naturzustand durch Bezugnahmen sowohl auf anthropologische als auch auf rechtliche Fragestellungen. In den Elements wird die Relevanz der anthropologischen und damit prinzipiell auf empirische Aspekte abzielenden Analyse dadurch unterstrichen, dass Hobbes den Naturzustand als denjenigen Zustand beschreibt, in den die Leidenschaften den Menschen versetzen,32 und dass er für das erste Kapitel das Ziel der Untersuchung in der folgenden Weise formuliert: „to consider in what estate of security this our nature hath placed us, and what probability it hath left us of continuing and preserving ourselves against the violence of one another“33. Dass die entsprechende Analyse aber eng verbunden ist mit einer Analyse der rechtlichen Strukturen des natürlichen Zustandes und insbesondere mit der Erörterung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘, ist schon betont worden, und diese Tatsache liefert Hobbes den Anlass, den Naturzustand auch als „estate of liberty and right of all to all“34 oder als Zustand, „wherein (...) every man allowed to be his own judge“35, zu bezeichnen. In De Cive zeigt sich ein ähnliches Bild. In der Epistola Dedicatoria und dem Praefatio hebt Hobbes dadurch sehr stark den juridischen Aspekt des Naturzustandes hervor, dass er die Naturzustandsanalyse als Untersuchung der natürlichen Rechte und Pflichten der Menschen ankündigt.36 Schon hier beschreibt Hobbes die Naturzustandstheorie aber zugleich als Untersuchung der menschlichen Natur und der Folgen der natürlichen Neigungen der Menschen,37 und dieser Doppelcharakter der Naturzustandstheorie wird deutlich aufrech_____________ 31

32 33 34 35 36 37

Um unnötige Verwirrungen zu vermeiden, werde ich bei Quer- und Rückverweisen auf Kapitel der vorliegenden Arbeit konsequent auf die arabischen Kapitelbezeichnungen zurückgreifen (‚Kapitel 2‘, ‚Kapitel 2.5‘ etc.) und mich demgegenüber auf Kapitel der Hobbes’schen Schriften mit Hilfe römischer Ziffern beziehen bzw. in sprachlicher Form (‚Kapitel II‘ bzw. ‚zweites Kapitel‘). Vgl. E: 108. E: 70. E: 73. E: 100. Vgl. etwa DC: 75 und 77. Vgl. DC: 81 und 84.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

terhalten, wenn Hobbes sich im Libertas überschriebenen ersten Teil des De Cive der eigentlichen Analyse zuwendet. Wie bereits angedeutet worden ist, besteht einer der strukturellen Unterschiede zwischen dem Leviathan und den beiden früheren Werken in der Tatsache, dass im Leviathan anthropologische und juridische Analyse weniger stark ineinander verwoben sind. Dies heißt aber keineswegs, dass Hobbes sich in den späteren Werken auf einen der beiden Aspekte beschränken würde. Die Naturzustandstheorie des Leviathan stellt auf der einen Seite nach wie vor eine „Inference, made from the Passions“38 dar, auf der anderen Seite aber auch eine Untersuchung der rechtlichen Strukturen, die das Zusammenleben der Menschen in der Abwesenheit politischer Herrschaft bestimmen, und dies gilt für beide Ausgaben des Leviathan in gleicher Weise. Die Frage, ob sich die Hobbes’sche Begründung der Notwendigkeit des staatlichen Zustandes nun stärker auf die Ergebnisse der anthropologischen oder aber auf die der juridischen Analyse stützt, muss an dieser Stelle vertagt werden. Ihre Beantwortung kann erst erfolgen, wenn die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ und vor allem die Hobbes’sche Diskussion des natürlichen Rechts eingehender besprochen worden sind. Es kann aber festgehalten werden, dass Hobbes’ Naturzustandstheorie durch eine grundsätzliche perspektivische Ambivalenz gekennzeichnet ist und dass in allen vier Fassungen von Hobbes’ Lehre das Leben außerhalb einer staatlichen Ordnung sowohl in anthropologischer wie auch in juridischer Hinsicht erörtert wird. Die Frage, die damit zu untersuchen bleibt, ist die Frage, ob Hobbes auch eine historische Darstellung des Naturzustandes intendiert, in welchem Maße der Hobbes’sche Naturzustand also als Abbild historischer Wirklichkeit verstanden werden kann. Bezüglich dieses Aspektes zeigen die verschiedenen Schriften deutlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Die eindeutigsten Verweise auf den Naturzustand als einen auch historischen Zustand finden sich im Leviathan. Im Anschluss an die Herleitung des Kriegszustandes nimmt Hobbes explizit den möglichen Einwand auf, ein Naturzustand, wie der von ihm beschriebene, habe nie wirklich existiert, und Hobbes’ Antwort auf diesen Einwand besteht darin, verschiedene empirische Beispiele für ein Leben im Naturzustand oder in zumindest naturzustandsähnlichen Situationen aufzuzeigen. Die Beispiele, auf die Hobbes sich bezieht, sind a) die Indianer Nord- und Südamerikas, b) Menschen, die unter den Bedingungen eines Bürgerkrieges leben, und c) die Herrscher verschiedener Staaten, die weder einen gemeinsamen Herrscher noch gemeinsame positive Gesetze über sich haben. It may peradventure be thought, there was never such a time, nor condition of warre as this; and I believe it was never generally so, over all the world: but there are many places, where they live so now. For the savage people in many places of America, ex-

_____________ 38

EL: 62 und 85; vgl. auch LL: 65 und 83.

3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes

35

cept the government of small Families, the concord whereof dependeth on naturall lust, have no government at all; and live at this day in that brutish manner, as I said before. Howsoever, it may be perceived what manner of life there would be, where there were no common Power to feare; by the manner of life, which men that have formerly lived under a peacefull government, use to degenerate into, in a civill Warre. But though there had never been any time, wherein particular men were in a condition of warre one against another; yet in all times, Kings, and Persons of Soveraigne authority, because of their Independency, are in continuall jealousies, and in the state and posture of Gladiators; having their weapons pointing, and their eyes fixed on one another; that is, their Forts, Garrisons, and Guns upon the Frontiers of their Kingdomes; and continuall Spyes upon their neighbours, which is a posture of War.39

Die Tatsache, dass die Bürger eines Staates gleichsam in den Naturzustand zurückfallen, sobald ein Bürgerkrieg ausbricht und die staatliche Ordnung aufgelöst wird, wird in einer Reihe von Passagen in den späteren Kapiteln des Leviathan erneut ausdrücklich hervorgehoben,40 und dies gilt in ähnlicher Weise auch für den Punkt, dass die souveränen Herrscher und Repräsentanten verschiedener Staaten bzw. diese Staaten selbst sich miteinander im Naturzustand befinden.41 In der lateinischen Fassung des Leviathan findet sich in Kapitel XIII zudem neben den bereits erwähnten empirischen Beispielen ein Verweis auf die Bibel. So kann laut Hobbes auch von der Tötung Abels durch seinen Bruder Kain gesagt werden, dass sie im Naturzustand stattgefunden habe, was zugleich einen zusätzlichen Beleg für die Ansicht liefere, dass bei Abwesenheit einer allgemeinen Zwangsgewalt kriegerische Konflikte zwischen den Menschen unvermeidbar seien.42 In De Cive wird hingegen die Frage der Historizität des Naturzustandes nicht ausdrücklich diskutiert. Im Anschluss an die Herleitung des Kriegszustandes führt Hobbes zwar einige empirische Beispiele an, die denen im Leviathan ähneln. Anders als dort haben die Beispiele aber noch nicht die Aufgabe, den Naturzustand als historische Wirklichkeit auszuweisen, sondern sollen nur zeigen, dass ein dauerhafter ‚Krieg aller gegen alle‘ die Selbsterhaltung jedes Einzelnen bedrohen und die Menschheit davon abhalten wird, in ihrer kulturellen Entwicklung ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Sempiternum autem Bellum quàm parum idonea res sit ad conseruationem vel humani generis, vel vnius cuiuscumque hominis, facile iudicatur: At suâ naturâ sempiternum est, quod prae certantium aequalitate, victoria nulla potest finiri; in eo enim ipsis victoribus periculum semper adeo imminet, vt pro miraculo haberi debeat si quis, quamquam fortissimus, annis & senectute conficiendus sit. Exemplum huius rei saeculum praesens Americanos exhibet; saecula antiqua caeteras gentes, nunc quidem ciuiles

_____________ 39 40 41 42

EL: 63. Vgl. auch LL: 65. Vgl. EL: 98, 100 und 129; sowie LL: 96, 97 und 122f. Vgl. EL: 110 und 185; sowie LL: 106 und 166. Vgl. LL: 65.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

florentesque, tunc verò paucos, feros, breuis aeui, pauperes, foedos, omni eo vitae solatio atque ornatu carentes, quem pax & societas ministrare solent.43

Es gibt allerdings in den späteren Kapiteln von De Cive zahlreiche Passagen, in denen wie im Leviathan die Tatsache betont wird, dass zwischen verschiedenen Staaten oder den jeweiligen Oberhäuptern dieser Staaten der Naturzustand vorherrscht.44 Zudem findet sich zumindest eine Stelle, die nahelegt, dass Hobbes auch zur Zeit von De Cive das Leben in Zeiten des Bürgerkrieges als gleichbedeutend mit dem Leben im Naturzustand begriffen hat, dort nämlich, wo er hervorhebt, dass im Bürgerkrieg das Recht des Schwertes an jedes einzelne Individuum zurückfalle.45 Neben diesen Passagen enthält De Cive einige Abschnitte, in denen Hobbes zwar nicht ausdrücklich behauptet, seine Naturzustandstheorie bilde geschichtliche Wirklichkeit ab, in denen er aber, möglicherweise zum Teil unabsichtlich, den Eindruck hervorruft, er verstehe den Naturzustand als die Stufe, die der Errichtung der heute existierenden Staaten historisch vorausgegangen ist, so vor allem durch seine relativ konsequente Verwendung des Präteritums bei der Beschreibung des Naturzustandes in der zweiten Hälfte von Kapitel I46 und durch seinen Verweis auf den Naturzustand als den „status omnium naturalis antequam in societatem coiretur“47. Aus meiner Sicht liefern diese Indizien aber insgesamt keinen ausreichenden Beleg für die Behauptung, dies sei zur Zeit von De Cive tatsächlich Hobbes’ Verständnis des Naturzustandes gewesen. Im Leviathan grenzt Hobbes sich explizit von der Sichtweise ab, der Naturzustand habe einst allgemein auf der ganzen Welt geherrscht,48 und es scheint nicht unangemessen zu vermuten, dass dieser Hinweis die Missverständnisse aus der Welt schaffen sollte, die die eben zitierten Passagen aus De Cive bewirkt oder verstärkt hatten. In den Elements finden sich wie in De Cive keine Stellen, an denen Hobbes ausdrücklich die Frage der Historizität des Naturzustandes diskutiert. Anders als in De Cive finden sich aber auch kaum Passagen, die beweisen, dass er dem Naturzustand eine solche Historizität zugestanden wissen will. Der Abschnitt, der auf die Beschreibung des Kriegszustandes folgt, enthält wie in De Cive den Hinweis auf solche Völker der Gegenwart und der Geschichte, die unter lang anhaltenden Kriegen zu leiden haben oder zu leiden gehabt haben. Diese Beispiele fungieren aber auch hier nur als Beispiele für das, was ein allgemeiner Kriegszustand aus dem menschlichen Leben zu machen imstande ist, und _____________ 43 44 45 46 47 48

DC: 96. Vgl. DC: 105, 180, 197 und 201. Vgl. DC: 152 („sed si dissentiant, bellum ciuile reducitur, & ius Gladij priuati“). Vgl. DC: 95ff. DC: 96. (Hervorh. v. mir) Vgl. EL: 63; und LL: 65.

3.3 Der Status des Hobbes’schen Naturzustandes

37

nicht, wie etwa von Münkler behauptet,49 als Belege für die Historizität des Naturzustandes. The estate of hostility and war being such, as thereby nature itself is destroyed, and men kill one another (as we know also that it is, both by the experience of savage nations that live at this day, and by the histories of our ancestors, the old inhabitants of Germany and other now civil countries, where we find the people few and short lived, and without the ornaments and comforts of life, which by peace and society are usually invented and procured) [...]50

An einer Stelle beschreibt Hobbes immerhin Aufruhr und Rebellion als Tod des Staates,51 eine Äußerung, die als Andeutung verstanden werden könnte, dass ein auf Aufruhr und Rebellion folgender Bürgerkrieg die Menschen in den Naturzustand zurückversetzt. Die Belege für diese Interpretation sind allerdings nicht sehr zwingend, nicht zuletzt, da es nur wenige andere Stellen gibt, an denen Hobbes das Thema Bürgerkrieg überhaupt anschneidet. Im Hinblick auf das Verhältnis verschiedener Staaten zueinander ergibt sich ein ähnliches Bild. Es findet sich eine Passage, in der Hobbes betont, dass das Völkerrecht mit dem Naturrecht identisch sei,52 und man mag dies als Hinweis werten, dass Staaten sich miteinander im Naturzustand befinden. Hobbes sagt dies aber nicht ausdrücklich, und er scheint auch generell wenig daran interessiert zu sein, auf die Beziehungen verschiedener Staaten zueinander überhaupt näher einzugehen. Gerade da Hobbes sich aber mit den Fragen, die für die übergeordnete Frage der Historizität des Naturzustandes relevant sind, gar nicht oder kaum auseinandersetzt, reicht aus meiner Sicht die Tatsache, dass Hobbes den Naturzustand in den Elements nicht explizit als historische Wirklichkeit präsentiert, letztlich nicht aus, um zu folgern, dass er ihn zu dieser Zeit selbst nicht in dieser Weise verstanden hat. Es muss betont werden, dass sich auch keine Passagen finden, in denen Hobbes die Historizität des Naturzustandes in Frage stellt oder das Konzept als reines methodisches Konstrukt ausweist. Die schon genannten empirischen Beispiele, die die Folgen eines permanenten Kriegszustandes vor Augen führen sollen, und insbesondere die Bemerkung, den betreffenden Individuen fehlten „the ornaments of comforts of life, which by peace and society are usually invented and procured“53, legen durchaus nahe, dass Hobbes sowohl „the savage nations that live at this day“ als auch „the old inhabitants of Germany“ als in einem Naturzustand lebend verstanden hat, wenn er diese Konklusion auch in der Zeit vor dem engli_____________ 49 50 51 52 53

Vgl. Münkler 1993: 109. E: 73. Vgl. E: 168. Vgl. E: 190. E: 73. (Hervorh. v. mir)

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

schen Leviathan nicht ausdrücklich zieht.54 Der naheliegendste Grund für das Fehlen einer expliziten Erörterung der Historizität des Naturzustandes wäre demnach darin zu sehen, dass diese Frage zur Zeit der Elements für Hobbes schlicht noch kein wichtiges Problem dargestellt hat bzw. es von ihm noch nicht in seiner Wichtigkeit erkannt worden war. Im Hinblick auf Hobbes ist Tucks Betonung der historischen Implikationen der Naturzustandstheorien des 17. Jahrhunderts daher aus meiner Sicht letztlich zuzustimmen. Der Hobbes’sche Naturzustand ist nicht nur mögliche und in Form des Bürgerkriegs drohende historische Realität, sondern er ist, zumindest wenn man Hobbes’ Aussage ernst nimmt, nach der sich Staaten und deren politischen Oberhäupter miteinander im Naturzustand befinden, ständige historische Realität, bzw. er ist dies zumindest zu Hobbes’ eigener Zeit gewesen. Die Anwendbarkeit des Begriffs ‚Naturzustand‘ auf die empirischen Beispiele des Bürgerkriegs und der internationalen Beziehungen verschiedener Staaten wird aus meiner Sicht auch nicht durch die kürzlich von Ulrike Kleemeier hervorgehobene Tatsache in Frage gestellt, dass sich Bürgerkrieg, Staatenkrieg und der ‚Krieg aller gegen alle‘ gemäß Hobbes’ eigener Darstellung in wichtigen Punkten voneinander unterscheiden.55 Gerade weil das primäre Definiens des Naturzustandes als einem theoretischen Konzept nicht im Krieg, sondern vielmehr in der Abwesenheit bestimmter politischer Strukturen zu sehen ist, lassen sich Bürgerkriege und Staatenkriege als historische Manifestationen des Naturzustandes und gleichermaßen als naturzuständliche Kriege begreifen, so unterschiedlich sie auch als Kriege sein mögen. Auch wenn man der hier vorgeschlagenen Erklärung für das Fehlen der Erörterung der Historizität des Naturzustandes in den Elements nicht zustimmen sollte, so bleibt doch in jedem Fall festzuhalten, dass – wie die Darstellungen in De Cive und im Leviathan deutlich zeigen – das Problem der Historizität des Naturzustandes nach Abschluss der Elements für Hobbes zunehmend an Bedeutung gewinnt, und es lässt sich sogar die Behauptung aufstellen, dass die ausdrückliche Einbeziehung dieser Frage in den späteren Werken eine der deutlichsten Verschiebungen in Hobbes’ Behandlung des Naturzustandskonzepts zwischen 1640 und 1668 darstellt. Diese Entwicklung dürfte zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass die Behandlung in Hobbes’ früheren Werken Anlass zu Missverständnissen und zu Kritik an seiner Darstellung gegeben hat, die in dem im Leviathan dann ausdrücklich angesprochenen Vorwurf kulminiert haben, einen Naturzustand habe es nie gegeben. Angesichts der Tatsache, dass das Leben in Zeiten eines Bürgerkrieges eines der Beispiele für die historische Realität des Naturzustandes ist, und angesichts der Tatsache, dass diesem Beispiel im Leviathan deutlich mehr Raum zugestanden wird als _____________ 54 55

Dies trifft in gleicher Weise für die entsprechenden Passagen von De Cive zu. Vgl. Kleemeier 2002: 127f. und 190ff.

3.4 Sozialer Atomismus?

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noch in De Cive, ist zusätzlich aber auch denkbar, dass sich Hobbes’ verstärkte Auseinandersetzung mit der Frage der Historizität des Naturzustandes zusätzlich der Tatsache verdankt, dass im Zuge der Ereignisse in seinem Heimatland England der Bürgerkrieg für ihn ganz allgemein zu einem weitaus bedeutenderen und dringlicheren Thema geworden war.

3.4 Sozialer Atomismus? Nach der genaueren Bestimmung des theoretischen Status des Hobbes’schen Naturzustandes stellt sich nun noch die Frage, ob es neben den in Kapitel 3.2 erarbeiteten grundlegenden Elementen des Naturzustandes noch weitere gibt, die mit Hobbes’ Konzept so untrennbar verbunden sind, dass sie als konstitutiv gelten können. So ist zum Beispiel von einigen Autoren die Ansicht vertreten worden, Hobbes’ Konzept des Naturzustandes abstrahiere nicht nur von den im engeren Sinne politischen Strukturen des bürgerlichen Zustandes, sondern auch von sozialen Strukturen, wie vor allem Familienbeziehungen, oder von privatrechtlichen Strukturen, wie sie etwa mit der Existenz von gültigen Verträgen gegeben sind. Das generelle Problem, das die Erlangung einer Einigung bezüglich dieser Fragen erschwert, besteht darin, dass ihre Beantwortung stark davon abhängt, wo man die Grenze zwischen dem eigentlichen Konzept des Naturzustandes und den Folgerungen zieht, die Hobbes im Zuge der konkreten Analyse aus diesem Konzept ableitet. Aus meiner Sicht ist es von größter Wichtigkeit, diese Grenze so deutlich wie möglich zu ziehen, und um in der Lage zu sein, dies zu tun, erscheint es mir notwendig, das Konzept des Naturzustandes auf diejenigen Eigenschaften zu beschränken, die gleichsam den Ausgangspunkt von Hobbes’ Naturzustandsanalyse bilden, und demgegenüber diejenigen Elemente auszuschließen, die eher das Ergebnis dieser Analyse bilden. Dies scheint mir vor allem angesichts der Tatsache angemessen, dass Hobbes mit dem Naturzustand einen bereits existierenden Begriff übernimmt, um diesen dann zu neuen Konklusionen zu führen. Die Position, der Hobbes’sche Naturzustand abstrahiere von basalen sozialen Strukturen, hat sich in der Vergangenheit üblicherweise mit der Behauptung verbunden, Hobbes vertrete einen sozialen Atomismus. Die Behauptung, es handle sich bei den Menschen in Hobbes’ Naturzustand um

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

‚atomisierte Individuen‘,56 ist freilich auch wiederholt in Frage gestellt worden.57 Zunächst einmal ist zu betonen, dass Hobbes sich nicht sonderlich explizit zu den sozialen Verhältnissen äußert, die im Naturzustand auftreten werden oder nicht auftreten werden. Seine Herleitung des Kriegszustandes und seine Ableitung der diversen natürlichen Gesetze, die bestimmte Formen des sozialen Umgangs vorschreiben, scheinen aber zu suggerieren, dass die Individuen im Naturzustand zumindest häufig miteinander in Kontakt geraten werden. In allen Werken bezieht sich Hobbes zudem auf Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als „men in multitudes“58. Will man nicht die Ansicht vertreten, Hobbes denke hier an Mengen isolierter Einzelner, so spricht diese Begrifflichkeit ebenfalls dafür, dass es im Naturzustand gewisse soziale Beziehungen gibt, wenn diese Beziehungen auch nicht allesamt und ständig friedfertig sein mögen. Diese Lesart wird unterstützt durch eine Anmerkung in der zweiten Auflage von De Cive, in der Hobbes explizit zugesteht, dass die Menschen durch ihre natürlichen Neigungen grundsätzlich in die Gesellschaft mit anderen Menschen getrieben werden. Da diese Anmerkung ausdrücklich dem Zweck dient, einen falschen Eindruck auszuräumen, den Hobbes’ frühere Ausführungen offensichtlich hervorgerufen haben oder den sie nach seiner Befürchtung zumindest hätten hervorrufen können, und da die darin getroffene Aussage weder im englischen noch im lateinischen Leviathan in irgend einer Weise zurückgenommen oder relativiert wird, erscheint es mir zulässig, sie als konstanten Bestandteil seiner Sicht der menschlichen Natur zu werten. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Hobbes in allen seinen Schriften auf die Möglichkeit verweist, dass sich im Naturzustand Verteidigungsbündnisse bilden und diese Bündnisse, wenn auch nicht lange, so doch für einige Zeit, aufrechterhalten werden können. Schließlich ist hervorzuheben, dass Hobbes sich in den Elements wie in De Cive und im Leviathan aus der Perspektive des Naturzustandes mit der Familie und dem Verhältnis von Mann und Frau bzw. dem von Eltern und ihren Kindern beschäftigt. _____________ 56

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58

Am nachhaltigsten wird diese Interpretation von Kersting vertreten, der kritisch anmerkt: „Hobbes’ These des deskriptiven soziologischen Atomismus ist falsch und besitzt einen großen Zumutungswert.“ (Kersting 1992: 72). Vgl. aber auch bereits Bramhall 1655: 107; und Tenison 1670: 132; sowie in der jüngeren Vergangenheit de Jouvenel 1963: 231 und 270; Tönnies 1971: 206; Gehrmann 1970: 53; und Tricaud 1988: 110. Auch die schon zitierte Charakterisierung des Naturzustandes bei Goldsmith lässt die Möglichkeit offen, dass der Naturzustand nicht nur als Abstraktion von der bürgerlichen Gemeinschaft im engeren Sinne, sondern als Abstraktion von sozialer Gemeinschaft überhaupt zu verstehen ist. Vgl. vor allem Schochet 1967: 442; Chapman 1993: 631f. und Abbott 1993: 657. Vgl aber auch Gauthier 1969: 118f.; Weiß 1980: 137; Curley 1989: 175; Curley 1994: XXXIV; und Hoekstra 2007: 119. Unentschieden zeigt sich demgegenüber Hood, der aber dem Problem auch keine besondere Bedeutung beimisst (vgl. Hood 1964: 81). EL: 78. Vgl. auch E: 108; DC: 153 und 190; sowie LL: 78.

3.4 Sozialer Atomismus?

41

Nun muss zwar eingestanden werden, dass sowohl die Passagen, in denen sich Hobbes dem Thema ‚Familie‘ widmet, als auch die, in denen er die Möglichkeit von Verteidigungsbündnissen untersucht, gewisse Probleme aufwerfen, auf die noch näher einzugehen sein wird. Fasst man die obigen Indizien zusammen, so kann aber bereits hervorgehoben werden, dass Hobbes’ Konzept des Naturzustandes in keinem der vier Werke auf der impliziten oder expliziten Annahme fußt, menschliche Individuen führten von Natur aus ein solitäres Leben, eine Annahme, die später von Rousseau nicht nur selbst vertreten, sondern bezeichnenderweise zu einem der Eckpfeiler seiner Kritik an der Hobbes’schen Naturzustandslehre gemacht wird.59 Die Redeweise, Hobbes vertrete einen sozialen Atomismus oder führe in seiner Naturzustandstheorie die Menschen als isolierte Individuen vor, ist daher zumindest irreführend. Dass entsprechende Positionen dennoch immer wieder vertreten worden sind, kann aus meiner Sicht auf zwei Passagen aus dem englischen Leviathan zurückgeführt werden, in denen Hobbes zu vertreten scheint, dass die Individuen im Naturzustand ihrer natürlichen Neigung zur Sozialität zum Trotz gezwungen sind, ein einsames Leben zu führen. In einem der berühmtesten und meistzitierten Sätze des Leviathan, in dem Hobbes noch einmal die Schrecken des naturzuständlichen ‚Krieges aller gegen alle‘ zusammenfasst, behauptet er, dass das Leben in diesem Zustand des Krieges nicht nur „poore, nasty, brutish, and short“, sondern auch „solitary“60 sei, und nur wenig später bezieht er sich auf Menschen außerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft als Menschen „in Solitude“61. Geht man von der anfänglich betonten Unterscheidung zwischen dem theoretischen Konzept des Naturzustandes und den konkreten Folgerungen, die Hobbes daraus entwickelt, aus, so kann vertreten werden, dass zumindest die erste Passage keine Relativierung des obigen Fazits erzwingt. Selbst wenn die spezifischen Umstände des Naturzustandes die Individuen letztlich voneinander dissoziieren und in die Einsamkeit treiben mögen, so zählen doch deshalb atomistische soziologische Annahmen keineswegs zu den Voraussetzungen des Hobbes’schen Naturzustandsarguments oder zu den konstitutiven Elementen des Naturzustands als einem theoretischen Konzept. Zudem ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass keine der beiden Stellen, sei es auch nur in einer vergleichbaren Form, in den Elements oder in De Cive auftaucht. Der Blick auf die lateinische Ausgabe des Leviathan zeigt sogar, dass die zweite Passage der englischen Fassung in der Überarbeitung für die lateinische Werkausgabe eine signifikante Veränderung erfahren hat. Stellt Hobbes im _____________ 59 60 61

Vgl. Rousseau 1755: 3f. und 45ff. EL: 62. EL: 63.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

englischen Leviathan noch „men in society“ und „men in solitude“ einander gegenüber, so spricht Hobbes im lateinischen Leviathan nur noch von Bürgern („Civis“) und Menschen („Hominis“),62 wobei allerdings der Kontext des Zitates weiterhin den Eindruck nahelegt, die Menschen im Naturzustand lebten in keinen festen sozialen Verhältnissen. Da es sich selbst im englischen Leviathan bei den zitierten Passagen um vereinzelte Bemerkungen handelt, die keineswegs durch vergleichbare Aussagen in anderen Teilen des Werkes untermauert werden, scheint es mir jedoch wenig naheliegend zu folgern, Hobbes lege hinsichtlich der Frage der sozialen Beziehungen der Menschen im Naturzustand seinen Ausführungen im englischen Leviathan einfach bewusst ein anderes Konzept des Naturzustandes zugrunde als in den anderen Werken. Naheliegender scheint es anzunehmen, dass Hobbes im englischen Leviathan – vielleicht ein wenig mitgerissen vom Anliegen, die eigene Argumentation mit großer rhetorischer Kraft auszustatten –, den Naturzustand mit Hilfe von Eigenschaften beschreibt, die eigentlich keine konstitutiven Merkmale dieses Zustandes darstellen, und dass er in der späteren Ausgabe des Leviathan diese Beschreibung deshalb zumindest teilweise zurückzunehmen versucht.

3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘ Auch wenn man sich dieser bis zu einem gewissen Grad spekulativen Lesart anschließt, bleibt aber eine weitere Frage zu klären, nämlich ob das Hobbes’sche Konzept des Naturzustandes von der Existenz gültiger Verträge abstrahiert. Die nähere Betrachtung von Hobbes’ Argumentation wird zeigen, dass dieses Problem mit dem Problem des sozialen Atomismus in eigentümlicher Weise verbunden ist. Die Frage, ob es in Hobbes’ Naturzustand gültige Verträge gibt oder geben kann, ist in der Vergangenheit relativ ausgiebig diskutiert worden, insbesondere im Anschluss an Howard Warrenders einflussreiche Studie zur Hobbes’schen Verpflichtungstheorie.63 Warrender hebt in seiner Erörterung der Hobbes’schen Vertragstheorie hervor, dass Hobbes weder die Position vertrete, alle Verträge im Naturzustand seien ab initio ungültig, noch die Position, alle geschlossenen Verträge würden aufgrund der spezifischen Bedingungen des Naturzustandes notwendigerweise ihre ursprüngliche Geltung einbüßen. Nach Warrender behauptet Hobbes lediglich, dass ‚covenants of mutual _____________ 62

63

Vgl. LL: 66. Der Satz „They are Qualities, that relate to men in Society, not in Solitude.“ aus dem englischen Leviathan (EL: 63) erscheint hier als „Qualitates quidem Hominis sunt, non autem quatenus Hominis, sed quatenus Civis.“ Zum Folgenden vgl. Warrender 1961: 30-43.

3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘

43

trust‘, also Verträge, denen ein wechselseitiges Versprechen auf Erfüllung in der Zukunft zugrundeliegt, in dieser Weise ihre Gültigkeit einbüßen, und auch diese nur, wenn nach dem Vertragsschluss ein neuer Grund auftrete, berechtigterweise an der Vertragserfüllung durch die jeweils andere Partei zu zweifeln. Warrender folgert entsprechend, dass es zumindest einige gültige Verträge im Naturzustand geben wird oder geben kann, wobei er unter anderem auf die in beiden Fassungen des Leviathan enthaltene Aussage verweisen kann, Verträge, die im Naturzustand aus Furcht geschlossen würden, seien prinzipiell verpflichtend.64 Gerade vor dem Hintergrund dieser zuletzt genannten Aussage kann es kaum verwundern, dass die Mehrheit der Interpreten Warrenders Einschätzung gefolgt ist.65 Alle diese Autoren, einschließlich Warrender selbst, versäumen aber, der Frage nachzugehen, ob mit der Existenz dieser Verträge für Hobbes der Naturzustand in seiner eigentlichen Bedeutung bereits als aufgehoben anzusehen ist, eine Lesart, die Francois Tricaud in seiner schon angesprochenen Studie zum Hobbes’schen Naturzustandskonzept vertreten hat.66 Nach Tricaud schließt Hobbes die Existenz vertraglicher Übereinkünfte und Verpflichtungen per Definition aus seinem Entwurf des Naturzustandes aus. Tricaud gesteht zwar zu, dass dieses Merkmal des Naturzustandes zur Zeit der Elements noch nicht in der nötigen Klarheit hervortrete und dass es in der ersten Auflage von De Cive deutlicher hervorgehoben werde als in den späteren Formulierungen von Hobbes’ Lehre, in denen der Naturzustand weitaus stärker über das Fehlen einer souveränen Zwangsgewalt definiert werde. Er behauptet aber zusätzlich, den Menschen in Hobbes’ Naturzustand mangele es an „every kind of affective tie or community feeling“67 und damit auch an den sozialen Strukturen, die oben bereits diskutiert worden sind. Diese zweite Behauptung steht nun insofern mit der ersten in direkter Verbindung, als Hobbes diejenigen sozialen Gruppen, die es nach unserer obigen Analyse im Naturzustand zu geben scheint, nämlich Familien und Verteidigungsbündnisse, als Ausdruck vertraglicher Übereinkünfte interpretiert. Im Hinblick auf die Verteidigungsbündnisse tritt diese Tatsache besonders deutlich hervor. So stellt Hobbes bei seiner Erörterung der Möglichkeit von Verteidigungsbündnissen im Naturzustand in allen vier Schriften diese Bündnisse den natürlichen Gemeinschaften der sogenannten staatenbildenden Tiere gegenüber und betont dabei in allen Fällen, die menschlichen Verteidigungsbündnisse seien nicht in der Weise der Tiergemeinschaften auf den _____________ 64 65

66 67

Vgl. EL: 69; und LL: 70. Vgl. etwa Hood 1964: 131; Goldsmith 1966: 173; Martinich 1992: 80; Boonin-Vail 1994: 75; und Ryan 1996: 226. Indirekte Andeutungen finden sich zudem bei Macpherson 1962: 19; und Skinner 2002d: 217. Zum Folgenden vgl. Tricaud 1988: 108-110. Tricaud 1988: 110.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

bloßen Drang zur Geselligkeit, sondern auf das künstliche Instrument des Vertrages gegründet.68 In seiner Behandlung der familiären Bindungen im Naturzustand lässt Hobbes eine derartige Klarheit zwar zum Teil vermissen, seine Aussagen liefern aber auch hier letztlich genug Belege für die Lesart, dass für Hobbes zumindest alle dauerhafteren Beziehungen zwischen Vätern, Müttern und Kindern eine Art Vertrag beinhalten. So definiert Hobbes in allen Schriften die Familie im engeren Sinne als eine bürgerliche Person, als kleinen Staat oder als Erbkönigreich;69 so nimmt er wiederholt auf die Verträge Bezug, die dem Beziehungsverhältnis von Männern und Frauen oder Vätern und Müttern zu Grunde liegen;70 und so behauptet er in allen Schriften mit Ausnahme von De Cive eine Verpflichtung von Kindern gegenüber ihren Eltern, die sich aus ihrer ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung herleitet, bis zum Alter der Mündigkeit von den Eltern regiert zu werden.71 Die einzige Passage, die einer solchen Lesart zu widersprechen scheint, ist die Auflistung der empirischen Beispiele des Naturzustandes im Leviathan, in der Hobbes die Aussage trifft, der Zusammenhalt innerhalb einer Familie beruhe auf den natürlichen Neigungen (‚natural lust‘ bzw. ‚cupiditas‘), und in keiner Weise auf etwaige vertragliche Übereinkünfte zwischen den Familienmitgliedern hinweist.72 Es muss aber festgehalten werden, dass es Hobbes an dieser Stelle nicht um die Frage geht, was eine Familie konstituiert oder welche Strukturen als Bestandteil des familiären Zusammenlebens angesehen werden können, sondern um die Frage, was die Eintracht innerhalb einer Familie faktisch sicherzustellen vermag. Dass Hobbes zu diesem Zweck, und um deutlich zu machen, dass im Falle von Familien nicht im gleichen Sinne von Herrschaft gesprochen kann wie im Falle einer bürgerlichen Gemeinschaft, auf die zentrale Bedeutung emotionaler und sexueller Bindungen hinweist, stellt aus meiner Sicht keineswegs Hobbes’ spätere Aussagen in Frage, nach denen das familiäre Zusammenleben immer auch als ein Vertragsverhältnis verstanden werden kann. Um nun die Tatsache, dass Hobbes vertragliche Übereinkünfte per Definition aus dem Naturzustand ausschließt, mit der Tatsache vereinbaren zu können, dass Hobbes Familien und Verteidigungsbündnisse sehr wohl aus der Naturzustandsperspektive diskutiert, ist Tricaud letztlich gezwungen, zwischen dem „abstract state of nature“, d.h. dem Konzept des Naturzustandes als solchem, und dem „concrete state of nature“, d.h. der soziologischen Beschreibung des Naturzustandes, zu unterscheiden. Während der „abstract state of nature“ durch das Fehlen von vertraglichen Vereinbarungen und _____________ 68 69 70 71 72

Vgl. E: 102f.; DC: 132f.; EL: 86f.; und LL: 84f. Vgl. E: 135; DC: 145 und 168; EL: 105; und LL: 101. Vgl. E: 133; DC: 166; EL: 102f.; und LL: 99f. Vgl. E: 132f.; EL: 102; und LL: 99. Vgl. EL: 63; und LL: 65.

3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘

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festen sozialen Beziehungen gekennzeichnet sei, kenne der „concrete state of nature“ beides und müsse daher als Ende des „abstract state of nature“ bzw. als dessen Transformation in etwas Neues begriffen werden. Um diese Interpretation des Hobbes’schen Naturzustandskonzeptes bewerten zu können, ist nun zunächst zu fragen, ob das Konzept in der Tat die Existenz vertraglicher Bindungen ausschließt, und um dies tun zu können, muss zuallererst gründlich zwischen ‚covenants‘ und ‚contracts‘ unterschieden werden, also zwischen Verträgen, die auf einseitiges oder beiderseitiges Vertrauen gegründet sind, und solchen, bei denen beide Parteien ihren Teil der Abmachung sofort erfüllen. Hobbes legt in allen Werken großen Wert auf diese theoretische wie auch terminologische Unterscheidung,73 Tricaud geht in seiner Analyse jedoch viel zu wenig auf die Differenz ein. Es trifft zu, dass Hobbes in einigen Passagen die Ansicht zu vertreten scheint, beim Naturzustand handle es sich qua Definition um einen Zustand, in dem es keine ‚covenants‘ gebe. In den Elements etwa finden sich zwei derartige Stellen, die erste im dritten Kapitel des zweiten Buches, das sich mit der Herrschaft von Herren über ihre Knechte beschäftigt („Considering men therefore again in the state of nature, without covenants or subjection one to another...“74), die zweite im darauf folgenden vierten Kapitel, das sich der Macht von Eltern über ihre Kinder widmet („And considering men again dissolved from all covenants one with another...“75). Die entsprechenden Kapitel von De Cive zeigen einige leichte Modifikationen. In der ersten Passage wird die Erwähnung von ‚covenants‘ bzw. von ‚pacta‘, dem Hobbes’schen Gegenbegriff zum lateinischen ‚contractus‘, unterlassen, und der Naturzustand wird statt dessen charakterisiert über das Fehlen von Verpflichtungen eines Individuums gegenüber einem anderen („Vt redeamus iterùm in statum naturalem, consideremusque homines tanquam si essent iamiam subito è terra (fungorum more) exorti & adulti, sine omni vnius ad alterum obligatione,...“76). Die zweite Passage enthält aber nach wie vor den Verweis auf ‚pacta‘ („In statu quidem naturali, vbi iure aequali singuli viuunt, nec se per pacta sua, aliorum imperio submiserunt....“77), und zudem findet sich eine weitere Stelle in einem der früheren Kapitel, in dem das Fehlen von vertraglichen Versprechen ebenfalls als charakteristisches Merkmal des Naturzustandes erscheint, wenn Hobbes sich dabei auch auf den reinen Naturzustand bezieht („in statu merè naturali, siue antequam homines vllis pactis sese inuicem obstrinxissent“78). _____________ 73 74 75 76 77 78

Vgl. E: 77f.; DC: 102; EL: 66; und LL: 68. E: 127. E: 131. DC: 160. DC: 185. DC: 95.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

In den beiden Fassungen des Leviathan haben die Kapitel zur Macht von Herren und Eltern aus den Elements und De Cive keine direkten Entsprechungen. Die diesbezüglichen Erörterungen werden in veränderter Form jeweils in Kapitel XX durchgeführt. Wenn aber auch die Funktion dieser Kapitel der Funktion der Kapitel in den Elements und in De Cive sehr ähnlich ist und gleichermaßen darin besteht, die verschiedenen Ursprünge von Herrschaft zu beschreiben, so wird doch in keiner vergleichbaren Weise auf den Naturzustand als einen Zustand ohne ‚covenants‘ oder ‚pacta‘ Bezug genommen. Vor diesem Hintergrund erscheint Tricauds Analyse nun gleich in mehrfacher Hinsicht als unangemessen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Hobbes den Naturzustand nicht über das Fehlen von ‚contracts‘, sondern höchstens über das Fehlen von ‚covenants‘ definiert. Selbst wenn es also innerhalb des natürlichen Zustandes keine vertraglichen Vereinbarungen geben sollte, im Zuge derer die Parteien sich die Erbringung einer bestimmten Leistung für die Zukunft zusagen, so schließt das doch keinesfalls die Möglichkeit solcher Vereinbarungen aus, bei denen beide Parteien die in Frage stehenden Leistungen unmittelbar erbringen.79 Zweitens ist an Hobbes’ Äußerungen nicht eindeutig abzulesen, ob er alle Formen von ‚covenants‘ aus seiner Konzeption des Naturzustandes ausschließen will, oder nur diejenigen, die die Herrschaft einer Person oder mehrerer Personen über andere Personen begründen. Der unmittelbare Kontext der oben zitierten Passagen etwa erlaubt kaum die Folgerung, dass Hobbes das Fehlen von ‚covenants‘, die lediglich den Austausch von Gütern zum Inhalt haben, als prinzipielles Charakteristikum des Naturzustandes begriffen hat. Drittens widersprechen die oben zusammengestellten Indizien Tricauds Beschreibung der Unterschiede zwischen Hobbes’ Schriften und der auf dieser Grundlage von ihm behaupteten Entwicklung. Wenn es eine solche Entwicklung gibt, dann ist sie zwischen der zweiten Auflage von De Cive und dem englischen Leviathan anzusiedeln. Weder finden sich, wie von Tricaud behauptet, signifikante Unterschiede zwischen den Elements und der ersten Auflage von De Cive, noch lassen sich solche Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Auflage von De Cive ausmachen. Folgt man zudem der obigen Interpretation, nach der die Darstellungen in den Elements und in De Cive beide mit der Existenz von ‚contracts‘ und von zumindest einigen ‚covenants‘ vereinbar sind, dann muss überhaupt nicht zwingend von einer entscheidenden Verschiebung in Hobbes’ Naturzustandskonzeption oder in seiner Präsentation des Konzeptes ausgegangen werden. Es bleibt allerdings hervorzuheben, dass die obigen Indizien immer noch nicht ausreichen, um die Behauptung, Hobbes’ Konzept des Naturzustandes sei per Definition mit der Existenz gültiger Verträge unvereinbar, gänzlich zu _____________ 79

Vgl. auch Curley 1994: XXVI.

3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘

47

widerlegen. Selbst wenn die zitierten Passagen keine hinreichende Grundlage für die spezifische Position Tricauds liefern mögen, so ließe sich immer noch behaupten, der Naturzustand könne schon aus logischen Gründen keine gültigen Verträge beinhalten, da er einen Zustand darstellt, in dem jeder ein ‚Recht auf alles‘ hat und es kein Privateigentum gibt, eine Tatsache, die Hobbes in allen seinen Werken hervorhebt.80 In den letzten Jahrzehnten ist von kaum einem Interpreten näher auf dieses mögliche Problem der Vereinbarkeit des ‚Rechts auf alles‘ mit der Existenz naturzuständlicher Verträge eingegangen worden. Hobbes’ Argumentation wirft aber die betreffende Frage durchaus auf, und zwar schon allein deshalb, weil Hobbes in einer Anmerkung, die er in der zweiten Auflage des De Cive seinem Text hinzufügt, die erstaunliche Aussage trifft, ein Sohn könne prinzipiell nicht als im Naturzustand lebend gedacht werden, da er sich immer schon unter der Herrschaft seiner Eltern befinde. Hobbes versucht mit diesem Hinweis einer möglichen Konsequenz seiner Behauptung, es könne im Naturzustand kein Unrecht geben, zu entgehen, der Konsequenz nämlich, dass auch die Tötung eines Vaters durch seinen Sohn im Naturzustand kein Unrecht darstellen kann. Objectum est à quibusdam: Si filius patrem interfecerit, utrum patri injuriam non fecerit. Respondi; Filium in statu naturali, intelligi non posse, ut qui simul atque natus est, in potestate & sub imperio est ejus cui debet conservationem sui: scilicet, Matris vel Patris, vel ejus qui praebet ipsi alimenta; ut capite nono demonstratum est.81

Die Behauptung, ein Sohn befinde sich allein aufgrund der familiären Herrschaftsbeziehungen immer schon außerhalb des Naturzustandes, gründet sich nun offensichtlich auf die oben bereits hervorgehobene Tatsache, dass es sich bei Familien um soziale Verbindungen handelt, denen ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkünfte zugrundeliegen. Indem der Sohn demnach im Zuge eines stillschweigenden Vertrages dem Vater das Recht einräumt, bis zum Zeitpunkt der Reife über ihn zu bestimmen, gibt er sein natürliches ‚Recht auf alles‘ auf und erwirbt damit zugleich die Möglichkeit, dem Vater Unrecht tun zu können, was laut Hobbes’ spezifischem Unrechtsbegriff die Existenz gültiger Verträge voraussetzt. Die Behauptung, ein Sohn könne aufgrund des familiären Herrschaftsverhältnis nicht als im Naturzustand befindlich gedacht werden, steht nun aber ebenso offensichtlich in direktem Widerspruch zu Hobbes’ oben diskutierten Aussagen, und zwar sowohl zu denen, in denen er die prinzipielle Möglichkeit gültiger Verträge im Naturzustand anerkennt, als auch zu denen, in denen er Familien als im Naturzustand lebend beschreibt. _____________ 80

81

Zum ‚Recht aller auf alles‘ vgl. E: 72; DC: 95; EL: 64; und LL: 66f.; zum Fehlen jeglichen Privateigentums vgl. zudem E: 109; DC: 136 und 208ff.; EL: 63, 110 und 127; und LL: 66, 106 und 121f. DC: 96.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

Wenn sich, wie angedeutet, in der Hobbes-Literatur der letzten Jahrzehnte auch nur wenig Hinweise auf die entsprechenden Widersprüche in Hobbes’ Naturzustandsdarstellung finden, so sind diese doch nicht gänzlich unbemerkt geblieben. Tönnies etwa widmet in seiner erstmalig im Jahr 1886 erschienenen Studie einen Großteil seiner Ausführungen zum Hobbes’schen Naturzustand diesem Problem,82 Gauthier verweist ebenfalls auf die betreffende Schwierigkeit,83 und mit Robert Filmer macht gar einer der ersten prominenten Interpreten der Hobbes’schen Theorie überhaupt den Widerspruch zwischen dem natürlichen ‚Recht auf alles‘ und der Existenz familiärer Herrschaftsverhältnisse im Naturzustand zur Grundlage seiner Kritik an Hobbes’ Herleitung staatlicher Gewalt. In seiner 1652 erschienenen Schrift „Observations Concerning the Originall of Goverment“ vertritt Filmer die Ansicht, Hobbes’ Beschreibung des Naturzustandes und vor allem die Behauptung, die in Familienverbänden zusammenlebenden amerikanischen Indianer befänden sich im Naturzustand, sei mit der Lehre vom natürlichen ‚Recht auf alles‘ unvereinbar, da die innerhalb der Familien durch die Väter ausgeübte Herrschaft zwangsläufig das ‚Recht auf alles‘ der Kinder aufhebe. Mr Hobbes confesseth he believes ‘it was never generally so’, that there was such a jus naturae [right of nature] (...); and if not generally, then not at all, for one exception bars all if he mark it well. Whereas he imagines such a ‘right of nature’ may now be practised in America, he confesseth the government there of families, which government how ‘small’ or ‘brutish’ soever (as he calls it) is sufficient to destroy his jus naturale.84

Unter Bezugnahme auf die oben zitierte Anmerkung aus der zweiten Auflage von De Cive ergänzt Filmer zudem, wenn ein Sohn im Moment seiner Geburt nicht über das von Hobbes behauptete und als ‚natürlich‘ bezeichnete ‚Recht auf alles‘ verfüge, so müsse man sich fragen, zu welchem Zeitpunkt ein Mensch überhaupt ein solches Recht besitzen solle. This horrid condition of mere nature when Mr Hobbes was charged with, his refuge was to answer ‘that no son can be understood to be in the state of nature’ (...) - which is all one with denying his own principle. For if men be not free-born, it is not possible for him to assign and prove any other time for them to claim a right of nature to liberty, if not at their birth.85

Um nun die Frage beantworten zu können, ob die augenscheinlichen Widersprüche in Hobbes’ Darstellung tatsächlich, wie von Filmer nahegelegt, das Hobbes’sche Konzept des Naturzustandes beschädigen, muss man zunächst fragen, ob das universelle ‚Recht auf alles‘ und das Fehlen des ‚mine‘ und _____________ 82 83 84 85

Vgl. Tönnies 1971: 214ff. Vgl. Gauthier 1969: 118f. Filmer 1991a: 187. Filmer 1991a: 188.

3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘

49

‚thine‘ zu den konstitutiven Elementen des Hobbes’schen Naturzustandskonzepts zu zählen sind oder ob sie eher zu den Folgerungen gehören, die Hobbes aus seinem Konzept entwickelt. Wie man diese Frage beantwortet, hängt nun seinerseits nicht nur einmal mehr davon ab, wo man prinzipiell die Grenze zwischen dem Konzept und den daraus abgeleiteten Folgerungen zieht, sondern auch von dem theoretischen Status, den man der Hobbes’schen Naturzustandstheorie primär zuschreibt. Wie oben eingehend begründet worden ist, kann kein Zweifel bestehen, dass Hobbes den Naturzustand sowohl aus anthropologischer als auch aus juridischer Perspektive beschreibt. Betont man nun den zweiten Aspekt gegenüber dem ersten, so ließe sich gegebenfalls behaupten, dass das ‚Recht aller auf alles‘ eher eine Voraussetzung oder einen Ausgangspunkt der Naturzustandsanalyse darstellt als ein Ergebnis dieser Analyse. Betrachtet man die Naturzustandstheorie jedoch vorrangig als anthropologische Theorie, so liegt es nahe, eine solche Behauptung in Zweifel zu ziehen. Wie immer man den vorrangigen Status des Naturzustandes aber auch bestimmen mag, es wird sich in jedem Fall kaum vermeiden lassen, zwischen zwei verschiedenen Phasen des Naturzustandes oder zwei verschiedenen ‚Naturzuständen‘ in Hobbes’ Theorie zu unterscheiden. Es mag zwar zutreffen, dass Hobbes dort, wo er beschreibt, wie die Individuen im Naturzustand vertragliche Verbindungen eingehen, nicht immer ausdrücklich betont, dass der Naturzustand auch nach dem erfolgreichen Abschluss des Vertrages weiter existiert. Der übergeordnete Zusammenhang seiner Ausführungen legt aber eben dieses nahe, sowohl dort, wo er soziale Gruppen wie Familien oder Verteidigungsbündnisse beschreibt, als auch dort, wo er sich dem privatrechtlichen Instrument des Vertrages als solchem widmet. Zudem finden sich, wie gesehen, zumindest einige Passagen, in denen Hobbes Familien explizit als Teil des Naturzustandes oder einer naturzustandsähnlichen Situation beschreibt.86 Auf der anderen Seite bezieht er sich aber auf den Naturzustand eindeutig als einen Zustand ohne Privateigentum, in dem jeder ein ‚Recht auf alles‘ hat, wenn darin auch nicht zwangsläufig eine definitorische Eigenschaft des Naturzustandes gesehen werden muss, und ebenso eindeutig behauptet er in De Cive, die vertraglich begründete Herrschaft des Vaters über seinen Sohn schließe letzteren aus dem Naturzustand aus. Angesichts all dessen lässt sich der Vorwurf der Inkonsistenz nur dann vermeiden, wenn man bereit ist, zwischen zwei verschiedenen ‚Naturzuständen‘ zu differenzieren und folglich zu trennen zwischen a) dem Naturzustand im engeren Sinne, b) der bürgerlichen Gesellschaft und c) solchen naturzuständlichen Situationen, bei denen es sich noch nicht um den bürgerlichen Zustand handelt, da es keine positiven Gesetze und keine allgemeine Zwangsgewalt gibt, bei denen es sich aber auch _____________ 86

Vgl. EL: 63; und LL: 65.

50

3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

nicht mehr um den Naturzustand im strengen Sinne handelt, da gültige Verträge existieren und daher das ‚Recht aller auf alles‘ zumindest von einigen Individuen bereits aufgegeben worden sein muss. Es ist bereits angedeutet worden, dass Tricaud auf dieses Problem zu reagieren versucht, indem er den abstrakten und den konkreten Naturzustand voneinander unterscheidet. Ein vergleichbarer Versuch ist von Martinich unternommen worden, der – mit Blick auf den Leviathan und ebenfalls ausgehend von dem Problem der Existenz gültiger Verträge im Naturzustand – eine Trennung in „primary state of nature“ und „secondary state of nature“ vorschlägt.87 Tönnies schließlich nimmt Tricauds Unterscheidung insofern vorweg, als er zwischen dem rationalen Begriff des Naturzustandes und dem empirischen Begriff des Naturzustandes unterscheidet,88 und in ähnlicher Weise äußert sich Gauthier, der von der „logical abstraction“ einserseits und dem „actual state of affairs“89 andererseits spricht. Aus meiner Sicht erweist es sich nun aber letztlich als am fruchtbarsten, die Frage nach dem theoretischen Status des Naturzustandes zum Ausgangspunkt der Unterscheidung zu machen und dabei die oben vorgeschlagene Dreiteilung zugrundezulegen. Der Grund hierfür liegt vor allem darin, dass die bloße Unterscheidung zwischen einem logisch-abstrakten Naturzustand und einem konkreten Naturzustand weder ausreicht, um den Unterschied zwischen anthropologischer und historischer Naturzustandsbeschreibung angemessen zu fassen, noch um dem Unterschied zwischen anthropologischer und juridischer Naturzustandsbeschreibung wirklich gerecht zu werden. Wie oben angemerkt, zielen anthropologische und historische Naturzustandsbeschreibungen, anders als juridische Beschreibungen, prinzipiell auf die konkreten Beziehungen und Verhältnisse der Individuen untereinander. Auf der anderen Seite handelt es sich bei Hobbes’ anthropologischer Beschreibung des Naturzustandes zum Teil sehr wohl – wie bei der juridischen Analyse – um eine logische Abstraktion, in deren Rahmen die historischen Fakten eine gewisse Idealisierung erfahren. Die Zweiteilung von logischer Abstraktion auf der einen und konkreter Beschreibung auf der anderen Seite reicht deshalb nicht aus, um die unterschiedlichen Perspektiven, die die Hobbes’sche Analyse des Naturzustandes prägen, voneinander abzugrenzen. Erst die konsequente Dreiteilung zwischen historischer, anthropologischer und juridischer Analyse liefert den theoretischen Rahmen, um die vordergründigen Widersprüche der Hobbes’schen Naturzustandsbeschreibung einordnen und auf diese Weise einer Lösung zuführen zu können. _____________ 87 88 89

Vgl. Martinich 1992: 75ff. Vgl. Tönnies 1971: 216. Beides: Gauthier 1969: 118.

3.5 ‚Contracts‘ und ‚Covenants‘

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Versucht man nun die obige Unterscheidung der drei Naturzustandsperspektiven für die Unterscheidung der verschiedenen ‚Naturzustände‘ fruchtbar zu machen, dann lässt sich vertreten, dass sich Menschen aus anthropologischer Perspektive unabhängig vom Abschluss etwaiger Verträge so lange im Naturzustand befinden, wie sie durch ihre natürlichen Anlagen in den Konflikt mit anderen getrieben werden und es keine allgemeine Zwangsgewalt gibt, die dies zu verhindern in der Lage wäre. Aus juridischer Perspektive haben sie dagegen den Naturzustand in engeren Sinne verlassen, sobald sie durch den Abschluss gültiger Verträge ihr ursprüngliches ‚Recht auf alles‘ aufgegeben haben und damit das zentrale juridische Merkmal des Naturzustandes außer Kraft gesetzt ist. Welcher Unterscheidung man aber letztlich auch zuneigen mag, sie alle werden dadurch erschwert, dass es sich bei Hobbes’ Naturzustand zu einem Teil um eine logische Hypothese handelt, der Zustand aber durchaus über eine gewisse Dynamik verfügt und Hobbes’ Analyse deutlich genetische Züge trägt, was jede genaue Festlegung bezüglich der Frage, wo Hobbes’ theoretisches Konzept des Naturzustandes aufhört und die aus dem Konzept abgeleiteten Schlussfolgerungen beginnen, stark verkomplizieren muss. In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass Hobbes selbst in keinem seiner Werke eine explizite Unterscheidung verschiedener Stufen des Naturzustandes oder verschiedener ‚Naturzustände‘ vornimmt. Man mag versucht sein, Hobbes’ Rede vom ‚status mere naturalis‘ oder von der ‚condition of meer nature‘ als Hinweis auf einen insofern ‚reinen‘ Naturzustand zu deuten, als es in ihm noch keine Verträge gibt und das ‚Recht aller auf alles‘ noch volle Gültigkeit hat, und den Ausdruck ‚status naturalis‘ oder ‚naturall condition‘ entsprechend als Verweis auf die Existenz gültiger Verträge zu interpretieren, eine Möglichkeit, auf die auch Tönnies verweist.90 Hobbes ist aber so weit davon entfernt, die Begriffsvarianten konsistent in dieser Weise zu gebrauchen, dass schon Tönnies’ Einschätzung, nach der sich bei Hobbes Ansätze zu einer bewussten Gestaltung des doppelten Begriffes des Naturzustandes finden, die Unterscheidung aber nicht klar genug herausgearbeitet werde, als Übertreibung anzusehen ist. Von der größten Bedeutung ist es im vorliegenden Kontext ohnehin, auf die Tatsache hinzuweisen, dass sich weder bezüglich der Frage des sozialen Atomismus noch bezüglich der Frage der Existenz gültiger Verträge entscheidende Unterschiede zwischen den Naturzustandsdarstellungen in Hobbes’ verschiedenen Werken aufzeigen lassen. Besonders deutlich ist dies mit Blick auf den ersten Punkt. Dass menschliche Individuen von Natur aus ein isoliertes Leben führen, wird in keinem von Hobbes Werken vertreten oder auch nur deutlich nahegelegt, und die Existenz von Verteidigungsbündnissen oder _____________ 90

Vgl. Tönnies 1971: 217.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

familiären Lebensweisen macht in allen vier Darstellungen einen integralen Bestandteil von Hobbes’ Naturzustandsbeschreibung aus, wie immer man diese Tatsache auch letztlich mit der Hobbes’schen Naturrechtslehre vereinbaren mag. Ein deskriptiver sozialer Atomismus kann Hobbes daher weder mit Blick auf die Elements oder De Cive noch mit Blick auf den Leviathan zugeschrieben werden. Dass die Menschen über ein natürliches ‚Recht auf alles‘ verfügen und es im Naturzustand kein Privateigentum gibt, stellt ebenfalls einen integralen Bestandteil der Hobbes’schen Argumentation dar. Es mag in den Elements oder in De Cive Passagen geben, die diesen Punkt noch ausdrücklich betonen und sich nicht in gleicher Form im englischen und im lateinischen Leviathan finden. Diese Passagen liefern aber keine hinreichende Basis für die Behauptung, das Verhältnis zwischem Hobbes’ Naturzustandskonzeption und der Existenz von Verträgen werde in den verschiedenen Werken prinzipiell unterschiedlich gefasst, und die Probleme, diese juridische Beschreibung des Naturzustandes mit der oben skizzierten anthropologischen Beschreibung zu vereinbaren, stellen sich in allen vier Werken in nahezu identischer Form. Versucht man das Problem des sozialen Atomismus mit Hilfe der Unterscheidung von anthropologischer und juridischer Beschreibungsebene abschließend zu beantworten, so bietet sich aus meiner Sicht folgendes Fazit an: Hobbes’ anthropologische Analyse des Naturzustandes setzt keinen sozialen Atomismus voraus; seine juridische Beschreibung des Naturzustandes aber ist atomistisch und individualistisch in dem Sinn, dass sie jedem Individuum, auch Kindern, einen ursprünglichen rechtlichen Status zuerkennt, der allen faktischen sozialen Strukturen logisch vorhergeht und der eine Umwandlung erfährt, sobald diese Strukturen empirisch realisiert werden. Dieses aber gilt für Hobbes’ vier Werke zur politischen Theorie in gleicher Weise.

3.6 Zur Vernünftigkeit der Hobbes’schen Individuen Die letzte Frage, die mit Blick auf das theoretische Konzept des Naturzustandes zu erörtern bleibt, ist die Frage nach den Eigenschaften und Fähigkeiten, die Hobbes’ Theorie auf Seiten der Naturzustandsindividuen grundsätzlich voraussetzt. Wenn diese Frage auch innerhalb der Hobbes-Forschung nur selten eingehender diskutiert worden ist, finden sich doch hier und da durchaus unterschiedliche Positionen, insbesondere wenn es um die Frage geht, in welchem Sinne und in welchem Maße die Hobbes’schen Individuen als rational gelten können. Es ist bereits deutlich gemacht worden, dass die Hobbes’schen Naturzustandsindividuen prinzipiell über soziale Neigungen verfügen und nach der Gesellschaft mit anderen Individuen streben, sie aber andererseits nicht in

3.6 Zur Vernünftigkeit der Hobbes’schen Individuen

53

dem Sinne als soziabel vorausgesetzt werden, dass sie zum friedlichen Miteinander besonders geeignet wären. Es ist daher wohl nicht unangemessen, in einem ersten Zugriff die Menschen in Hobbes’ Naturzustand mit Kants Begriff der ‚ungeselligen Geselligkeit‘ zu beschreiben. Bezüglich des Alters und des Geschlechts der Naturzustandsindividuen lässt sich festhalten, dass Hobbes prinzipiell Männer wie Frauen und Erwachsene wie Kinder als Bewohner des Naturzustandes präsentiert. Hobbes behauptet zwar, wie gesehen, in der zweiten Auflage von De Cive, ein Sohn könne nicht als im Naturzustand befindlich gedacht werden. Es handelt sich bei der betreffenden Passage aber um eine isolierte Aussage, die durch eine ganze Reihe anders lautender Darstellungen in Frage gestellt wird und die gemäß der oben vorgeschlagenen Unterscheidung nur auf einen bestimmten Aspekt der juridischen Verhältnisse des Naturzustandes anwendbar ist und keinesfalls auf das faktische Leben der Naturzustandsindividuen Bezug zu nehmen versucht. Es kann auf der anderen Seite aber auch kaum ein Zweifel bestehen, dass sich Hobbes’ Darstellung vorrangig am Beispiel des erwachsenen Mannes und potenziellen pater familias orientiert und dass seine Analyse des Naturzustandes, und vor allem die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘, nicht an den Konflikten zwischen Frauen und Männern oder Kindern und ihren Eltern interessiert ist. Hobbes selbst gesteht diese Tatsache insofern auch ausdrücklich ein, als er in der zweiten Auflage von De Cive seine Aussage, es gebe im natürlichen Zustand kein Eigentum, durch eine neu hinzugefügte Fußnote stützt, in der er die Geltung des ‚Rechts auf alles‘ nachträglich auf das Verhältnis von Familienvätern untereinander beschränkt. Quod ab aliquibus objectum est, bonorum proprietatem etiam ante constitutas civitates in patribusfamiliarum exstitisse, id quoniam familiam civitatem parvam esse dixeram, frustra objectum est. Nam filii familias, proprietatem rerum suarum à patre concessam habent, distinctam quidem à caeteris filiis ejusdem familiae, sed non à proprietate ipsius patris. Patres verò diversarum familiarum, qui nec patri nec domino communi subjiciuntur, jus commune in omnia habent.91

Dass sich auch die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ vorrangig auf das Verhältnis von erwachsenen Männern bzw. von Familienvätern bezieht, zeigt sich zudem an der in allen Schriften zu findenden Hervorhebung der natürlichen Gleichheit der Naturzustandsindividuen in Bezug auf ihre körperlichen und mentalen Fähigkeiten, die mit Blick auf den physischen Aspekt kaum auf das Verhältnis von Männern und Frauen und mit Blick auf den mentalen Aspekt kaum auf das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern anwendbar ist. _____________ 91

DC: 145. Vgl. dazu auch Schochet 1967: 441; Chapman 1993: 632; und Abbott 1993: 664.

54

3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

Die Annahme, dass es im Naturzustand prinzipiell soziale Gemeinschaften wie Familien und Verteidigungsbündnisse geben kann, legt nahe, dass die Hobbes’schen Naturzustandsindividuen, anders als etwa der natürliche Mensch Rousseaus, auch über Sprache verfügen, und die Passagen, in denen Hobbes die Konflikte der Naturzustandsindividuen auf die Tatsache zurückführt, dass die Menschen im Naturzustand einander nicht nur durch Taten, sondern auch durch Worte provozieren werden,92 bestätigt diese Sichtweise ebenso wie der Hinweis, dass die Individuen im Naturzustand grundsätzlich in der Lage sind, Verträge miteinander abzuschließen. Es trifft zu, dass Hobbes die Sprache mitunter als etwas künstlich Geschaffenes darstellt und sie damit der Sphäre des rein Natürlichen entzieht.93 Dieser Aspekt allein reicht angesichts der obigen Indizien aber nicht aus, um die Fähigkeit der Individuen, sich sprachlich miteinander zu verständigen, von Hobbes’ Konzept des Naturzustandes auszuschließen. Dass die Individuen zudem auch über die Fähigkeit verfügen, einfache Werkzeuge und Waffen herzustellen, bedarf kaum der Erwähnung. Die einzige noch zu klärende Frage ist daher die Frage, inwieweit die Hobbes’schen Individuen als vernünftig anzusehen sind. Es steht völlig außer Frage, dass die Naturzustandsindividuen prinzipiell mit Vernunft begabt sind, dass sie also etwa in der Lage sind, die Handlungen zu erkennen, die zur Erreichung bestimmter Ziele notwendig sind, und die Folgen bestimmter Handlungen und Ereignisse abzusehen. Vor allem im Kontext der Versuche, die Hobbes’sche Naturzustandstheorie mit Hilfe spieltheoretischer Methoden zu analysieren, ist aber zum Teil auch die ungleich stärkere Behauptung aufgestellt worden, bei den Menschen im Naturzustand handle es sich um perfekt rationale Individuen, um Individuen also, die immer und überall vollständig vernünftig agierten.94 Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verständnis des Hobbes’schen Naturzustandkonzeptes eng mit der in Kapitel 3.2 beschriebenen Annahme verbunden ist, bei Hobbes’ Naturzustand handle es sich um ein hypothetisches Konstrukt bzw. ein kontrafaktisches Szenario. Der obigen Lesart zufolge ist der Naturzustand bei Hobbes nicht nur insofern ein rationales Konstrukt, als er nicht den Anspruch erhebt, geschichtliche Wirklichkeit abzubilden, sondern auch insofern, als er prinzipiell von idealisierten Indivi_____________ 92 93 94

Vgl. vor allem E: 71; und DC: 93f. Vgl. EL: 12ff.; und LL: 13f. Vgl. vor allem Haji 1990: 189ff. Vgl. auch Kavka, dessen Position zu dieser Frage aber nicht immer ganz eindeutig ist (vgl. Kavka 1983: 303; und Kavka 1986: 84f.). Dass es sich bei Hobbes’ Individuen keinesfalls um vollständig rationale Individuen handle, wird dagegen von Curley betont (vgl. Curley 1989: 181) sowie von Berkowitz, der festhält: „Far from having a rational actor model of politics, Hobbes may be said to have an irrational actor model.“ (Berkowitz 1999: 51). Vgl. auch die Hinweise auf dieses Problem bei Hüttemann 2004.

3.6 Zur Vernünftigkeit der Hobbes’schen Individuen

55

duen ausgeht, die über Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, die von realen Menschen nicht oder nur annähernd erreicht werden. Wie in Kapitel 3.2 deutlich geworden ist, ist die vollständige Reduktion des Naturzustandes auf eine logische Hypothese jedoch der Hobbes’schen Position unangemessen. Wie Hobbes vor allem in den beiden Fassungen des Leviathan unmissverständlich deutlich macht, versteht er den Naturzustand durchaus auch als historische Wirklichkeit. Diese Tatsache scheint nun aber die Möglichkeit der vollständigen Rationalität der Hobbes’schen Naturzustandsindividuen bereits auszuschließen, es sei denn, man wolle Hobbes den absurden Glauben unterstellen, eine größere Gruppe von Menschen habe in der Geschichte über einen längeren Zeitraum konsequent rational agiert oder werde dies in Zukunft tun. So finden sich denn auch in Hobbes’ Werken keinerlei Passagen, in denen Hobbes seinen Naturzustandsindividuen entsprechende Fähigkeiten unterstellen würde. Ganz im Gegenteil enthalten alle vier Werke explizite Aussagen, nach denen die Menschen im Naturzustand zumindest von Zeit zu Zeit durch ihre Interessen und ihre Leidenschaften von der realistischen Einschätzung der Situation abgehalten und zu irrationalen Verhaltensweisen verleitet werden werden, so vor allem in denjenigen Passagen, in denen Hobbes die Frage diskutiert, ob die Menschen im Naturzustand konstant über die Einsicht in die Notwendigkeit der Befolgung der natürlichen Gesetze verfügen.95 Hobbes hebt zwar ausdrücklich hervor, dass jeder Mensch prinzipiell die intellektuellen Fähigkeiten besitze, um den Inhalt der natürlichen Gesetze und ihre grundsätzliche Gültigkeit einzusehen. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die entsprechenden Einsichten im Naturzustand faktisch nicht vorausgesetzt werden können. Die Behauptung, Hobbes konzipiere die Naturzustandsindividuen konsequent als vollständig rational Handelnde, ist daher nachweislich falsch. Es ist richtig, dass Hobbes mit seiner Naturzustandstheorie einen rationalen Beweis für die Notwendigkeit des Staates zu erbringen versucht und dass er zu diesem Zweck zeigen will, dass kein vollständig vernünftiges Individuum das Leben im Naturzustand wollen kann. Daraus aber abzuleiten, es müsse sich bei allen Individuen innerhalb des beschriebenen Naturzustandes um perfekt rationale Individuen handeln, ist keineswegs zwingend. Ganz im Gegenteil ließe sich vertreten, dass gerade ein vollständig vernünftiges Individuum immer auch die Möglichkeit fremder Irrationalität miteinkalkulieren wird, und genau dieses Verständnis scheint Hobbes’ Naturzustandskonzeption prinzipiell zugrundezuliegen. Dass Hobbes den Naturzustand nicht grundsätzlich als einen Zustand konzipiert, in dem alle Individuen mit perfekter Rationalität begabt sind, schließt freilich keineswegs die Möglichkeit aus, dass er im Rahmen seiner _____________ 95

Vgl. E: 90ff. und 99ff.; DC: 117f. und 130ff.; EL: 79 und 85; und LL: 78 und 83.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

konkreten Beschreibung des Naturzustandes zu zeigen versucht, dass der Naturzustand selbst dann zu einem unerträglichen Zustand würde, wenn alle Individuen sich konsequent rational verhielten. So wäre es durchaus denkbar, dass Hobbes die Naturzustandsindividuen zwar als nicht konsequent rational agierende Individuen präsentiert, dass die Merkmale, durch die der Naturzustand als die einzig mögliche Alternative zum staatlichen Zustand desavouiert wird, aber von den zu erwartenden irrationalen Handlungen logisch unabhängig sind. Es könnte dann etwa zwischen Hobbes’ Menschenbild und seiner darauf aufbauenden Konzipierung der Naturzustandsindividuen auf der einen Seite und dem logischen Argument für die Entstehung des allgemeinen Kriegszustandes auf der anderen Seite unterschieden werden, und das Hobbes’sche Naturzustandsargument wäre von geringeren anthropologischen Voraussetzungen abhängig und könnte eine umfassendere Geltung beanspruchen. Inwieweit dies nun in den verschiedenen Werken der Fall ist, inwieweit also die Hobbes’sche Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ von der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Auftretens irrationaler Handlungen logisch unabhängig ist, wird im folgenden Kapitel eingehend zu prüfen sein. An dieser Stelle kann aber festgehalten werden, dass Interpretationen wie die Hajis, nach der die traditionelle Konzeption des Naturzustandes von der vollständigen Rationalität der Individuen ausgeht und folglich für irrationale oder kurzsichtige Verhaltensweisen keinen Platz hat, auch und gerade mit Blick auf Hobbes ausgesprochen fragwürdig ist. Die Annahme, die Individuen handelten konsequent rational, wenn auch nur im Sinne eines instrumentellen Vernunftbegriffes, mag zu den zentralen Prämissen der Spieltheorie zählen. Ein Merkmal der traditionellen Naturzustandstheorie ist sie ebensowenig wie ein konstitutiver Bestandteil des Hobbes’schen Naturzustandskonzeptes.

3.7 Zusammenfassung Die Ergebnisse unserer Untersuchung des Hobbes’schen Naturzustandskonzeptes können folgendermaßen zusammengefasst werden: Sowohl im Hinblick auf die konstitutiven Elemente als auch im Hinblick auf den theoretischen Status des Naturzustandes erweist sich das Konzept zwischen 1640 und 1668 als weitgehend konstant. In allen vier Werken ist der Naturzustand durch die prinzipielle Abwesenheit der zentralen Eigenschaften der bürgerlichen Gemeinschaft charakterisiert, und in keinem dieser Werke abstrahiert Hobbes’ Konzept des Naturzustandes vollständig von grundlegenden sozialen Strukturen. Es mag nicht immer ganz eindeutig sein, bis zu welchem Grad die Hobbes’sche Naturzustandskonzeption mit der Existenz gültiger Verträge

3.7 Zusammenfassung

57

vereinbar ist. Es kann aber betont werden, dass Hobbes das völlige Fehlen vertraglicher Übereinkünfte in keinem seiner Werke explizit als Merkmal des Naturzustandes präsentiert und dass sich die Probleme, Hobbes’ Beschreibung bestimmter sozialer Gruppen mit seiner Behauptung des natürlichen ‚Rechts aller auf alles‘ in Übereinstimmung zu bringen, in allen vier Werken in der gleichen Weise stellen. Im Hinblick auf die vieldiskutierte Frage nach dem Status des Hobbes’schen Naturzustandes lässt sich festhalten, dass es sich bei Hobbes’ Diskussion des natürlichen Zustandes in allen vier Werken sowohl um eine anthropologische als auch um eine juridische Analyse handelt. In dreien seiner Werke, nämlich in De Cive sowie in beiden Fassungen des Leviathan, finden sich zudem ausreichend Belege dafür, dass Hobbes den Naturzustand auch als Ausdruck geschichtlicher Wirklichkeit verstanden hat, und umgekehrt finden sich keine ausreichenden Indizien für die Behauptung, zur Zeit der Elements habe Hobbes dies nicht getan. Ein deutlicher Unterschied zwischen den Werken besteht aber darin, dass Hobbes in der englischen und der lateinischen Fassung des Leviathan die Frage der Historizität des Naturzustandes ausdrücklich diskutiert und dabei die Tatsache, dass es geschichtliche Manifestationen des von ihm beschriebenen Naturzustandes gibt, in einer Weise betont, die sich weder in den Elements noch in De Cive findet. Der Vergleich der verschiedenen Werke offenbart daher, dass die Frage der Historizität des Naturzustandes zwischen 1640 und 1668 für Hobbes mehr und mehr zu einem Thema wird und ihn zu einer zumindest leicht veränderten Behandlung des Konzeptes veranlasst. Angesichts dieser Ergebnisse gibt es letztlich keine Grundlage für die Behauptung, Hobbes’ Entscheidung, den Naturzustand mit Hilfe einer veränderten Terminologie zu beschreiben, stehe in Verbindung mit einer signifikanten Veränderung des theoretischen Konzeptes, das sich hinter den Bezeichnungen verbirgt. Die Gründe für Hobbes’ Entscheidung müssen folglich an anderer Stelle gesucht werden. Quentin Skinner hat kürzlich die Ansicht vertreten, Hobbes’ Theorie sei stark von den politischen Debatten im England der späten 1630er und frühen 1640er Jahre beeinflusst worden, und seine Darstellung des Naturzustandes sei unter anderem durch das Bemühen gekennzeichnet, die von den Theoretikern des Parlaments wie Henry Parker, John Goodwin, Charles Herle oder William Bridge vertretene Sichtweise zu unterminieren, die Menschen hätten bereits vor der Einsetzung eines konkreten politischen Herrschers eine Art Körperschaft und ein Volk (‚people‘) gebildet, das als ursprünglicher und eigentlicher Träger der staatlichen Souveränität anzusehen sei und dem daher auch das Recht zukommen müsse, dem Oberhaupt eines Staates seine ihm verliehene Macht wieder zu entziehen.96 _____________ 96

Vgl. Skinner 2005; und Skinner 2007.

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3. Das Konzept des menschlichen Naturzustandes

Aus meiner Sicht erscheint es nun möglich, die Position der genannten parlamentarischen Theoretiker mit Hobbes’ Wechsel in der Bezeichnung des Naturzustandes in Verbindung zu bringen. Dass Hobbes im Leviathan den Begriff ‚state of nature‘ bzw. ‚status naturalis‘ zu vermeiden versucht, könnte danach darauf zurückzuführen sein, dass der Begriff suggeriert, die Menschen wären schon vor der Etablierung des Staates Teil einer Körperschaft oder einer quasi-politischen Einheit, und dass Hobbes diesen Eindruck unbedingt vermeiden wollte. In dem Bemühen um eine Zurückweisung der Position der parlamentarischen Theoretiker wäre dann gegebenenfalls auch der Grund dafür zu sehen, dass Hobbes sich im englischen Leviathan in der in Kapitel 3.4 beschriebenen Weise dazu hinreißen lässt, das Leben im natürlichen Zustand mit dem Wort „solitary“ zu kennzeichnen und damit ein wenig von seiner sonstigen Darstellung abzuweichen. Eine zweite Möglichkeit, die Verschiebung in Hobbes’ Terminologie zu erklären, bestünde darin, sie mit der Frage der Historizität des Naturzustandes in Zusammenhang zu bringen. So ließe sich etwa argumentieren, dass Hobbes den Begriff ‚condition‘ oder ‚conditio‘ als angemessener empfunden habe, nachdem und weil er zu größerer Klarheit bezüglich der Notwendigkeit gelangt war, die historischen Manifestationen des Naturzustandes deutlicher als solche herauszustellen. Hobbes’ Bemerkungen, die Herrscher verschiedener Länder sowie Menschen inmitten eines Bürgerkriegs befänden sich miteinander im Naturzustand, scheinen den Eindruck zu unterstützen, dass die Menschen sich nicht einfach entweder im Naturzustand oder außerhalb des Naturzustandes befinden, sondern dass sie sich durchaus auch zur gleichen Zeit im Hinblick auf einige Menschen im Naturzustand, im Hinblick auf andere aber außerhalb des Naturzustandes befinden können, und die Verwendung des Begriffes ‚condition‘ oder ‚conditio‘ scheint einer solchen Sichtweise mehr zu entsprechen als die Verwendung des Begriffs ‚state‘ oder ‚status‘.97 Auf eine letzte Möglichkeit, die ebenfalls mit der Frage der Historizität des Naturzustandes in Verbindung steht, ist von Ludwig verwiesen worden. Nach Ludwig könnte die Aufgabe des Begriffs ‚state‘ durch das Interesse veranlasst worden sein, den falschen Eindruck zu korrigieren, beim Naturzustand handle es sich um eine frühe Stufe in der Geschichte der Menschheit.98 Wie nun im Rahmen des vorliegenden Kapitels deutlich geworden ist, ist Hobbes zwar bestrebt, sich von der Meinung, der Naturzustand habe einst auf der ganzen Welt geherrscht, zu distanzieren. Sein Interesse geht aber ansonsten gerade dahin, die prinzipielle Historizität des Naturzustandes stärker als bisher zu betonen. Ludwigs Interpretation erscheint mir daher letztlich nicht überzeugend, und es erscheint mir auch fraglich, ob der Gebrauch des _____________ 97 98

Für diesen Hinweis danke ich Annabel Brett. Vgl. Ludwig 1998: 206f.

3.7 Zusammenfassung

59

Begriffs ‚natural condition‘ im Hinblick auf das von Ludwig angesprochene Missverständnis überhaupt dem Begriff ‚state of nature‘ gegenüber als vorteilhaft anzusehen ist.

4. Die Herleitung des ‚state of war‘ 4.1 Einleitung Wenn oben die These aufgestellt worden ist, die Theorie des menschlichen Naturzustandes werde in der Hobbes-Forschung allgemein als zentrales Element der Hobbes’schen Theorie begriffen, so lässt sich im Hinblick auf die Bedeutung der Hobbes’schen Herleitung des Kriegszustandes ein ähnlicher Konsens behaupten. Es gibt kaum einen Interpreten, der die zentrale Rolle in Frage stellen würde, die dieser Herleitung innerhalb der Naturzustandstheorie und hinsichtlich des übergeordneten Ziels der Begründung des Staates und der Notwendigkeit absoluter Souveränität zukommt. Angesichts dieser unumstrittenen Bedeutung der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ für die Hobbes’sche Theorie muss es jedoch überraschen, dass der Frage nach den genauen Ursachen, auf die Hobbes den naturzuständlichen Krieg zurückführt, lange Zeit nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, und dies erscheint umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass Hobbes’ Beschreibung der verschiedenen Konfliktursachen es mitunter durchaus an Klarheit und Eindeutigkeit vermissen lässt. Bis weit in die 1960er Jahre hat sich die überwiegende Anzahl der Hobbes-Interpreten darauf beschränkt, die Hobbes’sche Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ auf einigen wenigen Seiten und in stark paraphrasierender Weise abzuhandeln, und hat dabei zudem keinerlei bewusste Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Hobbes’schen Schriften vorgenommen. Als Beispiele für diese Art der Auseinandersetzung mit der Herleitung des ‚state of war‘ können etwa die Studie Robertsons,1 die 1904 erstmals erschienene Monographie Leslie Stephens,2 die einschlägigen Arbeiten John Lairds und Carl Schmitts aus den 1930er Jahren,3 die Hobbes-Monographie von Richard Peters aus dem Jahr 19564 sowie die insgesamt durchaus umfangreichen Studien von Macpherson, Hood, Watkins und Goldsmith aus den 1960er Jahren gelten.5 _____________ 1 2 3 4 5

Vgl. Robertson 1886: 138ff. Vgl. Stephen 1961: 183. Vgl. Laird 1968: 175; und Schmitt 1982: 47. Vgl. Peters 1956: 168f. Vgl. Macpherson 1962: 25ff.; Hood 1964: 74ff.; Watkins 1965: 117ff.; und Goldsmith 1966: 78. Vgl. auch noch Hoekstra 2007: 110f.

4.1 Einleitung

61

Die Vernachlässigung, die die Herleitung des Kriegszustandes also auch noch nach der eng mit dem Namen Howard Warrender verbundenen Wiederentdeckung der Hobbes’schen Philosophie in den 50er und 60er Jahren erfahren hat, mag sich zu einem gewissen Grad auf den starken Einfluss der in Kapitel 2.1 bereits angeführten Hobbes-Studie von Leo Strauss aus dem Jahr 1936 zurückführen lassen. Strauss vertritt die Ansicht, die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ stütze sich – wie die Hobbes’sche Lehre überhaupt – in allen Schriften auf die menschliche Eitelkeit und das allgemeine Streben nach Ruhm und Ehre, wenn Hobbes diese zentrale Rolle der Leidenschaften auch zunehmend zu verschleiern versuche, um den Eindruck zu zerstreuen, er sehe den Menschen als von Natur aus böse an.6 Nach Strauss schreibt Hobbes dem Menschen ein spontanes, unendliches, absolutes Streben nach Macht zu, das von dem von äußeren Gegenständen abhängigen und dadurch prinzipiell endlichen animalischen Streben nach dem eigenen Guten wesenhaft verschieden und deshalb auch in Hobbes’ mechanistischer Bewegungslehre nicht ausreichend fundiert sei. Laut Strauss liefert dieses Streben, das seinen Grund in der menschlichen Eitelkeit habe, d.h. in der Freude, die der Mensch an der Betrachtung seiner eigenen Macht und seiner Überlegenheit gegenüber anderen empfinde, in allen Werken die logische Prämisse, aus der der ‚Krieg aller gegen alle‘ entwickelt werde. Der Strauss’schen Analyse kann nun nicht nur insofern ein großer Einfluss auf die Hobbes-Forschung zugesprochen werden, als noch Peters, Hood und Watkins, mitunter in ausdrücklicher Anlehnung an Strauss und ohne ihre Position anhand des Hobbes’schen Textes eingehender zu begründen, den menschlichen Stolz als zentrale Ursache für den ‚state of war‘ präsentieren.7 Die Wirkung der Strauss’schen Studie zeigt sich auch daran, dass die Frage, ob das logische Argument für den ‚Krieg aller gegen alle‘ in den verschiedenen Werken voneinander abweicht, praktisch vollständig ignoriert wird. Ansätze zu einer Kritik der Strauss’schen Interpretation des ‚state of war‘ finden sich zwar bereits bei Goldsmith, der die Bedeutung der Unsicherheit des Naturzustandes hervorhebt und darauf verweist, dass laut Hobbes auch solche Individuen rationalerweise nach immer mehr Macht streben müssen, die von sich aus mit geringerer Macht zufrieden wären, da sie nämlich nicht wissen können, ob sich die jeweils anderen Individuen ihnen gegenüber friedlich verhalten werden.8 Den ersten Versuch, die Hobbes’sche Beschreibung der naturzuständlichen Konfliktursachen eingehender zu analysieren, unternimmt aber erst McNeilly im Jahr 1968, der im Rahmen seiner Analyse auch die _____________ 6 7

8

Zum Folgenden vgl. Strauss 1965: 18-27. Vgl. Peters 1956: 169; Hood 1964: 75f.; und Watkins 1965: 117f. Watkins bestreitet allerdings gegenüber Strauss, dass Eitelkeit und Furcht als Grundlage von Hobbes’ gesamter politischer Philosophie anzusehen sind (vgl. Watkins 1965: 31). Vgl. Goldsmith 1966: 75 und 78.

62

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

verschiedenen Fassungen der Hobbes’schen Naturzustandstheorie einander gegenüberstellt und sich dabei explizit von den Studien Lairds und Peters’ distanziert.9 Anders als Strauss sieht McNeilly zwischen den früheren Werken und dem englischen Leviathan nicht nur einen scheinbaren, sondern einen substanziellen Unterschied, und seine Ergebnisse stellen die Strauss’sche These von der fundamentalen Bedeutung des menschlichen Stolzes zumindest hinsichtlich des englischen Leviathan nachhaltig in Frage. McNeilly gesteht zu, dass in den Elements of Law der menschliche Stolz als primäre Ursache des naturzuständlichen Krieges erscheine. Er betont aber, dass sich bereits in De Cive eine diesbezügliche Akzentverschiebung in der Herleitung des Kriegszustandes zeige, die dann im englischen Leviathan konsequent weitergeführt werde. Im englischen Leviathan ist der ‚Krieg aller gegen alle‘ danach nicht mehr logisch vom menschlichen Stolz oder dem Streben nach Macht abhängig, sondern erscheint vorrangig als Folge der Unsicherheit des Naturzustandes und der Tatsache, dass ein rationales Individuum angesichts des allgemeinen Strebens nach Selbsterhaltung und angesichts der Wahrscheinlichkeit einer Konkurrenz um bestimmte Güter die prinzipielle Möglichkeit fremder Angriffe einkalkulieren und ihnen mit präventiver Gewalt begegnen muss. Eine zweite Studie dieser Art, in der die zentralen Ergebnisse McNeillys eine Bestätigung erfahren haben, ist ein Jahr später von Wolf vorgelegt worden, der wie McNeilly die Entwicklung der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ untersucht und mit Blick auf den Leviathan dem Aspekt des menschlichen Stolzes ebenfalls eine geringere Bedeutung zuerkennt als von Strauss behauptet. Wolf stützt sich hierbei vor allem auf die Hobbes’sche Unterscheidung zwischen ‚unmäßigen‘ und ‚maßvollen‘ Individuen, die in den früheren Schriften noch deutlich im Mittelpunkt der Argumentation stehe, im englischen Leviathan aber nur noch beiläufig erwähnt werde.10 Gerade die eindrucksvolle Untersuchung McNeillys hat nun aber kaum die ihr zustehende Anerkennung erfahren und die eigentlich zu erwartende Wirkung entfaltet. Zwar finden sich in der Forschungsliteratur hier und da Auseinandersetzungen mit McNeillys Erörterung der vermeintlich egoistischen Hobbes’schen Psychologie. Seine Analyse der verschiedenen Hobbes’schen Naturzustandsbeschreibungen hat aber kaum vergleichbare Auseinandersetzungen nach sich gezogen, wenn McNeillys diesbezüglichen Ergebnisse auch 1974 im Rahmen von Sieps Kritik der Strauss’schen Hobbes-Interpretation eine weitere Bestätigung erfahren haben.11 Die Frage nach den Ursachen, auf die Hobbes den naturzuständlichen ‚Krieg aller gegen alle‘ _____________ 9 10 11

Vgl. McNeilly 1968: 146f. Zum Folgenden vgl. McNeilly 1968: 138-167. Vgl. Wolf 1969: 55-66. Vgl. Siep 1974: 156-58.

4.1 Einleitung

63

zurückführt, ist von den Interpreten der Hobbes’schen Theorie vielmehr in der Folgezeit wieder ebenso häufig ausgeklammert worden wie schon zuvor, und das Gleiche gilt für die Frage nach den diesbezüglichen Unterschieden zwischen den Hobbes’schen Schriften. So geht etwa Gauthier in seiner einflussreichen Untersuchung des englischen Leviathan nicht besonders detailliert auf den ‚Krieg aller gegen alle‘ ein, obwohl er ihn in deutlichem Unterschied zu Peters oder Watkins offensichtlich als Folge des rationalen Strebens nach Selbsterhaltung begreift,12 und auch Kodalle und Raphael widmen der Herleitung des Kriegszustandes nur einige kurze Bemerkungen.13 Erwähnenswert sind lediglich die Versuche Michael Taylors und Edna Ullmann-Margalits in den späten 1970er Jahren, das Problem des Naturzustandes mit Hilfe spieltheoretischer Modelle zu beschreiben.14 Die Frage, ob die Darstellungen in Hobbes’ Werken entscheidend voneinander differieren, wird aber von Taylor und Ullmann-Margalit genauso wenig untersucht wie von den zuvor genannten Autoren. Es überrascht daher nicht, dass Kavka 1983 in seinem Aufsatz „Hobbes’s war of all against all“ die Behauptung aufstellt, die Hobbes’sche Herleitung des Kriegszustandes habe nur selten detaillierte Untersuchungen erfahren,15 eine Aussage, die er in seiner drei Jahre später erschienenen umfangreichen Studie zur Hobbes’schen Moral- und Staatstheorie noch einmal bekräftigt.16 Gerade der Studie Kavkas und der im selben Jahr veröffentlichten und ebenso einflussreichen Studie Jean Hamptons ist es zuzuschreiben, dass die so lang vernachlässigte Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem der meistdiskutierten Teile der Hobbes’schen Theorie avanciert ist. Vor allem die im Anschluss an Kavka und Hampton unternommenen Versuche, das Dilemma des Naturzustandes spieltheoretisch zu beschreiben, sind kaum noch überschaubar.17 Wenn aber im Zuge dieser Entwicklung die Frage nach den genauen Ursachen des naturzuständlichen _____________ 12 13 14 15 16 17

Vgl. Gauthier 1969: 14-19. Vgl. Kodalle 1972: 38ff.; und Raphael 1977: 30f. und 49. Vgl. Taylor 1976; und Ullmann-Margalit 1977. Vgl. Kavka 1983: 291. Vgl. Kavka 1986: 86. Vgl. etwa Gauthier 1988; Haji 1990; Shaver 1990; Hardin 1991; Hampton 1991; Haji 1991; Alexandra 1992; Boonin-Vail 1994; Nida-Rümelin 1996; Alexander 2001; Pasquino 2001; Dodds/Shoemaker 2002; Kisner 2004; Hüttemann 2004; und Boulting 2005. Vgl. auch Gauthier 1969; Rawls 1971; Barry 1990; Harrison 2003; und Hoekstra 2007. Zur Kritik der spieltheoretischen Betrachtung der Hobbes’schen Theorie vgl. Sorell 1986: 152; Tuck 1989: 107ff.; Ewin 1991: 46; Hüning 1995: 762; Ludwig 1998: 300f.; und Peacock 2005: 202. Vgl. hierzu auch Curley 1989: 189; und Curley 1994: XXVI. Erörterungen des ‚Krieges aller gegen alle‘, die auf den Rückgriff auf spieltheoretische Modelle gänzlich oder weitgehend verzichten, finden sich zudem bei Johnston 1986; Farrell 1989; Griswold 1989; Landesman 1989; Hampton 1989; Nonnenmacher 1989; Kersting 1992; Lloyd 1992; Münkler 1993; Ryan 1996; Tuck 1996b; Chwaszcza 1996; Tuck 1999; Berkowitz 1999; Martinich 1999; Kleemeier 2002; und Tuck 2004.

64

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Krieges auch endlich die angemessene Aufmerksamkeit erfahren haben mag, so ist doch die Frage nach den Unterschieden zwischen den verschiedenen Werken weiterhin ignoriert worden. Schon Kavka und Hampton gestehen zwar, wohl mit Blick auf die Studie McNeillys, zu, dass es wichtige Unterschiede zwischen Hobbes’ früheren und seinen späteren Werken gebe.18 Beide konzentrieren sich bei ihrer Analyse aber ausschließlich auf den Leviathan und dort auch lediglich auf die englische Fassung, und dies trifft auch auf nahezu alle anderen seither erschienenen Untersuchungen zu, insbesondere auf jene, in denen Hobbes’ Argumentation spieltheoretisch interpretiert wird. Zu den wenigen Ausnahmen zählen die schon mehrfach angesprochene Studie Tricauds sowie die 1995 erschienene Arbeit Esfelds. Tricaud kommt im Zuge seiner relativ knappen Analyse der Herleitung des Kriegszustandes wie McNeilly, Wolf und Siep zu dem Ergebnis, dass dem menschlichen Stolz im englischen Leviathan nicht mehr die gleiche zentrale Rolle zukommt wie noch in den Elements und in De Cive.19 Esfeld dagegen, der nur sehr kurz auf die vermeintlichen Unterschiede zwischen den früheren Schriften und dem englischen Leviathan eingeht, stellt die sowohl von McNeilly, Wolf und Siep als auch von Tricaud behauptete Entwicklung ausdrücklich in Frage und behauptet, wie vor ihm bereits Sorell,20 eine generelle Kontinuität des logischen Argumentes, mit dem Hobbes die Unvermeidbarkeit des Krieges im Naturzustand zu begründen versucht.21 Eine solche Kontinuität legt im Übrigen auch Slomp nahe, die mit Nachdruck die Auffassung vertritt, das Streben nach Ruhm komme auch in der Kriegsherleitung des Leviathan die Rolle der primären Konfliktursache zu.22 Wie diese Beispiele bereits deutlich machen, ist die Debatte um die Hobbes’sche Herleitung des Kriegszustandes bis heute von der bereits früh im Mittelpunkt stehenden Frage geprägt, ob der ‚Krieg aller gegen alle‘ von Hobbes eher auf menschliche Irrationalität und die menschlichen Leidenschaften oder aber auf das rationale Streben nach Selbsterhaltung zurückgeführt wird. Eine besonders umfangreiche Auseinandersetzung mit dieser Frage findet sich bei Hampton.23 Nach Hampton entwickelt Hobbes im englischen Leviathan nicht eine, sondern letztlich zwei voneinander verschiedene Herleitungen des Kriegszustandes, einen „passions account of conflict“ auf der einen und einen „rationality account of conflict“ auf der anderen Seite. Wie Hampton unter Einbeziehung spieltheoretischer Methoden zu beweisen versucht, seien die beiden Darstellungen aber weder miteinander vereinbar, _____________ 18 19 20 21 22 23

Vgl. Kavka 1983: 291; Kavka 1986: 87; und Hampton 1986: 74. Vgl. Tricaud 1988: 120-123. Vgl. Sorell 1990: 344. Vgl. Esfeld 1995: 241. Vgl. Slomp 2007: 181 und 189. Zum Folgenden vgl. Hampton 1986: 58ff.

4.1 Einleitung

65

noch vermöchten sie jeweils für sich genommen eine überzeugende Herleitung des Kriegszustandes zu liefern. Laut Hampton lässt sich das von Hobbes angestrebte Ziel, die Notwendigkeit absoluter Herrschaft zu begründen, daher nur retten, wenn man die Herleitung des Kriegszustandes in einer Weise rekonstruiere, die die Kurzsichtigkeit der Naturzustandsindividuen zur primären Konfliktursache mache, also ihr Unvermögen, die langfristigen Folgen unkooperativen Verhaltens einzusehen. Wie bereits angedeutet, hat Hamptons Studie die Auseinandersetzung mit der Hobbes’schen Herleitung des Kriegszustandes deutlich belebt. Die Ergebnisse von Hamptons Analyse sind dabei allerdings oftmals auf Kritik gestoßen, und eine ganze Reihe von Autoren hat angezweifelt, ob die verschiedenen Konfliktursachen, die Hobbes beschreibt, tatsächlich zwei verschiedene Argumentationslinien begründen und ob sie einander logisch ausschließen.24 Einige Autoren haben zudem auch darauf hingewiesen, dass eine dichotomische Unterscheidung von Irrationalität und Leidenschaften auf der einen und rationalem Streben nach Selbsterhaltung auf der anderen Seite, wie sie von Hampton und einer Reihe anderer Autoren nahegelegt wird, gerade innerhalb des Hobbes’schen Systems nicht ohne Probleme ist. Schon Gauthier verweist in seiner Studie aus dem Jahr 1969 darauf, dass das in der Eitelkeit begründete Streben, sich zum Herren über andere zu machen, nicht ohne Weiteres als irrational bezeichnet werden kann, da es unter Umständen dem Ziel der Selbsterhaltung durchaus förderlich sein kann,25 und eine ähnliche Position vertritt in ausdrücklicher Abgrenzung von Hampton Ulrike Kleemeier.26 In der Tat ist die durch die obige Unterscheidung suggerierte Sichtweise, ein Handeln, das wesentlich durch die menschlichen Leidenschaften motiviert ist, sei als irrational anzusehen, schon allein deshalb problematisch, weil das rationale Streben nach Selbsterhaltung, welches auf einen natürlichen Drang zur Erhaltung des eigenen Lebens und auf die ebenso natürliche Furcht vor einem gewaltsamen Tod zurückgeht, von den natürlichen Leidenschaften des Menschen gar nicht vollständig zu trennen ist. Zudem steht auch die konkrete Furcht vor den Angriffen anderer Individuen, die laut Hobbes aus der Unsicherheit des Naturzustandes erwächst und den Einzelnen zur Anwendung präventiver Gewalt verleitet, so eng mit dem Ziel der Selbsterhaltung in Verbindung, dass sie von einigen Autoren mit gutem Grund als rationale Form der Furcht bezeichnet und der Sphäre der irrationalen Affekte entzogen worden ist. Die Entgegensetzung von Leidenschaft und Rationalität ist aber mit Blick auf das Hobbes’sche System auch deshalb als grundsätzlich problematisch _____________ 24 25 26

Vgl. vor allem Boonin-Vail 1994: 125ff.; und Shaver 1990: 58ff. Kritische Auseinandersetzungen mit Hampton finden sich zudem auch bei Gauthier 1988; und Haji 1991. Vgl. Gauthier 1969: 19. Vgl. Kleemeier 2002: 127 und 152.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

anzusehen, weil Hobbes nach Ansicht nahezu aller Autoren über einen rein instrumentellen Vernunftbegriff verfügt, die Leidenschaften also der Vernunfttätigkeit geltungslogisch vorgelagert sind und die Vernünftigkeit einer Handlung letztlich von dem Beitrag abhängig ist, den sie zur Verwirklichung der jeweils vorhandenen Leidenschaften und Interessen leistet. Da Hobbes das Interesse an der eigenen Erhaltung als das fundamentale und vorrangige Interesse eines jeden Menschen präsentiert, ist allerdings ohne Zweifel die Möglichkeit gegeben, Handlungen, die die Selbsterhaltung unnötig aufs Spiel setzen, als irrational zu begreifen und entsprechend auch die Leidenschaften, aus denen diese Handlungen hervorgehen, mit diesem Begriff zu bezeichnen. Es müsste dann aber bei der Beschreibung und Bewertung der Leidenschaften prinzipiell zwischen solchen Leidenschaften unterschieden werden, die dem Zweck der Selbsterhaltung entgegengesetzt sind, d.h. die zu Verhaltensweisen führen, die die Chancen auf die eigene Erhaltung verringern, und solchen Leidenschaften, die mit dem rationalen Streben nach Selbsterhaltung vereinbar sind. Eine ergänzende Möglichkeit bestünde darin, zwischen solchen Leidenschaften zu unterscheiden, über die alle Menschen gleichermaßen verfügen, und solchen, die insofern kontingent sind, als sie bei einigen Menschen oder in einigen Situationen anzutreffen sind, bei anderen Menschen oder in anderen Situationen aber nicht. Auf diese Weise ließen sich etwa die mit dem rationalen Selbsterhaltungsstreben verbundenen fundamentalen und allgemeinmenschlichen Leidenschaften von solchen trennen, die Ausdruck einer bestimmten individuellen Charakterprägung oder einer besonderen momentanen affektuellen Beeinträchtigung sind. Dass die bloße Zweiteilung zwischen dem rationalen Streben nach Selbsterhaltung einerseits und dem vermeintlich irrationalen Streben nach Befriedigung der Leidenschaften andererseits für die angemessene Beschreibung der Hobbes’schen Herleitung des Kriegszustandes nicht ausreicht, wird zudem durch die Tatsache gestützt, dass gerade in letzter Zeit von einigen Autoren die Ansicht vertreten worden ist, der ‚Krieg aller gegen alle‘ werde von Hobbes gar nicht auf die natürlichen Interessen der Naturzustandsindividuen zurückgeführt, sondern auf bestimmte Urteile, die diese Individuen hinsichtlich der im Naturzustand erlaubten oder notwendigen Verhaltensweisen fällen. Wie oben angemerkt worden ist, deuten bereits Goldsmith und McNeilly an, dass für die Entstehung des Kriegszustandes nicht nur die Bedürfnisse entscheidend sind, über die handelnden Individuen im Naturzustand verfügen, sondern auch die Erwartungen, die sie bezüglich des Handelns der jeweils anderen Individuen haben. Dass sich der ‚Krieg aller gegen alle‘ in diesem Sinne aus bestimmten Überzeugungen oder ‚beliefs‘ der Naturzustandsindividuen herleitet, ist in letzter Zeit mit besonderem Nachdruck von Richard Tuck vertreten worden. Tuck grenzt sich von Hampton sowie generell von den spieltheroretischen Analysen des Hobbes’schen Naturzu-

4.1 Einleitung

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standes mit dem ausdrücklichen Hinweis ab, Hobbes führe den ‚Krieg aller gegen alle‘ nicht auf bestimmte miteinander kollidierende Interessen oder Bedürfnisse der Individuen zurück, bei deren Verfolgung die Individuen zwangsläufig miteinander in Konflikt geraten müssten. Der naturzuständliche Krieg gehe vielmehr vorrangig auf die Tatsache zurück, dass jedes Individuum im Naturzustand prinzipiell gezwungen sei, auf der Basis seiner eigenen und oftmals unzutreffenden Vorstellungen von der eigenen Macht und von den zur Erlangung der eigenen Ziele geeigneten Mitteln und Verhaltensweisen zu agieren. The prime source of the conflicts in the state of nature, for Hobbes, is thus epistemic in character: it is the differing judgements which people make about their relative power, and about all matters of importance to them. These judgements need not strictly speaking be driven by self-interest at all, since they may arise simply from the fact that there is no objective standard of truth.27

Neben der oben vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten menschlicher Leidenschaften und Interessen und ihrer jeweiligen Bewertung hinsichtlich des übergeordneten Ziels der Selbsterhaltung wären also noch verschiedene Arten der Selbsteinschätzung und Mittelkalkulation zu unterscheiden, damit die Verhaltensweisen der Naturzustandsindividuen in angemessen differenzierter Weise als rational oder irrational beschrieben werden können. In der folgenden Analyse der Herleitung des Kriegszustandes in Hobbes’ verschiedenen Werken werde ich versuchen, die bisherige Debatte um dieses zentrale Element der Hobbes’schen Theorie so weit wie möglich miteinzubeziehen und die Frage zu beantworten, ob die Darstellung der verschiedenen Konfliktursachen im Naturzustand in allen Werken weitgehend gleich bleibt oder ob sich, wie von McNeilly und anderen behauptet, eine Akzentverschiebung zugunsten des rationalen Selbsterhaltungsstrebens ausmachen lässt. Dabei werde ich die Begriffe der Rationalität und der Irrationalität sowie den Begriff der menschlichen Leidenschaften in der folgenden Weise handhaben: Als rational verstehe ich prinzipiell zutreffende Urteile und Kalkulationen sowie Verhaltensweisen, die dem Streben nach Selbsterhaltung förderlich oder gar von ihm gefordert sind oder die ihm zumindest nicht widersprechen. Von Irrationalität soll demgegenüber nur da gesprochen werden, wo einige oder alle Individuen falsche Urteile bezüglich der eigenen Macht, bezüglich der zur Erlangung bestimmter Ziele notwendigen Handlungen oder bezüglich der langfristigen Konsequenzen bestimmter Handlungen fällen. Mit dem Begriff der Leidenschaft können solche Formen der Irrationalität folglich in _____________ 27

Tuck 1999: 131. Vgl. auch Tuck 1996b: 184f.; und Tuck 2004: 132. Auf die Bedeutung bestimmter Überzeugungen für die Entstehung von sozialer Unruhe und kriegerischen Konflikten verweist auch Lloyd 1992: 39ff. und 263ff.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Verbindung stehen, wenn bestimmte mehr oder minder akut auftretende Leidenschaften den Kalkulationsprozess stören und zum Fällen falscher Urteile beitragen oder wenn die in ihren langfristigen Konsequenzen nicht richtig eingeschätzten Handlungen auf Leidenschaften im Sinne bestimmter Interessen zurückgehen, die in ihrer Verfolgung dem übergeordneten Ziel der Selbsterhaltung entgegengesetzt sind. Die zahlreichen Versuche, Hobbes’ Argumentation mit Hilfe spieltheoretischer Methoden zu analysieren, werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eigens untersucht werden. Der Grund hierfür liegt allerdings nicht darin, dass ich mich der Kritik, die prinzipiell gegen eine derartige Herangehensweise vorgebracht worden ist, anschließen würde. Der Verzicht auf eine solche Untersuchung liegt vielmehr in der Überzeugung begründet, dass von ihr kein genuiner Beitrag zur Klärung der spezifischen Fragestellungen dieser Arbeit erwartet werden kann. Da die vorliegenden spieltheoretischen HobbesInterpretationen allesamt auf der Grundlage des Textes des englischen Leviathan entwickelt worden sind, vermag die Diskussion dieser Interpretationen keine wirklichen Einsichten in die Unterschiede zwischen den Hobbes’schen Schriften zu vermitteln, so wie sich umgekehrt die Streitpunkte der spieltheoretischen Hobbes-Deutung auch durch den eingehenden Vergleich der vier Schriften in keiner Weise einer Lösung zuführen lassen dürften. Eine Frage, die demgegenüber in den folgenden Kapiteln zu erörtern sein wird, ist die vornehmlich von einigen deutschen Interpreten aufgeworfene Frage, ob der von Hobbes beschriebene ‚Krieg aller gegen alle‘ überhaupt in einem empirischen Sinne als Krieg verstanden werden muss oder ob es sich bei den betreffenden Beschreibungen der empirischen Konfliktursachen nicht eher um Illustrierungen eines von Hobbes vornehmlich als ‚Rechtskrieg‘ begriffenen Konfliktes handelt.28 Wie oben bereits angeklungen ist, ist die Herleitung des Kriegszustandes sowohl in den Elements als auch in De Cive eng mit der Erörterung des natürlichen Rechts verbunden, und es ist die ausdrückliche Einbeziehung des ‚Rechts aller auf alles‘ als eine der Ursachen des naturzuständlichen Konfliktes, die den augenfälligsten Unterschied zwischen der Herleitung des Kriegszustandes in den früheren Werken und der Kriegsherleitung des Leviathan markiert. Es wäre daher nicht nur zu fragen, welchen Beitrag das natürliche ‚Recht auf alles‘ letztlich zur Entstehung des ‚Krieges aller gegen alle‘ leistet und inwieweit es diesen Krieg selbst konstituiert, sondern auch, ob sich diesbezüglich Unterschiede zwischen den verschiedenen Schriften aufzeigen lassen. Der entscheidende Teil der Auseinandersetzung mit der oben skizzierten rechtstheoretischen Lesart des Hobbes’schen Naturzustandes wird allerdings erst in Kapitel 5 erfolgen, d.h. im Kontext der eingehenden Erörterung des Hobbes’schen Naturrechts. _____________ 28

Vgl. vor allem Geismann/Herb 1988: 26, 29 und 130; Herb 1989: 21f.; und Hüning 1998a: 49f.

4.2 The Elements of Law

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4.2 The Elements of Law 4.2.1 Zu den Ursachen des naturzuständlichen Konflikts In den Elements of Law liefert Hobbes in gewisser Hinsicht die knappste und die prägnanteste Version seiner Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes. Dies heißt jedoch nicht, dass die in den Elements entwickelte Argumentation auch besonders klar und deutlich wäre. Ganz im Gegenteil ist Hobbes’ Begründung, warum die Einzelnen im Naturzustand notwendigerweise miteinander in kriegerische Konflikte geraten werden, gerade aufgrund des begrenzten Raumes, den Hobbes der Beschreibung der verschiedenen Konfliktursachen im vierzehnten Kapitel der Elements zugesteht, mitunter ausgesprochen zweideutig. Zu Beginn des Kapitels betont Hobbes zunächst, dass die Menschen im Hinblick auf ihre physischen und mentalen Fähigkeiten und Vermögen einander weitgehend gleich seien. Da, wie Hobbes hervorhebt, die natürlichen Unterschiede an Körperkraft und Klugheit so gering seien, dass sie dem Stärkeren letztlich keine wirkliche Sicherheit gegenüber dem Schwächeren gewährten, täten die Individuen gut daran, den jeweils anderen als gleich anzuerkennen. And first, if we consider how little odds there is of strength or knowledge between men of mature age, and with how great facility he that is the weaker in strength or in wit, or in both, may utterly destroy the power of the stronger, since there needeth but little force to the taking away of a man’s life; we may conclude that men considered in mere nature, ought to admit amongst themselves equality; and that he that claimeth no more, may be esteemed moderate.29

Wie Hobbes aber im folgenden Abschnitt darlegt, werde es zwangsläufig zumindest einige Menschen geben, die diese Gleichheit der natürlichen Fähigkeiten nicht davon abhalten werde, einen Vorrang vor anderen Individuen anzustreben und sich um Überlegenheit gegenüber diesen anderen zu bemühen. Da der betreffende Abschnitt in großem Maße für die Mehrdeutigkeit von Hobbes’ Argumentation verantwortlich ist, verdient er eine eingehendere Betrachtung. On the other side, considering the great difference there is in men, from the diversity of their passions, how some are vainly glorious, and hope for precedency and superiority above their fellows, not only when they are equal in power, but also when they are inferior; we must needs acknowledge that it must necessarily follow, that those men who are moderate, and look for no more but equality of nature, shall be obnox-

_____________ 29

E: 70.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

ious to the force of others, that will attempt to subdue them. And from hence shall proceed a general diffidence in mankind, and mutual fear one of another.30

Es ist relativ offensichtlich, dass nach Hobbes’ Ansicht diejenigen Individuen, die er als „vainly glorious“ beschreibt, unter anderem deshalb versuchen werden, andere Individuen zu unterwerfen, weil sie nicht ausreichend die potenziellen Fähigkeiten und Kräfte dieser anderen Individuen durchschauen und deshalb zu Unrecht auf den Erfolg eines solchen Unterfangens ‚hoffen‘ werden. Was die ‚eitlen‘31 Individuen von den ‚bescheidenen‘ Individuen unterscheidet, ist daher zumindest zum Teil die Tatsache, dass sie eine falsche Beurteilung ihrer eigenen Macht im Vergleich zur Macht der anderen vornehmen und in diesem Sinne falsch kalkulieren. Es ist jedoch nicht klar, ob für Hobbes das ursprüngliche Verlangen nach Vorrang selbst ebenfalls eine Eigenschaft darstellt, die ‚eitle‘ Individuen und ‚bescheidene‘ Individuen voneinander unterscheidet. Oder, um es anders auszudrücken: Es stellt sich die Frage, ob die Eitelkeit der „vainglorious men“ ihren Ausdruck bereits in der Tatsache findet, dass sie Überlegenheit über andere anstreben, während die moderaten Individuen dies nicht tun, oder ob sie ausschließlich in dem ‚eitlen‘ Glauben begründet liegt, diese Überlegenheit auch faktisch erlangen zu können, ein Glaube, vor dem die ‚bescheidenen‘ Individuen durch eine realistische Einschätzung der Lage bewahrt bleiben. Die Interpretation, dass die ‚eitlen‘ und die ‚bescheidenen‘ Individuen grundsätzlich die gleichen natürlichen Bedürfnisse und Begierden haben, aber aufgrund der Unterschiede in ihren sonstigen Charaktereigenschaften, also aufgrund einer „diversity of their passions“ in einem sehr spezifischen und begrenzten Sinne, zu unterschiedlichen Urteilen gelangen, ist, wie oben bereits angedeutet, von Richard Tuck vertreten worden. Was aus einer derartigen Interpretation allerdings zu folgen scheint, ist, dass auch den ‚bescheidenen‘ Individuen ein natürliches Interesse zugeschrieben werden müsste, Macht und Überlegenheit über andere Menschen zu gewinnen, ein Interesse, auf dessen Realisierung sie lediglich aufgrund der Einsicht in die Gefährlichkeit des betreffenden Vorgehens verzichten. Für eine derartige Folgerung ist _____________ 30 31

E: 70f. Es ist nicht ganz einfach, den Hobbes’schen Ausdruck „vainglorious“ ins Deutsche zu übertragen, ohne mit der Übersetzung zugleich eine Vorentscheidung über die im Folgenden erst noch zu diskutierende Frage zu treffen, welche Eigenschaften „vainglorious men“ und „moderate men“ eigentlich voneinander unterscheiden. Ich werde den Ausdruck im Folgenden mit dem deutschen Wort ‚eitel‘ übersetzen, da dieses Wort aus meiner Sicht über eine vergleichbare Doppeldeutigkeit verfügt und sowohl bestimmte Handlungsziele als auch, wie etwa in der Wendung der ‚eitlen Selbstüberschätzung‘, eine Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten oder Chancen bezeichnen kann. Entsprechend werde ich den Ausdruck „moderate“ dort, wo er nicht einfach durch das Wort ‚moderat‘ wiedergegeben wird, mit ‚bescheiden‘ übersetzen, da dieser Ausdruck ebenfalls sowohl auf eine bestimmte Selbsteinschätzung einer Person als auch auf deren Bedürfnisse und Interessen Bezug nehmen kann.

4.2 The Elements of Law

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in Tucks Position jedoch offenbar kein Platz. Tuck scheint vielmehr der Ansicht zu sein, im Rahmen der von ihm vorgebrachten Interpretation ließen sich alle Hobbes’schen Individuen gänzlich von einem natürlichen antisozialen Verlangen, andere Menschen zu unterwerfen, freisprechen, weil sich dieses Verlangen vollständig auf die falschen Überlegungen der ‚eitlen‘ Individuen bezüglich der zur Selbsterhaltung geeigneten Maßnahmen zurückführen lasse. An derjenigen Stelle, an der Hobbes in den Elements die Unterscheidung von „vainglorious men“ und „moderate men“ einführt, ist von ihm jedoch die Notwendigkeit, ein möglichst großes Maß an Macht zu erwerben, um sich dauerhaft erhalten zu können, noch gar nicht herausgestellt worden. Ohne eine solche Notwendigkeit ist aber nicht einsehbar, warum allein der falsche Glaube, man könne sich mit Hilfe seiner natürlichen Fähigkeiten Vorrang vor anderen Individuen erstreiten, ein Verlangen nach sich ziehen sollte, dies auch zu tun. Tucks Lesart der Hobbes’schen Unterscheidung von „vainglorious men“ und „moderate men“ würde daher eher zu der Folgerung führen, dass Hobbes allen Menschen, den ‚bescheidenen‘ wie den ‚eitlen‘, das gleiche natürliche Verlangen zuschreibt, Überlegenheit über andere gewinnen zu wollen, und dass sich die beiden Gruppen nur dadurch unterscheiden, dass die ‚bescheidenen‘ Individuen vernünftigerweise von der faktischen Umsetzung dieses Verlangens Abstand nehmen. Die alternative Interpretation der oben zitierten Textstelle bestünde darin, das Verlangen nach Vorrang vor anderen als direkte Folge bzw. als Ausdruck der von Hobbes angesprochenen „diversity of (...) passions“ zu deuten. ‚eitle‘ Individuen besitzen danach von Natur ein Verlangen, welches die ‚bescheidenen‘ Individuen nicht besitzen, und die Fehlerhaftigkeit ihrer Urteile ist nur insofern relevant, als sie ihnen zusätzlich den ‚eitlen‘ Glauben eingibt, in der Verfolgung der entsprechenden Interessen auch faktisch erfolgreich sein zu können. Diese zweite Interpretation verleiht der Tatsache größere Plausibilität, dass Hobbes zur Bezeichnung der beiden Gruppen die deutlich wertenden Begriffe „vainly glorious“ und „moderate“ wählt. Wenn beide Gruppen von Individuen über das gleiche natürliche Verlangen verfügten, andere Menschen zu unterwerfen, ließe das die normative Unterscheidung, die Hobbes vornimmt, als deutlich übertrieben erscheinen. Die hier vorgeschlagene Lesart wird zudem durch die Tatsache bestätigt, dass Hobbes im Folgenden die ‚bescheidenen‘ Individuen als diejenigen bezeichnet, die nach nichts anderem verlangen als nach Gleichheit mit anderen. Dies scheint zu beweisen, dass die Individuen, die Hobbes als „moderate“ beschreibt, schlicht nicht über das Streben nach Vorrang vor anderen verfügen, dass die „vainglorious men“ kennzeichnet. Aus dem Verhalten der ‚eitlen‘ Individuen folgt nun laut Hobbes, dass die ‚bescheidenen‘ Individuen der Gewalt der ‚eitlen‘ Individuen ausgeliefert sein und die Menschen sich schon bald in einem Zustand allgemeinen Misstrauens

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

und gegenseitiger Furcht befinden werden. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass Hobbes zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit die Folgerung gezogen hat, die ‚bescheidenen‘ Individuen sollten den Angriffen ihrer möglichen Gegner zuvorkommen, ein Punkt, den Hobbes im Leviathan in besonderer Weise hervorheben wird. Selbst wenn man die spätere Fassung von Hobbes’ Herleitung des Kriegszustandes hier konsequent außen vor lässt, kann man aber leicht zu der Einschätzung gelangen, dass es der Hobbes’schen Argumentation in den Elements an einem vergleichbaren Hinweis mangelt. Die Tatsache, dass die ‚bescheidenen‘ Individuen theoretisch der Gewalt der ‚eitlen‘ Individuen ausgeliefert sein werden, ist für sich genommen kaum eine ausreichende Basis, um zu behaupten, dass sich „general diffidence and mutual fear“ einstellen werden, da nicht klar ist, warum die „vainglorious men“ irgend jemanden fürchten sollten, solange noch nicht die Vernünftigkeit präventiver Gewalt auf Seiten der ‚bescheidenen‘ Individuen etabliert ist. In den folgenden zwei Abschnitten von Kapitel XIV beschreibt Hobbes zwei weitere Konfliktursachen im Naturzustand. Die erste, die Hobbes mit dem Begriff „comparison“ bezeichnet, besteht in der Tatsache, dass Menschen einander von Zeit zu Zeit notwendigerweise provozieren werden und sich dann dazu verleiten lassen werden, die daraus resultierenden Konflikte auf gewaltsame Weise zu entscheiden. Farther, since men by natural passion are divers ways offensive one to another, every man thinking well of himself, and hating to see the same in others, they must needs provoke one another by words and other signs of contempt and hatred, which are incident to all comparison; till at last they must determine the pre-eminence by strength and force of body.32

Wie Tricaud zurecht hervorhebt,33 scheint Hobbes hier die Neigung, sich mit anderen Menschen zu vergleichen und eine Art von Eifersucht zu empfinden, wenn diese anderen Menschen Selbstbewusstsein oder Selbstgefälligkeit ausstrahlen, gleichermaßen allen Individuen zuzuschreiben. Die zweite Konfliktursache, auf die Hobbes mit dem allgemeinen Begriff „appetite“ Bezug nimmt, besteht in der Kollision der konkreten Interessen und Bedürfnisse verschiedener Individuen. Nach Hobbes werden die Individuen im Naturzustand durch ihre natürlichen Bedürfnisse oftmals in Situationen getrieben werden, in denen verschiedene Menschen ein- und dieselben Güter begehren, und, wie schon im Fall des Streites um die gegenseitige Anerkennung, werden nach Hobbes auch hier die entsprechenden Streitigkeiten häufig mit Hilfe von Gewalt ausgetragen werden. _____________ 32 33

E: 71. Vgl. Tricaud 1988: 119.

4.2 The Elements of Law

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Moreover, considering that many men’s appetites carry them to one and the same end; which end sometimes can neither be enjoyed in common, nor divided, it followeth that the stronger must enjoy it alone, and that it be decided by battle who is the stronger.34

Während die Argumentation der beiden letztgenannten Abschnitte verhältnismäßig eindeutig ist, wirft Hobbes’ anschließende Zusammenfassung der Konfliktursachen wieder einige Schwierigkeiten auf. Der Satz „And thus the greatest part of men, upon no assurance of odds, do nevertheless, through vanity, or comparison, or appetite, provoke the rest, that otherwise would be contented with equality.“35 scheint nahezulegen, dass das Fällen falscher Urteile, das der oben skizzierten Interpretation zufolge die ‚eitlen‘ Individuen faktisch in Konflikte mit anderen Individuen führt, auch als Voraussetzung der beiden zuletzt genannten Konfliktursachen fungiert. Hobbes’ Zusammenfassung erweckt den Eindruck, als zögen die mit den Begriffen „comparison“ und „appetite“ bezeichneten Neigungen der Individuen nicht automatisch und unausweichlich Konflikte nach sich, sondern nur deshalb, weil einige Individuen, nämlich die „vainglorious men“, nicht erkennen, dass sie besser davon absehen sollten, die betreffenden Dispute auf gewaltsame Weise zu lösen. Dies würde allerdings heißen, dass Hobbes’ abschließende Aufzählung Konfliktursachen auf eine Ebene miteinander stellt, die deutlich unterschieden werden müssten. Unserer obigen Interpretation zufolge stellt das Verlangen, andere Menschen zu unterwerfen, eine Eigenschaft lediglich der „vainglorious men“ dar. Die Tatsache, dass Hobbes sich hier mit dem Begriff „vanity“ auf diese Konfliktursache bezieht, scheint diese Lesart auch noch einmal zu bestätigen. Die Probleme, die mit den Begriffen „comparison“ und „appetite“ bezeichnet werden, werden dagegen als allgemeine Probleme präsentiert, die sowohl mit Blick auf „moderate men“ als auch mit Blick auf „vainglorious men“ Geltung beanspruchen können, wenn sie auch nur die letztgenannten Individuen faktisch dazu verleiten mögen, sich in eine gewaltsame Auseinandersetzung zu begeben. Eine andere Interpretation der Zusammenfassung der Konfliktursachen, etwa eine, nach der alle drei Konfliktursachen nur für ‚eitle‘ Individuen Gültigkeit besitzen, muss aber zwangsläufig scheitern, weil sie Hobbes’ anderen Aussagen widersprechen würde und ihm beispielsweise die unsinnige Sichtweise unterstellen würde, nur ‚eitle‘ Individuen könnten einen Gegenstand begehren, den auch andere begehren, und auf diese Weise in Konkurrenzsituationen geraten. Zu der Unklarheit von Hobbes’ Position trägt zudem noch die Tatsache bei, dass er in seinem Zwischenfazit die „vainglorious men“ explizit als „the greatest part of men“ beschreibt, während es sich anfänglich lediglich um eine kleinere _____________ 34 35

E: 71. E: 71.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Gruppe („some“) zu handeln schien. Aus meiner Sicht ist es daher letztlich unmöglich, alle diese Unklarheiten gänzlich aufzulösen. Die Abschnitte 6 bis 10 von Kapitel XIV widmen sich der Ableitung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘, die in Kapitel 5 dieser Arbeit eingehender betrachtet werden wird. Im vorliegenden Kontext ist es lediglich wichtig zu fragen, inwiefern und wie diese Ableitung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ mit der vorangegangenen Diskussion der naturzuständlichen Konfliktursachen verbunden ist. Der wichtigste Aspekt dieser Verbindung ist bereits an früherer Stelle kurz angedeutet worden, nämlich die Tatsache, dass Hobbes direkt nach Abschluss seiner Begründung des ‚Rechts auf alles‘ dieses Recht selbst als eine der Ursachen präsentiert, die den Kriegszustand unvermeidbar machen. Diese Bedeutung des ‚Rechts aller auf alles‘ für den naturzuständlichen Krieg hat einige Interpreten zu der Behauptung veranlasst, bei dem Krieg, den Hobbes beschreibe, handle es sich gar nicht so sehr um einen seinem Wesen nach empirischen Zustand, sondern vorrangig um einen Krieg in einem spezifisch rechtlichen Sinne, nämlich um die Negierung des individuellen ‚Rechts auf alles‘ durch die entsprechenden Rechte der jeweils anderen Individuen. Diese rechtstheoretische Lesart des Hobbes’schen Naturzustandsarguments wird ebenfalls im folgenden fünften Kapitel eingehender zu besprechen sein. Schon hier lässt sich aber deutlich machen, dass die primäre Interpretation des ‚state of war‘ als Rechtskrieg der Hobbes’schen Darstellung nicht angemessen ist. Nach Hobbes ist der Kriegszustand nicht eine Folge des ‚Rechts aller auf alles‘ allein, wie er dies im Sinne der rechtstheoretischen Lesart sein müsste, sondern ein Ergebnis der „offensiveness of man’s nature“ und des „right to all things“ zusammen. Seeing then to the offensiveness of man’s nature one to another, there is added a right of every man to every thing, whereby one man invadeth with right, and another with right resisteth; and men live thereby in perpetual diffidence, and study how to preoccupate each other; the estate of men in this natural liberty is the estate of war. For WAR is nothing else but that time wherein the will and intention of contending by force is either by words or actions sufficiently declared; and the time which is not war is PEACE.36

Es mag an dieser Stelle noch nicht ganz einsichtig sein, wie genau die beiden von Hobbes benannten Faktoren den Kriegszustand konstituieren. Die naheliegendste Interpretation ist jedoch, dass im Zuge der Erörterung des natürlichen Rechts die Möglichkeit ausgeschlossen werden soll, die Individuen im Naturzustand könnten trotz der diversen Konfliktursachen, die in ihrer Natur begründet liegen, von der konkreten Ausübung von Gewalt absehen, da eine solche Ausübung von Gewalt gegen andere Menschen eine Verletzung natürlicher moralischer Pflichten darstellen würde. Wie Hobbes im Zuge seiner _____________ 36

E: 72f.

4.2 The Elements of Law

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Diskussion des natürlichen Rechts und der daran anschließenden Diskussion der natürlichen Gesetze in deutlicher Abgrenzung von der naturrechtlichen Tradition zu zeigen versucht, gibt es letztlich keine natürlichen Pflichten, die im Naturzustand die Anwendung von Gewalt gegen andere Menschen wirksam untersagen könnten, und folglich gibt es nichts, was verhindern kann, dass die konfliktträchtigen Neigungen der Individuen in konkreten Auseinandersetzungen ihren Ausdruck finden werden. Es ist jedoch nicht das ‚Recht auf alles‘ selbst, das die Hobbes’schen Individuen in den Zustand des allgemeinen Krieges führt, sondern die Ausübung dieses Rechts, d.h. die Einsicht, sich in der spezifischen Situation des Naturzustandes nicht in seinem natürlichen Streben einschränken zu müssen, und die Entscheidung, dies folglich auch nicht zu tun. Es ist wichtig zu betonen, dass Hobbes auch an dieser Stelle die Notwendigkeit präventiver Gewalt auf Seiten der gemäßigten Individuen immer noch nicht hervorhebt. Was von ihm vor Aufnahme der Diskussion des natürlichen Rechts aufgezeigt worden ist, ist die Tatsache, dass das Verhalten der ‚eitlen‘ Individuen die ‚bescheidenen‘ Individuen provoziert, nicht, dass die letztgenannten Individuen in irgend einer bestimmten Weise auf diese Provokation reagieren werden oder reagieren sollten. Angesichts der Tatsache, dass Hobbes das natürliche Recht auf Selbsterhaltung nicht als Recht auf präventive Gewaltausübung einführt, sondern zunächst lediglich als Recht, sich gegen fremde Gewalt zu verteidigen, erscheint daher die Folgerung nach der „men live (...) in perpetual diffidence, and study how to preoccupate each other“ weiterhin als ein wenig verfrüht. Damit soll allerdings nicht gesagt werden, Hobbes’ Behauptung, der Naturzustand sei ein Zustand des allgemeinen Krieges, sei zu dem Zeitpunkt, an dem er sie aufstellt, nicht ausreichend begründet. Die Tatsache, dass die ‚eitlen‘ Individuen aus diversen Gründen andere Menschen angreifen werden und dass diese anderen das Recht haben, sich solcher Angriffe mit allen möglichen Mitteln zu erwehren, ist unzweifelhaft eine hinreichende Basis, um den Naturzustand als Zustand des Krieges zu begreifen, erst recht, wenn dieser Krieg nicht durch das ständige Auftreten faktischer Gewalt, sondern eher über die ständige Gefahr eines solchen Auftretens faktischer Gewalt definiert wird. Es entsteht lediglich der Eindruck, als fungiere die Notwendigkeit präventiver Gewalt, die von Hobbes erst in den letzten Abschnitten von Kapitel XIV angedeutet und dann erst in Kapitel XIX explizit eingestanden wird, bereits in den früheren Abschnitten von Kapitel XIV als logische Voraussetzung der Argumentation und verdiene daher, von Hobbes deutlicher herausgestellt zu werden. Nach Abschluss der Begründung des allgemeinen Kriegszustandes, der in den Elements im Übrigen anders als in den späteren Werken an keiner Stelle ausdrücklich mit dem Begriff ‚war of all against all’ bezeichnet wird, betont Hobbes, dass ein Leben im Naturzustand als einem Zustand des allgemeinen

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Krieges in direktem Widerspruch zur menschlichen Natur stehe, da ein solcher Zustand das Leben letztlich zerstöre, während sich das Interesse jedes Individuums natürlicherweise auf die Erhaltung seines Lebens richte. Um diesem Punkt besondere Kraft zu verleihen, verweist Hobbes auf diejenigen empirischen Beispiele, die schon in Kapitel 3.2 angesprochen worden sind. Nach Hobbes stellt es folglich einen Selbstwiderspruch dar, sollte ein Mensch im Naturzustand als dem Zustand natürlicher Freiheit verbleiben wollen, und er stützt dieses Fazit dadurch, dass er durch den erneuten Hinweis auf die natürliche Gleichheit der Menschen explizit den möglichen Einwand zu widerlegen versucht, ein Individuum könne im Naturzustand nach und nach so viel Macht anhäufen, dass es sich auch innerhalb des allgemeinen Kriegszustandes dauerhaft erhalten könne.37 4.2.2 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, einen Zustand des Friedens und der Sicherheit herbeizuführen, findet nicht nur das vierzehnte Kapitel, sondern auch die Herleitung des naturzuständlichen Krieges im engeren Sinne einen Abschluss. Wie oben bereits angedeutet worden ist, handelt es sich bei Hobbes’ Naturzustand aber in gewissem Sinne um ein dynamisches Konzept. Hobbes versucht in einem ersten Schritt zunächst, den Naturzustand als einen Zustand des Krieges und der dauernden Gefahr für das eigene Leben auszuweisen und so den möglichen Willen, in einem Zustand gänzlich unbeschränkter natürlicher Freiheit zu leben, ad absurdum zu führen. Indem er aus dieser Beschreibung des Naturzustandes aber das fundamentale natürliche Gesetz ableitet, nach dem sich jedes Individuum im Sinne der eigenen Erhaltung um Frieden zu bemühen hat, wirft er automatisch die Frage auf, ob nicht die Einsicht in diese natürlichen Gesetze und die daraus möglicherweise resultierende Beschränkung der individuellen Verhaltensweisen die Entstehung des Kriegszustandes überhaupt verhindern kann. Die natürlichen Gesetze werden zwar gemäß der logischen Abfolge der Hobbes’schen Argumentation als Folgerung aus dem Kriegszustand und daher im Anschluss an dessen Herleitung präsentiert. Es liegt aber auf der Hand, dass die Gesetze als natürliche Gesetze für Hobbes prinzipiell immer schon gelten, dass ihre Geltung also folglich jeder Entstehung faktischer Konflikte logisch vorhergehen muss. Hobbes’ Ausführungen im neunzehnten Kapitel der Elements lassen nun jedoch keinen Zweifel daran, dass auch die prinzipielle Geltung der natürlichen Gesetze, die immer nur eine bedingte Geltung ist, den Kriegszustand _____________ 37

Vgl. E: 73f.

4.2 The Elements of Law

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nicht zu verhindern vermag und das natürliche Recht weitgehend den von ihm ursprünglich beschriebenen Umfang behält. Hobbes’ Hauptargument besteht dabei in dem Hinweis, dass angesichts der Tatsache, dass im Naturzustand jedes Individuum Richter in eigener Sache ist, und angesichts der menschlichen Leidenschaften, die viele zur Übertretung der natürlichen Gesetze reizen werden, niemand vernünftigerweise von einer allgemeinen Befolgung der natürlichen Gesetze ausgehen kann. Wie Hobbes an dieser Stelle nun ausdrücklich hervorhebt, ist es daher im Sinne der eigenen Erhaltung vernünftig und notwendig, den möglichen Angriffen der jeweils anderen durch präventive Gewalt zuvorzukommen und prinzipiell am eigenen ‚Recht auf alles‘ festzuhalten. In this estate of man therefore, wherein all men are equal, and every man allowed to be his own judge, the fears they have one of another are equal, and every man’s hopes consist in his own sleight and strength; and consequently when any man by his natural passion, is provoked to break these laws of nature, there is no security in any other man of his own defence but anticipation. And for this cause, every man’s right (howsoever he be inclined to peace) of doing whatsoever seemeth good in his own eyes, remaineth with him still, as the necessary means of his preservation. And therefore till there be security amongst men for the keeping of the law of nature one towards another, men are still in the estate of war, and nothing is unlawful to any man that tendeth to his own safety or commodity [...]38

Hobbes geht zwar noch der Frage nach, ob eine alternative Möglichkeit, das eigene Überleben dauerhaft zu sichern, nicht darin bestehen könnte, sich mit anderen Individuen zu einem Verteidigungsbündnis zusammenzuschließen. Wie in Kapitel 8 der vorliegenden Arbeit noch eingehend zu zeigen sein wird, kommt er aber zu dem Schluss, dass ein solcher Versuch letztlich zum Scheitern verurteilt ist, da angesichts der Unterschiede in den menschlichen Urteilen und angesichts des verbreiteten Strebens nach Ehre und Vorrang auch innerhalb eines solchen Bündnisses die Eintracht unter den Menschen nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten ist. This consent (or concord) amongst so many men, though it may be made by the fear of a present invader, or by the hope of a present conquest, or booty; and endure as long as that action endureth; nevertheless, by the diversity of judgments and passions in so many men contending naturally for honour and advantage one above another: it is impossible, not only that their consent to aid each other against an enemy, but also that the peace should last between themselves, without some mutual and common fear to rule them.39

_____________ 38 39

E: 100. E: 101f.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Hobbes greift in diesem Zusammenhang auch auf die schon erwähnte Entgegensetzung von menschlichen Individuen und den sogenannten staatenbildenden Tieren zurück. Dabei stellt er nicht nur, wie bereits besprochen, heraus, dass es sich bei menschlichen Bündnissen um künstliche Gebilde handelt, die auf Verträgen beruhen, sondern er verweist auch noch einmal darauf, dass Menschen, anders als etwa Bienen, nach Ehre und Vorrang vor den jeweils anderen streben, wobei aber nicht ganz deutlich wird, ob er dieses Streben allen Menschen oder nur einem Teil der Menschheit zuschreiben will. But contrary hereunto may be objected, the experience we have of certain living creatures irrational, that nevertheless continually live in such good order and government, for their common benefit, and are so free from sedition and war amongst themselves, that for peace, profit, and defence, nothing more can be imaginable. And the experience we have in this, is in that little creature the bee, which is therefore reckoned amongst animalia politica. Why therefore may not men, that foresee the benefit of concord, continually maintain the same without compulsion, as well as they? To which I answer, that amongst other living creatures, there is no question of precedence in their own species, nor strife about honour or acknowledgment of one another’s wisdom, as there is amongst men; from whence arise envy and hatred of one towards another, and from thence sedition and war.40

Selbst wenn sich damit Hobbes’ Herleitung des Kriegszustandes in den Elements insgesamt als außerordentlich doppeldeutig erwiesen hat, so kann mit Blick auf die Frage, ob Hobbes den Kriegszustand auf menschliche Irrationalität oder auf das rationale Streben nach Selbsterhaltung zurückführt, ohne Zweifel ein Aspekt hervorgehoben werden, nämlich die Tatsache, dass sich Hobbes’ Argumentation in den Elements zu einem Großteil auf die Existenz ‚eitler‘ Individuen stützt, deren faktische Handlungen dem Zweck verpflichtet sind, Vorrang vor anderen zu erlangen. Ob die betreffenden Individuen von Natur aus mit diesem Wunsch ausgestattet sind oder ob er, wie von Tuck behauptet, erst aus einer ‚eitlen‘ Selbstüberschätzung hervorgeht: Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Fehlerhaftigkeit ihrer Urteile, die die ‚eitlen‘ Individuen dazu verleitet, die Fähigkeiten und Vermögen anderer Individuen zu unterschätzen, zu ihrer letztlichen Entscheidung, sich in konkrete kriegerische Auseinandersetzungen zu begeben, beiträgt und damit eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Entstehung des allgemeinen Kriegszustandes spielt. Ebenso wenig Zweifel kann bestehen, dass eine weitere der beschriebenen primären Konfliktursachen, nämlich die Neigung, sich mit anderen zu vergleichen und Verachtung und Hass gegenüber diesen anderen zu empfinden, nicht vollständig vom rationalen Streben nach Selbsterhaltung abgedeckt ist. Zudem gibt es starke Indizien dafür, dass Hobbes, entgegen der Sichtweise Tucks, das Streben nach Vorrang sehr wohl als Ausdruck einer kontingenten _____________ 40

E: 102.

4.3 De Cive

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menschlichen Leidenschaft verstanden wissen will, die nur den ‚eitlen‘ Individuen, nicht aber den ‚bescheidenen‘ Individuen zukommt und keineswegs in irgend einer Weise mit dem allgemeinen Streben nach Selbsterhaltung in Verbindung steht. Bezüglich der Elements fallen die Ursachen des Konflikts im Naturzustand daher zu einem beträchtlichen Teil unter den Begriff der Irrationalität. Das allgemeine Misstrauen, das sich aufgrund dieser primären Konfliktursachen zwangsläufig ergibt, und die Notwendigkeit, sich gegen Angriffe zu verteidigen, ziehen zwar ohne Frage rationale und legitime Anwendungen präventiver Gewalt nach sich. Die Ausübung derartiger Gewalt erscheint in den Elements aber lediglich als sekundäre Konfliktursache, und Hobbes ist zudem weit davon entfernt, diese sekundäre Konfliktursache in der angemessenen Klarheit zu entwickeln.

4.3 De Cive 4.3.1 Zu den Ursachen des naturzuständlichen Konflikts Der offensichtlichste Unterschied zwischen dem ersten Naturzustandskapitel der Elements und dem entsprechenden Kapitel von De Cive besteht in der Tatsache, dass Hobbes im letztgenannten Werk seine Argumentation mit einer umfangreichen Erörterung der Gründe beginnt, aus denen Menschen allgemein die Gesellschaft anderer Menschen suchen.41 Hobbes’ Absicht liegt dabei offenbar vorrangig darin, die eigene Lehre von der Natur des Menschen und von der Entstehung des Staates nachdrücklich von der aristotelischen Lehre des zoon politikon abzugrenzen. Die entsprechende Argumentation ist allerdings für unseren Gegenstand nicht von direkter Relevanz, da sie nicht als Bestandteil des eigentlichen Naturzustandsargumentes gelten kann. Ihre Funktion ist eher darin zu sehen, die Analyse des Naturzustandes einzuleiten, indem sie nämlich zeigt, dass der Ursprung der dauerhaften Gemeinschaften der Menschen nicht in einer natürlichen Soziabilität der Menschen, das heißt hier, in einer natürlichen Eignung der Menschen zum friedlichen Zusammenleben, liegt, wie dies nach Hobbes die Lehre vom zoon politikon unterstellt. Da laut Hobbes die Menschen die Gesellschaft mit anderen nicht aus ihrer Liebe zueinander suchen, sondern um einen persönlichen Vorteil zu erlangen, hätten die menschlichen Gemeinschaften seiner Darstellung zufolge kaum von solcher Dauer sein können, gäbe es nicht eine Macht, die sie zu stützen und zusammenzuhalten vermöchte. Nach Hobbes handelt es sich bei dieser starken Macht um die menschliche Furcht, und das Naturzustandsargument im Allgemeinen und die Herleitung des Kriegszustandes im Besonderen haben _____________ 41

Vgl. zum Folgenden DC: 90-92.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

den Zweck zu zeigen, warum genau die Menschen in dieser Weise ein Leben außerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft zu fürchten haben. Die konkrete Herleitung des Kriegszustandes folgt nun in De Cive prinzipiell den gleichen Pfaden wie in den Elements. Sie beginnt mit der Aussage, die Menschen sollten einander Gleichheit zugestehen, da die allgemeine Gleichheit der mentalen und physischen Fähigkeiten selbst dem Schwächsten erlaube, den Stärksten zu töten; sie schreitet voran mit dem Zugeständnis, dass einige Individuen die natürliche Gleichheit nicht in dieser Form anerkennen werden, und widmet sich daran anschließend der Beschreibung der verschiedenen Konfliktursachen; sie beinhaltet die Ableitung des universellen ‚Rechts auf alles‘ aus dem individuellen Recht auf Selbsterhaltung; und sie schließt mit dem Fazit, dass die natürlichen Neigungen der Menschen und ihr ‚Recht auf alles‘ zusammengenommen den Naturzustand unweigerlich in einen Zustand des allgemeinen Krieges verwandeln werden. Es finden sich jedoch bereits in De Cive einige signifikante Veränderungen in Hobbes’ Darstellung, insbesondere im Hinblick auf diejenigen Aspekte, die in den Elements für einige Verwirrung gesorgt hatten. In De Cive geht Hobbes’ Unterscheidung von ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen von der Aussage aus, alle Menschen verfügten im Naturzustand über den Willen, anderen zu schaden, sie täten dies aber aus unterschiedlichen Gründen und lüden ein unterschiedliches Maß an Schuld auf sich. Voluntas laedendi omnibus quidem inest in statu naturae, sed non ab eadem causa, neque aeque culpanda. Alius enim secundum aequalitatem naturalem permittit caeteris eadem omnia, quae sibi (qoud modesti hominis est, & vires suas recte aestimantis.) Alius superiorem se aliis existimans omnia licere sibi soli vult, & prae caeteris honorem sibi arrogat (quod ingeij ferocis est.) Huic igitur voluntas laedendi est ab inani gloria & falsa virium aestimatione; Illi ex necessitate res suas & libertatem contra hunc defendendi.42

Nach Hobbes wollen diejenigen Individuen, die er in den Elements als „vainly glorious“ bezeichnet hat und denen er nun ein wildes Gemüt oder wilde Neigungen (‚ingenium ferox‘) zuschreibt, anderen Menschen schaden, weil sie sich diesen überlegen wähnen und folglich ihre eigene Kraft überschätzen und weil sie für sich selbst mehr verlangen, als sie den anderen zugestehen wollen. Die ‚bescheidenen‘ Individuen hingegen wollen nur deshalb anderen Menschen schaden, weil sie dazu zum Zwecke der Verteidigung ihrer Freiheit und ihrer Güter gezwungen sind. Es ist allerdings erneut nicht ganz eindeutig, an welcher Stelle genau das Verlangen der ‚eitlen‘ Individuen, Überlegenheit über andere zu gewinnen, ins Spiel kommt. Auf der einen Seite suggeriert Hobbes’ Darstellung wieder, dieses Verlangen entstehe aus dem falschen Glauben, man sei von Natur aus überlegen. Diese Lesart ließe sich stützen, _____________ 42

DC: 93.

4.3 De Cive

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wäre man bereit, die Aussage des Einschubes „quod modesti hominis est, & vires suas recte aestimantis“ so zu interpretieren, dass Hobbes sich auf die moderaten Individuen als bescheiden bezieht, weil sie oder insofern als sie über eine angemessene Einschätzung ihrer eigenen Macht verfügen. Diese Interpretation legen Tuck und Silverthorne in ihrer englischen Übersetzung von De Cive nahe, in der der Einschub die Form „this is the mark of the modest man, one who has a true estimate of his own capacities“43 erhält. Folgt man dieser Interpretation, dann bestünde der Unterschied zwischen ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen in der Art und Weise ihres Denkens und Urteilens und in dem Glauben, den sie bezüglich ihrer natürlichen Macht im Vergleich zu den jeweils anderen erwerben, nicht aber in unterschiedlichen natürlichen Neigungen oder Interessen. Auch in De Cive stellt Hobbes’ Text einer solchen Lesart aber Hindernisse entgegen, die sie meines Erachtens letztlich unhaltbar machen. Da die ‚bescheidenen‘ Individuen der obigen Interpretation zufolge nur durch prudenzielle Reflexionen zur Bescheidenheit gemahnt werden, diese aber keineswegs von Natur besitzen, erschiene die moralisierende Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen, die Hobbes in De Cive durch den Hinweis auf den Aspekt der Schuld noch stärker betont als in den Elements, erneut als übertrieben. Zudem finden sich wieder einige Aussagen, die nahelegen, dass die ‚eitlen‘ oder ‚maßlosen‘ Individuen von Natur aus über eine Neigung verfügen, andere Individuen zu unterdrücken, und dass die Differenz zwischen ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen folglich keine lediglich epistemische Differenz ist. So schreibt Hobbes, wie bereits angedeutet, den ‚eitlen‘ Individuen – und nur diesen – ein wildes oder aggressives Wesen zu (‚ingenium ferox‘). Bei seiner Zusammenfassung der Gründe, die die ‚eitlen‘ Individuen dazu bewegen, anderen Individuen Schaden zuzufügen, verweist er zudem auf die Eitelkeit und die Überschätzung der eigenen Kräfte als zwei voneinander verschiedene Gründe („Huic igitur voluntas laedendi est ab inani gloria & falsa virium aestimatione“), wohingegen nach Tucks Interpretation beide Aspekte als praktisch identisch zu gelten hätten. Schließlich lässt sich festhalten, dass der oben bereits angesprochene Einschub „quod modesti hominis est, & vires sua recte aestimantis“ eine andere als die von Tuck und Silverthorne favorisierte Übersetzung nicht nur zulässt, sondern sogar verlangt. Satzbau und Interpunktion legen nahe, dass der zweite Teil des Satzes („& vires sua recte aestimanis“) nicht die Aufgabe hat, eine Definition des Begriffes „modesti homini“ zu liefern, sondern vielmehr eine zweite Eigenschaft benennen soll, die die als bereits bescheiden charakterisierten Individuen auszeichnet. Die ‚bescheidenen‘ oder moderaten Individuen wären folglich einerseits von Natur aus mit bescheidenen Bedürfnissen versehen und verfügten zusätzlich, _____________ 43

EDC: 26.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

vermutlich aufgrund des damit verbundenen ruhigeren Wesens, über eine angemessene Selbsteinschätzung. Die beiden Eigenschaften wären demnach zwar durchaus in einem gewissen Sinne miteinander verbunden. Die Verbindung wäre aber nicht darin zu sehen, dass seine angemessenen Schlussfolgerungen den ‚bescheidenen‘ Menschen erst zu einem solchen machen, sondern eher darin, dass sein von Natur bescheidenes und gemäßigtes Wesen den ‚bescheidenen‘ Menschen zusätzlich davor bewahrt, sich hinsichtlich der eigenen Macht irgend welchen Illusionen hinzugeben. Dies würde nun in der Tat vollständig mit Hobbes’ oben zitierter Beschreibung der ‚eitlen‘ Individuen zusammenstimmen, nach der diese zunächst und zuerst ein natürliches Streben nach Vorrang vor anderen besitzen und von dieser natürlichen Veranlagung in einem zweiten Schritt dazu verleitet werden, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu überschätzen. Angesichts dieser strukturellen Übereinstimmung in Hobbes’ Beschreibungen der ‚eitlen‘ und der ‚bescheidenen‘ Individuen lässt sich die Auffassung vertreten, dass die Erörterung dieses Themas in De Cive ein wenig klarer ist als noch in den Elements, wenn Hobbes’ Darstellung auch in De Cive weiterhin eine gewisse Doppeldeutigkeit zu eigen sein mag. Hobbes’ Argumentation gewinnt aber auch noch in einem zweiten Punkt etwas an Klarheit. Indem Hobbes zu Beginn seiner Ausführungen hervorhebt, dass letztlich sowohl die ‚eitlen‘ als auch die ‚bescheidenen‘ Individuen dazu verleitet werden werden, anderen Menschen Schaden zuzufügen, und indem er am Ende von Paragraph VI die Verteidigung der eigenen Freiheit und des eigenen Besitzes als denjenigen Grund anführt, aus dem sich die ‚bescheidenen‘ Individuen in dieser Weise verhalten werden, macht er explizit deutlich, dass die ‚bescheidenen‘ Individuen ihrerseits mit Gewalt auf die Angriffe der ‚eitlen‘ Individuen reagieren werden. Hobbes betont zwar wiederum nicht ausdrücklich, dass die „modesti“ auch zu präventiver Gewalt Zuflucht nehmen werden oder nehmen sollten. Anders als in den Elements stiftet diese Unterlassung aber in De Cive weniger Verwirrung, da Hobbes an dieser Stelle noch darauf verzichtet, den Naturzustand als Zustand des allgemeinen Misstrauens und der ständigen gegenseitigen Furcht zu charakterisieren. Der folgende Abschnitt, der der zweiten Konfliktursache gewidmet ist, zeigt noch umfassendere Revisionen. Wie in den Elements weist Hobbes darauf hin, dass Streitigkeiten zwischen verschiedenen Individuen auch aus dem menschlichen Verlangen entstehen werden, sich mit anderen zu vergleichen, sich selbst als überlegen zu erkennen und dem jeweils anderen Zeichen der Verachtung und des Hasses zu zeigen. Anders als in den Elements stellt Hobbes dieses Verlangen in De Cive allerdings in den Kontext religiöser und intellektueller Dispute. Praeterea cum maximum sit certamen ingeniorum, necesse est oriri ex ea contentione maximas discordias. Etenim non modo contrà contendere, sed etiam hoc ipsum non

4.3 De Cive

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consentire odiosum est. Nam non consentire alicui in re aliqua est eum erroris in ea re tacitè accusare, sicut in valdè multis dissentire, idem est atque pro stulto eum habere; quod ex eo apparere potest, quòd nulla acriùs gerantur bella quam inter eiusdem religionis sectas, & eiusdem reipublicae factiones, vbi certamen est vel de doctrinis, vel de prudentia politica. Cumque omnis animi voluptas omnisque alacritas in eo sita sit, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit magnificè sentire de se ipso, impossibile est quin odium & contemptum mutuum ostendant aliquando, vel risu, vel verbis, vel gestu, vel aliquo signo; qua quidem nulla maior animi est molestia, neque ex qua laedendi libido maior oriri solet.44

Da Hobbes ausdrücklich Streitigkeiten zwischen verschiedenen Sekten einund derselben Religion und zwischen politischen Parteien ein- und desselben Staates als Beispiele für das nun mit dem Begriff ‚contentio ingeniorum‘ bezeichnete Problem anführt, lässt sich die Erweiterung des Abschnittes leicht als Anspielung auf die Geschehnisse in England lesen, wie sie sich vor und nach Hobbes’ Flucht nach Frankreich abgespielt haben. Wie Tricaud zurecht anmerkt,45 erlaubt Hobbes’ Beschreibung es zudem, die angeführten Dispute auch in noch direkterer Weise als Ursache von Konflikten zu interpretieren, sofern man nämlich zugesteht, dass die beteiligten Gruppen oder Parteien ihre Interessen in manchen Fällen mit Hilfe von Gewalt durchzusetzen versuchen werden. Im nächsten Abschnitt, der sich wie in den Elements mit der Konkurrenz um Güter bzw. allgemein mit der konkreten Kollision von Interessen beschäftigt, finden sich ebenfalls leichte Veränderungen. In diesem Fall bestehen diese jedoch in einer merklichen Kürzung der Ausführungen. Frequentissima autem causa quare homines se mutuò laedere cupiunt, ex eo nascitur, quod multi simul eandem rem appetant, quâ tamen saepissimè neque frui communiter, neque diuidere possunt; vnde sequitur fortiori dandam esse; quis autem fortior sit, pugnâ iudicandum est.46

Wie der Blick auf den Text zeigt, ist das Zwischenfazit, das in den Elements erheblich zur Unklarheit der Ausführungen beitrug, von Hobbes ersatzlos gestrichen worden. Die Probleme des Sichvergleichens mit anderen und der Interessenkollision erscheinen daher nun nicht mehr in irgend einer Weise als von der irregeleiteten Selbsteinschätzung der ‚eitlen‘ Individuen abhängig. Vielmehr entsteht der Eindruck, als würden die beiden Probleme die Menschen im Naturzustand in Konflikte führen, ganz gleich, ob es sich bei diesen um ‚eitle‘ oder um ‚bescheidene‘ Individuen handelt. Eine noch wichtigere Veränderung besteht darin, dass Hobbes das Konkurrieren um Güter nun explizit als Hauptursache des Konfliktes im Naturzustand identifiziert („fre_____________ 44 45 46

DC: 93f. Vgl. Tricaud 1988: 117f. DC: 94.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

quentissima causa“), eine Sichtweise, die in den Elements von ihm nicht einmal angedeutet worden ist und deren ausdrückliche Hervorhebung in De Cive Tricaud erstaunlicherweise vollständig übergeht, für den die Konkurrenz um Güter in De Cive wie in den Elements lediglich „a minor cause of conflict“47 darstellt. In Verbindung mit der Auslassung des Zwischenfazits, das die Probleme „comparison“ und „appetite“ in den Elements mit dem Problem „vanity“ oder „vainglory“ in Zusammenhang brachte und sie diesem allgemeineren Problem gleichsam unterzuordnen schien, bewirkt diese Hervorhebung des Problems der Konkurrenz um Güter nun aber eine bemerkenswerte Verschiebung in Hobbes’ genereller Herleitung des naturzuständlichen Krieges. Das in den Elements mit dem Begriff „vainglory“ bezeichnete Problem verliert ein gehöriges Maß seiner früheren Bedeutung, und es kann deutlich weniger davon die Rede sein, dass die Verwandlung des Naturzustandes in einen Zustand des allgemeinen Krieges von der Existenz ‚eitler‘, nach Vorrang vor anderen strebender Individuen abhängig ist. Als primäre Konfliktursache erscheint nun vielmehr die Kollision konkreter individueller Interessen, und diese Kollision kann im Falle ‚eitler’ und im Falle ‚bescheidene‘ Individuen prinzipiell gleichermaßen eintreten und ist auch für sich selbst genommen weder ein Ergebnis fehlerhafter Kalkulation noch abhängig vom Auftreten kontingenter oder besonders starker akuter Leidenschaften. Man mag zwar der Ansicht sein, dass vernünftige Menschen, wie etwa die „modesti“ es zu sein scheinen, versuchen würden, eine derartige Interessenkollision selbst im Naturzustand ohne Gewalt zu lösen. Hobbes gibt aber in De Cive keinerlei Hinweis, dass er das Problem in diesem Sinne verstanden wissen will. Es muss nun allerdings zugestanden werden, dass die klare Betonung, die Hobbes im sechsten Abschnitt des ersten Kapitels auf die Konfliktursache „appetitus“ legt, eine gewisse Rücknahme oder einen gewissen Widerspruch in Paragraph XII erfährt. Nach Abschluss der Ableitung des ‚Rechts auf alles‘, die mit der vorangegangen Diskussion in der gleichen Weise verbunden ist wie schon in den Elements, folgert Hobbes wiederum aus dem allseitigen Verlangen, anderen Menschen Schaden zuzufügen, und dem ‚Recht auf alles‘ zusammen, dass der Naturzustand ein Zustand des allgemeinen Krieges ist, ein Zustand, den Hobbes nun erstmals mit der so berühmt gewordenen Formulierung „bellum omnium in omnes“ bezeichnet. Dabei führt er jedoch den Willen der Menschen, einander Schaden zuzufügen, auf die menschlichen Leidenschaften einerseits und die ‚eitle‘ Selbstüberschätzung andererseits zurück, und legt dabei die Betonung deutlich auf den zweiten Aspekt. Ad naturalem hominum procliuitatem ad se mutuo lacessendum, quam ab affectibus, praesertim verò ab inani sui aestimatione deriuant, si addas iam ius omnium in omnia,

_____________ 47

Tricaud 1988: 120.

4.3 De Cive

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quo alter iure inuadit, alter iure resistit, atque ex quo oriuntur omnium aduersus omnes perpetuae suspiciones & studium; & quam difficile sit praecauere hostest, paruo numero & apparatu, cum animo nos praeuertendi opprimendique inuadentes, negari non potest quin status hominum naturalis antequam in societatem coiretur Bellum fuerit; neque hoc simpliciter, sed bellum omnium in omnes. BELLVM enim quid est, praeter tempus illud in quo voluntas certandi per vim verbis factisve satis declaratur? Tempus Reliquum PAX vocatur.48

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Aussage „praesertim verò ab inani sui aestimatione“ in Spannung zu der von Hobbes zuvor getroffenen Aussage steht, die Konkurrenz verschiedener Individuen um ein- und dasselbe Gut stelle die häufigste Konfliktursache im Naturzustand dar. Aus meiner Sicht lässt sich diese Spannung nur dann komplett auflösen, wenn man – wie oben bereits angedeutet – die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Individuen, die über eine angemessene Einschätzung ihrer eigenen Kräfte verfügen, im Falle einer solchen Interessenkollision auf eine gewaltsame Auseinandersetzung und damit auch auf das angestrebte Gut verzichten würden. Dass es dennoch zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt, wäre dann eben doch allein auf die fehlerhaften Kalkulationen der ‚eitlen‘ Individuen zurückzuführen, und diese Form der ‚eitlen‘ Selbsteinschätzung erschiene dann doch als eine Art übergeordnetes Problem. Eine solche Lesart wirft allerdings offenbar Probleme auf. So stellt sich die Frage, inwiefern die angestrebten Güter lebensnotwendig sind und ein Verzicht auf sie vernünftig, ja inwiefern er überhaupt möglich sein kann. Ist er dies, oder ist er dies zumindest in den meisten Fällen, dann würde es in solchen Fällen nicht zwangsläufig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen, da ja die vernünftigen Individuen dem Gegner das in Frage stehende Gut schlicht überlassen würden oder, sofern es sich bei diesem ebenfalls um einen vernünftigen Menschen handelt, vielleicht doch in der Lage wären, die Angelegenheit friedlich zu lösen. Die Kollision von Interessen würde also eigentlich nur dann zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, wenn ausschließlich unvernünftige Individuen an dieser Kollision beteiligt wären. Ob sich dann allerdings noch die Einschätzung aufrechterhalten ließe, die Konkurrenz um Güter stelle im Naturzustand die häufigste Konfliktursache dar, erscheint zumindest fraglich. Wie immer man die betreffenden Fragen aber auch beantworten mag, es lässt sich nicht leugnen, dass die Herleitung des Kriegszustandes in De Cive von einer deutlichen Akzentverschiebung gegenüber den Elements gekennzeichnet ist. Die abschließenden Abschnitte des ersten Kapitels zeigen einige weitere, wenn auch nicht besonders bedeutsame Veränderungen. Nachdem Hobbes seine Folgerung des ‚bellum omnium in omnes‘ präsentiert hat, den er nun zudem als seinem Wesen nach unendlich bezeichnet, führt er erneut _____________ 48

DC: 96.

86

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

einige empirische Beispiele an, um die Konsequenzen eines solchen Kriegszustandes zu verdeutlichen, und verweist dabei nun erstmals ausdrücklich auch auf die amerikanischen Indianer. In den folgenden zwei Abschnitten widmet Hobbes sich dann einmal mehr der Frage, ob ein dauerhaftes Überleben im Kriegszustand möglich ist. Während Hobbes in den Elements aber lediglich die Frage erörtert hatte, ob es einem Individuum gelingen kann, ständig mehr und mehr Gegner zu unterwerfen und zu beherrschen, betrachtet er in De Cive auch an dieser Stelle bereits kurz die Möglichkeit, Verteidigungsbündnisse zu bilden.49 Die Notwendigkeit präventiver Gewalt schließlich wird erneut eher angedeutet als wirklich entwickelt, und die eingehendere Erörterung wird auf das fünfte Kapitel vertagt, das, wie bereits angemerkt, das Pendant zum neunzehnten Kapitel der Elements darstellt.50 4.3.2 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen Abgesehen davon, dass das fünfte Kapitel von De Cive (und das darin erörterte Problem der Befolgung der natürlichen Gesetze) äußerlich nun bereits als Teil der Diskussion des Staates erscheint, finden sich keine signifikanten Unterschiede zur Argumentation der Elements, die im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung von Bedeutung wären. Hobbes betont erneut, es sei aufgrund der fehlenden Sicherheit, dass andere die natürlichen Gesetze befolgen werden, für jeden Einzelnen am vernünftigsten, der möglichen Gewalt anderer zuvorzukommen. Folglich bleibe das natürliche ‚Recht auf alles‘ und damit das Recht des Krieges in seiner Geltung bestehen.51 Auch die Erörterung der Möglichkeit, Verteidigungsbündnisse zu gründen und sich auf diese Weise eine gewisse Sicherheit zu verschaffen, wird von Hobbes in nahezu identischer Weise wie in den Elements durchgeführt, wie in Kapitel 8 der vorliegenden Arbeit noch im Detail gezeigt werden wird. Während die entsprechenden Ausführungen allerdings in den Elements noch ohne Schwierigkeiten mit der ursprünglichen Herleitung des Kriegszustandes zu vereinen waren, verstärken Hobbes’ Aussagen in De Cive noch einmal die Spannung, die schon durch die in Paragraph XII von Kapitel I gemachte Bemerkung entstanden war. Dass Hobbes bei dem Hinweis auf die unvermeidbare Zwietracht innerhalb eines Verteidigungsbündnisses in so selbstverständlicher Weise auf den menschlichen Stolz und das Streben nach Vorrang und Anerkennung zurückgreift, aus dem sich unweigerlich Hass und Neid ergäben,52 will nicht ganz zu seiner _____________ 49 50 51 52

Vgl. DC: 97. Vgl. DC: 130. Vgl. DC: 130. Vgl. DC: 130.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

87

früheren Betonung der allgemeinen Konkurrenz um Güter als der Hauptursache der naturzuständlichen Konflikte passen, wenn es ihr auch nicht logisch widersprechen mag.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan 4.4.1 Die Ursachen des naturzuständlichen Konflikts Wenn man vor dem Hintergrund der Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels die Auffassung vertreten kann, Hobbes liefere zumindest bezüglich seiner Unterscheidung zwischen ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen und bezüglich der Bedeutung präventiver Gewalt in De Cive eine etwas klarere Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes als noch in den Elements, so ist seine Darstellung im englischen Leviathan ohne Zweifel um noch größere Klarheit zumindest bemüht. Hobbes’ Argumentation beginnt erneut mit der hinlänglich bekannten Aussage, die natürliche Gleichheit der Menschen erlaube auch dem Schwächsten, den Stärksten zu töten. Im Gegensatz zu den früheren Schriften beinhaltet die betreffende Passage nun allerdings eine ausführlichere Erörterung der Gleichheit der mentalen Fähigkeiten des Menschen.53 Der entscheidendere Unterschied zu den Elements und De Cive besteht jedoch darin, dass Hobbes nun aus der damit beschriebenen natürlichen Gleichheit der Fähigkeiten eine Gleichheit der Hoffnungen ableitet, die jeweils eigenen Ziele verwirklichen zu können. Es ist dieser allgemeine Glaube, die auf Basis der eigenen natürlichen Bedürfnisse angestrebten Güter auch erlangen zu können, der die Grundlage für die nun ausdrücklich an den Anfang gestellte Aussage liefert, die Individuen würden bei der Verfolgung ihrer Interessen im Naturzustand unweigerlich miteinander in Konflikte geraten. From this equality of ability, ariseth equality of hope in the attaining of our Ends. And therefore if any two men desire the same thing, which neverthelesse they cannot both both enjoy, they become enemies; and in the way to their End, (which is principally their owne conservation, and sometimes their delectation only,) endeavour to destroy, or subdue one an other.54

Die Tatsache, dass Hobbes die Konkurrenz um Güter, die schon in De Cive als wichtigste Ursache für den Konflikt im Naturzustand bezeichnet worden war, im englischen Leviathan an den Anfang seiner Herleitung des Kriegszustandes stellt und ihr damit äußerlich den Rang der primären Konfliktursache zuweist, legt bereits nahe, dass die Argumentation des englischen Leviathan zu _____________ 53 54

Vgl. EL: 60f. EL: 61.

88

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

einem gewissen Teil als Weiterführung der zwischen den Elements und De Cive vor sich gegangenen Entwicklung verstanden werden kann. Dazu passt auch, dass die anfänglich so zentrale Unterscheidung zwischen ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen, die in De Cive bereits etwas von ihrer Bedeutung verloren hatte, nun deutlich in den Hintergrund tritt und die ausdrückliche Trennung von „vainglorious men“ und „moderate men“ sogar auf einen der späteren Abschnitte verschoben wird. Man kann den eingeschobenen Satz, nach dem sich das Interesse der Individuen prinzipiell auf die eigene Erhaltung und in manchen Fällen auf den Genuss oder das Sich-Ergötzen richtet, zwar als Hinweis auf die Existenz zweier verschiedener Gruppen von Individuen mit unterschiedlichen natürlichen Interessen lesen. Aufgrund der Unbestimmtheit des „sometimes“ ist aber noch keineswegs klar, dass Hobbes hier eben dies anzudeuten versucht. Von großer Wichtigkeit ist nun jedoch, dass die auf den folgenden Abschnitt vertagte explizite Unterscheidung von ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen durch die Behauptung einer allgemeinen Gleichheit der Hoffnungen bereits eine signifikante inhaltliche Überarbeitung erfährt, insofern nämlich, als der sowohl in den Elements als auch noch in De Cive enthaltene Hinweis auf die unterschiedliche Selbsteinschätzung der ‚eitlen‘ und der ‚bescheidenen‘ Individuen vollständig aufgegeben wird. Erweckte die Darstellung in den Elements und in De Cive noch mitunter den Eindruck, die konkrete Kollision der Interessen verschiedener Individuen führe nur deshalb zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, weil einige Individuen fälschlicherweise die Vernünftigkeit des Verzichts auf eine solche Auseinandersetzung nicht einsähen, so verzichtet Hobbes nun konsequent darauf, eine unterschiedliche und unterschiedlich angemessene Selbsteinschätzung zum Anlass für eine Unterscheidung verschiedener Gruppen von Individuen zu nehmen. Der Darstellung im englischen Leviathan zufolge glauben alle Individuen im Naturzustand gleichermaßen, ihre Interessen und Ziele verwirklichen zu können, und die Beiläufigkeit, mit der Hobbes diese allgemeine Hoffnung auf die Gleichheit der Fähigkeiten zurückführt, legt sogar nahe, dass er sie überhaupt nicht als Ausdruck individueller Selbstüberschätzung verstanden wissen will. Für diese Lesart spricht auch, dass Hobbes nun ausdrücklich die eigene Erhaltung als das übergeordnete Gut benennt, um dessentwillen in den meisten der betreffenden Fälle gestritten wird. Schon im vorangegangenen Kapitel war die Frage aufgeworfen worden, ob ein konsequenter Verzicht der Individuen, die Interessenkollisionen im Naturzustand mit Hilfe von Gewalt auszutragen, mit Blick auf die jeweils eigene Erhaltung überhaupt möglich und vernünftig sein kann oder ob es nicht zumindest in einigen Fällen gerade im Sinne der Selbsterhaltung unvermeidbar sein wird, die mit einer gewaltsamen Auseinandersetzung verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen. Im englischen Leviathan scheint nun exakt dies Hobbes’ Position zu sein, und mit dieser

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

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Betonung der prinzipiellen Unvermeidbarkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen im Zuge des Strebens nach lebenswichtigen Gütern erfährt der allgemeine Glaube, die jeweils begehrten Güter erlangen zu können, indirekt eine gewisse Legitimation: Es mag sich zwar bei diesem Glauben mitunter um einen Trugschluss handeln; selbst in solchen Fällen wird es aber nach Hobbes’ Darstellung zu der auf Basis dieses Trugschlusses getroffenen Entscheidung, sich in eine gewaltsame Auseinandersetzung zu begeben, oftmals faktisch keine Alternative geben, und das heißt mit anderen Worten: Selbst wenn die Individuen im Naturzustand de facto keine gleichen Chancen auf die Verwirklichung ihrer konkreten Interessen haben, tun sie im Sinne der eigenen Erhaltung gut daran, so zu handeln, als hätten sie sie. Anders als noch in De Cive lässt Hobbes also keinen Zweifel daran, dass die Konkurrenz um Güter alle Individuen von Zeit zu Zeit in gewaltsame Auseinandersetzungen treiben wird, unabhängig davon, ob sie nur ihre Erhaltung oder irgend welche weiter reichenden Zwecke anstreben. Dass Hobbes diese Behauptung an diesem Punkt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aufstellt, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass er in Kapitel XI allen Menschen ein prinzipielles und fortwährendes Streben nach immer mehr Macht zugeschrieben hat. So that in the first place, I put for a generall inclination of all mankind, a perpetuall and restless desire for Power after power, that ceaseth onely in Death. And the cause of this, is not alwayes that a man hopes for a more intensive delight, than he has already attained to; or that he cannot be content with a moderate power: but because he cannot assure the power and means to live well, which he hath present, without the acquisition of more.55

Hobbes macht unmissverständlich deutlich, dass das unaufhörliche Streben nach „Power after power“ kein Merkmal einer bestimmten Gruppe von Menschen darstellt, etwa von solchen, die wie die „vainglorious men“ nach dem Vorrang vor anderen streben. Es kennzeichnet vielmehr alle Menschen, da es bereits zwangsläufig aus dem natürlichen Streben folgt, die eigene Erhaltung über einen längeren Zeitraum sicherzustellen, und weder den falschen Glauben voraussetzt, anderen Menschen von Natur überlegen zu sein, noch andere fehlerhafte Urteile. Dass Hobbes aber auch im englischen Leviathan durchaus die grundsätzliche Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der menschlichen Selbstüberschätzung eingesteht, wird deutlich in der schon angesprochenen ausführlichen Erörterung der Gleichheit der mentalen Fähigkeiten der Menschen. Hobbes räumt dort ein, dass nahezu alle Menschen prinzipiell dazu neigen, die eigene Weisheit im Vergleich mit der Weisheit anderer Menschen zu hoch einzu_____________ 55

EL: 47.

90

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

schätzen. Kleemeier nimmt diese Passage zum Anlass, um die anschließend von Hobbes konstatierte Gleichheit der Hoffnungen als Ausdruck dieser ‚eitlen‘ Selbstüberschätzung zu interpretieren und zu folgern, Hobbes führe den Konflikt im Naturzustand letztlich auf die Irrationalität der Individuen zurück, nämlich auf deren fehlende Einsicht, angesichts der damit verbundenen Gefahren besser von einer gewaltsamen Lösung ihrer Interessenkonflikte abzusehen.56 Die gleiche Sichtweise ist kürzlich mit Nachdruck von Gabriella Slomp vertreten worden, für die die ‚eitle‘ Selbstüberschätzung der Individuen daher letztlich als Hauptursache des naturzuständlichen Konfliktes anzusehen ist.57 Demgegenüber muss aber betont werden, dass Hobbes a) die Gleichheit der Hoffnungen an keiner Stelle ausdrücklich als Beispiel für die zuvor beschriebene ‚eitle‘ Selbstüberschätzung der Menschen bezeichnet; dass er sie b) auch sonst mit keinem Wort kritisiert, sondern sie als eine gleichsam logische und legitime Folgerung aus der Gleichheit der Fähigkeiten präsentiert; und dass c) ein vollständiger Verzicht auf die gewaltsame Lösung der mitunter auftretenden Interessenkonflikte angesichts der von Hobbes angedeuteten Notwendigkeit der begehrten Güter im Hinblick auf die Selbsterhaltung und angesichts der Vernünftigkeit des Strebens nach immer mehr Macht gar keine gangbare und rationale Alternative darstellt. Dass es folglich nicht in Hobbes’ Bestreben liegt, die Gleichheit der Hoffnungen und das daraus folgende Eintreten in gewaltsame Auseinandersetzungen als unbegründet, unangemessen oder irrational darzustellen, lässt sich auch dadurch verdeutlichen, dass man die Argumentation des englischen Leviathan noch einmal den Argumentationen in den Elements und in De Cive gegenüberstellt. In beiden Werken besteht die von Hobbes mit deutlich wertenden Begriffen beschriebene Selbstüberschätzung der ‚eitlen‘ Individuen ja gerade darin, die natürliche Gleichheit nicht anzuerkennen und sich selbst als stärker und von Natur aus überlegen anzusehen. Entsprechend folgt das kriegerische Verhalten der „vainglorious men“ eben nicht aus dem Glauben, den anderen an Kraft und Fähigkeiten ebenbürtig zu sein, sondern aus dem ‚eitlen‘ Glauben, aus einer gewaltsamen Auseinandersetzung gar nicht als Verlierer hervorgehen zu können. Im englischen Leviathan folgt dagegen die Gleichheit der Hoffnungen aus der Gleichheit der Fähigkeiten, und das heißt doch wohl, sie folgt aus der Einsicht in diese prinzipielle Gleichheit der Fähigkeiten bzw. sie folgt auch dann, wenn eine solche Einsicht gegeben ist und folglich eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten vorliegt. Entsprechend wäre der Glaube, der die Individuen in die kriegerische Auseinandersetzung treibt, keineswegs der Glaube, gleichsam schon als Sieger festzustehen, sondern der ungleich realistischere Glaube, den Gegner prinzipiell überwinden zu können. _____________ 56 57

Vgl. Kleemeier 2002: 140f. Vgl. Slomp 2007: 190.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

91

Dass Hobbes’ Ausführungen im englischen Leviathan in der Tat derartige Vorstellungen zugrunde liegen und er die Entscheidung der Individuen, sich in kriegerische Konflikte zu begeben, nicht als irrational begreift, zeigt sich auch an dem Beispiel, mit dem er abschließend den von ihm angedeuteten Kampf um Güter illustriert. And from hence it comes to passe, that where an Invader hath no more to feare, than an other mans single power; if one plant, sow, build, or possesse a convenient Seat, others may probably be expected to come prepared with forces united, to dispossesse, and deprive him, not only of the fruit of his labour, but also of his life, or liberty. And the Invader again is in the like danger of another.58

Das Beispiel einer Gruppe von Individuen, die gemeinsam ein auf sich allein gestelltes Individuum angreifen, um dieses seiner Güter zu berauben, und die dieses konkrete Individuum aus eben dem Grund angreifen, weil es auf sich allein gestellt ist und sie folglich nicht befürchten müssen, in der Auseinandersetzung zu unterliegen, macht deutlich, dass die Hoffnung, die eigenen Ziele und die eigene Erhaltung im Zuge einer gewaltsamen Auseinandersetzung verwirklichen zu können, nicht prinzipiell unberechtigt sein muss und dass es sich bei den auf Basis dieser Hoffnung agierenden Individuen nicht zwangsläufig um irrationale Individuen handeln muss. Die Tatsache, dass Hobbes das Beispiel als hypothetischen Fall präsentiert und seine Argumentation streng genommen nur auf die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses abhebt, bzw. auf die Gefahr, dass ein solches Ereignis eintritt, verweist bereits auf die zweite Konfliktursache, die direkt im Anschluss daran entwickelt wird, nämlich auf die prinzipielle Vernünftigkeit vorbeugender Gewalt. And from this diffidence of one another, there is no way for any man to secure himselfe, so reasonable, as Anticipation; that is, by force, or wiles, to master the persons of all men he can, so long, till he see no other power great enough to endanger him: And this is no more than his own conservation requireth, and is generally allowed. Also because there be some, that taking pleasure in contemplating their own power in the acts of conquest, which they pursue farther than their security requires; if others, that otherwise would be glad to be at ease within modest bounds, should not by invasion increase their power, they would not be able, long time, by standing only on their defence, to subsist. And by consequence, such augmentation of dominion over men, being necessary to a mans conservation, it ought to be allowed him.59

Da Hobbes im Rahmen seiner Erörterung der Konkurrenz um Güter allen Individuen gleichermaßen den Willen zugesprochen hat, Gewalt zu gebrauchen, um die eigenen Interessen durchzusetzen und die von ihnen angestreb_____________ 58 59

EL: 61. EL: 61.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

ten Güter zu erlangen, ist hier bereits eine ausreichende Basis für die Behauptung geschaffen, das Leben im Naturzustand sei gekennzeichnet durch gegenseitiges Misstrauen und gegenseitige Furcht, der es in Hobbes’ früheren Werken ja, wie gesehen, mitunter an einer hinreichenden Begründung mangelte. Im englischen Leviathan liefert Hobbes nicht nur eine solche Begründung, sondern er findet auch viel früher zu seiner expliziten Folgerung der Vernünftigkeit präventiver Gewalt. Während diese Folgerung in den Elements erst im letzten Naturzustandskapitel gezogen wird und sie sich in De Cive zwar im ersten Naturzustandskapitel, aber erst im Anschluss an die Folgerung des allgemeinen Kriegszustandes findet, präsentiert Hobbes die Folgerung nun als zweite Ursache des Konfliktes im Naturzustand und als direkte Folge der Konkurrenz um Güter, und er versieht sie zudem mit einer besonderen Betonung. Wie bereits angedeutet, findet sich erst in dieser Passage – und damit an deutlich späterer Stelle als in den beiden früheren Werken – die inhaltliche Unterscheidung zwischen ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen. Im englischen Leviathan wird sie allerdings nicht mit Hilfe der früheren Terminologie vollzogen, weshalb sie in Nachfolge Kavkas zumeist als Unterscheidung zwischen ‚dominators‘ und ‚moderates‘ gefasst wird. Die zum Teil schon vorweggenommene Neugestaltung der Unterscheidung tritt dabei noch deutlicher hervor. Wie unsere Analyse in den beiden vorangegangenen Kapiteln ergeben hat, unterscheiden sich sowohl in den Elements als auch in De Cive die ‚eitlen‘ und die ‚bescheidenen‘ Individuen sowohl dadurch, dass sie über unterschiedlich gelagerte natürliche Interessen verfügen, als auch dadurch, dass sie die eigenen, von Natur aus gleichen Kräfte unterschiedlich einschätzen und ihre Chancen auf Verwirklichung ihrer jeweiligen Ziele unterschiedlich beurteilen. Indem Hobbes nun anfänglich allen Individuen die gleiche Hoffnung auf Verwirklichung ihrer Interessen zugeschrieben hat, hat er jedoch eines der beiden Unterscheidungskriterien bereits aufgegeben, und in Übereinstimmung mit dieser Tatsache definiert er im vorliegenden Abschnitt die beiden Gruppen von Individuen ausschließlich über eine unterschiedliche Bedürfnisstruktur. Die Individuen, die in den früheren Werken mit dem Begriff „vainglorious“ bezeichnet wurden, werden nun allein dadurch charakterisiert, dass sie sich an der Überlegenheit über andere Individuen erfreuen und weiden und ihre Angriffe daher weiter treiben, als dies zum Zwecke der Erhaltung notwendig wäre. Die „moderate men“ sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass sie von Natur nur nach dem streben, was zur eigenen Erhaltung unabdingbar ist. Dass die Unterscheidung von ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen im englischen Leviathan insgesamt deutlich an Bedeutung für die Herleitung des Kriegszustandes verloren hat, zeigt sich nicht nur daran, dass Hobbes diese Unterscheidung an einer späteren Stelle einführt und die Konkurrenz um

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Güter und damit die primäre Konfliktursache konsequent von ihr abkoppelt. Es zeigt sich auch daran, dass die Existenz der ‚eitlen‘ Individuen der oben zitierten Darstellung zufolge die Notwendigkeit präventiver Gewalt nicht selbst konstituiert, sondern sie lediglich verstärkt. Der Satz „Also because there be some, that taking pleasure in contemplating their own power in the acts of conquest, which they pursue farther than their security requires...“ macht unmissverständlich klar, dass mit der Maßlosigkeit des Strebens der ‚dominators‘ ein zusätzlicher Grund für die Anwendung präventiver Gewalt benannt werden soll. Dies wird einerseits durch das einleitende „Also“ verdeutlicht, andererseits aber auch, indem die gewaltsame Auseinandersetzung mit anderen implizit noch einmal als prinzipiell notwendiges Mittel zur eigenen Sicherheit präsentiert wird: Was die ‚dominators‘ von den ‚moderates‘ unterscheidet, ist nicht, dass sie überhaupt gewaltsame Handlungen ausführen, sondern dass sie diese zur Sicherheit unabdingbaren „acts of conquest“ weiter („farther“) treiben, als vom Zweck der Sicherheit und Selbsterhaltung eigentlich gefordert. Die sowohl in den Elements als auch in De Cive zumindest scheinbar noch enthaltene Andeutung, vernünftige Individuen könnten davon absehen, die aus der Konkurrenz um Güter entstehenden Streitigkeiten mit Hilfe von Gewalt auszutragen und stattdessen auf die in Frage stehenden Güter eher verzichten, fehlt also im englischen Leviathan nicht einfach, sondern ist mit der dort gegebenen Darstellung vollkommen unvereinbar: Das rationale Streben nach Selbsterhaltung führt laut Hobbes’ Darstellung die Individuen im Naturzustand nicht nur unvermeidlich in eine Konkurrenz um Güter, die nicht geteilt werden können, sondern es führt sie auch unweigerlich zu der Entscheidung, die entsprechenden Konflikte auf gewaltsame Weise zu lösen, sowie darüber hinaus auch noch zur Anwendung präventiver Gewalt. Wie bereits angedeutet worden ist, präsentiert Hobbes sein oben zitiertes Beispiel einer Gruppe von Angreifern, die ein einzelnes Individuum seiner Besitztümer berauben, als hypothetisches Beispiel, d.h. als eines, dessen Eintreten wahrscheinlich ist und daher von jedem vernünftigen Individuum einkalkuliert werden muss, das aber nicht zwangsläufig und ständig erfolgen wird. Es ist auffällig, dass auch die anfängliche Beschreibung der Konkurrenz um Güter in diesem Sinne von einer hypothetischen Annahme ausgeht („And therefore if any two men desire the same thing...“60). McNeilly hat diese Besonderheit zum Anlass für die Behauptung genommen, die Herleitung des Kriegszustandes im englischen Leviathan führe den ‚Krieg aller gegen alle‘ in so starker Weise auf die Überlegungen der Individuen, auf die im Zuge dieser Überlegungen erkannte Möglichkeit von Konflikten und auf die daraus folgende Notwendigkeit der individuellen Vorbeugung zurück, dass dieser Krieg _____________ 60

Hervorh. v. mir

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letztlich von jeder konkreten Charakterisierung der menschlichen Motive und Interessen unabhängig sei.61 Der Naturzustand verwandelt sich danach nicht in einen Kriegszustand, weil die Menschen nach bestimmten Gütern streben, die auch von den jeweils anderen angestrebt werden, oder weil sie einander aus diesem Grund faktisch angreifen, sondern allein weil die Individuen um die prinzipielle Möglichkeit von all diesem wissen und schon vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit präventiver Gewalt einsehen und entsprechend handeln müssen. Aus meiner Sicht überbetont eine solche Lesart jedoch die Bedeutung der individuellen Reflexion und der Unsicherheit des Naturzustandes für die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘. Sowohl Hobbes’ Ausführungen zum allgemeinen Streben nach immer mehr Macht, das keineswegs in hypothetische Begriffe gefasst ist, sondern als faktische Eigenschaft der Individuen und als unumgängliche Notwendigkeit präsentiert wird, als auch die starke Verbindung, die Hobbes zwischen der Konkurrenz um Güter und dem Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen herstellt, lassen keinen Zweifel daran, dass Hobbes die gewaltsame Kollision der individuellen Interessen nicht nur als Möglichkeit begreift, sondern als ein Ereignis, das mit einer gewissen Regelmäßigkeit faktisch eintreten wird. Die Herleitung des Kriegszustandes geht daher auch im englischen Leviathan zunächst von bestimmten Interessen der Individuen und den damit direkt verbundenen Konsequenzen aus. McNeilly ist allerdings zuzustimmen, dass Hobbes sich im englischen Leviathan in besonderer Weise darum bemüht, denjenigen Beitrag hervorzuheben, den schon das bloße Wissen um die Möglichkeit gewaltsamer Konflikte zum Entstehen des Kriegszustandes und insbesondere zur allseitigen Anwendung präventiver Gewalt leistet. Dass Hobbes den Kriegszustand prinzipiell auch im englischen Leviathan auf solche Ursachen zurückführt, welche von den Überlegungen der Individuen bezüglich der zur Selbstverteidigung notwendigen Handlungen unabhängig sind und welche die Einzelnen gleichsam unmittelbar in faktische Konflikte führen, zeigt sich auch an der dritten Konfliktursache, die Hobbes im englischen Leviathan erwähnt, nämlich am Problem des Sichvergleichens mit anderen, das in den Elements noch mit dem Begriff „comparison“ bezeichnet worden war und auf das Hobbes nun mit dem Begriff „glory“ rekurriert. Wie schon in den Elements erscheint das auf diese Weise angesprochene Problem als allgemeines Problem und der dahinter stehende Wunsch nach Anerkennung als Eigenschaft, die allen Menschen gleichermaßen zukommt. Anders als in den früheren Schriften verbindet sich der Wunsch aber nun nicht mehr mit einer prinzipiellen Missgunst gegenüber anderen. _____________ 61

Vgl. McNeilly 1968: 164f.

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Againe, men have no pleasure, (but only on the contrary a great deale of griefe) in keeping company, where there is no power able to over-awe them all. For every man looketh that his companion should value him, at the same rate he sets upon himselfe: And upon all signes of contempt, or undervaluing, naturally endeavours, as far as he dares (which amongst them that have no common power to keep them in quiet, is far enough to make them destroy each other,) to extort a greater value from his contemners, by dommage; and from others, by the example.62

War in den Elements noch davon die Rede, dass die Menschen mit Ärger und sogar Hass auf das Selbstvertrauen und die Selbstgefälligkeit anderer reagieren, und war in De Cive den Individuen unterstellt worden, sie seien gleichsam ständig auf der Suche nach Menschen, denen sie sich überlegen fühlen und denen sie dies auch zeigen könnten, so wird den Individuen nun nur noch der zunächst eher defensive Wunsch zugeschrieben, von anderen als das anerkannt zu werden, was sie selbst in sich sehen. Ein Konflikt stellt sich entsprechend erst in den Fällen ein, in denen einem Individuum eine derartige Anerkennung verweigert wird. Hobbes lässt zwar wenig Zweifel daran, dass solche Fälle relativ häufig eintreten werden, und dies legt nahe, auch auf die verbreitete Existenz missgünstiger Neigungen zurückzuschließen. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass die mit dem Problem „comparison“ oder „glory“ verbundene Unterstellung einer Art natürlichen Konkurrenzdenkens der Menschen auf diese Weise merklich abgemildert wird. Ebenso wenig kann bestritten werden, dass die Bedeutung des Problems für die Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes im englischen Leviathan insgesamt deutlich geringer erscheint als in den früheren Werken, in denen das Problem an einer früheren Stelle eingeführt und in denen ihm auch mehr Platz gewidmet wird. Im Anschluss an die Beschreibung des allgemeinen Strebens nach Anerkennung fasst Hobbes die von ihm erörterten Konfliktursachen noch einmal in einem Zwischenfazit zusammen, das demjenigen der Elements ähnelt, das diesmal aber etwas weniger Verwirrrung stiftet. So that in the nature of man, we find three principall causes of quarrell. First, Competition; Secondly, Diffidence; Thirdly, Glory. The first, maketh men invade for Gain; the second, for Safety; and the third, for Reputation. The first use Violence, to make themselves Master of other mens persons, wives, children, and cattell; the second, to defend them; the third, for trifles, as a word, a smile, a different opinion, and any other signe of undervalue, either direct in their Persons, or by reflexion in their Kindred, their Friends, their Nation, their Profession, or their Name.63

Die Zusammenfassung der Konfliktursachen im englischen Leviathan steht zu weiten Teilen in völliger Übereinstimmung mit Hobbes’ vorangegangener Analyse. Das nun explizit mit dem Begriff „glory“ bezeichnete dritte Problem _____________ 62 63

EL: 61. EL: 61f.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

erscheint nach wie vor nicht als Ausdruck eines Wunsches nach Überlegenheit oder Bewunderung, sondern als Ausdruck des bloßen Wunsches nach angemessener Anerkennung und als Reaktion auf das Fehlen einer solchen Anerkennung. Die Anwendung präventiver Gewalt erscheint erneut als Folge eines allgemeinen Misstrauens und vor allem als notwendig und vernünftig im Sinne der eigenen Sicherheit und der Selbstverteidigung. Lediglich die Beschreibung der ersten Konfliktursache wirft einige Fragen auf. Diese ergeben sich aus Hobbes’ Aussage, die Konkurrenz um Güter lasse die Menschen einander mit dem Ziel des persönlichen Gewinns angreifen und veranlasse die Individuen, Gewalt anzuwenden, um sich zum Herren über andere Menschen zu machen, während das resultierende Misstrauen sie lediglich veranlasse, Gewalt zum Zwecke der Sicherheit anzuwenden. So scheint die Aussage der Sichtweise zu widersprechen, auch die Angriffe, die aus der Konkurrenz um Güter hervorgehen, seien ein notwendiger Bestandteil des rationalen Strebens nach Selbsterhaltung. Ruft man sich jedoch in Erinnerung, dass Hobbes in Kapitel XI betont hatte, die Menschen seien prinzipiell gezwungen, immer mehr Macht zu erwerben, allein um ihren gegenwärtigen Stand von Zufriedenheit und Sicherheit für die Zukunft sicherzustellen, so lässt sich ohne Weiteres die Ansicht vertreten, dass die eigene Sicherheit das übergeordnete Ziel sowohl der gewaltsam ausgetragenen Konkurrenz um Güter als auch der Ausübung präventiver Gewalt darstellt. Während letztere die eigene Sicherheit im spezifischeren Sinn der Verteidigung des eigenen Lebens gegen die drohenden Angriffe anderer zum Ziel hat, zielt der Erwerb von immer mehr Gütern auf die eigene Sicherheit im umfassenderen Sinn einer Sicherstellung der Mittel für die dauerhafte Erhaltung des eigenen Lebens. Wie schon mehrfach betont, beginnt Hobbes im englischen Leviathan seine Erörterung des natürlichen Rechts und seine Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ nicht im Kontext der Herleitung des Kriegszustandes. So geht er nach Beschreibung derjenigen Konfliktursachen, die in den Elements unter dem Begriff der „offensiveness of man’s nature“ zusammengefasst worden waren, direkt zur Folgerung über, der Naturzustand sei ein Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘. Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in a condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man, against every man.64

Während der Kriegszustand also in den Elements wie in De Cive als Konsequenz der menschlichen Natur und des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ zusammen präsentiert wurde, erscheint er nun als Ergebnis der menschlichen Natur allein. Es muss aber gefragt werden, ob sich Hobbes’ Argumentation im _____________ 64

EL: 62.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

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Hinblick auf die Bedeutung des natürlichen Rechts für den ‚Krieg aller gegen alle‘ damit wirklich verändert hat. Wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, kann das ‚Recht auf alles‘ in den Elements und in De Cive nur in einem uneigentlichen und sehr begrenzten Sinne als Ursache des Kriegszustandes gelten. Es liefert lediglich insofern einen Beitrag zum ‚Krieg aller gegen alle‘, als es kein Naturrecht oder natürliches Gesetz gibt, das die Individuen wirksam dazu verpflichten könnte, von der Befriedigung derjenigen natürlichen Bedürfnisse abzusehen, die sie in Konflikt mit anderen Menschen treiben. Das ‚Recht auf alles‘ stellt weder insofern eine eigenständige Ursache des Krieges dar, als es gleichsam aus eigener Kraft Menschen in gewaltsame Auseinandersetzungen treiben würde, die zu solchen Auseinandersetzungen ansonsten keinen Grund hätten. Noch wird es von Hobbes so präsentiert, als konstituiere es einen Rechtskrieg, ein Punkt, der freilich in Kapitel 5 dieser Arbeit noch eingehender zu erörtern sein wird. Selbst in den Elements und in De Cive leistet das ‚Recht aller auf alles‘ folglich keinen spezifischen Beitrag zur Entstehung des Kriegszustandes, der von den zuvor jeweils beschriebenen Konfliktursachen unabhängig wäre. Wenn nun Hobbes das natürliche Recht auf Selbsterhaltung im englischen Leviathan auch nicht im Rahmen der Herleitung des Kriegszustandes einführen mag, so kann doch durchaus die Behauptung aufgestellt werden, dieses Recht sei bereits dort in seinen Ausführungen in einer Weise enthalten, die ihm die gleiche Funktion zu erfüllen erlaube wie in den früheren Werken. Es ist bereits deutlich geworden, dass Hobbes’ Argumentation in den ersten Abschnitten von Kapitel XIII eine Reihe von Verweisen auf die Bewahrung des eigenen Lebens beinhaltet, und in seiner Betonung der Vernünftigkeit präventiver Gewalt hebt Hobbes ausdrücklich hervor, die Anwendung solcher Gewalt sei „generally allowed“, da sie vom Zweck der Selbsterhaltung gefordert sei. Wenn man nun auch behaupten mag, Hobbes berufe sich an dieser Stelle lediglich auf die Sichtweisen anderer Menschen, so macht er sich doch diese Sichtweise zwei Sätze später zweifellos zu eigen, indem er nämlich festhält: „And by consequence, such augmentation of dominion over men, being necessary to a mans conversation, it ought to be allowed him.“. Zu dem Zeitpunkt, an dem Hobbes aus den verschiedenen naturzuständlichen Konfliktursachen den ‚Krieg aller gegen alle‘ folgert, ist die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten moralischen Verpflichtung, die die Individuen vom faktischen Eintritt in gewaltsame Konflikte abhalten könnte, daher im englischen Leviathan genauso ausgeschlossen wie zuvor in den Elements und in De Cive. Der einzige Unterschied zwischen den Werken besteht darin, dass in den früheren Werken die Erlaubnis, nach der eigenen Erhaltung zu streben, bereits früher in naturrechtlichen Begriffen ihren Ausdruck findet und dass dem Recht auf Selbsterhaltung bereits früher der Umfang eines ‚Rechts auf alles‘

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

zugestanden wird, was heißt, dass neben dem Streit um Güter und der Anwendung präventiver Gewalt auch noch andere Handlungen im Naturzustand zulässig sein können. Es wäre aber zu fragen, ob nicht die Erlaubnis zur Anwendung präventiver Gewalt, und das heißt zur Eroberung fremder Besitztümer und zur Tötung oder Unterdrückung anderer Menschen, ohnehin schon mehr oder minder alle durch das ‚Recht auf alles‘ legitimierten Handlungen umfasst. Außerdem lässt sich ergänzen, dass der Umfang des natürlichen Rechts gegen Ende von Kapitel XIII schon zumindest angedeutet wird, dort nämlich, wo Hobbes betont, weder die menschlichen Leidenschaften noch die daraus resultierenden Handlungen stellten im Naturzustand eine Sünde dar, da es kein positives Gesetz gebe, das sie verböte. In jedem Fall aber ist der zentrale Punkt, dass die in den ‚Krieg aller gegen alle‘ involvierten Individuen nämlich mit Recht agieren, von Hobbes schon hinreichend deutlich gemacht worden, wenn er den naturzuständlichen Krieg in Kapitel XIII mit diesen Worten beschreibt. Im Anschluss an seine Herleitung des Kriegszustandes aus den verschiedenen Konfliktursachen widmet Hobbes im englischen Leviathan eine Reihe von Abschnitten denjenigen weiter gehenden Beschreibungen und Ausgestaltungen des Kriegszustandes, auf die wir schon in Kapitel 3.2 zu sprechen gekommen sind. Dass die Argumentation im Leviathan durch eine rhetorische Kraft gekennzeichnet ist, die sich so nicht in den früheren Werken findet, ist dabei bereits betont worden. Die Ausführungen, um die Hobbes die reine Herleitung des Kriegszustandes in Kapitel XIII des Leviathan erweitert, dienen aber nicht ausschließlich dem Zweck, der Darstellung eine besondere Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit zu verleihen. Sie haben teilweise auch die Funktion, die zuvor aufgestellten Behauptungen zu stützen, indem sie etwa empirische Beispiele für den beschriebenen Natur- und Kriegszustand liefern oder explizit auf mögliche Einwände eingehen. Ein Beispiel, an dem sich allerdings auch Hobbes’ Bemühen um eine möglichst wirksame und eindringliche Schilderung zeigt, ist die Folgerung des ‚Krieges aller gegen alle‘ aus den zuvor beschriebenen Konfliktursachen, deren erster Teil oben bereits zitiert worden ist. Wie schon in den Elements und in De Cive betont Hobbes im Anschluss an seine Folgerung des Kriegszustandes, dass das Vorherrschen eines solchen Zustandes nicht vom ständigen Auftreten konkreter Gewalthandlungen abhängig ist. Anders als in den früheren Schriften unterstützt Hobbes diese Aussage nun jedoch mit einer etwas überraschenden, wenn auch möglicherweise sehr britischen, Analogie zwischen Krieg und schlechtem Wetter. For WARRE, consisteth not in Battell onely, or the act of fighting; but in a tract of time, wherein the Will to contend by Battell is sufficiently known: and therefore the notion of Time, is to be considered in the nature of Warre; as it is in the nature of Weather. For as the nature of Foule weather, lyeth not in a showre or two of rain; but in an inclination thereto of many dayes together: So the nature of War, consisteth not

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in actuall fighting; but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary. All other time is PEACE.65

Was auf diese Veranschaulichung folgt, ist Hobbes’ Beschreibung des menschlichen Lebens in einem dauerhaften ‚Krieg aller gegen alle‘. Wieder wird die hierbei hervorgehobene Tatsache, dass das Leben in einem allgemeinen Kriegszustand die Erhaltung jedes Einzelnen bedroht und den Menschen nicht erlaubt, irgend welche Formen höherer Kultur zu entwickeln, auch schon in den früheren Schriften explizit angesprochen. Erneut ist Hobbes’ Präsentation in den Elements und in De Cive aber bei weitem nicht von so großer Eindringlichkeit wie die geradezu poetische und wohl nicht zuletzt deshalb so berühmt gewordene Schilderung des englischen Leviathan. Whatever therefore is consequent to a time of Warre, where every man is Enemy to every man; the same is consequent to the time, wherein men live without other security, than what their own strength, and their own invention shall furnish them withall. In such condition, there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; or Navigation, nor use of the commodities that may be imported by Sea; no commodious Building; no Instruments of moving, and removing such things as require much force; no Knowledge of the face of the Earth; no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.66

Bevor Hobbes dazu übergeht, die schon besprochenen empirischen Beispiele des Naturzustandes aufzulisten, deren Zweck darin besteht, den Einwand zu widerlegen, es habe nie einen Naturzustand gegeben, versucht er, mögliche Zweifel daran zu zerstreuen, dass die Natur die Menschen jemals in der von ihm beschriebenen Weise voneinander entfremden und sie dazu bringen könne, einander regelmäßig mit Gewalt zu begegnen. Hobbes’ Versuch, seine Aussagen mit Hilfe der menschlichen Erfahrung zu stützen, zu dem es kein Pendant in den früheren Schriften gibt, besteht in dem Hinweis auf die vielen Vorsichtsmaßnahmen, die selbst Menschen, die innerhalb der prinzipiellen Sicherheit der bürgerlichen Gemeinschaft leben, treffen, um sich gegen Straftaten anderer zu schützen.67 Kapitel XIII des englischen Leviathan endet mit zwei Abschnitten, in denen Hobbes einmal mehr betont, dass die Handlungen, die er den Individuen im Naturzustand zugeschrieben habe, nicht als Unrecht anzusehen seien, da – wie er jetzt in etwas grundsätzlicherer Weise als zuvor herausstellt – die Begriffe Recht und Unrecht, gerecht und ungerecht, Mein und Dein im Naturzustand keinen Platz haben, und in denen er zudem andeutet, auf welche _____________ 65 66 67

EL: 62. EL: 62. Vgl. EL: 62.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Weise die Menschen letztlich aus der „ill condition“68 des ‚Krieges aller gegen alle‘ herauszukommen vermögen. Die Frage, ob die Individuen sich innerhalb eines solchen ‚Krieges aller gegen alle‘ durch die Unterdrückung so vieler anderer Individuen wie möglich oder durch die Bildung von Verteidigungsbündnissen erhalten können, wird dabei allerdings nicht von ihm erörtert, sondern auf Kapitel XVII vertagt. 4.4.2 Der ‚Krieg aller gegen alle‘ und die Voraussetzung der Güterknappheit Blickt man an dieser Stelle noch einmal auf die obige Analyse des dreizehnten Kapitels des englischen Leviathan zurück, so lässt sich nicht nur die Tatsache betonen, dass die Herleitung des Kriegszustandes in Hobbes’ drittem Werk eine signifikante inhaltliche Neugestaltung erfährt, sondern auch die Ansicht vertreten, dass Hobbes’ Darstellung gegenüber den Elements und De Cive deutlich an Klarheit und Stringenz gewonnen hat. Es bleibt aber auf zwei schwerwiegende Probleme der Hobbes’schen Argumentation zu verweisen, die im Rahmen der obigen Analyse von Hobbes’ Text bislang ausgeklammert worden sind, die aber für einen Großteil der an Hobbes’ Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ geäußerten Kritik verantwortlich sind. Das erste Problem besteht darin, dass die Ausführungen, mit denen Hobbes im englischen Leviathan den unvermeidbaren gewaltsamen Wettstreit um Güter als primäre Ursache des Krieges beschreibt, die Frage aufwerfen, ob Hobbes’ Herleitung des Kriegszustandes von der Annahme einer zumindest partiellen Güterknappheit ausgeht. Wie die obige Darstellung zeigt, gesteht Hobbes an keiner Stelle ausdrücklich ein, dass er den Naturzustand als Zustand der Güterknappheit begreift oder dass es sich bei der betreffenden Annahme um eine Prämisse seiner Argumentation handelt. Es ist aber von zahlreichen Autoren die Ansicht vertreten worden, Hobbes’ Argumentation für den ‚Krieg aller gegen alle‘ sei nur unter Einbeziehung einer solchen Voraussetzung in der gegebenen Form aufrechtzuerhalten. Entsprechende Hinweise oder Andeutungen finden sich schon bei Filmer sowie in jüngerer Zeit bei McNeilly, Gauthier, Weiß, Hampton, Nonnenmacher, Farrell, Landesman, Kersting, Münkler, Esfeld, Nida-Rümelin, Ryan, Martinich, Kleemeier, Dodds und Shoemaker und Hoekstra.69 Während einige der genannten Autoren allerdings ganz selbstverständlich auf die Annahme der Güterknappheit als eine ihrer Meinung nach offenbar von Hobbes selbst bewusst angelegte Voraussetzung des _____________ 68 69

EL: 63. Vgl. Filmer 1991a: 188; McNeilly 1968: 143; Gauthier 1969: 18; Weiß 1980: 142; Hampton 1986: 60; Nonnenmacher 1989: 22; Farrell 1989: 64; Landesman 1989: 146; Kersting 1992: 104f.; Münkler 1993: 115f.; Esfeld 1995: 223; Nida-Rümelin 1996: 126; Ryan 1996: 220f.; Martinich 1999: 228; Kleemeier 2002: 136f.; Dodds/Shoemaker 2002: 347; und Hoekstra 2007: 110.

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Argumentes Bezug nehmen, ohne sie zum Gegenstand einer wie auch immer gearteten Kritik zu machen, sehen andere Autoren in dem Fehlen der entsprechenden Ausführungen eine zentrale Schwäche des Hobbes’schen Argumentes. Zu ergänzen ist zudem, dass sich mit Höffe und Tuck zumindest zwei Autoren finden, die prinzipiell bestreiten, dass Hobbes’ Argument von der Annahme der Güterknappheit abhängig ist.70 Aus meiner Sicht ist an den genannten Hinweisen auf die vermeintliche Annahme der Güterknappheit zu kritisieren, dass prinzipiell nicht ausreichend zwischen den verschiedenen Herleitungen des Kriegszustandes in den Elements, in De Cive und im Leviathan unterschieden wird und die Voraussetzung der Güterknappheit oftmals aus der bloßen Möglichkeit einer naturzuständlichen Konkurrenz um Güter abgeleitet wird. Meines Erachtens setzt die Interessenkollision im Naturzustand, wie sie von Hobbes vor allem in den Elements als mögliches, von Zeit zu Zeit eintretendes Ereignis beschrieben wird, aber keineswegs eine grundsätzliche Knappheit der Güter voraus. Erst wenn, wie im englischen Leviathan, die gewaltsame Konkurrenz um Güter als zwangsläufige und unvermeidliche Folge des Strebens nach Selbsterhaltung präsentiert wird, liegt die Vermutung nahe, dass der Argumentation eine entsprechende Prämisse zugrundeliegt. Es muss aber an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont werden, dass Hobbes weder bei seiner Beschreibung des menschlichen Strebens nach immer mehr Macht in Kapitel XI noch bei seiner Erörterung der Konkurrenz um Güter in Kapitel XIII die These aufstellt, das Ziel der dauerhaften Selbsterhaltung zwinge die Menschen ständig und in jeder Situation in gewaltsame Auseinandersetzungen. Dem behaupteten Zusammenhang von Selbsterhaltungsstreben und gewaltsamer Konkurrenz um Güter liegt lediglich die weitaus schwächere These zugrunde, dass angesichts des notwendigen Strebens nach Selbsterhaltung gewaltsame Auseinandersetzungen um lebensnotwendige Güter nicht vollständig zu vermeiden sein werden und dass sie in ausreichender Häufigkeit auftreten werden, um eine Situation der Furcht und des Misstrauens heraufzubeschwören. Gerade die Wendung vom unaufhörlichen und rastlosen Streben nach „Power after power“ wird von vielen Autoren immer wieder so aufgefasst, als sehe Hobbes von vornherein jedes nur erdenkliche Machtmittel mit Blick auf die langfristige Sicherstellung der Selbsterhaltung als notwendig an, als schreibe er folglich jedem Menschen ein natürliches Streben nach ‚aller denkbaren Macht‘ oder nach ‚so viel Macht wie überhaupt möglich‘ zu und rechtfertige es zugleich. Was Hobbes in Kapitel XI sagt, ist aber lediglich, dass das Streben nach Macht zeitlich unbegrenzt ist und kein Mensch jemals in eine Situation kommen kann, in der er überhaupt keiner weiteren Macht mehr bedarf.71 _____________ 70 71

Vgl. Höffe 1982: 43; und Tuck 1996b: 185. Vgl. hierzu auch Hampton 1986: 59.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Dies schließt jedoch keineswegs aus, dass es immer wieder Machtmittel geben wird, die von den Individuen zwar prinzipiell erworben werden könnten, die zur Erhaltung des eigenen Lebens aber zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht unbedingt notwendig sind und von deren Erwerb die Individuen folglich ohne Gefahr für das eigene Leben absehen können. Zu denken wäre hier etwa an bestimmte Lebensmittel, an denen aufgrund der bereits gesammelten oder erarbeiteten Menge an Lebensmitteln kein unmittelbarer Bedarf besteht, die aber auch nicht zur Deckung des zukünftigen Bedarfs in Frage kommen, weil sie bis zu dem entsprechenden Zeitpunkt bereits verdorben wären. Auch bei der konkreten Erörterung der gewaltsamen Konkurrenz um Güter in Kapitel XIII vertritt Hobbes keineswegs die These, das Streben nach Selbsterhaltung werde die Individuen immer und ständig in Konkurrenzsituationen treiben, die nur gewaltsam zu lösen sind. Der schon mehrfach angesprochene Satz „And therefore if any two men desire the same thing...“ zeigt deutlich, dass es sich bei der konkreten Konkurrenz um Güter um einen Fall handelt, der eintreten kann und vielleicht auch mit gewisser Regelmäßigkeit eintreten wird, aber keineswegs um einen Fall, zu dem es faktisch keine Alternative gäbe, da jedes nur erdenkliche Gut immer auch von anderen Individuen als notwendiges Mittel zur eigenen Erhaltung begehrt werden müsste. Der Einschub „which is principally their owne conservation, and sometimes their delectation onely“ bestätigt diese Tatsache noch einmal, indem er nämlich zeigt, dass es im Naturzustand auch gewaltsame Konflikte um Güter gibt, die gar nicht von der Selbsterhaltung gefordert sind, sondern allein aus dem weitergehenden Streben nach dem Sich-Ergötzen hervorgehen. Und auch die Aussage, die ‚dominators‘ trieben die „acts of conquest“ weiter, als dies von dem Ziel der Selbsterhaltung gefordert sei, zeigt nicht nur, wie oben ausgeführt, dass die gewaltsame Konkurrenz um Güter in einigen Fällen eine zwangsläufige Folge des bloßen Selbsterhaltungsstrebens darstellt, sondern zugleich, dass dieses Selbsterhaltungsstreben in anderen Fällen eben eigentlich keine gewaltsame Auseinandersetzung fordert, sondern das Ziel des Überlebens durchaus auch ohne eine solche zu realisieren wäre. Es wäre folglich prinzipiell zwischen drei verschiedenen Typen von Situationen zu unterscheiden, in die die Individuen im Zuge des allgemeinen Strebens nach Selbsterhaltung geraten können, nämlich zwischen Situationen, in denen die Sorge um die eigene Erhaltung die Individuen überhaupt nicht in eine konkrete Konkurrenz um Güter treibt (Typ 1); Situationen, in denen eine solche Konkurrenz faktisch besteht, aber nicht gewaltsam ausgetragen werden muss, da das in Frage stehende Gut kein unerlässliches Mittel zur eigenen Erhaltung ist (Typ 2); und Situationen, in denen verschiedene Individuen um Güter konkurrieren, die zur jeweils eigenen Erhaltung unverzichtbar sind und um die sie daher im Sinne der eigenen Erhaltung zwangsläufig werden kämpfen müssen (Typ 3). Die Behauptung, die Hobbes im dreizehnten Kapitel des

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englischen Leviathan aufstellt und zum Fundament seiner Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ macht, ist nicht die Behauptung, dass es im Naturzustand prinzipiell nur Situationen vom Typ 3 geben wird, sondern die ungleich bescheidenere Behauptung, dass es immer auch Situationen vom Typ 3 geben wird bzw. dass sich Situationen vom Typ 3 auch dann nicht vollständig werden vermeiden lassen, wenn alle Individuen nur nach der eigenen Erhaltung streben. Ob diese Behauptung nun aber eine allgemeine Knappheit der Güter voraussetzt, erscheint aus meiner Sicht als fraglich. So lässt sich mit guten Gründen die Einschätzung vertreten, dass eine auf bestimmte zeitliche Phasen oder bestimmte Gegenden beschränkte partielle Knappheit der Güter eine ausreichende Grundlage für Hobbes’ Behauptung liefern dürfte. Zu prüfen wäre dann noch, ob die entsprechende Annahme als unzulässig anzusehen ist, weil sie einer vernünftigen Grundlage entbehrt. Dass Hobbes die Prämisse nicht explizit eingesteht, ist bereits angemerkt worden. Es finden sich allerdings durchaus einige Indizien dafür, dass Hobbes den Zusammenhang zwischen der im englischen Leviathan entwickelten Herleitung des Kriegszustandes und der Annahme einer zumindest partiellen Güterknappheit gesehen hat. So finden sich unter den oben bereits besprochenen Ausführungen zwei Passagen, in denen Hobbes die Sichtweise des Naturzustandes als eines Zustandes knapper Güter zumindest zu suggerieren scheint. Auf der einen Seite wählt er im Bemühen, den naturzuständlichen Kampf um Güter und Besitztümer zu illustrieren, wohl nicht ohne Grund das Beispiel eines Mannes, der des Ackerlandes beraubt wird, das er mühsam kultiviert und bearbeitet hat. Und auch seine eindringliche Beschreibung des Naturzustandes mit den Worten „there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; no Navigation, nor use of the commodities that may be imported by Sea“, die in dieser Form weder in den Elements noch in De Cive enthalten ist, lässt sich meines Erachtens als Ausdruck der Tatsache lesen, dass Hobbes sich der grundsätzlichen Bedeutung der im Naturzustand zur Verfügung stehenden Menge an Gütern für die im englischen Leviathan entwickelte Argumentation zumindest ansatzweise bewusst war und den Naturzustand daher mit Eigenschaften versehen wollte, die eine gewisse Grundlage für die Behauptung eines Mangels an Gütern liefern können. Das Problem dieser Hinweise liegt freilich darin, dass der Mangel an Gütern oder die Fruchtlosigkeit des Bemühens um ihre Herstellung von Hobbes als Folge des Kriegszustandes präsentiert werden und deshalb nicht als Entstehungsbedingungen dieses Krieges herhalten können, ohne die Argumentation dem Vorwurf der Zirkularität auszusetzen. Das Hobbes’sche Argument kann meines Erachtens aber zumindest zum Teil dadurch gerettet werden, dass man das Verhältnis zwischen dem Kriegszustand und dem Mangel an lebenswichtigen Gütern als ein dialektisches begreift. So lässt sich sinnvoll die

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Ansicht vertreten, dass die Konkurrenz um Güter zunächst nur einige wenige gewaltsame Auseinandersetzungen nach sich zieht; dass im Zuge dieser wenigen Auseinandersetzungen und vor allem im Zuge des daraus resultierenden Misstrauens einige Individuen aber bereits einen Teil ihrer zum Überleben wichtigen Mittel und Güter verlieren werden; und dass zudem durch die um sich greifende Sorge um die eigene Erhaltung und durch die Notwendigkeit entsprechender Vorsichtsmaßnahmen bereits eine größere Gruppe von Individuen die Möglichkeit verlieren wird, die zu einer dauerhaften Erhaltung notwendigen Güter durch eigene Arbeit sicherzustellen. Ist der daraus nach und nach resultierende Kampf um Güter aber erst einmal in vollem Gange, wird sich die Menge der zur Verfügung stehenden Güter beispielsweise durch die allgemeine Vernachlässigung der Kultivierung und Bebauung des Landes im Sinne eines circulus vitiosus nach und nach immer weiter reduzieren, was nichts anderes heißt, als dass sich der Kriegszustand immer mehr verfestigen wird. 4.4.3 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen Das zweite der weiter oben angedeuteten Probleme besteht in der Spannung, die im englischen Leviathan zwischen der bereits eingehend beschriebenen Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ in Kapitel XIII und der nun näher zu betrachtenden Auseinandersetzung mit dem Problem der Befolgung der natürlichen Gesetze in Kapitel XVII entsteht. Wie deutlich geworden ist, erfährt die Herleitung des Kriegszustandes im engeren Sinne im englischen Leviathan eine konsequente Überarbeitung. Diese Überarbeitung mag zwar durchaus die Frage aufwerfen, ob Hobbes’ Argumentation für den Naturzustand eine Knappheit der Güter voraussetzt und ob eine solche Voraussetzung als zulässig angesehen werden kann. Es kann aber in jedem Fall kein Zweifel bestehen, dass der ‚Krieg aller gegen alle‘ so, wie Hobbes ihn in Kapitel XIII entwickelt, weitgehend vom Auftreten menschlicher Irrationalität oder von der Existenz ‚eitler‘, nach Vorrang strebender Individuen unabhängig ist. In Kapitel XVII begründet Hobbes nun aber nach wie vor die Unsicherheit einer allgemeinen Befolgung der natürlichen Gesetze mit dem Hinweis auf eben diese menschlichen Eigenschaften. Während die entsprechenden Ausführungen weder in den Elements noch in De Cive die zuvor gemachten Bemerkungen wirklich in Frage stellten, werfen sie im englischen Leviathan in der Tat die von Hampton gestellte Frage auf, ob Hobbes zwei verschiedene Herleitungen des Kriegszustandes entwickelt und ob diese beiden Herleitungen miteinander vereinbar sind.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

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Schon zu Beginn von Kapitel XVII stellt Hobbes die Behauptung auf, die Menschen liebten von Natur aus die Freiheit und die Herrschaft über andere, und nur wenig später betont er, bei dem von ihm zuvor beschriebenen Kriegszustand handle es sich um eine Folge der natürlichen Leidenschaften („Passions“) der Menschen. The finall Cause, End, or Designe of men, (who naturally love Liberty, and Dominion over others,) in the introduction of that restraint upon themselves, (in which wee see them live in Common-wealths,) is the foresight of their own preservation, and of a more contented life thereby; that is to say, of getting themselves out from that miserable condition of Warre, which is necessarily consequent (as hath been shewn) to the naturall Passions of men, when there is no visible Power to keep them in awe, and tye them by feare of punishment to the performance of their Covenants, and observation of those Lawes of Nature set down in the fourteenth and fifteenth Chapters.72

Da Hobbes auch in Kapitel XIII den ‚Krieg aller gegen alle‘ als Folgerung aus den menschlichen Leidenschaften präsentiert hat und da prinzipiell auch das legitime und notwendige Streben nach Selbsterhaltung bzw. die Furcht vor dem Tode von Hobbes unter den Begriff der Leidenschaften gefasst werden, scheint die zweite Passage zunächst nicht im Widerspruch zur früheren Herleitung des Kriegszustandes zu stehen. Auch die Aussage, die Menschen liebten von Natur aus die Herrschaft über andere, lässt sich gegebenenfalls noch so interpretieren, als verleite eben dieses natürliche Streben nach Selbsterhaltung die Menschen im Naturzustand zwangsläufig dazu, nach Herrschaft über andere zu streben, weil nur so das eigene Überleben dauerhaft sichergestellt werden kann. Im nächsten Abschnitt hebt Hobbes aber ausdrücklich hervor, die natürlichen Leidenschaften verleiteten die Menschen zu Parteilichkeit, Stolz und Rache und seien den natürlichen Gesetzen daher entgegengesetzt. Es ist diese Tatsache, die wie in den Elements und in De Cive die Begründung dafür liefert, dass ein Individuum den Naturgesetzen im Naturzustand nicht uneingeschränkt folgen sollte, weil es angesichts der zu erwartenden Missachtung dieser Gesetze durch andere sein Leben aufs Spiel setzen würde. For the Lawes of Nature [...] of themselves, without the terrour of some Power, to cause them to be observed, are contrary to our naturall Passions, that carry us to Partiality, Pride, Revenge, and the like. And Covenants, without the Sword, are but Words, and of no strength to secure a man at all. Therefore notwithstanding the Lawes of Nature, (which every one hath then kept, when he has the will to keep them, when he can do it safely,) if there be no Power erected, or great enough for our security; every man will, and may lawfully rely on his own strength and art, for caution against all other men.73

_____________ 72 73

EL: 85. EL: 85.

106

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Der vierte Abschnitt, in dem Hobbes zu zeigen versucht, dass und warum die Eintracht innerhalb eines Verteidigungsbündnisses nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann, ist gegenüber den Fassungen der Elements und De Cive leicht abgemildert. Während Hobbes in beiden früheren Schriften sowohl auf das Problem divergierender Ansichten und Meinungen bezüglich des jeweils richtigen Vorgehens als auch auf das Problem des allgemeinen ‚eitlen‘ Strebens nach Vorrang und Anerkennung verweist, verzichtet er im englischen Leviathan auf den zweiten Punkt und führt die Konflikte innerhalb des Bündnisses allgemein auf divergierende Meinungen und divergierende Interessen zurück. Der Vergleich der menschlichen Verbindungen mit den Gemeinschaften der Bienen und Ameisen zeigt aber keine entsprechenden Überarbeitungen. Ganz im Gegenteil behauptet Hobbes hier wieder, die Menschen befänden sich in einem dauernden Wettstreit um Ehre und Würden, aus dem sich Neid und Hass und schließlich Krieg ergäben, und er führt das Problem des Sich-Vergleichens und der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten als weitere Ursache der Zwietracht und des Krieges an. To which I answer, First, that men are continually in competition for Honour and Dignity, which these creatures are not; and consequently amongst men there ariseth on that ground, Envy and Hatred, and finally Warre; but amongst these not so.74

Es kann nicht verwundern, dass Hampton ihre Behauptung, Hobbes liefere im englischen Leviathan neben einem „rationality account of conflict“ auch einen „passions account of conflict“, unter anderem auf diese Passagen des siebzehnten Kapitels stützt.75 In der Tat müsste man nach Hobbes’ Herleitung des Kriegszustandes aus dem rationalen Streben nach Selbsterhaltung in Kapitel XIII nun eine andere Begründung für die Tatsache erwarten, dass die natürlichen Gesetze im Naturzustand nicht uneingeschränkt befolgt werden können oder befolgt werden sollten. Nachdem Hobbes ausdrücklich die Tatsache hervorgehoben hat, dass das legitime Streben nach Erhaltung des eigenen Lebens die Individuen im Naturzustand auch in Situationen führen wird, in denen sie sich auf gewaltsame Weise bestimmter Güter bemächtigen müssen, die auch von anderen Individuen begehrt werden, wäre zu erwarten, dass er auch bei der Frage der Befolgung der natürlichen Gesetze auf diese Situationen verweisen würde. So müsste er letztlich die Ansicht vertreten, dass es schlicht eine bestimmte Anzahl an Situationen geben wird, in denen den Individuen keine friedfertige Handlungsalternative zur Verfügung steht und in denen auch die Einsicht in die natürlichen Gesetze, die ja ausdrücklich nur da ein friedfertiges Verhalten verlangen, wo es ohne Gefahr für das eigene Leben _____________ 74 75

EL: 86. Vgl. Hampton 1986: 66f.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

107

ausgeübt werden kann, die gewaltsame Auseinandersetzung nicht verhindern kann. Unter Hinweis auf die schon daraus resultierende Notwendigkeit präventiver Maßnahmen ließe sich von Hobbes zudem vertreten, dass die natürlichen Gesetze im Naturzustand nach und nach auch in einem umfassenderen Sinne ihre faktische Anwendbarkeit einbüßen. Bevor nach den Gründen gefragt werden soll, die Hobbes dazu bewogen haben mögen, die weitgehende faktische Wirkungslosigkeit der Einsicht in die natürlichen Gesetze stattdessen auf solche Eigenschaften der Menschen zurückzuführen, von denen er die ursprüngliche Herleitung des Kriegszustandes so deutlich bereinigt hat, muss aber zunächst der Frage nachgegangen werden, ob die Ausführungen in Kapitel XIII und die oben zitierten Ausführungen in Kapitel XVII wirklich, wie von Hampton behauptet, logisch nicht miteinander vereinbar sind. Hamptons Ausführungen legen nahe, dass bereits zwischen der Hobbes’schen Beschreibung der ersten beiden Konfliktursachen und seiner Erörterung der mit dem Begriff „glory“ bezeichneten dritten Konfliktursache ein solcher Widerspruch besteht.76 Meines Erachtens ist Hamptons diesbezügliche Position aber nicht überzeugend. Dass allein das rationale Streben nach Selbsterhaltung die Individuen im Naturzustand bereits in gewaltsame Konflikte treibt, ist ohne Weiteres mit der Annahme vereinbar, dass weitere Konflikte aus einem nicht von diesem Streben abgedeckten Bedürfnis nach Ruhm entstehen können. Es ist zwar richtig, dass Hobbes bei seiner Beschreibung der Konfliktursachen „competition“ und „diffidence“ das rationale Handeln der Individuen beschreibt und dass das gewaltsame Streben nach Ruhm unter Umständen als irrational begriffen werden kann, da es die Gefahr für das eigene Leben unnötig zu erhöhen scheint. Selbst wenn man dieser Bewertung des Ruhmstrebens zustimmen sollte, muss man Hobbes’ Darstellung jedoch nicht den Vorwurf der logischen Inkonsistenz machen. Wie oben betont worden ist, setzt Hobbes’ Rückführung der naturzuständlichen Konflikte auf das rationale Streben nach Selbsterhaltung keineswegs voraus, dass die Individuen im Naturzustand tatsächlich vollständig rational sind und vollständig rational agieren. Die Betonung der Konkurrenz um lebenswichtige Güter und der daraus resultierenden Notwendigkeit präventiver Gewalt soll lediglich zeigen, dass der Naturzustand sich selbst dann in einen Kriegszustand verwandeln würde, wenn alle Individuen vollständig rational wären, und sie soll Hobbes’ ‚civil science‘ auf diese Weise mit einer umfassenderen wissenschaftlichen Gültigkeit ausstatten. Dass Hobbes sich aber bezüglich des faktischen Handelns der Menschen keinerlei Illusionen macht und das Auftreten kontingenter Leidenschaften und fehlerhafter Urteile als unvermeidbaren Bestandteil des gesellschaftlichen Miteinanders begreift, wird an zahlreichen Stellen innerhalb des Leviathan hinreichend deut_____________ 76

Vgl. Hampton 1986: 61.

108

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

lich, und so widerspricht er seiner eigenen Position keineswegs, wenn er seine Theorie an einigen Stellen um entsprechende Annahmen ergänzt. Die Bezugnahme auf das rationale Streben nach Selbsterhaltung einerseits und das nur bedingt rationale Streben nach Ruhm und Anerkennung andererseits ist daher weniger Ausdruck eines logischen Widerspruchs innerhalb der Hobbes’schen Argumentation als vielmehr Ausdruck zweier verschiedener argumentativer Strategien. Im gleichen Sinne lässt sich nun auch die Betonung des menschlichen Strebens nach Vorrang in Kapitel XVII als Ausdruck von Hobbes’ persönlicher Sicht der menschlichen Natur lesen, die nicht auf einige basale unstrittige Annahmen über die menschliche Natur allein, sondern darüber hinaus auch auf die Geschichte und die persönliche Erfahrung gegründet ist und die etwa, wie von McNeilly vorgeschlagen, mit dem Begriff des ‚private view‘ bezeichnet werden könnte. Es bleibt damit aber zu fragen, warum Hobbes vor allem in Kapitel XVII in dieser Form von seiner ursprünglichen Strategie abweicht und seiner persönlichen Sichtweise des Menschen als eines zumindest in vielen Fällen nach Vorrang, Überlegenheit und Ruhm strebenden Individuums wieder Eingang in seine wissenschaftliche Argumentation gewährt, aus der er sie doch über weite Strecken des dreizehnten Kapitels offensichtlich bewusst verbannt hat. Eine mögliche Antwort auf diese Frage lässt sich entwickeln, wenn man sich die Konsequenzen vergegenwärtigt, die sich aus der Umgestaltung des ersten Naturzustandskapitels für Hobbes’ übergeordnetes Ziel der Begründung der Notwendigkeit absoluter souveräner Gewalt ergeben. Wenn sich der Krieg des Naturzustandes ursprünglich an der Konkurrenz um lebensnotwendige, aber nicht immer in ausreichender Menge vorhandene Güter entzündet, so muss die primäre Funktion und der primäre Nutzen des Staates darin bestehen, die Interessen der Individuen in einer Weise miteinander zu koordinieren, die die Erhaltung aller möglich macht und damit die Notwendigkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen grundsätzlich aufhebt. Landesman hat die berechtigte Frage aufgeworfen, ob der Staat angesichts der von Hobbes’ Argument vorausgesetzten Güterknappheit eine derartige Leistung überhaupt prinzipiell erbringen kann.77 In der Tat ließe sich das Dilemma des Hobbes’schen Naturzustandes auch durch die Etablierung politischer Strukturen überhaupt nicht überwinden, wenn die Menge der potenziell zur Verfügung stehenden Güter die allgemeine Nachfrage notwendig und ständig unterschreiten würde. Legt man aber unsere obige Erörterung der Voraussetzung der Güterknappheit zugrunde, so erscheint es durchaus möglich, dieser für Hobbes’ Theorie fatalen Konsequenz zu entgehen. Da Hobbes’ Argument, wie gesehen, nur voraussetzt, dass die Individuen von Zeit und Zeit in Situa_____________ 77

Vgl. Landesman 1989: 145f.

4.4 Die englische Fassung des Leviathan

109

tionen geraten werden, in denen sie mit anderen um lebenswichtige Güter streiten müssen, ließe sich das Eintreten kriegerischer Auseinandersetzungen wohl schon dadurch entscheidend verhindern, dass mit Hilfe der durch den Staat geschaffenen Strukturen die faktisch vorhandenen Güter geordneter und besser verteilt werden können, als dies im Naturzustand möglich ist. Schon auf diese Weise dürfte sich das Auftreten der oben beschriebenen Situationen auf ein Minimum reduzieren lassen. Zudem ließe sich die oben beschriebene Dialektik von Kriegshandlungen und Güterknappheit innerhalb der staatlichen Ordnung umkehren: Ist erst einmal durch den Staat und seine Organe eine gewisse Grundsicherheit geschaffen, so wird sich durch die damit möglichen Formen der Produktion und der Nutzung und Kultivierung vorhandener Ressourcen die Gesamtzahl der zur Verfügung stehenden Güter nachhaltig steigern lassen, bis die Notwendigkeit, sich zum Zwecke der eigenen Erhaltung in einen gewaltsamen Streit um Güter zu begeben, gänzlich aufgehoben ist. Der Staat wäre danach also durchaus prinzipiell in der Lage, den partiellen Mangel an Gütern und damit die primäre Ursache des ‚Krieges aller gegen alle‘ zu beseitigen. Die Frage, die sich nun aber stellt, ist die Frage, ob der staatliche Herrscher über absolute und unbeschränkte Macht verfügen muss, damit der Staat diese zentrale Aufgabe erfüllen kann, und es liegt ausgesprochen nahe, diese Frage zu verneinen. Indem Hobbes die Herleitung des Kriegszustand immer mehr von solchen Annahmen loszulösen versucht, die eine natürliche Bösartigkeit zumindest einiger Menschen nahelegen, läuft er folglich Gefahr, die entscheidende Behauptung seiner politischen Theorie, nämlich die Notwendigkeit absoluter Souveränität für den dauerhaften Frieden unter den Menschen, zu unterminieren. Dass Hobbes zu Beginn seiner Diskussion des Staates, in der er eben diese zentrale Behauptung präsentieren wird, wieder auf solche menschlichen Leidenschaften Bezug nimmt, die die Eintracht unter den Menschen dauerhaft in Frage zu stellen geeignet sind, kann daher darauf zurückgeführt werden, dass Hobbes die oben angedeutete Gefahr gesehen und die Notwendigkeit erkannt hat, seine in besonderem Maße um Voraussetzungslosigkeit bemühte wissenschaftliche Argumentation des dreizehnten Kapitels um eine auf die Erfahrung gegründete Beschreibung der wirklichen, der geschichtlich erfahrbaren Menschennatur zu ergänzen. Ein konsequentes Festhalten an der im dreizehnten Kapitel verfolgten Strategie hätte Hobbes zudem eventuell dazu gezwungen, das in Kapitel XIII eher angedeutete als ausgeführte Problem der Güterknappheit eingehender zu beschreiben, und es ist denkbar, dass Hobbes das damit verbundene Eingeständnis der Prämisse der partiellen Güterknappheit vermeiden wollte oder dass er über die genaue Rolle dieser Prämisse innerhalb seines Argumentes selbst noch keine hinreichende Klarheit gewonnen hatte.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Eine andere Möglichkeit, die Hobbes’schen Verweise auf das menschliche Streben nach Vorrang und Ehre zu erklären, lässt sich aus dem konkreten Kontext ableiten, in dem sich diese Verweise befinden. Wie oben deutlich geworden ist, finden sich diejenigen Aussagen, die der Argumentation von Kapitel XIII am deutlichsten zu widersprechen scheinen, in Hobbes’ Erörterung der naturzuständlichen Verteidigungsbündnisse sowie in seiner Gegenüberstellung von menschlichen Gemeinschaften und Tiergemeinschaften. Die Diskussion der naturzuständlichen Verteidigungsbündnisse geht nun aber prinzipiell von der Voraussetzung aus, dass es diese Verteidigungsbündnisse und die ihnen zugrundeliegenden ‚covenants‘ nicht nur geben kann, sondern zumindest von Zeit zu Zeit auch geben wird. Dass es Hobbes’ Darstellung zufolge innerhalb des Naturzustandes gültige Verträge geben kann und geben wird, ist oben bereits eingehend besprochen worden. Auch die Autoren, die die betreffende Tatsache ausdrücklich hervorheben, sind sich aber darin einig, dass es angesichts der ständigen Bedrohungen und angesichts der Unsicherheit, ob die jeweils andere Partei den Vertrag auch erfüllen wird, im Naturzustand nur ausgesprochen selten wirklich zum faktischen Abschluss von Verträgen kommen wird. Mit dem gleichen Recht ließe sich nun aber behaupten, dass es sich auch beim in Kapitel XVII beschriebenen Fall eines relativ umfassenden Verteidigungsbündnisses um eine eher theoretische Möglichkeit handelt. Da schon das Streben nach Selbsterhaltung die Individuen immer wieder in Konkurrenz miteinander führt, kann von einem häufigen Auftreten derartiger Zusammenschlüsse kaum ausgegangen werden. Das aber hieße, dass Hobbes sich in Kapitel XVII vorrangig mit dem ausgesprochenen seltenen Fall auseinanderzusetzen versucht, in dem die von ihm in Kapitel XIII beschriebenen Konfliktursachen eine Kooperation zwischen den Individuen nicht vollständig haben verhindern können. Es liegt dann aber auf der Hand, dass Hobbes, um den dauerhaften Erfolg solcher Kooperationen wirksam in Frage stellen können, nicht erneut auf die schon beschriebenen Konfliktursachen verweisen kann, sondern auf ergänzende Ursachen zurückgreifen muss wie auf das verbreitete Streben nach Vorrang und Ehre. Im Hinblick auf den Vergleich der menschlichen Verteidigungsbündnisse mit den Gemeinschaften der Bienen oder Ameisen lässt sich zudem betonen, dass Hobbes’ Ausführungen hier offensichtlich einen etwas allgemeineren Charakter aufweisen, d.h. er spricht nicht nur über das konkrete Problem des Zusammenhalts innerhalb eines Verteidigungsbündnisses, sondern immer auch über die allgemeinen Unterschiede zwischen menschlichen und tierischen Gemeinschaften und zwischen Menschen und Tieren, und so verwundert es nicht, dass seine teilweise pessimistischen Ansichten über das Wesen oder die Natur des Menschen, auf die er in seiner ursprünglichen Herleitung des Kriegszustandes durchaus verzichten konnte, an dieser Stelle in seine Ausführungen einfließen.

4.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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Selbst wenn man sich den hier vorgeschlagenen und naturgemäß etwas spekulativen Erklärungen anschließen sollte, erscheint es aber grundsätzlich angemessen, mit Blick auf Hobbes’ Argumentation im englischen Leviathan zwischen einem „rationality account of conflict“ und einem „passions account of conflict“ zu unterscheiden. Gegenüber Hampton ist dabei aber zu betonen, dass die Darstellungen nicht, wie von Hampton suggeriert, in logischem Widerspruch zueinander stehen, sondern dass es sich bei ihnen lediglich um zwei voneinander verschiedene argumentative Strategien handelt. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der „passions account of conflict“ als sekundäre Strategie anzusehen ist und ihm bei der Herleitung des Kriegszustandes lediglich eine ergänzende Funktion zukommt.

4.5 Die lateinische Fassung des Leviathan 4.5.1 Die Ursachen des naturzuständlichen Konflikts Die Herleitung des Kriegszustandes in der lateinischen Fassung des Leviathan zeigt nur geringfügige Änderungen gegenüber der englischen Fassung. Diese Abweichungen verdienen aber durchaus eine eingehendere Betrachtung, und zwar zum Teil, weil sie als Folge und Ausdruck der spezifischen historischen Begleitumstände der lateinischen Ausgabe gelten können, und zum Teil, weil sie über eine gewisse Relevanz für die oben mit Bezug auf die englische Fassung aufgezeigte Entwicklung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie verfügen. Zunächst lässt sich festhalten, dass sich im lateinischen Leviathan eine Reihe religiöser Anspielungen finden, die so nicht in der früheren englischen Ausgabe des Leviathan enthalten sind. Die erste dieser Anspielungen ist bereits Teil der Überschrift des dreizehnten Kapitels. Während das entsprechende Kapitel der englischen Fassung die Überschrift trägt „Of the Naturall Condition of Mankind, as concerning their Felicity, and Misery“, lautet der Titel in der lateinischen Fassung „De Conditione generis Humani quantùm attinet ad felicitatem praesentis vitae“. Hobbes schließt also einerseits das ‚Elend‘ des Naturzustandes, das er zu beschreiben im Begriff ist, von der Überschrift des Kapitels aus; auf der anderen Seite betont er nun ausdrücklich, dass seine Beschreibung sich auf die irdische Existenz des Menschen beschränkt. Eine zweite Änderung, die direkt mit der christlichen Überlieferung in Verbindung steht, findet sich in Hobbes’ Erörterung der Historizität des Naturzustandes. Wie oben bereits angemerkt, nimmt Hobbes in der lateinischen Fassung des Leviathan die biblische Geschichte von Kain und Abel in seine Liste von empirischen Manifestationen des Naturzustandes auf, und im Zuge dessen erhält seine Erwiderung auf den Einwand, es habe in der menschlichen Geschichte

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

nie einen Naturzustand gegeben, eine neue Entschiedenheit. Während Hobbes’ Auflistung der empirischen Beispiele im englischen Leviathan mit dem Eingeständnis beginnt, der Naturzustand habe wohl kaum überall auf der Welt geherrscht, so beginnt sie jetzt mit einem polemischen Ausruf, der das folgende Beispiel von Kain und Abel als Beispiel des Naturzustandes erscheinen lässt, dessen Beweiskraft kein vernünftiger Mensch überhaupt bestreiten könnte. Sed omnium in omnes (inquiet aliquis) Bellum nunquam erat. Quid, nonne fratrem suam Abelem invidiâ interfecit Cain, tantum facinus non ausurus, si communis potentia quae vindicare potuisset, tunc extitisset?78

Stellt man nun diese Veränderungen der Naturzustandslehre in den Zusammenhang der Merkmale, die die lateinische Fassung des Leviathan am deutlichsten von der englischen Fassung unterscheiden, nämlich in den Kontext der drei Appendizes mit den Titeln „De Symbolo Niceno“, „De Haeresi“ and „De quibusdam Objectionibus contra Leviathan“, so kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass beide Veränderungen ihren Ursprung in Hobbes’ Interesse haben, die zwei Jahre vor der Veröffentlichung des lateinischen Leviathan in besonders nachhaltiger Form erhobenen Vorwürfe des Atheismus und der Ketzerei zu entkräften.79 Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Tuck die Hinzufügung des Verweises auf Kain und Abel kürzlich ganz anders, nämlich mit dem Hinweis auf Hobbes’ Korrespondenz mit einem französischen Bewunderer, zu erklären versucht hat,80 und es muss zudem ganz grundsätzlich betont werden, dass die beiden Modifikationen für sich allein genommen selbstverständlich nur einen äußerst schwachen Beitrag dazu leisten konnten, die Hobbes’sche Lehre als nicht ketzerisch und als mit den grundlegenden religiösen Überzeugungen seiner Zeit vereinbar auszuweisen. Ein Unterschied zwischen den beiden Fassungen des Leviathan, der von direkter Relevanz für die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ ist, findet sich in Hobbes’ Beschreibung der ersten Konfliktursache. Wie oben angemerkt worden ist, gibt Hobbes im Rahmen seiner Diskussion der Konkurrenz um Güter im dreizehnten Kapitel des englischen Leviathan keinen eindeutigen Hinweis mehr, dass einige der in diese Konkurrenz und die daraus folgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen involvierten Individuen prinzipiell an mehr als an der eigenen Erhaltung interessiert sein könnten. Die einzige Wendung, die an dieser Stelle noch auf die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ‚eitlen‘ und ‚bescheidenen‘ Individuen zu verweisen schien, war der _____________ 78 79 80

LL: 65. Vgl. auch Hoekstra 2007: 111f. Vgl. Tuck 1996a: XXIXf.

4.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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Einschub „which is principally their conservation, and sometimes their delectation only“. Der zweite Teil dieses Einschubs, der den ansonsten vorherrschenden Eindruck, der gewaltsame Streit um Güter folge allein aus dem rationalen Streben nach Selbsterhaltung, ein wenig zu stören und in Frage zu stellen schien, ist nun in der lateinischen Fassung gestrichen, so dass die Selbsterhaltung konsequent als das einzige Ziel erscheint, dass die Streitenden umtreibt. Ab aequalitate Naturae, oritur unicuique ea quae cupit acquirendi spes. Quoties ergo duo idem cupiunt, quo frui ambo non possunt, alter alterius hostis fit, & ad finem sibi propositum (quae est conservatio propria) alter alterum conatur subjugare vel interficere.81

Zu erwähnen ist zudem, dass Hobbes durch die Verwendung des lateinischen „Quoties“, das an die Stelle des englischen „if“ tritt, noch eindeutiger als im englischen Leviathan hervorhebt, dass es im Zuge des individuellen Strebens nach Selbsterhaltung von Zeit zu Zeit zwangsläufig zu der von ihm beschriebenen Konkurrenz um lebenswichtige Güter und den daraus resultierenden gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen wird. Dies führt im Übrigen auch dazu, dass McNeillys Sichtweise, nach der die Herleitung des Kriegszustandes im Leviathan prinzipiell einen hypothetischen Charakter aufweist und Hobbes die Notwendigkeit präventiver Gewalt nicht so sehr aus dem faktischen Auftreten von Gewalthandlungen, sondern vielmehr aus deren Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit ableitet, mit Blick auf den lateinischen Leviathan noch weniger aufrechtzuerhalten ist als mit Blick auf die englische Fassung. Es trifft zu, dass diese Veränderungen für sich allein genommen keine wirklich hinreichende Grundlage für die Behauptung liefern, Hobbes habe in der lateinischen Fassung des Leviathan die Verbindung zwischen dem rationalen Streben der Menschen nach Selbsterhaltung und dem allgemeinen Kriegszustand weiter zu festigen und die Bedeutung der Eitelkeit oder anderer menschlicher Leidenschaften weiter zu verringern gesucht. Dies gilt insbesondere, wenn man die in Kapitel 2.4 angedeutete Problematik in Betracht zieht, die sich aus der möglichen Existenz eines lateinischen ‚Proto-Leviathan‘ ergibt. Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass die oben hervorgehobene Modifikationen insgesamt die einzigen Veränderungen dieser Art darstellen und dass sich im Rahmen der anschließenden Betonung der Notwendigkeit präventiver Gewalt zwei Abweichungen finden, durch welche die Bedeutung der Leidenschaften und des Strebens nach Vorrang vor anderen eher wieder stärker betont wird. Hobbes nimmt in der betreffenden Passage nicht nur nach wie vor eine Unterscheidung zwischen ‚moderates‘ und ‚dominators‘ _____________ 81

LL: 63.

114

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

vor, sondern er scheint die Existenz der ‚dominators‘ nun als den eigentlichen Grund für die allgemeine Furcht und das allgemeine Misstrauen präsentieren zu wollen. In tanto, & mutuo hominum metu, securitatis viam meliorem habet nemo Anticipatione; nempe ut unusquisque vi & dolo ceteros omnes tamdiu subjicere sibi conetur, quàm diu alios esse, à quibus sibi cavendum esset viderit. Neque hoc majus est, quam & conservatio sua postulat, & ab omnibus concedi solet. Quoniam enim sunt, qui animi & gloriae causâ universum terrarum orbem superare vellent, nisi alii (alioqui modicis contenti finibus) potentiam suam alios invadendo augerent, sed tantummodo se & sua defendere conarentur, subsistere diu non possent.82

Hatte Hobbes die Existenz der ‚dominators‘ in der englischen Fassung eher beiläufig als zusätzlichen Grund für die Notwendigkeit vorbeugender Gewalt angeführt und bei der Charakterisierung des Verhaltens dieser Individuen auch noch einmal indirekt auf den prinzipiellen und notwendigen Zusammenhang zwischen dem Selbsterhaltungsstreben und der Entstehung gewaltsamer Auseinandersetzungen um gewisse Güter hingewiesen („Also because there be some, that taking pleasure in contemplating their own power in the acts of conquest, which they pursue farther than their security requires“83), so bindet er schon durch die Ersetzung des englischen „Also“ durch das lateinische „Quoniam“ die Notwendigkeit präventiver Gewalt nun vordergründig an die im folgenden beschriebenen Handlungsweisen der ‚dominators‘, deren Maßlosigkeit er sprachlich auch nachdrücklicher hervorhebt als zuvor („qui animi & gloriae causâ universum terrarum orbem superare vellent“). Zudem verzichtet er darauf, die Tatsache noch einmal eigens zu betonen, dass sich die ‚moderates‘ auch unabhängig vom Verhalten der ‚dominators‘ in „acts of conquest“ ergehen werden und ergehen müssen. Wenn aber der Gebrauch des einleitenden „Quoniam“ der Existenz der ‚dominators‘ an dieser Stelle auch eine direktere Bedeutung für das Entstehen der allgemeinen Furcht und der daraus resultierenden Anwendung präventiver Gewalt zuschreiben mag, so bleibt doch festzuhalten, dass die ursprüngliche Ursache der naturzuständlichen Gewalt auch in der lateinischen Fassung des Leviathan eindeutig in der unvermeidbaren Konkurrenz um lebensnotwendige Güter besteht und von der Existenz der ‚dominators‘ daher logisch unabhängig ist. Das macht schon die oben beschriebene Umgestaltung des vorangegangenen Abschnitts deutlich, die ja diese Tatsache noch wesentlich deutlicher hervorhebt. Da aber zumindest die Herleitung des allgemeinen Misstrauens durch die zuletzt beschriebenen Abweichungen eine deutliche Akzentverschiebung erfährt, wäre die Behauptung einer konsequenten Wei_____________ 82 83

LL: 64. EL: 61. (Hervorh. v. mir)

4.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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terführung der Entwicklung des Hobbes’schen Argumentes im lateinischen Leviathan insgesamt problematisch. Hinzu kommt, dass die Beschreibung der dritten Konfliktursache, die in direkter Anlehnung an die englische Fassung mit dem Begriff „gloria“84 bezeichnet wird, in der lateinischen Fassung ihren festen Platz behauptet. Praeterea, in Congressibus, ubi potentia nulla est quae omnes coercere possit, voluptas nulla, sed contra Molestia per Naturam esset. Unusquisque enim tanti à caeteris fieri vellet, quanti ipse sese aestimat, & ad signum omne neglectionis conatur quantùm audet (id est ubi nulla extat potentia communis) quantùm ad mutuas caedes sufficit, ulcisci; scilicet, ut alteri ab alteris majorem sui aestimationem à spectantibus exemplo ultionis extorqueant.85

Entsprechend werden in Hobbes’ anschließendem Fazit die gleichen drei Konfliktursachen angeführt, die schon im Mittelpunkt der betreffenden Passage des englischen Textes gestanden hatten. Itaque in Naturâ humanâ simultatum inveniuntur tres praecipuae causae, Competitio, Defensio, Gloria; quarum prima ad Dominium, secunda ad Securitatem, tertia ad Famam spectat. A primâ est, quod de Lucro; à secundâ, quod de Salute; à tertiâ, quod de Nugis pugnetur; nimirum de Verbo, de Risu, de Opinione, de omni signo, Parvipendii, sive Ipsorum, sive Cognatorum, Amicorum, Patriae, Professionis vel Nominis.86

4.5.2 Der Kriegszustand und der Gehorsam gegenüber den natürlichen Gesetzen Dass Hobbes auch im dreizehnten Kapitel des lateinischen Leviathan das Streben nach Ehre als dritte Ursache der naturzuständlichen Konflikte anführt, zeigt bereits, dass auch der lateinische Text grundsätzlich durch das oben diskutierte Nebeneinander von „rationality account of conflict“ und „passions account of conflict“ gekennzeichnet ist. Zudem zeigen auch die oben eingehend erörterten Ausführungen des siebzehnten Kapitels keine relevante Distanzierung von den als mehr oder minder irrational zu bezeichnenden Konfliktursachen. Hobbes führt anfänglich wie im englischen Text das Elend des Naturzustandes auf die menschlichen Leidenschaften zurück („quae conditio Libertati naturali (propter passiones humanas) necessariò [...] adhaeret“87), und er führt die Leidenschaften auch nach wie vor ins Feld, um zu begründen, warum im Naturzustand nicht von einer allgemeinen Befolgung der _____________ 84 85 86 87

LL: 64. LL: 64. LL: 64. LL: 83.

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

natürlichen Gesetze ausgegangen werden kann, wobei er in ähnlicher Weise wie zuvor auf einige bestimmte menschliche Leidenschaften Bezug nimmt. Leges enim naturae (ut Iustitia, Aequitas &c.) & uno verbo, Facere aliis quod fieri vellemus nobis, absque metu Potentiae coactivae, passionibus naturalibus (quales sunt Ira, Superbia, Cupiditasque, omnis) contrarie sunt.88

Auch im später folgenden Vergleich der Menschen mit den staatenbildenden Tieren verweist Hobbes in praktisch unveränderter Weise auf das menschliche Streben nach Ehre und Vorrang. Ad hoc respondeo. Primò, Quod homines inter se de Honoribus & Dignitate perpetuò contendunt; sed Animalia illa non item. Itaque inter homines Invidia, Odium, Bellum, propter eam (inter alias) causam saepe nascitur; inter illa rarissimè.89

Das mit Blick auf den englischen Leviathan konstatierte Nebeneinander zweier argumentativer Strategien zur Begründung des naturzuständlichen Krieges und der Notwendigkeit des staatlichen Zustandes bestimmt daher auch die letzte autorisierte Fassung der Hobbes’schen Theorie, wobei aber erneut kein Grund besteht, deshalb einen wirklichen Widerspruch innerhalb der Hobbes’schen Argumentation zu behaupten.

4.6 Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der abschließenden Untersuchung des lateinischen Leviathan kann unsere vergleichende Analyse der verschiedenen Fassungen von Hobbes’ Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes in der folgenden Weise zusammengefasst werden: Hobbes’ Beschreibung der verschiedenen Ursachen des Konfliktes im Naturzustand erfährt zwischen der ersten Formulierung in den Elements of Law im Jahr 1640 und der letzten Formulierung in der lateinischen Fassung des Leviathan im Jahr 1668 eine signifikante Entwicklung, und diese Entwicklung, die schon zur Zeit des englischen Leviathan weitestgehend abgeschlossen ist, ist in weiten Teilen eine Entwicklung zum Besseren. Hobbes’ Argumentation im ersten Naturzustandskapitel, die in den Elements noch in einer ganzen Reihe von Punkten unklar und zumindest zum Teil inkohärent ist, gewinnt in De Cive an Klarheit und hat zur Zeit des englischen Leviathan nahezu ihre gesamte Doppeldeutigkeit und Inkohärenz verloren. Zudem lässt sich festhalten, dass die Notwendigkeit präventiver Gewalt, _____________ 88 89

LL: 83. LL: 84.

4.6 Zusammenfassung

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die sowohl in den Elements als auch in De Cive als eine Art stillschweigender Voraussetzung des Argumentes fungiert, aber erst explizit eingestanden wird, nachdem die Herleitung des Kriegszustandes bereits abgeschlossen ist, im Leviathan ihren angemessenen Platz zugewiesen bekommt und ihrer eigentlichen Bedeutung gemäß herausgestellt wird. Über diese Modifikationen in der Präsentation der Argumentation hinaus verändert Hobbes’ Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ aber zwischen 1640 und 1668 auch ihren logischen Charakter. Während der Kriegszustand in den Elements von Hobbes sehr stark als Ergebnis menschlicher Irrationalität und kontingenter menschlicher Leidenschaften beschrieben wird, was seinen Ausdruck in der prominenten Rolle der sogenannten ‚eitlen‘ Individuen findet, gewinnt in der Folgezeit die Konkurrenz um notwendige Güter und die Anwendung präventiver Gewalt und damit das rationale individuelle Streben nach Selbsterhaltung immer mehr an Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die beiden Fassungen des Leviathan, in denen der Existenz ‚eitler‘ Individuen keine essentielle Bedeutung für die ursprüngliche Entstehung des ‚Krieges aller gegen alle‘ mehr zugestanden wird. Angesichts dieser Ergebnisse erscheint die Sichtweise, die Grundstruktur der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ bleibe in allen Werken von Hobbes nahezu gleich und es fänden sich lediglich Verschiebungen in der äußeren Präsentation dieser Herleitung, eine Sichtweise, die mit unterschiedlichen Akzenten von Strauss, Sorell oder Esfeld vertreten worden ist, als deutlich unangemessen. Die Hinweise und Analyseergebnisse McNeillys, Wolfs, Tricauds und Martinichs erfahren dagegen eine eindeutige Bestätigung, wenn auch von keiner dieser Studien gesagt werden kann, dass sie alle relevanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Herleitungen des Kriegszustandes erfasst. Dies gelingt den genannten Studien vor allem deshalb nicht, weil keine der Studien hinreichend genau zwischen der Sphäre der menschlichen Interessen und der Sphäre der menschlichen Urteile unterscheidet, weil keine der Studien das Problem der Güterknappheit angemessen und vor dem Hintergrund der veränderten Kriegsherleitung diskutiert und weil keine der Studien auf die – zugegebenerweise sehr begrenzten – Unterschiede zwischen den beiden Fassungen des Leviathan eingeht. Aus meiner Sicht liefert die Analyse des englischen Leviathan keine Unterstützung für Strauss’ Behauptung, die Akzentverschiebung zwischen den Elements und De Cive auf der einen und dem Leviathan auf der anderen Seite sei nur eine scheinbare, und die Eitelkeit des Menschen bilde im Leviathan ebenso eine logische Voraussetzung des Arguments wie in den Elements. Die entscheidende Grundlage für die Strauss’sche Behauptung ist seine Interpretation von Kapitel XI des Leviathan, in dem Hobbes den Menschen ein unaufhörliches Streben nach Macht zuschreibt. Laut Strauss ist dieses fortwährende Streben nach „Power after power“ logisch von dem ‚eitlen‘ Bedürfnis nach

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4. Die Herleitung des ‚state of war‘

Vorrang vor anderen abhängig, das folglich eine uneingestandene Prämisse des Argumentes von Kapitel XIII darstelle. Strauss’ Analyse von Kapitel XI vernachlässigt aber deutlich Hobbes’ ausdrücklichen Hinweis, dass selbst jene Menschen nach immer mehr Macht streben müssen, die eigentlich mit begrenzter Macht zufrieden wären, und sie vernachlässigt ebenso die Tatsache, dass Hobbes das unaufhörliche Streben nach Macht nicht auf interne, sondern auf externe Faktoren zurückführt. Während Hobbes in vergleichbaren Passagen in den Elements und De Homine, dem zweiten Teil der Elementa Philosophica, das Fehlen eines finis ultimus und die Notwendigkeit des Fortschreitens von einem Gut zum nächsten mit der gleichsam psychologischen Feststellung begründet, das menschliche Leben müsse automatisch zu seinem Ende kommen, sobald ein Mensch über keine Bedürfnisse und Wünsche mehr verfüge,90 bezieht er sich im Leviathan auf die empirische Annahme, die Menschen seien faktisch dazu gezwungen, immer mehr Güter und andere Formen von Macht anzusammeln, um ihr zukünftiges Überleben sicherstellen zu können. Die Erörterung des Strebens nach immer mehr Macht in Kapitel XI des Leviathan ist folglich losgelöst von dem Problem der menschlichen Eitelkeit oder anderer kontingenter menschlicher Leidenschaften, und genau aus diesem Grund stützt sich Strauss bei dem Versuch, Belege für seine Interpretation von Kapitel XI anzuführen, nicht auf das Kapitel selbst, sondern unangemessenerweise auf Hobbes’ spätere Diskussion der Notwendigkeit präventiver Gewalt in Kapitel XIII. Wenn im Rahmen der obigen Diskussion der Hobbes’schen Herleitung des Kriegszustandes auch nicht auf spieltheoretische Methoden zurückgegriffen worden ist, so lässt sich doch ergänzen, dass unsere Analyse des Leviathan eine gewisse Unterstützung der Interpretation Jean Hamptons erbracht hat, nach der Hobbes im Leviathan zwei voneinander unterschiedene Herleitungen des allgemeinen Krieges entwickelt. Es muss aber festgehalten werden, dass Hobbes den ‚Krieg aller gegen alle‘ letztlich in allen seinen Werken sowohl auf das rationale Streben nach Selbsterhaltung als auch auf mehr oder minder kontingente menschliche Leidenschaften zurückführt und dass in keinem dieser Werke die verschiedenen Konfliktursachen in einem logischen Widerspruch miteinander stehen. Will man die oben beschriebene Akzentverschiebung in Hobbes’ Herleitung des Kriegszustandes einer eingehenderen Bewertung unterziehen, so lässt sich zunächst einmal betonen, dass die zunehmende Vernachlässigung der Konfliktursachen Eitelkeit und Selbstüberschätzung Hobbes’ Argumentation mehr und mehr von seinen starken anthropologischen Voraussetzungen befreien. Während die Argumentation der Elements sehr stark von der Tatsache abhängt, dass einige Individuen über ein natürliches Bedürfnis verfügen, _____________ 90

Vgl. E: 30; und DH: 66.

4.6 Zusammenfassung

119

andere Individuen zu unterdrücken und zu beherrschen, geht die Herleitung des Krieges im Leviathan über weite Strecken lediglich von der deutlich bescheideneren Annahme aus, die Individuen im Naturzustand besäßen ein starkes Interesse an der Erhaltung des eigenen Lebens. Auf der anderen Seite wird Hobbes’ Theorie jedoch um eine Annahme ergänzt, nämlich um die Annahme, das rationale Streben nach Selbsterhaltung zwinge alle Individuen dazu, nach immer mehr Macht zu streben und letztlich andere Individuen anzugreifen, um sich zum Herren über deren Leben und Besitztümer zu machen. In den Elements erscheint die Konkurrenz um Güter noch als ein Vorkommnis, das sich von Zeit zu Zeit einstellen wird; in De Cive wird bereits behauptet, der Wettbewerb um Güter entfache die meisten der naturzuständlichen Konflikte; und im Leviathan vermittelt Hobbes den Eindruck, der gewaltsame Streit um Güter stelle ein unweigerliches Merkmal des Lebens im Naturzustand dar. In dieser zentralen Bedeutung, die der Konkurrenz um Güter im Leviathan zukommt, liegt der Grund dafür, dass zahlreiche Interpreten in der Vergangenheit kritisiert haben, die Annahme einer prinzipiellen Güterknappheit fungiere als uneingestandene Voraussetzung des Hobbes’schen Naturzustandsarguments. Die Ergebnisse der obigen Analyse zeigen jedoch, dass hinsichtlich des Problems der Güterknappheit konsequenter zwischen den verschiedenen Fassungen von Hobbes’ Theorie unterschieden werden muss, als dies bislang geschehen ist. Mit Blick auf die Elements lässt sich der obige Vorwurf kaum aufrechterhalten. Die Behauptung, die Individuen im Naturzustand würden von Zeit zu Zeit ein- und dasselbe Gut begehren, hängt schwerlich von der Annahme ab, die Gesamtmenge der Güter reiche prinzipiell nicht aus, um die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Dies trifft in besonderer Weise zu, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass einige der ‚eitlen‘ und ‚maßlosen‘ Individuen sich mitunter vielleicht gerade deshalb für ein bestimmtes Gut interessieren könnten, weil jemand anderes daran interessiert ist und daher die Gelegenheit gegeben ist, die eigene Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Im Falle des Leviathan ist der Hinweis auf die Voraussetzung der Güterknappheit dagegen nicht gänzlich unberechtigt. Man kann in der Tat die Auffassung vertreten, dass Hobbes, um seine Betonung der Konkurrenz um Güter in der gegebenen Form aufrechterhalten zu können, die Annahme vertreten muss, die Zahl der im Naturzustand insgesamt zur Verfügung stehenden Güter sei zu gering, um die dauerhafte Erhaltung aller Individuen zu ermöglichen, zumindest so lange nicht durch die Etablierung bestimmter politischer Strukturen und einer gewissen Grundsicherheit die Grundlage geschaffen ist, um die Verteilung der vorhandenen Güter besser zu organisieren und darüber hinaus bestimmte Formen der Kultur und der Arbeit zu entwickeln, mit deren Hilfe die Zahl der zur Verfügung stehenden Güter nachhaltig vergrößert werden kann. Gerade wenn man von einem dialektischen Verhältnis zwischen der Anzahl der ver-

120

4. Die Herleitung des ‚state of war‘

fügbaren Güter und dem Auftreten gewaltsamer Konflikte ausgeht, handelt es sich bei der entsprechenden Annahme aber um eine, die durchaus zu rechtfertigen ist und mit der folglich auch keine nennenswerte Schwächung der Hobbes’schen Argumentation verbunden ist. Durch die Überarbeitungen, denen Hobbes seine Herleitung des Kriegszustandes zwischen 1640 und 1668 unterwirft, gewinnt also seine Argumentation eine gewisse Unabhängigkeit von den zuvor starken anthropologischen Annahmen und wird zugleich in zunehmendem Maße von der mehr oder minder uneingestandenen Prämisse der partiellen Güterknappheit abhängig. Hierin mag der Grund zu sehen sein, warum Hobbes im Leviathan das Fehlen bestimmter Formen der menschlichen Kultur in einer Weise als charakteristisches Merkmal des Naturzustandes herausstellt, die in seinen früheren Werken keine Entsprechung hat. Da die betreffende Prämisse aber mit ein wenig Aufwand in Hobbes’ Sinne gerechtfertigt werden kann, kann man die Modifikationen der Herleitung des Kriegszustandes im englischen und im lateinischen Leviathan mit Blick auf die Schlagkraft des logischen Argumentes als Verbesserung gegenüber den früheren Versionen begreifen. Ihr entscheidendes Problem besteht jedoch darin, dass sie zwar eine stärkere Rechtfertigung für die Notwendigkeit des Staates als solchem, aber eine schwächere Rechtfertigung für die Notwendigkeit absoluter Souveränität liefert und daher im Sinne des Anliegens der Hobbes’schen Staatsphilosophie weiterhin auf die Ergänzung durch einige der bereits in den früheren Werken gemachten Annahmen über die menschliche Natur angewiesen ist.

5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘ 5.1 Einleitung Die Lehre vom natürlichen Recht ist schon von Hobbes’ Zeitgenossen als derjenige Teil der Hobbes’schen Theorie begriffen worden, in dem in besonders radikaler Weise ein Bruch mit der staats- und moralphilosophischen Tradition vollzogen wird und in dem die Hobbes’sche Theorie des Naturzustandes ihre eigentümliche Prägung erfährt. Die Besonderheit der Hobbes’schen Lehre besteht dabei nicht so sehr in der Rückbindung des Naturrechts an den empirischen Zweck der Selbsterhaltung, sondern darin, dass Hobbes dieses natürliche Recht auf Selbsterhaltung letztlich als ein ‚Recht aller auf alles‘ bestimmt und damit den Naturzustand zu einem Zustand macht, in dem alle Handlungen erlaubt und keine moralischen Unterscheidungen mehr möglich scheinen, eine Tatsache, die Autoren wie Otto von Gierke zu der Einschätzung veranlasst hat, Hobbes habe „auf dem Boden und mit dem Rüstzeug des Naturrechts selber das Naturrecht zu sprengen“1 versucht. Wenn der Hobbes’schen Naturrechtslehre vor diesem Hintergrund aber auch eine besondere Bedeutung für Hobbes’ fragwürdigen Ruhm als ‚monster of Malmesbury‘ und für die bis heute andauernden negativen Reaktionen auf die Hobbes’sche Theorie zugesprochen werden kann, so hat doch die Hobbes-Forschung der Begründung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung und der Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ bei weitem nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die etwa der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen zuteil geworden ist. Gerade durch die lang anhaltenden Debatten um den Status und die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze ist allerdings in den letzten Jahrzehnten nach und nach auch der Lehre vom natürlichen Recht etwas mehr Beachtung geschenkt worden. Die Kritik, die Gehrmann 1975 bezüglich der allgemeinen Vernachlässigung der Naturrechtslehre zurecht geäußert hat,2 kann aber ohne Zweifel auch heute noch eine gewisse Gültigkeit beanspruchen. _____________ 1 2

von Gierke 1958: 300. Vgl. Gehrmann 1975: 195f.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Dass es sich bei der etwas verstärkten Diskussion des Hobbes’schen Naturrechts um eine Folge der durch Taylor und Warrender angestoßenen Debatte um die Hobbes’schen Naturgesetze handelt, zeigt sich daran, dass praktisch alle Aspekte, die bislang im Rahmen dieser Diskussion des natürlichen Rechts eine Rolle gespielt haben, in direkter oder indirekter Verbindung mit der Frage nach der angemessenen Interpretation der natürlichen Gesetze stehen. In besonderer Weise gilt dies für die Frage nach dem Umfang des natürlichen Rechts, bei der es sich ohne Zweifel um die insgesamt am ausführlichsten erörterte Frage handelt. Während das Hobbes’sche ‚Recht auf alles‘ traditionell zumeist im eigentlichen Wortsinne als Recht auf alles, d.h. als Recht auf jede nur erdenkliche Handlung und jedes nur erdenkliche Gut, und der Naturzustand folglich als ‚state of licence‘3 verstanden worden ist, hat Warrender in seiner Studie zur Hobbes’schen Verpflichtungstheorie nachdrücklich die Auffassung vertreten, das natürliche ‚Recht auf alles‘ sei, seinem Namen zum Trotz, auch im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ prinzipiell durch die natürlichen Gesetze begrenzt.4 Das natürliche Recht des Einzelnen ist danach insofern limitiert, als es immer nur solche Handlungen rechtfertigt, von denen der Handelnde aufrichtig glaubt, dass sie konkret zu seiner Erhaltung notwendig sind. Nach Warrender gibt es zudem Handlungen, die Hobbes’ Darstellung zufolge grundsätzlich verboten sind, da sie in keinem erdenklichen Fall als Mittel zur Erhaltung des eigenen Lebens in Frage kommen können. Wie Warrender in ausdrücklicher Abgrenzung zur traditionellen Interpretation betont, handle es sich folglich beim Hobbes’schen Naturzustand keinesfalls prinzipiell um ein moralisch-rechtliches Vakuum, in dem jedes Individuum so handeln könne, wie es ihm beliebe. Der Einfluss der Warrender’schen Diskussion des ‚Rechts auf alles‘ kann, wie der Einfluss seiner Analyse des Hobbes’schen Naturrechts überhaupt, kaum hoch genug eingeschätzt werden. Zwar finden sich auch im Anschluss an Warrender noch Autoren, die – wie etwa Gauthier, Wergen, Herbert und Esfeld – angesichts der spezifischen Bedingungen des Naturzustandes die Unbeschränktheit des natürlichen Rechts behaupten oder dies – wie Ludwig – zumindest mit Blick auf den englischen Leviathan tun.5 Die meisten Autoren haben sich in der Folgezeit aber Warrenders These einer Begrenzung des natürlichen Rechts durch das subjektive Vernunfturteil des Handelnden grundsätzlich angeschlossen, darunter auch solche Autoren, die – wie etwa Goldsmith, Kavka, Boonin-Vail oder Malcolm – Warrenders Interpretation _____________ 3

4 5

Vgl. Lockes Ausführungen in den „Two Treatises of Government“ (TT: 270f.); sowie Filmers tendenziöse Charakterisierung des Begriffs der natürlichen Freiheit, auf die diese gemünzt sind (Filmer 1991b: 275). Vgl. Warrender 1961: 59-61. Vgl. Gauthier 1969: 50-52; Gauthier 1979: 551; Wergen 1984: 59f.; Herbert 1987: 182; und Ludwig 1998: 275f.

5.1 Einleitung

123

der natürlichen Gesetze als im strengen Sinne moralisch verbindliche Befehle Gottes ausdrücklich nicht teilen.6 Die Bewertungen, die die verschiedenen Autoren bezüglich des von Hobbes verwendeten Begriffs des ‚Rechts auf alles‘ vornehmen, unterscheiden sich dabei allerdings zum Teil deutlich voneinander. Ewin beispielsweise betont, dass das natürliche Recht zumindest materialiter mit einem Recht auf alles gleichbedeutend sei, da im Naturzustand, in dem jeder allein von der eigenen Vernunft angeleitet werde, von keinem Vernunfturteil objektiv gesagt werden könne, es sei unzutreffend.7 Und auch McNeilly sieht Hobbes’ Verwendung des Begriffes ‚Recht auf alles‘ offenbar als unproblematisch an, da es seiner Ansicht nach im Rahmen des Hobbes’schen Naturzustandsarguments nicht um die Frage geht, welche Handlung objektiv legitim ist, sondern um die Frage, welche Handlungen das einzelne Individuum von seinem Gegenüber zu erwarten hat. Da nun auch bei einer Beschränkung des natürlichen Rechts durch das rein subjektive Vernunfturteil des Handelnden das Individuum vom jeweiligen Gegenüber grundsätzlich jede Handlung als möglich erwarten muss, weil von keiner Handlung ausgeschlossen werden kann, dass sie von diesem Gegenüber faktisch als notwendig erachtet wird, muss der Einzelne immer so handeln, als hätte sein Gegenüber in der Tat ein Recht auf alles.8 Gehrmann und Kavka dagegen nehmen die Beschränkung des natürlichen Rechts zum Anlass, um den Begriff des ‚Rechts auf alles‘ als unangemessen zu kritisieren,9 und Malcolm wertet die Hobbes’schen Aussagen als zumindest doppeldeutig und versucht die betreffenden Unklarheiten dadurch aufzulösen, dass er zwischen ‚internal rights‘ und ‚external rights‘ bzw. zwischen einem beschränkten ‚moral right of nature‘ und einem unbeschränkten ‚jural right‘ unterscheidet, das seinen Ausdruck im völligen Fehlen intersubjektiver Rechtspflichten finde.10 Der Einfluss der Studie Warrenders zeigt sich auch daran, dass im Kontext der zweiten zentralen Fragestellung, die in der Vergangenheit diskutiert worden ist, nämlich im Kontext der Frage nach dem grundsätzlichen Status des natürlichen Rechts, zumeist auf Warrenders Beschreibung des natürlichen Rechts als „absence of obligation“ oder „freedom from obligation“11 zurückgegriffen wird. Die Tatsache, dass es sich bei Hobbes’ natürlichem Recht grundsätzlich um ein permissives Recht handelt, dem keine Pflichten auf _____________ 6

7 8 9 10 11

Vgl. Hood 1964: 96; Goldsmith 1966: 88; Gehrmann 1970: 59; Kavka 1986: 301; Coady 1987: 177; Ewin 1991: 37; Gert 1991: 19f.; Tuck 1993: 306; Boonin-Vail 1994: 72f.; Dix 1994: 15; Curley 1994: XXXII; Malcolm 2002b: 33f.; und Malcolm 2002d: 445. Vgl. Ewin 1991: 37. Vgl. McNeilly 1968: 177f. Vgl. Gehrmann 1970: 67; und Kavka 1986: 301. Vgl. Malcolm 2002b: 33f.; und Malcolm 2002d: 445. Warrender 1961: 21.

124

5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Seiten der jeweils anderen Individuen korrespondieren, ist im Anschluss an die Studien Hamptons allerdings oftmals auch unter Bezugnahme auf eine Unterscheidung Wesley Hohfelds mit dem Begriff des ‚liberty-right‘ – im Gegensatz zum ‚claim-right‘ – beschrieben worden. Dass der Hobbes’sche Begriff des Naturrechts von korrespondierenden Pflichten abstrahiert, ist, soweit ich sehe, in der Vergangenheit von keinem Interpreten ausdrücklich in Frage gestellt worden. Die entsprechende Deutung des natürlichen Rechtes findet sich schon bei Pufendorf, der den permissiven Charakter des natürlichen Rechts allerdings als Schwäche der Hobbes’schen Theorie begreift,12 und sie prägt auch die Hobbes-Forschung der Gegenwart.13 Einige Autoren – wie beispielsweise Strauss und kürzlich Syse – beziehen sich zwar mitunter auf das natürliche Recht als einen subjektiven Anspruch oder „claim“14. Da die betreffenden Aussagen nicht im Rahmen einer expliziten Diskussion der von Warrender angeregten Deutung des natürlichen Rechts getroffen werden, erwecken sie aber eher den Eindruck, als liege ihnen schlicht ein etwas nachlässiger oder im besten Falle irreführender Gebrauch der entsprechenden Termini zugrunde. Und auch Carmichael, der die Beschreibung des Naturrechts als ‚absence of obligation‘ kritisiert und das Recht stattdessen als Recht auf das eigene Urteil begriffen sehen will, gesteht ausdrücklich zu, dass das natürliche Recht auch bei einer solchen Deutung keine Pflichten gegen andere beinhaltet.15 Gerade wenn man in Abgrenzung von Warrender an der traditionellen Deutung der natürlichen Gesetze festhält, werfen der permissive Status des natürlichen Rechts und die Rückbindung dieses Rechts an den empirischen Zweck der Selbsterhaltung aber nun die Frage auf, inwiefern dem Hobbes’schen Naturrecht überhaupt ein genuin normativer Charakter zugesprochen werden kann, ein Problem, das sich im Kontext der Warrender’schen Interpretation nicht in dieser Weise stellt. Warrender sieht die natürlichen Gesetze nicht nur als moralisch verbindliche Befehle Gottes und als dem natürlichen Recht geltungslogisch vorgeordnet, sondern er hebt auch hervor, dass Hobbes das natürliche Recht auf Selbsterhaltung keineswegs direkt aus dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben ableite, sondern dass das natürliche Recht letztlich nur deshalb zu einem Recht auf Selbsterhaltung werde, weil die Selbsterhaltung notwendigerweise zu den Anwendungsbedingungen des natürlichen Rechts zähle. Nach Warrender bezeichnet der Begriff ‚Recht‘ im Rahmen der Hobbes’schen Naturrechtstheorie den Inbegriff dessen, was _____________ 12 13

14 15

Vgl. Pufendorf 1672: 320f. Vgl. beispielsweise Warrender 1961: 20f.; Laird 1968: 178; Gauthier 1969: 30; Hampton 1986: 51f.; Kavka 1986: 315; Johnston 1986: 37; Herbert 1987: 184; Coady 1987: 172; Raphael 1988: 162; Curran 2002: 66; Dix 1994: 15; Esfeld 1995: 305; Kleemeier 2002: 154f.; Harvey 2004: 37f. Vgl. Strauss 1965: 149; und Syse 2003: 239. Vgl. auch Schelsky 1982: 270. Vgl. Carmichael 1988: 261-269.

5.1 Einleitung

125

ein Mensch nicht aufzugeben gezwungen sein kann, und umreißt in diesem spezifischen Sinne den Bereich, in dem der Einzelne von der moralischen Verpflichtung durch die natürlichen Gesetze frei ist.16 Dass dieses Recht sich nun auf das menschliche Selbsterhaltungsstreben erstreckt, geht laut Warrender darauf zurück, dass der Hobbes’schen Verpflichtungs- und Rechtstheorie das Prinzip ‚ought implies can‘ zugrundeliegt. Aus dem Grundsatz, dass ein Mensch prinzipiell nur zu solchen Handlungen verpflichtet sein kann, die er auch auszuführen vermag, folgt nach Warrender, dass der Einzelne von all denjenigen Handlungen befreit sein muss, zu deren Ausführung er kein hinreichendes Motiv haben kann. Da nun aber laut Hobbes kein Mensch ein hinreichendes Motiv haben könne, sich selbst zu töten oder den eigenen Tod willig in Kauf zu nehmen, seien alle Handlungen, die der Einzelne als notwendig zu seiner Erhaltung erachte, eines Verbots durch die natürlichen Gesetze unfähig und folglich durch das natürliche Recht gedeckt.17 Der traditionellen Lesart zufolge, die auch nach der Studie Warrenders noch von der überwiegenden Mehrheit der Hobbes-Interpreten vertreten wird, wird das natürliche Recht auf Selbsterhaltung dagegen, obwohl es grundsätzlich als Ausdruck einer Freiheit von Verpflichtung verstanden wird, von Hobbes den natürlichen Gesetzen geltungslogisch vorgeordnet und mehr oder minder direkt aus dem notwendigen Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen abgeleitet. Im Rahmen einer solchen Interpretation stellt sich nun die Frage, inwieweit Hobbes dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung Normativität zubilligt und ob er sich nicht, sofern er dies tut, eines Sein-SollenFehlschlusses schuldig macht. Die Sichtweise, dass Hobbes den Begriff des natürlichen Rechtes in einem strikt deskriptiven Sinne verwendet, findet sich vor allem bei Mintz, der das Naturrecht als bloßes „datum of human nature“18, d.h. als Ausdruck der Tatsache interpretiert, dass die Menschen faktisch in der durch dieses Recht umrissenen Weise handeln werden, weil sie durch ihre Natur dazu gezwungen werden. In ähnlicher Weise wertet Herbert das Naturrecht als bloße Beschreibung der natürlichen Neigung von belebten Körpern, sich ständig in Bewegung zu erhalten.19 Dass dem Hobbes’schen Naturrecht ein normativer Charakter zugestanden werden kann, zweifeln zudem auch Bittner und Kersting an, die vor diesem Hintergrund Hobbes’ Rückgriff auf (natur-)rechtliche Termini auch explizit kritisieren und sie als eine Schwäche der Hobbes’schen Theorie begreifen.20 Autoren wie Peters, Röd, Kavka, Coady und Dix haben dagegen die Auffassung vertreten, dass dem natürlichen Recht ein normativer Charakter nicht _____________ 16 17 18 19 20

Vgl. Warrender 1961: 18f. Vgl. Warrender 1961: 23-25. Mintz 1962: 32. Vgl. Herbert 1987: 184. Vgl. Bittner 1983: 395f.; und Kersting 1992: 124-26.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

gänzlich abgesprochen werden kann. Coady und Dix begründen diese Interpretation mit dem Hinweis auf die Rolle, die Hobbes bei seiner Ableitung des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung der rechten Vernunft (‚recta ratio‘) zuweise,21 und eine ähnliche Argumentationslinie verfolgt Gauthier, der dem natürlichen Recht allerdings ausdrücklich nicht im Sinne einer moralischen Konzeption Normativität zubilligt, sondern lediglich im Sinne einer rationalen Konzeption.22 Ludwig hat entsprechende Lesarten jedoch kürzlich durch die Behauptung in Frage gestellt, die rechte Vernunft fungiere nur in Hobbes’ früheren Schriften, nicht aber im Leviathan als Grundlage des natürlichen Rechts.23 Wenn Ludwig sich in diesem Zusammenhang auch nicht explizit zur Frage der Normativität des natürlichen Rechts äußert, legen seine Aussagen doch deutlich nahe, dass er wie Mintz und Herbert vor dem Hintergrund dieser Tatsache dem natürlichen Recht des Leviathan einen normativen Charakter konsequent absprechen will. Eine Frage, die sich angesichts der Interpretationen von Coady, Peters, Kavka, Röd und Dix stellt, ist die bereits angedeutete Frage, ob die Normativität des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung letztlich nur unter Eingeständnis eines Sein-Sollen-Fehlschlusses aufrechterhalten werden kann. Dix widerspricht dieser Sichtweise mit dem Hinweis, Hobbes leite das natürliche Recht nicht wirklich aus dem Selbsterhaltungsstreben ab, sondern er setze es eher im Sinne eines Postulates voraus.24 Anders als Kavka, der das natürliche Recht in ähnlicher Weise als letztlich unbegründetes Axiom der Hobbes’schen Theorie ansieht,25 nimmt Dix diese Tatsache aber nicht zum Anlass, die Hobbes’sche Vorgehensweise zu kritisieren. Dass Hobbes das natürliche Recht auf Kosten eines Sein-Sollen-Fehlschlusses direkt aus dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben ableite, wird demgegenüber von Peters vertreten,26 und auch Röd äußert sich in dieser Weise,27 wenn er auch ausdrücklich darauf verweist, dass der damit verbundene deskriptiv-normative „Doppelcharakter“28 des Naturrechts innerhalb des Hobbes’schen Systems letztlich unvermeidbar sei. Die oben zitierten Positionen Ludwigs zeigen bereits, dass der Frage, ob es signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Hobbes’schen Schriften gibt, auch für die Interpretation der Hobbes’schen Naturrechtslehre eine direkte Relevanz zugesprochen werden muss. Sowohl die Behauptung, _____________ 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Coady 1987: 172 und 177f.; und Dix 1994: 15. Vgl. Gauthier 1969: 32-34; und Gauthier 1979: 549f. Vgl. Ludwig 1998: 269f. und 288-90. Vgl. Dix 1994: 13. Vgl. Kavka 1986: 315. Vgl. Peters 1956: 161 und 202. Vgl. Röd 1970: 27ff. Röd 1970: 33.

5.1 Einleitung

127

der Umfang des natürlichen Rechts werde von Hobbes im englischen Leviathan prinzipiell anders bestimmt als in den früheren Schriften, als auch die Auffassung, diese Unterschiede seien darauf zurückzuführen, dass die rechte Vernunft in den Elements und in De Cive als Grundlage des natürlichen Rechts fungiere und dabei eine Grenzfunktion ausübe, die ihr im Leviathan nicht mehr zukomme, legen einen eingehenden Vergleich der jeweiligen Herleitungen des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ nahe. Die Notwendigkeit eines solchen Vergleiches wird einerseits durch die von Ludwigs Lesart abweichende Interpretation Gauthiers bekräftigt, nach der die Bedeutung der rechten Vernunft für das Hobbes’sche Naturrecht im Leviathan zwar nicht expliziert wird, aber dennoch nach wie vor in Hobbes’ Argumentation und in seinem Begriff des natürlichen Rechts enthalten sei,29 sowie andererseits dadurch, dass Gert die offenkundigen Kürzungen, die Hobbes bei der Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ im Leviathan vornimmt, zum Anlass genommen hat, in Abgrenzung von der allgemein vorherrschenden Meinung die Überlegenheit der Argumentation von De Cive gegenüber der des Leviathan zu behaupten.30 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schriften sind für die angemessene Erörterung des Hobbes’schen Naturrechts als einem Freiheitsrecht auch insofern von Belang, als sich nach Einschätzung einiger Autoren zwischen den Elements of Law und dem Leviathan deutliche Verschiebungen in Hobbes’ Freiheitsbegriff aufzeigen lassen. Die durchaus umfangreiche Debatte um den Hobbes’schen Freiheitsbegriff reicht bis in die 1960er Jahre zurück und ist seit den Studien Pennocks und Wernhams vorrangig von der Frage geprägt worden, ob Hobbes im englischen Leviathan überhaupt über einen konsistenten Begriff der Freiheit verfügt oder ob die verschiedenen Verwendungsweisen und Definitionen einander nicht letztlich widersprechen.31 Schon Hood verweist in seiner Hobbes-Monographie aus dem Jahre 1964 aber darauf, dass es auch signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Werken gibt und dass Hobbes zumindest in De Cive Freiheit prinzipiell anders definiere als im Leviathan,32 eine Interpretation, die Hood im Rahmen seines drei Jahre später erschienenen Aufsatzes weiter ausführt.33 Im Anschluss an Pennock, Wernham und Hood ist die Diskussion um den Hobbes’schen Freiheitsbegriff vor allem von Raphael, von Leyden, Goldsmith, Skinner, Brett und Kramer fortgeführt worden.34 Brett, auf deren Studie bereits im Einleitungskapitel dieser Arbeit verwiesen worden ist, bestätigt die _____________ 29 30 31 32 33 34

Vgl. Gauthier 1969: 32 und 34. Vgl. Gert 1991: 3. Vgl. Pennock 1965; und Wernham 1965. Vgl. Hood 1964: 45ff. Vgl. Hood 1967: 150ff. Vgl. Raphael 1984; von Leyden 1982; Goldsmith 1989; Skinner 2002d; Brett 1997; Kramer 2001a; und Kramer 2001b.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

These einer Akzentverschiebung innerhalb des Hobbes’schen Freiheitsbegriffes insofern, als sie im Rahmen ihrer Untersuchung der Hobbes’schen Schriften Unterschiede in Hobbes’ jeweiliger Konzeption von ‚natural liberty‘ behauptet. Da Hobbes das natürliche Recht in allen Schriften über den Begriff der Freiheit definiert, wird daher zu fragen sein, inwiefern die möglichen Akzentverschiebungen innerhalb des Freiheitsbegriffes zu Verschiebungen innerhalb der Begründung oder Bestimmung des natürlichen Rechts führen. Angesichts der Komplexität des Hobbes’schen Freiheitsbegriffes und der Komplexität der mit diesem Begriff verbundenen Schwierigkeiten soll dem Freiheitsproblem und der lang anhaltenden Debatte um dieses Problem im Rahmen der vorliegenden Arbeit aber insgesamt nur insoweit Beachtung geschenkt werden, als dies für das angemessene Verständnis der Naturrechtslehre notwendig ist. Ein letzter wichtiger Aspekt der bisherigen Diskussion um das Hobbes’sche Naturrecht, der ebenfalls Anlass zu der Behauptung wichtiger Differenzen zwischen den verschiedenen Schriften gegeben hat, besteht in der bereits im letzten Kapitel angesprochenen Frage, ob es sich bei Hobbes’ Naturzustandsanalyse primär um eine rechtstheoretische Analyse handelt und im Rahmen der juridischen Beschreibung des Naturzustandes das eigentliche Naturzustandsargument exeundum esse a statu naturali gewonnen wird. Wie oben schon deutlich geworden ist, stützen sich die diesbezüglichen Interpretationen zum Teil auf die Deutung des Hobbes’schen ‚Krieges aller gegen alle‘ als einen ‚Rechtskrieg‘, eine Deutung, die im Rahmen unserer Erörterung des Kriegszustandes bereits zurückgewiesen worden ist. Wie gezeigt werden konnte, führt Hobbes den ‚Krieg aller gegen alle‘ auch in den früheren Schriften auf die Ausübung des natürlichen Rechtes und damit auf das faktische Handeln der Individuen und ihr Interesse am empirischen Zweck der Selbsterhaltung zurück. Da die Vertreter der rechtstheoretischen Deutung des Naturzustandes aber in der Vergangenheit zum Teil zugestanden haben, dass Hobbes die Konsequenzen seiner juridischen Analyse des Naturzustandes nicht explizit zieht,35 muss im Hinblick auf eine endgültige Widerlegung dieser Lesart auch untersucht werden, ob die Hobbes’sche Bestimmung des natürlichen Rechts als ‚Recht auf alles‘ eine spezifisch rechtstheoretische Begründung der Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand impliziert oder zumindest ermöglicht. Zu diesem Zweck muss eingehend die eigentliche Hauptthese Geismanns, Herbs und Hünings geprüft werden, nämlich die Behauptung, das ‚Recht auf alles‘ sei als ‚Recht aller auf alles‘ in sich widersprüchlich und ziehe zwangsläufig eine naturzuständliche „Rechtsantinomie“36 nach sich. _____________ 35 36

Vgl. etwa Geismann/Herb 1988: 141; Herb 1999: 61; und Hüning 1995: 765. Hüning 1998a: 87.

5.1 Einleitung

129

Die rechtstheoretische Lesart des Hobbes’schen Naturzustandes ist in derjenigen Form, in der sie Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, ohne Zweifel von Georg Geismann geprägt worden. Ansätze zu der entsprechenden Deutung des Hobbes’schen Naturzustandsargumentes finden sich aber bereits bei Julius Ebbinghaus, der im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Kantischen Rechtsphilosophie Hobbes als Vorläufer und prägenden Einfluss der Kantischen Naturzustandstheorie präsentiert,37 und es lässt sich sogar mit gutem Grund die Auffassung vertreten, Kant selbst habe als Erster die dann von Ebbinghaus und Geismann weiter ausgearbeitete rechtstheoretische Lesart der Hobbes’schen Theorie vertreten. Kant begreift einer seiner Reflexionen zur Moral- und Rechtsphilosophie zufolge den Hobbes’schen Naturzustand nicht nur prinzipiell als ein primär rechtstheoretisches Konstrukt, sondern sieht auch die von Hobbes behauptete Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen, in der rechtlichen Struktur dieses Zustandes begründet. [...] der Stand der Natur: ein Ideal des hobbes. Es wird hier das recht im Stande der Natur und nicht das factum erwogen. Es wird bewiesen, daß es nicht willkürlich sey, aus dem Stande der Natur herauszugehen, sondern nothwendig nach Regeln des Rechts.38

Dass es für Kant nicht die faktische Bedrohung der jeweils eigenen Erhaltung ist, die den Naturzustand unhaltbar macht, sondern die Tatsache, dass jedes Individuum im Rahmen des ‚Krieges aller gegen alle‘ mit Recht agiert und daher das natürliche Recht des einen das natürliche Recht des anderen gleichsam ständig verletzt, wird unmissverständlich deutlich in einer Passage der Kantischen Religionsschrift, in der Kant in ähnlicher Weise wie auch in der Schrift Zum ewigen Frieden den Naturzustand als Zustand permanenter Rechtskonflikte präsentiert und diese Tatsache auf das ipse-iudex-Prinzip zurückführt, also auf das Recht jedes Einzelnen, Richter in eigener Sache zu sein. Hobbes’ Satz: status hominum naturalis est bellum omnium in omnes, hat weiter keinen Fehler, als daß es heißen sollte: est status belli etc. Denn wenn man gleich nicht einräumet, daß zwischen Menschen, die nicht unter äußeren und öffentlichen Gesetzen stehen, jederzeit wirkliche Feindseligkeiten herrschen: so ist doch der Zustand derselben (status iuridicus), d. i. das Verhältnis, in und durch welches sie der Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind, ein solcher Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat, oder ihnen giebt, als jedes seine eigene Gewalt; welches ein Kriegszustand ist, in dem jedermann wider jedermann beständig gerüstet sein muß. Der zweite Satz desselben: exeundum esse e statu naturali, ist eine Folge aus dem erstern: denn dieser Zustand ist eine continuirliche Läsion der Rechte

_____________ 37 38

Vgl. Ebbinghaus 1968; und Ebbinghaus 1988. Refl.: 99f.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

aller andern durch die Anmaßung, in seiner eigenen Sache Richter zu sein und andern Menschen keine Sicherheit wegen des Ihrigen zu lassen, als bloß seine eigene Willkür.39

Kants zentrale These, nach der das Hobbes’sche natürliche Recht nicht konsistenterweise allen Individuen gleichermaßen zugestanden werden kann und diese juridische Widersprüchlichkeit die Überwindung des Naturzustandes notwendig macht, findet sich nun sowohl bei Ebbinghaus als auch bei Geismann sowie in dessen Nachfolge bei Herb und Hüning. Alle vier Autoren beziehen sich dabei wie Kant auf das ipse-iudex-Prinzip und auf den Umfang, den das natürliche Recht des Einzelnen aufgrund dieses Prinzips notwendigerweise annehmen muss, wobei sie allerdings stärker als Kant auf den Hobbes’schen Begriff des ‚Rechts aller auf alles‘ zurückgreifen. Das natürliche Recht verursacht danach eine unvermeidbare, gleichsam a priorische Rechtsantinomie, weil das Recht des einen Individuums als ‚Recht auf alles‘ notwendigerweise das gleiche Recht aller anderen Individuen negiere, so wie es selbst durch das ‚Recht auf alles‘ jedes anderen negiert werde. Dieses natürliche Recht auf alles steht nun allerdings als ein jedermann zukommendes Recht mit sich selbst in Widerspruch und hebt sich damit auf: das Recht auf alles des einen bedeutet die vollständige Aufhebung dieses Rechts aller anderen. Ein universales Recht auf alles ist gleichbedeutend mit einem universalen „Recht auf nichts“, d.h. mit der Beseitigung allen Rechts überhaupt. Und also ist der Naturzustand des Menschen als ein Zustand des Naturrechts auf Selbsterhaltung zugleich ein rechtloser Zustand und somit in sich widersprüchlich.40

Geismann, Herb und Hüning folgern daher, dass der Hobbes’sche Naturzustand gänzlich unabhängig von der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit empirischer Konflikte allein als Zustand permanenter Rechtskonflikte und eines durchgängigen rechtlichen Widerspruchs überwunden und in den bürgerlichen Zustand als einen Zustand begrenzter und miteinander vereinbarer positiver Rechte überführt werden muss. Wenn nun die rechtstheoretische Lesart des Hobbes’schen Naturzustandes aber auch in besonderer Weise und mit besonderer Vehemenz innerhalb der deutschsprachigen Hobbes-Literatur vertreten worden sein mag, so bleibt doch darauf zu verweisen, dass es sich bei ihr keineswegs um eine Eigenart der deutschen Hobbes-Forschung handelt. Auch Malcolm hat kürzlich ausdrücklich die Auffassung vertreten, der Hobbes’sche Naturzustand sei primär als rechtlicher Zustand zu begreifen und dabei als Zustand des allgemeinen ‚Rechts auf alles‘ durch einen zwangsläufigen rechtlichen Konflikt gekennzeichnet, der die Aufgabe des natürli_____________ 39 40

RS: 97. Vgl. auch RS: 306ff.; und ZeF: 349. Geismann 1982: 165. Vgl. auch Geismann 1974: 43; Geismann/Herb 1988: 24f. und 127f.; Herb 1989: 19 und 21; Hüning 1995: 64; und Hüning 1998a: 83.

5.2 The Elements of Law

131

chen Rechts und damit den Ausgang aus dem Naturzustand notwendig mache. [...] the primary state of conflict between individuals posited by Hobbes is not a contingent, factual conflict, which might not exist if people ceased to be irascible or competitive, but rather a necessary jural conflict between people whose rights overlap or conflict in some sense with one another until they have been renounced.41

Es sind nun zwar in der jüngeren Vergangenheit von einer Reihe von Interpreten grundsätzliche Zweifel an der rechtstheoretischen Lesart des Hobbes’schen Naturzustandes geäußert worden.42 Soweit ich sehe, ist jedoch bislang noch von keinem Autor der Versuch unternommen worden, die Interpretation Geismanns, Herbs, Hünings und Malcolms bzw. die dieser Interpretation zugrundeliegende zentrale These im Detail zu widerlegen. Der erste Teil einer solchen Widerlegung ist im Zuge unserer Diskussion des ‚Krieges aller gegen alle‘ bereits geleistet worden. Im Rahmen des folgenden Kapitels soll nun im Zuge der eingehenden Analyse der Hobbes’schen Naturrechtstheorie gezeigt werden, dass und warum die rechtstheoretische Lesart auch dann nicht aufrechterhalten werden kann, wenn man bereit wäre zuzugestehen, dass auch ohne Hobbes’ ausdrückliche Präsentation des ‚Krieges aller gegen alle‘ als ‚Rechtskrieg‘ ein solcher grundsätzlich vorliegen und eine rechtliche Notwendigkeit des Ausgangs begründen könnte. Da Geismann, Herb und Hüning übereinstimmend die Auffassung vertreten, die rechtliche Defizienz des Hobbes’schen Naturzustandes komme in De Cive deutlicher zum Ausdruck als im Leviathan, und das ältere Werk sei daher gegenüber dem jüngeren als überlegen anzusehen,43 soll die kritische Diskussion der rechtstheoretischen Lesart vorrangig im Rahmen der Analyse von De Cive durchgeführt werden.

5.2 The Elements of Law 5.2.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung Die Hobbes’sche Erörterung des natürlichen Rechts beschränkt sich in den Elements im Grunde genommen auf die wenigen Absätze des vierzehnten Kapitels, in denen Hobbes das ‚Recht auf alles‘ aus dem individuellen Recht _____________ 41 42 43

Malcolm 2002b: 31. Vgl. Bittner 1983: 391f.; Nonnenmacher 1989: 14; Esfeld 1995: 320; Ludwig 1998: 263f.; und Kleemeier 2002: 131f. Vgl. Geismann/Herb 1988: 32f.; und Hüning 1998a: 83.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

auf Selbsterhaltung ableitet und es als weitere Ursache des naturzuständlichen Krieges präsentiert. Zwar nimmt Hobbes im Anschluss an seine ausführliche Diskussion der natürlichen Gesetze in den Kapitel XXV bis XVIII noch einmal auf die Geltung des allgemeinen ‚Rechts auf alles‘ Bezug. Der betreffenden Passage zu Beginn des neunzehnten Kapitels kommt aber lediglich die Funktion zu, die in Kapitel XIV begründete Geltung des ‚Rechts auf alles‘ noch einmal zu bekräftigen und deutlich zu machen, dass auch die Weisungen der natürlichen Gesetze diese Geltung nicht wesentlich einzuschränken vermögen, da angesichts der Unsicherheit des Naturzustandes und der fehlenden Sicherheit einer allgemeinen Befolgung der natürlichen Gesetze ein Verzicht auf das ‚Recht auf alles‘ irrational wäre und von keinem Individuum gefordert werden kann.44 Die Naturrechtsdiskussion im vierzehnten Kapitel beginnt mit dem Zugeständnis des natürlichen Rechts jedes einzelnen Individuums, das eigene Leben und die eigenen Glieder mit aller Kraft zu verteidigen, und sie schließt inhaltlich direkt an die vorangegangene Beschreibung der naturzuständlichen Konfliktursachen an. Wie im Rahmen unserer Diskussion des allgemeinen Kriegszustandes und der Relevanz des natürlichen Rechts im Hinblick auf diesen Zustand bereits angeklungen ist, kann das konkrete Ziel der Hobbes’schen Ausführungen darin gesehen werden, den Eindruck zu zerstreuen, die Individuen agierten im Zuge ihrer gewaltsamen Auseinandersetzungen im Naturzustand prinzipiell unrechtmäßig, und auf diese Weise etwaige Einwände gegen seine Herleitung des Kriegszustandes gegenstandslos werden zu lassen. Hobbes legt nicht nur großen Wert darauf, den Naturzustand als einen schrecklichen Zustand zu beschreiben und die Annahme, die Menschen würden außerhalb des Staates in einem Zustand friedlicher Koexistenz leben oder hätten einst so gelebt, zu widerlegen. Er ist auch bestrebt, den traditionellen Glauben an eine natürliche moralisch-rechtliche Ordnung, die einen friedfertigen Zustand theoretisch herbeizuführen imstande sein könnte, nachhaltig zu erschüttern. Laut Hobbes werden die Menschen in einem Zustand natürlicher Freiheit nicht nur zwangsläufig miteinander in gewaltsame Auseinandersetzungen geraten, sondern sie tun dabei auch zumindest solange kein Unrecht, wie sie von der Sorge um die eigene Erhaltung getrieben werden. And forasmuch as necessity of nature maketh men to will and desire bonum sibi, that which is good for themselves, and to avoid that which is hurtful; but most of all that terrible enemy of nature, death, from whom we expect both the loss of all power, and also the greatest of bodily pains in the losing; it is not against reason that a man doth all he can to preserve his own body and limbs, both from death and pain. And that which is not against reason, men call RIGHT, or jus, or blameless liberty of using our

_____________ 44

Vgl. E: 99f.

5.2 The Elements of Law

133

own natural power and ability. It is therefore a right of nature: that every man may preserve his own life and limbs, with all the power he hath.45

Die eigentliche Begründung, die Hobbes für das natürliche Recht des Einzelnen auf Selbsterhaltung liefert, besteht nun offenbar aus zwei Teilen. Auf der einen Seite folgert Hobbes die prinzipielle Rechtmäßigkeit der Verteidigung des jeweils eigenen Lebens aus der Tatsache, dass ein entsprechendes Verhalten nicht gegen die Vernunft verstößt. Auf der anderen Seite führt er diese Vernünftigkeit ihrerseits auf die Tatsache zurück, dass es sich beim Selbsterhaltungsstreben bzw. beim Streben nach Vermeidung von Verletzung und Tod um ein Streben handelt, das sich zwangsläufig aus der menschlichen Natur ergibt und zu dem es daher keine Alternative gibt. Um den zweiten Punkt eingehender erörtern zu können, empfiehlt es sich, zunächst die Hobbes’schen Definitionen der Vernunft, des Willens und des Überlegungsprozesses zu betrachten, wie sie im fünften und im zwölften Kapitel der Elements entwickelt werden. Wie von einer Reihe von Autoren zurecht hervorgehoben worden ist, bezeichnen die Begriffe der Vernunft und der ‚rechten Vernunft‘ bei Hobbes kein Vermögen, das aus sich heraus Forderungen zu stellen oder Bewertungen abzugeben vermöchte.46 Hobbes verwendet die Begriffe vielmehr im Sinne eines instrumentellen Vernunftbegriffs, d.h. er sieht den Prozess der vernünftigen Kalkulation prinzipiell an Interessen und Zwecke gebunden, die der Vernunft durch die Neigungen und Leidenschaften des jeweiligen Individuums vorgegeben sind. Entsprechend finden sich auch in Hobbes’ ausdrücklicher Definition des Begriffs ‚right reason‘ im fünften Kapitel der Elements keine Hinweise auf Vorschriften oder Handlungsanleitungen, die unmittelbar aus der Vernunft erwüchsen. Hobbes setzt vielmehr den Begriff ‚reason‘ grundsätzlich mit den Begriffen ‚reasoning‘ und ‚ratiocination‘ und diese mit der Durchführung von Schlussfolgerungen gleich, und er begreift die Vernunft dann als rechte Vernunft, wenn im Rahmen solcher Schlussfolgerungen auf zulässige und widerspruchsfreie Weise aus verifizierten Prämissen richtige Konklusionen gewonnen werden. Now when a man reasoneth from principles that are found indubitable by experience, all deceptions of sense and equivocation of words avoided, the conclusion he maketh is said to be according to right reason [...]47

Hobbes’ Definitionen des Überlegungsprozesses und des menschlichen Willens nehmen ihren Ausgang von den Begriffen ‚pleasure‘ bzw. ‚appetite‘ und ‚aversion‘ bzw. ‚fear‘, die diejenigen ursprünglichen inneren Neigungen zu _____________ 45 46 47

E: 71. Vgl. etwa Watkins 1965: 94; Gauthier 1979: 549; Weiß 1980: 164f.; Bittner 1983: 390; Kersting 1992: 77f.; Dix 1994: 12 und 14; und Esfeld 1995: 305f. E: 22.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

einem Objekt hin oder von einem Objekt weg bezeichnen, auf die die menschlichen Handlungen laut Hobbes in letzter Konsequenz zurückgehen. Hobbes bestimmt mit Blick auf eine dem Überlegenden potenziell mögliche Handlung den Vorgang der ‚deliberation‘ als „alternate succession of appetite and fear, during all the time the action is in our power to do, or not to do“48, und er bestimmt im Anschluss daran den Willen als „last appetite“ bzw. „last fear“49, also als diejenige Neigung, die im Überlegungsprozess letztlich überwiegt und die Ausführung oder Unterlassung der in Frage stehenden Handlung unmittelbar zur Folge hat. Die damit gegebene Definition von ‚deliberation‘ ist nun insofern von besonderer Relevanz für die Hobbes’sche Begründung des natürlichen Rechts, als Hobbes bereits im Kontext dieser Definition ausdrücklich auf die Tatsache verweist, dass nur solche Handlungen überhaupt einer Überlegung fähig sind, deren Ausführung wie auch deren Unterlassung grundsätzlich gleichermaßen möglich sind und damit ein Gegenstand des Willens sein können. Deliberation therefore requireth in the action deliberated two conditions: one, that it be future; the other, that there be hope of doing it, or possibility of not doing it. For appetite and fear are expectations of the future; and there is no expectation of good without hope; nor of evil without possibility. Of necessaries therefore there is no deliberation.50

Hobbes’ Darstellung im vierzehnten Kapitel zufolge ist nun aber im Falle von Handlungen, die die Vermeidung von Verletzung und Tod zum Ziel haben, die zweite der beiden genannten Bedingungen nicht erfüllt. Da die Menschen von Natur aus das für sie Gute anstreben, der Tod aber wie auch die Verletzung des eigenen Körpers notwendigerweise ein Übel darstellt, kommen nach Hobbes’ Auffassung der eigene Tod und die Verletzung des eigenen Körpers als mögliches Handlungsziel grundsätzlich nicht in Frage. Bei solchen Handlungen, die die Verletzung des eigenen Körpers oder den Tod abwenden sollen, handelt es sich daher im Sinne des letzten Zitates um notwendige Handlungen, bezüglich derer keine wirkliche Überlegung möglich ist, zumindest aber um solche Handlungen, über deren Ausführung bereits in dem Moment endgültig entschieden ist, in dem die Konsequenzen ihrer Unterlassung eingesehen werden. Das aber heißt letztlich nichts anderes, als dass mit Bezug auf diese Handlungen der Wille des Handelnden in gewissem Sinne immer schon feststeht. So ist es auch zu erklären, dass Hobbes im Rahmen seiner Begründung des natürlichen Rechtes nicht nur die Aussage trifft, die Menschen begehrten von Natur das für sie Gute oder besäßen eine natürliche Neigung nach dem für sie Guten, sondern auch die inhaltlich wie terminolo_____________ 48 49 50

E: 61. E: 62. E: 61.

5.2 The Elements of Law

135

gisch davon zu unterscheidende Aussage, sie wollten von Natur aus das für sie Gute. Vor dem Hintergrund dieser Position stellt die Behauptung, die Ausführung der zur Verteidigung des eigenen Körpers und des eigenen Lebens notwendigen Handlungen sei vernünftig, nun in der Tat eine überzeugende Folgerung dar. Wenn die Überlegung, ob die in Frage stehenden Handlungen ausgeführt werden sollen, eine Überlegung ist, die den Hobbes’schen Individuen gar nicht wirklich möglich ist, oder eine, deren Ergebnis bei einer angemessenen Einschätzung der Lage immer schon fest steht, so ist die Unterlassung der Handlungen entweder faktisch unmöglich oder nur mit einer Störung der Vernunftfähigkeiten des Handelnden zu erklären. Die Unterlassung mag auch auf einen Mangel an Information bezüglich der Folgen dieser Unterlassung zurückzuführen sein. In einem solchen Fall ließe sich aber die Auffassung vertreten, dass die in Frage stehende Unterlassung nicht wirklich Gegenstand der Überlegung gewesen ist, sondern lediglich in einer modifizierten Form, eben ohne die mit der Unterlassung eigentlich untrennbar verbundenen Konsequenzen, so dass folglich keine angemessene Einschätzung der Situation im obigen Sinne vorliegt. Das Problem der Hobbes’schen Position besteht allerdings darin, dass Hobbes die Funktion, die der Vernunft im Zuge des Überlegungsprozesses zukommt, nicht in der notwendigen Weise ausführt und so den Eindruck erweckt, er sehe die Unterlassung von Handlungen, die schwerwiegende Schäden vom Handelnden abwenden sollen, tatsächlich als faktisch unmöglich an, eine Sichtweise, die angesichts des empirisch beobachtbaren Verhaltens der Menschen nicht aufrechtzuerhalten wäre. Der Punkt, um den es Hobbes aber eigentlich gehen dürfte, besteht darin, dass die Unterlassung einer entsprechenden Handlung darauf verweist, dass der Handelnde die Handlung nicht im Sinne des rechten Vernunftgebrauchs bewertet haben kann, und wenn man dieser Deutung selbstzerstörerischen Verhaltens auch nicht notwendigerweise zustimmen mag, so lässt sie sich doch im Prinzip sinnvoll vertreten. Die zweite Behauptung, die Hobbes im Rahmen seiner Begründung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung aufstellt, nämlich die Behauptung, eine Handlung, die nicht unvernünftig sei, sei grundsätzlich als rechtmäßig anzusehen, ist demgegenüber offenbar mit größeren Schwierigkeiten verbunden. Hobbes bezieht sich bei seiner Behauptung ausdrücklich auf den üblichen Gebrauch des Ausdrucks ‚right‘. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich auf diese Weise die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks zunutze zu machen versucht. Während man Hobbes durchaus zustimmen kann, dass das, was im Sinne zulässiger und widerspruchsfreier Schlussfolgerungen vernünftig ist, üblicherweise als ‚right‘ im Sinne von ‚richtig‘ gilt, so gilt es doch nicht notwendigerweise auch als ‚right‘ im normativen Sinne von

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

‚rechtmäßig‘ oder im Sinne des Substantivs ‚Recht‘. Dass es Hobbes aber um eben diesen normativen Gebrauch des englischen ‚right‘ geht, zeigt sich nicht nur an seinem anschließenden Rückgriff auf den rechts- bzw. moralphilosophischen Begriff des ‚right of nature‘. Es zeigt sich auch daran, dass Hobbes den Begriff ‚right‘ als ‚blameless liberty‘ umschreibt und ihn durch das lateinische jus, nicht aber durch das lateinische rectus wiedergibt. Gerade die Umschreibung des natürlichen Rechts als ‚blameless liberty‘ räumt dabei aber auch den Eindruck aus, es könne sich beim ‚right of nature‘ selbst um einen deskriptiven Begriff handeln, eine Deutung, die zusätzlich auch durch den gesamten Kontext der Hobbes’schen Ausführungen in Frage gestellt wird. Das Anliegen der Hobbes’schen Begründung des natürlichen Rechts besteht nicht darin, lediglich das faktische Handeln von Menschen oder die natürlichen Bewegungen belebter Körper zu beschreiben. Ziel der Ausführungen ist es vielmehr, dieses Handeln, das Hobbes ja in den ersten Passagen des vierzehnten Kapitels bereits hinreichend skizziert hat, in normativer Hinsicht zu erörtern und aufzuzeigen, dass die Individuen oder zumindest einige der Individuen ein Recht haben, in der beschriebenen Weise zu handeln. Dieser normative Charakter des natürlichen Rechts wird auch dadurch nicht aufgehoben, dass Hobbes das Recht grundsätzlich als ‚liberty‘, also als Freiheitsrecht, und in diesem Sinne lediglich als ‚freedom from obligation‘ präsentiert. Zwar geht an dieser Stelle aus den Hobbes’schen Ausführungen noch nicht hervor, inwiefern und wodurch das natürliche Recht begrenzt wird und ob es folglich auch ‚blameworthy liberty‘ geben kann, also einen Freiheitsgebrauch, der nicht rechtmäßig ist. Die bloße Verwendung des Ausdrucks ‚blameless liberty‘ deutet eine solche moralische oder quasimoralische Begrenzung des Handelns aber an, und selbst wenn es sie nicht geben sollte, ließe sich dem natürlichen Recht aus meiner Sicht zumindest eine, wenn man so will, Normativität zweiter Ordnung attestieren. Indem Hobbes auf den traditionellen Terminus des ‚right of nature‘ und im Anschluss daran auch auf den Begriff des ‚law of nature‘ zurückgreift, ordnet er seine Ausführungen in den Kontext der Naturrechtstheorie und damit in einen bestehenden normativ-rechtlichen Diskurs ein. Dem Hobbes’schen Naturrecht seinen normativen Charakter rundweg absprechen zu wollen, wäre aus meiner Sicht aber nun schon allein aus diesem Grund irreführend. Es macht argumentativ einen Unterschied, ob man menschliches Handeln in ausschließlich deskriptiver Weise erörtert und – vielleicht weil man insgeheim keine rechtlich-moralischen Beschränkungen des beschriebenen Handelns anerkennt – von einer rechtlich-moralischen Evaluation des Handelns vollständig absieht, oder ob man, wie Hobbes, explizit auf einen bestehenden evaluativen Diskurs Bezug nimmt und das beschriebene Handeln mit Hilfe moralisch-rechtlicher Begriffe und in Abgrenzung von anders lautenden Positionen ausdrücklich als erlaubt kennzeichnet. Zumindest in diesem sekundä-

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ren Sinne, d.h. als explizite Leugnung des von anderen Autoren behaupteten Bestehens moralischer Verpflichtungen, kommt Hobbes’ natürlichem Recht als einer ‚blameless liberty‘ daher eine normative Kraft zu, über die eine rein deskriptive Beschreibung menschlicher Handlungsweisen grundsätzlich nicht verfügt. Der normative Charakter des natürlichen Rechts als einer ‚blameless liberty‘ legt zudem auch bereits nahe, dass Hobbes in den Elements den Begriff der Freiheit zumindest in einem doppelten Sinn verwendet. Wie von einigen Autoren bereits hervorgehoben worden ist,51 liefert Hobbes in den Elements an keiner Stelle eine ausdrückliche Definition des Begriffs ‚liberty‘, wie er sie etwa vom Begriff ‚deliberation‘ oder vom Begriff ‚right reason‘ liefert. Im Rahmen seiner Diskussion des Überlegungsprozesses beschreibt Hobbes aber en passant auch eine Form menschlicher Freiheit, und zwar diejenige, die Wernham unter den Begriff „freedom of choice“52 und von Leyden unter den Begriff „freedom as deliberation“53 gefasst hat. Im Zuge einer etwas eigenwilligen etymologischen These erläutert Hobbes den Begriff ‚deliberation‘ mit den Worten [...] which name hath been given it for that part of the definition wherein it is said that it lasteth so long, as the action whereof we deliberate, is in our power; for so long we have the liberty to do or not to do: and deliberation signifieth the taking away of our own liberty.54

Nach Hobbes kann ein Mensch, der überlegt, ob er eine Handlung ausführen soll oder nicht, mit Bezug auf diese Handlung insofern als frei gelten, als ihm beide Optionen grundsätzlich offenstehen und er sich noch durch keine Entscheidung, d.h. durch keine Formung eines bestimmten Willens, auf eine der beiden Optionen festgelegt hat. Ist der Überlegungsprozess dagegen abgeschlossen und der Wille gebildet, dann ist die Freiheit, die Handlung auszuführen oder auch zu unterlassen, verloren, und es steht dem betreffenden Menschen nicht mehr frei „to do or not to do’. Nach Brett ist nun die ‚blameless liberty‘, über die Hobbes das natürliche Recht bestimmt, mit der hier beschriebenen Freiheit identisch.55 Die Annahme, Hobbes spreche auch im Kontext der Naturrechtsanalyse von Freiheit im Sinne von ‚freedom as deliberation‘, ist aber einerseits schwer mit dem normativen Charakter des natürlichen Rechts vereinbar; andererseits verwickelt man Hobbes bei dieser Lesart zwangsläufig in einen schwerwiegenden Widerspruch. Folgt man Bretts prinzipieller Gleichsetzung, dann ist man angesichts der offensichtlichen Norma_____________ 51 52 53 54 55

Vgl. Hood 1967: 155; und Skinner 2002d: 209f. Wernham 1965: 123. Von Leyden 1982: 38. E: 61. Vgl. Brett 1997: 215.

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tivität des ‚blameless‘ gezwungen, die Wendung von der ‚blameless liberty‘ so zu interpretieren, als sei es den Hobbes’schen Individuen erlaubt, hinsichtlich der Handlungen, mit denen die Verteidigung des eigenen Lebens sichergestellt werden kann, Überlegungen anzustellen und im Überlegungsprozess solange zu verharren, wie es ihnen beliebt. Eine solche Deutung ergäbe aber nicht nur wenig Sinn, sie widerspräche auch Hobbes’ Aussage, nach der hinsichtlich der in Frage stehenden Handlungen gar kein wirklicher Überlegungsprozess möglich ist und die Festlegung auf Tun oder Unterlassen schon in dem Moment erfolgt, in dem der Charakter der konkret in Frage stehenden Handlung erkannt wird. Das natürliche Recht als ‚blameless liberty‘ folgt ja gerade aus der Tatsache, dass einem vernünftigen Individuum nur eine der beiden Varianten offen steht. Das aber heißt nichts anderes, als dass das Individuum hinsichtlich solcher Handlungen, die den Schutz des eigenen Lebens zum Gegenstand haben, gar nicht über die von Hobbes in Kapitel XII beschriebene Freiheit des Überlegungsprozesses verfügt, sondern sein Wille gleichsam immer schon gebildet ist. Wenn Hobbes daher den Individuen mit Bezug auf Handlungen zur Verteidigung des eigenen Lebens ‚blameless liberty‘ zugesteht, dann kann damit nur die moralisch-rechtliche Freiheit gemeint sein, die betreffenden Handlungen gemäß der mit Notwendigkeit erfolgten Entscheidung auch auszuführen. Das aber heißt, dass mit Blick auf Hobbes’ Ausführungen in den Elements mindestens zwei Formen von Freiheit unterschieden werden müssen, nämlich einmal die in Kapitel XII beschriebene ‚freedom as deliberation‘, über die ein Individuum im Zuge eines konkreten Überlegungsprozesses verfügt, und einmal die moralisch-rechtliche ‚freedom from obligation‘, über die es qua natürlichem Recht verfügt. Dass Hobbes in den Elements in der Tat grundsätzlich über einen solchen moralisch-rechtlichen Begriff von Freiheit als ‚freedom from obligation‘ verfügt, zeigt sich im zehnten Kapitel des zweiten Buches der Elements, in dem Hobbes die Begriffe ‚law‘ und ‚right‘ bzw. ‚lex‘ und ‚jus‘ einander gegenüberstellt und das Recht explizit als diejenige Freiheit definiert, die dem Handelnden durch die Gesetze gelassen wird. The names lex, and jus, that is to say, law and right, are often confounded; and yet scarce are there any two words of more contrary signification. For right is that liberty which law leaveth us; and laws those restraints by which we agree mutually to abridge one another’s liberty. Law and right therefore are no less different than restraint and liberty, which are contrary [...]56

Wenn nun Hobbes’ oben kritisierte Berufung auf den allgemeinen Gebrauch des Wortes ‚right‘ im Zuge seiner Begründung des natürlichen Rechts auch nicht zu überzeugen vermag, so heißt dies doch nicht, dass diese Begründung _____________ 56

E: 186.

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des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung insgesamt scheitern würde. Wie oben ausgeführt worden ist, ist Hobbes’ Darstellung zufolge der Verzicht auf die Verteidigung des eigenen Körpers und des eigenen Lebens entweder faktisch unmöglich oder nur als Folge einer schwerwiegenden Störung der Vernunftfähigkeiten des Handelnden denkbar. In beiden Fällen lässt sich aber folgern, dass ein solcher Verzicht dann seinerseits auch nicht vernünftigerweise vom Handelnden erwartet oder gefordert werden kann. Im ersten Fall würde man schlicht etwas Unmögliches von ihm verlangen; im zweiten Fall würde man im Namen der Vernunft von ihm verlangen, unvernünftig zu handeln. Beide Forderungen können daher in gewissem Sinne als widersprüchlich oder unvernünftig gelten. Hobbes weist auf diese Tatsache zwar nicht ausdrücklich hin, es kann aus meiner Sicht aber kaum ein Zweifel bestehen, dass seine Hervorhebung der Notwendigkeit und der Vernünftigkeit von Handlungsweisen, die den Schutz des eigenen Lebens zum Zweck haben, in dieser Weise zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund dieser Lesart lässt sich nun zudem die Auffassung vertreten, dass Hobbes sich – zumindest im vorliegenden Kontext – keines direkten Fehlschlusses schuldig macht. Das Hobbes’sche Postulat eines natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung wird nicht einfach aus dem faktischen Selbsterhaltungsstreben der Menschen abgeleitet, sondern es wird begründet durch den Hinweis auf die Notwendigkeit und Vernünftigkeit dieses Strebens. Warrender verweist daher zurecht auf die Bedeutung des Prinzips ‚ought implies can‘. Dass dem Menschen ein natürliches Recht zukommt, sein Leben und seine Glieder zu verteidigen, folgt nicht allein daraus, dass er aller Voraussicht nach in dieser Weise handeln wird. Es folgt aus dem an dieser Stelle von Hobbes nicht eigens ausgeführten, aber zweifelsohne vertretenen Prinzip, dass grundsätzlich nur solche Handlungen moralisch unzulässig sein können, die vom Handelnden auch hätten unterlassen werden können. Warrenders Interpretation ist höchstens insofern zu ergänzen, als nach unserer obigen Lesart auch solche Handlungen nicht sinnvoll vom Handelnden verlangt werden können, die in einem besonders grundlegenden Sinne unvernünftig sind. Das Prinzip, auf das Hobbes zurückgreift, ließe sich daher angemessener mit den Worten ‚ought implies (rationally) can‘ umschreiben. Es trifft zu, dass dieses Prinzip selbst von Hobbes nicht eigens begründet wird, sondern dass es eher als Axiom vorausgesetzt wird. Meines Erachtens schränkt das den Wert des Hobbes’schen Argumentes aber nicht ein, da es sich bei dem Prinzip um einen Grundsatz handelt, der – zumindest im Rahmen eines Versuchs, eine vernünftige Moral im Sinne einer ‚moral science‘ zu begründen – zulässigerweise vorausgesetzt werden kann.

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5.2.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ Der zweite Schritt der Hobbes’schen Erörterung des natürlichen Rechts, mit dem die Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ ihren Anfang nimmt, ist mit deutlich weniger Fragen und Schwierigkeiten verbunden als die anfängliche Begründung des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung und kann daher auch mit wenigen Worten abgehandelt werden. Nachdem Hobbes dem Menschen das grundsätzliche Recht zugesprochen hat, seine Kraft zur Verteidigung des eigenen Körpers und des eigenen Lebens einzusetzen, folgert er, dass der Einzelne dann auch das Recht haben muss, diejenigen Handlungen auszuführen, die zu diesem Zweck konkret notwendig sind, und auf all diejenigen Mittel zurückzugreifen, derer er dabei bedarf. And because where a man hath right to the end, and the end cannot be attained without the means, that is, without such things as are necessary to the end, it is consequent that it is not against reason, and therefore right for a man, to use all means and to do whatsoever action is necessary for the preservation of his body.57

Das Zugeständnis des natürlichen Rechts, sich der zur Selbsterhaltung notwendigen Mittel zu bedienen, stellt letztlich nicht mehr als eine logische Explikation des ursprünglichen Rechts auf Verteidigung des eigenen Körpers und des eigenen Lebens dar, und so ist es auch innerhalb der HobbesForschung allgemein als unproblematisch aufgefasst worden. Das natürliche Recht jedes Einzelnen, in eigener Sache Richter zu sein und die zu seiner Erhaltung notwendigen Mittel selbst zu bestimmen, welches Hobbes dem Menschen im Anschluss daran zuspricht, wirft dagegen wieder einige Fragen auf, und ihm kommt auch für die letztliche Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ insgesamt eine weitaus größere Bedeutung zu. Also every man by right of nature is judge himself of the necessity of the means, and of the greatness of the danger. For if it be against reason, that I be judge of mine own danger myself, then it is reason, that another man be judge thereof. But the same reason that makes another man judge of those things that concern me, maketh me also judge of that that concerneth him. And therefore I have reason to judge of his sentence, whether it be for my benefit, or not.58

Schon Hobbes’ anfängliche Behauptung, die einzige Alternative zur Anerkennung des ipse-iudex-Prinzips bestehe darin, dem jeweils anderen das Recht auf die Einschätzung der notwendigen Mittel zur Selbsterhaltung zuzugestehen, vermag in der Selbstverständlichkeit, mit der Hobbes sie präsentiert, nicht zu überzeugen. So ließe sich etwa kritisieren, dass Hobbes, nachdem er zunächst weitgehend logisch und psychologisch argumentiert hat, nun insofern stärker _____________ 57 58

E: 72. E: 72.

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von empirisch-pragmatischen Aspekten ausgeht, als er voraussetzt, dass es in jedem Fall eine Person geben muss, die faktisch das Amt des Richters ausübt und der daher das Recht auf Richterschaft zukommen muss. Es wäre aber gerade im Kontext einer normativ-rechtlichen Diskussion durchaus denkbar, sich konsequent und ausschließlich an idealen Zuständen zu orientieren und die Frage der Anwendungsbedingungen des natürlichen Rechts und seiner konkreten Umsetzbarkeit deutlicher von der Frage der Rechtmäßigkeit zu trennen. Im vorliegenden Fall hieße das, dass das Recht auf die zur Selbsterhaltung notwendigen Mittel konsequent durch die wirkliche und objektive Notwendigkeit der in Frage stehenden Mittel bestimmt und beschränkt bleiben könnte und folglich auch unrechtmäßige, weil falsche, faktische Urteile über die zur eigenen Erhaltung notwendigen Handlungen möglich wären. Der Begriff der rechten Vernunft, mit dem Hobbes bis zu dieser Stelle operiert hat, ließe eine solche Argumentation ohne Weiteres zu. Es zeigt sich aber bereits an dieser Stelle, dass Hobbes nicht nur die Frage der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit von Handlungen relativ stark an Fragen der praktischen Durchführbarkeit koppelt, sondern auch, dass er letztlich eine doppeldeutige Haltung zum traditionellen Begriff der recta ratio einnimmt.59 Hobbes grenzt sich, wie gesehen, im fünften Kapitel der Elements dadurch von der Tradition ab, dass er der Vernunft eine genuin normative Qualität abspricht und den Begriff der rechten Vernunft auf den Vorgang des angemessenen logischen Schließens reduziert. Auf diese Weise bleibt die Vernunft jedoch immerhin als objektiver Maßstab erhalten – es gibt objektiv richtige und objektiv falsche Schlüsse –, und in diesem Sinne wird der Begriff auch für Hobbes’ eigene Argumentation genutzt. Im zehnten Kapitel des zweiten Teils der Elements vollzieht Hobbes die Abgrenzung vom traditionellen Begriff der recta ratio dagegen auf eine gänzlich andere Weise, nämlich indem er auf das praktische Problem verweist, zwischen mehreren Menschen dahingehend faktische Einigkeit zu erzielen, wessen Argumente und Schlussfolgerungen als richtig zu gelten haben. Die Zweifel, die Hobbes bezüglich der Möglichkeit einer solchen faktischen Einigung grundsätzlich hegt – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Geschichte –, veranlassen ihn letztlich zu der Aussage, es gebe keine rechte Vernunft und jeder Mensch halte zwangsläufig seine eigene Vernunft für die rechte Vernunft.60 Diese zweite und abweichende Behandlung des Begriffs ‚right reason‘ widerspricht den früheren Aussagen zwar de facto, sie steht aus meiner Sicht aber nicht in einem zwingenden logischen Widerspruch zu ihnen, weil Hobbes sich letztlich zwei verschiedenen Fragen widmet, nämlich einmal der definitorischen Frage, wann von einem richtigen, d.h. korrekten Gebrauch der Ver_____________ 59 60

Zu Hobbes’ ambivalenter Haltung zum Begriff der recta ratio vgl. auch Bärthlein 1966. Vgl. E: 188f.

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nunft gesprochen werden kann, und einmal der empirisch-praktischen Frage, ob es bezüglich des Vernünftigen und des Unvernünftigen einen gesellschaftlichen Konsens gibt oder geben kann. Der hier offenbar werdende Perspektivwechsel deutet sich nun aber streng genommen bereits im Rahmen der Hobbes’schen Begründung des ipse-iudex-Prinzips an. Schon hier fragt Hobbes nicht mehr nur danach, was objektiv vernünftig und in diesem Sinne richtig ist, sondern auch danach, wer praktisch über Vernünftigkeit und Richtigkeit von Urteilen entscheiden soll, und mit der nicht eigens eingestandenen Prämisse, dass es eine solche Instanz geben muss, weicht Hobbes von seinem bisherigen Kriterium der Vernünftigkeit und der faktischen Notwendigkeit ab und bereitet den Weg für eine subjektivistische Naturrechtslehre und für das ‚Recht aller auf alles‘. Es liegt nahe anzunehmen, dass auch die Hobbes’sche Betonung der empirisch-praktischen Perspektive grundsätzlich auf die Bedeutung des Prinzips ‚ought implies can‘ zurückzuführen ist. Hobbes’ Diskussion des natürlichen Rechts ist, wie gesehen, von dem Grundgedanken geprägt, dass das, was moralisch richtig sein soll, auch durchführbar sein muss. Dass Hobbes der praktischen Frage, wer im Naturzustand faktisch über die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit einer Handlung entscheiden soll, eine derartige Bedeutung beimisst, lässt sich meiner Auffassung nach als Ausdruck dieses Grundgedankens interpretieren. Gerade anhand des Prinzips ‚ought implies can‘ lässt sich aber die Akzentverschiebung innerhalb der Hobbes’schen Diskussion des Naturrechtes noch einmal pointiert herausstellen. Während das Prinzip, das im Rahmen der Begründung des Rechts auf Selbsterhaltung Anwendung findet, die Form hat ‚ought implies (rationally) can‘, greift Hobbes nun eher auf das Prinzip ‚ought implies (actually) can‘ zurück. Das zweite Problem der Hobbes’schen Begründung des ipse-iudexPrinzips besteht darin, dass Hobbes’ Widerlegung der von ihm angedeuteten einzigen Alternative zu einer solchen Anerkennung des Rechts auf eigene Richterschaft nicht zu überzeugen vermag. Hobbes versucht, die Alternativposition, nach der das Recht zur Wahl der zur Erhaltung eines Individuums notwendigen Mittel einem anderen Individuen zuzusprechen ist, dadurch zurückzuweisen, dass er sie als selbstwiderlegend ausweist. Wenn man nun aber auch mit guten Gründen die Auffassung vertreten kann, dass es eine wenig sinnvolle Konstruktion darstellen würde, in dem von Hobbes skizzierten Sinne das Recht zur Bestimmung der notwendigen Mittel nicht dem Handelnden, sondern einem anderen Individuum zuzusprechen, um dann das Recht zur Bestimmung der zur Erhaltung dieses anderen Individuums notwendigen Mittel seinerseits dem ersten Individuum oder wiederum einem anderen Individuum zuzusprechen, so enthielte eine solche Konstruktion doch keineswegs einen logischen Widerspruch. Entsprechend gelingt es Hobbes letztlich nur dadurch, die betreffende Position ad absurdum zu führen,

5.2 The Elements of Law

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dass er im Zuge seiner Argumentation das Recht, über die zur Erhaltung einer Person notwendigen Mittel zu bestimmen, zu einem Recht ausweitet, allgemein über die Angelegenheiten der in Frage stehenden Person zu urteilen. Dass ein Individuum B das Recht hat festzulegen, welche Mittel und Handlungen zur Erhaltung von Individuum A notwendig sind, impliziert keineswegs zwangsläufig, dass es auch das Recht dazu hat, alle möglichen Urteile, die von Individuum A gefällt werden, zu bewerten und gegebenenfalls aufzuheben. Die These von Hobbes, nach der aus dem Recht von Individuum B, über die zur Erhaltung von Individuum A notwendigen Mittel zu bestimmen, letztlich unweigerlich das Recht von Individuum A folgt, selbst über die zur eigenen Erhaltung notwendigen Mittel zu bestimmen – und sei es auch nur indirekt –, ist daher falsch. Möglich wird sie nur dadurch, dass Hobbes im zweiten Teil seiner Argumentation dem zweiten Individuum, also Individuum B, plötzlich nicht mehr nur das Recht zuspricht, die zur Erhaltung von Individuum A notwendigen Mittel zu bestimmen („judge himself of the necessity of the means“), sondern das Recht, über alle Dinge zu urteilen, die Individuum A betreffen („judge of those things that concern me“). Nur in diesem zweiten Sinne umfasst das Recht von Individuum B dann auch das Recht, die Urteile von Individuum A zu evaluieren, und nur dann zöge das gleiche Recht von Individuum A, die Urteile von Individuum B zu evaluieren, in letzter Konsequenz das Recht nach sich, über die zur eigenen Erhaltung notwendigen Mittel selbst zu bestimmen, nämlich durch die Re-Evaluierung der hinsichtlich dieser Frage von Individuum B ergangenen Urteile. Nachdem Hobbes im Anschluss an seine Begründung des ipse-iudexPrinzips noch einmal allgemein das Recht des Einzelnen bekräftigt hat, die eigene Urteilsfähigkeit sowie auch alle anderen ihm zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Vermögen für die eigene Erhaltung zu nutzen, folgert er, dass dem Einzelnen letztlich ein natürliches ‚Recht auf alles‘ zukommt. Every man by nature hath right to all things, that is to say, to do whatever he listeth to whom he listeth, to possess, use, and enjoy all things he will and can. For seeing all things he willeth, must therefore be good unto him in his own judgement, because he willeth them; and may tend to his preservation some time or other; or he may judge so, and we have made him judge thereof, sect. 8: it followeth that all things may rightly also be done by him. And for this cause it is rightly said: Natura dedit omnia omnibus, that Nature hath given all things to all men; insomuch, that jus and utile, right and profit, is the same thing.61

Betrachtet man die Wendungen, mit denen Hobbes das ‚Recht auf alles‘ umschreibt, und betrachtet man die Gründe, die er anschließend zur Erläuterung und Rechtfertigung dieses Rechtes anführt, so gewinnt man in der Tat den Eindruck, das natürliche Recht sei aus Hobbes Sicht gänzlich unbegrenzt. _____________ 61

E: 72.

144

5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Gerade die Hinweise, mit deren Hilfe Hobbes zu erklären versucht, warum aus dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung ein ‚Recht auf alles‘ folgt, zeigen aber, dass selbst ein solcher unbegrenzter Umfang des natürlichen Rechts nicht unbedingt im Widerspruch zu der Interpretation stünde, der Umfang des natürlichen Rechts sei prinzipiell vom Vernunfturteil des Handelnden abhängig. Das natürliche Recht wird nicht deshalb zu einem ‚Recht auf alles‘, weil die anfängliche Bindung des Rechts ans Vernunfturteil des Handelnden von Hobbes plötzlich aufgegeben würde, sondern deshalb, weil die Bindung ans Vernunfturteil des Handelnden Hobbes’ Darstellung zufolge im Naturzustand faktisch keine Begrenzung des Rechts nach sich zieht. Dass das natürliche Recht dem Einzelnen letztlich das Recht gibt, „to do whatever he listeth to whom he listeth“, liegt daran, dass nach Hobbes’ Einschätzung ein Individuum a) alle Dinge, die es begehrt, als Gut ansieht, eben weil es sie begehrt (bzw. es umgekehrt ja nur solche Dinge überhaupt begehren wird, die es als Gut ansieht), und b) von allen Dingen, die es begehrt und als Gut ansieht, subjektiv auch glaubt, dass sie seiner Erhaltung förderlich sind oder zumindest sein können. Nach Hobbes gibt es folglich im Naturzustand keine Handlung, die ein Individuum zugleich wollen und dennoch nicht als seiner Erhaltung förderlich beurteilen wird, und so wird das natürliche Recht – seiner prinzipiellen Bindung an das Vernunfturteil des Handelnden zum Trotz – praktisch zu einem Recht auf alles, was der Handelnde faktisch begehrt und anstrebt. Dies zeigt aber auch, dass das natürliche Recht kein unbedingtes Recht auf alles im eigentlichen Sinne des Wortes ist. Es ist prinzipiell ein Recht auf alles, was der Handelnde als förderlich zu seiner Erhaltung erachtet. Da der Handelnde im Naturzustand laut Hobbes alles, was er überhaupt begehrt, auch als förderlich zu seiner Erhaltung erachtet, ist es damit ein Recht auf alles, was der Handelnde faktisch begehrt. Es ist aber insofern kein Recht auf alles im Wortsinne, als es nicht diejenigen Handlungen und Gegenstände umfasst, die der Handelnde faktisch nicht begehrt, aber theoretisch begehren könnte. Diese Handlungen sind allerdings zumindest potenziell durch das natürliche Recht gedeckt, d.h. sobald der Handelnde die Handlungen faktisch ausführen will, hat er auch ein Recht sie auszuführen. Das aber heißt nichts anderes, als das die Individuen im Naturzustand praktisch nicht unrechtmäßig handeln können. Es heißt zudem, dass das Recht des Handelnden aus Sicht eines anderen Individuums, das die konkreten Neigungen und Begierden des Handelnden nicht kennt, alle Handlungen und Gegenstände umfasst, von denen überhaupt denkbar ist, dass sie vom Handelnden begehrt werden könnten. Die Einschränkungen und Bedingungen des ‚Rechts auf alles‘ sind daher, so sehr sie theoretisch existieren mögen, praktisch nahezu irrelevant, und so erscheint auch Hobbes’ Wahl des vielleicht etwas überpointierten Begriffes ‚Recht auf alles‘ an dieser Stelle nicht sonderlich unangemessen.

5.2 The Elements of Law

145

Dies soll jedoch keineswegs heißen, dass die Hobbes’sche Begründung des ‚Rechts auf alles‘ frei von Problemen wäre. Das Hauptproblem besteht darin, dass Hobbes dem eigenen Kriterium der Notwendigkeit einer Handlung oder eines Gegenstandes untreu wird und es durch das ungleich schwächere Kriterium der Nützlichkeit ersetzt. Wird dem Einzelnen zuvor nur ein Recht auf alle Handlungen und Gegenstände zugesprochen, von denen er glaubt, sie seien zu seiner Erhaltung unabdingbar, so gesteht Hobbes ihm im Zuge der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ ein Recht auf alle Handlungen und Gegenstände zu, von denen er glaubt, dass sie seiner Erhaltung förderlich seien, eine Akzentverschiebung, die durch die explizite Gleichsetzung von jus und utile (anstatt jus und necessitas) noch einmal bestätigt wird. Der Grund für diese Akzentverschiebung dürfte darin zu sehen sein, dass Hobbes kaum überzeugend hätte behaupten können, ein Individuum würde im Naturzustand zwangsläufig von allen Handlungen und Gegenständen, die es begehrt oder anstrebt, auch glauben, sie seien zu seiner Erhaltung notwendig. Dass es glaubt, sie seien seiner Erhaltung zumindest förderlich, lässt sich dagegen eher behaupten. Auch hier lassen sich allerdings durchaus noch gewisse Zweifel anmelden. Zu fragen wäre etwa, ob beispielsweise die Liebes- und Sexualbeziehungen der Naturzustandsindividuen, von denen ja ohne Weiteres denkbar ist, dass sie im Sinne möglicher Nebenbuhlerschaften mit Konkurrenzsituationen und Streitigkeiten einher gehen, als Ausübung von Handlungen verstanden werden können, die von den betroffenen Individuen immer auch als zur Erhaltung des eigenen Lebens förderliche Handlungen begriffen werden müssen. Es liegt zwar auf der Hand, dass die angestrebten Beziehungen den betroffenen Individuen als ein Gut und womöglich auch als ein besonders wichtiges Gut erscheinen werden und dass die Individuen daher ein besonders starkes Interesse an der Realisierung ihres Zieles haben werden. Deshalb aber anzunehmen, dass die Individuen zwangsläufig glauben werden, die betreffende sexuelle Beziehung könne einen wichtigen Beitrag zu ihrer Selbsterhaltung leisten, erscheint wenig überzeugend. Die Tatsache, dass Hobbes offensichtlich daran interessiert ist, ein natürliches ‚Recht aller auf alles‘ behaupten zu können, und er seine Argumentation auf diesen Zweck auszurichten bereit ist, bestätigt noch einmal, dass die Hobbes’sche Erörterung des Naturrechts im Sinne unserer obigen Ausführungen von dem Bestreben gekennzeichnet ist, die Handlungsweisen, die den naturzuständlichen ‚Krieg aller gegen alle‘ nach sich ziehen, zu rechtfertigen und die Naturzustandsindividuen auf diese Weise von einem möglichen moralischen Vorwurf freizusprechen. Das Ergebnis, zu dem Hobbes letztlich gelangt, nämlich die These, dass alle Handlungen, die die Individuen im Naturzustand faktisch ausführen, angesichts des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ als rechtmäßig anzusehen sind, steht nun allerdings insofern in einer gewissen Spannung zu der vorangegangenen Beschreibung der verschiedenen Konf-

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

liktursachen, als die moralisierenden Begriffe, die Hobbes im Zuge seiner Unterscheidung verschiedener Gruppen von Individuen verwendet, angesichts der Rechtmäßigkeit aller Handlungen der Naturzustandsindividuen – und folglich auch der Handlungen aller Naturzustandsindividuen, ‚vainglorious men‘ wie ‚moderate men‘ – ein wenig unangemessen erscheinen. Eine zusätzliche Spannung ergibt sich zudem aus der Tatsache, dass Hobbes das natürliche Recht auf Selbsterhaltung zunächst mit dem Begriff der ‚blameless liberty’ einführt, um dann im Zuge der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ den damit erweckten Eindruck, es gebe auch einen Freiheitsgebrauch, der nicht vernünftig und nicht legitim sei, zu konterkarieren. Das eigentliche Problem ergibt sich allerdings nicht aus der bloßen Verwendung des Begriffes ‚blameless liberty‘, den man gegebenenfalls als Tautologie interpretieren und als bewusst eingesetztes rhetorisches Mittel abtun könnte, sondern daraus, dass Hobbes zu Beginn des neunzehnten Kapitels mit der Ausübung von Grausamkeiten explizit einen Freiheitsgebrauch beschreibt, der selbst im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ durch das natürliche Gesetz verboten und folglich illegitim ist, was nun dem Begriff ‚blameless liberty‘ wieder eine gewisse Berechtigung verleihen mag, aber offensichtlich mit der Hobbes’schen Behauptung und Begründung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ inhaltlich nicht vereinbar ist. It is a proverbial saying, inter arma silent leges. There is little therefore to be said concerning the laws that men are to observe one towards another in time of war, wherein every man’s being and well-being is the rule of his actions. Yet thus much the law of nature commandeth in war: that men satiate not the cruelty of their present passions, whereby in their own conscience they foresee no benefit to come. For that betrayeth not a necessity, but a disposition of the mind to war, which is against the law of nature.62

Wenn das natürliche Gesetz den Menschen auch im Zustand des allgemeinen Krieges untersagt, sich dort grausam gegenüber einem Feind zu zeigen, wo sie sich von dieser Grausamkeit keinen zukünftigen Nutzen im Hinblick auf ihre Selbsterhaltung versprechen, dann heißt das nichts anderes, als dass es im Naturzustand eben doch Handlungen geben kann, die für den Handelnden subjektiv ein Gut darstellen, die aber seiner Erhaltung weder objektiv förderlich sind noch von ihm selbst in dieser Weise gesehen werden, eine Möglichkeit, die Hobbes im Rahmen seiner Begründung des ‚Rechts auf alles‘ explizit geleugnet hatte. Mit Blick auf die Elements of Law lässt sich daher abschließend festhalten, dass die Unklarheit, ob es sich beim natürlichen ‚Recht auf alles‘ tatsächlich um ein Recht auf alle denkbaren Handlungen und Gegenstände handelt, zu einem guten Teil auf Widersprüche innerhalb der Hobbes’schen Aussagen _____________ 62

E: 100.

5.3 De Cive

147

zurückführen ist. Hobbes präsentiert das natürliche ‚Recht auf alles‘ zwar zunächst als ein Recht, das alle faktisch ausgeführten Handlungen im Naturzustand gleichermaßen legitimiert. Er stellt seine eigene Darstellung aber wenig später dadurch in Frage, dass er von einer bestimmten Handlungsweise behauptet, dass sie zu keinem Zeitpunkt legitim und durch das natürliche Recht gedeckt sein könne. Nimmt man die Tatsachen hinzu, dass zwischen dem Begriff des ‚Rechts auf alles‘ und anderen Aussagen von Hobbes eine gewisse Spannung besteht und dass Hobbes’ Begründung eines alle Handlungen umfassenden natürlichen Rechts nur bedingt zu überzeugen vermag, tut man meines Erachtens gut daran, den eingeschränkteren Begriff des natürlichen Rechts als den ‚eigentlichen Hobbes‘ zu verstehen und die Beschreibung des natürlichen Rechts als Recht des Menschen „to do whatever he listeth and to whom he listeth“ als eine leichte Übertreibung zu werten, zu der Hobbes von seinem schon in den Elements spürbaren Bestreben getrieben wurde, einer möglichen moralisch-rechtlichen Widerlegung des für seine Argumentation so wichtigen ‚Krieges aller gegen alle‘ argumentativ zu begegnen.

5.3 De Cive 5.3.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung Die Diskussion des natürlichen Rechts in De Cive zeigt insgesamt nur geringe Unterschiede gegenüber der Naturrechtstheorie der Elements. Zwar finden sich hier und da einige Abweichungen in Hobbes’ Ausführungen. Diese sind aber zumeist eher rein sprachlicher denn argumentativer Natur, und sie ziehen in ihrer Gesamtheit weder eine veränderte inhaltliche Position nach sich, noch vermögen sie die oben monierte Widersprüchlichkeit der Hobbes’schen Darstellung gänzlich zu beseitigen. Als Verbesserung gegenüber den Elements kann einzig die konsequentere Haltung gelten, die Hobbes in De Cive zum traditionellen Begriff der recta ratio einnimmt. Anders als in den Elements liefert Hobbes in der ersten Auflage von De Cive zwar keine ausführliche Definition des Begriffes. Dieses Versäumnis ist aber dadurch zu erklären, dass die eingehende Diskussion der mentalen und physischen Vermögen des Menschen, in deren Kontext diese Definition in den Elements entwickelt wird, in De Cive gänzlich fehlt. Sie bleibt dem eigenständigen zweiten Teil der Elementorum Philosophiae, De Homine, vorbehalten, der freilich erst 1658, d.h. nach dem englischen Leviathan, erscheint und auf den daher zum Zwecke der Interpretation von De Cive nur sehr bedingt zurückgegriffen werden kann. Auch in der ersten Auflage von De Cive versäumt Hobbes aber nicht, den von ihm verwendeten Begriff kurz zu erläu-

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

tern, und er tut dies in einer Weise, die mit der ausführlichen Definition der Elements inhaltlich übereinstimmt. So spricht er im Rahmen seiner Diskussion des Begriffs ‚lex naturalis‘ von der recta ratio als dem Inbegriff wahrer Konklusionen, die aus richtigen Grundsätzen in richtiger Schlussweise abgeleitet worden sind.63 Im Rahmen der eigentlichen Argumentation greift Hobbes nun weitaus häufiger als in den Elements auf den Begriff der recta ratio zurück, und zwar auch an solchen Stellen, an denen er in den Elements schlicht auf die Vernunft (‚reason‘) und nicht auf die rechte Vernunft (‚right reason‘) Bezug genommen hatte.64 Wie diese Tatsache bereits andeutet, präsentiert Hobbes die Vernunft in De Cive insgesamt noch konsequenter als in den Elements im Sinne eines Kriteriums, mit dessen Hilfe sich die menschlichen Urteile grundsätzlich als objektiv richtig oder falsch bewerten lassen. Das Bekenntnis zur recta ratio im Sinne eines objektiven Kriteriums zeigt sich auch und vor allem daran, dass Hobbes im vierzehnten Kapitel von De Cive, in dem er sich wie im zehnten Kapitel des zweiten Teils der Elements mit der Frage beschäftigt, wessen Urteile im Staat als Maßstab des Handelns fungieren sollen, auf die kritische Zurückweisung des Begriffs recta ratio verzichtet. Hobbes äußert zwar auch hier grundlegende Zweifel, ob eine größere Gruppe von Menschen hinsichtlich ihrer Urteile übereinzustimmen oder sich praktisch darauf zu einigen vermag, was als vernünftig zu gelten hat. Und er gesteht den Urteilen und Gesetzen des staatlichen Souveräns aus diesem Grund die Funktion zu, die Vernunft gleichsam offiziell zu repräsentieren. Anders als in den Elements nimmt Hobbes das praktische Problem der Einigung auf eine bestimmte Einschätzung der Lage in De Cive aber nicht zum Anlass, um die Existenz der rechten Vernunft selbst oder die Verwendbarkeit des entsprechenden Begriffs prinzipiell anzuzweifeln.65 Diese Veränderung liefert zusammen mit der konsequenteren Verwendung des Begriffs recta ratio aus meiner Sicht einen hinreichenden Grund, um Hobbes mit Bezug auf die erste Auflage von De Cive eine konsistentere Haltung zum traditionellen Begriff der recta ratio zu attestieren. Die Veränderungen, die Hobbes in der zweiten Auflage von De Cive vornimmt, lassen diese Entwicklung letztlich unbeschadet bestehen. Sie sind allerdings von einer gewissen Unklarheit geprägt, die ihre eingehendere Betrachtung erfordert. In der überarbeiteten und erweiterten zweiten Auflage von De Cive ergänzt Hobbes seine Ausführungen um eine ausführliche Definition des Begriffes recta ratio, mit der er – wohl angesichts der größeren Bedeutung, die dem Ausdruck nun innerhalb seiner Darstellung zukommt – seinen Gebrauch des Terminus _____________ 63 64 65

Vgl. DC: 99. Vgl. etwa DC: 94, 95 und 99; sowie demgegenüber E: 71, 72 und 75. Vgl. DC: 213f.

5.3 De Cive

149

noch einmal eingehend zu erläutern und sich nachhaltig von der traditionellen Verwendungsweise des Begriffes abzugrenzen versucht. Per Rectam rationem in statu hominum naturali, intelligo, non ut multi Facultatem infallibilem, sed ratiocinandi actum, id est, Ratiocinationem uniuscujusque propriam, & veram circa actiones suas, quae in utilitatem, vel damnum caeterorum hominum redundare possint. Propriam dico, quia quamquam in Civitate, ipsius Civitatis ratio (hoc est Lex civilis) à singulis civibus pro recta habenda sit; tamen extra Civitatem, ubi rectam rationem à falsa dignoscere nisi comparatione factâ cum sua nemo potest, sua cujusque ratio non modo pro actionum propriarum, quae suo periculo fiunt, regulâ, sed etiam in sui rebus pro rationis alienae mensurâ censenda est.Veram dico, id est, ex veris principiis rectè compositis concludentem.66

Wie der erste und der letzte Satz der Passage deutlich machen, stimmt die ausführlichere Definition des Begriffs der rechten Vernunft sowohl mit der nach wie vor im Text enthaltenen kurzen Erläuterung des Begriffs als auch mit der Definition der Elements inhaltlich überein. Der Begriff der recta ratio bezeichnet für Hobbes kein untrügliches Vermögen oder eine normative Instanz, sondern den konkreten Prozess des Denkens und Schlussfolgerns, und bei diesem Prozess handelt es sich dann um den rechten Vernunftgebrauch, wenn auf richtige Weise Schlussfolgerungen aus wahren Prämissen gezogen werden. Unklar ist die Hobbes’sche Definition allerdings insofern, als der Wendung von der ‚eigenen und wahren Schlussfolgerung‘ (‚ratiocinatio propria & vera’) etwas Widersprüchliches anhaftet. Ist eine Schlussfolgerung ‚wahr‘, so ließe sich einwenden, dann kann sie dies nicht nur für diejenige Person sein, die faktisch die betreffende Schlussfolgerung gezogen hat, sondern dann muss sie als ‚wahre‘ Schlussfolgerung eo ipso auch für alle anderen Personen Geltung beanspruchen können. Gilt sie hingegen nur für die Person, die die Schlussfolgerung gezogen hat, dann kann sie umgekehrt auch nicht ‚wahr‘ sein, und dann kommt ihr eine Geltung im strengen Sinne auch nicht einmal für dieses eine Individuum zu, sondern höchstens insofern, als das Individuum seine eigene Schlussfolgerung für ‚wahr‘ hält. Die Art und Weise, auf die Hobbes im Anschluss die von ihm gewählte Wendung zu erklären versucht, vermag deren Widersprüchlichkeit nun zwar nicht vollständig aufzulösen. Sie zeigt aber zumindest, dass Hobbes nicht die Absicht hat, von seinem Bekenntnis zur recta ratio als einem objektiven Kriterium wieder abzurücken. Wie die Aussage „tamen extra Civitatem, ubi rectam rationem à falsa dignoscere nisi comparatione factâ cum sua nemo potest“ deutlich macht, will Hobbes mit der Wendung von der ‚eigenen wahren Schlussfolgerung‘ nicht den Begriff der recta ratio als eines objektiven Kriteriums zugunsten eines rein subjektivistischen Vernunftbegriffs aufgeben und die Position vertreten, dass es im Naturzustand anders als im staatlichen Zu_____________ 66

DC: 99.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

stand weder eine rechte Vernunft noch eine falsche Vernunft, d.h. weder objektiv Vernünftiges noch objektiv Unvernünftiges, gibt. Er ist lediglich einmal mehr bestrebt, auf das Problem hinzuweisen, dass im Naturzustand nicht sicher und verbindlich zwischen dem, was objektiv falsch, und dem, was objektiv richtig ist, unterschieden und entsprechend keine diesbezügliche Einigung erzielt werden kann. Wie Hobbes im zweiten Teil des Satzes („[tamen extra Civitatem], (...), sua cujusque ratio non modo pro actionum propriarum, quae suo periculo fiunt, regulâ, sed etiam in sui rebus pro rationis alienae mensurâ censenda est.“) weiter ausführt, muss daher im Naturzustand nicht nur der Einzelne seiner eigenen Vernunft so folgen, als sei sie die rechte Vernunft. Auch die jeweils anderen müssen in den Angelegenheiten, in denen sie mit dem betreffenden Individuum zu tun haben, dessen Vernunft insofern als rechte Vernunft anerkennen und sich selbst zu eigen machen, als sie die möglichen, die erwartbaren oder auch die ihnen bereits bekannten Urteile des betreffenden Individuums soweit zum Maßstab ihres eigenen Verhaltens machen, wie dies zu ihrer eigenen Sicherheit und zur Vermeidung von Konflikten notwendig ist. Dass im Naturzustand die Vernunft jedes Einzelnen als rechte Vernunft zu gelten hat, heißt demnach nicht, dass im Naturzustand jedes Vernunfturteil gleichermaßen richtig wäre. Es heißt nur, dass jedes Individuum der Tatsache Tribut zu zollen hat, dass sein jeweiliges Gegenüber seinen eigenen Urteilen folgen wird und man gegebenenfalls unnötig in Konflikte geraten wird, wenn man in seinen eigenen Handlungen diesen möglicherweise falschen Urteilen des anderen keinerlei Beachtung schenkt. Auch in der zweiten Auflage von De Cive hält Hobbes daher grundsätzlich an der Überzeugung fest, dass sinnvoll auf den Begriff der rechten Vernunft zurückgegriffen werden kann, weil es Schlussfolgerungen und Urteile gibt, die objektiv unzutreffend sind, und Handlungen, die den Interessen des Handelnden objektiv widerstreiten. Wie in der ersten Auflage von De Cive und wie auch schon in den Elements legt Hobbes lediglich großen Wert auf Fragen der praktischen Durchführbarkeit. Er ist daher bestrebt, darauf hinzuweisen, dass die bloß theoretische Möglichkeit einer Bewertung von Handlungen als objektiv vernünftig oder objektiv unvernünftig nicht ausreicht, um in Abwesenheit einer staatlichen Ordnung und positiver Gesetze eine friedliche Einigung unter den Menschen herbeizuführen. Die Funktion der rechten Vernunft im Rahmen der Begründung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung bleibt nun in De Cive prinzipiell dieselbe wie zuvor in den Elements, und auch ansonsten folgt die Hobbes’sche Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ in beiden Werken sehr stark den gleichen Pfaden. Wie in den Elements, so wird auch in De Cive das ‚Recht auf alles‘ im Zuge eines dreistufigen Argumentationsganges entwickelt, und den Ausgangspunkt bildet erneut die Behauptung, dem Einzelnen müsse ein natürliches Recht zukommen, seinen Körper und sein Leben zu schützen, weil ein solches Ver-

5.3 De Cive

151

halten vernünftig und dem Individuum gleichsam durch seine Natur vorgegeben sei. Inter tot pericula igitur quae quotidie à cupiditate hominum naturali vnicuique eorum intenduntur, cauere sibi adeò vituperandum non est, vt aliter velle facere non possimus. Fertur enim vnusquisque ad appetitionem eius quod sibi Bonum, & ad Fugam eius quod sibi malum est, maximè autem maximi malorum naturalium, quae est mors; idque necessitate quadam naturae, non minore quam quâ fertur lapis deorsum. Non igitur absurdum, neque reprehendendum, neque contra rectam rationem est, si quis omnem operam det, vt à morte & doloribus proprium corpus & membra defendat, conseruetque. Quod autem contra rectam rationem non est, id iustè, & Iure factum omnes dicunt. Neque enim Iuris nomine aliud significatur, quam libertas quam quisque habet facultatibus naturalibus secundum rectam rationem vtendi. Itaque Iuris naturalis fundamentum primum est, vt quisque vitam & membra sua quantum potest tueatur.67

Wie das obige Zitat zeigt, sind die Unterschiede zwischen der Begründung des natürlichen Rechtes auf Selbsterhaltung in den Elements und in De Cive marginal. In beiden Fällen behauptet Hobbes, dass ein Individuum gar nicht anders wollen kann, als sein Leben und seinen Körper gegen Gefahren zu verteidigen; und in beiden Fällen bezeichnet Hobbes vor diesem Hintergrund das aus diesem Willen resultierende Verhalten als vernünftig, um dann aus der Vernünftigkeit des Verhaltens auf dessen Rechtmäßigkeit zu schließen. Die Abweichungen bestehen lediglich darin, dass a) die Hobbes’sche Erörterung des Naturrechts in De Cive sprachlich ein wenig deutlicher an die vorangegangene Beschreibung der naturzuständlichen Konflikte und Konfliktursachen anschließt („Inter tot pericula...“); dass b) die Unterlassung solcher Handlungen, die der Verteidigung des eigenen Lebens und des eigenen Körpers dienen, durch den Vergleich mit dem zu Boden fallenden Stein nun unmissverständlicher als faktisch unmöglich behauptet wird (was Hobbes’ Argumentation nun noch stärker dem bereits oben angedeuteten Einwand aussetzt); und dass c) nicht-moralische und moralische Termini in Hobbes’ Argumentation stärker ineinander verflochten sind. Während Hobbes die Schützung des eigenen Körper und des eigenen Lebens in den Elements zunächst nur als notwendig und vernünftig beschreibt, um sie dann in einem deutlich davon abgesetzten zweiten Schritt als rechtmäßig auszuweisen, wird das betreffende Verhalten in De Cive schon gleich zu Beginn als nicht tadelnswert bezeichnet („vituperandum non est“), eine Bewertung, die nach der Betonung der Notwendigkeit eines solchen Verhaltens noch einmal wiederholt wird („neque reprehendum [...] est“). Die ausdrückliche Behauptung, das Verhalten müsse als rechtmäßig angesehen werden, weil _____________ 67

DC: 94.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

es nicht gegen die rechte Vernunft verstoße, wird daher durch Hobbes’ anfängliche Ausführungen in gewisser Weise bereits vorweggenommen. Diese frühe Verflechtung nicht-moralischer und moralischer Termini, wie sie vor allem die Aussage „Non igitur absurdum, neque reprehendendum, neque contra rectam rationem est“ prägt, mag unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass die lateinische Sprache Hobbes die Möglichkeit verwehrt, in der gleichen unauffälligen Weise wie in den Elements von dem, was vernünftig im Sinne von ‚richtig‘ ist, zu dem hinüberzugleiten, was vernünftig im Sinne von ‚rechtmäßig‘ ist. Hobbes ist stattdessen gezwungen, von der Tatsache, dass eine Handlung nicht gegen die Vernunft verstößt, direkt und unter Berufung auf den angeblichen consensus omnium zur Behauptung ihrer Rechtmäßigkeit überzugehen („Quod autem contra rectam rationem non est, id iustè, & Iure factum omnes dicunt.“). Dieser so nicht ohne Weiteres überzeugende Übergang wird in De Cive sowohl dadurch erleichtert, dass die Rechtmäßigkeit des in Frage stehenden Verhaltens zuvor bereits festgestellt worden ist, als auch dadurch, dass die Vernunft hier anders als in den Elements als recta ratio erscheint und auf diese Weise – gerade im Zusammenhang mit der Berufung auf das allgemein übliche Verständnis des Begriffs – moralische Konnotationen evoziert werden, zu denen Hobbes eigener, an dieser Stelle aber noch nicht eigens definierter Begriff der rechten Vernunft eigentlich gar keine angemessene Grundlage liefert. Die Vermischung moralischer und nicht-moralischer Termini macht aber zugleich deutlich, dass Hobbes den Begriff des natürlichen Rechts in De Cive wie schon in den Elements als normativen Begriff versteht und dass folglich auch die Freiheit, über die Hobbes das natürliche Recht definiert, im Sinne unserer früheren Ausführungen als Ausdruck eines moralisch-rechtlichen Freiheitsbegriffes gewertet werden muss. Hobbes verzichtet zwar in De Cive darauf, diese Freiheit explizit als schuldlose Freiheit auszuweisen. Die Schuldlosigkeit des damit bezeichneten Verhaltens hat er, wie gesehen, aber vorher bereits ausdrücklich hervorgehoben. Dass Hobbes unter der Freiheit, die das natürliche Recht ausmacht, auch in De Cive nicht Freiheit im Sinne von ‚freedom as deliberation‘ verstehen kann, zeigt zudem die Tatsache, dass Hobbes diese Freiheit explizit an die rechte Vernunft koppelt. Wäre mit dem Begriff ‚libertas‘ hier diejenige Freiheit bezeichnet, über die ein noch nicht entschiedenes Individuum im Zuge des Überlegungsprozesses verfügt, so müsste sie von der Tatsache unabhängig sein, ob das betreffende Individuum im Rahmen des Überlegungsprozesses richtige Schlussfolgerungen zieht oder nicht, da auch einer Handlung, die auf falschen Schlussfolgerungen beruht, in der gleichen Weise Freiheit im Sinne von ‚freedom as deliberation‘ vorausgeht. Dass Hobbes das natürliche Recht aber als die Freiheit fasst, die eigenen natürlichen Fähigkeiten gemäß der rechten Vernunft zu nutzen („libertas quam quisque habet facultatibus naturalibus secundum rectam utendi“), d.h. sie

5.3 De Cive

153

ausschließlich gemäß der rechten Vernunft zu nutzen, zeigt eindeutig, dass er Freiheit an dieser Stelle im normativ-rechtlichen Sinne als ‚freedom from obligation‘ versteht. Das bereits angesprochene vierzehnte Kapitel, in dem Hobbes in ähnlicher Weise wie in den Elements allgemein das Wesen und den Begriff des Gesetzes erläutert, zeigt einmal mehr, dass Hobbes grundsätzlich über diesen zweiten Begriff von Freiheit verfügt. Erneut stellt Hobbes Gesetz und Recht einander gegenüber, und erneut bezeichnet er das Recht als diejenige Freiheit, die das Gesetz dem Handelnden lässt. Dabei nimmt er durch die Erwähnung der natürlichen Gesetze und der natürlichen Freiheit des Menschen (‚libertas naturalis‘) nun deutlicher auf die innerhalb der Naturrechtsbegründung beschriebene moralisch-rechtliche Freiheit der Naturzustandsindividuen Bezug, die im natürlichen Recht ihren Ausdruck findet.68 Problematisch ist die Behandlung des Freiheitsbegriffes in De Cive nur insofern, als Hobbes, anders als in den Elements, nun eine ausdrückliche Definition des Begriffs ‚Freiheit‘ liefert, bei welcher zumindest auf den ersten Blick nicht ganz klar ist, ob sie mit dem Freiheitsbegriff, der seiner Beschreibung des natürlichen Rechts zugrundeliegt, überhaupt vereinbar ist. LIBERTAS, vt eam definiamus, nihil aliud est quam absentia impedimentorum motûs; vt aqua vase conclusa, ideò non est libera, quia vas impedimento est ne effluat, quae fracto vase liberatur. Et est cuique libertas maior vel minor, prout plus vel minus spatij est in quo versatur; vt maiorem habeat libertatem qui in amplo carcere, quam qui in angusto custoditur. Et potest esse homo liber versus vnam partem, nec tamen versus alteram, vt qui iter faciens sepibus & maceriis, ne vineas & segetes viae vicinas conterat, hinc & inde cohibetur. Et huiusmodi quidem impedimenta externa & absoluta sunt; quo sensu omnes serui & subditi liberi sunt, qui non sunt vincti, vel incarcerati. Alia sunt arbitraria, quae non absolute impediunt motum, sed per accidens, nimirum per electionem nostram, vt qui in naue est, non ita impeditur quin se in mare praecipitare possit, si velle possit. Atque hic quoque, quo quis pluribus viis mouere se potest, eo maiorem habet libertatem.69

Es scheint zunächst zweifelhaft, ob Hobbes’ Definition der Freiheit als Abwesenheit von Bewegungshindernissen auf das natürliche Recht anwendbar ist, bei dem es sich ja nicht um die Freiheit handelt, bestimmte Handlungen faktisch ausführen zu können, sondern um die moralisch-rechtliche Freiheit, bestimmte Handlungen ausführen zu dürfen. Vor allem das Beispiel des Wassers, das durch eine Vase seiner Freiheit beraubt wird, erweckt den Eindruck, als verstehe Hobbes Freiheit in einem strikt empirischen Sinne und als sei seine Definition daher mit einem moralisch-rechtlichen und folglich nichtempirischen Freiheitsbegriff unvereinbar. Die weiteren Ausführungen zeigen _____________ 68 69

Vgl. DC: 207. DC: 167.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

allerdings, dass Hobbes in De Cive noch einen relativ unspezifischen oder zumindest einen sehr umfassenden Begriff von dem hat, was als Hindernis der menschlichen Bewegung in Frage kommt. Wie sein Beispiel des Mannes zeigt, der durch die Einsicht in die negativen Folgen einer Handlung der Freiheit beraubt wird, diese Handlung auszuführen, können für Hobbes nicht nur solche Hindernisse die Bewegungsfreiheit einschränken, die direkt auf den Körper wirken und ihn konkret bestimmter Bewegungsmöglichkeiten berauben, sondern auch solche, die im Rahmen des Überlegungsprozesses auf den menschlichen Willen Einfluss nehmen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun argumentieren, dass auch Gesetze und Verträge prinzipiell als Hindernisse der menschlichen Bewegung fungieren können, insofern nämlich, als die mit ihnen verbundenen Verpflichtungen den Einzelnen veranlassen können, bestimmte Handlungen zu unterlassen, nämlich solche, die der Verpflichtung widerstreiten. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass Hobbes im dreizehnten Kapitel in der Tat die positiven Gesetze in diesem Sinne als Begrenzungen der Bewegungen der Bürger beschreibt.70 Für Hobbes vermögen in De Cive demnach nicht nur physische Hindernisse die Bewegungsfreiheit eines Menschen zu vermindern, sondern auch bestimmte Gefühle oder Überzeugungen, die den Willen gleichsam prädeterminieren, wie beispielsweise die Furcht vor einer Gefahr oder die Einsicht in die Existenz moralisch-rechtlicher Verpflichtungen. Dass dem Menschen mit dem natürlichen Recht die Freiheit zukommt, seine Fähigkeiten gemäß der rechten Vernunft zur eigenen Verteidigung einzusetzen, ist demnach darauf zurückzuführen, dass die natürlichen Gesetze im Naturzustand nicht in der oben beschriebenen Weise den Willen des Einzelnen zu bestimmen oder zu prädeterminieren vermögen, und zwar weil sie effektiv keine Handlungsverpflichtungen nach sich ziehen bzw. weil ihre Ratschläge von den vielfältigen Bedrohungen des Selbsterhaltungsstrebens überlagert werden. Wie der letzte Punkt bereits nahelegt, kann Hobbes’ allgemeine Definition des Begriffs der Freiheit in Kapitel IX folglich sowohl verwendet werden, um das natürliche Recht als Ausdruck einer moralisch-rechtlichen Freiheit zu beschreiben, als auch, um die Begründung dieses Rechts selbst in Freiheitsbegriffen zusammenzufassen: Dem Einzelnen kommt insofern ein natürliches Recht auf Selbsterhaltung zu, als er in moralisch-rechtlicher Hinsicht frei ist, weil es nämlich keine Verpflichtungen gibt, die als moralisch-rechtliche Hindernisse des Willens die Bewegungen des Einzelnen einschränken könnten; und es kann diese Verpflichtungen nicht sinnvollerweise geben, weil der Einzelne im Hinblick auf sein Selbsterhaltungsstreben eben gerade nicht frei ist, weil nämlich die Sorge um die eigene Erhaltung und die Furcht vor dem Tod als notwendige Hindernisse des Willens die Bewegungen des Einzelnen prinzipiell _____________ 70

Vgl. DC: 202.

5.3 De Cive

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auf solche Handlungen begrenzen, die mit dem Ziel der eigenen Erhaltung vereinbar sind. 5.3.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ Die weitere Begründung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ im ersten Kapitel von De Cive ist nun mit den Ausführungen in den Elements fast bis aufs Wort identisch. Zunächst leitet Hobbes wiederum aus dem Recht des Einzelnen, den eigenen Körper und das eigene Leben zu schützen, das Recht ab, auf alle zu diesem Zweck erforderlichen Mittel und Handlungen zurückzugreifen. Quoniam autem ius ad finem frustra habet, cui ius ad media necessaria denegatur, consequens est, cùm vnusquisque se conseruandi ius habeat, vt vnusquisque ius etiam habeat utendi omnibus mediis, & agendi omnem actionem, sine qua conseruare se non potest.71

Dann behauptet er mit dem gleichen Argument, mit dem er dies in den Elements getan hat, dass das Recht, über die zur Erhaltung notwendigen Mittel und Handlungen zu entscheiden, beim Betroffenen selbst liegen muss, und macht auf diese Weise unter Berufung auf die rechte Vernunft im Sinne eines objektiven Kriteriums das subjektive und potenziell unangemessene Vernunfturteil des Einzelnen zur praktischen Grundlage des natürlichen Rechts. Vtrum autem media quibus vsurus quispiam est, & actio quam acturus est, ad conseruationem vitae vel membrorum suorum necessaria sint necne, ipse iure naturali iudex est. Si enim contra rectam rationem sit, vt de proprio periculo ipse judicem, judicet alius; quoniam ergo alius iudicat de iis rebus quae ad me spectant, eâdem ratione, quia aequales naturâ sumus, iudicabo ego de iis rebus quae ad ipsum spectant. Itaque rectae rationis, hoc est, juris naturalis est, vt ego de illius iudicem sententiâ, scilicet an ad conseruationem meam conducat necne.72

Der einzige nennenswerte Unterschied zu den Elements besteht darin, dass Hobbes im Anschluss an seine Begründung des ipse-iudex-Prinzips von der nochmaligen und schon in den Elements etwas überflüssig wirkenden Bemerkung absieht, der Einzelne dürfe nicht nur sein Urteil, sondern auch seine anderen Fähigkeiten und Vermögen zur Erhaltung des eigenen Lebens einsetzen. In De Cive geht Hobbes stattdessen von der Begründung des Rechts auf eigene Richterschaft direkt zur Behauptung des ‚Rechts auf alles‘ über. Natura dedit unicuique ius in omnia. Hoc est, in statu merè naturali, siue antequam homines vllis pactis sese inuicem obstrinxissent, vnicuique licebat facere quaecunque & in quoscunque libebat, & possidere, vti, frui omnibus quae volebat & poterat.

_____________ 71 72

DC: 94. DC: 95.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Quoniam enim, quaecunque quis voluerit, ideò bona sibi videntur quia ea vult, possuntque vel conducere ad sui conseruationem, vel saltem conducere videri, (iudicem autem an verè conducant necne, precedente articulo ipsum constituimus, ita vt habenda sint pro necessariis quae ipse talia iudicat,) & per articulum 7 iure naturae fiunt, & habentur, quae necessariò conducunt ad tuitionem propriae vitae & membrorum, sequitur, omnia habere & facere in statu naturae omnibus licere. Et hoc est quod vulgo dicitur, natura dedit omnia omnibus. Ex quo etiam intelligitur in statu naturae Mensuram iuris esse Vtilitatem.73

Wie schon die Begründung des ipse-iudex-Prinzips, so wirft auch die letztliche Zuschreibung des ‚Recht auf alles‘ in De Cive die gleichen Probleme auf wie schon in den Elements. Erstens ist wieder zu fragen, ob der Handelnde wirklich alles, was er begehrt und was ihm als ein Gut erscheint, als seiner Erhaltung förderlich bewerten wird. Zweitens ist erneut darauf hinzuweisen, dass Hobbes unzulässigerweise das Kriterium der Notwendigkeit eines Mittels durch das Kriterium der Nützlichkeit oder Zuträglichkeit ersetzt. Anders als in den Elements taucht im Zuge der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ zwar auch das Notwendigkeitskriterium noch einmal auf („iudicem autem an verè conducant necne, precedente articulo ipsum constituimus, ita vt habenda sint pro necessariis quae ipse talia iudicat“74). Dies lässt aber die diesbezügliche Inkonsistenz der Hobbes’schen Argumentation nur noch deutlicher hervortreten und führt Hobbes zudem zu der etwas verwirrenden Aussage, der Einzelne dürfe dem natürlichen Recht zufolge all das haben und tun, was der Erhaltung seines Lebens und seiner Glieder mit Notwendigkeit förderlich sei („quae necessariò conducunt ad tuitionem propriae vitae & membrorum“). Drittens fügen sich auch in De Cive Hobbes’ Aussagen nicht zu einer eindeutigen Position bezüglich des genauen Umfangs des natürlichen Rechts zusammen. Der Terminus ‚Recht auf alles‘ und die Argumente, die im Kontext der Behauptung dieses Rechts formuliert werden, legen einmal mehr nahe, dass es faktisch keine Begrenzungen für das rechtmäßige Handeln der Naturzustandsindividuen gibt, und diese Sichtweise erhält in De Cive dadurch neue Nahrung, dass Hobbes auf den Begriff ‚blameless liberty‘ verzichtet und im fünften Kapitel, bei dem es sich um das Pendant zum neunzehnten Kapitel der Elements handelt, die Grausamkeit nicht mehr in der gleichen Weise wie zuvor als Verstoß gegen die natürlichen Gesetze präsentiert. Tritum est inter arma silere leges; & verum est, non modo de legibus ciuilibus, sed etiam de lege naturali, si non ad animum sed ad actiones referatur, per Cap. 3. Art. 27, & bellum

_____________ 73 74

DC: 95. Hervorh. v. mir

5.3 De Cive

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tale intelligatur, vt sit omnium contra omnes; qualis est status naturae merae, quamquam in bello nationis contra nationem modus quidam custodiri solebat.75

Hobbes trifft nun eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen dem von ihm beschriebenen ‚Krieg aller gegen alle‘ und dem Krieg, den verschiedene Staaten miteinander führen, und scheint die Auffassung zu vertreten, dass mit Bezug auf die Handlungen der Individuen im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ die natürlichen Gesetze vollständig außer Kraft gesetzt sind und alles erlaubt ist. Dass im Staatenkrieg bestimmte Handlungsweisen, wie die von Hobbes anschließend erneut ins Spiel gebrachte Ausübung unnötiger Grausamkeiten, zumeist unterbleiben, wird von Hobbes zudem als historisches Faktum präsentiert, und nicht etwa als eine Forderung der natürlichen Gesetze, die Hobbes selbst sich im Rahmen seiner Theorie dieser Gesetze zu eigen machen würde. Die beiden genannten Unterschiede zwischen den Elements und De Cive zum Anlass zu nehmen, um eine bewusste Entwicklung der Hobbes’schen Theorie zu behaupten und Hobbes mit Blick auf De Cive ein klareres Bekenntnis zur faktischen Unbegrenztheit des natürlichen Rechts zuzuschreiben, ist aber deshalb problematisch, weil Hobbes in der zweiten Auflage von De Cive seinen Text um zwei Anmerkungen ergänzt, die die entsprechende Sichtweise des natürlichen Rechts ausdrücklich zurückweisen. Die erste dieser Anmerkungen schließt sich direkt an die Behauptung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ an. Hoc ita intelligendum est, quod quis fecerit in statu merè naturali, id injurium homini quidem nemini esse. Non quod in tali statu peccare in Deum, aut Leges Naturales violare impossibile sit. Nam injustitia erga homines supponit Leges Humanas, quales in statu naturali nullae sunt. [...] Vnicuique jus est se conseruandi, per Art. 7. Eidem ergo jus est omnibus uti mediis ad eum finem necessariis, per Art. 8. Media autem necessaria sunt, quae ipse talia esse judicabit, per Art. 9. Eidem ergo jus est omnia facere & possidere, quae ipse ad sui conseruationem necessaria esse judicabit. Ipsius ergo facientis judicio id quod fit jure fit, vel injuria, itaque jure fit. [...] Quod si quis ad sui conseruationem pertinere praetendit, quod ne ipse quidem pertinere putat, peccare potest contra Leges Naturales; ut capite tertio fusè explicatum est.76

Hobbes hält an dieser Stelle unmissverständlich fest, dass es den Individuen im Naturzustand trotz ihres natürlichen ‚Rechts auf alles‘ sehr wohl möglich ist, qua Handlung gegen die natürlichen Gesetze zu verstoßen, und er tut dies in einer Weise, die mit seiner vorherigen Begründung des ‚Rechts auf alles‘ nicht vereinbar ist. Er beruft sich nämlich auf die bereits zuvor und selbst innerhalb der Anmerkung noch implizit ausgeschlossene („Ipsius ergo facientis judicio id quod fit jure fit, vel injuria, itaque jure fit.“) Möglichkeit, dass ein _____________ 75 76

DC: 131. DC: 95f.

158

5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Individuum ein Gut als notwendig zu seiner Erhaltung erklären und es wohl folglich auch begehren kann, ohne es zugleich als notwendig zu seiner Erhaltung anzusehen. Die zweite Anmerkung befindet sich im dritten Kapitel, auf das Hobbes ja auch in der eben zitierten Anmerkung bereits verweist. Nachdem Hobbes auf die Tatsache hingewiesen hat, dass die Befolgung der natürlichen Gesetze im Naturzustand dem Zweck der Selbsterhaltung eher widerstreitet als sie ihm förderlich ist, schränkt er seine Aussage insofern ein, als er bestimmte Handlungs- und Verhaltensweisen, nämlich Trunkenheit und Grausamkeit, als zu jeder Zeit verboten kennzeichnet, da undenkbar sei, dass diese Verhaltensweisen die Selbsterhaltung des Handelnden in irgendeiner Weise befördern könnten. Sunt autem leges aliquae naturales quarum ne in bello quidem exercitium desinit. Nam quid ebrietas, quidue crudelitas (id est, vindicta quae futurum bonum non respicit) ad pacem vel conseruationem cujusquam hominis conferre possit, non intelligo.77

Es gibt daher zumindest mit Blick auf die zweite Auflage von De Cive ausreichende Gründe, an unserer schon mit Blick auf die Elements vertretenen Interpretation des ‚Rechts auf alles‘ festzuhalten. Auch hier ist Hobbes’ Position aber insgesamt keinesfalls unzweideutig, und so kann selbst die Hinzufügung der beiden inhaltlich relativ klaren Anmerkungen nicht uneingeschränkt als Verbesserung gegenüber den beiden vorangegangenen Fassungen der Hobbes’schen Naturrechtslehre gewertet werden. 5.3.3 Zur vermeintlichen Widersprüchlichkeit des ‚Rechts aller auf alles‘ Zu fragen bleibt nun abschließend noch, inwieweit das natürliche ‚Recht aller auf alles‘ als in sich widersprüchlich gesehen werden kann oder gesehen werden muss und ob es eine Rechtsantinomie begründet, auf deren Grundlage eine rechtliche Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen, behauptet werden kann. Die diesbezüglichen Interpretationen stützen sich neben dem Begriff des ‚Rechts auf alles‘ und der Tatsache, dass dieses Recht allen Individuen gleichermaßen zukommt, oftmals auf eine Passage direkt im Anschluss an die Begründung des ‚Rechts auf alles‘, in der Hobbes das ‚Recht aller auf alles‘ scheinbar selbst als in sich widersprüchlichen Begriff wertet. Die genaue Betrachtung der betreffenden Passage zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist. Minimè autem vtile hominibus fuit, quod huiusmodi habuerint in omnia, ius commune. Nam effectus eius iuris idem penè est, ac si nullum omnino ius extiterit. Quamquam

_____________ 77

DC: 118.

5.3 De Cive

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enim quis de re omni poterat dicere, hoc meum est, frui tamen eâ non poterat propter vicinum, qui aequali iure, & aequali vi, praetendebat idem esse suum.78

Wie sowohl Hobbes’ Hinweis auf den geringen Nutzen („Minimè vtile“) des ‚Rechts auf alles‘ als auch seine Bezugnahme auf die Wirkung („effectus“) des Rechts deutlich machen, geht es Hobbes an dieser Stelle nicht um die Widersprüchlichkeit des ‚Rechts auf alles‘ im Sinne eines juridischen und daher nicht-empirischen Sachverhaltes, sondern einzig und allein um die empirischen Konsequenzen dieses Rechtes. Die Aussage, die Existenz des ‚Rechts aller auf alles‘ sei gleichbedeutend mit der Abwesenheit allen Rechts, zielt folglich keineswegs darauf ab, die logische Unmöglichkeit oder die Unvernünftigkeit eines allgemeinen ‚Rechts auf alles‘ herauszustellen. Sie soll vielmehr lediglich die Tatsache hervorheben, dass das ‚Recht auf alles‘ dem Einzelnen bei seinem Streben nach Selbsterhaltung im Naturzustand faktisch keinen Vorteil zu bringen vermag. Diese Tatsache, die streng genommen schon dadurch festgeschrieben ist, dass das natürliche Recht des Einzelnen durch Hobbes von Beginn an als lediglich permissives Recht konzipiert wird, das keine Pflichten auf Seiten der jeweils anderen Individuen beinhaltet, wird auch durch die erneut eindeutig auf empirische Sachverhalte zielende Aussage bekräftigt, der Einzelne könne die Gegenstände, auf die sich sein natürliches Recht erstrecke, nicht genießen („frui“), da sein Nachbar sie nicht nur mit gleichem Recht, sondern auch und vor allem mit gleicher Macht ebenfalls für sich beanspruche. Dass Hobbes das ‚Recht aller auf alles‘ nicht als ein logisch inkonsistentes, sondern nur als ein faktisch mehr oder minder nutzloses Recht begreift, zeigt sich auch an der Stelle, an der Hobbes den Wunsch, im Naturzustand zu verbleiben, als in sich widersprüchlich bezeichnet. Quicumque igitur manendum in eo statu censuerit, in quo omnia liceant omnibus, contradicit sibimet ipsi; nam vnusquisque naturali necessitate bonum sibi appetit, neque est quisquam qui bellum istud omnium contra omnes, quod tali statui naturaliter adhaeret, sibi existimat esse bonum.79

Dass Hobbes den Wunsch, im Naturzustand zu verbleiben, als widersprüchlich ansieht, liegt nicht daran, dass dieser Wunsch zugleich bedeutet, am ‚Recht auf alles‘ festhalten zu wollen, dieses ‚Recht‘ aber mit einem logischen Widerspruch behaftet wäre. Hobbes’ Argument zielt vielmehr einmal mehr auf die empirische Tatsache ab, dass jeder Mensch nach dem für ihn Guten, und zwar vor allem nach der Erhaltung des eigenen Lebens, strebt, und dass er deshalb nicht wollen kann, in einem Zustand des ständigen ‚Krieges aller gegen alle‘ zu leben. Nicht ein inhärenter Widerspruch des ‚Rechts aller auf _____________ 78 79

DC: 96. DC: 96f.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

alles‘ macht den Naturzustand folglich zu einem Zustand, der im Sinne der Vernunft verlassen werden muss, sondern der unaufhebbare Widerstreit von natürlichem Selbsterhaltungsstreben und naturzuständlicher Lebensbedrohung, an dem auch das natürliche ‚Recht auf alles‘ nichts zu ändern vermag. Die eingehendere Analyse der Hobbes’schen Aussagen zum natürlichen Recht bekräftigt also noch einmal unsere bereits oben getroffene Feststellung, dass Hobbes im Rahmen seiner Analyse des Naturzustandes kein explizites rechtstheoretisches Naturzustandsargument entwickelt. Wenn überhaupt, dann kann ein solches Argument daher lediglich auf der Grundlage des Hobbes’schen Begriffs des ‚Recht auf alles‘ rekonstruiert werden. Um die Frage beantworten zu können, ob eine solche Rekonstruktion möglich und sinnvoll ist, muss nun zunächst gefragt werden, inwiefern eine entsprechende Interpretation von der Tatsache abhängig ist, dass der Umfang des ‚Rechts auf alles‘ unbegrenzt ist. Diese Frage ist nicht nur deshalb von besonderer Relevanz, weil Hobbes, wie gesehen, in diesem Punkt nicht eindeutig eine der beiden in Frage stehenden Positionen zugeschrieben werden kann, Geismann, Herb und Hüning aber im Rahmen ihrer Argumentation von der Unbegrenztheit des natürlichen Rechts auszugehen scheinen.80 Die Frage ist im Kontext einer Rekonstruktion der Hobbes’schen Argumentation auch deshalb von Belang, weil Hobbes’ Argumente für die Unbegrenztheit des natürlichen Rechts nicht gänzlich zu überzeugen vermögen. Will man daher das Hobbes’sche Naturzustandsargument im Zuge der Rekonstruktion nicht unnötig schwächen, so ist es notwendig, sich zunächst darüber klar zu werden, ob die Unbegrenztheit des natürlichen Rechts eine notwendige Voraussetzung für die Behauptung einer naturzuständlichen Rechtsantinomie darstellt. Die Tatsache, dass Malcolm das natürliche Recht offenbar nicht als unbegrenzt ansieht und dennoch eine solche Rechtsantinomie behauptet,81 deutet bereits an, dass es sich bei der Unbegrenztheit des ‚Rechts auf alles‘ nicht in diesem Sinne um eine notwendige Voraussetzung der rechtstheoretischen Lesart handelt, und eine eingehendere Betrachtung des möglichen Handelns im Kontext des natürlichen Rechts bestätigt diesen Befund. Selbst wenn das natürliche Recht im Naturzustand effektiv durch das Vernunfturteil des Handelnden begrenzt sein sollte, und selbst wenn es einige Verhaltensweisen geben sollte, die unter keinen Umständen vom natürlichen Recht gedeckt sind, wird es angesichts des von Hobbes beschriebenen Konfliktpotenzials im Naturzustand, und vor allem angesichts der schon in De Cive als häufigste Konfliktursache ausgewiesenen Konkurrenz um Güter, ohne jeden Zweifel regelmäßig zu Situationen kommen, in denen Individuen in einen faktischen _____________ 80 81

Vgl. etwa Geismann 1974: 43; Geismann/Herb 1988: 127; Herb 1989: 23; und Hüning 1998b: 64. Vgl. zum ersten Punkt Malcolm 2002b: 33f.; und zum zweiten Punkt Malcolm 2002b: 31.

5.3 De Cive

161

Konflikt miteinander geraten werden, obwohl sie vollkommen rechtmäßig agieren. Die Tatsache, dass das natürliche Recht wenn nicht alle, so doch zumindest die überwiegende Zahl der im Naturzustand möglichen Handlungen rechtfertigt, und zwar auch solche, die direkt gegen andere Individuen gerichtet sind, reicht aus, um anzunehmen, dass in vielen naturzuständlichen Konflikten Recht gegen Recht stehen wird, was nichts anderes heißt, als dass die Konflikte selbst vom natürlichen Recht gedeckt sein werden. Im Rahmen seiner Begründung des zweiten natürlichen Gesetzes, dem zufolge das natürliche ‚Recht auf alles‘ nicht beibehalten werden kann, präsentiert Hobbes das Auftreten solcher in sich rechtmäßiger Konflikte ausdrücklich als unausweichliche Folge des allgemeinen ‚Rechts auf alles‘. Sein eigentliches Argument für die Aufgabe des natürlichen Rechts besteht dabei aber einmal mehr in der Behauptung, das natürliche Recht trage auf diese Weise faktisch zum ‚Krieg aller gegen alle‘ bei. Legum autem Naturalium, à fundamentali illâ deriuatarum, vna est, ius omnium in omnia retinendum non esse, sed iura quaedam transferenda, vel reliquenda esse. Nam si retineret vnusquisque suum ius in omnia, necesse est sequi vt iure alij inuaderent, alij defenderent (quisque enim & Corpus suum, & ea quae corpori tuendo necessaria sunt, necessitate naturae conatur defendere.) Bellum ergo sequeretur. Facit itaque contra rationes pacis, hoc est contra legem naturae, si quis de iure suo in omnia non decedat.82

Dass es auch bei einer prinzipiellen Begrenzung des natürlichen Rechts zu Situationen kommen muss, in denen ‚die einen mit Recht angreifen, die anderen sich mit Recht verteidigen‘, macht unmissverständlich deutlich, dass das unvermeidliche Auftreten von Rechtskonflikten in Hobbes’ Naturzustand auch dann behauptet werden kann, wenn man das natürliche Recht nicht als ein Recht zu jeder nur denkbaren Handlung versteht. Die entscheidende Frage ist lediglich, ob die hier beschriebenen Situationen in der Tat als Rechtskonflikte oder als Ausdruck einer naturzuständlichen Rechtsantinomie verstanden werden können. Bevor diese Frage eingehender untersucht werden soll, soll noch darauf hingewiesen werden, dass die Frage einer möglichen Beschränkung des natürlichen Rechts dennoch nicht jeglicher Relevanz für die Bewertung der rechtstheoretischen Lesart entbehrt. Wäre das natürliche Recht ein Recht auf alles im Wortsinne, dann ließe sich behaupten, dass die oben beschriebenen rechtmäßigen Konflikte mit logischer Notwendigkeit auftreten werden, da es den Hobbes’schen Naturzustandsindividuen allein schon aus logischen Gründen unmöglich ist, in einer Weise zu handeln, die sie nicht in einen Konflikt mit den Rechten anderer Individuen führt. Hobbes’ Naturzustand könnte daher in diesem Fall a priori als ein Zustand rechtmäßiger Konflikte _____________ 82

DC: 100.

162

5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

begriffen werden. Ist das natürliche Recht dagegen in der einen oder anderen Weise begrenzt, dann wird es lediglich mit praktischer Notwendigkeit zu solchen Konflikten kommen. Der Naturzustand wäre also, anders als von Geismann oder Malcolm behauptet, nur a posteriori als Zustand rechtmäßiger Konflikte zu begreifen. Selbst wenn die Frage nach dem Umfang des natürlichen Rechts keiner endgültigen Klärung zugeführt werden konnte, lässt sich daher vor diesem Hintergrund die Auffassung vertreten, dass die Position Malcolms, der ja eine solche Begrenzung des natürlichen Rechts ausdrücklich bejaht und gleichzeitig den Naturzustand als Zustand a priorischer Rechtskonflikte begreift, nicht vollständig konsistent ist. Zudem lässt sich festhalten, dass Geismanns und Herbs Behauptung, das Hobbes’sche Naturzustandsargument sei als rechtstheoretisches Argument von empirischen Annahmen logisch unabhängig, zumindest potenziell irreführend ist. Sobald man angesichts der guten Gründe, die für eine derartige Interpretation sprechen, den begrenzten Umfang des natürlichen Rechts anerkennt, ist eine solche logische Abhängigkeit zwangsläufig gegeben, da dann nur unter Rückgriff auf Hobbes’ empirische Beschreibung des Handelns und der Beweggründe der Naturzustandsindividuen auf das notwendige Auftreten rechtmäßiger Konflikte geschlossen werden kann. Der letztlich entscheidende Grund dafür, dass die von Geismann, Herb, Hüning und Malcolm vertretene rechtstheoretische Lesart des Hobbes’schen Naturzustandes nicht aufrechterhalten werden kann, besteht aber nicht darin, dass die von den genannten Autoren behauptete Rechtsantinomie von mehr oder minder kontingenten empirischen Bedingungen abhängig und daher nicht a priori gegeben ist, sondern darin, dass es eine derartige Rechtsantinomie letztlich nicht gibt, da das natürliche ‚Recht auf alles‘ durchaus ohne Widerspruch allen Individuen zur gleichen Zeit zugesprochen werden kann. Die Bewertung der oben beschriebenen, in sich rechtmäßigen Konflikte als Rechtsantinomie ist deshalb irreführend bzw. schlicht falsch, weil es sich bei Hobbes’ natürlichem Recht, wie gesehen, prinzipiell um ein permissives Recht handelt, eine Tatsache, die auch Geismann, Herb, Hüning und Malcolm ausdrücklich anerkennen.83 Wenn das natürliche ‚Recht auf alles‘ aber lediglich die Freiheit oder die Erlaubnis bezeichnet, bestimmte Handlungen auszuführen, dann spricht nichts dagegen, dass dieses Recht zur gleichen Zeit, d.h. in Bezug auf ein- und dieselbe Handlung oder ein- und denselben Gegenstand, mehreren Individuen zukommen kann. Es stellt zwar ohne jeden Zweifel ein widersprüchliches Konstrukt dar, mehreren Individuen einen rechtlichen Anspruch oder ein ‚claim-right‘ auf ein- und denselben Gegenstand zusprechen zu wollen, da jedes einzelne Individuum in diesem Fall sowohl über das _____________ 83

Vgl. Geismann 1982: 164f.; Geismann/Herb 1988: 164f.; Hüning 1998b: 63; und Malcolm 2002d: 444ff.

5.3 De Cive

163

Recht verfügen würde, den in Frage stehenden Gegenstand zu nutzen, als auch über die Pflicht, das diesbezügliche Recht der anderen zu respektieren und folglich von einer Nutzung des Gegenstandes abzusehen. Es ist aber überhaupt nicht einsichtig, warum nicht mehreren Individuen gleichermaßen die Erlaubnis zukommen sollte, den in Frage stehenden Gegenstand zu nutzen, sofern mit dieser Erlaubnis keinerlei Pflichten auf Seiten irgendeines der betroffenen Individuen verbunden sind. Diese allgemeine Erlaubnis mag die Individuen zwar durchaus in der von Hobbes beschriebenen Weise in Konkurrenzsituationen führen bzw. diese verstärken. Das heißt aber keineswegs, dass damit der Begriff des Rechts im Sinne einer rechtlichen Erlaubnis ad absurdum geführt würde. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn man vom Begriff des Rechts als ‚freedom from obligation‘ ausgeht. Es mag in empirischer Hinsicht problematisch sein, wenn alle Individuen im Naturzustand im Hinblick auf den jeweils anderen gänzlich oder nahezu gänzlich von moralischen Verpflichtungen frei sind. Das ändert aber nichts daran, dass eine solche allgemeine Freiheit von moralischer Verpflichtung absolut widerspruchsfrei gedacht werden kann. Die Aussagen, das Hobbes’sche ‚Recht auf alles‘ könne nicht konsistenterweise allen Individuen gleichermaßen zugesprochen werden, der Begriff eines ‚Rechts aller auf alles‘ enthalte notwendigerweise einen unaufhebbaren Widerspruch, die natürlichen Rechte der Hobbes’schen Individuen überlagerten einander, oder der Hobbes’sche Naturzustand sei geprägt von einer durchgängigen Rechtsantinomie, müssen daher nachdrücklich zurückgewiesen werden. Bei den oben beschriebenen Situationen rechtmäßiger Konflikte handelt es sich nicht um Rechtskonflikte im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern lediglich um Situationen, in denen gleichermaßen erlaubte Handlungen verschiedener Individuen einen faktischen Konflikt nach sich ziehen. Aufgrund des spezifischen Status des Hobbes’schen Naturrechts steht in diesen Situationen nicht rechtlicher Anspruch gegen rechtlichen Anspruch, sondern Freiheit gegen Freiheit bzw. Erlaubnis gegen Erlaubnis, und die Erlaubnis des einen Individuums, in der beabsichtigten Weise zu handeln, negiert in keiner Weise die gleiche Erlaubnis des anderen, ebenfalls zu agieren, wie von ihm beabsichtigt. Es trifft zu, dass es sich angesichts der Möglichkeit derartiger Konflikte beim Hobbes’schen Naturzustand um einen rechtlosen Zustand handelt, zumindest sofern man unter diesem Begriff das vollständige Fehlen von ‚claim-rights‘, also das Fehlen rechtlicher Ansprüche eines Individuums gegen ein anderes, versteht. Um einen solchen Zustand handelt es sich aber bei Hobbes’ Naturzustand schon dadurch, dass das natürliche Recht auf Selbsterhaltung von Beginn an als ausschließlich permissives Recht konzipiert wird, und nicht erst dadurch, dass dieses natürliche Recht letztlich die Form eines ‚Rechts auf alles‘ annimmt. Die Rechtlosigkeit des Naturzustandes allein be-

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

gründet innerhalb des Hobbes’schen Systems aber keinerlei Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen. Eine solche Notwendigkeit würde einen prinzipiellen „Rechtswillen“84 oder „Rechtssicherungswillen“85 der Individuen voraussetzen, den Hobbes nicht nur weder explizit noch implizit behauptet,86 sondern der auch im Rahmen seiner Anthropologie und seines Vernunftbegriffs überhaupt nicht überzeugend zu begründen wäre. Im Rahmen der Kantischen praktischen Vernunft und der Kantischen ‚Idee des Rechts‘ mag es möglich sein, einen solchen Rechtswillen anzunehmen, aus dem Fehlen miteinander vereinbarer Rechtsansprüche im Naturzustand auf die Unrechtmäßigkeit dieses Zustandes zu schließen und auf diese Weise ein rechtliches Naturzustandsargument zu entwickeln. Selbst bei Kant wird der Naturzustand aber letztlich nur dadurch zum Zustand der ständigen Rechtsläsion und der Ausgang aus diesem Zustand zu einer moralisch-rechtlichen Pflicht, dass es bereits im Naturzustand ein – wenn auch nur provisorisches – Mein und Dein geben kann. Innerhalb des Hobbes’schen Systems aber sind die Voraussetzungen für ein juridisches Naturzustandsargument prinzipiell nicht gegeben, so dass ein solches Argument auch nicht im Sinne der Hobbes’schen Lehre aus seinen Ausführungen rekonstruiert werden kann. Liest man das Hobbes’sche Naturzustandsargument daher als juridisches Argument, dann heißt dies nicht Anderes und nichts Geringeres, als dass man das zentrale Argument der Hobbes’schen Philosophie in eine Form bringt, in dem es ihm an jeglicher theoretischer Fundierung mangelt, eine Tatsache, die Herb und Hüning in einigen ihrer Veröffentlichungen auch ansatzweise eingestehen.87 Ein solches Eingeständnis kommt aber aus meiner Sicht einem interpretatorischen Offenbarungseid gleich.88 Der rechtstheoretischen Lesart zu folgen, heißt demnach, die Hobbes’sche Theorie in einer Weise zu rekonstruieren, die die Theorie ihres Wertes beraubt und sie zu einer unfertigen und in sich unhaltbaren Vorform der Kantischen Rechtslehre degradiert, und dies widerspricht aufs Schärfste dem Anspruch, der sich prinzipiell mit der Rekonstruktion einer philosophischen Theorie verbinden sollte.

_____________ 84 85 86 87 88

Hüning 1998a: 88. Geismann/Herb 1988: 141. Dies gestehen auch Geismann und Herb ein (vgl. Geismann/Herb 1988: 141). Vgl. Herb/Ludwig 1993: 306f.; Herb 1999: 61; und Hüning 1995: 765. Das Eingeständnis, dass man das Hobbes’sche Naturzustandsargument zwar als rechtliches Argument verstehen sollte, dass diesem Argument aber, wenn man es in dieser Weise versteht, sein argumentativer Wert abhanden kommt, verleiht der Position Herbs und Hünings einen fast schon grotesken Zug. In Anlehnung an das anfängliche Zitat Goldsmiths ist man versucht zu sagen, Hobbes sei bei seiner Begründung der Notwendigkeit des Staates gescheitert, weil er noch nicht wissen konnte, dass er eigentlich Kant ist.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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5.4 Die englische Fassung des Leviathan 5.4.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung Es ist bereits an früherer Stelle deutlich geworden, dass der augenfälligste strukturelle Unterschied zwischen den Naturzustandstheorien der Elements und von De Cive auf der einen und den Naturzustandstheorien der beiden Fassungen des Leviathan auf der anderen Seite in der Tatsache besteht, dass in den späteren Werken die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ und die Erörterung des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ deutlich voneinander getrennt sind. Wie im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, greift Hobbes’ Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes zwar insofern auch im Leviathan inhaltlich auf das natürliche Recht auf Selbsterhaltung zurück, als die Handlungsweisen, die diesen Kriegszustand nach sich ziehen, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Zweck der Selbsterhaltung als erlaubt gekennzeichnet werden. Die explizite Behauptung und die eingehendere Beschreibung des natürlichen Rechts als eines ‚Rechts auf alles‘ findet sich aber anders als in den Elements und De Cive erst im Kapitel, das an die Herleitung des Kriegszustandes anschließt, und erst in diesem Kapitel findet auch der Begriff ‚right of nature‘ zum ersten Mal Verwendung. Der Unterschied zwischen dem englischen Leviathan und den beiden früheren Schriften besteht aber keineswegs allein darin, dass die eingehende Erörterung des natürlichen Rechts auf einen späteren Zeitpunkt verschoben würde. Die Behandlung des natürlichen Rechts ist im englischen Leviathan auch insofern eine wesentlich andere als in den Elements und De Cive, als das natürliche Recht im Rahmen der Argumentation des vierzehnten Kapitels gar keine Rechtfertigung im strengen Sinne erfährt, sondern eher im Sinne einer unbestreitbaren Tatsache vorausgesetzt wird, und Hobbes auf die eingehende mehrstufige Begründung des ‚Rechts auf alles‘ verzichtet. Zwar wird das ursprüngliche natürliche Recht von Hobbes wie in den früheren Schriften formal als Freiheitsrecht und inhaltlich als Recht auf Selbsterhaltung bestimmt. Anders als dort wird es nun aber nicht mehr als Recht auf Verteidigung des eigenen Körpers und des eigenen Lebens eingeführt und auf diese Weise gleichsam inhaltlich an die vorhergehende Erörterung der naturzuständlichen Konflikte angebunden. Zudem umfasst es nun von Beginn an, und ohne dass dies eingehender begründet würde, zugleich das Recht auf die zur Erhaltung notwendigen Mittel und das Recht auf eigene Richterschaft. The RIGHT OF NATURE, which Writers commonly call Jus Naturale, is the Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature; that is to say, of his own Life; and consequently, of doing any thing,

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

which in his own Judgement, and Reason, hee shall conceive to be the aptest means thereunto.89

Der Hobbes’sche Verzicht auf eine ausdrückliche Begründung des natürlichen Rechts und die Tatsache, dass dieses Recht aufgrund der veränderten Kapitelanordnung auch in keiner Weise mehr als Recht auf Selbstverteidigung (im Sinne des antiken Prinzips vim vi repellere), sondern von Beginn an als grundsätzliches Recht des Menschen auf die subjektiv als notwendig erachteten Mittel zur Selbsterhaltung erscheint, werfen nun in der Tat die Frage auf, ob es sich beim natürlichen Recht des englischen Leviathan überhaupt noch um das gleiche Recht handelt wie in den Elements und in De Cive und ob die nicht mehr eigens angeführten Kriterien der Notwendigkeit und der Vernünftigkeit überhaupt nach wie vor die Grundlage dieses Rechts bilden. Wie oben bereits angedeutet, vertritt Gauthier die Auffassung, die Vernunft fungiere im englischen Leviathan in der gleichen Weise wie in den früheren Werken als logische, wenn auch nun nicht explizit genannte, Voraussetzung des natürlichen Rechts. Ludwig dagegen, der der Vernunft mit Blick auf den Leviathan eine solche Rolle abspricht, wertet Hobbes’ Verzicht auf den traditionellen Begriff der recta ratio als nachdrückliche Abkehr von den Naturrechtstheorien der Elements und von De Cive und schreibt dem natürlichen Recht des englischen Leviathan vor diesem Hintergrund einen deutlich veränderten Status zu. Um nun die Frage beantworten zu können, inwiefern die Kriterien der Vernünftigkeit und der Notwendigkeit im englischen Leviathan als implizite Begründungsgrundlagen des natürlichen Rechts fungieren, muss zunächst untersucht werden, ob Hobbes im englischen Leviathan überhaupt über einen Vernunftbegriff verfügt, der dem der früheren Werke vergleichbar ist, und ob er den Überlegungsprozess und den menschlichen Willen nach wie vor in einer Weise versteht, die ihm grundsätzlich erlaubt, das Streben nach Selbsterhaltung im früheren Sinne als notwendig zu begreifen. Im Hinblick auf den Vernunftbegriff des englischen Leviathan lässt sich zunächst festhalten, dass Hobbes im Rahmen seiner Argumentation nicht mehr, wie noch in De Cive, explizit auf den Terminus ‚recta ratio‘ bzw. ‚right reason‘ zurückgreift, sondern es sowohl im Kontext der Naturrechtsdiskussion als auch später im Kontext der Diskussion der natürlichen Gesetze beim einfachen Begriff ‚reason‘ belässt.90 Wie oben deutlich geworden ist, trifft diese Tatsache jedoch in der gleichen Weise auch auf die Elements zu, in denen Hobbes die Vernunft nichtsdestoweniger im Sinne eines objektiven Kriteriums verstanden hatte und vor diesem Hintergrund zumindest an einer Stelle die Möglichkeit einer sinnvollen und zulässigen Verwendung des Begriffs der rechten Vernunft zugestanden hatte. Eine ähnliche Position kann Hobbes nun aber auch mit _____________ 89 90

EL: 64. Vgl. etwa EL: 64, 73 und 80.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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Blick auf den englischen Leviathan zugeschrieben werden. Im fünften Kapitel, das den Titel „Of REASON, and SCIENCE“ trägt und das sich zum Teil ähnlichen Fragen widmet wie das fünfte Kapitel der Elements, greift Hobbes nicht nur selbst auf den Terminus ‚right reason‘ zurück. Er liefert auch eine ausführliche Definition der Vernunft, die trotz einer Reihe von Ergänzungen und Veränderungen in den entscheidenden Punkten letztlich mit der Definition der Elements übereinstimmt. Out of all which we may define, (that is to say determine,) what that is, which is meant by the word Reason, when wee reckon it amongst the Faculties of the mind. For REASON, in this sense, is nothing but Reckoning (that is, Adding and Subtracting) of the Consequences of generall names agreed upon, for the marking and signifying of our thoughts; I say marking them, when we reckon by our selves; and signifying, when we demonstrate, or approve our reckonings to other men. And as in Arithmetique, unpractised men must, and Professors themselves may often erre, and cast up false; so also in any other subject of Reasoning, the ablest, most attentive, and most practised men, may deceive themselves and inferre false Conclusions; Not but that Reason it selfe is alwayes Right Reason, as well as Arithmetique is a certain and infallible Art: But no mans Reason, nor the Reason of any one number of men, makes the certaintie; no more than an account is therefore well cast up, because a great many men have unanimously approved it. And therfore, as when there is a controversy in an account, the parties must by their own accord, set up for right Reason, the Reason of some Arbitrator, or Judge, to whose sentence they will both stand, or their controversie must either come to blowes, or be undecided, for want of right Reason constituted by Nature; so is it also in all debates of what kind soever [...]91

Die Übereinstimmung zwischen Hobbes’ ausführlicher Erörterung der Vernunft im englischen Leviathan und seiner Definition von ‚right reason‘ in den Elements besteht vor allem darin, dass der Begriff ‚reason‘ auch in Hobbes’ späterem Werk kein untrügliches Vermögen bezeichnet oder eine Instanz, die aus sich heraus Handlungsanweisungen zu geben vermöchte, sondern den konkreten Denkprozess, und zwar einen, den Hobbes nun als das Berechnen der Folgen allgemeiner Begriffe beschreibt. Die weitergehenden Ausführungen machen jedoch klar, dass Hobbes auch im englischen Leviathan die Ansicht vertritt, dass diese Berechnungen in einem objektiven Sinne wahr oder falsch sein können, und dass sie, sofern es sich um wahre Berechnungen handelt, als Ausdruck der rechten Vernunft verstanden bzw. mit dem betreffenden Begriff bezeichnet werden können. Wie schon in den Elements und in De Cive ist Hobbes lediglich bestrebt hervorzuheben, dass niemandes Berechnungen grundsätzlich in diesem Sinne als Ausdruck der rechten Vernunft gelten können, also faktisch unfehlbar wären. Ähnlich wie im zehnten Kapitel _____________ 91

EL: 18f.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

des zweiten Teils der Elements, nun aber in deutlich weniger missverständlicher Weise, nimmt Hobbes diese Tatsache zum Anlass, um zu leugnen, dass es sich bei der rechten Vernunft um etwas handle, was als faktische Entität in der Natur anzutreffen sei. Folglich betont er wie in beiden früheren Werken die Notwendigkeit, eine Instanz zu schaffen, deren Urteile faktisch als Ausdruck der rechten Vernunft fungieren können. Es bleibt angesichts dieser Übereinstimmungen in Hobbes’ früheren und späteren Aussagen lediglich die Frage zu beantworten, ob sich hinter der etwas unklaren Wendung „Reckoning (...) of the Consequences of generall Names“, mit der Hobbes nun die Vernunfttätigkeit beschreibt, der gleiche Vorgang verbirgt wie in den Elements und in De Cive, d.h. das Ziehen wahrer Schlussfolgerungen aus richtigen Prämissen. Die Ausführungen, die sich an Hobbes’ Beschreibung der Schwierigkeiten, eine Einigkeit hinsichtlich des objektiv Richtigen und des objektiv Falschen herzustellen, anschließen, legen nahe, dass dies in der Tat der Fall ist. The Use and End of Reason, is not the finding of the summe, and truth of one, or a few consequences, remote from the first definitions, and settled significations of names; but to begin at these; and proceed fom one consequence to another. For there can be no certainty of the last Conclusion, without a certainty of all those Affirmations and Negations, on which it was grounded, and inferred. [...]92 By this it appears that Reason is not as Sense, and Memory, borne with us; nor gotten by Experience onely, as Prudence is; but attayned by Industry; first in apt imposing of Names; and secondly by getting a good and orderly Method in proceeding from the Elements, which are Names, to Assertions made by Connexion of one of them to another; and so to Syllogismes, which are the Connexions of one Assertion to another, till we come to a knowledge of all the Consequences of names appertaining to the subject in hand; and that is it, men call SCIENCE. And whereas Sense and Memory are but knowledge of Fact, which is a thing past, and irrevocable; Science is the knowledge of Consequences, and dependance of one fact upon another: by which, out of what we presently do, we know how to do something else when we will, or the like, another time: Because when we see how any thing comes about, upon what causes, and by what manner; when the like causes come into our power, wee see how to make it produce the like effects.93

Der Hobbes’sche Verweis auf die Bildung von Syllogismen, der sich ja auch bereits in den Elements findet, zeigt deutlich, dass das von Hobbes beschriebene „Reckoning“ grundsätzlich den Vorgang des Schlussfolgerns, also die Bildung von Konklusionen auf Grundlage bestimmter Prämissen, bezeichnen soll. Hobbes’ häufige Bezugnahmen auf Namen bzw. allgemeine Begriffe und das Rechnen mit diesen „generall names“ erweckt nun zwar mitunter den Eindruck, als wolle er den Begriff der Vernunft auf solche Schlussfolgerungen _____________ 92 93

EL: 19. EL: 21.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

169

beschränken, bei denen es sich um Explikationen logischer Implikate handelt, die auf keinerlei empirische Daten angewiesen sind und keine direkten Aussagen über die außersprachliche Wirklichkeit beinhalten. Der letzte Satz des Zitats macht aber deutlich, dass es sich bei den „Consequences of generall Names“, um die es Hobbes geht, durchaus um empirische Zustände handelt oder handeln kann. Wie schon in den Elements und in De Cive, so umfasst der Hobbes’sche Begriff der Vernunft daher auch im englischen Leviathan Schlussfolgerungen, die ihrem Wesen nach auf die empirische Wirklichkeit und das menschliche Handeln bezogen sind, so beispielsweise auch solche, deren Ziel darin besteht, eine Handlung daraufhin zu prüfen, ob sie angesichts der mit dieser Handlung verbundenen Folgen mit dem faktischen Wunsch nach Erhaltung des eigenen Lebens in Übereinstimmung zu bringen ist. Die Hobbes’schen Ausführungen zu Überlegungsprozess und menschlichem Willen werfen deutlich weniger Unklarheiten auf. Die entsprechenden Definitionen finden sich im sechsten Kapitel des englischen Leviathan, und sie stimmen nicht nur inhaltlich, sondern zum Teil auch wörtlich mit den Definitionen der Elements überein. Wie in den Elements bezeichnet Hobbes die ursprünglichen inneren Bewegungen, auf die die menschlichen Handlungen zurückgehen, d.h. die „small beginnings of Motion, within the body of Man“94, mit dem allgemeinen Begriff „Endeavour“, und fasst diejenige Bewegung, die auf ein Objekt hin gerichtet ist, als „Appetite“ oder „Desire“, und diejenige, die die Abkehr von einem Objekt zum Ziel hat, als „Aversion“95. Hobbes’ ausführliche Definition des Begriffs ‚deliberation‘ bestimmt den Überlegungsprozess vor diesem Hintergrund einmal mehr als den Wechsel von ‚appetite‘ und ‚aversion‘. Die Rolle der Vernunft, die vor allem in der Abschätzung der Folgen einer Handlung und der Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, besteht, tritt dabei etwas deutlicher hervortritt als in den Elements. When in the mind of man, Appetites, and Aversions, Hopes, and Feares, concerning one and the same thing, arise alternately; and divers good and evill consequences of the doing, or omitting the thing propunded, come successively into our thoughts; so that sometimes we have an Appetite to it; sometimes an Aversion from it; sometimes Hope to be able to do it; sometimes Despaire, or Feare to attempt it; the whole summe of Desires, Aversions, Hopes and Fears, continued till the thing be either done, or thought impossible, is that we call DELIBERATION.96

Im direkten Anschluss an seine Definition hebt Hobbes erneut hervor, dass bezüglich bestimmter Handlungen keine Überlegung möglich ist, und _____________ 94 95 96

EL: 23. Alles: EL: 23. EL: 28.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

beschreibt den Überlegungsprozess dabei wie schon in den Elements als eine spezifische Form menschlicher Freiheit. Die Ausführungen des englischen Leviathan weichen allerdings insofern von Hobbes’ früheren Ausführungen ab, als Hobbes nun den subjektiven Glauben des Einzelnen zum Kriterium der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Überlegungsprozesses macht. So sieht er den entsprechenden Prozess überall da als möglich an, wo das betroffene Individuum die in Frage stehende Handlung subjektiv für möglich hält, und überall da als unmöglich, wo das Individuum die in Frage stehende Handlung subjektiv für unmöglich hält. Therefore of things past, there is no Deliberation; because manifestly impossible to be changed: nor of things known to be impossible, or thought so; because men know, or think such Deliberation vain. But of things impossible, which we think possible, we may Deliberate; not knowing it is in vain. And it is called Deliberation; because it is putting an end to the Liberty we had of doing, or omitting, according to our own Appetite, or Aversion. [...] Every Deliberation is then sayd to End, when that whereof they Deliberate, is either done, or thought impossible; because till then wee retain the liberty of doing, or omitting, according to our Appetite, or Aversion.97

Die anschließende Definition des Willens ist wiederum mit der Definition der Elements identisch. Hobbes bestimmt den Willen als „the last Appetite in Deliberating“98 bzw. als „the last Appetite, or Aversion, immediately adhaering to the action, or to the omission thereof“99, d.h. als diejenige Neigung, die im Überlegungsprozess letztlich die Oberhand gewinnt und die Ausführung oder Unterlassung der in Frage stehenden Handlung direkt nach sich zieht. Anders als in den früheren Schriften nimmt Hobbes seine Definitionen von ‚deliberation‘ und ‚will‘ nun zum Anlass, um ausdrücklich die Tatsache hervorzuheben, dass auch Tiere zu Überlegungen und zur Formung eines Willens fähig sind und die Anwendung beider Begriffe folglich nicht auf den Menschen beschränkt ist. Die Definitionen der Begriffe der Vernunft, der Überlegung und des Willens, die Hobbes im englischen Leviathan entwickelt, stimmen demnach in allen hier relevanten Punkten mit den Definitionen der Elements überein. Im Hinblick auf die Frage nach den Grundlagen des Hobbes’schen Naturrechts bleibt nun noch zu untersuchen, ob Hobbes auch im englischen Leviathan Handlungen, die den Schutz und die Erhaltung des Handelnden zum Ziel haben, als solche Handlungen versteht, bezüglich derer keine Überlegung möglich ist bzw. bezüglich derer das Vernunfturteil des Handelnden gleichsam immer schon feststeht und die von einem vernünftigen Individuum gar nicht unterlassen werden können. Wie oben gesehen, werden im englischen _____________ 97 98 99

EL: 28. EL: 28. EL: 28.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

171

Leviathan, anders als in den Elements und in De Cive, im Rahmen der Beschreibung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung keinerlei entsprechende Behauptungen aufgestellt. Es findet sich aber an anderer Stelle eine Passage, in der Hobbes seine frühere Aussage, der Mensch strebe von Natur aus nach dem für ihn Guten, ausdrücklich wiederholt. Im Kontext der Vertragsdiskussion des vierzehnten Kapitels hebt Hobbes nicht nur hervor, dass die konkrete Aufgabe des natürlichen Rechts im Zuge eines Vertrages naturgemäß auf einen Vorteil gerichtet ist, den der Handelnde sich von dieser Aufgabe verspricht. Er trifft auch die ungleich allgemeinere Aussage, dass jeder willentliche Akt eines Menschen, d.h. jeder Akt, dem ein Überlegungsprozess vorausgeht, in diesem Sinne auf ein Gut für den Handelnden zielt. Whensoever a man Transferreth his Right, or Renounceth it; it is either in consideration of some Right reciprocally transferred to himselfe; or for some other good he hopeth for thereby. For it is a voluntary act: and of the voluntary acts of every man, the object is some Good to himselfe.100

Die Passage ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung für die vorliegende Erörterung. Sie zeigt, dass Hobbes auch im englischen Leviathan an der in den Elements gemachten Aussage festhält, der Mensch erstrebe von Natur aus bonum sibi, festhält, so dass auf dieser Grundlage die Behauptung aufgestellt werden kann, Hobbes müsse auch im englischen Leviathan solche Handlungen, die kein Gut für den Handelnden darstellen oder zur Folge haben, als Handlungen begreifen, bezüglich derer keine Überlegung möglich ist bzw. deren Ausübung grundsätzlich als unvernünftig zu gelten hat. Hobbes’ anschließende Auflistung von Rechten, die mit keinem Gut für den Handelnden verbunden sind und die folglich nicht wirksam aufgegeben werden können, zeigt zusätzlich, dass er auch im englischen Leviathan Handlungen, die unweigerlich oder auch nur der Wahrscheinlichkeit nach die Verletzung oder den Tod eines Individuums zur Folge haben, als Beispiele für Handlungen versteht, die aus Sicht des betroffenen Individuums eben kein Gut darstellen und folglich nicht vernünftigerweise gewollt werden können. And therefore there be some Rights, which no man can be understood by any words, or other signes, to have abandoned, or transferred. As first a man cannot lay down the right of resisting them, that assault him by force, to take away his life; because he cannot be understood to ayme thereby, at any Good to himself. The same may be sayd of Wounds, and Chayns, and Imprisonment; both because there is no benefit consequent to such patience; as there is no patience of suffering another to be wounded, or imprisoned: as also because a man cannot tell, when he seeth men proceed against him by violence, whether they intend his death or not.101

_____________ 100 EL: 65f. 101 EL: 66.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Auf der Grundlage all dieser Passagen und vor dem Hintergrund der direkten oder indirekten Übereinstimmungen zwischen dem englischen Leviathan und den früheren Schriften lässt sich daher aus meiner Sicht letztlich eine Begründung des natürlichen Rechts des englischen Leviathan rekonstruieren, die mit der expliziten Begründung in den Elements und in De Cive identisch ist und in der den Kriterien der Vernünftigkeit und der Notwendigkeit dieselbe Rolle zukommt, wie schon in den früheren Werken. Dem Einzelnen kommt demnach für Hobbes ein natürliches Recht auf Selbsterhaltung zu, weil er mit Naturnotwendigkeit nach dem für ihn Guten strebt; weil die Schädigung oder Tötung der eigenen Person nicht vernünftigerweise als etwas Gutes begriffen werden kann; und weil der Einzelne keine moralische Verpflichtung haben kann, Handlungen auszuführen, die unmöglich oder in einem ausgesprochen grundlegenden Sinne unvernünftig sind. Es lässt sich zudem die Auffassung vertreten, dass diese Argumentation dadurch an Stärke gewinnt, dass Hobbes im englischen Leviathan auch solche Überlegungen bzw. Handlungen als unmöglich begreift, die der Handelnde subjektiv für unmöglich hält. Angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in diesem Sinne Handlungen, die die Verletzung oder Tötung des eigenen Körpers zum Ziel haben, einer Überlegung für unfähig hält – was nichts anderes heißt, als dass Hobbes’ Sichtweise zufolge die willentliche Ausführung solcher Handlungen für diese Menschen faktisch unmöglich wird –, verliert die Tatsache, dass derartige Handlungen prinzipiell ausführbar sind und von einigen wenigen Menschen auch ausgeführt werden, etwas an Bedeutung und der diesbezügliche Einwand gegen die Hobbes’sche Position etwas an Kraft. Die Position Gauthiers, nach der nichts dagegen spricht, die Vernunft im englischen Leviathan wie schon in den Elements und in De Cive als Geltungsgrundlage des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung zu interpretieren,102 kann daher nachdrücklich bekräftigt werden. Es muss zwar zugestanden werden, dass Hobbes die Vernunft im Rahmen der eigentlichen Definition des natürlichen Rechts nicht mehr, wie noch in De Cive, als Bedingung und Begrenzung des natürlichen Rechts präsentiert. Dies ist aber vorrangig darauf zurückzuführen, dass Hobbes an der betreffenden Stelle bereits die Geltung des ipse-iudex-Prinzips voraussetzt, die er in den früheren Schriften erst im Anschluss an seine Definition des natürlichen Rechts entwickelt hat, und dass er daher schon im Rahmen der Einführung des natürlichen Rechts dieses Recht an das bloß subjektive Vernunfturteil des Handelnden bindet. Die obigen Ausführungen haben jedoch gezeigt, dass Hobbes die Existenz der rechten Vernunft im Sinne eines objektiven Kriteriums auch im englischen Leviathan prinzipiell anerkennt und dass sich auf Grundlage dieses Begriffes _____________ 102 Vgl. Gauthier 1969: 34 („Nothing in the arguments present in Leviathan is incompatible with the supposition that the right of nature is based on reason, and so we are surely entitled to turn to the earlier works for our definition.“).

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

173

und unter Berücksichtigung weiterer relevanter Passagen des englischen Leviathan die frühere Begründung des natürlichen Rechts rekonstruieren lässt. Ludwigs Sichtweise, nach der der Bezugnahme auf die rechte Vernunft im Rahmen der Naturrechtstheorie des englischen Leviathan keinerlei Bedeutung mehr zukommt und nach der Hobbes sich in seinem späteren Werk, und erst dort, konsequent von der stoischen Naturrechtstradition löst,103 muss daher in Zweifel gezogen werden. Es ist zwar richtig, dass Hobbes sich im englischen Leviathan nicht mehr, wie noch in De Cive, auf die Vernunft konsequent mit dem Terminus ‚right reason‘ bzw. ‚recta ratio‘ bezieht. Die Bevorzugung des einfachen ‚reason‘ findet sich aber, wie gesehen, auch schon in den Elements und kann daher kaum als aussagekräftiges Indiz für eine inhaltliche Neugestaltung der Naturrechtstheorie gelten. Die These, mit dem Verzicht auf den Terminus ‚recta ratio‘ gehe im englischen Leviathan eine nachhaltige Ablösung von der traditionellen Naturrechtslehre einher, erscheint zudem auch deshalb als fragwürdig, da Hobbes schon in den Elements und in De Cive den Begriff ‚right reason‘ bzw. ‚recta ratio‘ in bewusster Abgrenzung von der Tradition definiert und darüber hinaus in allen drei Schriften an ein- und demselben inhaltlichen Verständnis des Begriffes festhält. Wenn sich die theoretische Begründung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung aber auch im Sinne der früheren Ausführungen aus dem Text des englischen Leviathan rekonstruieren lässt, so soll dies doch nicht heißen, dass Hobbes’ Verzicht auf eine explizite Begründung nicht als Schwäche seiner Argumentation zu begreifen sei. Vielmehr ist Gert grundsätzlich zuzustimmen, dass der englische Leviathan zumindest in diesem Punkt den früheren Schriften unterlegen ist. Zwar gelingt es Hobbes mit seinem Verzicht auf eine eingehendere Begründung des natürlichen Rechts wie auch mit seinem Verzicht auf eine explizite Begründung des ipse-iudex-Prinzips, einige der Unklarheiten und Schwächen seiner früheren Ausführungen unter den Tisch fallen zu lassen. Auf diese Weise gewinnt seine Argumentation aber höchstens in einem kosmetischen Sinne an Wert, während die theoretisch dringliche Frage nach den Grundlagen des natürlichen Rechts nun nicht mehr explizit beantwortet wird. Um die Behauptung einer weitgehenden Übereinstimmung des Naturrechtsbegriffs des englischen Leviathan auf der einen und des Naturrechtsbegriffs der Elements und von De Cive auf der anderen Seite abzusichern, muss nun abschließend noch sichergestellt werden, dass es sich beim natürlichen Recht des englischen Leviathan um ein Freiheitsrecht im Sinne einer moralisch-rechtlichen Freiheit von Verpflichtung handelt und dass ihm daher ein normativer Charakter zugestanden werden kann. Diese Frage erfordert vor allem deshalb eine eingehendere Betrachtung, weil Hobbes’ Aussagen dieser _____________ 103 Vgl. etwa Ludwig 1998: 10, 265, 269ff., und 401ff.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Sichtweise zunächst zu widersprechen scheinen. Hobbes definiert zwar das natürliche Recht wie in den Elements und in De Cive als Freiheitsrecht, nämlich als „Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature“. Seine anschließende explizite Definition des Begriffes ‚liberty‘ erweckt aber den Eindruck, als könne mit dem natürlichen Recht hier keine moralisch-rechtliche Freiheit, sondern lediglich eine bloß physische Freiheit bezeichnet sein. By LIBERTY, is understood, according to the proper signification of the word, the absence of externall Impediments: which Impediments, may oft take away part of a mans power to do what hee would; but cannot hinder him from using the power left him, according as his judgement, and reason shall dictate to him.104

Hatte Hobbes Freiheit in De Cive noch allgemein als Abwesenheit von Bewegungshindernissen definiert und im Rahmen seiner Ausführungen deutlich gemacht, dass prinzipiell auch Hindernisse, die prädeterminierend auf die Willensentscheidung des Einzelnen wirken, in diesem Sinne als Bewegungshindernisse fungieren könne, so scheint für ihn nun der Verlust von Freiheit prinzipiell nur auf solche Hindernisse zurückzugehen, die physisch und unmittelbar das menschliche Handeln einschränken. Diese Interpretation legen auch Hobbes’ Ausführungen im einundzwanzigsten Kapitel des englischen Leviathan nahe, in dem Hobbes die oben zitierte Definition des Begriffs ‚liberty‘ weiter ausführt. LIBERTY, or FREEDOME, signifieth (properly) the absence of Opposition; (by Opposition, I mean externall Impediments of motion;) and may be applyed no lesse to Irrationall, and Inanimate creatures, than to Rationall. For whatsoever is so tyed, or environed, as it cannot move, but within a certain space, which space is determined by the opposition of some externall body, we say it hath not Liberty to go further. And so of all living creatures, whilest they are imprisoned, or restrained, with walls, or chayns; and of the water whilest it is kept in by banks, or vessels, that otherwise would spread it selfe into a larger space, we use to say, they are not at Liberty, to move in such manner, as without those externall impediments they would. But when the impediment of motion, is in the constitution of the thing it selfe, we use not to say, it wants the Liberty; but the Power to move; as when a stone lyeth still, or a man is fastned to his bed by sicknesse.105

Man kann nun zwar versuchen, die obigen Definitionen mit großem interpretatorischen Aufwand der Freiheitsdefinition von De Cive anzunähern, etwa indem man darauf beharrt, dass es auch im Beispiel des Mannes, der aus Furcht vor dem Versinken im Meer seine Vorräte ins Wasser wirft, letztlich äußere und physische Gegenstände sind, die seinen Willen prädeterminieren _____________ 104 EL: 64. 105 EL: 107.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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und auf diese Weise seine Freiheit begrenzen. Selbst im Rahmen einer solchen Interpretation ließe sich aber kaum überzeugend erklären, warum auch moralisch-rechtliche Verpflichtungen, also nicht-empirische Entitäten, die den Willen des Handelnden prädeterminieren, unter Hobbes’ Begriff der „externall impediments“ fallen sollten. Gegen die Interpretation spricht zudem auch, dass Hobbes die Möglichkeit von ‚arbitrary impediments‘ keineswegs nur nicht so explizit, wie noch in De Cive, zugesteht, sondern dass er sie nun ganz im Gegenteil ausdrücklich zurückweist, und zwar ausgerechnet unter Verwendung des schon in De Cive enthaltenen und auf Aristoteles zurückgehenden Beispiels des Mannes in Seenot. Wie Hobbes unmissverständlich und in deutlicher Abgrenzung von De Cive betont, handelt auch ein Mensch, der aus Furcht vor Gefahren eine Handlung unterlässt, prinzipiell frei, solange er nicht durch Fesseln oder andere physische Gegenstände an der Ausübung der betreffenden Handlung gehindert ist. Feare, and Liberty are consistent; as when a man throweth his goods into the Sea for feare the ship should sink, he doth it neverthelesse very willingly, and may refuse to doe it if he will: It is therefore the action, of one that was free: so a man sometimes pays his debt, only for feare of Imprisonment, which because no body hindred him from detaining, was the action of a man at liberty. And generally all actions which men doe in Common-wealths, for feare of the law, are actions, which the doers had liberty to omit.106

Vor diesem Hintergrund muss eingestanden werden, dass die Hobbes’sche Definition von Freiheit „in the proper signification of the word“ weder die Möglichkeit rechtlich-moralischer Hindernisse des Handelns noch die Möglichkeit anderer ‚arbitrary impediments‘ offen lässt. Im eigentlichen Sinne ist der Mensch nun für Hobbes auch dann frei, wenn er durch Furcht oder moralisch-rechtliche Verpflichtungen zu einer bestimmten Verhaltensweise gedrängt wird, und im eigentlichen Sinne unfrei ist er nur dort, wo ihm aufgrund physischer Gewalt bestimmte Verhaltensweisen unmöglich sind. Auch mit Bezug auf den englischen Leviathan kommt man aber letztlich nicht umhin, die Existenz verschiedener Begriffe von Freiheit zu konstatieren und neben der bereits beschriebenen Freiheit „in the proper signification of the word“ auch eine uneigentliche Verwendung des Begriffes anzuerkennen. Es ist bereits deutlich geworden, dass Hobbes auch im englischen Leviathan, und zwar in Kapitel V, auf den Begriff ‚Freiheit‘ im Sinne von ‚freedom as deliberation‘ zurückgreift, indem er nämlich, wie in den Elements, einer Person, die überlegt, ob sie eine bestimmte Handlung ausführen soll, die Freiheit zuschreibt, die in Frage stehende Handlung auszuführen oder zu unterlassen. Wenn nun auch nicht näher auf die Frage der Vereinbarkeit dieser Freiheitsdefinition mit der Definition von Freiheit „in the proper signification of the _____________ 106 EL: 108.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

word“ eingegangen werden soll, so dürfte doch auf der Hand liegen, dass die erstere Definition nicht einfach unter die letztere subsummiert werden kann. Neben den Passagen in Kapitel V finden sich aber auch solche, in denen Hobbes zusätzlich auch eine moralisch-rechtliche Art von Freiheit im bisherigen Sinne einer ‚freedom from obligation‘ zugesteht. So erläutert Hobbes direkt im Anschluss an seine Definition von Freiheit als „absence of Opposition“ in Kapitel XXI den Begriff ’free guift’ mit dem Hinweis, es handle sich insofern um ein ‚free guift‘, als die Person, von der das in Frage stehende Geschenk stamme, nicht durch Gesetze oder Verträge verpflichtet gewesen sei, ein solches Geschenk zu machen.107 Dieses moralisch-rechtliche Verständnis des Begriffes ‚Freiheit‘ macht Hobbes sich im sechsundzwangzigsten Kapitel des englischen Leviathan selbst zu eigen, in dem er, wie schon im zehnten Kapitel des zweiten Teils der Elements und im vierzehnten Kapitel von De Cive, Gesetz und Recht und Verpflichtung und Freiheit einander gegenüberstellt, wobei er die Begriffe des Gesetzes und des Rechtes nun allerdings etwas stärker auf die positiven Strukturen des staatlichen Zustandes beschränkt. I find the words Lex Civilis, and Jus Civile, that is to say, Law and Right Civil, promiscuously used for the same thing, even in the most learned Authors; which neverthelesse ought not to be so. For Right is Liberty, namely that Liberty which the Civil Law leaves us: But Civill Law is an Obligation; and takes from us the Liberty which the Law of Nature gave us. Nature gave a Right to every man to secure himselfe by his own strength, and to invade a suspected neighbour, by way of prevention: but the Civill Law takes away that Liberty, in all cases where the protection of the Law may be safely stayd for. Insomuch as Lex and Jus, are as different as Obligation and Liberty.108

Es ist nicht ganz einsichtig, warum Hobbes an dieser Stelle des englischen Leviathan anders als in den früheren Schriften ausdrücklich vom positiven Recht und den positiven Gesetzen ausgeht, und vor allem, warum er die Aussage trifft, das natürliche Gesetz gebe den Einzelnen die natürliche Freiheit des natürlichen Rechts, und nicht die Aussage, das natürliche Gesetz lasse den Einzelnen diese Freiheit. Die Vermutung, der Begriff des natürlichen Rechtes werde im englischen Leviathan von Hobbes grundsätzlich anders verstanden als in den beiden früheren Schriften, oder die Beziehung von natürlichem Recht und natürlichem Gesetz werde von ihm grundsätzlich anders gefasst, ist aber letztlich unbegründet. Blickt man auf Hobbes’ Definition des natürlichen Gesetzes in Kapitel XIV, in der – anders als in den beiden früheren Schriften – die definitorische Gegenüberstellung von ‚law‘ und ‚right‘ noch ein zweites Mal entwickelt wird – und zwar diesmal mit einem eindeutigen kontextualen Bezug zum natürlichen Recht und zum natürlichen Gesetz –, so _____________ 107 Vgl. EL: 108. 108 EL: 150.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hobbes das natürliche Recht auch im englischen Leviathan prinzipiell als Ausdruck des Fehlens von gesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung und daher prinzipiell als Freiheit im normativen Sinne einer ‚freedom from obligation‘ versteht und dass er nicht nur das positive, sondern nach wie vor auch das natürliche Gesetz als Gegenbegriff zum natürlichen Recht und als prinzipielle Schranke der darin zum Ausdruck kommenden normativ-rechtlichen Freiheit begreift. For though they that speak of this subject, use to confound Jus, and Lex, Right and Law; yet they ought to be distinguished; because RIGHT, consisteth in liberty to do, or to forbeare; Whereas LAW, determineth, and bindeth to one of them: so that Law, and Right, differ as much, as Obligation, and Liberty; which in one and the same matter are inconsistent.109

Wie in den Elements und in De Cive verfügt Hobbes demnach im englischen Leviathan nicht nur grundsätzlich über einen moralisch-rechtlichen Begriff von Freiheit, der vom Begriff der Freiheit im eigentlichen Sinne des Wortes unterschieden werden muss, sondern er versteht auch das natürliche Recht ausdrücklich in diesem moralisch-rechtlichen Sinne als Ausdruck einer ‚natural liberty‘. Anders als Hobbes’ Ausführungen zu Beginn des vierzehnten Kapitels dies nahelegen, kann die explizite Definition von „Liberty (...) in the proper signification of the word“ folglich nicht die Funktion haben, die zuvor genannte „Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature“ näher zu erläutern. Sie liefert vielmehr paradoxerweise eine Beschreibung des Begriffs, die auf die zuvor genannte Art von Freiheit gerade nicht anwendbar ist. Dass diese Folgerung, so kontra-intuitiv sie auch anmuten mag, letztlich unvermeidbar ist,110 zeigt sich auch, wenn man die Gegenposition, die in der Vergangenheit beispielsweise von Carmichael und Loukola vertreten worden ist und nach der Hobbes’ Definition von „Liberty (...) in the proper signification of the word“ direkt auf seine Definition des natürlichen Rechts anzuwenden ist,111 näher untersucht und den Konsequenzen nachgeht, die mit einer solchen Interpretation verbunden sind. Geht man davon aus, dass mit der Freiheit, die dem Einzelnen qua natürlichem Recht zukommt, die empirische Abwesenheit äußerer Hindernisse gemeint ist, dann erscheint nicht nur Hobbes’ Rückgriff auf die Termini ‚right‘ oder ‚jus‘ ausgesprochen unangemessen, sondern dann ist seine Zuschreibung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung auch schlicht falsch. Es erscheint durchaus sinnvoll, dem Einzelnen die Erlaubnis zuzusprechen, im Naturzustand bestimmte Handlungen auszuführen. Über die faktische Freiheit, sie unbehelligt von äußeren Hin_____________ 109 EL: 64. 110 Zu diesem Schluss gelangen auch Hood 1964: 91f.; und Brett 1997: 226. 111 Vgl. Carmichael 1988: 258; und Loukola 1998: 71.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

dernissen auszuführen, verfügt er aber keineswegs, und zwar schon deshalb nicht, weil das Streben nach Selbsterhaltung Hobbes’ eigener Argumentation im englischen Leviathan zufolge die Einzelnen zwangsläufig in gewaltsame Auseinandersetzungen treibt. Dies heißt jedoch nichts anderes, als dass sie in den auf ein- und dieselben Güter gerichteten Handlungen der jeweils anderen Individuen zwangsläufig auf äußere Hindernisse stoßen werden. Nimmt man die Tatsache hinzu, dass Hobbes auch im englischen Leviathan das natürliche Recht letztlich als ‚Recht auf alles‘ bestimmt, dann erscheint die deskriptive Lesart des natürlichen Rechts als Freiheit von äußeren Hindernissen – und das heißt dann: als mehr oder minder vollständige Freiheit von äußeren Hindernissen –, erst recht als unhaltbar. Gerade im Naturzustand als dem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ ist der Einzelne im Rahmen seines Strebens nach Selbsterhaltung nicht frei von äußeren Hindernissen, und so erscheint die Auffassung, Hobbes können den Individuen mit Blick auf den Naturzustand in diesem Sinne ein ‚Recht auf alles‘ zuschreiben wollen, geradezu absurd. Dass Hobbes selbst die unvermeidlichen Handlungseinschränkungen im Naturzustand sehr wohl anerkannt hat und dass er sie keineswegs als Widerspruch zum natürlichen ‚Recht auf alles‘, sondern gerade als unvermeidbare Folge dieses Rechts begriffen hat, zeigt sich an Hobbes’ Erörterung des zweiten natürlichen Gesetzes, das die Aufgabe des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ vorschreibt. Im Anschluss an seine Formulierung dieses Gesetzes beschreibt Hobbes, was es heißt, einem Teil des natürlichen Rechts zu entsagen, und er tut dies in einer Weise, die mit der deskriptiven Lesart des natürlichen Rechts unvereinbar ist. To lay downe a mans Right to any thing, is to devest himselfe of the Liberty, of hindring another of the benefit of his own Right to the same. For he that renounceth, or passeth away his Right, giveth not to any other man a Right which he had not before; because there is nothing to which every man had not Right by Nature: but onely standeth out of his way, that he may enjoy his own originall Right, without hindrance from him; not without hindrance from another. So that the effect which redoundeth to one man, by another mans defect of Right, is but so much diminution of impediments to the use of his own Right originall.112

Schon dass Hobbes das natürliche Recht anfänglich als die Freiheit beschreibt, den jeweils anderen am Genuss desselben Rechts zu hindern, macht deutlich, dass auch für Hobbes die Individuen im Naturzustand als faktische Hindernisse die Handlungsmöglichkeiten des jeweils anderen begrenzen werden. Von einem ‚Recht aller auf alles‘ im Sinne einer allgemeinen Freiheit von äußeren Hindernissen kann folglich keine Rede sein. Die anschließende Beschreibung des konkreten Rechtsverzichts bekräftigt dies zudem noch einmal. Die Aufgabe des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ im Zuge eines gültigen Vertra_____________ 112 EL: 65.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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ges besteht nicht darin, dass neue äußere Hindernisse geschaffen würden, denen der Aufgebende sich nun gegenüber sähe, sondern sie besagt ganz im Gegenteil, dass der Aufgebende fortan darauf verzichtet, als äußeres Hindernis zu fungieren und die Bewegungen seines Vertragspartners in einer bestimmten Hinsicht einzuschränken. Daran lässt auch der abschließende Satz keinen Zweifel, in dem Hobbes die Aufgabe des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ ausdrücklich als Verminderung von zuvor bestandenen „impediments“ bezeichnet, von Hindernissen also, die es dann, wenn es sich bei Hobbes’ ‚natural liberty‘ um die Freiheit von äußeren Hindernissen handeln würde, im Naturzustand gar nicht geben dürfte. Es kann daher festgehalten werden, dass es sich beim „Jus Naturale“ des englischen Leviathan im gleichen Sinne wie beim natürlichen Recht der früheren Schriften um eine normative Kategorie und um eine Freiheit lediglich im nicht-empirischen Sinne einer moralisch-rechtlichen Erlaubnis, d.h. einer ‚freedom from obligation‘ handelt bzw. handeln muss. Mit dem Nachweis des normativen Charakters der ‚natural liberty‘ des englischen Leviathan dürfte nun hinreichend deutlich geworden sein, dass es keine überzeugende Basis für die Behauptung gibt, der Begriff des natürlichen Rechts werde im englischen Leviathan von Hobbes prinzipiell neu gefasst oder die impliziten theoretischen Grundlagen dieses Rechts seien von den detailliert ausgeführten Grundlagen des natürlichen Rechts in den Elements und De Cive signifikant verschieden. 5.4.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ Dass die Naturrechtserörterung des englischen Leviathan dennoch einen entscheidenden inhaltlichen Unterschied zu den diesbezüglichen Erörterungen der früheren Schriften aufweist, liegt daran, dass Hobbes im englischen Leviathan eine deutlich veränderte Begründung für die Tatsache liefert, dass das natürliche Recht letztlich die Form eines ‚Rechts auf alles‘ annimmt. Nachdem Hobbes im Anschluss an seine Freiheitsdefinition zunächst den Begriff des natürlichen Gesetzes eingeführt und ihn als Komplementärbegriff zu dem des natürlichen Rechts gekennzeichnet hat, betont er, dass das natürliche Recht im Naturzustand als einem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ als ‚Recht auf alles‘ begriffen werden muss. Er gesteht dabei aber dem ipse-iudexPrinzips nicht mehr die Bedeutung für den Umfang des natürlichen Rechts zu, die ihm in den früheren Schriften zugekommen war. And because the condition of Man, (as hath been declared in the precedent Chapter) is a condition of Warre of every one against every one; in which case every one is governed by his own Reason; and there is nothing he can make use of, that may not

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

be a help unto him, in preserving his life against his enemyes; It followeth, that in such a condition, every man has a Right to every thing; even to one anothers body.113

Die Tatsache, dass im Naturzustand jedes Individuum Richter in eigener Sache ist, wird von Hobbes zwar noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. Für die eigentliche Begründung des ‚Rechts auf alles‘ spielt diese Tatsache aber letztlich keine Rolle. Während Hobbes in den Elements und De Cive den Umfang des natürlichen Rechts mit dem Hinweis begründet hat, von keiner Handlung und keinem Gegenstand könne grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass sie einem Individuum im Naturzustand in irgendeiner Situation als der eigenen Erhaltung förderlich erscheinen werde, begründet er das natürliche ‚Recht aller auf alles‘ nun mit der Behauptung, es gebe kein Gut, das im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ nicht in irgendeiner Situation in irgendeiner Weise der individuellen Erhaltung hilfreich sei. Mit anderen Worten: Während Hobbes dem Einzelnen in den Elements und in De Cive ein ‚Recht auf alles‘ zugesprochen hat, weil er davon ausging, dass ein Individuum allen Handlungen und Gegenständen, die es begehrt und die es folglich als Gut begreift, auch subjektiv, und möglicherweise irrtümlich, einen Nutzen im Hinblick auf das Ziel der eigenen Erhaltung zuschreiben wird, gesteht er ihm im englischen Leviathan ein solches Recht zu, weil er davon ausgeht, dass allen Handlungen und Gegenständen, bei denen es sich grundsätzlich um Güter handelt, ein solcher Nutzen auch objektiv zukommt. Diese Akzentverschiebung ist nun vor allem deshalb von besonderem Interesse, weil sie sich sinnvoll zu der oben beschriebenen Akzentverschiebung in Hobbes’ Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ in Beziehung setzen lässt. Es ist oben gezeigt worden, dass Hobbes den allgemeinen Kriegszustand im englischen Leviathan auf das vernünftige Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen zurückzuführen versucht und die Auffassung vertritt, die Sorge um die eigene Erhaltung führe die Individuen zumindest von Zeit zu Zeit zwangsläufig in gewaltsame Auseinandersetzungen um lebensnotwendige Güter. Im Rahmen der Betonung der Notwendigkeit präventiver Gewalt und der Notwendigkeit des Strebens nach „Power after power“ ist zudem deutlich geworden, dass die Individuen auch schon in solchen Situationen zu Gewalt greifen und Güter approprieren müssen, in denen dies vom Ziel der Selbsterhaltung nicht direkt und unmittelbar gefordert ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich nun aber einsehen, warum Hobbes im Rahmen seiner Diskussion des Naturrechts die ausgesprochen starke und auf den ersten Blick unhaltbare These vertritt, im ‚Krieg aller gegen alle‘ seien alle Handlungen und Gegenstände, von denen der Handelnde irgendeinen Nutzen zu erwarten hat, immer auch mit einem Nutzen für seine Erhaltung verbunden. Man mag zwar auch hier letztlich dieselben Zweifel an Hobbes’ Einschätzung _____________ 113 EL: 64.

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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anmelden, die oben schon im Hinblick auf die Elements und De Cive geäußert worden sind. Es kann aber kaum ein Zweifel bestehen, dass Hobbes die Behauptung vom objektiven Nutzen aller denkbaren Güter auf Basis der Kriegsherleitungen der Elements und von De Cive nicht in der gleichen Weise und mit der gleichen Plausibilität hätte aufstellen können, und ebensowenig Zweifel können meines Erachtens bestehen, dass es sich bei der Veränderung in Hobbes’ Begründung des ‚Rechts auf alles‘ um eine bewusst gezogene Konsequenz aus der veränderten Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ handelt. Die Art und Weise, auf die Hobbes im englischen Leviathan aus dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung ein natürliches ‚Recht auf alles‘ ableitet, bestätigt daher indirekt noch einmal unsere frühere Behauptung einer bewussten Akzentverschiebung in Hobbes’ Argumentation. Wie schon der ‚Krieg aller gegen alle‘, so wird auch die Begründung des ‚Rechts auf alles‘ von der Voraussetzung menschlicher Irrationalität gereinigt, indem nämlich dem potenziell falschen Urteil des Einzelnen keine zentrale Bedeutung für den Umfang des natürlichen Rechts mehr zugestanden wird. Stattdessen wird die Tatsache, dass das natürliche Recht zu einem ‚Recht auf alles‘ wird, nun ausschließlich damit begründet, dass im Naturzustand als einem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ alle nur denkbaren Güter mit einem faktischen Nutzen für das natürliche, notwendige und legitime Streben nach Selbsterhaltung verbunden sind. Das Auftreten menschlicher Irrationalität steht höchstens noch insofern in einem Verhältnis zum ‚Recht auf alles‘ und der mit diesem Recht verbundenen Problematik, als ein Individuum sich in der Einschätzung, ob es sich bei einem Gegenstand um ein Gut handelt, d.h. ob ihm überhaupt ein Nutzen zukommt, irren könnte. Hobbes schenkt dieser Möglichkeit aber keinerlei Beachtung, und in der Tat kann davon ausgegangen werden, dass die Hobbes’schen Naturzustandsindividuen über die Kompetenz verfügen, den prinzipiellen Wert oder Unwert einer Handlung oder eines Gegenstandes zu beurteilen, erst recht, zumal Hobbes im Rahmen der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ keineswegs ausschließlich solche Handlungen und Gegenstände als nützlich anerkennt, die auf lange Sicht und unter Berücksichtigung aller Eventualitäten mit einem Vorteil für den Handelnden verbunden sind. Die Wendung „there is nothing he can make use of“ lässt sich vielmehr auch auf solche Güter anwenden, die dem Handelnden lediglich einen kurzfristigen Nutzen oder eine kurzfristige Bedürfnisbefriedigung verschaffen, und theoretisch lässt sie sich sogar so verstehen, als wolle Hobbes sich gar nicht allein auf Gegenstände beziehen, die mit einem Nutzen im Sinne eines objektiven Vorteils verbunden sind, sondern ganz allgemein auf alle Gegenstände, von denen ein Individuum irgendeinen Gebrauch machen kann und die es in diesem allgemeinen Sinne zu nutzen vermag.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Angesichts der geringen Bedeutung des ipse-iudex-Prinzips für die Begründung des ‚Rechts aller auf alles‘ muss nun allerdings unsere obige Kritik an der Naturrechtsdiskussion des englischen Leviathan ein wenig relativiert werden. Da Hobbes grundsätzlich an diesem Prinzip festhält, ist zwar sein Versäumnis, eine theoretische Begründung des Prinzips zu liefern, nach wie vor kritisch zu bewerten. Da dem Prinzip in Hobbes’ Begründung des ‚Rechts auf alles‘ aber keine entscheidende Rolle mehr zukommt, fällt dieses Versäumnis weitaus weniger ins Gewicht, als dies etwa in den Elements oder in De Cive der Fall gewesen wäre. Der Argumentation des englischen Leviathan zufolge müsste dem Einzelnen auch ohne das Recht, den Nutzen eines Gegenstandes im Hinblick auf das Ziel der eigenen Erhaltung selbst zu bestimmen, ein ‚Recht auf alles‘ zugesprochen werden, allein aus dem Grund, dass er ein Recht auf Selbsterhaltung besitzt und dass im Naturzustand als dem ‚Krieg aller gegen alle‘ nach Hobbes’ Auffassung letztlich alle als Güter angestrebten Gegenstände diesem Zweck förderlich sind. Angesichts der oben eingehend beschriebenen Probleme und Unzulänglichkeiten der Begründungen des ipse-iudex-Prinzips und des ‚Rechts aller auf alles‘ in den Elements und in De Cive mag nun eventuell sogar die Folgerung naheliegend erscheinen, die Naturrechtsdiskussion des englischen Leviathan sei trotz des Fehlens einer expliziten Begründung des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung den entsprechenden Diskussionen der früheren Schriften letztlich überlegen. Es muss aber abschließend darauf verwiesen werden, dass die Diskussion des englischen Leviathan zwei schwerwiegende Schwächen der früheren Schriften erbt. Die erste Schwäche besteht in der schon angedeuteten Tatsache, dass Hobbes’ Behauptung, jedes denkbare Gut sei im ‚Krieg aller gegen alle‘ mit einem Nutzen für die Erhaltung des Handelnden verbunden, als Übertreibung erscheinen muss, und zwar auch dann, wenn man sich der veränderten Hobbes’schen Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes anschließen sollte. Die zweite Schwäche besteht darin, dass sich das natürliche Recht auf Selbsterhaltung auch im englischen Leviathan nur als Recht auf die zur Erhaltung notwendigen Mittel und Handlungen überzeugend begründen lässt, Hobbes aber schon im Zuge der Beschreibung des natürlichen Rechts und erst recht im Zuge der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ auf das Kriterium der Nützlichkeit rekurriert. Diese Schwächen fallen nun aber ihrerseits im englischen Leviathan noch etwas schwerer ins Gewicht als in den Elements und in De Cive, weil Hobbes im Rahmen seiner gesamten Argumentation auf dem in dieser Weise begründeten Umfang des ‚Rechts auf alles‘ beharrt und das natürliche Recht nun konsequent und unmissverständlich als Recht präsentiert, das alle Handlungen und Verhaltensweisen der Naturzustandsindividuen rechtfertigt. Schon die veränderte Begründung des ‚Rechts auf alles‘ legt nahe, dass sich das natürliche Recht auf alle Güter und alle faktisch ausgeführten Handlungen ers-

5.4 Die englische Fassung des Leviathan

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trecken muss. Hobbes’ Darstellung zufolge sind alle diese Güter und Handlungen der Erhaltung des Handelnden dienlich, weshalb das subjektive Vernunfturteil nicht mehr in der Weise wie noch in den Elements und in De Cive als mögliche Begrenzung des natürlichen Rechts zu fungieren vermag, und es finden sich auch keinerlei Stellen, an denen Hobbes diesen Eindruck zerstreuen würde. Anders als in der zweiten Auflage von De Cive sind im englischen Leviathan weder Hobbes’ Ausführungen zum natürlichen ‚Recht auf alles‘ noch seine Ausführungen zur Geltung der natürlichen Gesetze mit Anmerkungen versehen, in denen auf solche Handlungen verwiesen würde, die zu jeder Zeit durch das natürliche Gesetz verboten sind und deren Ausführung folglich zu jeder Zeit als Sünde anzusehen wäre. Und wie schon im fünften Kapitel von De Cive, so wird auch im siebzehnten Kapitel des englischen Leviathan, in dem Hobbes sich einmal mehr mit dem Problem der allgemeinen Befolgung der natürlichen Gesetze beschäftigt, die Ausübung unnötiger Grausamkeiten nicht mehr, wie noch in den Elements, als Handlungsweise präsentiert, die immer als Verstoß gegen das natürliche Gesetz zu gelten hat, sondern lediglich als eine, die in der Vergangenheit bei bestimmten Völkern faktisch als unehrenhaft gegolten hat und auf die daher üblicherweise verzichtet worden ist. Therefore notwithstanding the Lawes of Nature, (which every one hath kept, when he has the will to keep them, when he can do it safely,) if there be no Power erected, or not great enough for our security; every man will, and may lawfully rely on his own strength and art, for caution against all other men. And in all places, where man have lived by small Families, to robbe and spoyle one another, has been a Trade, and so farre from being reputed against the Law of Nature, that the greater spoyles they gained, the greater was their honour; and men observed no other Lawes therein, but the Lawes of Honour; that is, to abstain from cruelty, leaving to men their lives, and instruments of husbandry.114

So wie Hobbes folglich an keiner Stelle die Ausübung unnötiger Grausamkeiten als ständigen Verstoß gegen das natürliche Gesetz kennzeichnet, so trifft er auch an keiner Stelle die frühere Aussage, Trunkenheit sei zu keinem Zeitpunkt durch das natürliche Recht gedeckt. Er deutet zwar an, dass Trunkenheit wie so viele andere Verhaltensweisen vom natürlichen Gesetz grundsätzlich untersagt ist. Nichts an Hobbes’ Aussagen spricht aber dafür, dass seiner Ansicht nach Trunkenheit auch im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘, also in demjenigen Zustand, in dem die natürlichen Gesetze nicht oder nur sehr eingeschränkt gelten, zu unterbleiben hätte. Zudem hebt Hobbes nun anders als in den früheren Schriften ausdrücklich hervor, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen, mit denen sich eine ‚civil science‘ zu beschäftigen hat, allein um diejenigen Gesetze handelt, die sich auf die Erhaltung größerer Mengen _____________ 114 EL: 85.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

von Menschen und auf die sozial relevanten Handlungsweisen innerhalb einer solchen Menge beziehen. Aus diesem Grund wird der Erörterung anderer denkbarer natürlicher Gesetze, die – wie eben das Trunkenheitsverbot – ein bestimmtes Handeln der Menschen sich selbst gegenüber zum Gegenstand haben, von Hobbes ausdrücklich keine weitere Beachtung geschenkt.115 Die einzige Stelle, an der Hobbes im englischen Leviathan anzudeuten scheint, dass bestimmte Handlungsweisen zu jedem Zeitpunkt unterlassen werden müssen, weil sie nicht als rechtmäßig gelten können, findet sich im Anschluss an diese Ausführungen zur Trunkenheit, nämlich in Hobbes’ ausführlichem Fazit zur naturzuständlichen Geltung der natürlichen Gesetze. In Übereinstimmung mit der oben bereits zitierten Passage des siebzehnten Kapitels schreibt Hobbes den natürlichen Gesetzen eine prinzipielle Geltung in foro interno zu. Wie Warrender nachdrücklich hervorgehoben hat,116 trifft er dabei aber nicht die Aussage, die natürlichen Gesetze gälten prinzipiell nicht in foro externo, sondern lediglich die Aussage, sie gälten nicht immer in foro externo. The Lawes of Nature oblige in foro interno; that is to say, they bind to a desire they should take place: but in foro externo; that is, to the putting them in act, not alwayes. For he that should be modest, and tractable, and performe all he promises, in such time, and place, where no man els should do so, should but make himselfe a prey to others, and procure his own certain ruine, contrary to the ground of all Lawes of Nature, which tend to Natures preservation.117

Aus meiner Sicht reicht diese Wendung aber letztlich nicht aus, um die Interpretation zu begründen, Hobbes habe im englischen Leviathan wie in den Elements und in De Cive darauf hinweisen wollen, dass bestimmte Handlungsweisen auch im Naturzustand als dem ‚Krieg aller gegen alle‘ grundsätzlich zu unterbleiben haben. Hobbes’ Beschreibungen des ‚Krieges aller gegen alle‘ lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesem Zustand im obigen Sinne („in such time, and place“) um die Zeit handelt, zu der sich jeder Mensch, der sich bescheiden und fügsam zeigt, unweigerlich zur Beute der anderen machen wird. Die obige Passage ist daher sehr wohl mit der Sichtweise vereinbar, im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ sei absolut jede Verhaltensweise gerechtfertigt. Der Hinweis, die in foro externo-Geltung der natürlichen Gesetze sei nicht immer aufgehoben, wäre demnach entweder als Hinweis auf den bürgerlichen Zustand oder aber als Hinweis auf solche Phasen des Naturzustandes zu verstehen, in denen der Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ noch nicht vollständig erreicht ist. Da dieser Zustand laut Hobbes aber unweigerlich eintreten wird und da Hobbes bei seiner Begründung des ‚Rechts aller auf _____________ 115 Vgl. EL: 78f. 116 Vgl. Warrender 1961: 58. 117 EL: 79.

5.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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alles‘ von diesem Zustand als einem bereits erreichten ausgeht, vermag die mögliche in foro externo-Geltung der natürlichen Gesetze in keinem Fall das Anwachsen des natürlichen Rechts zu einem faktisch unbeschränkten Recht zu verhindern. Es zeigt sich also, dass die Naturrechtsdiskussion des englischen Leviathan neben der veränderten Begründung des ‚Rechts auf alles‘ einen zweiten wichtigen Unterschied zu den Naturrechtsdiskussionen der beiden früheren Schriften aufweist. Während Hobbes sowohl mit Blick auf die Elements als auch mit Blick auf De Cive keine eindeutige Position bezüglich des Umfang des natürlichen Rechts zugeschrieben werden konnte, spricht im englischen Leviathan alles dafür, dass das natürliche Recht auf Selbsterhaltung nach Hobbes’ Auffassung unterschiedslos alle denkbaren oder auch nur irgendwie wahrscheinlichen Handlungen der Naturzustandsindividuen zu rechtfertigen vermag. Die entsprechenden Veränderungen in Hobbes’ Ausführungen bereinigen einige der Doppeldeutigkeiten der früheren Werke. Sie können aber deshalb nicht uneingeschränkt als Stärkung der Hobbes’schen Argumentation gelten, weil sie der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ als einem faktisch unbeschränkten Recht nun insgesamt eine größere Last aufbürden, die diese angesichts der Probleme, die sich mit ihr nach wie vor verbinden, nicht ohne Weiteres zu tragen vermag.

5.5 Die lateinische Fassung des Leviathan 5.5.1 Die Grundlagen und der Charakter des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung Die Naturrechtsdiskussion der lateinischen Fassung des Leviathan zeigt insgesamt weniger auffällige Veränderungen gegenüber der englischen Fassung als die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘, und dies trifft in gleichem Maße auch auf die Hobbes’schen Ausführungen zur Vernunft, zum Überlegungsprozess, zum menschlichen Willen und zur Freiheit zu, auf deren Grundlage oben mit Blick auf den englischen Leviathan die theoretische Begründung des ursprünglichen natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung rekonstruiert worden ist. Weder in Kapitel V noch in Kapitel VI des lateinischen Leviathan finden sich Abweichungen von der Argumentation des englischen Textes, die eine eingehendere Betrachtung erfordern würden. Hobbes bestimmt die Tätigkeit der Vernunft unverändert als Berechnung der Folgen allgemeiner Begriffe („Ratio enim, hoc sensu, nihil aliud est praeter, Computationem sive Additionem

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

& Subtractionem Nominum generalium“118); er macht sich den Begriff der ‚recta ratio‘ im Sinne eines objektiven Maßstabs prinzipiell zu eigen;119 er definiert den Überlegungsprozess als den ständigen Wechsel von „Appetitus“ und „Aversio“120 und den Willen als die letzte dieser sich abwechselnden Neigungen („Appetitus ultimus vel Aversio“121); und er hebt sowohl hervor, dass es bezüglich solcher Handlungen, die ein Individuum für unmöglich hält, keine Überlegung geben kann, als auch, dass es sich beim Überlegungsprozess um eine Form menschlicher Freiheit handelt.122 Da Hobbes im vierzehnten Kapitel zudem einmal mehr die Auffassung vertritt, dass es sich beim Gegenstand des menschlichen Wollens immer um etwas handeln muss, das für den Wollenden ein Gut darstellt,123 ist die Basis für unsere oben vorgenommene Rekonstruktion der Begründung des natürlichen Rechts auch im lateinischen Leviathan unverändert gegeben. Die einzigen Modifikationen, auf die sich näher einzugehen lohnt, betreffen Hobbes’ Definition des Freiheitsbegriff im einundzwanzigsten Kapitel sowie seine Gegenüberstellung der Begriffe lex und jus in Kapitel XXVI. Die Freiheitsdefinition zu Beginn des einundzwanzigsten Kapitels selbst unterscheidet sich von der des englischen Leviathan zunächst nur unwesentlich.124 Die anschließende Erörterung des Begriffs ‚free guift‘ bzw. „Donum liberum“125 ist aber in einer Weise verändert, die für die Frage nach der Mehrdeutigkeit des Hobbes’schen Freiheitsbegriffes von einer gewissen Bedeutung ist. Während Hobbes zur Erläuterung des Begriffs ‚free guift‘ im englischen Leviathan auf die Tatsache verwiesen hat, dass einem Geschenk auf Seiten des Gebers keinerlei vertragliche oder gesetzliche Verpflichtung zugrunde liegt, und er auf diese Weise einen moralisch-rechtlichen Begriff von Freiheit als ‚freedom from obligation‘ eingeführt hat, enthält seine Erläuterung des Begriffs „Donum liberum“ im lateinischen Leviathan nur noch den wesentlich unspezifischeren Hinweis, ein Geschenk werde nicht deshalb als „Donum liberum“ bezeichnet, weil das Geschenkte („rei datae“126) frei sei, sondern um die Freiheit des Gebers anzudeuten („Datoris Libertatem“127). Auf die Tatsache, dass es eine moralisch-rechtliche Freiheit im Sinne von ‚freedom from obligation‘ gibt, nimmt Hobbes aber nach wie vor dadurch _____________ 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

LL: 20. Vgl. LL: 20f. Beides: LL: 30. LL: 30. Vgl. LL: 30. Vgl. LL: 67f. Vgl. LL: 104. LL: 104. LL: 104. LL: 104.

5.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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Bezug, dass er im Rahmen seiner Definition des natürlichen Gesetzes in Kapitel XIV in praktisch unveränderter Weise die Begriffe ‚libertas‘ und ‚obligatio‘ sowie ‚jus‘ und ‚lex‘ einander gegenüberstellt.128 Die begriffliche Gegenüberstellung von Freiheit und Verpflichtung sowie von Recht und Gesetz behauptet ihren Platz zudem auch am Ende des sechsundzwanzigsten Kapitels, wenn die entsprechende Passage auch durch gewisse Kürzungen gekennzeichnet ist. Invenio voces Legem Civilem, & Ius Civile à Scriptoribus promiscuè usurpatas esse; quod fieri non debet. Ius enim Libertas est, id est à Legibus Civilibus exemptio. Contrà, Lex Civilis Obligatio est, Libertatem à Natura datam tollens aut restringens. Per naturam enim unicuique Ius erat viribus & facultatibus suis, sui ipsius arbitrio utendi; id quod Lex Civilis, nisi quibus Legis Civilis protectionem tutum non erat expectare, sustulit.129

Auch in dieser Form reichen Hobbes’ Aussagen aber ohne jeden Zweifel aus, um unmissverständlich deutlich zu machen, dass es sich beim natürlichen Recht um die Abwesenheit einer Einschränkung durch die natürlichen oder die positiven Gesetze und damit grundsätzlich im moralisch-rechtlichen Sinne um eine Freiheit von Verpflichtung handelt. Zu erwähnen ist zudem, dass Hobbes in der zuletzt zitierten Passage anders als in der englischen Fassung auf die etwas unklare Formulierung verzichtet, das natürliche Gesetz gebe dem Einzelnen die Freiheit des natürlichen Rechts, und das natürliche Recht stattdessen einfach als Gabe der Natur präsentiert. Die eigentliche Naturrechtserörterung im vierzehnten Kapitel zeigt nun ebenfalls ausschließlich leichte Abweichungen und Kürzungen, die das Wesen der Hobbes’schen Argumentation in keiner signifikanten Weise verändern. Auffällig ist höchstens, dass zwei dieser Kürzungen die frühere Hervorhebung des ipse-iudex-Prinzips betreffen. Da schon mit Blick auf den englischen Leviathan die Auffassung vertreten worden ist, der Geltung dieses Prinzips komme anders als in den Elements und in De Cive keine zentrale Bedeutung für das ‚Recht auf alles‘ mehr zu, können die Änderungen daher bei aller gebotenen Vorsicht als Indiz dafür interpretiert werden, dass Hobbes sich dieser Konsequenz seiner Neugestaltung der Begründung des ‚Rechts auf alles‘ stärker bewusst geworden war oder dass er diese Konsequenzen zumindest etwas deutlicher hat umsetzen wollen. Die erste der genannten Kürzungen findet sich direkt in der anfänglichen Definition des natürlichen Rechts.

_____________ 128 Vgl. LL: 66. 129 LL: 137.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Ius Naturale est Libertas, quam habet unusquisque potentiâ suâ ad Naturae suae conservationem suo arbitriò utendi, & (per consequens) illa omnia quae eò videbuntur tendere, faciendi.130

Hobbes’ Aussage, der Einzelne habe das Recht, seine Fähigkeiten seinem eigenen Willen gemäß zu seiner Erhaltung einzusetzen, lässt zwar keinen Zweifel daran, dass Hobbes die Geltung des ipse-iudex-Prinzips nach wie vor anerkennt und voraussetzt. Im Gegensatz zur englischen Fassung verzichtet er aber darauf, noch einmal ausdrücklich auf die Tatsache hinzuweisen, dass der Einzelne aufgrund seines natürlichen Rechts alles tun darf, was nach seinem eigenen Urteil und seiner eigenen Vernunft dem Zweck der Selbsterhaltung förderlich ist. Indem Hobbes zudem die anschließende Bestimmung des Begriffs ‚libertas‘ auf den ersten Satz zusammenstreicht, der die eigentliche Begriffsdefinition enthält („Per Libertatem intelligo (id quod ea vox propriè significat) externorum impedimentorum absentiam.“131), geht ein weiterer Hinweis auf das Recht des Einzelnen, dem eigenen Urteil und der eigenen Vernunft zu folgen, verloren. 5.5.2 Zur Ableitung und zum Umfang des ‚Rechts auf alles‘ Dass Hobbes durch die Kürzung der beiden Hinweise auf das ipse-iudexPrinzip die prinzipielle Geltung dieses Prinzips keineswegs in Frage stellen will, zeigt sich noch einmal an der anschließenden Begründung des ‚Recht auf alles‘, die den Hinweis auf die Geltung des Prinzips nach wie vor enthält. Quoniam autem conditio hominum (ut praecedente Capite ostensum est) est conditio Belli omnium contra omnes, & propterea unusquisque suâ ipsius ratione gubernatur; & quia nihil est, quod in vita contra hostem defendendâ utile ei aliquando esse non possit, sequitur in conditione hominum Naturali omnium in omnia Ius esse ipsis hominum corporibus non exceptis.132

Die Wendung „& quia nihil est, quod in vita contra hostem defendendâ utile ei aliquando esse non possit“, die eine leichte Änderung gegenüber der englischen Fassung darstellt, macht unmissverständlich deutlich, dass für Hobbes – wie oben bereits behauptet – das natürliche Recht im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ deshalb zu einem ‚Recht auf alles‘ wird, weil jedes Gut, das ein Individuum anstrebt, objektiv zur Verteidigung des Lebens dieses Individuums nützlich ist. Ließ die englische Fassung theoretisch noch die Möglichkeit offen, dass Hobbes nur solchen Gütern einen Nutzen für die Selbsterhal_____________ 130 LL: 66. 131 LL: 66. 132 LL: 66.

5.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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tung zusprechen will, die sich auf lange Sicht als wahrhaft nützlich erweisen, liefert die lateinische Fassung überhaupt keine Grundlage, eine Unterscheidung zwischen ‚wahren‘ und ‚scheinbaren‘ Gütern in die Hobbes’schen Ausführungen hineinzulesen. Hobbes legt sich eindeutig darauf fest, dass es im ‚Krieg aller gegen alle‘ nichts – und das heißt wohl, nichts, was irgendwie nützlich oder in irgendeinem Sinne als Gut anzusehen ist, – gibt, das nicht letztlich auch der Verteidigung gegen einen möglichen Feind förderlich ist, und so angreifbar diese Position auch erscheinen mag, so unzweifelhaft wird sie doch von Hobbes vertreten. Noch etwas deutlicher als schon im englischen Leviathan erscheint daher das ‚Recht auf alles‘ als ein Recht, das alle faktischen Handlungen der Naturzustandsindividuen rechtfertigt und das in keinerlei relevanter Weise durch das potenziell falsche Vernunfturteil des Einzelnen begrenzt ist. Entsprechend findet sich auch erneut keine Passage, in der Hobbes wirklich nahelegen würde, dass es Handlungen gibt, die zu jeder Zeit und damit auch im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ durch die natürlichen Gesetze wirksam verboten werden. Während die in foro externo-Geltung der natürlichen Gesetze von Hobbes mit den gleichen Worten beschrieben wird wie in der englischen Fassung und daher auch in der gleichen Weise interpretiert und erklärt werden kann,133 weicht Hobbes’ Erörterung des Verzichts bestimmter Völker auf die Ausübung unnötiger Grausamkeiten im siebzehnten Kapitel insofern vom englischen Text ab, als die dort bereits nur noch in Form eines beiläufigen Hinweises enthaltene Bezugnahme auf die natürlichen Gesetze nun vollständig fehlt. Itaque Leges (quas qui observare, aliis observantibus, conatus est, observavit) quoties potentiae cogentis metus abest non obligant, neque impediunt, quin securitatem suam à viribus & artibus propriis petere unicuique licitum sit. Idem etiam docent historiae veteris Graeciae, ubi cum nulla essent (praeter paterna) Imperia, latrocinium mari terraque quaestus non modo licitus, sed etiam (à crudelitate, & ab agri colendi instrumentis abstinentibus,) honorificus erat.134

Da Hobbes anders als im englischen Leviathan die Möglichkeit, die Völker früherer Zeitalter bzw. in diesem Fall konkret die Bewohner des alten Griechenlands hätten die hier beschriebenen Handlungsweisen als Verstoß gegen die natürlichen Gesetze verstehen können, nicht einmal mehr erwähnt, fehlt im lateinischen Leviathan nun absolut jeglicher, und sei es auch ein bloß indirekter, Hinweis auf die Sichtweise, die natürlichen Gesetze könnten im Naturzustand irgendwelche Handlungen wirksam untersagen. Hobbes’ Position zum Umfang des natürlichen Rechts ist also in der lateinischen Fassung des Leviathan sogar noch klarer und eindeutiger, als sie es _____________ 133 Vgl. LL: 78. 134 Vgl. LL: 83.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

unserer obigen Untersuchung zufolge bereits in der englischen Fassung war: Es gibt für Hobbes keinerlei Handlungen, die im Naturzustand als dem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ nicht durch das natürliche ‚Recht auf alles‘ gedeckt wären, weil in einem solchen Zustand jedes nur erdenkliche Gut objektiv als Beitrag zur Selbsterhaltung dessen verstanden werden muss, der über dieses Gut verfügt.

5.6 Zusammenfassung Die eingehende Analyse der Hobbes’schen Diskussion des natürlichen Rechts sowie der über die jeweiligen Werke verstreuten Ausführungen zu den Themen Vernunft, Überlegung, Wille und Freiheit hat deutlich gemacht, dass die Hobbes’sche Argumentation, wie bereits im Fall der Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes, generell einmal mehr durch ein hohes Maß an Kontinuität gekennzeichnet ist, dass auf der anderen Seite die Darstellungen des englischen und in der Folge auch des lateinischen Leviathan aber auch von einer bewussten und entscheidenden Akzentverschiebung gegenüber den Elements of Law und gegenüber De Cive geprägt sind. Gemein ist den vier Hobbes’schen Schriften, dass Hobbes dem Einzelnen jeweils ein natürliches Recht auf die Erhaltung des eigenen Lebens und des eigenen Körpers, ein Recht auf die zur Erlangung dieses Zwecks erforderlichen Mittel und ein Recht darauf zuspricht, diese erforderlichen Mittel selbst zu bestimmen. Die Schriften stimmen zudem dahingehend überein, dass Hobbes das natürliche Recht grundsätzlich als Freiheitsrecht im Sinne einer Freiheit von moralisch-rechtlicher Verpflichtung konzipiert und dass er es letztlich als ein ‚Recht aller auf alles‘ begreift. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit und die Vernünftigkeit des natürlichen Strebens nach Selbsterhaltung in allen vier Schriften als theoretische Grundlage des ursprünglichen natürlichen Rechts fungieren. Hobbes führt die entsprechende Argumentation zwar nur in den Elements und in De Cive dezidiert aus. Es konnte aber gezeigt werden, dass eine inhaltlich identische Begründung des natürlichen Rechts auch auf Basis der Darstellungen des englischen und des lateinischen Leviathan sinnvoll rekonstruiert werden kann. Es kann daher in Abgrenzung von anders lautenden Einschätzungen in der Hobbes-Forschung insgesamt die Auffassung vertreten werden, dass der Hobbes’sche Begriff des natürlichen Rechts in allen Formulierungen seiner politischen Theorie prinzipiell derselbe ist. Die signifikanten Unterschiede zwischen den vier Schriften betreffen die Begründung und den Umfang des ‚Rechts auf alles‘. Die Tatsache, dass das natürliche Recht auf Selbsterhaltung zu einem ‚Recht auf alles‘ wird, wird sowohl in den Elements als auch in De Cive mit der Tatsache begründet, dass

5.6 Zusammenfassung

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der Handelnde selbst die Entscheidung treffen darf, was seiner Erhaltung förderlich ist und was nicht, und dass er nach Hobbes’ Einschätzung alle Gegenstände, die er überhaupt begehrt, auch subjektiv als seiner Erhaltung förderlich ansehen wird. In den beiden Fassungen des Leviathan liefert Hobbes jedoch insofern eine deutlich andere Begründung des ‚Rechts auf alles‘, als er nun die Behauptung aufstellt, alles, was der Einzelne im Naturzustand als dem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ als Gut begehren werde, sei auch objektiv seiner Erhaltung förderlich. Wie unter Rückgriff auf die eingehende Erörterung der Hobbes’schen Herleitung des Kriegszustandes gezeigt worden ist, lässt sich diese Akzentverschiebung sinnvoll zu Hobbes’ Neugestaltung der Kriegsherleitung im englischen Leviathan in Beziehung setzen und als Ausdruck seines Bemühens lesen, sein philosophisches Argument von der Voraussetzung menschlicher Irrationalität zu lösen. Wenn der ‚Krieg aller gegen alle‘ bereits zwangsläufig aus dem notwendigen Selbsterhaltungsstreben der Naturzustandsindividuen folgt, und wenn in diesem Zustand alle Güter, die überhaupt mit einem Nutzen verbunden sind, der Selbsterhaltung des Handelnden förderlich sind, dann wird sich der Naturzustand selbst dann unweigerlich in einen allgemeinen Kriegszustand verwandeln und das natürliche Recht selbst dann die Form eines ‚Rechts auf alles‘ annehmen, wenn alle Individuen konsequent rational agieren. Das aber heißt, dass die möglichen Einwände, Hobbes gehe von einem zu negativen Menschenbild aus, oder wahrhaft vernünftige oder moralische Individuen agierten nicht in der von Hobbes’ beschriebenen Weise, sowohl im Hinblick auf die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ als auch im Hinblick auf die Naturrechtslehre an Schlagkraft verlieren. Mit der veränderten Begründung des ‚Rechts auf alles‘ geht eine veränderte und wesentlich eindeutigere Position zum Umfang des natürlichen Rechts einher. Während Hobbes sowohl in den Elements als auch in De Cive einerseits den Eindruck erweckt, das natürliche Recht legitimiere eine jede Handlung, die von den Naturzustandsindividuen faktisch ausgeführt werden wird, und andererseits explizit auf solche Handlungen verweist, die zu keiner Zeit vom natürlichen Recht gedeckt sind, präsentiert er das natürliche Recht in beiden Fassungen des Leviathan konsequent als ein faktisch unbeschränktes Recht, dem praktisch nicht zuwidergehandelt werden kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun behaupten, dass Hobbes erst im Leviathan das Ziel, das sich grundsätzlich mit seiner Naturrechtslehre verbindet, nämlich das Ziel, das Handeln, das den ‚Krieg aller gegen alle‘ nach sich zieht, als moralisch einwandfrei auszuweisen, im Sinne seiner eigenen Argumentation verwirklicht. Während in den Elements und in De Cive mitunter nicht ganz klar ist, ob nicht zumindest das Verhalten der ‚vainglorious men‘ moralisch fragwürdig ist oder wenigstens auf fehlerhaften und in diesem Sinne unvernünftigen Kalkulationen beruht, lässt die Argumentation des Leviathan keinen Zweifel daran, dass

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

weder das ursprüngliche Entstehen gewaltsamer Konflikte noch die Erweiterung dieser Konflikte zum ‚Krieg aller gegen alle‘ unmoralisches oder unvernünftiges Handeln auf Seiten der Naturzustandsindividuen voraussetzt. Diese Tatsache, die schon im Rahmen der Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes von Hobbes hervorgehoben wird, findet im englischen wie auch im lateinischen Leviathan ihre konsequente theoretische Untermauerung in der Diskussion des natürlichen ‚Rechts auf alles‘, und zwar in der Art und Weise, in der Hobbes dieses Recht begründet, und im Umfang, den Hobbes diesem Recht zuschreibt. Der eingehende Vergleich der vier Hobbes’schen Schriften vermag daher einen wichtigen Beitrag zur lang anhaltenden Debatte um den Umfang des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ zu liefern. Während Hobbes in den beiden früheren Schriften den Umfang des natürlichen Rechts mit deutlich widersprüchlichen Aussagen beschreibt und daher selbst den Anlass für das Entstehen und die scheinbare Unauflösbarkeit der entsprechenden Debatte liefert, kann mit Blick auf den englischen und den lateinischen Leviathan eindeutig denjenigen Interpreten Recht gegeben werden, nach deren Einschätzung das natürliche Recht für Hobbes jede im Naturzustand ausgeführte Handlung rechtfertigt und in diesem Sinne faktisch unbeschränkt ist. Dass es in diesem spezifischen Sinne einen signifikanten Unterschied zwischen den verschiedenen Schriften gibt, ist jedoch bislang von nahezu keinem Interpreten gesehen und in der angemessenen Weise herausgestellt worden. So betont beispielsweise Tuck ausgerechnet in der Einleitung zu seiner Edition des englischen Leviathan noch einmal ausdrücklich, Hobbes habe die Ausübung unnötiger Grausamkeiten zu jeder Phase seines philosophischen Wirkens als ständigen Verstoß gegen die natürlichen Gesetze begriffen,135 eine Sichtweise, die vor dem Hintergrund unserer Analyse des Leviathan als zumindest irreführend zurückgewiesen werden muss. Es ist zwar nicht gänzlich auszuschließen, dass Hobbes zeit seines Lebens an dieser in den Elements und in De Cive geäußerten Einschätzung festgehalten hat und dass sie auch noch nach De Cive einen Bestandteil seines ‚private view‘ dargestellt hat. Gegenüber einer solchen bloßen Vermutung muss aber in jedem Fall nachdrücklich betont werden, dass es sich bei der betreffenden Einschätzung ab dem englischen Leviathan jedenfalls nicht mehr um einen Bestandteil des philosophischen Argumentes handelt. Der einzige Autor, der, soweit ich sehe, mit Nachdruck auf die diesbezüglichen Unterschiede zwischen dem englischen Leviathan und den früheren Schriften verwiesen hat, ist Ludwig. Auch Ludwig liefert aber letztlich keine angemessene Analyse der Hintergründe, die für den veränderten Umfang des natürlichen Rechts bzw. für Hobbes’ veränderte Position zum Umfang des _____________ 135 Vgl. Tuck 1996a: XXIX.

5.6 Zusammenfassung

193

natürlichen Rechts verantwortlich sind. Dass das natürliche Recht des Leviathan, wie Ludwig zurecht hervorhebt, jede faktisch ausgeführte Handlung rechtfertigt und in diesem Sinne extensional mit der faktischen Handlungsund Bewegungsfreiheit des Handelnden übereinstimmt,136 liegt nicht daran, dass im Leviathan die grundsätzliche Bindung des natürlichen Rechts an die Vernunft und an den Zweck der Selbsterhaltung aufgegeben würde oder dass der Begriff des natürlichen Rechts nun lediglich gebraucht würde, um die prinzipielle Abwesenheit von Verpflichtung und die Gegenstandslosigkeit der Begriffe ‚recht‘ und ‚unrecht‘ zu bezeichnen.137 Wie im englischen und im lateinischen Leviathan, so bezeichnet Hobbes’ Begriff des jus naturale auch bereits in den beiden früheren Schriften in diesem Sinne ausschließlich die Abwesenheit von Verpflichtung. Und umgekehrt handelt es sich wie schon in den früheren Schriften auch beim ‚Recht auf alles‘ des Leviathan nicht um ein Recht, das von Randbedingungen grundsätzlich unabhängig wäre, sondern um eines, das prinzipiell an die Kriterien der Vernünftigkeit und der Notwendigkeit gebunden ist und daher auch zunächst lediglich das Recht bezeichnet, auf die nach eigenem Urteil zur eigenen Erhaltung notwendigen Mittel zurückzugreifen. Dass Hobbes anders als in den früheren Schriften das ‚Recht auf alles‘ im englischen und im lateinischen Leviathan dennoch konsequent als faktisch unbeschränkt präsentiert und präsentieren kann, liegt lediglich daran, dass er vor dem Hintergrund seiner nachhaltig modifizierten Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ nun eine veränderte Begründung für das ‚Recht auf alles‘ liefert, eine Tatsache, der in der Hobbes-Forschung bislang deutlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Da Hobbes’ Darstellung zufolge im allgemeinen Zustand des Krieges alle Handlungen, die ein vernünftiges Individuum ausführt, und alle Gegenstände, die es als nützlich erachtet und als Gut begehrt, objektiv zu seiner Erhaltung beitragen, kann der Fall, dass ein Individuum im Naturzustand unzulässigerweise von einem Gut Besitz ergreift oder unzulässigerweise eine bestimmte Handlung ausführt, für Hobbes faktisch nicht mehr eintreten. Das ‚Recht auf alles‘ wird daher im Leviathan zu einem Recht, das im Naturzustand alle nur denkbaren Handlungen und alle nur denkbaren Güter umfasst, und es wird zu einem solchen Recht aufgrund der Annahmen, die Hobbes im Zuge seiner Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ seinem Argument hinzufügt, nämlich aufgrund der Annahme einer unweigerlichen gewaltsamen Konkurrenz um lebensnotwendige Güter und aufgrund der Voraussetzung einer moderaten, sich im Zuge eines dialektischen Prozesses nach und nach einstellenden und verstärkenden Güterknappheit. _____________ 136 Vgl. Ludwig 1998: 272. 137 So etwa Ludwig 1998: 264, 269, 273, 274 und 275.

194

5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

Wenn aber aufgrund der konsequenteren Position zum Umfang des natürlichen Rechts die Naturrechtsdiskussionen des englischen und des lateinischen Leviathan denen der beiden früheren Schriften auch in mancher Hinsicht überlegen sein mögen, so muss doch festgehalten werden, dass Hobbes’ Naturrechtslehre auch im Leviathan nicht vollständig zu überzeugen vermag. Während Hobbes in den Elements und in De Cive eine plausible Begründung des ursprünglichen natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung liefert, versäumt er im englischen wie im lateinischen Leviathan, diese Begründung noch einmal dezidiert nachzuzeichnen, so dass sie aus seinen Ausführungen zur Vernunft, zur Überlegung und zum Willen rekonstruiert werden muss. Schwerer wirkt zudem noch die Tatsache, dass Hobbes in keiner seiner Schriften eine wirklich überzeugende Begründung des ipse-iudex-Prinzips liefert und dass seine Begründung des ‚Rechts auf alles‘ in allen vier Fällen nur dadurch gelingt, dass er das ursprüngliche Kriterium der Notwendigkeit einer Handlung im Hinblick auf die Selbsterhaltung durch das deutlich schwächere Kriterium der Nützlichkeit ersetzt und darüber hinaus Behauptungen bezüglich des subjektiv angenommenen bzw. objektiv gegebenen Beitrags von Gütern zur Selbsterhaltung aufstellt, die insgesamt als zu stark erscheinen müssen. Wenn im Rahmen der vorangegangenen Kapitel auch nur in Ansätzen auf den Hobbes’schen Freiheitsbegriff und die komplexen Probleme, die sich mit diesem Begriff verbinden, eingegangen werden konnte, so dürfte doch deutlich geworden sein, dass die Hobbes’schen Schriften auch im Hinblick auf diesen Begriff von signifikanten Veränderungen geprägt sind. Hobbes verfügt zwar in allen Werken in gleicher Weise über einen moralisch-rechtlichen Freiheitsbegriff im Sinne der Abwesenheit von vertraglich und gesetzlich auferlegter Verpflichtung und bestimmt auch das natürliche Recht in allen Schriften im Sinne dieses Freiheitsbegriffs als permissives Recht. Davon abgesehen variiert der jeweilige Gebrauch der Begriffe ‚liberty‘ bzw. ‚libertas‘ aber stark. Vor allem die expliziten Definitionen des Begriffes, die Hobbes in De Cive und in den beiden Fassungen des Leviathan liefert, weichen deutlich voneinander ab und geben auch insgesamt Anlass zu einigen Verwirrungen. Es ist im Rahmen der obigen Diskussion nicht weiter der Frage nachgegangen worden, was Hobbes zur Aufgabe der Definition von De Cive und zu dem auffälligen Verzicht auf die Anerkennung von ‚impedimenta arbitraria‘ veranlasst haben könnte. Der Grund hierfür lag vor allem darin, dass das Verständnis und die angemessene Bestimmung des natürlichen Rechts keine Antwort auf diese Frage verlangen. Es soll an dieser Stelle aber darauf verwiesen werden, dass bezüglich der Frage in der Vergangenheit von verschiedenen Autoren bereits einige durchaus überzeugende Erklärungen angeboten worden sind. So ist Hobbes’ Versuch, den Begriff der Freiheit mehr und mehr auf einen bloß physischen Freiheitsbegriff zu begrenzen oder zumindest beim Leser einen entsprechenden Eindruck zu erzeugen, etwa durch Verweise auf den

5.6 Zusammenfassung

195

Hobbes’schen Materialismus und den Hobbes’schen Determinismus zu erklären versucht worden.138 Zu nennen sind zudem die Hinweise Quentin Skinners.139 Skinner weist nach, dass der Begriff der Freiheit für Hobbes in der Zeit nach den Elements und vor allem in der Zeit nach De Cive zu einem immer dringlicheren Problem geworden ist, und versucht zu zeigen, dass Hobbes’ Abkehr von der Freiheitsdefinition von De Cive und sein Bemühen, nur noch physische Begrenzungen menschlicher Freiheit anzuerkennen, stark von den intellektuellen und politischen Debatten seiner Zeit geprägt sind. Laut Skinner ist Hobbes’ Argumentation zunehmend von dem Bestreben gekennzeichnet, die zentralen Annahmen der klassischen republikanischen Freiheitstheorie, wie sie von einer großen Anzahl seiner Zeitgenossen und vor allem von den oben bereits genannten Theoretikern des Parlaments vertreten wurden, zurückzuweisen. Hatte Hobbes sich in den Elements erstaunlicherweise noch selbst zu der Sichtweise bekannt, die Bürger einer Demokratie verfügten über ein größeres Maß an Freiheit als die Bürger einer Aristokratie oder Monarchie, und hatte er sich dabei der Aristotelischen Einschätzung, das Ziel der Demokratie sei die Freiheit, ausdrücklich angeschlossen,140 so grenzt er sich in De Cive und vor allem im Leviathan in zunehmend polemischer Weise von den betreffenden Annahmen und von Aristoteles ab. Hobbes behauptet nun, die Freiheit der Bürger sei prinzipiell in jeder Staatsform gleich umfangreich, und er kritisiert die jetzt als falsch abgelehnte Sichtweise des Aristoteles als mögliche Ursache von Aufruhr und Rebellion.141 Wie Skinner hervorhebt, erlaubt Hobbes dabei gerade sein immer stärker begrenzter Begriff von „Liberty (...) in the proper signification of the word“, die entsprechende Position aufrechtzuerhalten, da er ihm die Behauptungen ermöglicht, die Streiter für die Sache des Parlamentes und der Freiheit verfügten bereits über Freiheit im eigentlichen Sinne des Wortes, über Freiheit im Sinne einer Freiheit von den Gesetzen könnten sie hingegen auch in einer Demokratie nicht verfügen, da eine solche nur im Naturzustand und damit auf Kosten des ‚Krieges aller gegen alle‘ zu haben sei. Hobbes’ Entscheidung, die Freiheitsdefinition von De Cive aufzugeben bzw. zu verändern, lässt sich zudem mit den theoretischen Konsequenzen der Lehre der ‚impedimenta arbitraria‘ erklären. Wenn auch solche Hindernisse die menschliche Freiheit verringern oder aufheben, die – wie etwa die Furcht vor den Folgen einer bestimmten Handlung – die Willensentscheidung des Handelnden prädeterminieren, dann folgt daraus unweigerlich, dass Menschen, die aus Furcht vor dem eigenen Tod mit einem übermächtigen Gegner einen Unterwerfungsvertrag abschließen, unfrei agieren. Hobbes betont aber _____________ 138 139 140 141

Vgl. Hood 1964: 92; und Raphael 1984: 32. Zum Folgenden vgl. Skinner 2002d: 209f. und 225-37. Vgl. E: 169f. Vgl. dazu DC: 175f., EL: 110f.; und LL: 106f.

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5. Das natürliche Recht auf Selbsterhaltung als ‚Recht aller auf alles‘

nicht nur demgegenüber in allen seinen Schriften, dass aus Furcht abgeschlossene Verträge genauso wirksam und verpflichtend sind wie solche, die ohne Furcht abgeschlossen worden sind. Angesichts der Tatsache, dass auch der Gesellschaftsvertrag letztlich nur aus Furcht vor dem Naturzustand und seinen Konsequenzen abgeschlossen wird, muss Hobbes diese Position auch so vertreten, will er nicht die Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber dem Souverän, um die es ihm ja im Rahmen seiner politischen Theorie in besonderer Weise geht, dadurch unterminieren und in Frage stellen, dass er sie als Folge einer unfreien oder unfreiwilligen Handlung beschreibt. Mit Blick auf die politischen Debatten seiner Zeit ist dieser Aspekt deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich die zeitgenössische Kritik an der Legitimität des englischen Monarchen, wie sie vor allem von den Levellers vertreten wurde, oftmals auf den Hinweis stützte, die Macht des englischen Königs ginge mit der Eroberung Englands durch die Normannen letztlich auf einen Zwangsakt ein. Da der Freiheitsbegriff von De Cive mit der Lehre von den ‚impedimenta arbitraria‘ einen Ansatzpunkt dafür lieferte, um einen jeden durch faktische Macht erzwungenen Unterwerfungsvertrag als Ergebnis einer unfreien und unfreiwilligen Handlung zu begreifen, lieferte er ein mögliches Argument, um das auf die Eroberung Englands zurückgeführte Herrschaftsrecht des englischen Königs und die Gehorsamspflicht der englischen Untertanen in Frage zu stellen. Da diese Sichtweise der zentralen Absicht der Hobbes’schen Theorie aufs Schärfste entgegengesetzt war, war Hobbes im Sinne seiner eigenen Argumentation gezwungen, die Freiheitsdefinition von De Cive aufzugeben und durch eine Definition zu ersetzen, die ihm, wie die Definition des Leviathan, erlaubte, auch die Unterwerfung der Engländer unter William the Conqueror als freiwilligen Akt und als legitimen Ursprung einer bürgerlichen Gehorsamspflicht zu interpretieren. Auf Grundlage der Tatsache, dass es sich beim Hobbes’schen Naturrecht um ein Freiheitsrecht und damit um ein bloß permissives Recht handelt, konnte oben zudem gezeigt werden, dass die in der Vergangenheit unternommen Versuche, den Hobbes’schen Naturzustand als einen rechtlich widersprüchlichen Zustand auszuweisen, der vorrangig aufgrund dieser rechtlichen Widersprüchlichkeit und nicht etwa aufgrund der faktischen Bedrohung von Leib und Leben verlassen werden muss, nicht zu überzeugen vermögen. Anders als von einer Reihe von Autoren behauptet oder nahegelegt worden ist, und zwar mitunter auch von solchen, die sich der rechtstheoretischen Lesart Geismanns, Herbs, Hünings und Malcolms gar nicht in allen entscheidenden Punkten anschließen,142 handelt es sich beim natürlichen ‚Recht aller auf alles‘ in keiner Weise um ein widersprüchliches Konzept, da das natürli_____________ 142 Vgl. etwa Herbert 1987: 185; Goyard-Fabre 1987: 154f.; Kersting 1992: 125; und Curran 2002: 68.

5.6 Zusammenfassung

197

che ‚Recht auf alles‘ als ein bloß permissives Recht ohne jeden Widerspruch allen Individuen gleichermaßen zugesprochen werden kann. Da es sich folglich bei Hobbes’ Naturzustand nicht um einen Zustand der Rechtsläsion oder der Rechtsantinomie handelt, sondern lediglich um einen rechtlosen Zustand, und da es im Rahmen des Hobbes’schen Systems kein Argument gibt oder geben kann, warum es einen solchen Zustand nicht geben dürfte, kann das Hobbes’sche Naturzustandsargument auch nicht im Sinne eines zusätzlichen juridischen Arguments aus Hobbes’ Aussagen rekonstruiert werden. Da Hobbes in allen Schriften über den gleichen Begriff des natürlichen Rechts verfügt, trifft diese Tatsache im Übrigen auf alle Hobbes’schen Schriften in der gleichen Weise zu, und nicht nur auf De Cive, wenn die Widerlegung der rechtstheoretischen Lesart oben auch ausgehend von den Hinweisen Geismanns, Herbs und Hünings im Rahmen der Diskussion dieser Schrift entwickelt worden ist.

6. Die natürlichen Gesetze 6.1 Einleitung 6.1.1 Die Debatte um die Hobbes’sche Naturgesetzlehre und die ‚TaylorWarrender-These‘ Die Lehre von den natürlichen Gesetzen stellt ohne jeden Zweifel denjenigen Teil der Hobbes’schen Theorie dar, dem in den letzten Jahrzehnten das Hauptinteresse der Hobbes-Forschung gegolten hat und der die Auseinandersetzung der Interpreten mit der Hobbes’schen Philosophie am nachhaltigsten geprägt hat. Es lässt sich sogar mit guten Gründen die Auffassung vertreten, die außerordentliche Aufmerksamkeit, die der Hobbes’schen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in der anglo-amerikanischen, aber auch in der deutschsprachigen Forschung zuteil geworden ist und die in einer mittlerweile schier unüberschaubaren Menge von Veröffentlichungen zu Hobbes ihren Ausdruck gefunden hat, sei ohne diejenige Debatte, die sich in den 1950er Jahren an der Lehre von den natürlichen Gesetzen und vor allem an der Frage nach dem Status dieser Gesetze entzündet hat, nicht in dieser Form möglich gewesen. Die Debatte um den Status der Hobbes’schen Naturgesetze kann direkt auf die Arbeiten Howard Warrenders zurückgeführt werden, der in seiner bereits mehrfach angesprochenen Studie zur Hobbes’schen Verpflichtungstheorie aus dem Jahr 1957 sowie in einigen kürzeren Arbeiten in deutlicher Abgrenzung von der Forschungstradition die Behauptung vertreten hat, bei den natürlichen Gesetzen des Hobbes handle es sich um im strengen Sinne verpflichtende Befehle Gottes. Warrender ist zwar nicht der erste Interpret, der Hobbes’ Lehre von den natürlichen Gesetzen in diesem Sinne als ‚divine command theory‘ begriffen hat. So findet sich eine entsprechende Interpretation bereits bei Alfred Taylor, der in seinem ursprünglich im Jahr 1938 veröffentlichten Aufsatz „The ethical doctrine of Hobbes“ zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Warrender gelangt und auf den Warrender im Rahmen seiner Ausführungen auch ausdrücklich verweist. Und auch Schilling betont in seinem Aufsatz „Naturrecht, Staat und Christentum bei Hobbes“ aus dem Jahr 1947 die Bedeutung religiöser Aspekte für die Hobbes’sche Naturgesetzlehre, wenn auch in einer deutlich allgemeineren und unspezifischeren Weise als Taylor. Tarlton hat kürzlich jedoch nachgewiesen, dass der Aufsatz Taylors

6.1 Einleitung

199

zunächst nahezu unbemerkt geblieben ist und erst im Zuge der Auseinandersetzung mit Warrenders Buch und aufgrund der expliziten Hinweise Warrenders Beachtung gefunden hat,1 und dem Aufsatz Schillings kann mit Blick auf die Interpretation der Hobbes’schen Naturgesetze überhaupt keine nachhaltige Wirkung attestiert werden. Die Ehre, die verstärkte Diskussion der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen und letztlich der gesamten Naturzustandstheorie angeregt zu haben, gebührt daher unzweifelhaft Warrender, dessen Analyse der Hobbes’schen Theorie auch ungleich umfassender und dezidierter ausfällt als die Analysen Taylors und Schillings. Es bleibt allerdings kritisch anzumerken, dass Tarlton in seinem Bemühen um historische Genauigkeit insgesamt deutlich über das Ziel hinausschießt. Zum einen führt er die Auseinandersetzung mit Taylors Aufsatz und mit der Frage nach dessen Bedeutung für die Hobbes-Forschung grundsätzlich in einer Schärfe, die sich mit dem sachlichen Interesse allein kaum hinreichend erklären, geschweige denn rechtfertigen lässt. Zum anderen geht er letztlich so weit, Taylors Aufsatz geradezu jeglichen wissenschaftlichen Wert abzusprechen, ohne dass er aber die betreffende Behauptung überzeugend zu stützen vermöchte. Die eingehendere Betrachtung der Interpretation Taylors wird zeigen, dass Taylors Argumentation, wenn sie auch an einigen Stellen etwas unklar sein mag, den Problemen der Hobbes’schen Ausführungen zum Teil durchaus gerecht zu werden vermag, und die Präzisierungen, denen die traditionelle Lesart mitunter unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Taylor unterzogen worden ist, können als ausreichende Belege für einen positiven Einfluss Taylors auf die Hobbes-Forschung gesehen werden. Es scheint mir daher auch weiterhin angemessen, die Deutung der natürlichen Gesetze als Befehle Gottes, wie in der Hobbes-Forschung allgemein üblich, mit den Begriffen ‚Taylor thesis‘ oder ‚Taylor-Warrender-thesis‘ zu bezeichnen und diese Redeweise nicht, wie Tarlton es fordert, als Mythos zurückzuweisen. Dass Taylor in dieser Form eine Bedeutung für die Diskussion um die Hobbes’sche Moralphilosophie zugestanden werden muss, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es die Arbeit Warrenders ist, die diese Diskussion letztlich in Gang gesetzt und sie auch über Jahrzehnte hinweg geprägt hat. Die Bedeutung der Interpretation Warrenders zeigt sich nicht nur daran, dass in den späten 1950er sowie den 1960er Jahren mit Brown, Nagel, Raphael, Plamenatz und Barry eine ganze Reihe von Autoren Versuche zu einer ausdrücklichen Widerlegung von Warrenders Position unternehmen.2 Sie zeigt sich auch daran, dass der Frage nach dem Status der natürlichen Gesetze in praktisch allen Hobbes-Monographien der 1960er Jahre und der frühen 1970er Jahre ein wichtiger Platz eingeräumt wird, so etwa bei Watkins, Gold_____________ 1 2

Vgl. Tarlton 1998. Vgl. Plamenatz 1965; Brown 1993; Nagel 1993; Raphael 1993; Barry 1993.

200

6. Die natürlichen Gesetze

smith, Gauthier, Willms und Spragens,3 und dass auch in der Folgezeit die kritische Auseinandersetzung mit der ‚Taylor-Warrender-These‘ ein fester Bestandteil der Hobbes-Forschung bleibt. Zu guter Letzt wird der Einfluss Warrenders und die Bedeutung der von ihm aufgeworfenen Fragen auch dadurch bekräftigt, dass in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Veröffentlichungen erschienen sind, in denen der Gang der ‚Taylor-WarrenderDebatte‘ nachgezeichnet und die konkurrierenden Interpretationsansätze einander gegenübergestellt worden sind. Den ersten derartigen Beitrag liefert Greenleaf bereits 1969, vergleichbare Darstellungen finden sich danach auch bei Oakeshott, bei Willms, bei Curley, bei Forsberg, bei Boonin-Vail und bei Gauthier.4 Die Tatsache, dass Gauthier noch im Jahr 2001 die ‚Taylor-WarrenderDebatte‘ und die ihr zugrundeliegenden Fragen zum Gegenstand einer eigenen Studie macht und dass sich – wie etwa bei Sommerville, bei Curthoys, bei Ludwig, bei Sprute und bei Forster – bis in die heutige Zeit in vielen Veröffentlichungen zur Hobbes’schen Philosophie ausführliche Auseinandersetzungen mit Warrenders Lesart finden,5 macht darüber hinaus aber auch deutlich, dass die Frage nach dem Status der natürlichen Gesetze nach wie vor nicht als endgültig geklärt gelten kann. Tarlton vertritt in seiner oben genannten Studie aus dem Jahr 1998 zwar nachdrücklich die Ansicht, die ‚TaylorWarrender-These‘ könne als widerlegt angesehen werden und an die Stelle der Studien zur Hobbes’schen Moral- und Verpflichtungstheorie seien längst die zahlreichen Studien zum rhetorischen Charakter der Hobbes’schen Schriften getreten.6 Die bloße Existenz der zuvor angeführten Veröffentlichungen legt aber bereits die Vermutung nahe, dass bei Tarltons Einschätzung eher der Wunsch Vater des Gedankens gewesen ist, und für diese Sichtweise spricht auch, dass es bis in die heutige Zeit Autoren gibt, die sich zumindest einigen der zentralen Annahmen Warrenders anschließen. Zwar muss betont werden, dass in der Vergangenheit die überwältigende Mehrheit der HobbesInterpreten die ‚Taylor-Warrender-These‘ mit zum Teil unterschiedlichen, oftmals aber auch einander ähnlichen oder identischen Argumenten zurückgewiesen hat. Mit Hood, Kodalle und Martinich sind aber mindestens drei Autoren zu nennen, die Taylors und Warrenders Behauptung, bei den natürlichen Gesetze handle es sich für Hobbes um moralisch verbindliche Befehle Gottes, ausdrücklich zugestimmt haben, und darüber hinaus sind gerade in den letzten Jahre vermehrt Versuche unternommen worden, die Hobbes’schen Naturgesetze auch ohne Rückgriff auf die vermeintliche Urheber_____________ 3 4 5 6

Vgl. Watkins 1965; Goldsmith 1966; Gauthier 1969; Willms 1970; und Spragens 1973. Vgl. Greenleaf 1969; Oakeshott 1975; Willms 1979; Curley 1989; Forsberg 1990; Boonin-Vail 1994; und Gauthier 2001. Vgl. Sommerville 1992; Curthoys 1998; Ludwig 1998; Sprute 2002; und Forster 2003. Vgl. Tarlton 1998: 408.

6.1 Einleitung

201

schaft Gottes als im strengen Sinne verpflichtende Moralgesetze auszuweisen und dadurch Weise einen zentralen Aspekt von Taylors und Warrenders Interpretation zu retten. Selbst wenn man daher, wie etwa Curthoys,7 der Ansicht sein sollte, die Debatte um Hobbes’ natürliche Gesetze habe eine Sackgasse erreicht oder drehe sich im Kreis: Um das Eingeständnis, dass die Frage nach dem Status der natürlichen Gesetze die Hobbes-Forschung nach wie vor stark beschäftigt und die Interpreten bezüglich dieser Frage noch zu keinem Konsens gefunden haben, wird man in keinem Fall herumkommen. Angesichts dieser andauernden Bedeutung der ‚Taylor-Warrender-These‘ für die Diskussion der Hobbes’schen Theorie, auf die im Übrigen auch von anderen Autoren immer wieder hingewiesen worden ist,8 scheint es mir einerseits geboten, der Lehre von den natürlichen Gesetzen im Rahmen der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und die Angemessenheit der bisher vorgebrachten Interpretationsansätze mit Blick auf alle vier Fassungen der Hobbes’schen Theorie eingehend zu prüfen. Zum Anderen erscheint es mir sinnvoll, die bisherige Debatte und insbesondere die ursprünglichen Positionen Taylors und Warrenders im Folgenden in etwas umfangreicherer Form darzustellen, um auf diese Weise eine umfassende Grundlage für die anschließende Analyse zu schaffen. 6.1.2 Die traditionelle Lesart (Teil 1) Die traditionelle Interpretation der Hobbes’schen Naturgesetze, von der sich sowohl Taylor als auch Warrender explizit distanzieren und die beide als Folge einer nachlässigen und oberflächlichen Beschäftigung mit den Hobbes’schen Ausführungen zurückweisen, ist durch die Annahme charakterisiert, die natürlichen Gesetze seien in ihrer Geltung vom Zweck der individuellen Erhaltung abhängig, und sie seien daher auch nicht im streng normativen Sinne als ‚Gesetze‘ anzusehen, sondern lediglich als Klugheitsregeln, die dem Einzelnen den Weg zum Frieden als einem notwendigen Mittel zur Selbsterhaltung weisen. Unter den Hobbes-Interpreten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts können Autoren wie Robertson, Stephen, Laird, Strauss, Oakeshott und Peters als Exponenten dieser Lesart gelten. Robertson etwa begreift das natürliche individuelle Streben nach Selbsterhaltung ausdrücklich als Grundlage sowohl des natürlichen Rechts als auch des natürlichen Gesetzes,9 und Stephen hebt den damit ver_____________ 7 8 9

Vgl. Curthoys 1998: 1. Vgl. etwa Willms 1987: 245; Kersting 1996a: 7; und Tuck 1996b: 190. Vgl. Robertson 1886: 143.

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6. Die natürlichen Gesetze

bundenen egozentrischen oder egoistischen Aspekt des Hobbes’schen Naturgesetzes besonders deutlich hervor, indem er das Gesetz als „application of the purely egoistic law of self-preservation“10 bezeichnet. Laird schließt sich dieser Sichtweise insofern an, als er die natürlichen Gesetze als logische Implikationen des Selbsterhaltungsstrebens präsentiert und denjenigen, der die natürlichen Gesetze missachtet, als „foolish“11, nicht aber im strengen Sinne als unmoralisch begreift. Und auch Strauss sieht die Hobbes’sche Moralphilosophie, wie sie in der Lehre von den natürlichen Gesetzen ihren Ausdruck findet, als „Klugheitsmoral“12, wobei er die Deutung, die natürlichen Gesetze könnten für Hobbes aufgrund ihrer Eigenschaft als Wort Gottes über moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne verfügen, explizit zurückweist.13 Oakeshott versucht der gleichwohl von Hobbes hervorgehobenen Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze dadurch gerecht zu werden, dass er zwischen verschiedenen Arten von Verpflichtung bzw. ‚obligation‘ unterscheidet und den natürlichen Gesetzen nicht im Sinne einer „moral obligation“, sondern lediglich im Sinne einer „rational obligation“14 Verpflichtungskraft zuspricht. Die natürlichen Gesetze sind danach insofern verpflichtend, als sie Handlungsweisen vorgeben, mit deren Hilfe allein das allgemeinmenschliche Ziel der Selbsterhaltung erreicht werden kann und zu denen es folglich keine rationale Alternative gibt. Peters schließlich fasst die Annahmen der traditionellen Interpretation noch einmal dadurch zusammen, dass er Hobbes’ Lehre von den natürlichen Gesetzen als Versuch deutet, den traditionellen Begriff des jus naturale auf Basis des Eigeninteresses neu zu begründen und auf diese Weise die grundsätzliche Vereinbarkeit von Rationalität und Eigeninteresse aufzuzeigen, wobei er dieser ‚egoistischen‘ Lehre von den natürlichen Gesetzen aber den Charakter einer genuinen Morallehre abspricht. Hobbes assumed that rationality was compatible with egoism and that the law of nature could be defended equally well on the basis of rational self-interest. We ought not to keep faith on account of our respect for others but on account of our fear for ourselves.15

_____________ 10 11 12 13 14 15

Stephen 1961: 189. Laird 1968: 62. Strauss 1965: 116. Vgl. Strauss 1965: 73. Beides: Oakeshott 1960: LIX. Peters 1956: 173. Vgl. auch Peters 1956: 174ff.

6.1 Einleitung

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6.1.3 Alfred Taylor Alfred Taylor stellt in seinem Aufsatz zur Hobbes’schen Moraltheorie die zentralen Annahmen der traditionellen Lesart insofern grundsätzlich in Frage, als er eine strikte Unabhängigkeit der Hobbes’schen Moraltheorie von der Anthropologie und Psychologie behauptet und vor diesem Hintergrund die zentrale Bedeutung des Selbsterhaltungsstrebens für die Geltung der natürlichen Gesetze bestreitet. Taylor stützt sich bei seinen Ausführungen ausdrücklich auf De Cive und schließt den englischen Leviathan, bei dem es sich seiner Ansicht nach um eine vorrangig nach rhetorischen Gesichtspunkten gestaltete politische „Streitschrift“16 handelt, von seiner Untersuchung aus. Nach Taylor geht es Hobbes im Rahmen seiner politischen Theorie allgemein um zwei deutlich voneinander zu trennende Fragen, die aber von den Interpreten der Hobbes’schen Philosophie nicht immer hinreichend unterschieden worden seien. There are really two distinct questions before Hobbes, the question why I ought to behave as a good citizen, and the question what inducement can be given me to do so if my knowledge of the obligation to do so is not in itself sufficiently effective.17

Laut Taylor kommt den Hobbes’schen Ausführungen zum Selbsterhaltungsstreben und allgemein zum Eigeninteresse lediglich die Aufgabe zu, zusätzliche Motive zur Befolgung der unabhängig von diesen Motiven bestehenden Gehorsamspflicht aufzuzeigen. Dass der Einzelne über eine solche Verpflichtung gegenüber dem Souverän verfüge, geht nach Taylor allein darauf zurück, dass er im Rahmen des Gesellschaftsvertrages ein entsprechendes Verhalten zugesagt habe. But the Hobbesian answer to the other question, why I ought, or am obliged, to be a good citizen is quite different; it is, quite explicitly that I have, expressly or tacitly, pledged my word to be one, and to violate my word, to ‘perform my covenant as made’, is iniquity, malum in se.18

Die Ausführungen Taylors erwecken nun zum Teil den Eindruck, als verstehe er die Geltung und Verbindlichkeit geschlossener Verträge als nicht nur vom Eigeninteresse des Handelnden, sondern als auch von den natürlichen Gesetzen unabhängig. In diese Richtung weisen etwa seine Hervorhebung derjenigen Passagen, in denen Hobbes den Bruch eines Vertrages als in sich widersprüchliches Verhalten beschreibt, sowie seine Aussage, bei Hobbes’ Moraltheorie handle es sich um eine strikt deontologische Theorie, die auffäl_____________ 16 17 18

Taylor 1993: 22. Taylor 1993: 23. Taylor 1993: 23.

204

6. Die natürlichen Gesetze

lige Parallelen zur Kantischen Moralphilosophie aufweise.19 Die weitere Argumentation Taylors macht aber deutlich, dass er die natürlichen Gesetze und im Besonderen das dritte Naturgesetz, das die Erfüllung geschlossener Verträge vorschreibt, als eigentliche Grundlage der von ihm beschriebenen bürgerlichen Pflichten begreift.20 Für Taylor folgt also aus der Tatsache, dass die Bürger des Hobbes’schen Staates eine strikt moralische Verpflichtung haben, den Befehlen des Souveräns Folge zu leisten, dass auch die natürlichen Gesetzen, wie insbesondere die Regel pacta sunt servanda, dem Einzelnen eine solche strikt moralische Verpflichtung auferlegen müssen. Um diese Sichtweise zu stützen, verweist Taylor darauf, dass die natürlichen Gesetze Hobbes’ Darstellung zufolge auch im Naturzustand immer in foro interno, manchmal aber sogar in foro externo verpflichteten und dass der Souverän eines Staates den natürlichen Gesetzen unterworfen bleibe und sich für sein Handeln vor Gott zu verantworten habe.21 Es ist diese Verpflichtung des Souveräns gegenüber den natürlichen Gesetzen und seine Verpflichtung, Gott Rechenschaft abzulegen, die Taylor zum Anlass nimmt, die natürlichen Gesetze als göttliche Befehle zu interpretieren und die diesbezüglichen Äußerungen von Hobbes wörtlich zu nehmen. If the fulfilling of the law of nature is a duty in the sovereign, it follows that the law of nature is a command, and a command the reason for obedience whereto is that it is a precept of a ‘person’ with the right to command. What ‘person’, then, is this, whose commands are binding on princes because they are his commands? [...] I can only make Hobbes’s statements consistent with one another by supposing that he meant quite seriously what he so often says, that the ‘natural law’ is the command of God, and to be obeyed because it is God’s command.22

Taylor verweist allerdings selbst auf ein Problem einer solchen Interpretation der natürlichen Gesetze. Sie setzt voraus, dass es für den Einzelnen eine Möglichkeit geben muss, die Naturgesetze als göttliche Befehle zu erkennen, weil er sie sonst weder als Gesetze noch als strikt moralisch verpflichtend erkennen könnte. Nach Taylor variiert die Hobbes’sche Antwort auf die Frage, wie bzw. warum der Einzelne die Naturgesetze als göttliche Befehle zu erkennen in der Lage ist, von Werk zu Werk und ist in keinem Fall gänzlich frei von Problemen. Taylor bekräftigt aber die Ansicht, dass die natürlichen Gesetze des Hobbes göttliche Befehle sein müssen, weil nur dann die Hobbes’sche Theorie als in sich schlüssig betrachtet werden könne.

_____________ 19 20 21 22

Vgl. Taylor 1993: 23f. Vgl. vor allem Taylor 1993: 29 und 36f. Vgl. Taylor 1993: 26 und 29. Taylor 1993: 32.

6.1 Einleitung

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But we are, I think, bound to believe that he means what he says when he calls it such a command; in no other way can we make his explicit statements about the connection between the notions of a duty, a command, and a law inherent with each other. A certain kind of theism is absolutely necessary to make the theory work.23

6.1.4 Howard Warrender Die Interpretation Warrenders geht insofern von ähnlichen Überlegungen aus wie die Interpretation Taylors, als auch Warrender zunächst der Frage nachgeht, woher die bürgerlichen Gesetze des Hobbes’schen Staates, wenn man sie denn – wie etwa Strauss und Oakeshott – als Gesetze versteht, die dem Bürger nicht eine bloß prudenzielle, sondern eine strikt moralische Verpflichtung auferlegen, überhaupt ihre Geltung beziehen können. Nach Warrenders Auffassung ist die betreffende Interpretation der bürgerlichen Gesetze grundsätzlich nur dann aufrechtzuerhalten, wenn man auch im Naturzustand derartige moralische Verpflichtungen anerkennt und den Naturzustand folglich nicht, wie im Rahmen der traditionellen Lesart üblich, als moralischrechtliches Vakuum begreift. A moral obligation (...) to obey the civil law cannot logically be extracted from a system in which man has no moral obligations before or apart from the institution of that law. Any view that assumes otherwise, contains a hiatus in the argument that cannot be surmounted, and if, in fact, this is Hobbes’s position, he must be held to have failed in his main enterprise. [...] Hence if the obligation to obey the civil law is a moral obligation, men have moral obligations in Hobbes’s State of Nature.24

Dass die Hobbes’schen Individuen sich im Naturzustand in der Tat moralischen Verpflichtungen im strengen Sinne des Wortes gegenübersehen, versucht Warrender dadurch zu zeigen, dass er in der oben bereits skizzierten Weise nachweist, dass es im Naturzustand prinzipiell gültige und folglich auch verpflichtende Verträge gibt oder geben kann. Warrender unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen zwei generellen Aspekten der Verpflichtung, die seiner Ansicht nach von den Vertretern der traditionellen HobbesDeutung nicht hinreichend unterschieden worden sind, nämlich zwischen den eigentlichen Geltungsgründen einer Verpflichtung („grounds of obligation“) und den Geltungsbedingungen einer Verpflichtung („validating conditions of obligation“25), d.h. denjenigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine bestehende Verpflichtung wirksam wird. Laut Warrender besteht die Besonderheit und die Misslichkeit des Naturzustandes nicht darin, dass dort _____________ 23 24 25

Taylor 1993: 33. Warrender 1961: 6f. Beides: Warrender 1961: 13.

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6. Die natürlichen Gesetze

keine gültigen und verpflichtenden Verträge zustandekämen, sondern darin, dass die „validating conditions of obligation“ in der Regel nicht erfüllt seien, da die Erfüllung der Vertragspflichten dem Einzelnen nicht immer ohne Gefahr für das eigene Leben möglich sei.26 Deutlich unmissverständlicher als Taylor führt Warrender nun die prinzipielle Pflicht zur Vertragserfüllung, die seiner Auffassung nach von Hobbes zweifelsfrei als moralische Pflicht im strengen Sinne präsentiert wird, auf das dritte Naturgesetz zurück. So hebt Warrender ausdrücklich hervor, dass Hobbes in keiner seiner Schriften die Verpflichtungskraft von Verträgen mit der Tatsache begründe, dass es sich beim Bruch eines Versprechens um einen in sich widersprüchlichen Akt handle. Der eigentliche Hintergrund der Verpflichtung, Verträge zu erfüllen, besteht laut Warrender einzig und allein in dem entsprechenden Gebot des dritten Naturgesetzes, und daher sieht er auch die Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber dem staatlichen Souverän als vollständig von der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze abhängig.27 Im Hinblick auf den Naturzustand gilt nun laut Warrender für die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze im Allgemeinen das gleiche, was für die Verbindlichkeit von Verträgen im Besonderen gilt. Es gebe im Naturzustand zwar keine generell wirksame Pflicht, die natürlichen Gesetze zu befolgen, das heiße aber nicht, dass die Naturgesetze dort prinzipiell keine Gültigkeit hätten. Wie schon das Gebot, geschlossene Verträge zu erfüllen, so binden laut Warrender auch die ersten beiden Naturgesetze, die die Friedenssuche und die Aufgabe des ‚Rechts auf alles‘ gebieten, den Einzelnen grundsätzlich vor dem Gewissen und darüber hinaus – Warrender hebt diesen Aspekt, wie schon Taylor, ausdrücklich hervor – in einigen Situationen sogar in foro externo, d. h. zur Ausübung bestimmter Handlungen.28 Dass sie letzteres in der Regel nicht tun, liegt laut Warrender daran, dass auch die Verbindlichkeit der ersten beiden sowie überhaupt aller weiteren Naturgesetze an bestimmte „validating conditions“ gebunden sei, deren Erfüllung im Naturzustand in den seltensten Fällen gegeben sei. Das menschliche Streben nach Selbsterhaltung ist für Warrender nur insofern für die Geltung der natürlichen Gesetze relevant, als es eine dieser prinzipiellen Geltungsbedingungen der Naturgesetze darstellt. Wie im Rahmen unserer Diskussion des natürlichen Rechts bereits angedeutet worden ist, sieht Hobbes Warrenders Interpretation zufolge nur solche Handlungen als verpflichtend an, deren Ausführung dem Handelnden faktisch möglich ist. Nach Warrender trifft dies grundsätzlich nur auf solche Handlungen zu, zu deren Ausführung der Handelnde ein ausreichendes Motiv haben kann.29 Da _____________ 26 27 28 29

Vgl. Warrender 1961: 45. Vgl. etwa Warrender 1961: 231, 237 und 336f. Vgl. Warrender 1961: 58. Vgl. Warrender 1961: 87.

6.1 Einleitung

207

nun aber das Streben nach Selbsterhaltung ein beherrschendes Element des menschlichen Handelns ist, könne der Einzelne nur zu solchen Handlungen ein ausreichendes Motiv haben, die seiner Erhaltung dienen oder ihr zumindest nicht widersprechen. Dass Hobbes dem Aspekt der Selbsterhaltung im Rahmen seiner Naturzustandstheorie einen so großen Raum einräume, ist folglich nach Warrender damit zu erklären, dass er die Vereinbarkeit der konkreten naturgesetzlichen Forderungen auf der einen und dem Prinzip ‚ought implies can‘ auf der anderen Seite nachzuweisen und auf diese Weise die moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze psychologisch abzusichern versucht. Wie schon für Taylor, so besteht folglich auch für Warrender die Hobbes’sche Theorie letztlich aus zwei voneinander zu unterscheidenden Systemen, nämlich aus einem System der Verpflichtung und einem System der Motivation, d.h. aus einem System dessen, was der Einzelne tun soll, und einem System dessen, was er tun kann.30 Den eigentlichen Geltungsgrund der natürlichen Gesetze sieht Warrender aber wie Taylor in ihrer Eigenschaft als göttliche Befehle. Die natürlichen Gesetze sind danach nicht deshalb verpflichtend, weil das Ziel der Selbsterhaltung ohne ihre Befolgung nicht dauerhaft erreicht werden kann, sondern sie sind verpflichtend, weil sie Gebote Gottes darstellen.31 Nur so lässt sich nach Warrenders Meinung überzeugend erklären, warum die natürlichen Gesetze den Einzelnen im Naturzustand vor dem Gewissen verpflichten können und warum selbst der staatliche Souverän, der nicht Teil des Gesellschaftsvertrages und den positiven Gesetzen in keinerlei Weise unterworfen ist, im bürgerlichen Zustand gewissen moralischen Pflichten unterworfen sein kann.32 Nach Warrender lässt sich die verpflichtende Kraft der Naturgesetze nun allerdings auf zwei verschiedene Weisen zu ihrem göttlichen Ursprung in Beziehung setzen. Auf der einen Seite könnten die natürlichen Gesetze allein deshalb als verpflichtend verstanden werden, weil sie Ausdruck des göttlichen Willens sind. Gott würde dann prinzipiell als zur Erteilung verpflichtender Befehle befugte Instanz verstanden, und die Verpflichtung, den göttlichen Befehlen zu gehorchen, wäre von weiteren Erwägungen vollkommen unabhängig. Eine zweite Möglichkeit bestünde dagegen darin, die verpflichtende Kraft der göttlichen Befehle mit der Existenz göttlicher Sanktionen zu begründen. Die Naturgesetze wären danach deshalb als verpflichtend anzusehen, weil ihre Nichtbefolgung göttliche Strafen nach sich zieht.33 Warrender gesteht zu, dass beide Lesarten mit einigen Problemen behaftet sind, die vor allem mit der bereits von Taylor aufgeworfenen Frage verbunden sind, ob alle Hobbes’schen Individuen die natürlichen Gesetze als _____________ 30 31 32 33

Vgl. Warrender 1961: 213 und 252. Vgl. etwa Warrender 1961: 98 und 213. Vgl. Warrender 1961: 156. Vgl. Warrender 1961: 279.

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6. Die natürlichen Gesetze

Befehle Gottes und damit als moralisch verpflichtend erkennen können oder ob die Gesetze letztlich nur für gläubige Christen im strengen Sinne verpflichtend sein können. Diese Probleme vermögen aber nach Warrenders Einschätzung die Deutung der natürlichen Gesetze als Befehle Gottes nicht nachhaltig in Frage zu stellen. Laut Warrender gibt es zu der betreffenden Interpretation letztlich keine gangbare Alternative, weshalb er auch wie vor ihm Taylor folgert, dass Gott als notwendiger Bestandteil des Hobbes’schen Systems verstanden werden muss und dass die zahlreichen theologischen Ausführungen innerhalb der Hobbes’schen Schriften daher nicht in der Weise als inhaltlich überflüssige Ergänzungen des eigentlichen philosophischen Argumentes beiseite geschoben werden können, wie dies von den Anhängern der traditionellen Lesart üblicherweise getan worden sei.34 Wie Warrender selbst ausdrücklich hervorhebt,35 hat die Deutung der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen als ‚divine command theory‘ nun entscheidende Konsequenzen für die Bewertung von Hobbes’ Stellung innerhalb der Geschichte des staatsphilosophischen Denkens. Einschätzungen wie die von Strauss oder Oakeshott, nach denen Hobbes mit seinem Ausgang vom individuellen Recht auf Selbsterhaltung eine neue Epoche des politischen Denkens einleitet, werden schon dadurch in Frage gestellt, dass Warrender das natürliche Gesetz als dem natürlichen Recht geltungslogisch vorgeordnet begreift. Die Annahme einer ausgeprägten Verbindung zwischen Hobbes und der neuzeitlichen Staats- und Moralphilosophie erfährt zudem auch dadurch eine gewisse Einschränkung, dass Warrender in expliziter Abgrenzung von Taylor die von diesem behaupteten Analogien zwischen der Hobbes’schen und der Kantischen Philosophie bestreitet. Indem Warrender aber in Übereinstimmung mit Taylor die natürlichen Gesetze als im strengen Sinne verbindliche Befehle Gottes interpretiert und der Hobbes’schen Anthropologie und Naturphilosophie lediglich eine Nebenrolle zuweist, büßt Hobbes fast gänzlich die Rolle des von der modernen Naturwissenschaft inspirierten staatsphilosophischen Neuerers ein und nimmt stattdessen die Gestalt eines traditionellen christlichen Naturrechtstheoretikers an. 6.1.5 F. C. Hood - K.-M. Kodalle - A. P. Martinich Da die Einordnung der Hobbes’schen Moralphilosophie in den Traditionszusammenhang der christlichen Naturrechtstheorie direkt aus der Deutung der natürlichen Gesetze als Befehle Gottes folgt, stellt sie auch einen notwendigen Bestandteil der Interpretationen jener Autoren dar, die sich in der Ver_____________ 34 35

Vgl. Warrender 1961: 100. Vgl. Warrender 1961: 310 und 322.

6.1 Einleitung

209

gangenheit den zentralen Aspekten der ‚Taylor-Warrender-These‘ angeschlossen haben. In besonderer Weise gilt dies für Hood und Kodalle, die auch beide insgesamt noch stärker als schon Taylor und Warrender das christliche Element in der Hobbes’schen Lehre betonen. Für Hood handelt es sich bei Hobbes keineswegs, wie von vielen von Hobbes’ Zeitgenossen behauptet, um einen Atheisten, sondern vielmehr um einen traditionell christlichen Denker und bei seiner Moralphilosophie um eine nachhaltig religiös geprägte Lehre.36 Hobbes ist danach nicht nur der Ansicht, dass es einen Gott gibt und dass ihm die Eigenschaften zukommen, die ihm die christliche Überlieferung zuschreibt; er nehme vielmehr auch an, dass es göttliche Moralgesetze gibt, die die Einhaltung des Friedens, die Erfüllung geschlossener Verträge, vor allem aber den Gehorsam gegenüber dem staatlichen Souverän gebieten und die den Einzelnen im strengen Sinne verpflichten. Den eigentlichen Grund dieser Verpflichtung sieht Hood nun eindeutiger als Warrender in den göttlichen Sanktionen, die auf einen Bruch der natürlichen Gesetze folgen, und nicht etwa im bloßen Faktum der Urheberschaft Gottes als einer zur Erteilung von Befehlen befugten Instanz.37 Der letztlich entscheidende Unterschied zwischen Hood und Warrender besteht aber nicht darin, dass Hood sich für eine der beiden von Warrender angedeuteten Möglichkeiten entscheidet und die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze allein auf die Fähigkeit Gottes zurückführt, Zuwiderhandlungen zu bestrafen. Er ist eher darin zu sehen, dass Hood angesichts der Frage, ob und wie die Menschen die natürlichen Gesetze überhaupt als Gebote Gottes erkennen und um die drohenden göttlichen Strafen wissen können, die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen als „supernatural obligation“38 begreift und sie konsequent an die Überlieferung der Heiligen Schrift bindet. Dass die Handlungsweisen, die von den natürlichen Gesetzen geboten werden, im strengen Sinne moralisch verpflichtend sind, kann der Einzelne danach nicht allein mit Hilfe der natürlichen Vernunft erkennen, sondern nur dadurch, dass sie in der Bibel als Gebote Gottes erscheinen. Anders als Taylor und Warrender gesteht Hood dabei allerdings zu, dass Hobbes in seinen Schriften bestrebt ist, neben der eigentlichen religiösen Fundierung der Gehorsamspflicht gegenüber dem staatlichen Souverän auch eine wissenschaftliche und von Glaubensfragen unabhängige Fundierung zu liefern, und dass die natürlichen Gesetze deshalb über weite Strecken als Gebote der Vernunft erscheinen, die ohne einen Gesetzgeber, d.h. ohne „obliger“39, auskommen. Hood betont aber, dass dieser Versuch, die natürlichen Gesetze im Sinne _____________ 36 37 38 39

Vgl. Hood 1964: VIIf. Vgl. etwa Hood 1964: 100f. und 109f. Hood 1964: 115. Hood 1964: 115.

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6. Die natürlichen Gesetze

einer „philosophical fiction“40 auch ohne Rückgriff auf den christlichen Glauben zu entwickeln, sie allein aus der menschlichen Vernunft herzuleiten und sie dennoch als moralisch verbindlich auszuweisen, scheitert. Sein eigentliches Anliegen, nämlich zu beweisen, dass die Handlungsweisen, die von den natürlichen Gesetzen gefordert werden, nicht nur der Selbsterhaltung förderlich sind, sondern auch moralische Pflichten im strengen Sinne darstellen, vermag Hobbes laut Hood nicht auf streng wissenschaftlichem Wege zu realisieren, sondern allein durch die Einbeziehung der Offenbarung und der zentralen Glaubensinhalte des Christentums. Die von Hobbes angestrebte Umwandlung der christlichen Morallehre in eine moderne philosophische Theorie misslingt nach Hood also, weil das zentrale Element dieser Theorie von religiösen Voraussetzungen abhängig bleibt.41 Kodalle hebt wie Hood die Bedeutung der Religion für Hobbes’ Lehre mit besonderem Nachdruck hervor, er grenzt sich aber insofern kritisch von diesem ab, als er noch deutlicher, als Hood dies seiner Meinung nach tut, darauf verweist, dass das Hobbes’sche System neben der wissenschaftlichrationalistischen Argumentation auch zwingend auf die substanziellmetaphysische Wahrheit religiöser Glaubensinhalte angewiesen ist, um überhaupt in Hobbes’ Sinne funktionieren zu können.42 Ähnlich wie Hood unterscheidet Kodalle dabei zwei Dimensionen des natürlichen Gesetzes, nämlich auf der einen Seite diejenige Dimension, die sie als rational abgeleitete Gebote der natürlichen Vernunft besitzen, und auf der anderen Seite diejenige Dimension, über die sie als Gesetze Gottes verfügen. Nach Kodalle lässt sich die Tatsache, dass auch im Naturzustand prinzipiell qua Handlung gegen die natürlichen Gesetze verstoßen werden kann, mit ihrer Eigenschaft als bloße Klugheitsregeln nicht hinreichend erklären, so dass nur die Anerkennung der Urheberschaft Gottes die entsprechenden Behauptungen Hobbes’ angemessen zu begründen vermöge.43 Das entscheidende Argument von Kodalle lautet allerdings, dass sich ohne Einbeziehung Gottes die Überwindung des Naturzustandes nicht überzeugend erklären lasse. Für Kodalle kann diese Überwindung nur dann gelingen, wenn die Individuen aus Furcht vor dem göttlichen Gesetzgeber die natürlichen Gesetze auch dort befolgen, wo dies vom rein egoistischen Streben nach Selbsterhaltung nicht gefordert wäre. Nur wenn die Individuen in dieser Weise die Urheberschaft Gottes sowie die Macht, über die jener verfügt, anerkennen, kann es nach Kodalles Meinung zum staatskonstituierenden Akt des Gesellschaftsvertrages kommen.44 _____________ 40 41 42 43 44

Hood 1964: VIII. Vgl. etwa Hood 1964: 229f. Vgl. Kodalle 1972: 18f. Vgl. Kodalle 1972: 54. Vgl. etwa Kodalle 1972: 52, 55f. und 60f.

6.1 Einleitung

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Der letzte prominente Hobbes-Interpret, der der ‚Taylor-WarrenderThese‘ gefolgt ist, ist Martinich, der in seiner 1992 veröffentlichten Studie ähnlich wie vor ihm Hood die Auffassung vertritt, bei Hobbes handle es sich um einen aufrichtigen und orthodoxen Christen und bei Hobbes’ theologischen Konzepten um einen untrennbaren Bestandteil seiner politischen Philosophie.45 Martinich widmet aber weitaus mehr Raum als Hood dem Versuch, Hobbes’ vermeintlich affirmative Haltung zu den religiösen Überzeugungen seiner Zeit anhand der Hobbes’schen Schriften eingehend zu belegen. Anders als Hood räumt Martinich zudem ein, dass sich auch aus den unbestreitbar vorhandenen säkularen Elementen der Hobbes’schen Theorie eine in sich schlüssige und philosophisch gegebenenfalls sogar überlegene Theorie konstruieren ließe. Er betont aber mit Nachdruck, dass aus dieser Tatsache nicht geschlossen werden dürfe, Hobbes selbst habe seine Theorie als von theologischen Annahmen unabhängig begriffen.46 Laut Martinich handelt es sich nun bei der Lehre von den natürlichen Gesetzen um denjenigen Teil der Hobbes’schen Theorie, in dem Hobbes’ religiöse Überzeugungen argumentativ am deutlichsten zum Tragen kommen. Wie Taylor, Warrender, Hood und Kodalle vor ihm vertritt Martinich die Ansicht, dass Hobbes die natürlichen Gesetze als Befehle Gottes verstanden hat und verstanden wissen wollte, und er versucht, diese Sichtweise auf zweierlei Weise zu stützen. Auf der einen Seite verweist er darauf, dass Hobbes die Gebote der natürlichen Vernunft nun einmal explizit und durchgängig als Gesetze bezeichne und es angesichts der Hobbes’schen Gesetzesdefinition folglich eine Person geben müsse, die diese Gesetze befohlen hat – eine Rolle, für die grundsätzlich nur Gott in Frage komme, dem Hobbes die natürlichen Gesetze ja auch ausdrücklich zuschreibe.47 Auf der anderen Seite betont Martinich, wie auch schon die Autoren vor ihm, dass es Hobbes’ Darstellung zufolge im Naturzustand sehr wohl rechtmäßige und unrechtmäßige Handlungen geben könne und dass diese Tatsache nur dann überzeugend zu erklären sei, wenn es sich bei den natürlichen Gesetzen um göttliche Befehle handle, die moralisch verbindlich seien. Martinich greift in diesem Zusammenhang auf seine oben bereits kurz angesprochene Unterscheidung eines „primary state of nature“ und eines „secondary state of nature“ zurück. Hobbes’ Aussage, dass es im Naturzustand weder recht noch unrecht geben könne, trifft danach lediglich auf den „primary state of nature“ zu. Bei diesem handle es sich aber nur um den Versuch, zunächst von der Idee des natürlichen Gesetzes zu abstrahieren und den „secondary state of nature“ als den Zustand, in dem die natürlichen Gesetze gelten, gleichsam ex negativo zu begründen, indem _____________ 45 46 47

Vgl. Martinich 1992: 1f. Vgl. Martinich 1992: 44f. Vgl. Martinich 1992: 104f.

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6. Die natürlichen Gesetze

der Zustand der allgemeinen Gesetzlosigkeit nämlich als ein Zustand des notwendigen ‚Krieges aller gegen alle‘ ad absurdum geführt werde. Für Martinich handelt es sich beim „secondary state of nature“ daher gewissermaßen um den ‚eigentlichen‘ Naturzustand, und während es sich beim „primary state of nature“ um ein rechtlich-moralisches Vakuum handle, könne dies für diesen eigentlichen Naturzustand des Hobbes gerade nicht gelten.48 Martinich stimmt also hinsichtlich der Frage der Existenz moralischer Verpflichtungen im Naturzustand und hinsichtlich der Frage des generellen Status der Hobbes’schen Naturgesetze vollständig mit der Interpretation Taylors und Warrenders überein. Er weicht allerdings insofern von Taylors und Warrenders Lesart ab, als er dem menschlichen Selbsterhaltungsstreben und damit der Hobbes’schen Anthropologie eine ungleich größere Relevanz für die Lehre von den natürlichen Gesetzen zugesteht, als Taylor und Warrender dies tun. Martinich vertritt die Auffassung, dass die Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Befehle Gottes zu sein, lediglich die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für deren moralische Verbindlichkeit darstellt. Nach Martinich gibt es daneben noch eine zweite notwendige Bedingung, nämlich die Bedingung, dass die Befolgung der naturgesetzlich gebotenen Handlungsweisen der Selbsterhaltung dient und dies auf rationalem Wege erkannt werden kann. Eine Handlung, die qua natürlichem Gesetz moralisch geboten ist, definiert Martinich daher in der folgenden Weise: An action a is moral in virtue of a law of nature if and only if God commands that a be done and a is derivable by reason alone as conducive to self-preservation.49

Martinich setzt seine Definition zu einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen der Form und dem Inhalt eines Gesetzes in Beziehung. Die Form eines Gesetzes besteht danach im Befehlscharakter des Gesetzes, d.h. in der Tatsache, dass das Gesetz den Willen einer übergeordneten Autorität zum Ausdruck bringt. Der Inhalt besteht dagegen in den konkreten Handlungsweisen, die vom Gesetz verlangt bzw. verboten werden.50 Die Hobbes’schen Ausführungen zur Selbsterhaltung haben nun laut Martinich zwar keinen Bezug zur Form der natürlichen Gesetze, d.h. das Selbsterhaltungsstreben und die menschliche Vernunft stellen nicht die Autoritäten dar, die den natürlichen Gesetzen ihren Gesetzesstatus verleihen. Die Ausführungen dienten aber dem Zweck, den Inhalt zu beschreiben, der den natürlichen Gesetzen notwendigerweise zukommen müsse, damit sie verbindliche Gesetze sein können. Martinich weist daher Taylors und Warrenders These einer strikten Trennung von Moraltheorie und Anthropologie und der Existenz zweier voneinander _____________ 48 49 50

Vgl. Martinich 1992: 76f. Martinich 1992: 73. Vgl. Martinich 1992: 121.

6.1 Einleitung

213

logisch unabhängiger Systeme zurück. Die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen als Lehre moralisch verbindlicher Regeln sei sowohl mit der Hobbes’schen Theologie als auch mit der Hobbes’schen Anthropologie unlösbar verknüpft. Martinich nimmt seine Interpretation der natürlichen Gesetze und der notwendigen Bedingungen ihrer Verbindlichkeit zum Anlass, um Hobbes mit Blick auf den historischen Gegensatz von voluntaristischer und rationalistischer Naturrechtsbegründung eine Art Mittelposition zu attestieren.51 Mit Bezug auf das Thema der vorliegenden Arbeit ist dabei von besonderer Bedeutung, dass Martinich eine leichte Akzentverschiebung innerhalb der Moraltheorien der verschiedenen Hobbes’schen Schriften behauptet, eine These, die er in einer seiner späteren Studien noch einmal ausdrücklich bekräftigt.52 Die von ihm entwickelte Lesart trifft danach in erster Linie auf den englischen Leviathan zu, in dem Hobbes das voluntaristische Element stärker betone und seine Lehre von den natürlichen Gesetzen konsequent als ‚divine command theory‘ anlege. In den früheren Schriften gestehe Hobbes dagegen der Vernunft eine größere Bedeutung zu und greife auf den Begriff der recta ratio mitunter im Sinne eines Gesetzes oder Gesetzgebers zurück, versäume es auf diese Weise aber, eine wirklich schlagkräftige Begründung für die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze zu liefern. 6.1.6 Die traditionelle Lesart (Teil 2) Wie oben bereits deutlich geworden ist, ist die Zahl derjenigen Veröffentlichungen zur Hobbes’schen Philosophie, in denen eine direkte oder indirekte Auseinandersetzung mit der ‚Taylor-Warrender-These‘ vollzogen wird, heute kaum noch überschaubar. Anstatt die zahlreichen Studien und die jeweiligen Schlussfolgerungen einzeln vorzustellen, werde ich mich daher im Folgenden darauf beschränken, die wichtigsten Tendenzen der bisherigen TaylorWarrender-Kritik zu skizzieren und die wichtigsten Spezifizierungen und Modifikationen zu beschreiben, denen die traditionelle Lesart in der Vergangenheit unterzogen worden ist. Wie schon ausdrücklich betont, werden die zentralen Annahmen der traditionellen Lesart, zumindest in ihrer modifizierten Form, auch heute noch von der Mehrheit der Hobbes-Interpreten vertreten werden. Zu den Kritikpunkten, die in der Vergangenheit gegen die Interpretationen Taylors und Warrenders vorgebracht worden sind, gehört die Forderung nach einer strikteren Unterscheidung des vermeintlichen Gesetzescharakters _____________ 51 52

Vgl. Martinich 1992: 134. Vgl. Martinich 1999: 147f.

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6. Die natürlichen Gesetze

der natürlichen Gesetze auf der einen und der Frage ihrer Verbindlichkeit oder Verpflichtungskraft auf der anderen Seite, eine Forderung, die vor allem in der Frühzeit der Auseinandersetzung mit Warrender erhoben worden ist. Wie in den vorangegangenen Kapiteln angedeutet worden ist, begründen die Vertreter der ‚Taylor-Warrender-These‘ ihre Deutung der natürlichen Gesetze als Befehle Gottes zum Teil damit, dass die natürlichen Gesetze den Einzelnen auch im Naturzustand in gewisser Weise verpflichten, sie aber nur als Gebote einer zur Erteilung von Befehlen befugten Instanz Gesetzeskraft erlangen können und mit Blick auf den Naturzustand allein Gott als Gesetzgeber in Frage kommt. Die dabei unausgesprochen vorausgesetzte Annahme, dass die natürlichen Gesetze nur als Gesetze, d.h. nur dann, wenn ihnen im strengen Sinne Gesetzeskraft zukommt, verpflichten können, nicht aber als bloße Vernunftgebote, wird jedoch von Autoren wie Nagel, Raphael und Moore ausdrücklich in Frage gestellt,53 die allesamt der Auffassung sind, dass der Hobbes’sche Begriff der ‚obligation‘ ohne Weiteres auch dann in Hobbes’ Sinne auf die natürlichen Gesetze anwendbar bleibe, wenn es sich bei ihnen nicht wirklich um Gesetze handle. Wenn der Vorwurf, den Unterschied von Gesetzescharakter und Verpflichtungskraft ein wenig vernachlässigt und fälschlicherweise einen logischen Zusammenhang beider Aspekte unterstellt zu haben, auch berechtigt ist, so muss Taylor und Warrender doch immerhin das Verdienst zugestanden werden, im Zuge ihrer Ausführungen zur Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze die eingehendere Bestimmung des Charakters der naturgesetzlichen Verpflichtung angeregt und zudem auf einige wichtige Passagen der Hobbes’schen Schriften verwiesen zu haben, denen von den Vertretern der traditionellen Lesart mitunter zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Dies trifft vor allem auf die schon mehrfach angesprochene Passage zu, in der Hobbes den natürlichen Gesetzen eine grundsätzliche Verbindlichkeit in foro interno zuspricht. Die kritische Auseinandersetzung mit den Interpretationen Taylors und Warrenders ist auch und vor allem von einer verstärkten Auseinandersetzung mit dieser in foro interno-Geltung der Naturgesetze und mit der Frage geprägt, wie die damit von Hobbes’ anscheinend behauptete Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze angemessen interpretiert werden kann. Die meisten Vertreter der traditionellen Lesart, so beispielsweise Goldsmith, McNeilly, Gauthier und Kersting, sind in der Folgezeit der schon von Oakeshott angedeuteten Möglichkeit gefolgt, die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze als rationale Verpflichtung im Sinne einer rationalen Notwendigkeit zu deuten,54 wie sie sowohl logischen als auch unveränderlichen kausalempirischen Zusammenhängen zukommen kann. Die natürlichen Gesetze _____________ 53 54

Vgl. Nagel 1993: 122f.; Raphael 1993: 147; und Moore 1993: 238. Vgl. auch Brown 1993: 112. Vgl. Goldsmith 1966: 108; McNeilly 1968: 203; Gauthier 1969: 67f.; und Kersting 1994: 78.

6.1 Einleitung

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verpflichten den Einzelnen danach insofern, als das von allen Menschen geteilte Ziel der individuellen Erhaltung ohne Befolgung der naturgesetzlichen Gebote nicht dauerhaft verwirklicht werden kann und alle rationalen Menschen daher im Sinne ihrer eigenen Interessen objektiv zur Befolgung der Naturgesetze gezwungen sind. Eine zweite Möglichkeit, die aber dieser ersten Interpretation nicht zwangsläufig widerspricht, sondern eher als deren Ergänzung verstanden werden kann, ist kürzlich von Sprute vorgeschlagen worden. Die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze ließe sich danach gerade mit Blick auf die in foro interno-Geltung der Gesetze auch psychologisch deuten, d.h. die natürlichen Gesetze wären insofern als verpflichtend anzusehen, als ein Individuum, das die Notwendigkeit der von ihnen gebotenen Handlungsweisen konkret eingesehen hat, sich im Zuge dieser Einsicht gewissermaßen selbst verpflichtet, den natürlichen Gesetzen im Sinne der eigenen Interessen zu folgen. Auch Sprutes Interpretation zufolge kommt aber der Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze kein moralischer Charakter im strengen Sinne zu.55 In Übereinstimmung mit der hier skizzierten Sichtweise der naturgesetzlichen Verpflichtung hat es sich schon in der direkten Nachfolge Warrenders eingebürgert, den theoretischen Status der Hobbes’schen Naturgesetze mit dem Kantischen Begriff des hypothetischen Imperativs zu bestimmen, um auf diese Weise den Unterschied zwischen strikt-moralischer und nicht-striktmoralischer Verpflichtung präzise beschreiben zu können. Wie etwa Watkins und Goldsmith sowie innerhalb des deutschen Sprachraums Ilting und Röd betonen, sind die natürlichen Gesetze des Hobbes in ihrer Geltung und ihrer Verpflichtungskraft vom vorausgesetzten Zweck der Selbsterhaltung abhängig und gebieten folglich nur hypothetisch und nicht, im Sinne eines moralischen Imperativs im strengen Sinne, kategorisch.56 Watkins, der die natürlichen Gesetze vor diesem Hintergrund mit ärztlichen Vorschriften („doctor’s orders“57) vergleicht, verweist allerdings darauf, dass es sich bei ihnen immerhin um assertorisch-hypothetische Imperative handle, da der Zweck der Selbsterhaltung einer sei, den jedes Individuum mit praktischer Notwendigkeit anstrebe, und eine entsprechende Einschätzung findet sich auch bei Ilting, Weiß und Curley. Das zentrale Argument, das die Vertreter der traditionellen Lesart für ihre Deutung der natürlichen Gesetze als hypothetische Imperative und gegen die von Taylor und Warrender vertretene Deutung der Hobbes’schen Moralphilosophie als ‚divine command theory‘ ins Feld führen, besteht in dem schon _____________ 55 56

57

Vgl. Sprute 2002: 843-45. Vgl. Ilting 1964: 91; Watkins 1965: 83 und 164; Goldsmith 1966: 93f. und 108; und Röd 1970: 48. Vgl. auch McNeilly 1968: 209; Raphael 1977: 32; Weiß 1980: 173f.; Hampton 1986: 47; Curley 1989: 191; Kersting 1992: 123f. und 133; Esfeld 1995: 305; und Höffe 1996: 250. Watkins 1965: 76.

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6. Die natürlichen Gesetze

von Taylor und Warrender selbst angesprochenen Problem, dass die Individuen der Hobbes’schen Darstellung zufolge nur über sehr begrenzte Kenntnisse bezüglich der Eigenschaften Gottes verfügen können. Wie etwa Goldsmith und Oakeshott sowie kürzlich Forster hervorgehoben haben,58 sind die Menschen laut Hobbes zwar in der Lage, mit Hilfe der Vernunft auf die Notwendigkeit einer ersten Ursache zu schließen und auf diese Weise einen Begriff von Gott als dem Urheber des Universums zu entwickeln. Es sei ihnen aber nicht möglich, allein auf Grundlage der Vernunft Gott als ein Wesen zu erkennen, das den Menschen bestimmte Gesetze gegeben und an deren Nichtbefolgung bestimmte Strafen gebunden habe. Während die Menschen daher sehr wohl einsehen könnten, dass die Handlungsweisen, die in den natürlichen Gesetzen ihren Ausdruck finden, in einem notwendigen Zusammenhang zum Zweck der Selbsterhaltung stehen, vermöchten sie doch nicht zu erkennen, dass diese Handlungsweisen von Gott gefordert und daher im moralischen Sinne verbindlich seien. In deutlicher Abgrenzung von Taylor, Warrender und Martinich betonen Autoren wie Goldsmith oder auch Kavka daher, dass die Sichtweise der natürlichen Gesetze als göttliche Befehle keinesfalls als Bestandteil der Hobbes’schen ‚civil science‘ begriffen werden könne.59 Die Hobbes’schen Naturgesetze als moralisch verbindliche Befehle Gottes zu interpretieren, hieße folglich, die Lehre von den natürlichen Gesetzen und damit eines der zentralen Elemente seiner politischen Theorie aus Hobbes’ umfassenden wissenschaftlichen Projekt herauszutrennen, eine Konsequenz, die die Vertreter der traditionellen Lesart übereinstimmend als dem Hobbes’schen Selbstverständnis entgegengesetzt ablehnen. Auch mit Blick auf die theologischen Elemente der Hobbes’schen Lehre lässt sich aber insofern zweifelsfrei ein positiver Einfluss der ‚TaylorWarrender-These‘ auf die Hobbes-Forschung konstatieren, als in der Nachfolge Warrenders deutlich mehr Versuche unternommen worden sind, die Rolle Gottes und die darauf bezogenen, zuvor oftmals vernachlässigten Aussagen Hobbes’ konsequent zu hinterfragen und sie im Sinne der traditionellen Lesart zu erklären. Die Argumente, mit denen die verschiedenen Autoren Hobbes’ direkte oder indirekte Hinweise auf Gott als den Urheber der natürlichen Gesetze zu begründen versucht haben, weichen dabei zumeist nur unwesentlich voneinander ab. Die überwiegende Mehrheit der Autoren hat die Urheberschaft Gottes dahingehend zu deuten versucht, dass die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze im oben beschriebenen Sinne einer ‚rational obligation‘ sowohl von den natürlichen Eigenschaften und Neigungen des Menschen als auch von den äußeren Bedingungen des menschlichen _____________ 58 59

Vgl. Goldsmith 1966: 44, 114 und 119; Oakeshott 1975: 105ff.; und Forster 2003: 213ff.. Vgl. außerdem Watkins 1965: 94; und Kleemeier 2002: 156. Vgl. Goldsmith 1966: 44; und Kavka 1986: 361f. Vgl. zudem McNeilly 1968: 211f.; und Gauthier 1969: 69f.

6.1 Einleitung

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Handelns abhängig und wesentlich geprägt ist, die nun ihrerseits direkt auf Gott als den Schöpfer der Welt und des Menschen zurückgehen. Dass die Handlungsweisen, die von den natürlichen Gesetzen gefordert werden, von den Menschen befolgt werden müssen, liegt demzufolge daran, dass Gott die Menschen mit einem natürlichen Streben nach Selbsterhaltung ausgestattet hat und dass er darüber hinaus die Menschen und die sie umgebende Welt so eingerichtet hat, dass dieses Ziel dauerhaft nur durch Erlangung und Aufrechterhaltung des Friedens erreicht werden kann. Wie Wernham anmerkt, könne Gott zudem auch insofern als Urheber der natürlichen Gesetze gelten, als er die Menschen mit der Gabe der Vernunft versehen und ihnen damit die Möglichkeit gegeben haben, die entsprechenden Zusammenhänge einzusehen. God then is the author of the law of nature in this sense: that by determining the nature of man he has also determined certain conditions which are necessary to men’s living together in peace and lasting security, and by giving man reason he has enabled him to discover these conditions and make them into rules for his conduct.60

Unterschiedliche Einschätzungen finden sich lediglich bezüglich der Frage, ob Hobbes mit der Betonung der Urheberschaft Gottes seinen eigenen Überzeugungen Ausdruck verleihen will oder ob die entsprechenden Aussagen anders motiviert sind. Gauthier etwa wertet die Hervorhebung der Rolle Gottes als Indiz dafür, dass Hobbes sich noch nicht vollständig von der mittelalterlichen Naturrechtskonzeption emanzipiert habe und sich der eigenen Originalität gar nicht hinreichend bewusst sei.61 Andere Autoren wie Watkins und Oakeshott sehen die Hobbes’schen Aussagen zum göttlichen Charakter der Naturgesetze dagegen eher als bewussten Ausdruck des Bemühens, mit seiner Lehre eine möglichst großes Publikum, d.h. konservative wie progressive Kräfte, Christen und Deisten, Agnostiker wie Atheisten, anzusprechen und von der Notwendigkeit bürgerlichen Gehorsams zu überzeugen.62 Wieder andere Autoren deuten Hobbes’ Annäherung an traditionell-christliche Sichtweisen als Vorsichtsmaßnahme und sehen ihren Zweck vorrangig darin, Hobbes vor möglichen Verfolgungen zu schützen.63 Die wohl extremste Auffassung wird von Mintz vertreten, der Hobbes’ vermeintliche Zugeständnisse an die Tradition als Ausdruck einer bewusst ironischen Haltung versteht.64 Dass Hobbes hingegen die Sichtweise der natürlichen Gesetze als göttliche Befehle deshalb zur _____________ 60

61 62 63 64

Wernham 1965: 136. Vergleichbare Deutungen der Urheberschaft Gottes finden sich etwa bei Watkins 1965: 95; Goldsmith 1966: 113; Gauthier 1969: 71; Weiß 1980: 172; und Nunan 1989: 63. Vgl. Gauthier 1969: 70. Vgl. Watkins 1965: 94f.; und Oakeshott 1975: 117f. Vgl. beispielsweise Kavka 1986: 186. Vgl. Mintz 1962: 35.

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6. Die natürlichen Gesetze

Sprache bringt, weil er sie sich zumindest im Sinne einer außerhalb seiner wissenschaftlichen Argumentation stehenden privaten Auffassung zu eigen macht, wird vor allem von denjenigen Autoren nahelegt, die – wie beispielsweise Röd und Spragens – den natürlichen Gesetzen prinzipiell einen doppelten Status zuschreiben und sie sowohl als moralisch verbindliche Befehle Gottes als auch als Klugheitsregeln ansehen, wenn sie sie auch nur in ihrer letzteren Eigenschaft als wirklichen Bestandteil des Hobbes’schen Systems begreifen.65 Zu den Kritikpunkten, die in der Vergangenheit gegen die ‚TaylorWarrender-These‘ vorgebracht worden sind, zählt auch der Vorwurf, Taylor und Warrender interpretierten Hobbes’ Lehre in völligem Gegensatz zu dem, was dieser selbst als Wesen und Ziel seiner Theorie begriffen habe. So ist etwa darauf verwiesen worden, dass Hobbes sich ausdrücklich zu dem Vorhaben bekannt habe, die Philosophie der Moral auf gesicherte Annahmen über die menschliche Natur zu gründen. Während die traditionelle Lesart diesem Bekenntnis ohne Probleme gerecht zu werden vermag, muss die Interpretation Taylors und Warrenders ihm relativ entschieden widersprechen, so wie sie auch die Rolle, die das menschliche Selbsterhaltungsstreben im Rahmen der Hobbes’schen Argumentation spielt, trotz der häufigen Hervorhebung durch Hobbes als mehr oder minder nebensächlich begreifen muss. Die Rolle Gottes, auf die Hobbes, zumindest im Kontext seiner eigentlichen Morallehre, kaum eingehe, werde demgegenüber von Taylor und Warrender in den Vordergrund gerückt. Autoren wie Brown, Esfeld und Spragens haben deshalb die Auffassung vertreten, Taylor und Warrender würden mit ihrer Deutung die Gestalt der Hobbes’schen Theorie in letztlich unzulässiger Weise verändern. Although the Taylor-Warrender thesis has illuminated some significant aspects of Hobbes’s political theory, it has a clear tendency to change the overall image which Hobbes seemed to have of his own work. In the first place, it makes absolutely central what Hobbes deemed to be relatively peripheral – e. g. the status of laws of nature as divine commands – and makes peripheral what Hobbes deemed important – e. g. the relationship of self-interest and duty. Moreover, the whole thesis involves a laborious separation of what Hobbes equally laboriously strove to reconcile, namely his psychological postulates and his account of the origin of political obligation.66

Skinner hat ergänzend darauf verwiesen, dass Taylor und Warrender die Hobbes’sche Theorie nicht nur in starkem Gegensatz zu Hobbes’ eigenen Bekenntnissen interpretierten, sondern auch in völligem Gegensatz zu den zeitgenössischen Reaktionen, die diese Theorie hervorgerufen habe. Skinner geht in seinem Aufsatz „The context of Hobbes’s theory of political obligati_____________ 65 66

Vgl. Röd 1970: 51f.; und Spragens 1973: 116f. Spragens 1973: 31. Vgl. auch Brown 1993: 102f.; und Esfeld 1995: 285.

6.1 Einleitung

219

on“ dezidiert auf die Deutungen und Bewertungen ein, die Hobbes’ Theorie zu dessen Lebzeiten erfahren hat, und er hebt hervor, dass die ‚TaylorWarrender-These‘ letztlich nicht nur Hobbes’ Gegner, sondern alle zeitgenössischen Interpreten eines kompletten Irrtums bezichtigt. If Hobbes intended to ground political obligation on the prior obligation to obey the commands of God, then it follows, first of all, that every contemporary – every follower, every opponent, every sympathiser – all equally missed the point of his theory.67

Der Punkt, um den es Skinner dabei vor allem geht, besteht in der Tatsache, dass Hobbes den zeitgenössischen Interpretationen in der Sache zu keiner Zeit widersprochen habe. Laut Skinner hat Hobbes weder versucht, sich von den radikalen Autoren zu distanzieren, die seine Theorie als Zerstörung und Überwindung des traditionellen Naturrechts begrüßt hätten, noch habe er versucht, die zahllosen Kritiker, die seine Theorie aus eben diesem Grund als gefährliche Lehre begriffen und aufs Schärfste abgelehnt hätten, auf ihre Missverständnisse hinzuweisen und seine Theorie als diejenige traditionellchristliche Lehre auszuweisen, um die es sich bei ihr laut Warrender handle. Die vielleicht wichtigste Spezifizierung der traditionellen Lesart ist in der Vergangenheit von denjenigen Interpreten vorgenommen worden, die in zumeist ausdrücklicher Abgrenzung von Warrender die Auffassung vertreten haben, Verträge seien innerhalb des Hobbes’schen Systems zwar in der Tat als im strengen Sinne moralisch verbindlich anzusehen, diese Verbindlichkeit sei aber, anders als von Warrender behauptet, vom dritten Naturgesetz logisch unabhängig. Die Verbindlichkeit von Verträgen leitet sich nach dieser Deutung allein von der Tatsache her, dass die jeweiligen Vertragsparteien im Zuge des Vertragsschlusses einen Teil ihres natürlichen Rechtes aufgegeben und sich auf diese Weise selbst zu einer bestimmten Handlungsweise verpflichtet haben. Wie oben hervorgehoben worden ist, geht Warrenders Interpretation – und in ähnlicher Weise bereits die Interpretation Taylors – von der grundsätzlichen Überlegung aus, dass a) die positiven Gesetze des Hobbes’schen Staates den Bürger im streng moralischen Sinne verpflichten, und dass b) diese Verbindlichkeit der positiven Gesetze, die sich ja aus dem Gesellschaftsvertrag herleitet, nur dann überzeugend begründet werden kann, wenn es sich auch beim Naturgesetz pacta sunt servanda um ein im strengen Sinne verbindliches Gebot und beim Naturzustand folglich nicht um ein rechtlich-moralisches Vakuum handelt. Einige Vertreter der traditionellen Lesart haben sich dieser grundlegenden Prämisse der Warrender’schen Argumentation angeschlossen oder sie zumindest unwidersprochen gelassen. Na_____________ 67

Skinner 2002e: 282.

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6. Die natürlichen Gesetze

gel etwa bestreitet nicht nur, wie gesehen, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen um mehr als bloße Klugheitsregeln handelt, sondern er scheint auch daraus zu folgern, dass dann die Befolgung der positiven Gesetze des Staates ebenfalls nur im Sinne einer Klugheitspflicht gefordert ist,68 wobei freilich die Bürger innerhalb des Staates mit den Sanktionen des Souveräns einen wichtigen zusätzlichen Anreiz erhalten würden, den positiven Gesetzen Folge zu leisten. Die Sichtweise, dass die Pflicht zur Vertragserfüllung an das dritte Naturgesetz und damit prinzipiell an das Eigeninteresse des Handelnden gebunden ist und folglich nur den Status einer Klugheitspflicht haben kann, findet sich zudem auch bei Peters, Hampton, Loukola und Esfeld,69 die allerdings nicht immer mit der nötigen Deutlichkeit auf die Tatsache verweisen, dass bei einer solchen Interpretation auch die Gehorsamspflicht gegenüber dem staatlichen Souverän zu einer bloß prudenziellen Pflicht wird. Unter den Autoren, die die ‚Taylor-Warrender-These‘ zurückweisen und die natürlichen Gesetze als hypothetische Imperative begreifen, finden sich nun aber auch solche, die – wie vor allem Raphael, Barry und Ludwig – zwar den Naturzustand ursprünglich als ein rechtlich-moralisches Vakuum verstehen, die aber alle gültigen und freiwillig abgeschlosssenen Verträge als Ursprung strikt moralischer Pflichten ansehen und vor diesem Hintergrund auch wie Warrender den positiven Gesetzen Verbindlichkeit im strengen Sinne einer moralischen Verpflichtung zugestehen. Raphael geht dabei in seinem 1962 erschienenen Aufsatz von einer Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Verpflichtung bei Hobbes aus, nämlich zwischen „natural obligation“ auf der einen und „artificial obligation“ bzw. „covenantal obligation“70 auf der anderen Seite. Nach Raphael verpflichten die natürlichen Gesetze nur im Sinne einer nicht-strikt-moralischen „natural obligation“, die ihre Basis allein im Eigeninteresse des Handelnden habe. Verträge dagegen verpflichteten nicht nur – qua drittem Naturgesetz – im Sinne einer „natural obligation“, sondern darüber hinaus auch aus sich selbst heraus.71 So sei der Einzelne verpflichtet, seine Verträge zu erfüllen, allein weil er versprochen habe, in dieser Weise zu handeln. Wie Taylor, auf den er sich auch ausdrücklich bezieht,72 verweist Raphael in diesem Zusammenhang auf die Passagen, in denen Hobbes den Bruch eines Vertrages als in sich widersprüchliches Verhalten charakterisiert, und wie Taylor nimmt Raphael diese Passagen zum Anlass, um die Hobbes’sche Vertragstheorie in die Nähe der Kantischen Moralphilosophie zu rücken, wobei er die Verbindlichkeit der natürlichen _____________ 68 69 70 71 72

Vgl. Nagel 1993: 124. Vgl. Peters 1956: 173; Hampton 1986: 55f.; Loukola 1998: 75; und Esfeld 1995: 312-14. Vgl. auch Spragens 1973: 118f. Alles: Raphael 1993: 149. Vgl. auch Raphael 1977: 32f. Vgl. Raphael 1993: 150. Vgl. zudem Raphael 1977: 33. Vgl. Raphael 1993: 153.

6.1 Einleitung

221

Gesetze und die Verbindlichkeit von Verträgen einander noch einmal in Kantischen Termini gegenüberstellt. Hobbes’s natural or prudential obligation of course corresponds to the Kantian hypothetical imperative. Hobbes’s artificial obligation may be used to replace Kant’s categorical imperative. Like the categorical imperative, it does not depend on an ulterior end. The obligation is of a purely logical character; I am obliged to keep a promise just because it is a promise, and to break the promise would be like contradicting myself.73

Auch Barry unterscheidet einen doppelten Gebrauch des Begriffs ‚obligation‘ bei Hobbes und schreibt den Hobbes’schen Verträgen eine rechtlichmoralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zu, die von der rationalen oder prudenziellen Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze deutlich zu trennen sei.74 Wie Barry im Rahmen einer noch umfangreicheren Auseinandersetzung mit der Argumentation Warrenders hervorhebt, fordere daher die Annahme, dass es sich bei der auf den Gesellschaftsvertrag zurückgehenden Gehorsamspflicht gegenüber dem Souverän und seinen Gesetzen um eine Pflicht im strengen Sinne handle, keineswegs, auch den natürlichen Gesetzen einen entsprechenden Status zuzugestehen. Barry stützt seine Interpretation der Hobbes’schen Verträge als aus sich heraus verbindlich vor allem auf eine Passage im englischen Leviathan, in der Hobbes eine formale Definition des Begriffs ‚obligation‘ liefert und eine Person ausdrücklich dann als ‚obliged‘ oder ‚bound‘ bezeichnet, wenn sie im Zuge eines Vertrages einen Teil ihres natürlichen ‚Rechts auf alles‘ aufgegeben hat.75 Schon bei Barry finden sich Andeutungen, die nahelegen, dass es sich bei der Position des englischen Leviathan um eine Neuerung gegenüber der Argumentation der Elements und von De Cive handelt, und es ist eben diese These einer signifikanten Akzentverschiebung innerhalb der Vertrags- und Verpflichtungstheorien der Hobbes’schen Schriften, die Ludwig ausdrücklich in den Mittelpunkt seiner Ausführungen rückt. Ludwig sieht wie Raphael und Barry und in ihrer Nachfolge einige weitere Interpreten die Hobbes’schen Verträge als aus sich heraus verpflichtende Rechtsfiguren, deren strikte rechtlich-moralische Verbindlichkeit nicht von der Geltung des dritten Naturgesetzes abhängig ist,76 und er nimmt vor diesem Hintergrund in ähnlicher Weise wie Raphael eine strikte Trennung der Hobbes’schen Moralphilosophie, d.h. der Lehre von den natürlichen Gesetzen, auf der einen und der Hobbes’schen Vertragstheorie auf der anderen Seite vor.77 Er ergänzt die Interpre_____________ 73 74 75 76 77

Raphael 1993: 153. Vgl. Barry 1993: 189f. Vgl. Barry 1993: 177. Vgl. Ludwig 1998: 237. Vgl. Ludwig 1998: 235; und Ludwig 2000: 20f.

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tation Raphaels aber insofern um eine entwicklungsgeschichtliche These, als er betont, die betreffende Trennung würde von Hobbes erst im englischen Leviathan mit letzter Konsequenz umgesetzt.78 Zudem weicht er insofern von Raphaels Interpretation ab, als er mit Blick auf den englischen Leviathan nicht wie dieser zwischen zwei verschiedenen Arten von ‚obligation‘ unterscheidet, sondern die Behauptung aufstellt, Hobbes verzichte dort im Rahmen seiner Beschreibung der natürlichen Gesetze nahezu vollständig auf den Begriff ‚obligation‘,79 d.h. er weise die natürlichen Gesetze überhaupt nicht mehr als verpflichtend aus, auch nicht im Sinne einer ‚natural obligation‘ oder ‚rational obligation‘. Der Begriff der Verpflichtung, auf den Hobbes in den Elements und in De Cive noch zur Charakterisierung der natürlichen Gesetze zurückgegriffen hat, findet danach im englischen Leviathan ausschließlich im Rahmen der Vertragstheorie Verwendung. Ludwig spricht daher, obwohl er die zentralen Annahmen Raphaels teilt, dessen Begriffsunterscheidung mit Blick auf den englischen Leviathan indirekt ihre Gültigkeit ab. Es gibt im englischen Leviathan nach Ludwigs Auffassung keinen doppelten Begriff von ‚obligation‘ und keine Verpflichtungstheorie, die Moraltheorie und Vertragstheorie gleichermaßen durchzöge, sondern es gibt den Begriff ‚obligation‘ nur noch im Sinne der vertraglichen Selbstverpflichtung und folglich eine autonome und in sich geschlossene Verpflichtungstheorie, die gänzlich in der Hobbes’schen Vertragstheorie aufgeht. Der Existenz der von Raphael, Barry und Ludwig vertretenen Variante der traditionellen Lesart soll im Folgenden insofern Rechnung getragen werden, als die Hobbes’sche Vertragstheorie nicht im Kontext der Lehre von den natürlichen Gesetzen analysiert werden wird, sondern im Rahmen eines eigenständigen Kapitels. Gerade angesichts der bereits angedeuteten Tatsache, dass die Deutung der Hobbes’schen Verträge als aus sich selbst heraus verbindliche Rechtsfiguren gegenwärtig eine zunehmende Zahl von Anhängern findet,80 scheint es mir angemessen, zuerst den Status und den Verpflichtungscharakter der Hobbes’schen Naturgesetze zu untersuchen und erst in einem zweiten, davon zu unterscheidenden Schritt zu fragen, welchen Status und welche Verbindlichkeit Hobbes den von ihm so ausführlich beschriebenen ‚contracts‘ und ‚covenants‘ zuschreibt und ob er diese Verbindlichkeit als von der Geltung des dritten natürlichen Gesetzes unabhängig versteht.

_____________ 78 79 80

Vgl. Ludwig 1998: 246. Vgl. Ludwig 1998: 251. Vgl. etwa Ewin 1991; Curran 2002; LeBuffe 2003; und Harvey 2004.

6.1 Einleitung

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6.1.7 Die natürlichen Gesetze als strikt verpflichtende säkulare Moralgesetze Die Feststellung einer fortdauernden Relevanz der von Taylor und Warrender aufgeworfenen Fragen ist oben unter anderem mit dem Hinweis begründet worden, dass in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von Autoren, zum Teil unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Arbeiten Taylors und Warrenders, den Versuch unternommen hat, die Hobbes’schen Naturgesetze auch ohne Rückgriff auf einen göttlichen Gesetzgeber als im strengen Sinne moralisch verbindlich auszuweisen und die traditionelle Deutung der natürlichen Gesetze als hypothetische Imperative nachdrücklich in Frage zu stellen. Es liegt nahe, das Aufkommen der betreffenden Interpretationen auf die kritischen Bewertungen zurückzuführen, die die ‚Taylor-Warrender-These‘ in ihrer ursprünglichen Form erfahren hat, und insbesondere auf jene, die um die Frage kreisen, inwieweit die natürlichen Gesetze als – gegebenenfalls sanktionierte – Befehle Gottes überhaupt erkannt werden können. Es muss dabei aber betont werden, dass schon Warrender selbst, und zwar vor allem in einigen seit den 1960er Jahren erschienenen Aufsätzen,81 explizit auf die Möglichkeit einer derartigen säkularen Deutung der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze verwiesen hat. Warrender stützt seine Behauptung, die Hobbes’schen Naturgesetze begründeten auch unabhängig von der Autorschaft Gottes ein System strikt moralischer Verpflichtung und ließen sich ohne Weiteres als ein „body of natural law having self-evident or intrinsic authority“82 begreifen, vor allem auf die Tatsache, dass die natürlichen Gesetze von Hobbes in allen seinen Werken als Ausdruck oder Anwendung der allgemeinen Regel ‚Do as you would be done by‘ präsentiert werden. Nach der Deutung, die Warrender nun auf Grundlage der bereits in seiner Monographie enthaltenen Hinweise vertritt,83 handelt es sich bei den Hobbes’schen Aussagen zur Urheberschaft Gottes um eine Art Meta-Struktur („superstructure“84), die der eigentlichen Lehre von den natürlichen Gesetzen gleichsam aufgepfropft und von Hobbes auch deutlich hervorgehoben werde, die sich aber im Prinzip durchaus aus Hobbes’ Argumentation entfernen ließe, ohne dass die natürlichen Gesetze ihren grundsätzlichen Status als im strengen Sinne verbindliche Moralgesetze einbüßen würden. Zu den Autoren, die dieser von Warrender vorgeschlagenen säkularen Interpretation gefolgt sind, zählt in erster Linie Harvey, der sich nicht nur ausdrücklich auf Warrender und Taylor bezieht, sondern der seine Deutung _____________ 81 82 83 84

Vgl. Warrender 1965; Warrender 1969; Warrender 1987; Warrender 1993a; und Warrender 1993b. Warrender 1965: 90. Vgl. dazu Warrender 1961: 300ff. Warrender 1993b: 136.

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auch wie Warrender auf die hervorgehobene Stellung gründet, die Hobbes im Rahmen seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen der Goldenen Regel zugesteht. Harvey folgt Taylors und Warrenders Lesart dabei auch insofern, als er zwischen zwei strikt zu trennenden Argumentationslinien bei Hobbes unterscheidet: der Darlegung möglicher Motive für die Erfüllung einer Verpflichtung („motivational justification“85) auf der einen und der Darlegung der eigentlichen Gründe für diese Verpflichtung („normative justification“86) auf der anderen Seite. Wie Taylor und Warrender ist Harvey der Meinung, dass den Klugheitserwägungen, mit denen Hobbes im Rahmen seiner Theorie operiert, prinzipiell nur die Funktion zukommt, Motive für die Befolgung der natürlichen oder bürgerlichen Gesetze zu schaffen, also gleichsam eine Antwort auf die Frage „Why ought I to do as I ought?“ zu geben.87 Für die Frage nach dem Grund des eigentlichen Sollens, d.h. für die Frage „What ought I to do?“, haben die Ausführungen zur Selbsterhaltung dagegen nach Harvey keine Relevanz: Dass die Naturgesetze gelten und dass der Einzelne verpflichtet ist, ihnen zu gehorchen, liege nicht daran, dass ihre Befolgung dem eigenen Interesse diene, sondern daran, dass ihnen eine strikte moralische Verbindlichkeit zukomme. Als Grundlage dieser moralischen Verbindlichkeit fungiert nun laut Harvey die negative Formulierung der Goldenen Regel. Hobbes, although barely acknowledged in the literature, makes the Negative Golden Rule a cornerstone of his theory of morals. He views this rule as a self-evident ethical principle whereby the Laws of Nature are endowed with justificatory force.88

Die Goldene Regel stellt dabei nach Harveys Auffassung eine Art normativer Meta-Regel dar, die innerhalb des Hobbes’schen Systems eine Rolle einnimmt, wie sie der kategorische Imperativ innerhalb des Kantischen Systems einnimmt: Mit Hilfe der Goldenen Regel lasse sich prüfen, welche Handlungen als moralisch richtig und welche als moralisch falsch anzusehen sind, und es sei die Vereinbarkeit mit der Goldenen Regel, die die in den natürlichen Gesetzen umschriebenen Verhaltensweisen zu Geboten der Vernunft im Sinne verpflichtender Moralgesetze mache.89 Ein wichtiger Unterschied zwischen der Interpretation Harveys und der Interpretation Warrenders besteht allerdings darin, dass Harvey anders als Warrender und in Übereinstimmung mit Taylor davon ausgeht, dass die Hobbes’schen Individuen die von den natürlichen Gesetzen auferlegte moralische Pflicht um der Pflicht willen erfüllen können, sie also grundsätzlich zu _____________ 85 86 87 88 89

Harvey 1999: 34. Harvey 1999: 35. Vgl. Harvey 1999: 35. Harvey 1999: 39f. Vgl. Harvey 1999: 41, 44 und 46.

6.1 Einleitung

225

einem ‚Handeln aus Pflicht‘ in der Lage sind.90 Für Harvey kommt dem Selbsterhaltungsstreben und dem Eigeninteresse daher letztlich weder im Rahmen der „normative justification“ noch im Rahmen der „motivational justification“ eine wirklich tragende Rolle zu.91 Dass Hobbes im Rahmen der „motivational justification“ auch auf das natürliche Streben nach Selbsterhaltung abhebt, liegt danach nicht daran, dass die Hobbes’schen Individuen prinzipiell nur durch egoistische Erwägungen zu pflichtgemäßem Handeln bewegt werden können, sondern allein daran, dass die meisten Menschen faktisch nur dann ihre Pflichten erfüllen werden, wenn sie durch solche weitergehenden Anreize dazu gebracht werden.92 Die Auffassung, der Goldenen Regel komme innerhalb der Hobbes’schen Moralphilosophie eine entscheidende Funktion zu, ist kürzlich auch von Lloyd vertreten worden. Den Ausgangspunkt von Lloyds Ausführungen bildet die Frage, warum das Hobbes’sche Naturgesetz die allgemeine Aufgabe des natürlichen Rechts und den Abschluss des Gesellschaftsvertrages gebieten kann. Nach Lloyd vermag das grundlegende erste natürliche Gesetz die Notwendigkeit dieser Rechtsaufgabe, die im abgeleiteten zweiten natürlichen Gesetz ihren Ausdruck findet, nicht hinreichend zu begründen. Das erste natürliche Gesetz schreibe dem Einzelnen zwar vor, den Frieden zu suchen und damit einen Zweck anzustreben, zu dem der Gesellschaftsvertrag ein notwendiges Mittel darstelle. Es gelte aber im Naturzustand nicht kategorisch, so dass sich die faktische Notwendigkeit des Vertragsabschlusses nicht vollständig aus dem Gebot der Friedenssuche herleiten lasse. Die Hobbes’sche Behauptung, die Unterwerfung unter einen fremden Willen stelle ein Gebot der natürlichen Gesetze dar, lässt sich laut Lloyd nur dann rechtfertigen, wenn man die natürlichen Gesetze konsequent als Ausdruck der Goldenen Regel versteht, wie Hobbes dies in seiner „summary formulation“ der Naturgesetze andeute. We could appeal to this summary formulation of the laws of nature (hereafter SF) to argue that if we want others to submit to political authority (as we must, if we are to avoid the incommodities of a state of nature) we must do so as well. This sort of reasoning could ground a natural law duty to submit to political authority.93

Dass die Goldene Regel eine solche Rolle einzunehmen vermag, hängt demnach damit zusammen, dass sie universalisierbares Verhalten gebietet und das betreffende Gebot nicht, wie das Gebot der Friedenssuche, im Hinblick auf konkrete Handlungssituationen eingeschränkt wird. Verzichte man auf den Rückgriff auf die Goldene Regel, dann gebiete das erste Naturgesetz lediglich, _____________ 90 91 92 93

Vgl. Harvey 1999: 47f. Vgl. Harvey 1999: 51. Vgl. Harvey 1999: 48f. Lloyd 2001: 290.

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den Frieden zu suchen, wenn alle anderen es auch tun, und entsprechend gebiete das zweite Naturgesetz nur dann effektiv, das ‚Recht auf alles‘ aufzugeben und Verträge zu schließen, wenn alle anderen ebenso handelten. Führe man die Naturgesetze aber auf die Goldene Regel zurück, dann schrieben sie dem Einzelnen vor, die Ausführung kriegerischer Handlungen schon dann zu unterlassen und auf die Beibehaltung des ‚Rechts auf alles‘ schon dann zu verzichten, wenn er nicht wolle, dass die anderen Individuen kriegerische Handlungen ausführen oder das ‚Recht auf alles‘ beibehalten. Lloyds Deutung kann jedoch letztlich nicht in der gleichen Weise wie die Interpretation Harveys direkt in die Tradition der ‚Taylor-Warrender-These‘ eingereiht werden, da Lloyd hinsichtlich der Frage, welche Art von Verpflichtung aus den Naturgesetzen bzw. aus deren „summary formulation“ erwächst, eine eindeutige Festlegung vermeidet und explizit betont, die von ihr vorgetragene Interpretation könne akzeptiert werden, ohne dass damit zugleich ein Urteil darüber getroffen werden müsste, welcher Status den Naturgesetzen zuzusprechen sei.94 Lloyd gesteht aber immerhin zu, dass die Hobbes’sche Einbeziehung der Goldenen Regel es aus ihrer Sicht als fragwürdig lasse, ob die natürlichen Gesetze im Sinne der traditionellen Lesart als Gebote der instrumentellen Vernunft im Dienste des Eigeninteresses verstanden werden können.95 Zu den Autoren, die Taylors und Warrenders Betonung der Rolle Gottes zurückweisen, aber in den natürlichen Gesetzen dennoch mehr sehen als bloße hypothetische Imperative im Dienste der Selbsterhaltung, sind aus meiner Sicht auch diejenigen Interpreten zu zählen, die wie etwa Gert und Curthoys das Ziel der Selbsterhaltung als eine Art telos verstehen, das dem Einzelnen von seiner Vernunft gleichsam kategorisch vorgeschrieben wird. Beide Autoren wählen freilich insofern einen gänzlich anderen Ansatzpunkt als Taylor, Warrender oder Harvey, als sie mit Blick auf die Anordnung der Hobbes’schen Theorie nicht die Position vertreten, den anthropologischen Annahmen komme keine entscheidende Funktion innerhalb der Hobbes’schen Argumentation zu, sondern dem Streben nach Selbsterhaltung ganz im Gegenteil eher eine noch fundamentalere Rolle zuweisen, als sie ihr schon von den Vertretern der traditionellen Lesart zugestanden wird. Der zentrale Aspekt der Interpretation Gerts besteht in der Leugnung der Behauptung, der Hobbes’schen Theorie liege ein ausschließlich instrumenteller Vernunftbegriff zugrunde. Nach Gert ist die Vernunft für Hobbes weder vorrangig damit befasst, Mittel zu vorgegebenen Zwecken aufzufinden, noch damit, Folgerungen aus vorgegebenen Begriffen zu deduzieren. Die primäre Rolle der Vernunft bestehe vielmehr darin, dass sie dem Einzelnen ein be_____________ 94 95

Vgl. Lloyd 2001: 303. Vgl. Lloyd 2001: 293.

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stimmtes Handlungsziel vorschreibe, und zwar das der Selbsterhaltung: Weit davon entfernt, lediglich der Sklave der Leidenschaften zu sein, setze die Vernunft bei Hobbes aus sich selbst heraus einen Zweck, der prinzipiell für alle Menschen gleich und für alle Menschen gleichermaßen verbindlich sei. For Hobbes, natural reason provides a genuine guide to conduct, one applicable to all rational persons; it is not merely a method whereby each person attempts to harmonize or maximize his particular passions. For Hobbes, reason is not, or at least should not be, the slave of the passions, rather the passions are to be controlled by reason.96

Gert bestreitet dabei nicht, dass der Vernunft bei Hobbes auch die Rolle zukommt, die zur Selbsterhaltung notwendigen Mittel und Wege aufzuzeigen und dem Einzelnen zu erkennen zu geben, was er tun muss, wenn er bestimmte Ziele erreichen will. Er weist lediglich die Annahme zurück, dass es allein die Leidenschaften seien, die diese Ziele vorgeben: Der Einzelne werde nicht nur durch seine Leidenschaften und eine im Dienste dieser Leidenschaften stehende Vernunft geleitet, sondern durch eine natürliche Vernunft, die – unabhängig von den Leidenschaften – ein eigenes Ziel formuliere und sich ihrerseits menschlicher Vernunftfähigkeiten bediene. Die Hobbes’sche Konzeption der menschlichen Vernunft ist nach Gerts Interpretation also ungleich komplexer, als dies traditionellerweise angenommen worden ist. Es ist dieses vermeintliche Scheitern, den Hobbes’schen Vernunftbegriff angemessen bestimmt zu haben, das nach Meinung Gerts zu einem falschen Verständnis der Hobbes’schen Moralphilosophie geführt hat.97 Eine Interpretation wie die von Gert entwickelte macht es offensichtlich unmöglich, Hobbes’ natürliche Gesetze als bloße hypothetische Imperative zu begreifen. Die von den natürlichen Gesetzen formulierten Pflichten stehen zwar auch seiner Interpretation nach im Dienste eines übergeordneten Zwecks, nämlich im Dienste der Selbsterhaltung. Dieser Zweck erhält über den Rückgriff auf die zwecksetzende natürliche Vernunft jedoch selbst den Charakter einer Vernunftpflicht. Die Vernunft gebietet demnach nicht nur deshalb bestimmte Handlungsweisen, weil diese der Selbsterhaltung als einem Zweck dienen, den der Mensch aufgrund seiner Leidenschaften anstrebt, sondern sie gebietet zunächst das Streben nach Selbsterhaltung selbst und erst in einem zweiten Schritt die dazu konkret erforderlichen Handlungen. Gert versteht die natürlichen Gesetze daher letztlich als kategorische Gebote. Reason’s dictates are categorical; it would be a travesty of Hobbes’s view to regard the dictates of reason as hypothetical judgements addressed to those men whose desire for their own preservation happens to be greater than any conflicting desire.98

_____________ 96 97 98

Gert 2001: 253. Vgl. Gert 2001: 249. Gert 2001: 255.

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Man mag nun einwenden, dass den natürlichen Gesetzen des Hobbes, selbst wenn sie sich in dieser Weise auf eine Pflicht zur Selbsterhaltung zurückführen lassen, nicht allein deshalb ein moralischer Charakter im strengen Sinne zukommt, weil sie kategorisch gelten. Die Ausführungen Gerts legen aber nahe, dass er den natürlichen Gesetzen eben diesen Charakter zusprechen will, wobei die Argumentation Gerts allerdings nicht immer ganz eindeutig ist. Deutliche Parallelen zur Position Gerts weist die Argumentation von Curthoys auf. Curthoys versucht in seinem Aufsatz „Thomas Hobbes, the Taylor thesis and Alasdair MacIntyre“ eine Interpretation der Hobbes’schen Moraltheorie zu entwickeln, die die Annahme, Hobbes’ Moraltheorie werde aus einer Theorie über die menschliche Natur abgeleitet, mit der Annahme verbindet, die natürlichen Gesetze verfügten über einen moralischen Charakter im strengen Sinne. Curthoys‘ Ziel ist es nicht zuletzt, auf diese Weise zwischen der traditionellen Lesart und der ‚Taylor-Warrender-These‘ zu vermitteln.99 Curthoys stützt sich dabei auf die ausdrückliche Behauptung, die Selbsterhaltung nehme bei Hobbes die Rolle eines aristotelischen telos ein.100 Die natürlichen Gesetze sind danach deshalb im strengen Sinne moralisch verbindlich, weil sie aus einem Naturbegriff abgeleitet werden, der selbst normative Züge trägt: Laut Curthoys geht Hobbes von einem wahren Wesen des Menschen aus, das diesem von seiner Natur als Ziel, und d. h. als Pflicht, vorgegeben wird, und die natürlichen Gesetze sind insofern moralische Regeln, als sie der Erreichung dieses wahren Wesens dienen bzw. die dazu konkret notwendigen Handlungen vom Einzelnen fordern. In den Kontext derjenigen Interpretationen, die die Hobbes’schen Naturgesetze als säkulare Moralgesetze im Sinne streng verpflichtender Vernunftgebote verstehen, lässt sich zu guter Letzt auch die schon hinreichend diskutierte rechtstheoretische Lesart einordnen, da es sich auch bei Geismanns, Herbs und Hünings Interpretation um eine Deutung handelt, nach der die traditionelle Interpretation der natürlichen Gesetze als hypothetische Imperative als unangemessen zurückzuweisen ist, wenn Geismann, Herb und Hüning selbst diese Folgerung auch nicht immer mit der nötigen Konsequenz ziehen. Wenn es sich bei der Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand, die ja in den natürlichen Gesetzen ihren Ausdruck findet, um eine Rechtspflicht handelt, und zwar um eine solche, die allein aus der Widersprüchlichkeit des natürlichen ‚Rechts aller auf alles‘ folgt und in ihrer Geltung sowohl von der Theologie als auch und vor allem von der Hobbes’schen Anthropologie unabhängig ist,101 dann kann kaum an der _____________ 99 Vgl. Curthoys 1998: 4. 100 Vgl. Curthoys 1998: 16. 101 Vgl. dazu etwa Geismann/Herb 1988: 52f. und 226f.

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Sichtweise festgehalten werden, die natürlichen Gesetze verpflichteten den Einzelnen nur im Sinne hypothetischer Imperative und seien vom vorausgesetzten Zweck der Selbsterhaltung abhängig. Vielmehr müsste es sich bei den Hobbes’schen ‚dictates of reason‘ dann um Vernunftgesetze handeln, denen eine strikt moralische Verbindlichkeit zukommt, und so finden sich denn auch sowohl bei Geismann als auch bei Hüning Stellen, an denen ein solches Verständnis der natürlichen Gesetze mit Nachdruck vertreten wird. Geismann etwa hebt in seinem Aufsatz „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ ausdrücklich hervor, dass es sich bei dem Hobbes’schen Vernunftgebot keineswegs um eine bloße Klugheitsregel oder einen hypothetischen Imperativ, sondern vielmehr um einen kategorischen Imperativ handle, dem – wie bei Kant – das Recht zum diesbezüglichen Zwang anderer korrespondiere.102 Und auch Hüning sieht die Hobbes’schen Naturgesetze als direkte Folgerungen aus der juridischen Widersprüchlichkeit des Naturzustandes und billigt ihnen eine Verbindlichkeit im Sinne eines kategorischen Imperativs zu: Die natürlichen Gesetze sind danach der menschlichen Willkür prinzipiell entzogen; sie stellen deshalb keine hypothetischen Imperative oder Klugheitsregeln dar, sondern a priorisch geltende Vernunftgebote.103 Diese eindeutige Absetzung von der traditionellen Lesart wird aber von beiden Autoren, und in ähnlicher Weise auch von Herb, durch gegenteilige Aussagen wieder in Frage gestellt. Geismann und Herb gestehen in ihren Scholien zu Hobbes’ De Cive zu, dass das erste Naturgesetz vom Zweck der Selbsterhaltung abhängig sei und ihm deshalb bloß hypothetische Geltung zukomme;104 Herb behauptet gar, obwohl auch er den rechtlich notwendigen Ausgang aus dem Naturzustand als Inhalt einer „naturgesetzlichen Verpflichtung“105 begreift, die natürlichen Gesetze hätten im Naturzustand keinerlei Verpflichtungscharakter;106 und Hüning behauptet, der Eintritt in den bürgerlichen Zustand bleibe – obwohl den Naturgesetzen und der darin formulierten exeundum-Forderung seiner Meinung nach, wie gesehen, a priorische Geltung zukommt – von Klugheitserwägungen des Einzelnen abhängig.107 Da auch unabhängig von diesen augenscheinlichen Widersprüchen die Annahmen der rechtstheoretischen Lesart bereits hinreichend in Frage gestellt worden sind, soll jedoch im Rahmen der Diskussion der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen auf die spezifische Deutung Geismanns, Herbs und Hünings nicht mehr eigens eingegangen werden. _____________ 102 103 104 105 106 107

Vgl. Geismann 1982: 167. Hüning 1995: 770. Vgl. Geismann/Herb 1988: 223. Herb 1989: 19. Herb 1989: 23. Vgl. Hüning 1995: 765f.

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6. Die natürlichen Gesetze

6.1.8 Die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen als tugendethische Theorie Es bleibt abschließend noch kurz auf eine Interpretation der Hobbes’schen Naturgesetze einzugehen, die die Diskussion um Hobbes’ Lehre gerade in der jüngeren Vergangenheit stark geprägt hat, die aber nicht ohne Weiteres in den Zusammenhang der Taylor-Warrender-Kritik eingeordnet werden kann. Es handelt sich dabei um die von Autoren wie Gert, Ewin, Boonin-Vail und Berkowitz vertretene tugendethische Lesart, nach der es sich bei der Hobbes’schen Lehre der natürlichen Gesetze vorrangig um eine Theorie der ‚virtues‘ und ‚vices‘ handelt. Die betreffende Deutung der natürlichen Gesetze geht nicht mit einer bestimmten Position hinsichtlich des primären Status der natürlichen Gesetze einher, sondern stellt eher eine ergänzende Bewertung der Hobbes’schen Moralphilosophie dar, die zu den basalen Annahmen bezüglich der Geltung und Verbindlichkeit der Hobbes’schen Naturgesetze hinzutritt, und diese Tatsache zeigt sich auch daran, dass die oben genannten Autoren bezüglich der grundsätzlichen Frage, ob es sich bei den natürlichen Gesetzen um im strengen Sinne moralisch verbindliche Vernunftgesetze oder um bloße Klugheitsgebote handelt, nicht immer übereinstimmen. Die Auffassung, dass es Hobbes im Rahmen seiner Theorie der natürlichen Gesetze nicht in erster Linie um die Beschreibung einzelner Handlungen und die Formulierung bestimmter Handlungsregeln geht, sondern vielmehr um die Beschreibung und Bewertung bestimmter Sitten und Charaktermerkmale, und zwar solcher, die dem friedlichen Zusammenleben der Menschen förderlich und daher als Tugenden anzusehen sind, ist zunächst vor allem von Gert vertreten worden.108 Gert konzentriert sich allerdings bei seiner Untersuchung auf einen bestimmten Teil der Hobbes’schen Naturgesetze, nämlich auf diejenigen Gesetze, die Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Gefälligkeit, Barmherzigkeit und Billigkeit vorschreiben, sowie auf jene, die Grausamkeit, Verächtlichkeit, Stolz und Arroganz verbieten. Laut Gert zeigt die Hobbes’sche Behandlung dieser natürlichen Gesetze nicht nur, dass er die von ihnen geforderten Verhaltensweisen als Tugenden versteht. Sie zeige auch, dass er diese Tugenden als moralische Tugenden begreife und präsentieren wolle und dass er sie deshalb in diesem Sinne verstehe, weil sie nicht vorrangig dem Interesse der Person dienten, die über diese Tugenden verfüge, sondern dem Interesse der Gemeinschaft, indem sie nämlich einen entscheidenden Beitrag zur Aufrechterhaltung des Friedens leisteten.109 Ewin erweitert in seiner 1991 erschienenen Monographie die Deutung Gerts insofern, als er alle Naturgesetze, die Hobbes beschreibt, als Charakter_____________ 108 Vgl. Gert 1988: 28. 109 Vgl. etwa Gert 1988: 42-44.

6.1 Einleitung

231

eigenschaften („qualities“110) interpretiert, die die Menschen zum Leben in der Gemeinschaft geeignet machen, und Hobbes vor diesem Hintergrund konsequent als „virtues theorist“111 begreift. Ewin geht dabei von der Voraussetzung aus, dass es sich beim Hobbes’schen Naturzustand vorrangig um ein hypothetisches Konstrukt handelt. Die Ableitung der einzelnen Naturgesetze als derjenigen Regeln, deren Befolgung zur Überwindung des Naturzustandes notwendig ist, ist danach lediglich Teil einer vorrangig der Veranschaulichung dienenden hypothetischen Menschheitsgeschichte. Im eigentlichen Sinne stellten die von Hobbes beschriebenen Naturgesetze aber diejenigen Charakterzüge und Gewohnheiten dar, die innerhalb eines bereits bestehenden Staates der Erhaltung des Friedens dienen, und in dieser Eigenschaft, und nicht in ihrer Eigenschaft als Regeln der Vernunft, komme ihnen im Rahmen der Hobbes’schen Theorie ihre zentrale Bedeutung zu. The laws of nature are set out by Hobbes initially as those rules on which people must agree if they are to leave the radically individualist natural condition. Because that radically individualist natural condition never did exist and never could have existed, the laws of nature must actually be taken as something else: as those qualities of character that enable us to live as we do and not in the radically individualist natural condition.112

Auch Boonin-Vail versteht die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen in erster Linie als „theory of moral virtue“113. Stärker als Ewin betont Boonin-Vail jedoch den präskriptiven Charakter der Hobbes’schen Tugendethik, die letztlich in der Aufforderung kulminiere, eine Disposition zum Handeln aus Pflicht bzw. zum Handeln um der Gerechtigkeit willen zu entwickeln. [...] Hobbes is best understood as a sort of virtue ethicist, and a very interesting sort, one who provides a distinctive and powerful defense of the role that the virtues play in human flourishing, and of the person who by nature is disposed to do the right thing, and to enjoy so, not for any benefits which might thereby be gained, but simply because it’s the right thing to do.114

Anders als Ewin scheint Boonin-Vail zudem davon auszugehen, dass die entsprechenden Handlungsanweisungen prinzipiell auch für den Naturzustand Gültigkeit beanspruchen. Die Frage, warum der Einzelne im Sinne seines eigenen Interesses eine Disposition zu tugendhaftem Verhalten kultivieren sollte, versucht Boonin-Vail zu beantworten, indem er aus den Hob_____________ 110 111 112 113 114

Ewin 1991: 147. Ewin 1991: 200. Ewin 1991: 150. Boonin-Vail 1994: 14. Boonin-Vail 1994: 58.

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6. Die natürlichen Gesetze

bes’schen Ausführungen zwei mögliche Argumente für die Vernünftigkeit einer solchen Verhaltensweise rekonstruiert. Die Grundannahme des ersten Argumentes, das Boonin-Vail unter den Begriff „argument from revealed disposition“115 fasst, besteht in der Annahme, dass sich die wahre charakterliche Disposition eines Menschen durch sein Verhalten zwangsläufig seinen Mitmenschen mitteilen wird – selbst dann, wenn er aufgrund von Klugheitsüberlegungen meist in Übereinstimmung mit seinen Pflichten agiert –, und dass letztlich nur solche Individuen dauerhaft von den Vorteilen der Kooperation mit anderen profitieren werden, die über wahrhaft tugendhafte Neigungen verfügen und sich daher nach und nach die Reputation eines rechtschaffenen Menschen erwerben. Das zweite Argument, das Boonin-Vail als „argument from habituation“116 bezeichnet, geht ebenfalls von der Voraussetzung aus, dass die Menschen zur Erfüllung ihrer Interessen prinzipiell der Kooperation mit anderen bedürfen und dass sie nur dann in den Genuss einer solchen Kooperation kommen werden, wenn sie häufig tugendhafte Handlungen ausführen. Die eigentliche Begründung für die Notwendigkeit einer tugendhaften Disposition lautet im Rahmen dieses zweiten Argumentes jedoch, dass die Individuen nur dann überhaupt sicherstellen können, häufig in äußerer Übereinstimmung mit ihren Pflichten zu agieren, wenn sie eine Disposition zum pflichtgemäßen Handeln entwickeln. Der letzte Autor, der mit Nachdruck das Bild von Hobbes als einem Theoretiker der Tugenden gezeichnet hat, ist Berkowitz. Berkowitz gesteht zwar zu, dass der Gesamtzusammenhang der Hobbes’schen Philosophie einer tugendethischen Position zunächst entgegengesetzt zu sein scheint. Er betont aber, dass nur dann eine wirkliche Spannung zwischen einer tugendethischen Theorie und dem Hobbes’schen System bestünde, wenn der Begriff der Tugend im Sinne der menschlichen Vervollkommnung verstanden werde. Eine Auffassung, nach der menschliche Tugend in bestimmten Eigenschaften des Charakters und des Geistes bestehe, auf die die Menschen zum Zwecke der Erlangung ihrer faktischen Ziele notwendig angewiesen seien, sei aber ohne Weiteres mit der Hobbes’schen Philosophie vereinbar.117 Wie Berkowitz in ähnlicher Weise wie seine Vorgänger betont, stelle nun der Frieden in Hobbes’ politischer Theorie den Zustand dar, in dem die Individuen ihr grundlegendstes Interesse, nämlich das Interesse an der eigenen Erhaltung, am besten realisieren könnten. Bei den natürlichen Gesetzen, die den Weg zur Erlangung des Friedens beschreiben, handle es sich im oben skizzierten Sinne um diejenigen Charaktereigenschaften, über die die Menschen verfügen müssten, _____________ 115 Boonin-Vail 1994: 145. 116 Boonin-Vail 1994: 160. 117 Vgl. Berkowitz 1999: 37f.

6.1 Einleitung

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um den Zustand des Friedens und damit die Realisierung ihrer Interessen langfristig sicherstellen zu können.118 Die deutliche Hervorhebung des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens legt bereits nahe, dass Berkowitz den Tugenden, die Hobbes im Rahmen seiner Lehre von den Naturgesetzen beschreibt, keine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zuschreibt. In der Tat lässt Berkowitz keinen Zweifel daran, dass die natürlichen Gesetze als hypothetische Imperative ihre Geltung allein aus dem menschlichen Eigeninteresse beziehen, und so weist er auch die ‚Taylor-Warrender-These‘ explizit zurück.119 Wie vor ihm bereits Boonin-Vail, sieht Berkowitz in der fundamentalen Rolle des Eigeninteresses und des Strebens nach Selbsterhaltung aber keinen Grund, den natürlichen Gesetzen und den Tugenden, die in diesen Gesetzen ihren Ausdruck finden, jeglichen moralischen Charakter abzusprechen. So nimmt er auf die Charaktereigenschaften, die der Aufrechterhaltung des Friedens unter den Menschen förderlich sind, auch konsequent mit dem Begriff „moral virtues“120 Bezug. Eine Besonderheit der Ausführungen Berkowitzs besteht darin, dass er stärker als die zuvor genannten Autoren auf die Rolle des staatlichen Souveräns eingeht und hervorhebt, dass ein dauerhaftes friedliches Zusammenleben der Menschen nur dann gelingen kann, wenn auch der Souverän die von den natürlichen Gesetzen umschriebenen Tugenden entwickelt. Die hier skizzierte Deutung der Hobbes’schen Moralphilosophie als Theorie der Tugenden und Laster, zu der sich im Übrigen auch bei Skinner, Ludwig und Sorell Ansätze finden,121 ist kürzlich von Miner nachdrücklich in Frage gestellt worden. Miner kommt im Zuge einer eingehenden Prüfung der Hobbes’schen Schriften zu dem Ergebnis, dass den Tugenden bei Hobbes weder im Rahmen der Überwindung des Naturzustandes noch im Rahmen der Aufrechterhaltung eines bestehenden Gemeinwesens eine entscheidende Bedeutung zugestanden wird, und er weist vor diesem Hintergrund die Sichtweise, Hobbes müsse vorrangig als Tugendethiker begriffen werden, explizit zurück.122 Für unseren vorliegenden Zusammenhang ist dabei von besonderem Interesse, dass Miner die Auffassung vertritt, die Bedeutung des Tugendbegriffs für die Hobbes’sche Naturzustandslehre sei in den Elements noch als deutlich größer anzusehen als dann in De Cive und im englischen Leviathan.123 Im Folgenden soll zunächst mit Blick auf den Text der Elements of Law sowie dann auch mit Blick auf die anderen drei Werke die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen detailliert erarbeitet und dabei der Frage nach_____________ 118 119 120 121 122 123

Vgl. Berkowitz 1999: 45 und 70. Vgl. Berkowitz 1999: 55f. Vgl. etwa Berkowitz 1999: 54. Vgl. etwa Skinner 1996: 316f.; und Skinner 2002c; sowie Ludwig 1998: 366; und Sorell 2007: 128. Vgl. Miner 2001: 279 und 284. Vgl. Miner 2001: 274.

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6. Die natürlichen Gesetze

gegangen werden soll, inwiefern die hier skizzierten Deutungsansätze den in den Schriften jeweils entwickelten Argumentationen gerecht zu werden vermögen und ob sich im Vergleich der Schriften diesbezüglich wichtige Entwicklungen und Akzentverschiebungen nachweisen lassen. Zuvor sollen jedoch im Sinne der terminologischen Klarheit unserer Ausführungen zunächst noch die oben bereits mehrfach gebrauchten Wendungen von der ‚strikt moralischen Verbindlichkeit‘ oder der ‚moralischen Verpflichtung im strengen Sinne‘, die sich im Zuge der ‚Taylor-Warrender-Debatte‘ in der HobbesForschung etabliert haben und die unsere Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Status der natürlichen Gesetze auch weiterhin prägen werden, noch mit einigen Worten erläutert werden. Eine solche Erläuterung erscheint vor allem deshalb notwendig, weil in der Hobbes-Forschung in der Vergangenheit mit einigem Aufwand die Frage diskutiert worden ist, ob Hobbes überhaupt über eine Philosophie der Moral verfügt, d.h. ob seine Lehre von den natürlichen Gesetzen zulässigerweise mit dem betreffenden Ausdruck bezeichnet werden kann. Die in der frühen Hobbes-Forschung durchaus verbreiteten Behauptungen, Hobbes verfüge eigentlich über keine Moralphilosophie – obwohl er seine Lehre von den natürlichen Gesetzen selbst mit diesem Ausdruck bezeichnet –, und er sei auch kein Naturrechtstheoretiker – obwohl er den Begriffen des natürlichen Rechts und des natürlichen Gesetzes innerhalb seiner Theorie eine zentrale Stellung zuweist –, sind in der jüngeren Vergangenheit zurecht zunehmend in die Kritik geraten. Wie oben bereits angemerkt worden ist, sieht etwa Berkowitz keinerlei Schwierigkeit, die natürlichen Gesetze als Klugheitsregeln zu interpretieren und sie gleichzeitig als ‚moral virtues‘ zu bezeichnen, und in ähnlicher Weise vertritt auch Boonin-Vail die Auffassung, es handle sich bei der Hobbes’schen Lehre um eine Moralphilosophie, die auch mit diesem Namen bezeichnet zu werden verdiene.124 Die Kritik an der Sichtweise, Hobbes verfüge über keine wirkliche Theorie der Moral, ist aber keineswegs nur von solchen Autoren geäußert worden, die wie Boonin-Vail und Berkowitz die Hobbes’sche Naturgesetzlehre als Lehre der Tugenden und Laster und damit als Lehre der mores begreifen. Kavka und Hampton etwa, die Hobbes’ Hinweisen auf die ‚virtues‘ und ‚vices‘ keine besondere Bedeutung beimessen, distanzieren sich ausdrücklich von der Behauptung, Hobbes’ Lehre von den natürlichen Gesetzen könne nicht sinnvollerweise als Moraltheorie bezeichnet werden,125 und Esfeld bekräftigt, wer der Hobbes’schen Lehre aufgrund des bloß hypothetischen Charakters der natürlichen Gesetze den Status einer Moraltheorie absprechen wolle, setze damit die Gül_____________ 124 Vgl. Boonin-Vail 1994: 59ff. 125 Vgl. Hampton 1986: 57 und 94; und Kavka 1986: 366.

6.1 Einleitung

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tigkeit der Kantischen Moralphilosophie voraus und müsse zwangsläufig auch Platon und Aristoteles absprechen, über eine Moraltheorie zu verfügen.126 Wie oben bereits angedeutet, schließe ich mich der damit umrissenen Position grundsätzlich an. Die Geschichte der Moralphilosophie weist ohne Zweifel eine ganze Reihe von Theorien auf, die keinerlei Pflichten begründen, die von einer Kantischen Position aus als genuin moralische Verpflichtungen anerkannt werden können. Diese Tatsache aber zum Anlass zu nehmen, um all diesen Theorien den Status moralphilosophischer Theorien abzusprechen, wäre nicht nur anachronistisch, sondern erschiene geradezu engstirnig. Solange eine Theorie sich zu dem Ziel bekennt, nicht nur die Handlungsweisen der Menschen beschreiben, sondern auch in grundsätzlich präskriptiver Weise angeben zu wollen, wie die Menschen handeln sollen; solange sie dabei auf bestimmte Ideale, Werte oder Regeln zurückgreift; und solange sie auch explizit, d.h. terminologisch, als Theorie der Moral oder als Moralphilosophie in Erscheinung tritt, tut meines Erachtens ein jeder Interpret gut daran, die in Frage stehende Theorie auch prinzipiell als Moraltheorie anzuerkennen. Da nun im Fall der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen ohne Zweifel alle diese Bedingungen erfüllt sind, gibt es keinen Grund, von Hobbes’ eigener Sprachregelung abzuweichen, nach der es sich bei der Lehre von den natürlichen Gesetzen um eine Theorie bzw. eine Wissenschaft von der Moral handelt. Wenn man sich aber auch in dieser Weise dafür entscheidet, die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen als Philosophie der Moral zu begreifen, so heißt dies doch keineswegs, dass der Frage, ob es sich bei den naturgesetzlichen Verpflichtungen der Hobbes’schen Individuen um bedingte oder unbedingte Verpflichtungen handelt, keine Beachtung mehr geschenkt werden muss. Der Unterschied zwischen solchen naturgesetzlichen Verpflichtungen, die in letzter Konsequenz vom Eigeninteresse des Handelnden abhängig und durch dieses bedingt bleiben, und solchen Verpflichtungen, die dies nicht in dieser Weise sind, die vielmehr die Charakteristik des unbedingten Gefordertseins aufweisen, ist vielmehr allein deshalb von allergrößtem Interesse, weil es sich dabei letztlich um denjenigen Unterschied handelt, um den es in der ‚Taylor-Warrender-Debatte’ vorrangig geht. Erkennt man nun aber an, dass es sich bei der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen um eine Theorie der Moral und bei den Naturgesetzen prinzipiell um Moralgesetze handelt, dann muss es ein wenig problematisch erscheinen, den Unterschied zwischen bedingten und unbedingten Verpflichtungen sprachlich und terminologisch als den Unterschied zwischen nicht-moralischen und moralischen Verpflichtungen zu kennzeichnen, den Hobbes’schen Moralgesetzen also rundweg abzusprechen, dass sie moralische Verpflichtungen oder _____________ 126 Vgl. Esfeld 1995: 307.

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‚moral obligations‘ generieren können. Bedingte Verpflichtungen, wie sie etwa auf eine Klugheitsregel zurückgehen, allgemein als nicht-moralische Verpflichtungen zu bezeichnen, hieße aus meiner Sicht, eben doch einen Teil der Kantischen Position zu übernehmen und nur solche Regeln als Ursprung moralischer Verpflichtungen anzuerkennen, die kategorisch gebieten. Will man daher die Unterscheidung von solchen Verpflichtungen, die die Charakteristik des unbedingten Gefordertseins aufweisen, und solchen Verpflichtungen, die dies nicht tun, auch terminologisch deutlich machen, die Frage nach dem Status der naturgesetzlichen Verpflichtung bei Hobbes aber auch nicht ausschließlich in Kantischen Termini, d.h. mit Hilfe der Begriffe des ‚hypothetischen Imperativs‘ und des ‚kategorischen Imperativs‘, diskutieren, so wird man kaum umhin kommen, auf solche Redeweisen wie die sicherlich nicht ganz glücklichen Begriffe der ‚strikt moralischen Verpflichtung‘ oder der ‚moralischen Verpflichtung im strengen Sinne‘ zurückzugreifen. Ich werde also im Folgenden weiterhin zwischen Klugheitspflichten und moralischen Verpflichtungen im strengen Sinne des Wortes unterscheiden, ohne dass aber mit dem etwaigen Fazit, es gebe innerhalb des Hobbes’schen Systems keine strikt moralischen Verpflichtungen, zugleich die Aussage getroffen werden soll, Hobbes verfüge über keine Theorie der Moral. Ganz im Gegenteil wird der Begriff der ‚strikt moralischen Verpflichtung‘ gerade dadurch notwendig, dass auch ein System von Klugheitsregeln den Anspruch erheben kann, als Moraltheorie und als Theorie moralischer Verpflichtung im weiteren Sinne des Wortes zu gelten.

6.2 The Elements of Law 6.2.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur Wie oben bereits mehrfach angemerkt, besteht einer der strukturellen und daher sichtbarsten Unterschiede zwischen den Elements of Law und De Cive auf der einen sowie den beiden Fassungen des Leviathan auf der anderen Seite in der Tatsache, dass Hobbes die explizite juridische Diskussion des Naturzustandes in den früheren Werken bereits im Rahmen der Herleitung des Kriegszustandes und damit innerhalb des ersten Naturzustandskapitels aufnimmt, während er sie im Leviathan an den Anfang des zweiten Naturzustandskapitels stellt. Dieser Unterschied betrifft nun nicht nur die schon ausführlich analysierte Erörterung des natürlichen Rechts, sondern zum Teil auch die Diskussion der natürlichen Gesetze. Wie sich unten zeigen wird, entwickelt Hobbes seine Formulierung des grundlegenden ersten Naturgesetzes in beiden Fassungen des Leviathan erst nach der ausdrücklichen Definition des natürlichen Rechts und der Definition von ‚liberty in the proper sense of

6.2 The Elements of Law

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the word‘ in Kapitel XIV, wobei die Beschreibung der natürlichen Gesetze freilich am Ende des dreizehnten Kapitels immerhin angekündigt wird. In den Elements, und ebenso in De Cive, findet Hobbes hingegen noch innerhalb des ersten Naturzustandskapitels zur Formulierung des grundlegenden Gebots der Friedenssuche und präsentiert es dabei unmissverständlich als direkte Folgerung aus der zuvor beschriebenen Misslichkeit des Naturzustandes und aus der Unmöglichkeit, durch Unterdrückung möglichst vieler Individuen die eigene Erhaltung dauerhaft sicherzustellen. But since it is supposed from the equality of strength and other natural faculties of men, that no man is of might sufficient, to assure himself for any long time, of preserving himself thereby, whilst he remaineth in the state of hostility and war; reason therefore dictateth to every man for his own good, to seek after peace, as far forth as there is hope to attain the same; and to strengthen himself with all the help he can procure, for his own defence against those, from whom such peace cannot be obtained; and to do all those things which necessarily conduce thereunto.127

Dass es sich bei diesem Gebot der Friedenssuche um ein natürliches Gesetz handelt, hebt Hobbes allerdings auch in den Elements erst im folgenden zweiten Naturzustandskapitel explizit hervor, das er mit einer relativ ausführlichen Diskussion des Begriffes ‚law of nature‘ beginnt. Hobbes’ Hauptanliegen besteht dabei darin, die von ihm an vielen Stellen seiner Werke128 beschriebene und beklagte Uneinigkeit derjenigen Autoren, die bisher über die Moral und den Staat geschrieben haben, herauszustellen und sich von einigen der traditionellen Versuche der Begründung des moralischen Naturgesetzes kritisch zu distanzieren. Nach Hobbes bedarf das natürliche Gesetz, da es für alle Menschen gleichermaßen Geltung beansprucht, einer gleichsam objektiven Begründung, und aus genau diesem Grund lässt sich das natürliche Gesetz für Hobbes nicht, wie dies seiner Meinung nach von den meisten Autoren mehr oder minder stillschweigend vorausgesetzt wird, einfach mit den faktischen Überzeugungen und Gebräuchen der Völker oder denen der weisesten oder zivilisiertesten Völker gleichsetzen, letzteres schon allein deshalb nicht, da gar nicht ohne Weiteres entschieden werden könne, bei welchen Völkern es sich überhaupt um die weisesten und zivilisiertesten handle.129 Auch eine Rückführung des natürlichen Gesetzes auf den „consent of all mankind“130 lehnt Hobbes ab. Hobbes versteht diesen „consent of all mankind“ dabei ganz offensichtlich nicht im modernen kontraktualistischen Sinne, d.h. nicht im Sinne einer hypothetischen Übereinstimmung oder Vereinbarung auf Grundlage der Vernunft, sondern eher als Summe der faktischen _____________ 127 128 129 130

E: 74. Für die Elements of Law vgl. etwa E: XV und 1. Vgl. E: 74f. E: 75.

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6. Die natürlichen Gesetze

menschlichen Handlungen bzw. als Summe der in diesen Handlungen zum Ausdruck kommenden Überzeugungen, Interessen und Leidenschaften. Hobbes’ Argument besteht letztlich in dem Hinweis, bei dieser Art der Begründung des natürlichen Gesetzes lasse sich nicht mehr überzeugend erklären, wie die Menschen überhaupt gegen das natürliche Gesetz verstoßen könnten, da die menschliche Natur im Sinne ihrer konkreten Ausprägung dann sowohl als Grundlage der Regeln des natürlichen Gesetzes fungiere als auch als Ursache für die Übertretung dieser Regeln. Nach Hobbes kommen daher weder die menschlichen Handlungen und Überzeugungen noch die konkreten Urteile oder Leidenschaften, die diesen Handlungen zugrundeliegen, als Basis und Kriterium des natürlichen Gesetzes in Frage, sondern allein die Vernunft, und das kann nur heißen, die Vernunft im Sinne eines objektiven Maßstabs, wie sie von Hobbes, wie gesehen, auch schon zum Kriterium des ursprünglichen natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung gemacht worden ist. Reason is no less of the nature of man than passion, and is the same in all men, because all men agree in the will to be directed and governed in the way to that which they desire to attain, namely their own good, which is the work of reason. There can therefore be no other law of nature than reason, nor no other precepts of NATURAL LAW, than those which declare unto us the ways of peace, where the same may be obtained, and of defence where it may not.131

Dass Hobbes die Vernunft als das Vermögen charakterisiert, das den Menschen den Weg zur Erlangung dessen weist, das sie begehren („to be directed and governed in the way to that which they desire to attain [...], which is the work of reason“), zeigt deutlich, dass Hobbes auf die Vernunft einmal mehr im Sinne eines instrumentellen Vernunftbegriffs zurückgreift, eine Tatsache, die im Hinblick auf eine Bewertung der oben skizzierten Position Gerts von Bedeutung ist und die geeignet ist, erste Zweifel an Gerts Interpretation aufkommen zu lassen. Hobbes macht die Vernunft offensichtlich nicht deshalb zur Grundlage des natürlichen Gesetzes, weil sie eigene, unbedingte und für alle Menschen gleiche Gebote aufstellen würde, sondern weil sie eindeutig und gleichsam objektiv aufzeigt, wie die Menschen das, was sie unabhängig von der Vernunft begehren, auch erlangen können. Die entsprechende Charakterisierung der Arbeit der Vernunft, die im Übrigen auch in der zuvor getroffenen Aussage „reason therefore dictateth to every man for his own good“132 suggeriert wird, zeigt damit aber auch, dass Hobbes’ vorherige Zurückweisung der menschlichen Leidenschaften als möglicher Grundlage des natürlichen Gesetzes nicht ganz glücklich ist. Indem Hobbes eine Vernunft zur Basis des natürlichen Gesetzes macht, deren Funktion darin besteht, den _____________ 131 E: 75. 132 Hervorh. v. mir

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Menschen aufzuzeigen, wie sie ihre Bedürfnisse realisieren und das für sie Gute erlangen können, macht er letztlich eben doch die natürlichen Leidenschaften und Neigungen zum Bezugspunkt des natürlichen Gesetzes, so dass der eigentliche Unterschied zu der von Hobbes zuvor zurückgewiesenen Rückführung des natürlichen Gesetzes auf einen „consent of all mankind“ eher darin zu sehen wäre, dass nicht alle faktischen und möglicherweise kontingenten Leidenschaften der Menschen als Basis des natürlichen Gesetzes fungieren, sondern lediglich die basalen Leidenschaften, die alle Menschen teilen und zu deren Befriedigung grundsätzlich dieselben allgemeinen Handlungen objektiv notwendig sind. Der Inhalt des ersten natürlichen Gesetzes, der an dieser Stelle etwas knapper, aber in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der vorhergehenden Passage gefasst wird, zeigt, wie überhaupt der ganze Kontext von Kriegszustand und Selbstverteidigung, dass es sich bei diesen basalen Interessen des Menschen vorrangig um das Interesse an der eigenen Erhaltung handelt, eine Tatsache, die auch dadurch besonders hervortritt, dass Hobbes mit der Wendung „that which they desire to attain, namely their own good“ an seine Begründung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung anknüpft, in der er nicht nur dem Einzelnen bereits ein natürliches und notwendiges Streben nach dem für ihn Guten (‚bonum sibi‘) zugeschrieben, sondern auch den Tod explizit als diejenige Bedrohung ausgemacht hat, die alle Menschen am meisten fürchten und zu vermeiden suchen. Der inhaltliche Zusammenhang von natürlichem Gesetz und natürlichem Recht zeigt sich auch daran, dass Hobbes in beiden Formulierungen des natürlichen Gesetzes die Verteidigung des eigenen Lebens ausdrücklich zum Gegenstand der naturgesetzlichen Verpflichtung macht. Hobbes schränkt das Gebot der Friedenssuche schon in seinen beiden ursprünglichen Formulierungen des natürlichen Gesetzes konsequent auf solche Situationen ein, in denen die Friedenssuche ohne Gefahr für das naturrechtlich verbriefte Ziel der Selbsterhaltung erfolgen kann, und er hält mit Blick auf alle anderen Situationen nicht nur am Recht auf Selbstverteidigung fest, sondern stärkt dessen Status noch dadurch, dass er es in den Rang eines Vernunftgebotes („reason therefore dictateth to every man [...] to strengthen himself with all the help he can procure, for his own defence“) und eines natürlichen Gesetzes erhebt. Das natürliche Gesetz stellt also schon qua Definition das natürliche Recht nicht einfach in Frage, sondern es nimmt mit dem grundlegenden Zweck der Selbsterhaltung das natürliche Recht gleichsam in sich auf. Die Tatsache, dass Hobbes die Vernunft und das naturrechtlich legitimierte menschliche Selbsterhaltungsstreben als Grundlage oder Kriterium des natürlichen Gesetzes präsentiert, reicht für sich genommen sicherlich nicht aus, um bereits an dieser Stelle die Lesart Taylors und Warrenders als irreführend zurückzuweisen. Es kann und muss aber ohne jeden Zweifel die Ansicht

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6. Die natürlichen Gesetze

vertreten werden, dass die oben beschriebene Passage auch nicht unbedingt der Stärkung der ‚Taylor-Warrender-These‘ dient. Gerade angesichts der Tatsache, dass Hobbes im Rahmen seiner Einführung des Begriffs ‚law of nature‘ zunächst einmal die grundsätzlich Frage aufwirft, welche Instanz überhaupt als Grundlage des natürlichen Gesetzes fungieren kann, wäre doch zu erwarten, dass er, bestünde sein Anliegen darin, eine ‚divine command theory‘ der Moral zu entwickeln, bereits und vor allem an dieser Stelle auf Gott als den Urheber der natürlichen Gesetze und damit auf eine Instanz verweisen würde, die an Autorität sowohl der Meinung der weisesten Völker als auch dem „consent of all mankind“ deutlich überlegen ist. Entsprechend wäre zu erwarten, dass er höchstens in einem zweiten Schritt auf die Vernunft und das Streben des Menschen nach dem für ihn Guten eingehen würde, etwa um den Weg aufzuzeigen, auf dem die Menschen den Inhalt des göttlichen Willens faktisch zu erkennen oder zusätzliche Motive zu dessen Befolgung einzusehen vermögen. Dass Hobbes all dies nicht tut, sondern die Vernunft selbst zur Instanz des natürlichen Gesetzes erklärt, erweckt dagegen den deutlichen Eindruck, als wolle er die Lehre von den natürlichen Gesetzen wenn nicht ausschließlich, so doch zumindest vorrangig als eine rationalistische Theorie entwickeln, die von theologischen Annahmen unabhängig ist. Aus dem grundlegenden Gebot der Friedenssuche leitet Hobbes direkt im Anschluss das zweite natürliche Gesetz ab, das von ihm allerdings in den Elements nicht explizit mit diesem Ausdruck belegt, sondern eher so präsentiert wird, als stelle es einen Teil des natürlichen Gesetzes dar, und dies trifft ja auch insofern zu, als es direkt aus dem grundlegenden Gebot der Friedenssuche deduziert wird. One precept of the law of nature therefore is this, that every man divest himself of the right he hath to all things by nature. For when divers men have right not only to all things else, but to another’s persons, if they use the same, there ariseth thereby invasion on the one part, and resistance on the other, which is war; and therefore contrary to the law of nature, the sum whereof consisteth in making peace.133

Das Gebot, das natürliche ‚Recht auf alles‘ aufzugeben, macht deutlich, dass das natürliches Gesetz, obwohl es, wie gesehen, mit dem Zweck der Selbstverteidigung das ursprüngliche natürliche Recht zum Teil in sich auf nimmt, dem natürlichem Recht als einem ‚Recht auf alles‘ de facto entgegengesetzt ist. Der Grund, den Hobbes für die Geltung dieses zweiten natürlichen Gesetzes anführt, besteht in der Behauptung, dass ohne eine solche Aufgabe des ‚Rechts auf alles‘ die Erlangung oder Aufrechterhaltung des Friedens unmöglich ist. Hobbes’ Argumentation befindet sich dabei in völliger Übereinstimmung mit der Erörterung des natürlichen Rechts in Kapitel XIV, innerhalb _____________ 133 E: 75.

6.2 The Elements of Law

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derer Hobbes das ‚Recht auf alles‘ ja explizit als eine der Ursachen des ‚Krieges aller gegen alle‘ präsentiert hatte. Die Wendung „if they use the same, there ariseth thereby invasion on the one part, and resistance on the other“134 dient dabei noch einmal der Bekräftigung unserer oben vertretenen Sichtweise, nach der es nicht das natürliche Recht als solches ist, das den ‚Krieg aller gegen alle‘ begründet oder nach sich zieht, sondern der faktische Gebrauch, den die Individuen im sicheren Bewusstsein, rechtmäßig zu handeln, davon machen. Der Rest des fünfzehnten Kapitels der Elements widmet sich gänzlich der eingehenderen Beschreibung der verschiedenen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine solche Rechtsaufgabe bzw. -übertragung zustande kommt, sowie der bereits an früherer Stelle angesprochenen Unterscheidung verschiedener Arten von Rechtsübertragungen, d.h. verschiedener Arten von Verträgen. Diese relativ umfassende und in ihrer Allgemeinheit weitgehend eigenständig erscheinende Vertragslehre, die in Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit eingehender zu betrachten sein wird, mündet in die Formulierung des dritten natürlichen Gesetzes, das Hobbes direkt an den Anfang des sechzehnten Kapitels stellt. Hobbes begründet dieses dritte Gesetz, das dem Einzelnen die Erfüllung der von ihm geschlossenen Verträge auferlegt, mit dem Hinweis, das zuvor beschriebene Gebot, das natürliche ‚Recht auf alles‘ aufzugeben, sei ohne ein Gebot, den vertraglich übertragenen Rechten auch faktisch zu entsagen, wirkungslos. Wie Hobbes mit Hilfe einer vielleicht nicht immer ganz klaren Parallele zum Verhältnis einer Schlussfolgerung zu ihren Prämissen anzudeuten versucht, stellt das dritte natürliche Gesetz folglich eine Art logischer Implikation des zweiten Naturgesetzes dar. It is a common saying that nature maketh nothing in vain. And it is most certain, that as the truth of a conclusion, is no more but the truth of the premises that make it; so the force of the command, or law of nature, is no more than the force of the reasons inducing thereunto. Therefore the law of nature mentioned in the former chapter, sec. 2, namely, That every man should divest himself of the right, &c. were utterly vain, and of none effect, if this also were not a law of the same Nature, That every man is obliged to stand to, and perform, those covenants which he maketh. For what benefit is it to a man, that any thing be promised, or given unto him, if he that giveth, or promiseth, performeth not, or retaineth still the right of taking back what he hath given?135

Hobbes ergänzt seine Ausführungen zur Vertragserfüllung noch um einige Passagen, in denen er den Begriff ‚injury‘ als den Bruch eines gültigen Vertrages definiert und die Begriffe ‚just‘ und ‚unjust‘ sowie ‚justice‘ und ‚injustice‘ danach unterscheidet, ob sie auf Handlungen oder aber auf Personen ange_____________ 134 Hervorh. v. mir 135 E: 81f.

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6. Die natürlichen Gesetze

wendet werden.136 Da gerade diese Passagen, in denen sich auch die schon mehrfach angesprochene Gleichsetzung von Vertragsbruch und logischem Widerspruch findet, für die Frage nach der verpflichtenden Kraft von Verträgen von besonderer Bedeutung sind, sollen auch sie im Rahmen von Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit eingehender untersucht werden. 6.2.2 Die weiteren Naturgesetze Im Anschluss an die Ausführungen zu Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nimmt Hobbes seine Ableitung der natürlichen Gesetze wieder auf, in deren weiterem Verlauf er noch insgesamt fünfzehn weitere Gebote der Natur formuliert. Wie in der Vergangenheit von einigen Autoren kritisch angemerkt worden ist, ist diesen weiteren Naturgesetzen in der Hobbes-Forschung bislang ausgesprochen wenig Beachtung geschenkt worden.137 Fast alle Untersuchungen zur Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen haben sich auf die ersten drei Naturgesetze konzentriert, weil nur ihnen mit Blick auf den Gang der Hobbes’schen Argumentation eine wirklich grundlegende Bedeutung zugestanden worden ist, und die Gesetze 4 bis 18 lediglich, wenn überhaupt, sporadisch abgehandelt. Angesichts der Tatsache, dass die weiteren Naturgesetze unleugbar einen Bestandteil der Hobbes’schen Lehre ausmachen und dass Hobbes auf ihre Formulierung und Begründung auch, wie er selbst hervorhebt,138 durchaus eine beträchtliche Energie verwendet, ist die Kritik an dieser Vorgehensweise sicherlich nicht gänzlich unberechtigt. Dennoch werden die weiteren Naturgesetze auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine deutlich untergeordnete Rolle spielen, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens kommt den weiteren natürlichen Gesetzen im Hinblick auf die vieldiskutierte und zentrale Frage nach dem Status der Hobbes’schen Naturgesetze aus meiner Sicht keine spezifische Relevanz zu, d.h. alle Aussagen, die Hobbes zur verpflichtenden Kraft der natürlichen Gesetze trifft, lassen sich bereits im Kontext der drei grundlegenden Naturgesetze – und gerade dort – sinnvoll und hinreichend erörtern. Zweitens, und wichtiger noch, weist die Hobbes’sche Ableitung der weiteren natürlichen Gesetze in den vier Schriften keine Akzentverschiebungen auf, die den Charakter oder die Struktur der Hobbes’schen Argumentation wirklich nachhaltig beeinflussen würden. Diese Tatsache, die freilich im Zuge der folgenden Ausführungen noch etwas eingehender zu belegen sein wird, ist selbst von solchen Autoren eingestanden worden, die – wie etwa Gert – die traditionelle _____________ 136 Vgl. E: 82f. 137 Vgl. vor allem Gert 1988: 28. 138 Vgl. E: 92 („these laws of nature set down and inferred with so many words, and so much ado“).

6.2 The Elements of Law

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Vernachlässigung der weiteren natürlichen Gesetzen kritisiert haben.139 Erstaunlich ist dabei allerdings, dass Gert seine detaillierte Diskussion der weiteren Naturgesetze auf die englische Fassung des Leviathan und auf De Cive beschränkt und dass er die Elements of Law, die diesbezüglich die deutlichsten Unterschiede und Eigenheiten zeigen,140 praktisch vollständig ausklammert. In der vorliegenden Arbeit sollen die weiteren Naturgesetze demgegenüber, wenn auch insgesamt in etwas kürzerer Form, zunächst und vor allem auf Grundlage des Textes der Elements vorgestellt werden, um dann auf die rein quantitativ durchaus beträchtlichen Änderungen eingehen zu können, die Hobbes schon in De Cive vornimmt, und dabei zu zeigen, dass diesen Modifikationen im Hinblick auf die eigentliche Argumentation keine besondere Relevanz zukommt. Da, wie von Gert zurecht herausgestellt, die englische Fassung des Leviathan – wie im Übrigen auch die von Gert nicht eigens untersuchte lateinische Fassung – diesbezüglich kaum Änderungen gegenüber dem Text von De Cive zeigt, werden die weiteren natürlichen Gesetze im Rahmen der Diskussion des Leviathan dagegen nur noch in einem deutlich geringeren Umfang zur Sprache kommen. Das Argument, das aus meiner Sicht am stärksten dafür spricht, im Rahmen einer Untersuchung der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen generell auch den Naturgesetzen 4 bis 18 einige Aufmerksamkeit zu schenken, besteht, neben der bloßen Tatsache, dass diese Gesetze von Hobbes nun einmal ausdrücklich aufgelistet werden, in der Tatsache, dass die konkreten Gebote fast alle in einem spezifischen inhaltlichen Zusammenhang zu anderen Teilaspekten und Teilproblemen der Hobbes’schen Argumentation stehen. Man kann zwar auf den ersten Blick leicht den Eindruck gewinnen, es gehe Hobbes lediglich darum, in nahezu beliebiger Folge einige Verhaltensweisen zu beschreiben, die dem Frieden und dem Leben in der Gemeinschaft förderlich sind, oder seine Auflistung folge höchstens insofern einer inneren Ordnung, als er sich auf Verhaltensweisen konzentriere, die üblicherweise als Tugenden gelten, um auf diese Weise eine neue, wissenschaftliche Begründung der herkömmlichen Moral zu liefern. Eine eingehendere Betrachtung der Naturgesetze 4 bis 18 offenbart aber insofern einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Ableitung der weiteren natürlichen Gesetze und dem Rest der Hobbes’schen Argumentation, als sich die von Hobbes formulierten Gebote oftmals gerade auf diejenigen Verhaltensweisen beziehen, die er im Rahmen der Herleitung des Kriegszustandes als Ursachen des naturzuständlichen Konflikts identifiziert hat. Ein innerer Zusammenhang lässt sich zudem auch insofern behaupten, als einige weitere der natürlichen Gesetze diejenigen Probleme gleichsam antizipieren, die sich aus der _____________ 139 Vgl. Gert 1988: 26f. 140 Vgl. auch Goldsmith 1969: XI.

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6. Die natürlichen Gesetze

von Hobbes beschriebenen Einrichtung des Staates und der spezifischen Rolle des Souveräns ergeben. Die zuletzt genannte Eigenschaft trifft nach Einschätzung Gerts bereits auf das direkt im Anschluss an die Erörterung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit formulierte vierte Naturgesetz zu. Wie Hobbes hervorhebt, profitierten die Menschen nicht immer und ausschließlich dadurch voneinander, dass sie Verträge miteinander abschlössen, sondern oftmals auch dadurch, dass der Eine dem Anderen ohne Vorliegen eines solchen Vertrages eine Gefälligkeit erweise, in der Hoffnung, bei anderer Gelegenheit ebenfalls in den Genuss einer solchen Gefälligkeit zu kommen. Da laut Hobbes auch diese Form der Kooperation für den Fortbestand des Friedens von Bedeutung ist und da es nur dann dauerhaft zu den entsprechenden Kooperationen komme, wenn die Person, die sich der anderen als gefällig erwiesen habe, anschließend keinen Grund habe, das eigene Verhalten zu bereuen, gebiete das natürliche Gesetz „That no man suffer him, that thus trusteth to his charity, or good affection towards him, to be in the worse estate for his trusting.“141 Gert vertritt in seinem Aufsatz „The Law of Nature as the Moral Law“ die Ansicht, Hobbes’ Interesse, die entsprechende Handlungsweise, deren Zuwiderhandlung er mit dem Begriff „INGRATITUDE“142 bezeichnet, in den Rang eines Naturgesetzes zu erheben, lasse sich auf die Tatsache zurückführen, dass der Souverän eines Staates selbst nicht Teil des Gesellschaftsvertrages und damit auch nicht durch diesen gebunden sei.143 Da die Bürger den Gesellschaftsvertrag miteinander, nicht aber mit dem späteren Souverän abschlössen, komme ihre Unterwerfung unter den Willen des staatlichen Herrschers letztlich eher einem ‚free gift‘, d.h. einer Schenkung, gleich. Wolle Hobbes also in irgendeiner Weise sicherstellen, dass der Souverän, der nach Hobbes’ eigener Aussage allein durch die natürlichen Gesetze gebunden ist, verpflichtet sei, das Wohl des Volkes im Auge zu behalten, so könne dies nur geschehen, indem er in der Weise, in der er dies mit dem vierten Naturgesetz tut, den Empfang eines Geschenkes oder einer Gefälligkeit als Ursprung einer naturgesetzlichen Verpflichtung ausweise. Wenn Gerts Argumentation für sich genommen auch ausgesprochen schlüssig erscheinen mag, so muss doch angemerkt werden, dass sich die Deutung, es handle sich bei der Unterwerfung der Individuen unter den Willen des Souveräns um eine Schenkung, nur bedingt mit Hilfe des Hobbes’schen Textes belegen lässt. Wie in Kapitel 8 der vorliegenden Arbeit eingehender zu zeigen sein wird, lässt Hobbes den genauen Charakter des Aktes der Ermächtigung des staatlichen Herrschers in den meisten seiner Werke ein _____________ 141 E: 84. 142 E: 85. 143 Vgl. Gert 1988: 31f. Zur Tatsache, dass Hobbes den Souverän nicht als Partei des Gesellschaftsvertrages begreift, vgl. etwa E: 119ff. und 179.

6.2 The Elements of Law

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wenig im Unklaren. Die explizite Aussage, es handle sich bei der Ermächtigung des Souveräns um eine Schenkung, findet sich lediglich in De Cive, nicht aber in den Elements und auch nicht in den beiden Fassungen des Leviathan. Gerts Erläuterung des vierten Naturgesetzes, die vorrangig am Text von De Cive entwickelt worden sein dürfte, den Gert nach eigenem Bekunden als den anderen Versionen überlegen begreift,144 kann daher nur mit gewissen Einschränkungen übernommen und nicht ohne Weiteres auf alle Fassungen der Hobbes’schen Theorie angewendet werden. Das fünfte natürliche Gesetz, das Hobbes unter den Begriff „charity“145 fasst, steht insofern in innerem Zusammenhang mit dem vierten, als es konsequenterweise auch die Erweisung von Gefälligkeiten selbst zum Gegenstand einer naturgesetzlichen Verpflichtung macht. Laut Hobbes gebietet das natürliche Gesetz im Sinne eines dauerhaften Friedens „That every man do help and endeavour to accomodate each other, as far as may be without danger of their persons, and loss of their means, to maintain and defend themselves.“146 Die Forderung, dem jeweils anderen mit Güte zu begegnen, wird von Hobbes dabei insofern in den Zusammenhang des falschen naturzuständlichen Strebens nach Vorrang vor anderen gerückt, als er sie explizit denjenigen Leidenschaften und Neigungen gegenüberstellt, „by which we strive to accomodate ourselves, and to leave others as far as we can behind us“147. Das Gebot, sich dem anderen gefällig zu erweisen, beinhaltet nach Hobbes zudem, diesem anderen in denjenigen Fällen, in denen er unrecht getan hat und dies aufrichtig bedauert, Verzeihung zu gewähren, zumindest solange dies ohne Gefahr möglich ist. Aus demselben Grund gebietet es auch, von Rachemaßnahmen abzusehen oder die Bestrafungen zumindest konsequent auf das Ziel eines daraus resultierenden zukünftigen Nutzens auszurichten. Das sechste Gebot des natürlichen Gesetzes mit dem Titel „PARDON“ lautet daher „That a man forgive and pardon him that hath done him wrong, upon his repentance, and caution for the future.“148, und das siebte natürliche Gesetz fordert „That no revenge be taken upon the consideration only of the offence past, but of the benefit to come“.149 Das achte natürliche Gesetz weist wieder einen direkten Bezug zur Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes auf, und zwar in diesem Fall zu derjenigen Konfliktursache, die von Hobbes mit dem Namen „comparison“ belegt worden war. Da die Menschen nur dann dauerhaft in Frieden miteinander leben können, wenn sie darauf verzichten, in der in Kapitel XIV der Elements beschriebenen Weise den jeweils anderen dadurch zu provozieren, _____________ 144 145 146 147 148 149

Vgl. Gert 1991: 3. E: 85. E: 85. E: 85. E: 85. E: 86.

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6. Die natürlichen Gesetze

dass sie ihm offen mit Verachtung und Hass begegnen, gebietet das natürliche Gesetz „That no man reproach, revile, deride, or any otherwise declare his hatred, contempt, or disesteem of any other.“150 Das neunte natürliche Gesetz fordert „That men allow commerce and traffic indifferently to one another.“151, und es betont damit noch einmal die grundsätzliche Notwendigkeit menschlicher Kooperation. In Verbindung mit der Herleitung des Kriegszustandes steht es insofern, als es die Gleichbehandlung aller Menschen gebietet und daher seinem Wesen nach dem Stolz und der Selbstüberschätzung entgegengesetzt ist. Noch deutlicher trifft dies freilich auf die Naturgesetze 11 und 12 zu, die von Hobbes denn auch mit den Titeln „PRIDE“152 sowie „EQUITY“153 versehen werden und die einerseits verlangen, „That every man acknowlegde other for his equal.“154, und auf der anderen Seite mit Blick auf die unvermeidliche Aufgabe des ‚Rechts auf alles‘ die Forderung aufstellen: „Whatsoever right any man requireth to retain, he allow every other man to retain the same.“155 Wie oben nachdrücklich betont worden ist, wird der ‚eitlen‘ Selbstüberschätzung der ‚vainglorious men‘, die sich als besser und stärker als ihre Mitmenschen dünken, von Hobbes gerade in den Elements eine besondere Bedeutung für die Entstehung der naturzuständlichen Konflikte zugestanden, und so kann es kaum überraschen, dass er der naturgesetzlichen Forderung, die natürliche Gleichheit der Menschen anzuerkennen, die er im Grunde genommen ja bereits im vierzehnten Kapitel der Elements formuliert hat, eine derartige Relevanz für die Aufrechterhaltung des Friedens beimisst. Hobbes nutzt den Kontext der Naturgesetze 11 und 12, die er zu Beginn eines neuen, nämlich des siebzehnten Kapitels der Elements erörtert und auf diese Weise besonders deutlich herausstellt, zudem zu einer eingehenderen Zurückweisung der Position des Aristoteles, nach der einige der Menschen von Natur zum Herrschen bestimmt, andere aber zu einem Leben als Sklave geboren sind.156 Nach Hobbes ist an der aristotelischen Position einerseits zu kritisieren, dass sie die Unterschiede in den natürlichen Fähigkeiten der Menschen deutlich überschätze. Eine zweite Schwäche der aristotelischen Lehre liege zudem darin, dass der Glaube an natürliche Rangunterschiede zwangsläufig zu Konflikten Anlass geben müsse und daher in der oben angedeuteten Weise dem Frieden unter den Menschen abträglich sei. Das zehnte natürliche Gesetz, mit dem Hobbes das sechzehnte Kapitel der Elements abschließt und das hier aufgrund des inhaltlichen Zusammen_____________ 150 151 152 153 154 155 156

E: 86. E: 87. E: 88. E: 89. E: 88. E: 89. Vgl. E: 87f.

6.2 The Elements of Law

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hangs der Naturgesetze 9, 11 und 12 zunächst zurückgestellt worden ist, besagt „That all messengers of peace, and such as are employed to procure and maintain amity between man and man, may safely come and go.“157. Es formuliert folglich eines der zentralen Gebote des Völkerrechts, das ja, wie oben schon kurz angedeutet, nach Hobbes eigenen Aussagen mit den Geboten der natürlichen Gesetze weitgehend übereinstimmt. Steht dieses Gesetz, das sich eher auf Situationen bezieht, in denen bereits Versuche zu einer Beendigung bestehender Konflikte unternommen werden, in keinem direkten Zusammenhang zur Hobbes’schen Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘, so lässt sich dies von den Gesetzen 13 und 14 doch wieder ohne Zweifel behaupten. Nachdem Hobbes in den vorangegangenen Gesetzen bereits auf die Konfliktursachen „vainglory“ und „comparison“ Bezug genommen hat, stellen die Gesetze 13 und 14 nun gleichsam seine Antwort auf das Problem der naturzuständlichen Konkurrenz um Güter dar, dem in den Elements zwar noch nicht die besondere Bedeutung zugestanden worden war wie später in De Cive und im Leviathan, das Hobbes aber auch schon dort in die Aufzählung der wichtigsten Konfliktursachen aufgenommen hatte. Damit vermieden wird, dass die Konkurrenz um solche Güter, die nicht geteilt werden können, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führt, schreibt das dreizehnte Naturgesetz vor „That such things as cannot be divided, be used in common, proportionably to the numbers of them that are to use the same, or without limitation when the quantity thereof sufficeth.“158, und für alle Fälle, in denen ein Gut weder geteilt noch gemeinsam genossen werden kann, gebietet das vierzehnte natürliche Gesetz „That the use be alternate, or the advantage given away by lot“159. Es ist oben eingehend darauf verwiesen worden, dass der Naturzustand für Hobbes unter anderem dadurch charakterisiert ist, dass jedes Individuum Richter in eigener Sache ist. Schon die Bedeutung, die dieser Tatsache für das Anwachsen des natürlichen Rechts auf das letztlich unhaltbare ‚Recht auf alles‘ zukommt, legt nahe, dass die Einsetzung autorisierter Richter im Sinne des Friedens unumgänglich ist, und mit genau dieser Notwendigkeit befasst sich das fünfzehnte natürliche Gesetz, welches vorschreibt „That in every controversy, the parties thereto ought mutually agree upon an arbitrator, whom they both trust; and mutually to covenant to stand to the sentence he shall give therein.“160. Dem fünfzehnten Naturgesetz kommt dabei insofern eine umfassendere Bedeutung zu, als einerseits die Einsetzung von Richtern allein schon für die praktische Umsetzung der Naturgesetze 13 und 14 unabdingbar erscheint und als andererseits dem staatlichen Souverän von Hobbes die Rolle des obersten Richters zugestanden wird, das fünfzehnte natürliche Gesetz also in gewisser Weise _____________ 157 158 159 160

E: 87. E: 89. E: 90. E: 91.

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6. Die natürlichen Gesetze

bereits als Gebot zur Bildung einer bürgerlichen Gemeinschaft interpretiert werden kann. Das sechzehnte natürliche Gesetz, das sich nicht direkt zu den zentralen Elementen der Hobbes’schen Theorie in Beziehung setzen lässt, fordert „That no man obtrude or press his advice or counsel to any man that declareth himself unwilling to hear the same.“161. Eine Verbindung zur Hobbes’schen Argumentation weist das Gesetz aber insofern auf, als auch in ihm das generelle Gleichheitsgebot zum Ausdruck kommt. Goldsmith hat zudem überzeugend vertreten, dass der eigentliche Hintergrund des Gesetzes im Streit um die Rolle des englischen Parlamentes und um seine Befugnisse gegenüber Charles I. zu suchen sein dürfte.162 Das siebzehnte Gebot, bei dem es sich um eine Variante der von Hobbes auch ausdrücklich zitierten Goldenen Regel Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris handelt, weist einen noch deutlicheren Bezug zum Gleichheitsgebot auf. Es fordert „That a man imagine himself in the place of the party with whom he hath to do, and reciprocally him in his“163, und es wird von Hobbes als Mittel präsentiert, um Handlungen allgemein daraufhin zu prüfen, ob sie mit dem natürlichen Gesetz vereinbar sind oder nicht. Kommt daher schon dem siebzehnten Naturgesetz ein etwas allgemeinerer Charakter zu als den zuvor beschriebenen, so gilt dies erst recht für das achtzehnte und letzte Naturgesetz, das in Anlehnung an die bereits im Kontext der grundlegenden drei Naturgesetze getroffenen Aussagen noch einmal generell festschreibt, dass die Pflicht zur Befolgung der Naturgesetze nur da gilt, wo diese auch ohne Gefahr für den Handelnden erfüllt werden kann. Das Gesetz wird von Hobbes daher explizit als ein gleichsam über den speziellen Naturgesetzen stehendes allgemeines Gebot präsentiert. These are the laws of nature, the sum whereof consisteth in forbidding us to be our own judges, and our own carvers, and in commanding us to accomodate one another; in case they should be observed by some, and not by others, would make the observers but a prey to them that should neglect them; leaving the good, both without defence against the wicked, and also with a charge to assist them: which is against the scope of the said laws, that are made only for the protection and defence of them that keep them. Reason therefore, and the law of nature over and above all these particular laws, doth dictate this law in general: That those laws be so far observed, as they subject us not to any incommodity, that in our own judgments may arise, by the neglect thereof in those towards whom we observe them.164

Hobbes nimmt dieses letzte natürliche Gesetz zum Anlass, um den Naturgesetzen in der schon oben angesprochenen Weise eine Geltung in foro interno _____________ 161 162 163 164

E: 91. Vgl. Goldsmith 1969: XIV. E: 92. E: 92f.

6.2 The Elements of Law

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zuzuschreiben. Laut Hobbes sind die Menschen zwar grundsätzlich dazu verpflichtet, eine ständige Bereitwilligkeit zur Befolgung der Naturgesetze zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Die Pflicht, diesen Willen zur Befolgung der natürlichen Gesetze auch konkret in die Tat umzusetzen, haben die Individuen aber nur dort, wo sie erwarten dürfen, dass auch die jeweils anderen in der entsprechenden Weise handeln werden. The force therefore of the law of nature is not in foro externo, till there be security for men to obey it; but is always in foro interno, wherein the action of obedience being unsafe, the will and readiness to perform is taken for the performance.165

Hobbes betont aber gleich im Anschluss, dass die eingeschränkte Geltung der natürlichen Gesetze nicht etwa in dem Sinne zu verstehen sei, dass äußere Umstände, wie etwa die menschlichen Gebräuche und Sitten, den Inhalt der Naturgesetze prinzipiell zu verändern imstande wären oder sogar als deren eigentliche Grundlage gelten könnten. Hobbes lässt keinen Zweifel daran, dass es einen engen und zwingenden Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und der unveränderlichen Vernunft gibt und dass alles, was der Vernunft widerspricht, auch in Widerspruch zu den natürlichen Gesetzen steht. Dass die natürlichen Gesetze nur eingeschränkt gelten, ist danach lediglich eine Folge der Tatsache, dass die Vernunft in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Handlungen gebieten könne. Hobbes gesteht allerdings zu, dass die Menschen unter Umständen durch die freie Willensentscheidung eines anderen von der Pflicht befreit werden können, die Naturgesetze im Hinblick auf diesen anderen befolgen zu müssen, so etwa, wenn sich ein Individuum qua Vertrag bereit erklärt, als Diener eines anderen zu fungieren, und diesen anderen auf diese Weise von der Verpflichtung befreit, ihn als gleich anzuerkennen. Diese Möglichkeit des willentlichen Verzichts auf den Schutz durch ein bestimmtes Naturgesetz ist insofern von besonderer Bedeutung für die Hobbes’sche Lehre, als sie die Tatsache legitimiert, dass der staatliche Souverän Teile des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ behält, die seine Untertanen aufgeben, und er daher in gewisser Weise nicht an das Gleichheitsgebot gebunden ist. Der auf die entsprechenden Ausführungen folgenden Passage kommt freilich, vor allem im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung, eine noch ungleich größere Bedeutung zu, handelt es sich doch dabei um diejenige Passage, in der Hobbes in den Elements die natürlichen Gesetze ausdrücklich als Befehle Gottes zu präsentieren scheint. Auf die Relevanz und die möglichen Probleme dieser Passage wird im folgenden Teilkapitel noch näher einzugehen sein. Zuvor bleiben allerdings noch Hobbes’ abschließende Bemerkungen zu den natürlichen Gesetzen und zu seiner eigenen Darstellung kurz zusam_____________ 165 E: 93.

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6. Die natürlichen Gesetze

menzufassen. In direktem Anschluss an die oben zitierte Passage liefert Hobbes zunächst eine Art nachträglicher Erläuterung der von ihm gebrauchten Wendung in foro interno. So nimmt er rückblickend auf die Tatsache Bezug, dass die natürlichen Gesetze das Gewissen des Handelnden beträfen, um diese Tatsache dann zum Anlass für den Hinweis zu nehmen, die natürlichen Gesetze könnten grundsätzlich nicht nur durch solche Handlungen übertreten werden, die einem bestimmten Naturgesetz direkt widerstritten, sondern auch durch solche, die mit den Geboten des natürlichen Gesetzes faktisch vereinbar seien, aber in der Absicht oder zumindest der Bereitschaft ausgeführt worden seien, die natürlichen Gesetze zu verletzen. And seeing the laws of nature concern the conscience, not only he breaketh them that doth any action contrary, but also he whose action is conformable to them, in case he think it contrary. For though the action chance to be right, yet in his judgment he despiseth the law.166

Der hierauf folgende längere Abschnitt beinhaltet diejenigen Ausführungen, die den eigentlichen Anlass zu der oben dargestellten Deutung der Hobbes’schen Moralphilosophie als einer Theorie der Tugenden und Laster gegeben haben. Hobbes betont in der betreffenden Passage nicht nur noch einmal den Zusammenhang der natürlichen Gesetze mit der Selbsterhaltung und der als objektivem Kriterium fungierenden Vernunft, sondern er wendet vor diesem Hintergrund die moralisierenden Ausdrücke ‚gut‘ und ‚böse‘ nun nicht mehr nur auf die konkreten Handlungen an, die den natürlichen Gesetzen entsprechen bzw. widerstreiten, sondern ausdrücklich auch auf die Charaktereigenschaften dessen, der die entsprechenden Handlungen ausführt. Every man by natural passion, calleth that good which pleaseth him for the present, or so far forth as he can foresee; and in like manner that which displeaseth him evil. And therefore he that foreseeth the whole way to his preservation (which is the end that every one by nature aimeth at) must also call it good, and the contrary evil. And this is that good and evil, which not every man in passion calleth so, but all men by reason. And therefore the fulfilling of these laws is good in reason; and the breaking of them evil. And so also the habit, or disposition, or intention to fulfil them good; and the neglect of them evil. And from hence cometh that distinction of malum poenae, and malum culpae; for malum poenae is any pain or molestation of mind whatsoever; but malum culpae is that action which is contrary to reason and the law of nature; as also the habit of doing according to these and other laws of nature that tend to our preservation, is that we call VIRTUE; and the habit of doing the contrary, VICE.167

Hobbes veranschaulicht seine Position noch einmal dadurch, dass er unter Rückgriff auf einige der von ihm beschriebenen naturgesetzlichen Vorschrif_____________ 166 E: 93. 167 E: 93f.

6.2 The Elements of Law

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ten die Gerechtigkeit noch einmal ergänzend als „habit by which we stand to covenants“ und die Dankbarkeit als „habit whereby we requite the benefit and trust of others“168 definiert, und er grenzt sich – einmal mehr – nachdrücklich von Aristoteles ab, nach dessen Mesoteslehre es sich bei einer Tugend um die Mitte zwischen zwei Extremen handelt. Den Abschluss des siebzehnten Kapitels bildet eine zusammenfassende Beschreibung der natürlichen Gesetze und der Tugend, bei der Hobbes noch einmal explizit zwischen denjenigen Handlungsweisen unterscheidet, die gegenüber solchen Menschen gefordert sind, die sich friedlich verhalten, und denjenigen Handlungsweisen, mit denen kriegerisch gesinnten Menschen begegnet werden muss. The sum of virtue is to be sociable with them that will be sociable, and formidable to them that will not. And the same is the sum of the law of nature; for in being sociable, the law of nature taketh place by the way of peace and society; and to be formidable, is the law of nature in war, where to be feared is a protection a man hath from his own power; and as the former consisteth in actions of equity and justice, the latter consisteth in actions of honour. And equity, justice, and honour, contain all virtues whatsoever.169

Wenn mit diesem Fazit auch die eigentliche Ableitung und Erörterung der natürlichen Gesetze ihr Ende findet, so muss doch gerade im Hinblick auf die Diskussion und Bewertung der ‚Taylor-Warrender-These‘ noch mit einem Satz auf das anschließende achtzehnte Kapitel verwiesen werden. Hobbes widmet sich in diesem Kapitel nicht nur, wie oben bereits angedeutet, dem Ziel, die von ihm beschriebenen natürlichen Gesetze aus dem Text der Bibel zu bestätigen, sondern er bekräftigt auch zu Beginn noch einmal ausdrücklich, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen um Moralgesetze sowie um Gesetze Gottes handelt.170 6.2.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze Will man vor dem Hintergrund der im Folgenden teilweise noch ausführlicher zu zitierenden Hobbes’schen Ausführungen den Versuch unternehmen, die verschiedenen in der Vergangenheit entwickelten Interpretationsansätze auf ihre Angemessenheit zu prüfen, so bietet es sich aus meiner Sicht an, zunächst mit der Erörterung der von Gert aufgestellten Behauptung zu beginnen, die natürliche Vernunft werde von Hobbes im Kontext der Ableitung der Naturgesetze nicht als instrumentelles Vermögen behandelt, sondern _____________ 168 Beides: E: 94. 169 E: 95. 170 Vgl. E: 95.

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6. Die natürlichen Gesetze

schreibe dem Einzelnen mit der Selbsterhaltung aus sich selbst heraus und damit gleichsam kategorisch ein bestimmtes Handlungsziel vor. Es ist oben bereits gezeigt worden, dass Hobbes im Rahmen seiner Formulierung und Begründung des grundlegenden Gebots der Friedenssuche auf die Vernunft sehr wohl im Sinne eines lediglich instrumentellen Vermögens zurückgreift, und aus meiner Sicht finden sich auch in Hobbes’ weiteren Ausführungen keinerlei Anhaltspunkte, die Gerts Interpretation mit Blick auf die Elements zu stützen vermöchten. Es ist zwar zuzugestehen, dass Hobbes deutlich bemüht ist, die natürlichen Gesetze und die Vernunft auf eine Stufe zu stellen oder sogar eine Art von Identität zwischen beiden Begriffen zu behaupten. Träfe Gerts Interpretation auf die Argumentation der Elements zu, wäre aber eher zu erwarten, dass Hobbes eine derartige Parallelisierung zwischen der Vernunft und dem Selbsterhaltungsstreben vornehmen würde. Dass er hingegen die ‚laws of nature‘, bei denen es sich ja als ‚dictates of reason‘ ohne jeden Zweifel um Gebote der Vernunft handelt, als direkten Ausdruck der Vernunft präsentiert, ist mit der traditionellen Sichtweise ohne Weiteres vereinbar, nach der die natürlichen Gesetze hypothetische Imperative und vom, für sich genommen, arationalen Zweck der Selbsterhaltung abhängig sind. Hobbes’ häufige Bezugnahmen auf das Ziel des dauerhaften Friedens, über welches die einzelnen natürlichen Gesetze als vernünftig ausgewiesen werden und deren Geltung begründet wird, stützt diese Sichtweise insofern, als es sich beim Frieden gegenüber der Selbsterhaltung selbst bereits um ein abgeleitetes oder sekundäres Ziel handelt. Dass bestimmte Handlungsweisen mit Hilfe der Vernunft als notwendige Bedingungen des Friedens und aus diesem Grund als verpflichtend ausgewiesen werden, spricht daher in keiner Weise gegen die Auffassung, es handle sich bei der Vernunft um ein Vermögen, dessen Geltungsbereich und dessen gebieterische Kraft den menschlichen Leidenschaften und insbesondere dem natürlichen Streben nach Selbsterhaltung grundsätzlich nachgeordnet seien. Diese Auffassung wird schließlich auch dadurch nicht in Frage gestellt, dass Hobbes die Vernunft als ein objektives Kriterium behandelt und ein Handeln, das dem Ziel der Selbsterhaltung entgegengesetzt ist, als irrational begreift. Gert erweckt in seinen Ausführungen den Eindruck, als müsse ein ausschließlich instrumenteller Vernunftbegriff zwangsläufig mit dem Eingeständnis verbunden sein, dass auch Menschen, die sich das Leben nehmen, rational agieren, weil und sofern sie mit den dabei ausgeführten Handlungen ihr subjektives Handlungsziel, nämlich den eigenen Tod, realisieren – ein Eingeständnis, zu dem Hobbes offensichtlich nicht bereit ist.171 Meines Erachtens liefert aber auch ein instrumenteller Vernunftbegriff eine mögliche Basis, um das entsprechende Verhalten als irrational zu bewerten, dann nämlich, wenn man voraussetzt, _____________ 171 Vgl. Gert 2001: 244f.

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dass alle Menschen das Ziel der eigenen Erhaltung ursprünglich teilen und die spätere Bereitschaft oder den späteren Willen, dem Leben zu entsagen, auf eine Störung der Vernunftfähigkeiten zurückführt. Es ist im Rahmen unserer Erörterung des natürlichen Rechtes schon zugestanden worden, dass einer derartigen Deutung selbstzerstörerischen Verhaltens aus heutiger Sicht nicht unbedingt zugestimmt werden muss. Wie dort bereits betont, sprechen aber alle Indizien dafür, dass Hobbes selbst diese Deutung vertreten hat. Es gibt daher letztlich keinen Grund, sich mit Blick auf die Argumentation der Elements Gerts Deutung des Verhältnisses von Vernunft und Naturgesetz anzuschließen, und dasselbe gilt für die Deutung Curthoys’, die insofern noch fragwürdiger erscheint, als sie stärker noch als Gerts Interpretation eine Nähe der Hobbes’schen Morallehre zu der von deutlich anderen Fragestellungen und Positionen bestimmten Ethik des Aristoteles behauptet. Bevor nun die ‚Taylor-Warrender-These‘ sowie die Interpretationen Harveys und Lloyds einer eingehenderen Prüfung unterzogen werden können, soll zunächst sichergestellt werden, dass Hobbes, wie in den vorhergehenden Ausführungen stillschweigend vorausgesetzt, die natürlichen Gesetze in den Elements überhaupt als verpflichtend präsentiert. Dass den natürlichen Gesetzen grundsätzlich ein präskriptiver Charakter zukommt, steht außer Frage. Selbst wenn man die Frage, ob es sich bei den natürlichen Gesetzen um Gesetze im eigentlichen Sinne des Wortes handelt, fürs Erste außen vor lässt, beweist doch allein die Tatsache, dass Hobbes die Naturgesetze als „dictates of reason“172 bezeichnet und sie auch in dieser Eigenschaft einführt,173 deren grundsätzliche normative Kraft. Dieser präskriptive Charakter der natürlichen Gesetze tritt auch dadurch deutlich hervor, dass Hobbes sie mehrfach als „precepts“174 tituliert und ihnen die Eigenschaft zuspricht, den Menschen bestimmte Handlungsweisen zu befehlen (‚command‘) oder anzuordnen (‚ordain‘) bzw. bestimmte Handlungsweisen zu verbieten (‚forbid‘).175 Die grundsätzliche normative Kraft der natürlichen Gesetze legt nahe, dass ihnen im Hinblick auf die ihnen unterworfenen Individuen in einem zunächst allgemein und unspezifisch verstandenen Sinne Verbindlichkeit zukommen muss, und Hobbes’ Ausführungen bestätigen dies auch ausdrücklich. So trifft Hobbes die Aussage, die natürlichen Gesetze verlangten (‚require‘) vom Einzelnen die Bereitwilligkeit zu ihrer Befolgung,176 und er hält auch mehrfach fest, dass die Individuen den natürlichen Gesetzen Folge leisten sollen (‚should‘, ‚ought to‘ und ‚are to‘).177 Es fällt jedoch auf, dass Hobbes in _____________ 172 173 174 175 176 177

E: 95. Vgl. E: 74. Vgl. zudem E: 89, 92 und 93. E: 75 und 96. Vgl. etwa E: 85, 86, 88, 92, 93, 97 und 100. Vgl. E: 93. Vgl. E: 82, 97 und 100.

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6. Die natürlichen Gesetze

den Elements die naheliegend erscheinenden Ausdrücke ‚oblige‘, ‚obligatory‘, ‚obliging‘ und ‚obligation‘ im Zusammenhang mit den natürlichen Gesetzen vermeidet und sie vorrangig da ins Spiel bringt, wo von der Verbindlichkeit von Verträgen die Rede ist. So taucht das Verb ‚oblige‘ im Rahmen der Ableitung der achtzehn Naturgesetze überhaupt nur einmal auf, und zwar ausgerechnet in der Formulierung des dritten Naturgesetzes („That every man is obliged to stand to, and perform, those covenants that he maketh“). Auch im Anschluss an die eigentliche Ableitung der Naturgesetze greift Hobbes kaum auf die entsprechenden Ausdrücke zurück, wenn es ihm darum geht, die allgemeine Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze zu charakterisieren. Dass sowohl Verträge als auch die positiven Gesetze, die ihre Autorität ja aus einem Vertrag herleiten, in diesem Sinne verpflichtend (‚obligatory‘) sind, wird von Hobbes dagegen an zahlreichen Stellen noch einmal ausdrücklich wiederholt.178 Da sich allerdings auch, vor allem gegen Ende der Elements, zumindest einige wenige Passagen finden, in denen Hobbes von den Naturgesetzen allgemein als in diesem Sinne verpflichtend oder bindend spricht und vor allem dem staatlichen Souverän ausdrücklich eine Pflicht (‚duty‘) zur Befolgung der natürlichen Gesetze zuweist,179 kann letztlich nicht behauptet werden, Hobbes greife zur Beschreibung der Verbindlichkeit der Naturgesetze im Allgemeinen konsequent auf andere Termini zurück als zur Beschreibung der Verbindlichkeit des dritten Naturgesetzes oder von Verträgen im Besonderen. Es bleibt damit festzuhalten, dass Hobbes die Naturgesetze in den Elements insgesamt in einem noch näher zu klärenden Sinne als verpflichtend präsentiert und dass er die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze an einigen Stellen auch mit Hilfe der Ausdrücke ‚oblige‘, ‚obliging‘ oder ‚obligatory‘ oder der Begriffe ‚duty‘ oder ‚bound‘ beschreibt, dass er aber keineswegs bemüht erscheint, die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze durch einen häufigen Rückgriff auf die entsprechenden Ausdrücke besonders hervorzuheben oder zu bekräftigen. Der zurückhaltende Gebrauch, den Hobbes von denjenigen Begriffen macht, die üblicherweise zur Beschreibung strikt moralischer Verpflichtungen verwendet werden, mag bereits geeignet erscheinen, gewisse Zweifel an der Lesart Harveys aufkommen zu lassen, nach der es sich bei den Naturgesetzen allgemein, d.h. nicht etwa bloß beim dritten Naturgesetz, um im strengen Sinne verbindliche Moralgesetze handelt. Das entscheidende Problem der von Harvey vertretenen Interpretation besteht meines Erachtens aber darin, dass auch diese Interpretation zumindest implizit voraussetzt, Hobbes verfüge, wie von Gert behauptet, über einen nicht-instrumentellen Vernunftbegriff. Wenn den Hobbes’schen ‚dictates of reason‘ zwar moralische Verbindlichkeit im _____________ 178 Vgl. E: 103, 104, 116, 117, 124f., 130, 146, 159, 170, 172, und 185. 179 Vgl. E: 124 und 179-81.

6.2 The Elements of Law

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strengen Sinne zukommen, diese aber von der Autorschaft Gottes logisch unabhängig sein soll, dann stellt die Vernunft selbst die einzige Quelle dar, auf die die vermeintliche moralische Verpflichtung der Individuen gegenüber den Naturgesetzen im Rahmen des Hobbes’schen Systems zurückgeführt werden kann. Wie oben deutlich geworden ist, kann angesichts zahlreicher anders lautender Aussagen der Vernunft jedoch mit Blick auf die Elements eine derartige Rolle unmöglich zugestanden werden. Sowohl die allgemeinen Aussagen in Kapitel V als auch die Bezugnahmen auf die Vernunft im Rahmen der Begründungen des natürlichen Rechts und der natürlichen Gesetze zeigen deutlich, dass die Vernunft bei Hobbes nicht aus sich heraus Gebote aufstellt, sondern dass sie lediglich die Mittel anzeigt, die zur Erlangung bestimmter Ziele und insbesondere des Ziels der Selbsterhaltung notwendig sind. Ein strikt moralischer Charakter der naturgesetzlichen Verpflichtung kann daher aus meiner Sicht bei einem Verzicht auf die theologische Komponente der ‚Taylor-Warrender-These‘ nicht überzeugend behauptet werden, und an diesem Ergebnis ändert auch die Tatsache nichts, dass Hobbes die natürlichen Gesetze nachdrücklich zur negativen Formulierung der Goldenen Regel in Beziehung setzt. Es trifft zwar zu, dass Hobbes an verschiedenen Stellen der Elements explizit auf die Goldene Regel verweist und diese dabei als eine Art fundamentales Gesetz der Natur präsentiert.180 Es spricht aber nichts dafür, dass die Goldene Regel für Hobbes ihre Geltung nicht selbst ebenfalls im Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen hat und ihr folglich ebenfalls in einem bloß hypothetischen Sinne Verbindlichkeit zukommt. Wie Hobbes’ Aussagen nahelegen, versteht er die Goldene Regel als eine Art allgemeineren Ausdruck des Gleichheitsgebots „That every man acknowledge other for his equal“, welches er dem Sinn nach bereits im Rahmen der Herleitung des Kriegszustandes formuliert („we may conclude that men considered in mere nature, ought to admit amongst themselves equality“181) und welches dann in der Formulierung des elften Naturgesetzes ausdrücklich als Gebot der Vernunft wiederkehrt. Angesichts der Tatsache, dass alle Naturgesetze das von ihnen verlangte Verhalten gleichermaßen von allen Menschen und gleichermaßen gegenüber allen Menschen verlangen und dass grundsätzlich nur bei einer gewissen Achtung und Berücksichtigung der Interessen anderer Menschen der soziale Frieden aufrechterhalten werden kann, mag man nun Hobbes’ Einschätzung, das Gleichheitsgebot bilde die „foundation“182 aller Naturgesetze und die Goldene Regel deren Summe,183 durchaus zustimmen. Gerade die ursprüngliche Begründung des Gleichheitsgebotes in Kapitel XIV, bei der Hobbes sich auf die empirische Tatsache der Gleichheit der natürli_____________ 180 181 182 183

Vgl. E: 92 und 188. E: 70. E: 92. Vgl. E: 188.

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chen Fähigkeiten und auf die damit verbundenen Gefahren etwaiger gewaltsamer Auseinandersetzungen stützt, macht aber unmissverständlich deutlich, dass das Gleichheitsgebot in seiner Geltung nicht von einem wie auch immer zu begründenden rechtlich-moralischen Wert des jeweils anderen, sondern von dessen faktischer Macht als einem möglichen Gegner und somit letztlich vom Eigeninteresse des Einzelnen abhängig ist. Dem Gleichheitsgebot kann deshalb kein normativer Charakter im Sinne eines im strengen Sinne verbindlichen moralischen Prinzips zugesprochen werden. Dieses Ergebnis vermag im Übrigen auch die Argumentation Lloyds nicht in Frage zu stellen. Diese erscheint zudem insofern prinzipiell problematisch, als sie – wie im Übrigen auch die Argumentation Kodalles – stark von der Frage ausgeht und abhängt, wie der faktische Übergang aus dem Naturzustand in den staatlichen Zustand überzeugend erklärt werden kann. Wenn in Kapitel 3.2 auch deutlich geworden ist, dass der hypothetische Charakter des Hobbes’schen Naturzustandes in der Vergangenheit oftmals überbetont worden ist und dass Hobbes dem Naturzustand durchaus eine gewisse Historizität zubilligt, so heißt dies doch nicht, dass Hobbes der Frage nach der faktischen Beendigung des Naturzustandes eine wirkliche Bedeutung beimessen würde oder ihr diese beimessen müsste. Wie von einer Reihe von Autoren zurecht betont worden ist,184 richtet sich die Hobbes’sche Theorie prinzipiell an Bürger eines bestehenden Staates und versucht diese, von der Notwendigkeit unumschränkter politischer Macht und der Notwendigkeit des unbedingten Gehorsams gegenüber einer solchen Macht zu überzeugen. Die Funktion der Naturzustandstheorie besteht entsprechend darin zu zeigen, dass kein Bürger einen derartigen Zustand, der laut Hobbes die einzige Alternative zum bürgerlichen Zustand darstellt, wollen kann, und auf diese Weise einen Beitrag zur rationalen Begründung des existierenden bürgerlichen Zustandes zu leisten. Ihre Funktion besteht dagegen nicht darin, den Weg aus einem existierenden Naturzustand aufzuzeigen oder diesen Weg als möglich auszuweisen. Die Geltung der Hobbes’schen Argumentation würde zudem durch die Tatsache, dass der von Hobbes beschriebene Naturzustand nicht ohne Weiteres in der von ihm skizzierten Weise verlassen werden kann, in keiner wesentlichen Weise beschädigt. Wenn Hobbes auch der Ansicht sein mag, dass es innerhalb der menschlichen Geschichte Situationen gegeben hat und geben wird, die die konstitutiven Merkmale des von ihm beschriebenen Naturzustandes aufweisen und daher als Manifestationen dieses Zustandes begriffen werden können, so lässt sich doch ohne Zweifel mit Kleemeier die Auffassung vertreten, dass es sich beim ‚Krieg aller gegen alle‘ um einen Modellkrieg _____________ 184 Vgl. etwa Shaver 1990: 64; Hardin 1991: 159 und 172; Nida-Rümelin 1996: 123; Pasquino 2001: 407f. und 411; und Hüttemann 2004: 45.

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handelt, der mit den historischen Kriegen, die sich im Zuge der von Hobbes angesprochenen naturzustandsähnlichen geschichtlichen Situationen entwickelt haben, nicht vollständig identisch ist.185 Selbst wenn es also aus einem solchen ‚Krieg aller gegen alle‘ keinen rationalen Ausweg geben sollte, so stünde das doch nicht im logischen Widerspruch zu der Tatsache, dass die historischen Manifestationen des Naturzustandes zum Teil faktisch durchaus überwunden worden sind. Auf der einen Seite könnten diese historischen Überwindungen des Naturzustandes oder naturzustandsähnlicher Situationen auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass in den jeweiligen Fällen der Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ noch nicht vollständig erreicht war – wie etwa im Rahmen eines Bürgerkrieges, in dem gewisse soziale oder kooperative Strukturen noch bestehen und die Wiedereinführung politischer Strukturen erleichtern. Zum Anderen könnten sie zudem auch schlicht auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass die Individuen eben nicht konsequent rational agiert haben und es gerade aufgrund dieser Irrationalität zu Kooperationen gekommen ist, die die erfolgreiche Etablierung einer politischen Ordnung ermöglicht haben. Hobbes gesteht zudem zumindest im Leviathan explizit zu, dass die meisten der zu seiner Zeit existierenden Gemeinwesen nicht auf dem Wege der vernünftigen Einsicht und eines darauf folgenden Vertragsschlusses entstanden sind, sondern auf Eroberungen, d.h. auf faktische Macht, zurückgehen. Wie der Naturzustand als solcher, so ist folglich auch der Gesellschaftsvertrag, der diesem Zustand innerhalb der Hobbes’schen Argumentation ein Ende macht, zumindest zu einem gewissen Grad ein Konstrukt, dessen Ziel eher darin besteht, die Legitimität und Vernünftigkeit staatlicher Gewalt aufzuzeigen und die Gehorsamspflichten der Untertanen theoretisch zu begründen, als darin, den faktischen Ursprung politischer Herrschaft nachzuzeichnen. Als Indiz für diese Lesart mag auch die Tatsache gelten, dass Hobbes in De Cive den naturzuständlichen ‚bellum omnium in omnes‘ explizit als seiner Natur nach unendlich bezeichnet,186 ohne darin aber offenbar ein Problem für die im Anschluss beginnende Beschreibung des Ausgangs aus dem Naturzustand und der Einrichtung der souveränen Gewalt zu sehen. Es kann der von Hobbes also anscheinend vertretenen Sichtweise, dass selbst die faktische Unendlichkeit und Unaufhebbarkeit des Naturzustandes die Geltung seines Argumentes nicht beeinträchtigt oder beeinträchtigen würde, mit dem nochmaligen Hinweis auf das eigentliche Ziel der Hobbes’schen Theorie nur zugestimmt werden. Wenn das Ziel der Hobbes’schen Ausführungen vor allem darin besteht, die Bürger eines bereits bestehenden Staates zum Gehorsam gegenüber dem staatlichen Souverän und seinen Gesetzen anzuhalten und zu _____________ 185 Vgl. Kleemeier 2002: 127f. 186 Vgl. DC: 96. (`At suâ naturâ sempiternum est, quod prae certantium aequalitate, victoria nulla poest finiri...´)

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diesem Zweck den Rückfall in einen Zustand ohne politische Zwangsgewalt und ohne positive Gesetze in den düstersten Farben zu schildern, dann würde die Hobbes’sche Argumentation durch die Tatsache, dass dieser furchtbare Zustand, wenn er einmal erreicht ist, nie wieder verlassen werden kann, keineswegs geschwächt, sondern im Gegenteil deutlich gestärkt. Lloyds Deutung der natürlichen Gesetze geht folglich auch prinzipiell von Voraussetzungen aus, die dem Anliegen der Hobbes’schen Theorie nicht wirklich gerecht werden.187 Es kann daher mit Blick auf die Argumentation der Elements festgehalten werden, dass eine strikt moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze grundsätzlich nur dann plausibel behauptet werden kann, wenn sich die Naturgesetze im Sinne der ursprünglichen ‚TaylorWarrender-These‘ als Befehle Gottes ausweisen lassen. Eine derartige Interpretation sieht sich nun aber, wie von den Vertretern der traditionellen Lesart zurecht hervorgehoben, einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten gegenüber. Auch ohne eingehender auf Skinners Hinweis auf die zeitgenössischen Reaktionen, die die Hobbes’sche Theorie hervorgerufen hat und von denen sich Hobbes nicht in der Sache distanziert hat, zurückzugreifen, lässt sich ohne Zweifel die Auffassung vertreten, dass die Interpretation Taylors und Warrenders der äußeren Gestalt der Hobbes’schen Argumentation in auffallender Weise entgegengesetzt ist. Es ist bereits darauf verwiesen worden, dass Hobbes im Rahmen seiner Erörterung des Begriffs ‚law of nature‘ die Vernunft – und nicht etwa das Wort oder den Willen Gottes – als Kriterium der natürlichen Gesetze einführt, und ebenso ist deutlich geworden, dass die Lehre von den natürlichen Gesetzen aus einer umfangreichen Diskussion des Selbsterhaltungsstrebens und der Gefährdung des jeweils eigenen Lebens im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ heraus entwickelt wird. Ergänzen lässt sich an dieser Stelle noch, dass Hobbes sich in der Widmung und im ersten Kapitel der Elements ausdrücklich zu dem Vorhaben bekennt, die Lehre von den natürlichen Gesetzen auf ein sicheres wissenschaftliches Fundament zu stellen und zu diesem Zweck von gesicherten Erkenntnissen über die menschliche Natur auszugehen.188 Käme den Ausführungen zum Selbsterhaltungsstreben als der zentralen natürlichen Neigung der Menschen lediglich die Rolle zu, die Geltungs- und Anwendungsbedingungen der dann erst viel später entwickelten natürlichen Gesetze zu erörtern, nicht aber die Rolle, deren eigentliche Geltungsgrundlage zu beschreiben, so ließen sich weder diese Ankündigungen noch der gesamte Aufbau des ersten Teils der Elements überzeugend erklären, ein Problem, das sich im Übrigen in gleicher Weise auch für die Interpretation Harveys ergibt. Die von Taylor und Warrender mit soviel Bedeutung bedach_____________ 187 Dies gilt entsprechend auch für all jene Studien, die die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des faktischen Ausgangs aus dem Naturzustand mit großem spieltheoretischen Aufwand diskutieren (vgl. vor allem Hampton 1986; Haji 1990; Hampton 1991; und Haji 1991). 188 Vgl. E: XVf. und 1.

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ten Aussagen zur Rolle Gottes nehmen demgegenüber nicht nur einen auffällig geringen Raum ein. Sie finden sich, wie gesehen, auch erst im Anschluss an die eigentliche Ableitung der Naturgesetze und vermögen daher kaum den Eindruck zu erwecken, als habe Hobbes mit ihrer Hilfe die so wichtige Geltungsgrundlage seiner Naturgesetzlehre benennen wollen. Das Hauptproblem der ‚Taylor-Warrender-These‘ besteht allerdings darin, dass ausgesprochen fraglich ist, ob die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen, wenn es sich denn bei ihr um eine ‚divine command theory‘ handeln würde, überhaupt in der ausdrücklich angestrebten Weise als wissenschaftliche und wissenschaftlich gesicherte Theorie gelten kann, und dieses Problem ergibt sich keineswegs nur dann, wenn man ein heutiges Verständnis von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit zugrundelegt. Es erscheint vielmehr durchaus auch auf Basis von Hobbes’ eigenem und in den Elements ausführlich dargelegten Verständnis von ‚knowledge‘ und ‚science‘ prinzipiell möglich, eine ‚divine command theory‘ der natürlichen Gesetze als unwissenschaftlich oder außerwissenschaftlich auszuweisen und sie der Sphäre des bloßen Glaubens zuzuordnen. Hobbes trifft in den Elements nicht nur eine solche prinzipielle Unterscheidung zwischen wirklichem Wissen und bloßem Glauben, nach der der Begriff ‚knowledge‘ notwendigerweise die Aspekte der Wahrheit und der Evidenz impliziert, die Begriffe ‚belief‘ oder ‚faith‘ dagegen auf eine Art von Information rekurrieren, die vom Vertrauen gegenüber bestimmten Menschen oder anderen Quellen abhängig ist und daher nicht in diesem Sinne wahr und evident sein muss.189 Er lässt vielmehr auch keinen Zweifel daran, dass die wirklichen Kenntnisse, die die Menschen von Gott erwerben können, ausgesprochen begrenzt sind. Wie Hobbes in einer Passage des elften Kapitels ausdrücklich hervorhebt, die aufgrund ihrer Bedeutung für die Bewertung der ‚Taylor-Warrender-These‘ vollständig zitiert zu werden verdient, könnten die Menschen zwar mit Hilfe der Vernunft auf die Existenz Gottes als einer ersten Ursache schließen. Sie könnten dieser ersten Ursache aber auf rationaler Grundlage keine weitergehenden Eigenschaften als die der Unendlichkeit, der Allmacht und eben der Unbegreiflichkeit zuschreiben. Bei allen anderen Attributen, die üblicherweise mit dem Namen Gottes verbunden würden, wie etwa bei den Begriffen des Wissens und der Liebe oder Güte, handle es sich lediglich um Ausdrücke, mit denen die Gläubigen Gott ihre Reverenz erwiesen, ohne jedoch jemals wissen zu können, ob und inwieweit Gott wirklich über die entsprechenden Eigenschaften verfüge. Forasmuch as God Almighty is incomprehensible, it followeth that we can have no conception or image of the Deity; and consequently all his attributes signify our inability and defect of power to conceive any thing concerning his nature, and not any conception of the same, excepting only this: that there is a God. For the effects we ac-

_____________ 189 Vgl. dazu E: 25-28.

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knowledge naturally, do necessarily include a power of their producing, before they were produced; and that power presupposeth something existent that hath such power; and the thing so existing with power to produce, if it were not eternal, must needs have been produced by somewhat before it; and that again by something else before that: till we come to an eternal, that is to say, to the first power of all powers, and the first cause of all causes. And this is it which all men call by the name of GOD: implying eternity, incomprehensibility, and omnipotency. And thus all men that will consider, may naturally know that God is, though not what he is; even as a man though born blind, though it be not possible for him to have any imagination what kind of thing is fire; yet he cannot but know that something there is that men call fire, because it warmeth him. [...] And whereas we attribute to God Almighty, seeing, hearing, knowing, loving, and the like; by which names we understand something in the men to whom we attribute them, we understand nothing by them in the nature of God.190

Wenn den Menschen aber nur ein derartig begrenztes Wissen von Gott möglich ist und es sich bei allen Überzeugungen bezüglich des göttlichen Willens und Handelns um Spekulationen handelt, dann ist nicht ohne Weiteres einzusehen, auf welche Weise und mit welchen Argumenten eine ‚divine command theory‘ der natürlichen Gesetze der Sphäre des gesicherten Wissens und der Wissenschaft zugewiesen werden kann, eine Konsequenz, die den Intentionen, die Hobbes seinen oben zitierten Aussagen zufolge mit seiner Lehre von den Naturgesetzen verfolgt, diametral entgegengesetzt ist. Am deutlichsten wird dies, wenn man der zweiten von Warrender skizzierten Lesart folgt und die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze auf göttliche Belohnungen und Bestrafungen zurückführt. Diese Lesart wirft nicht nur grundsätzlich die Frage auf, ob den natürlichen Gesetzen überhaupt die von Warrender behauptete moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zukommt oder ob es sich bei der Pflicht zu ihrer Befolgung – wie von Warrender auch ansatzweise eingestanden – nicht eher nach wie vor um eine Klugheitspflicht und bei den natürlichen Gesetzen folglich um bloß hypothetische Imperative handeln muss. Die Rückführung der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze auf göttliche Sanktionen ist vielmehr auch insofern problematisch, als die Menschen Hobbes’ Darstellung zufolge schlicht nicht um die Existenz göttlicher Strafen wissen können. Wenn das Handeln und die Intentionen Gottes auf dem Wege der Vernunft ebenso uneinsehbar sind wie seine Möglichkeiten einer diesseitigen oder jenseitigen Einflussnahme auf die Menschen, dann ist eine Theorie, die die Existenz göttlicher Strafen zu einer solch zentralen Voraussetzung macht, als wissenschaftliche Theorie unmöglich. Hobbes in der von Warrender vorgeschlagenen Weise zu interpretieren, hieße daher, die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen wie im Rahmen der traditionellen Lesart lediglich im Sinne einer – wenn auch sehr _____________ 190 E: 53f.

6.2 The Elements of Law

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spezifischen – Klugheitspflicht zu begründen, diese spezifische Klugheitspflicht dabei aber anders als im Rahmen der traditionellen Lesart zu einer Glaubenstatsache zu machen und die Lehre von den natürlichen Gesetzen auf diese Weise dem Bereich der ‚moral science‘ zu entziehen. Wählt man aus diesem Grund die andere der von Warrender vorgeschlagenen Möglichkeiten und begreift die natürlichen Gesetze allein deshalb als moralisch verbindlich, weil sie Befehle Gottes und daher Ausdruck des göttlichen Willens sind, dann stellt sich zunächst die Frage, ob die Autorschaft Gottes als solche mit Hilfe der Vernunft erkannt werden kann. Man mag nun die Auffassung vertreten, dass die Menschen zwar nicht den Willen Gottes in allen Einzelheiten einsehen können, dass sie aber aus Gottes Eigenschaft als erster Ursache immerhin abzuleiten vermögen, dass die natürlichen Gesetze bzw. die Gegebenheiten, die in diesen Gesetzen ihren Ausdruck finden, in letzter Konsequenz zwangsläufig auf Gottes Wirken und damit auch auf seinen Willen zurückgehen müssen. Selbst wenn man sich dieser Auffassung anschließen sollte, wäre aber immer noch fraglich, ob die Individuen die natürlichen Gesetze auch wirklich in ihrer Eigenschaft als im streng moralischen Sinne verbindliche Befehle erkennen können. Aus der eher dem Bereich der Physik zugehörigen Tatsache, dass Gott die letzte Ursache der Welt, des Universums oder des Lebens darstellt, folgt keineswegs zwingend, dass Gott neben der von Hobbes erwähnten Allmacht auch über eine spezifische moralische Autorität verfügen muss und allen Artikulationen seines Willens daher aus Sicht der Menschen moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zukommen muss. Selbst wenn die natürlichen Gesetze ihren Ursprung in Gott hätten und sie mit Hilfe der Vernunft als direkter Ausdruck seines Willens verstanden werden könnten, wäre mit dieser Einsicht folglich im Rahmen der rein wissenschaftlichen, von Glaubenstatsachen abstrahierenden Argumentation für die Frage ihrer moralischen Verbindlichkeit noch relativ wenig gewonnen. Ein weiteres Problem, dem aber, soweit ich sehe, im Rahmen der Diskussion der ‚Taylor-Warrender-These‘ bisher keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, besteht darin, dass die Annahme, die natürlichen Gesetzen seien allein deshalb zu befolgen, weil sie Befehle Gottes sind, nur dann sinnvoll vertreten werden kann, wenn man voraussetzt, dass die Hobbes’schen Individuen grundsätzlich dazu in der Lage sind, Handlungen aus Pflicht auszuführen. Die Sichtweise, dass die Hobbes’schen Individuen ihre naturgesetzlichen Pflichten grundsätzlich um der Pflicht willen erfüllen können, ist übereinstimmend von Taylor und von Harvey vertreten worden.191 Warrender hat diese Möglichkeit eines Handelns aus Pflicht jedoch mit Nachdruck geleugnet und sie als unvereinbar mit der Hobbes’schen Anthro_____________ 191 Vgl. Taylor 1993: 24; und Harvey 1999: 38f.; sowie Harvey 2004: 48f.

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6. Die natürlichen Gesetze

pologie zurückgewiesen.192 Aus meiner Sicht sind Warrenders diesbezüglichen Hinweise absolut berechtigt. Angesichts des von Hobbes verwendeten Vernunftbegriffs und seiner deterministischen Willenslehre sowie angesichts der bereits hinreichend zitierten Aussagen, nach denen die Handlungen eines Individuums prinzipiell ein Gut für den Handelnden zum Ziel haben, erscheint es in der Tat zweifelhaft, ob die Idee der Pflicht bei Hobbes als alleiniger oder auch nur vorrangiger Bestimmungsgrund der individuellen Willkür zu fungieren vermag. Man mag zwar der Auffassung sein, dass die Hobbes’schen Individuen im Zuge der Einsicht in die Notwendigkeit der von den natürlichen Gesetzen gebotenen Handlungsweisen nach und nach eine Neigung zum pflichtgemäßen Handeln erwerben können. Ebenso mögen sie im Zuge des Lebens in der Gemeinschaft das Bedürfnis ausbilden, allgemein als tugendhafter Mensch anerkannt zu werden, und in diesem spezifischen Sinne bestimmte Handlungen deshalb ausführen, weil sie mit der Pflicht übereinstimmen und folglich als Ausdruck einer tugendhaften Gesinnung gelten. In beiden Fällen wäre die Motivation zur konkreten Ausführung pflichtgemäßer Handlungen nicht direkt und unmittelbar auf egoistische Interessen zurückzuführen, sondern eher auf die Übereinstimmung der Handlung mit dem von der Pflicht Geforderten. Sehr wohl wäre aber in beiden Fällen die Neigung zur Ausführung der pflichtgemäßen Handlungen zumindest indirekt von egoistischen Überlegungen abhängig, und von Handlungen aus Pflicht könnte grundsätzlich auch insofern nicht die Rede sein, als den Handlungen prinzipiell keine freie Willensentscheidung zugrundeliegt, sondern eine ausgeprägte Neigung, der der Handelnde im konkreten Fall letztlich gar nicht zuwiderhandeln kann, sondern aus der sich gemäß der Hobbes’schen Ausführungen zum Willen und zum Überlegungsprozess die Handlung gleichsam zwangsläufig ergibt. Die Unmöglichkeit eines Handelns aus Pflicht im eigentlichen Sinne des Wortes wirft nun für die oben bereits ausführlich zurückgewiesene zweite Variante der Warrender’schen Interpretation keinerlei zusätzlichen Probleme auf. Wenn die moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze letztlich auf die zu erwartenden göttlichen Sanktionen zurückgeht, dann ist die Lehre von den Naturgesetzen von der Möglichkeit eines Handelns aus Pflicht unabhängig, da das wohlverstandene und langfristige Eigeninteresse selbst den Geltungsgrund der naturgesetzlichen Verpflichtung bildet bzw. da das, was die naturgesetzliche Verpflichtung begründet, eo ipso die Individuen auch zur Erfüllung der Pflicht motiviert. Im Hinblick auf die erste Variante der Warrender’schen Interpretation ergibt sich aber ein gänzlich anderes Bild. Wenn die Individuen die natürlichen Gesetze allein aus dem Grund befolgen sollen, dass sie Befehle Gottes als einer zur Erteilung von Befehlen befugten Instanz _____________ 192 Vgl. Warrender 1961: 87f.

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darstellen, d.h. gänzlich unabhängig von den positiven oder negativen Folgen, die sich aus der Befolgung oder Nichtbefolgung ergeben, dann heißt dies letztlich nichts anderes, als dass sie die natürlichen Gesetze aufgrund ihres verpflichtenden Charakters befolgen sollen, und das heißt, dass sie um der Pflicht willen bzw. aus Pflicht handeln sollen. Da die Hobbes’schen Individuen zu einem solchen Handeln gar nicht in der Lage sind, hätte eine Übernahme der von Warrender skizzierten Deutung daher zwangsläufig zur Folge, dass die Hobbes’schen Individuen über moralische Pflichten im strengen Sinne verfügen, die aber für ihr konkretes Handeln vollständig irrelevant sind und notwendigerweise sein müssen. Wenn die Hobbes’schen Individuen die natürlichen Gesetze befolgen, dann befolgen sie sie folglich nicht als im streng moralischen Sinne verbindliche Befehle Gottes, sondern dann befolgen sie sie einzig und allein als Klugheitsregeln, weil die Gesetze die Individuen nur in dieser Eigenschaft überhaupt zur Ausführung konkreter Handlung zu bewegen vermögen. Eine solch strikte Trennung von Verpflichtungstheorie und Motivationstheorie bzw. von Moraltheorie und Handlungstheorie vorzunehmen, wäre aus meiner Sicht aber ausgesprochen absurd, und es ist auch fraglich, ob sie in Warrenders Interesse liegt. Beide von Warrender vorgeschlagenen Interpretationsvarianten sind daher mit der umfassenderen Hobbes’schen Theorie, wie sie in den Elements vorgetragen wird, unvereinbar, und zwar vor allem, weil die Lehre von den natürlichen Gesetzen im Rahmen dieser Deutungen ihren wissenschaftlichen Charakter einzubüßen droht, in jedem Fall aber die vermeintliche strikt moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze, also das, worum es sowohl Taylor als auch Warrender in erster Linie geht, innerhalb der wissenschaftlichen Argumentation ohne wirkliche Begründung bleiben muss. Die Interpretationen Taylors und Warrenders scheitern darüber hinaus aber auch, weil sie innere Widersprüche aufweisen, die sie unhaltbar machen. Zumindest dem ersten Problem vermag man nun aber auch dann nicht zu entgehen, wenn man angesichts der begrenzten Kenntnisse, die die Menschen bezüglich des göttlichen Willens und der göttlichen Strafen haben können, die Lehre von den natürlichen Gesetzen konsequent an die biblische Überlieferung koppelt und ihre Verpflichtungskraft gleichsam auf ihre Eigenschaft als positive Gesetze Gottes bzw. auf die mit diesen Gesetzen verbundenen und durch die Bibel bezeugten Sanktionen zurückführt. Hobbes betont zwar an vielen Stellen die inhaltliche Übereinstimmung zwischen den natürlichen Gesetzen und den Gesetzen der Heiligen Schrift. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass die konkreten Aussagen der Bibel den Menschen kein Wissen im strengen Sinne zu vermitteln vermögen und dass sich auch die Autorität der Bibel selbst grundsätzlich und ausschließlich auf Glaubensüberzeugungen stützt. So grenzt Hobbes im Zuge des elften Kapitels der Elements nicht nur diejenigen Glaubensinhalte, die aus der Kenntnis der Offenbarung

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folgen, strikt von dem gesicherten Wissen ab, auf welches die Wissenschaft angewiesen und um welches es auch Hobbes im Rahmen seiner Philosophie zu tun ist.193 Er hält darüber hinaus auch ausdrücklich fest, die Menschen könnten nicht sicher wissen, dass es sich bei der biblischen Überlieferung überhaupt um das Wort Gottes handle, sondern sie seien in diesem Zusammenhang auf historische Zeugnisse und die Bekenntnisse anderer Menschen angewiesen und könnten folglich höchstens glauben, dass es sich so verhalte.194 Bindet man daher die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze an die biblische Verkündigung göttlicher Strafen oder die Verheißung des ewigen Lebens, dann büßt die Lehre von den Naturgesetzen in noch deutlicherer Weise ihren wissenschaftlichen Charakter ein, als sie das im Rahmen der beiden Interpretationsvarianten Warrenders tut. An der betreffenden Deutung dennoch festzuhalten, um dann – wie Hood – vor dem Hintergrund der damit verbundenen Probleme ein Scheitern des Hobbes’schen Projektes zu konstatieren, ist aus meiner Sicht aber weder geboten noch zulässig. Ein entsprechendes Vorgehen wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn die im Rahmen von Hoods Interpretation behauptete zentrale Bedeutung der Heiligen Schrift für die Lehre von den natürlichen Gesetzen außer Frage stünde und von Hobbes ausdrücklich hervorgehoben würde. Dies ist aber keineswegs der Fall. Weder vertritt Hobbes überhaupt eindeutig die Position, dass den Naturgesetzen moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zukommt, noch führt er diese vermeintliche Verbindlichkeit an irgendeiner Stelle eindeutig auf die christliche Offenbarung zurück. Es ist also nichts weniger als zwingend, die Heilige Schrift überhaupt in der Weise ins Spiel zu bringen, in der Hood dies tut. Hoods Interpretation kann daher bestenfalls als Rekonstruktion der Hobbes’schen Position gelten. Von einer solchen Rekonstruktion ist aber zu fordern, dass sie die Hobbes’sche Theorie stärkt, dass sie sie jedenfalls nicht deutlich schwächt und ihr zu einem größerem Maß an Inkonsistenz verhilft, und dass sie sie schon gar nicht, wie Hoods Rekonstruktion dies tut, dem unvermeidbaren Fazit aussetzt, die Theorie als Ganzes sei gescheitert. Selbst wenn sich zeigen sollte, dass auch die traditionelle Lesart in einer ähnlichen Weise wie die Interpretation Hoods lediglich den Anspruch erheben kann, eine Rekonstruktion der Hobbes’schen Argumentation darzustellen, so wäre sie daher Hoods Deutung doch immer noch klar vorzuziehen, da sie dem expliziten Hobbes’schen Anspruch, eine wissenschaftliche Theorie der natürlichen Gesetze zu entwickeln, deutlich eher Gerechtigkeit widerfahren zu lassen vermag. Es bleibt abschließend zu untersuchen, ob die traditionelle Lesart der natürlichen Gesetze in der gerade angedeuteten Weise als eine Rekonstruktion _____________ 193 Vgl. E: 55-57. 194 Vgl. E: 58f.

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der Hobbes’schen Theorie zu gelten hat oder ob sie mit Hobbes’ expliziten Aussagen in ein so enges und direktes Verhältnis zu bringen ist, dass Hobbes vom Vorwurf der Inkonsistenz, der sowohl im Rahmen der Interpretationen Taylors und Warrenders als auch im Rahmen der Interpretation Hoods letztlich unvermeidbar ist, gänzlich freigesprochen werden kann. Bisher ist gezeigt worden, dass eine Deutung der natürlichen Gesetze als bloße Klugheitsregeln im Dienste der Selbsterhaltung sowohl mit dem Aufbau der Hobbes’schen Theorie als auch mit seinen explizit hervorgehobenen Intentionen und wissenschaftlichen Ansprüchen vereinbar ist, und es dürfte auch auf der Hand liegen, dass die Hobbes’sche Anthropologie und die Hobbes’schen Begriffe der Vernunft und des menschlichen Willens keine prinzipiellen Probleme für eine Deutung der Naturgesetze als hypothetische Imperative aufwerfen. Zu fragen bleibt nun jedoch, ob sich alle Hobbes’schen Aussagen zu Charakter und Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze und insbesondere seine Bezugnahmen auf die Theologie und die christliche Religion im Rahmen der traditionellen Lesart überzeugend erklären lassen oder ob sie ein grundsätzliches Hindernis darstellen, das nur dadurch überwunden werden kann, dass man die Autorität oder die Aufrichtigkeit einiger der Hobbes’schen Aussagen in Zweifel zieht. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass diejenigen Passagen, in denen Hobbes Gott ausdrücklich als Autor der natürlichen Gesetze präsentiert und die sich in den Elements am Ende des siebzehnten und am Anfang des achtzehnten Kapitels finden, üblicherweise als stärkster Beleg für die ‚Taylor-Warrender-These‘ angeführt worden sind. Ebenso ist darauf verwiesen worden, dass die Vertreter der traditionellen Lesart die betreffenden Aussagen zumeist mit Gottes Eigenschaft als Schöpfer des Universums und des Menschen als eines rationalen Wesens zu erklären versucht haben. Der Text der Elements liefert nun in der Tat einige Unterstützung für eine derartige Deutung. So bezeichnet Hobbes in der ersten der beiden Passagen Gott streng genommen gar nicht direkt als Autor der natürlichen Gesetze oder gar als Gesetzgeber, auf den die natürlichen Gesetze als Befehle unmittelbar zurückgehen, sondern bringt Gott vorrangig als Autor der Natur ins Spiel, wie er das im Übrigen bei seiner Unterscheidung verschiedener Gesetzesarten im zehnten Kapitel des zweiten Teils der Elements ein weiteres Mal tun wird. And forasmuch as law (to speak properly) is a command, and these dictates, as they proceed from nature, are not command; they are not therefore called laws in respect of nature, but in respect of the author of nature, God Almighty.195

Die Sichtweise, dass die natürlichen Gesetze insofern von Gott stammen, als sie aus den Gegebenheiten der Natur und insbesondere der menschlichen _____________ 195 E: 93. Vgl. daneben auch E: 187f.

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6. Die natürlichen Gesetze

Natur folgen und diese Natur von Gott geschaffen ist, lässt sich durchaus in der von Autoren wie Wernham vorgeschlagenen Weise mit der traditionellen Lesart vereinbaren und zieht keineswegs zwangsläufig die Behauptung nach sich, die natürlichen Gesetze stellten direkte Anordnungen Gottes dar, und es müsse ihnen eine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zukommen. Wenn die natürlichen Gesetze als Gebote der Vernunft aus den von Gott geschaffenen Gegebenheiten der Welt und der menschlichen Natur entspringen, dann mag man sie zwar mit einigem Aufwand als Befehle Gottes interpretieren, und dann mag man sie auch mit einigem Recht als Gesetze bezeichnen – und der Zusammenhang legt nahe, dass Hobbes ihnen mit dem von ihm entwickelten Argumenten eben diesen Status zubilligen will. Mit dem Status, der relativ deutlich als ein indirekter oder uneigentlicher Status erscheint, kommt ihnen aber nicht zwangsläufig eine Verbindlichkeit zu, die von der Verbindlichkeit bloßer Klugheitsgebote verschieden wäre. Zudem geht aus der Wendung „they are ... called laws“ gar nicht zwingend hervor, ob Hobbes sich die von ihm skizzierte und gebilligte Deutung der natürlichen Gesetze überhaupt wirklich zu eigen machen will. Die Wendung ließe sich vielmehr auch so interpretieren, dass Hobbes lediglich im Sinne seiner eigenen Theorie eine Rechtfertigung für den Gebrauch des traditionellen Terminus ‚law of nature‘ anbieten will, dass er selbst an diesem Terminus – sowie an Verben wie ‚command‘ und ‚ordain‘ – aber aus ganz anderen Gründen festhält, etwa weil er bestrebt ist, die vermeintliche inhaltliche Vereinbarkeit seiner Lehre mit der Tradition auch durch eine sprachliche Übereinstimmung zu unterstreichen. Auf die zweite der angesprochenen Passagen, mit der Hobbes die Bestätigung der natürlichen Gesetze aus dem Text der Heiligen Schrift einleitet, trifft dies in ähnlicher Weise zu. Die Satzstruktur lässt zwar nicht ganz deutlich werden, worauf Hobbes die Urheberschaft Gottes an dieser Stelle genau bezieht. Er bleibt aber erneut in einer gewissen Distanz zu der von ihm selbst verwendeten Redeweise von den ‚laws of nature‘, und darüber hinaus scheint er diese Redeweise nun schon allein deshalb gutzuheißen, weil die Naturgesetze Gebote der natürlichen Vernunft darstellen. The laws mentioned in the former chapters, as they are called the laws of nature, for they are the dictates of natural reason; and also moral laws, because they concern men’s manners and conversation one towards another; so are they also divine laws in respect of the author thereof, God Almighty; and ought therefore, to agree, or at least, not to be repugnant to the word of God revealed in Holy Scripture.196

Wenn aber die natürlichen Gesetze bereits als „dictates of natural reason“ legitimerweise als Gesetze und Befehle bezeichnet werden können, dann ist _____________ 196 E: 95.

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erst recht nicht ohne Weiteres einzusehen, warum ihnen aufgrund des Gesetzescharakters eine Verbindlichkeit zukommen sollte, die über die Verbindlichkeit von Vernunftgeboten hinausgeht. Und auch der Versuch, die moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze mit ihrer hier ausdrücklich hervorgehobenen Eigenschaft als „moral laws“ begründen zu wollen, muss zwangsläufig scheitern. Hobbes bezeichnet die natürlichen Gesetze an dieser Stelle ausdrücklich deshalb als „moral laws“, weil sie sich auf die Gebräuche und die sozialen Beziehungen der Menschen als ihren grundsätzlichen Gegenstand beziehen, nicht aber aufgrund einer spezifischen Verpflichtungskraft, die ihnen als moralischen Gesetzen zukäme. Die Deutung, dass die natürlichen Gesetze insofern als Gesetze Gottes zu begreifen sind, als die natürliche Vernunft, von der sie geboten werden bzw. mit deren Hilfe die Menschen die in den Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Gegebenheiten einsehen können, dem Menschen von Gott verliehen worden ist, wird von Hobbes am Ende des achtzehnten Kapitels noch einmal bekräftigt, indem er nämlich den engen Zusammenhang von natürlichem und göttlichem Gesetz mit eben dieser Tatsache begründet. Finally, there is no law of natural reason, that can be against the law divine; for God Almighty hath given reason to a man to be a light unto him.197

Die Passage ist nicht nur insofern von Bedeutung, als sie noch einmal deutlich macht, dass es sich bei der Autorschaft Gottes um eine durch die Vernunft vermittelte und daher eher indirekte Verbindung zwischen Gott und den natürlichen Gesetzen handelt. Indem Hobbes auf die Vernunft als ein „light“, also als ein Erkenntnisvermögen, verweist, legt er zudem auch sprachlich nahe, dass die Verbindlichkeit der ‚dictates of reason‘ keine Verbindlichkeit im spezifisch moralischen Sinne ist, sondern allein in der faktischen Notwendigkeit der von den natürlichen Gesetzen gebotenen und mit Hilfe der Vernunft als notwendig zu erkennenden Handlungsweisen besteht. Die Passage zeigt darüber hinaus aber auch, dass Hobbes’ vorrangiges Anliegen gar nicht darin besteht, den natürlichen Gesetzen durch Hinweis auf die Autorschaft Gottes eine bestimmte Verpflichtungskraft zuzuschreiben oder diese theoretisch zu begründen, sondern dass der Rekurs auf Gott vorrangig, wenn nicht gar ausschließlich dem Zweck dient, die inhaltliche Übereinstimmung zwischen natürlichem Gesetz und göttlichem Willen zu beweisen und den natürlichen Gesetzen damit einerseits eine zusätzliche Autorität zu verleihen und andererseits sicherzustellen, dass die Notwendigkeit der Befolgung der natürlichen Gesetze nicht auf der Grundlage religiöser Überzeugungen in Frage gestellt werden kann. Es ist dieses grundsätzliche Interesse, die Naturgesetze und die Gesetze Gottes als inhaltlich äquivalent auszuweisen, das _____________ 197 E: 99.

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nicht nur das gesamte achtzehnte Kapitel prägt, sondern auch die zahlreichen Ausführungen zum Verhältnis von ‚law of nature‘ und ‚divine law‘ im zweiten Teil der Elements, in deren Verlauf Hobbes auch die inhaltliche Übereinstimmung der natürlichen Gesetze mit den Lehren Christi hervorhebt.198 Es muss allerdings festgehalten werden, dass sich gerade im zweiten Teil der Elements auch einige Passagen finden, die im Prinzip als Belege für die ‚Taylor-Warrender-These‘ gelesen werden könnten. Eine eingehendere Betrachtung zeigt jedoch, dass die entsprechenden Deutungen nicht zwingend sind und durch Rückgriff auf den Kontext der jeweiligen Passagen in Zweifel gezogen werden können. In besonderer Weise trifft dies auf eine längere Passage des sechsten Kapitels zu, in der sich Hobbes mit der Frage auseinandersetzt, was zur Erlangung des ewigen Heils zu tun und zu unterlassen ist, und einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ziel der Erlösung und den natürlichen Gesetzen herstellt. Although to the obtaining of salvation, there be required no more, as hath been already declared out of the Holy Scriptures, as matter of faith, but the belief of those fundamental articles before set forth; nevertheless, there are required other things, as matter of obedience. For, as it is not enough in temporal kingdoms (to avoid the punishment which kings may inflict) to acknowledge the right and title of the king, without obedience also to his laws; so also it is not enough to acknowledge our Saviour Christ to be the king of heaven, in which consisteth Christian faith unless also we endeavour to obey his laws, which are the laws of the kingdom of heaven, in which consisteth Christian obedience. And forasmuch as the laws of the kingdom of heaven, are the laws of nature, as hath been showed Part I. chapt. 18, not only faith, but also the observation of the law of nature, which is that for which a man is called just or righteous (in that sense in which justice is taken not for the absence of all guilt, but for the endeavour, and constant will to do that which is just), not only faith, but this justice, which also from the effect thereof, is called repentance, and sometimes works, is necessary to salvation.199

Die Tatsache, dass Hobbes die natürlichen Gesetze als Gesetze des himmlischen Königreichs Christi bezeichnet und ihre Befolgung als notwendiges Mittel zur Erlangung des ewigen Heils präsentiert, könnte die Auffassung nahelegen, die Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze werde von Hobbes mit Hilfe eben dieses Heils bzw. über die Drohung der ewigen Verdammnis begründet. Dies ist aber nicht der Fall. Was Hobbes sagt, ist lediglich, dass zur Erlangung des ewigen Heils, also zur Erlangung eines Zieles, das bei jedem gläubigen Christen vorausgesetzt werden darf, neben der Anerkennung bestimmter Glaubensinhalte des Christentums auch ein bestimmtes Verhalten notwendig ist und dass dieses Verhalten in der Befolgung der natürlichen Gesetze besteht, die – wie von ihm an früherer Stelle gezeigt – mit _____________ 198 Vgl. etwa E: 157 und 188. 199 E: 155.

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den Gesetzen Gottes und den moralischen Lehren Christi inhaltlich übereinstimmen. Dass die Befolgung der natürlichen Gesetze ein notwendiges Mittel zur Erlangung des ewigen Heils darstellt und sie folglich von diesem Ziel gefordert ist, heißt aber keineswegs, dass sie nur durch dieses Ziel gefordert wäre oder dass sich von diesem Ziel ihre eigentliche Autorität herleiten würde. Der Kontext macht zudem deutlich, dass es Hobbes auch an dieser Stelle nicht darum geht, die Lehre von den natürlichen Gesetzen im Sinne einer wissenschaftlichen Theorie eingehender zu erörtern oder die Verbindlichkeit zu beschreiben, die ihnen im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Grundlegung zukommt. Die Frage, die Hobbes zu beantworten versucht, ist vielmehr die Frage, was zur Erlangung des ewigen Heils zu tun ist, und diese Frage ist eine Frage, die sich lediglich für einen Christen stellt, der qua seines Glaubens die Autorität der Offenbarung anerkennt, die sich aber im Rahmen der ‚moral science‘ gerade nicht stellt. Dass Hobbes dennoch die Notwendigkeit sieht, auf die Frage einzugehen, liegt allein daran, dass er im Rahmen seiner Erörterung der Notwendigkeit bürgerlichen Gehorsams gezwungen ist, sich mit dem Problem eines möglichen Widerstreitens von bürgerlichem Gesetz und göttlichem Gesetz bzw. von bürgerlicher Pflicht und christlicher Pflicht zu beschäftigen. Indem er nun zu zeigen versucht, dass die göttlichen Gesetze bei Strafe der ewigen Verdammnis eine Befolgung der natürlichen Gesetze vorschreiben, welche natürlichen Gesetze ihrerseits die Bildung der staatlichen Gemeinschaft und die Befolgung der bürgerlichen Gesetze vorschreiben, vermag er die Behauptung aufzustellen, dass ein Widerstreit wie der oben skizzierte schlicht nicht eintreten kann. Auf diese Weise stellt Hobbes seine Lehre von den natürlichen Gesetzen aber keineswegs auf eine religiöse oder theologische Grundlage, sondern er stellt einzig und allein sicher, dass es auch für gläubige Christen keinen Grund geben kann, von einer Befolgung seiner zuvor als wissenschaftliche Regeln begründeten natürlichen Gesetze abzusehen. Die einzigen wirklichen Schwierigkeiten für die traditionelle Deutung der natürlichen Gesetze ergeben sich meines Erachtens aus denjenigen Passagen, in denen Hobbes die Geltung der natürlichen Gesetzen beschreibt und ihnen ausdrücklich eine Geltung in foro interno zuspricht. Das Problem besteht dabei jedoch nicht in der von Taylor und Warrender hervorgehobenen Tatsache, dass die natürlichen Gesetze unter Umständen auch in foro externo gelten können. Wie oben bereits ausführlich dargelegt, müssen die entsprechenden Äußerungen von Hobbes nicht auf den Naturzustand als einen ‚Krieg aller gegen alle‘ angewendet werden, sondern können auch als Hinweise auf einen Zustand ausreichender Sicherheit gelesen werden, der im Naturzustand eben nicht in dieser Form zu erreichen ist, und auch ganz grundsätzlich ist mit der Behauptung einer in foro externo-Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze keineswegs zugleich die Aussage getroffen, dass es sich bei dieser Verbindlich-

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keit um eine Verbindlichkeit im streng moralischen Sinne handeln muss. Die Schwierigkeiten für die traditionelle Lesart ergeben sich vielmehr daraus, dass Hobbes den natürlichen Gesetzen mit Blick auf alle nur denkbaren Umstände und unter Rückgriff auf den stark religiös geprägten Terminus des forum internum eine konsequente Geltung in foro interno zuschreibt und dass er diese Geltung an verschiedenen Stellen seiner Argumentation auch ausdrücklich als Gewissenspflicht und als Verpflichtung vor Gott kennzeichnet und ihr auf diese Weise einen deutlichen moralischen Klang verleiht. Eine diesbezügliche Aussage findet sich, wie gesehen, bereits gegen Ende des siebzehnten Kapitels, wo Hobbes seine frühere Aussage zur in foro internoGeltung der natürlichen Gesetze mit den Worten wiederaufnimmt, die natürlichen Gesetze beträfen das Gewissen und könnten folglich auch durch eine Handlung verletzt werden, die mit den natürlichen Gesetzen zwar faktisch übereinstimme, aber in anderer Absicht ausgeführt worden sei. Vergleichbare Bezugnahmen auf das Gewissen finden sich auch im anschließenden achtzehnten Kapitel. Hobbes trifft dort nicht nur erneut die Aussage, die natürlichen Gesetze bezögen sich auf das Tribunal des Gewissens („the tribunal of our conscience“200), sondern er hebt auch ausdrücklich hervor, die Menschen müssten am Tage des Jüngsten Gerichts für ihre innere Haltung zu den Geboten der natürlichen Vernunft Rechenschaft gegenüber Gott ablegen.201 Dass Gott in das Herz und das Gewissen der Menschen zu blicken imstande sei und Verletzungen des natürlichen Gesetzes als solche zu erkennen vermöge, wird von Hobbes auch im sechsten Kapitel des zweiten Teils der Elements nachdrücklich betont,202 und im zweiten wie im neunten Kapitel weist er zusätzlich darauf hin, dass im bürgerlichen Zustand als einem Zustand der ausreichenden Sicherheit der Souverän, der ja Hobbes’ spezifischer Definition von ‚injustice‘ und ‚injury‘ zufolge mit Blick auf seine Untertanen kein Unrecht begehen kann, nicht nur zur äußeren Befolgung der natürlichen Gesetze verpflichtet sei, sondern dass etwaige Verletzungen des natürlichen Gesetzes als „unjust“203 und „wicked“204 gegenüber Gott zu werten seien und von Gott mit der Strafe des ewigen Todes geahndet würden. Having hitherto set forth how a body politic is made, and how it may be destroyed, this place requireth to say something concerning the preservation of the same. Not purposing to enter into the particulars of the art of government, but to sum up the general heads, wherein such art is to be employed, and in which consisteth the duty of him or them that have the sovereign power. For the duty of a sovereign consisteth in the good government of the people; and although the acts of sovereign power be no

_____________ 200 201 202 203 204

E: 98. Vgl. E: 99. Vgl. E: 146. E: 120. E: 121.

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injuries to the subjects who have consented to the same by their implicit wills, yet when they tend to the hurt of the people in general, they be breaches of the law of nature, and of the divine law; and consequently, the contrary acts are the duties of sovereigns, and required at their hands to the utmost of their endeavour, by God Almighty, under the pain of eternal death.205

Es lässt sich nun mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass alle diejenigen Passagen der Elements, in denen Hobbes Gott die Rolle eines Richters zugesteht und unter expliziter oder impliziter Bezugnahme auf die Heilige Schrift auf diejenigen Sanktionen verweist, die auf die Vernachlässigung der Pflicht gegenüber den natürlichen Gesetzen folgen werden oder folgen können, in eben derselben Weise aus der eigentlichen wissenschaftlichen Argumentation herausfallen wie schon die von uns zuvor besprochene Passage und dass sie einmal mehr lediglich dem Zweck dienen, die Kraft der Lehre von den natürlichen Gesetzen dadurch zu stärken, dass man die Gebote der natürlichen Vernunft als vereinbar mit den zentralen Lehren und Forderungen der christlichen Religion ausweist oder sie sogar selbst als Inhalte religiöser Forderungen präsentiert. Dass Hobbes dabei gerade die Pflichten, die dem Inhaber der souveränen Gewalt zukommen, mit besonderem Nachdruck und besonderer rhetorischer Kraft hervorhebt, lässt sich damit erklären, dass die spezifisch Hobbes’sche Lehre vom Gesellschaftsvertrag keinerlei vertragliche Pflichten des Souveräns zu begründen in der Lage ist und die Hobbes’sche Staatstheorie daher deutlich positivistische Züge trägt. Es ist gerade die Tatsache, dass der staatliche Souverän durch keinerlei Gesetze gebunden scheint und als Einziger sein natürliches Recht beibehält, die Hobbes’ Theorie des natürlichen Rechts und der natürlichen Gesetze in eine entscheidende Distanz zur traditionellen Naturrechtstheorie geraten lässt, in der das natürliche Recht ja gerade als Schutz gegen die individuellen Launen des Herrschers und seine möglicherweise tyrannische Amtsführung fungiert. Wie etwa die Ausführungen zeigen, in denen Hobbes die Gefahr eines Missbrauchs der souveränen Gewalt herunterzuspielen und den Begriff des ‚Tyrannen‘ als eine Art polemischen und propagandistischen Ausdruck zurückzuweisen versucht,206 ist Hobbes sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die Allmacht, mit der er seinen staatlichen Herrscher ausstattet, den Positionen vieler Theoretiker seiner Zeit und insbesondere denen der Theoretiker des englischen Parlaments deutlich entgegengesetzt ist und einen möglichen Angriffspunkt seiner politischen Theorie bildet. Es kann angesichts dessen nicht überraschen, wenn Hobbes ein ausgesprochen geringes Interesse zeigt einzugestehen, dass es sich bei den Pflichten seines Souveräns lediglich um Klugheitspflichten handelt, und dass er stattdessen versucht, die Beschränkungen, denen der _____________ 205 E: 178f. 206 Vgl. E: 174f.

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staatliche Souverän unterworfen ist, mit Hilfe all derjenigen Mittel zu betonen und zu stärken, die auf die Zustimmung seiner weitgehend christlichen Leserschaft hoffen durften. Selbst wenn man sich dieser Bewertung der Passagen aus dem zweiten Teil der Elements sowie aus dem achtzehnten Kapitel des ersten Teils anschließen sollte, bleibt aber noch die grundsätzliche in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze zu erklären, die Hobbes im siebzehnten Kapitel ohne direkten Rückgriff auf Gott als einen strafenden Richter behauptet und die als solche ohne Zweifel einen Teil seiner wissenschaftlichen Theorie der natürlichen Gesetze ausmacht. Man kann ohne Übertreibung die Auffassung vertreten, dass die betreffende Passage sowie die entsprechenden, jeweils nur wenig abweichenden Passagen der anderen Hobbes’schen Schriften zu denjenigen Ausführungen zählen, die der Hobbes-Forschung in der Vergangenheit am meisten Schwierigkeiten bereitet haben. Es muss aber nachdrücklich betont werden, dass sich keineswegs nur die traditionelle Lesart diesen Schwierigkeiten gegenübersieht, sondern in vergleichbarer Weise auch die Interpretationen Taylors und Warrenders sowie die ihrer Nachfolger. Die ‚Taylor-WarrenderThese‘ mag zwar den moralischen Untertönen der von Hobbes beschriebenen in foro interno-Geltung allgemein eher Plausibilität zu verleihen als die traditionelle Deutung der natürlichen Gesetze. Die letztlich entscheidende Frage, wie die betreffende Gewissenspflicht als Pflicht zu einem bestimmten Willen oder Verlangen innerhalb des Hobbes’schen Systems überhaupt sinnvoll gedacht werden kann, vermag sie aber eher noch weniger zu beantworten als jene. Das entscheidende Problem besteht darin, dass die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze, so wie sie von Hobbes beschrieben wird, nämlich als Verpflichtung zum Willen und zur Bereitschaft, den natürlichen Gesetzen zu folgen, nicht aber als Verpflichtung, die betreffende Handlung auch auszuführen, kaum mit Hobbes’ eigener Definition des Willens und des Überlegungsprozesses vereinbar ist. Wie im Rahmen unserer Erörterung des fünften Kapitels des ersten Teils der Elements deutlich geworden ist, definiert Hobbes den Willen als diejenige Neigung, die im Überlegungsprozess letztlich die Oberhand gewinnt und unmittelbar in die Ausführung der in Frage stehenden Handlung übergeht. Legt man diese Definition zugrunde, dann ist es den Hobbes’schen Individuen aber grundsätzlich unmöglich, eine bestimmte Handlung zu wollen, ohne diese Handlung zugleich auch auszuführen. Entweder verfügen die Hobbes’schen Individuen über einen bestimmten Willen; dann werden sie diesen Willen aber auch zwangsläufig in die Tat umsetzen. Oder sie handeln noch nicht, weil sie sich noch im Überlegungsprozess befinden oder diesen noch gar nicht begonnen haben; dann verfügen sie aber auch noch nicht über einen bestimmten Willen. Das im siebzehnten Kapitel von Hobbes’ offenbar beschriebene Dritte jedoch, dass nämlich die Indivi-

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duen eigentlich über einen bestimmten Willen verfügen, von der Ausführung der Handlung aber aufgrund bestimmter äußerer Gegebenheiten und gleichsam bewusst absehen, um gleichwohl an ihrem eigentlichen Willen festzuhalten, scheint im Rahmen der Hobbes’schen Lehre schlicht unmöglich zu sein, Dann muss es aber auch unsinnig erscheinen, den Individuen die Pflicht zur Bildung des betreffenden Willens aufzuerlegen, erst recht, da der Überlegungsprozess, der der Bildung jedes Willens vorausgeht, von Hobbes als ein eher passiver Vorgang geschildert wird, auf dessen Verlauf und Ausgang die Individuen keinen wirklichen Einfluss nehmen können. Es kann meines Erachtens keine Interpretation geben, die die hier beschriebenen Probleme der in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze vollständig aufzulösen imstande wäre. Aus meiner Sicht muss jedoch eine Deutung, die die so problematische innere Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze auch noch als eine gleichsam objektiv gegebene moralische Verpflichtung im strengen Sinne interpretiert, letztlich auf noch größere Probleme stoßen als eine Deutung, die die natürlichen Gesetze als hypothetische Imperative interpretiert und ihre Kraft als Ausdruck der unabänderbaren Gegebenheiten der Natur begreift, d.h. als Ausdruck der unabänderbaren fundamentalen Bedingungen einer jeden vernünftigen menschlichen Handlung. Legt man die traditionelle Lesart zugrunde, dann ließe sich die Behauptung einer in foro interno-Geltung der Naturgesetze immerhin dahingehend erklären und rechtfertigen, dass die prinzipielle Notwendigkeit der von den natürlichen Gesetzen gebotenen Handlungsweisen den menschlichen Willen, wenn sie ihn auch nicht abschließend zu bestimmen vermag, doch zumindest prädeterminiert. Der Wille, die Naturgesetze zu befolgen, wäre danach zwar nicht als ständig gegeben anzusehen, weil dies ja auch notwendig die Ausführung der entsprechenden Handlungen implizieren würde. Der Wille wäre aber bei allen vernünftigen Individuen durch die grundsätzliche Notwendigkeit der gebotenen Handlungsweisen in gewissem Sinne auf eine Befolgung der Naturgesetze hin vorbestimmt, und diese eingeschränkte innere Kraft der natürlichen Gesetze würde überall da in die vollständige Bildung des Willens und folglich auch in die entsprechende Handlung übergehen, wo keine äußeren Umstände, d.h. keine drohenden Gefahren, intervenieren, die Wirkung der willensprädeterminierenden Naturgesetze überlagern und stattdessen die Bildung eines anderen Willens bewirken, nämlich des Willens zur Missachtung der Naturgesetze. Folgt man der hier skizzierten Deutung der in foro interno-Geltung der Naturgesetze, dann handelt es sich beim Konzept der naturgesetzlichen Verpflichtung in foro interno jedoch offenbar um ein Konzept, das in erster Linie die faktische Wirkung der natürlichen Gesetze im Rahmen des konkreten Bewusstseins- und Überlegungsprozesses beschreibt, der den Handlungen eines Individuums vorausgeht. Während eine solche Deutung mit der tradi-

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tionellen Lesart ohne größere Schwierigkeiten vereinbar ist, muss sie die ‚Taylor-Warrender-These‘, nach der es sich bei der Verpflichtung in foro interno um eine gleichsam objektiv bestehende und von der faktischen Anerkennung durch die Individuen unabhängige moralische Pflicht handelt, ihres zentralen Elementes berauben. Eine entscheidende Stützung erfährt unsere Deutung der in foro internoVerpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze nun durch Hobbes’ eigene Definition des Begriffes ‚conscience‘, die er im sechsten Kapitel der Elements im Anschluss an seine Erörterung der Begriffe ‚knowledge‘, science‘ und ‚belief‘ entwickelt und die eine jede moralisierende Deutung der Gewissenspflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze insofern erschweren muss, als sie den Begriff ‚conscience‘ weitgehend mit dem Begriff ‚opinion‘ gleichsetzt. It is either science or opinion which we commonly mean by the word conscience: for men say that such and such a thing is true upon, or in their consciences; which they never do, when they think it doubtful; and therefore they know, or think they know it to be true. But men, when they say things upon their conscience, are not therefore presumed certainly to know the truth of what they say. It remaineth then, that that word is used by them that have an opinion, not of the truth of the thing, but also of their knowledge of it. So that conscience, as men commonly use the word, signifieth an opinion, not so much of the truth of the proposition, as of their knowledge of it, to which the truth of the proposition is consequent. CONSCIENCE therefore I define to be opinion of evidence.207

Dass der moralisch und religiös aufgeladene Begriff des Gewissens, der im Rahmen der politischen Diskurse von Hobbes’ Zeit oftmals zur Rechtfertigung des Widerstandes gegen den staatlichen Souverän und seine Gesetze ins Feld geführt worden war, letztlich nicht mehr bezeichnet, als die subjektiven Meinungen und Urteile eines Individuums, wird von Hobbes in zwei späteren Passagen der Elements noch einmal nachdrücklich betont. Die erste der beiden Passagen findet sich im fünften Kapitel des zweiten Teils, in dem Hobbes zu zeigen versucht, dass die Unannehmlichkeiten („inconveniences“208), die den Untertanen aus der Existenz des Staates vermeintlich erwachsen, nämlich der Verlust der natürlichen Freiheit und der fehlende Schutz vor einem Eingreifen des Souveräns in das Privateigentum des Einzelnen, in Wahrheit keine Unannehmlichkeiten darstellen. Um den ersten der vermeintlichen Nachteile des staatlichen Zusammenlebens als Vorteil auszuweisen, verweist Hobbes noch einmal auf die prinzipiellen Gefahren des Naturzustandes und setzt dabei den Freiheitsverlust der Bürger nicht nur zu seiner früheren Charakterisierung des Naturzustandes in Bezug, nach dem im Naturzustand jeder Rich_____________ 207 E: 27. 208 E: 139.

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ter in eigener Sache ist und ausschließlich dem eigenen Urteil folgt, sondern stellt den Begriff „judgment“ auch explizit mit dem Begriff „conscience“ auf eine Stufe. For the first, it consisteth in this, that a subject may no more govern his own actions according to his own discretion and judgment, or, (which is all one) conscience, as the present occasions from time to time shall dictate; but must be tied to do according to that will only, which once for all he had long ago laid up, and involved in the wills of the major part of an assembly, or in the will of some one man. But this is really no inconvenience. For, as it hath been showed before, it is the only means by which we have any possibility of preserving ourselves; for if every man were allowed this liberty of following his conscience, in such difference of consciences, they would not live together in peace an hour.209

Die zweite Passage findet sich im anschließenden sechsten Kapitel, in dem Hobbes sich nun direkt mit dem vermeintlichen Problem auseinandersetzt, die Befolgung der Befehle und Gesetze des souveränen Herrschers könnte mit dem Gewissen unvereinbar sein. Hobbes gesteht an dieser Stelle zwar zu, dass eine Handlung gegen das eigene Gewissen eine Sünde darstellt. Er entkleidet die Begriffe ‚sin‘ und ‚conscience‘ aber dadurch ihrer moralischen und religiösen Konnotationen, dass er das Gewissen einmal mehr auf das Urteil und die Meinung des Einzelnen reduziert, und er betont vor diesem Hintergrund, dass das Gewissen des Einzelnen im staatlichen Zustand durch die Urteile des Souveräns und damit durch ein gleichsam öffentliches Gewissen ersetzt werden. And though it be true, whatsoever a man doth contrary to his conscience, is sin; yet the obedience in these cases, is neither sin, nor against the conscience. For the conscience being nothing else but a man’s settled judgment and opinion, and when he hath once transferred his right of judging to another, that which shall be commanded, is no less his judgment, than the judgment of that other; so that in obedience to laws, a man doth still according to his conscience, but not his private conscience.210

Vor dem Hintergrund dieser Aussagen zum Gewissensbegriff, deren direkte Relevanz für die Bewertung der ‚Taylor-Warrender-These‘ bislang nicht hinreichend gewürdigt worden ist,211 muss letztlich jede religiös-moralisierende _____________ 209 E: 139. 210 E: 157. 211 Der Hobbes’sche Begriff des Gewissens ist bislang insgesamt zu wenig untersucht worden (vgl. auch Feldman 2001: 21). Hinweise auf Hobbes’ spezifisches Verständnis von ‘conscience’ bzw. ‘conscientia’ und Einschätzungen zur allgemeinen argumentativen Bedeutung von Hobbes’ Definition finden sich zwar bei Habermas und Koselleck (vgl. Habermas 1969: 103f.; und Koselleck 1997: 161f.). Auf die Relevanz der Begriffsdefinition für die Deutung der in foro internoVerpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen weisen die beiden Autoren aber nicht hin, und Gleiches gilt für Feldman, die kürzlich die erste umfangreichere Auseinandersetzung mit

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Deutung der Gewissenspflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze als unangemessen erscheinen. So sehr Hobbes sich auch an einigen Stellen der Elements die ursprünglichen religiös-moralischen Konnotationen des Begriffes forum internum vordergründig zu eigen zu machen scheint: Seine eigene wissenschaftliche Theorie liefert keine Grundlage, um in der in foro internoVerpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze mehr zu erblicken als die prädeterminierende Wirkung, die die irdischen Kausalzusammenhänge und die spezifischen Handlungsbedingungen des Naturzustandes auf den menschlichen Überlegungsprozess und damit auf den Willen eines vernünftigen Individuums ausüben. Dass Hobbes in den späteren Passagen der Elements teilweise über seinen eigenen, mehrfach bekräftigten Begriff des Gewissens hinausgeht und die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze selbst in moralisierender Weise beschreibt, mag auf das aufrichtige Bemühens zurückzuführen sein, das rein wissenschaftliche Argument durch religiöse Positionen zu ergänzen und zu stärken. Man mag es auch als bloß vordergründiges Zugeständnis an die moralphilosophische Tradition und als Resultat eines bewussten Verschleierungsversuches deuten. Als Bestandteil des eigentlichen wissenschaftlichen Argumentes können die betreffenden Passagen aber in keinem Fall gelten, da sich das dort angedeutete und von Taylor und Warrender in den Mittelpunkt ihrer Interpretation gerückte moralisierende Verständnis der in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze mit Hobbes’ allgemeinen wissenschaftlichen Ausführungen zum menschlichen Willen, zur Vernunft, zum Überlegungsprozess und zum Gewissen nicht in überzeugender Weise vereinbaren lässt. Angesichts dieses Fazits trägt daher selbst die auf den ersten Blick so problematische in foro interno-Geltung der Naturgesetze letztlich eher zur weiteren Stützung der traditionellen Lesart bei als zur Stärkung der ‚Taylor-Warrender-These‘. Es kann folglich mit Blick auf den Text der Elements of Law insgesamt festgehalten werden, dass Hobbes den Naturgesetzen im Rahmen seiner wissenschaftlichen Theorie keine moralische Verbindlichkeit im strikten Sinne des Wortes zugesteht, sondern sie als Klugheitsregeln präsentiert, die vom vorausgesetzten Zweck der Selbsterhaltung und vom daraus abgeleiteten Zweck des Friedens abhängig sind. Einige der Ausführungen, die Hobbes im Anschluss an die eigentliche Diskussion der natürlichen Gesetze entwickelt, legen zwar nahe, dass er die natürlichen Gesetze auch als göttliche Gesetze versteht und ihnen vor diesem theologisch-religiösen Hintergrund eine umfassendere Verbindlichkeit zuschreiben will. Angesichts des Hobbes’schen Verständnisses der Begriffe ‚knowledge‘ und ‚science‘ können die entsprechenden Aussagen aber nicht als Teil der eigentlichen Theorie der natürlichen _____________ dem Hobbes’schen Gewissensbegriff vorgelegt hat, die sich aber ausschließlich auf den Leviathan und auf rhetorische Fragestellungen konzentriert.

6.2 The Elements of Law

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Gesetze und als Teil des eigentlichen philosophischen Argumentes gewertet werden. Es kann zudem nicht immer mit letzter Sicherheit gesagt werden, ob Hobbes selbst den Glauben an die Existenz göttlicher Gesetze und göttlicher Strafen überhaupt teilt oder ob er nur mit Blick auf seine Leserschaft und zur Unterstützung seines eigentlichen Argumentes auf Positionen verweist und zurückgreift, die zwar mit seiner Lehre vereinbar sind und die er auch zu haben vorgibt, die aber seinem ‚private view‘ gar nicht wirklich entsprechen. 6.2.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre Es bleibt abschließend noch die Frage zu klären, inwiefern es sich bei der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetze um eine tugendethische Theorie handelt. Dabei scheint es mir sinnvoll, weniger die Frage in den Mittelpunkt zu rücken, ob Hobbes’ Lehre unter Umständen in dieser Weise gelesen werden kann, als vielmehr die Frage, ob eine solche Deutung als zwingend angesehen werden kann oder ob im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis der Hobbes’schen Philosophie durch eine derartige Deutung etwas gewonnen ist. Versteht man die Frage nach dem Charakter der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen in dieser Weise, so sind meines Erachtens deutliche Zweifel an der tugendethischen Lesart angebracht. Es ist oben deutlich geworden, dass die Auffassung, es handle sich bei der Hobbes’schen Moralphilosophie um eine Theorie der Tugenden und Laster, im Prinzip erst innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte aufgekommen ist, beginnend mit Gerts Aufsatz aus dem Jahr 1988. Es liegt daher ausgesprochen nahe, die Versuche, Hobbes’ Moralphilosophie als tugendethische Theorie auszuweisen, in den Zusammenhang der gegenwärtigen Renaissance der Tugendethik einzuordnen, die sich in letzter Konsequenz auf die Arbeiten Elisabeth Anscombes, Philippa Foots und Alasdair MacIntyres zurückführen lässt212 und die gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ihren Niederschlag in einer bemerkenswerten Anzahl tugendtheoretischer Veröffentlichungen gefunden hat.213 Bayertz hat in seinem kürzlich erschienenen kritischen Überblick über die entsprechenden Publikationen hervorgehoben, dass die in der Literatur verbreitete plakative Gegenüberstellung von antiker Ethik einerseits und moderner Ethik andererseits bzw. von tugendethischen Ansätzen auf der einen und konsequenzialistischen und deontologischen Ansätzen auf der anderen Seite nicht frei von Problemen ist und dass sich die Differenzen _____________ 212 Vgl. Anscombe 1958; Foot 1978; und MacIntyre 1981. 213 Zu den Autoren, die sich in der jüngeren Vergangenheit eingehend mit dem Tugendbegriff auseinandergesetzt bzw. diesen für die gegenwärtige ethische Diskussion zu nutzen versucht haben, zählen beispielsweise Hursthouse 1999; Hurka 2000; Borchers 2001; Rhonheimer 2001; Steinfath 2001; McDowell 2002; und Swanton 2003.

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6. Die natürlichen Gesetze

zwischen den entsprechenden ethischen Richtungen nur schwer unter Schlagwörter wie eudämonistisch/nicht-eudämonistisch, selbstbezogen/ fremdbezogen oder akteurszentriert/handlungszentriert subsummieren lassen. Bayertz betont aber, dass sich tugendethische Positionen immerhin insofern sinnvoll von nicht-tugendethischen Positionen unterscheiden und abgrenzen lassen, als erstere dem Tugendbegriff allgemein einen systematischen Stellenwert zugestehen, den ihm letztere verweigern. Um tugendethische Theorien handelt es danach bei solchen, die den Charakter einer Handlung dem Charakter der handelnden Person nachordnen und eine Handlung als ‚gut‘ bewerten, insofern sie und weil sie von einer tugendhaften Person ausgeführt wird. Für nicht-tugendethische Positionen sei demgegenüber kennzeichnend, dass Handlungen unabhängig von den Charaktereigenschaften der handelnden Person als ‚gut‘ oder ‚richtig‘ klassifiziert werden und dann erst in einem zweiten und abgeleiteten Schritt diejenigen Charaktereigenschaften als Tugenden begriffen werden, die gute Handlungen hervorzubringen imstande sind.214 Geht man von diesem zentralen Unterscheidungsmerkmal aus, dann muss es als ausgesprochen fragwürdig erscheinen, ob man die Hobbes’sche Theorie der natürlichen Gesetze sinnvollerweise in den Bereich der tugendethischen Theorien einordnen kann. Schon der äußere Aufbau der Hobbes’schen Theorie und die Gewichtung der verschiedenen Untersuchungsgegenstände widerspricht der Auffassung, dem Tugendbegriff komme innerhalb der Hobbes’schen Moralphilosophie der Primat gegenüber dem Handlungsbegriff zu. Die Lehre des natürlichen Rechts und der natürlichen Gesetze widmet sich, wie überhaupt die gesamte Naturzustandstheorie, vorrangig der Beschreibung und Bewertung von Handlungen, und sie nimmt die Beschreibung und Bewertung dieser Handlungen konsequent vor dem Hintergrund des menschlichen Selbsterhaltungsstrebens vor, bei welchem Zweck es sich, wie gesehen, keineswegs um ein telos im aristotelischen Sinne, um ein summum bonum oder den Inbegriff menschlicher Vervollkommnung handelt, sondern um ein Ziel, über das die Menschen, solange sie nur in einem ausgesprochen begrenzten Sinne vernünftig sind, faktisch immer schon verfügen. Den menschlichen Charaktereigenschaften und der Frage, inwiefern diese als gut zu gelten haben, widmet sich Hobbes dagegen im Rahmen der eigentlichen Moralphilosophie kaum. Neben den beiden oben zitierten Passagen des siebzehnten Kapitels, in denen Hobbes die natürlichen Gesetze nachträglich, d.h. im Anschluss an deren eigentliche Erörterung, zum Tugendbegriff in Beziehung setzt, ist lediglich die bislang noch nicht ausführlich untersuchte Passage zu nennen, in der Hobbes die Gerechtigkeit von Personen der Gerechtigkeit von Handlungen gegenüberstellt und dabei etwas eingehender den Begriff des _____________ 214 Vgl. Bayertz 2005: 121 und 131.

6.2 The Elements of Law

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„just man“215 erläutert. Auch ohne die betreffende Passage, auf die im Zuge unserer Untersuchung der Hobbes’schen Vertragstheorie genauer einzugehen sein wird, hier im Detail zu analysieren, kann betont werden, dass Hobbes’ Ausführungen vorrangig einen definitorischen Zweck verfolgen und dabei keineswegs von dem Bestreben geprägt sind, die Beschreibung guter und schlechter Charaktereigenschaften zum eigentlichen Gegenstand seiner Moralphilosophie oder seiner Vertragslehre zu erklären. Hobbes bemüht sich zwar, auf den doppelten Gebrauch der Begriffe ‚just‘ und ‚unjust‘ hinzuweisen und seine bisherigen Ausführungen zur Gerechtigkeit auf diese Weise in einen größeren Kontext einzuordnen. Dass er selbst in erster Linie an der Erörterung gerechter und ungerechter Handlungen interessiert ist, wird aber nicht zuletzt dadurch unmissverständlich deutlich, dass er sich direkt im Anschluss an die hier beschriebene Passage wieder ausschließlich der „justice of actions“216 zuwendet, eine Beschränkung, die letztlich die gesamte weitere Ableitung der natürlichen Gesetze prägt. Dass es sich bei der Unterordnung des Tugendbegriffs unter den Handlungsbegriff nicht nur um eine äußere, gleichsam kompositorische Unterordnung, sondern ganz im Sinne des oben beschriebenen Unterscheidungskriteriums auch um eine logische Unterordnung handelt, wird gerade in derjenigen Passage offensichtlich, in der Hobbes die Befolgung der natürlichen Gesetze mit dem Begriff der Tugend beschreibt und damit überhaupt erst den Anlass zur tugendethischen Deutung seiner Moralphilosophie gibt. Hobbes bezeichnet zwar gegen Ende des siebzehnten Kapitels die gewohnheitsmäßige Befolgung der natürlichen Gesetze nicht nur mit dem Begriff ‚good‘, sondern wenig später auch ausdrücklich mit dem Begriff ‚virtue‘. In beiden Fällen handelt es sich aber bei dieser Beschreibung und Bewertung der Gewohnheit zur Befolgung der Naturgesetze um eine ergänzende und sekundäre Kennzeichnung, die aus der primären Bewertung der konkreten Handlungen abgeleitet wird und logisch erst aus dieser folgt. And therefore the fulfilling of all these laws is good in reason; and the breaking of them evil. And so also the habit, or disposition, or intention to fulfil them good; and the neglect of them evil. And from hence cometh that distinction of malum poenae, and malum culpae; for malum poenae is any pain or molestation of mind whatsoever; but malum culpae is that action which is contrary to reason and the law of nature; as also the habit of doing according to these and other laws of nature that tend to our preservation, is that we call VIRTUE; and the habit of doing the contrary, VICE.217

Wie der Gebrauch der von mir hervorgehobenen Wendungen „And so also“ und „as also“ unmissverständlich deutlich macht, präsentiert Hobbes sowohl _____________ 215 E: 83. 216 E: 83. 217 E: 94. (Hervorh. v. mir)

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6. Die natürlichen Gesetze

die Tatsache, dass es sich bei der habituellen Befolgung der Naturgesetze um ein Gut handelt, als auch die Tatsache, dass es sich bei ihr um eine Tugend handelt, als gleichsam zwangsläufige Konsequenz aus der Tatsache, dass es sich bei jeder einzelnen mit dem Naturgesetz übereinstimmenden Handlung um ein Gut handelt. Weit davon entfernt, die Bewertung einzelner Handlungen der Bewertung des Charakters logisch nachzuordnen, leitet Hobbes also umgekehrt den Wert bestimmter Charaktereigenschaften aus dem Wert bestimmter Handlungen ab und begreift das und nur das als Tugend, was den Handelnden zur Ausführung guter Handlungen disponiert, und das heißt, ihn zur Ausführung von Handlungen disponiert, die an sich betrachtet, also unabhängig von etwaigen Charaktereigenschaften, als ‚gut‘ zu bewerten sind. Dem Tugendbegriff den Primat gegenüber dem Handlungsbegriff zusprechen zu wollen, erscheint aber nicht nur mit Blick auf den Aufbau der Hobbes’schen Argumentation und auf die logische Anordnung einiger zentraler Aussagen fragwürdig, sondern auch angesichts der von Hobbes insgesamt vertretenen inhaltlichen Positionen. Die Behauptung, Hobbes ordne die Bewertung von Handlungen logisch der Bewertung menschlicher Charaktereigenschaften nach, ist auch deshalb unmöglich aufzurechtzuerhalten, weil es im Rahmen der Hobbes’schen Lehre keine Charaktereigenschaften gibt, die uneingeschränkt als ‚gut‘ gelten können. Hobbes’ Ausführungen und insbesondere die letzte Passage des siebzehnten Kapitels, in der Hobbes die Verbreitung von Angst und Schrecken als Summe der naturzuständlichen Tugenden bezeichnet, lassen keinen Zweifel daran, dass im Naturzustand als dem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ prinzipiell andere Charaktereigenschaften wertvoll sein können als im staatlichen Zustand, und die grundsätzliche Einschränkung, mit der Hobbes die Geltung der natürlichen Gesetze versieht, macht deutlich, dass jedes Individuum, das im Naturzustand eine habituelle Neigung zur Befolgung der natürlichen Gesetze entwickeln würde, sich zwangsläufig zur Beute der anderen machen und folglich außerordentlich irrational handeln würde. Gerade weil die natürlichen Gesetze ihren Zweck nur da erfüllen, wo sie allgemein geachtet und daher ohne Gefahr für das eigene Leben befolgt werden können, muss ein vernünftiges Individuum im Naturzustand daran interessiert sein, keinen wie auch immer gearteten Habitus zu entwickeln, sondern in jedem konkreten Fall aufs Neue zu entscheiden, welche Handlungsweise mit Blick auf die eigenen Interessen am besten ist. Man mag nun zwar zurecht darauf verweisen, dass es im Rahmen der Hobbes’schen Theorie auch keine Handlungen gibt, die immer und überall als ‚gut‘ anzusehen sind. Dies trifft aber nur in dem Sinne zu, dass angesichts der Vielfalt der möglichen Umstände keine inhaltliche Festlegung auf einen strikt allgemeingültigen Kanon ‚guter‘ Handlungen möglich ist. Es lässt sich aber immerhin die formale Aussage treffen, dass grundsätzlich alle Handlungen ‚gut‘ sind, die die Interessen des Handelnden befördern und insbesondere

6.2 The Elements of Law

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sein Interesse an der eigenen Erhaltung. Während sich daher aber alle ‚guten‘ Handlungen auf den Zweck der Selbsterhaltung und damit auf die basalen Interessen der Menschen zurückführen lassen, können diese Handlungen doch kaum im Sinne der Tugendethik gleichermaßen auf bestimmte menschliche Charaktereigenschaften zurückgeführt werden. Gerade da die ‚guten‘ Handlungen bei Hobbes ihren Wert nicht aus dem Wert bestimmter Charaktereigenschaften herleiten, sondern da umgekehrt immer nur die Charaktereigenschaften als ‚gut‘ zu gelten haben, die die von den Umständen jeweils geforderten Handlungen hervorzubringen geeignet sind, können bei Hobbes sowohl solche Charaktereigenschaften den Namen der Tugend erhalten, die das friedliche Zusammenleben und das Glück der Menschen im Staate fördern, als auch solche, die der Tötung und Unterwerfung etwaiger Feinde im Naturzustand dienlich sind. Der gemeinsame Nenner, auf den sich die Hobbes’schen Naturgesetze bringen lassen, besteht demnach nicht in bestimmten, als ‚gut‘ zu bewertenden menschlichen Charaktereigenschaften, aus denen die von den natürlichen Gesetzen gebotenen Handlungen jeweils hervorgehen, sondern in der Tatsache, dass sie allesamt Handlungen gebieten, die der Selbsterhaltung dienlich sind, und ihre Gebote auch konsequent auf die faktisch hervorgebrachten Folgen der Handlungen und ihre faktische Zuträglichkeit zur Selbsterhaltung ausrichten. Vermag man – wie Hobbes mit seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen – einen Kanon von Handlungsweisen aufzustellen, die zwar nicht immer und überall vernünftig sein mögen, für die dauerhafte Erhaltung der Menschen aber letztlich unverzichtbar sind, so lässt sich sicher mit einigem Recht auch die Behauptung aufstellen, diejenigen Charaktereigenschaften, die die allgemeine Ausführung der betreffenden Handlungen zur Folge hätten, könnten in gewissem Sinne als Tugenden angesehen werden, und diejenigen Charaktereigenschaften, die eine Missachtung der natürlichen Gesetze nach sich zögen, seien als Laster zu begreifen. Diese Folgerung ist aber letztlich so trivial und auch in so viele verschiedene moralphilosophische Positionen sinnvoll zu integrieren, dass sie keine hinreichende Basis dafür bietet, Hobbes’ Lehre von den natürlichen Gesetzen als tugendethische Theorie zu bezeichnen. Entscheidend ist zudem, dass die betreffenden Charaktereigenschaften nur im staatlichen Zustand in dieser Weise als Tugenden verstanden können und dass im Naturzustand, also in dem Zustand, dessen Beschreibung Hobbes einen Großteil seiner politischen Theorie widmet, die Entwicklung eines bestimmten Habitus oder bestimmter Handlungsgewohnheiten irrational erscheint. Da Hobbes folglich über weite Strecken seiner Theorie einen Zustand beschreibt, in dem es gut ist, überhaupt keine festen Sitten und Gewohnheiten zu entwickeln, sondern sich immer an die wechselnden Verhältnisse anzupassen und sich gleichsam immer neu zu erfinden, und da er die als ‚gut‘ zu bewertenden Charaktereigenschaften an die als ‚gut‘ zu bewertenden

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6. Die natürlichen Gesetze

Handlungen und diese wieder an den empirischen Zweck der Selbsterhaltung zurückbindet, gibt es aus meiner Sicht keinen überzeugenden Grund, dem Begriff der Tugend, der ja nur an wenigen Stellen der Elements überhaupt Erwähnung findet, eine solche Bedeutung beizumessen wie Gert, Ewin, Boonin-Vail und Berkowitz dies tun. Dass und warum Hobbes den Tugendbegriff nicht zum zentralen Begriff seiner Moralphilosophie macht, lässt sich zudem auch mit einem Hinweis auf das eigentliche Ziel von Hobbes’ Theorie verdeutlichen. Wie bereits angedeutet worden ist und wie aus vielen seiner Äußerungen hervorgeht, ist Hobbes vor allem anderen daran interessiert, die Notwendigkeit bürgerlichen Gehorsams zu begründen und auf die Gefahren hinzuweisen, die dem Staat und seinen Bürgern durch das Aufkommen sozialer Unruhen drohen. Die Machtfülle, mit der Hobbes den staatlichen Souverän ausstattet, zeigt dabei deutlich, dass Hobbes sich, so sehr er die Notwendigkeit der Erziehung der Bürger anerkennen und betonen mag, nicht der Illusion hingegeben hat, der Frieden innerhalb eines Staates könne ganz ohne die Androhung und Durchführung von Strafen aufrechterhalten werden. So sehr daher die Entwicklung moralischer Tugenden auf Seiten der Bürger der Stabilität des Staates förderlich sein mögen – und damit dem Ziel, um das es Hobbes eigentlich geht –, so wenig wird doch seiner Einschätzung nach jemals allein auf den guten Charakter der Bürger und auf ihre Neigung zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen vertraut werden können. Die individuellen Tugenden der Bürger wie der Menschen überhaupt sind daher für Hobbes von deutlich geringerem Interesse als die äußeren Mittel, mit denen innerhalb des Staates bestimmte Handlungen hervorgebracht werden können. Entsprechend geht es Hobbes auch in seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen nicht so sehr darum, die Menschen zur Bildung bestimmter Charaktereigenschaften anzuhalten, sondern eher darum, sie durch die Hervorhebung der Folgen bestimmter Verhaltensweisen zur Unterlassung bestimmter Handlungen zu bewegen. Die Frage, die zu beantworten bleibt, ist, warum Hobbes dann überhaupt Wert darauf legt, die natürlichen Gesetze in den Kontext des Tugendbegriffs einzuordnen. Aus meiner Sicht ist Hobbes’ eigentliches Anliegen einmal mehr darin zu sehen, die inhaltliche Übereinstimmung seiner neuen, wissenschaftlich begründeten Lehre von den natürlichen Gesetzen mit der traditionellen Moral hervorzuheben und sich gleichzeitig explizit von Positionen anderer Theoretiker abzugrenzen. Blickt man noch einmal auf die längere Passage gegen Ende des siebzehnten Kapitels, in der Hobbes die habituelle Befolgung der natürlichen Gesetze als „virtue“ und deren habituelle Verletzung als „vice“ bezeichnet, dann zeigt sich, dass Hobbes die Verwendung der Begriff „virtue“ und „vice“ einerseits dazu nutzt, seine Lehre von den natürlichen Gesetzen mit dem Tugendbegriff zugleich auch in den Kontext der traditionellen Unterscheidung von malum poenae und malum culpae einzuordnen, und

6.3 De Cive

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dass er den Tugendbegriff andererseits zum Anlass nimmt, sich ein weiteres Mal nachdrücklich von der Lehre des Aristoteles zu distanzieren. Hobbes’ Bezugnahme auf den Begriff der Tugend im siebzehnten Kapitel der Elements dient demnach vor allem dem strategischen Zweck, die Koordinaten der eigenen Lehre von den natürlichen Gesetzen innerhalb der Moralphilosophie ein bisschen genauer anzugeben. Sie hat aber keineswegs den Zweck, die menschlichen Charaktereigenschaften und Gewohnheiten nachträglich zum eigentlichen Gegenstand der vorangegangenen ausgiebigen Erörterungen zu Bedeutung, Inhalt und Geltung der natürlichen Gesetze zu erklären.

6.3 De Cive 6.3.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur Im Hinblick auf die Begründung und Formulierung der drei grundlegenden Naturgesetze zeigt die Argumentation von De Cive nur einige geringe Abweichungen gegenüber der Argumentation der Elements of Law. Die wenigen Unterschiede sind dabei zumeist rein sprachlicher Natur. Wie in den Elements entwickelt Hobbes das Gebot der Friedenssuche auch in De Cive im letzten Abschnitt des ersten Naturzustandskapitels und präsentiert es als Folgerung aus dem zuvor beschriebenen Sachverhalt, dass kein Individuum sich im Naturzustand als einem Zustand des allgemeinen Krieges durch Unterwerfung anderer Individuen dauerhaft zu erhalten vermag. Der einzige nennenswerte Unterschied zum Text der Elements besteht darin, dass Hobbes sich einerseits – wie schon im Rahmen seiner Diskussion des natürlichen Rechts – auf die Vernunft konsequent als rechte Vernunft (‚recta ratio‘) bezieht und dass er andererseits das von ihm umschriebene Gebot der rechten Vernunft bereits an dieser Stelle mit dem Begriff des natürlichen Gesetzes belegt, wobei er auf die zu Beginn des zweiten Kapitels folgenden allgemeineren Ausführungen zum Begriff ‚lex naturalis‘ verweist. Propter tamen aequalitatem illam virium, caeterarumque facultatum humanarum, hominibus in statu naturae, hoc est, in statu belli constitutis, conseruatio sui diuturna expectari non potest. Quare quaerendam esse pacem, quatenus habendae eius spes aliqua affulserit; ubi haberi ea non potest, quaerenda esse belli auxilia, rectae rationis dictamen est; hoc est, lex Naturae, ut proximè ostendetur.218

Die mit dem zweiten Kapitel einsetzende Diskussion der bisherigen Versuche, das natürliche Gesetz zu definieren und zu begründen, weist insgesamt die stärksten Revisionen auf. Hobbes beginnt zwar wie in den Elements damit, _____________ 218 DC: 97.

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6. Die natürlichen Gesetze

die Uneinigkeit derjenigen Autoren zu beklagen, die in ihren Schriften auf den Begriff des natürlichen Gesetzes zurückgegriffen haben. Und er bleibt auch insofern seiner früheren Argumentation treu, als er zunächst eine Rückführung des Begriffes auf die Übereinstimmung aller Völker oder die Übereinstimmung der weisesten und gebildetsten Völker ablehnt und dabei einmal mehr die Frage aufwirft, welche Instanz denn darüber entscheiden solle, welchen Völkern das entsprechende Attribut zugestanden werden könne. Die daran anschließende Kritik des zweiten vorgeschlagenen Kriteriums, nämlich des ‚consent of all mankind‘ bzw. des ‚consensus totius generis humani‘ ist aber gegenüber der Fassung der Elements deutlich verändert, wobei diese Veränderung freilich vor allem in einer relativ starken Erweiterung der entsprechenden Ausführungen besteht. Da ein Teil der Hobbes’schen Aussagen in der Vergangenheit zu Missdeutungen und fragwürdigen Übersetzungen Anlass gegeben hat und deshalb eine eingehendere Betrachtung verlangt, erscheint es mir geboten, die betreffende Passage zunächst in ganzer Länge zu zitieren. De definitione legis Naturalis, non consensiunt authores, qui eâ voce frequentissimè tamen in scriptis suis vsi sunt. Methodus scilicet qua incipitur à definitionibus & exclusione aequiuoci, propria eorum est qui locum contra disputandi non relinquunt. Caeterorum, si quis factum dicat contra legem naturalem, ex eo probat alius, quòd contra consensum factum sit omnium, vel sapientissimarum, vel eruditissimarum gentium. Quis autem de sapientia, eruditione, & moribus omnium gentium iudicabit, id minimè docet. Alius, quod factum sit contra consensum totius generis humani. Quae definitio nullo modo recipienda est; alioqui enim, impossibile esset cuiquam, exceptis infantibus, & mente captis, contra talem legem peccare. Nam voce illa genus Humanum comprehendunt certè omnes homines ratione actu vtentes. Illi igitur contra eam vel non faciunt, vel faciunt non consentientes, ideoque excusandi sunt. Naturae autem leges, ab eorum concensu recipere, qui eas violant saepiùs quàm obseruant, sanè iniquum est. Praeterea, homines eadem in aliis damnant in seipsis probant; contrà publicè laudant quod secretò spernunt, & consuetudine audiendi, non propriâ speculatione sententiam ferunt, consentiuntque odio, metu, spe, amore, vel aliqua alia animi perturbatione magis, quàm ratione. Ideoque non rarò accidit, totos populos summo consensu & contentione ea agere, quae scriptores illi contra legem esse naturalem libentissimè confitentur.219

Wie schon in den Elements versteht Hobbes den Begriff des ‚consensus totius generis humani‘ offenbar als den Inbegriff der faktischen menschlichen Handlungen und der Überzeugungen und Neigungen, die in diesen Handlungen zum Ausdruck kommen. Und wie in den Elements lautet seine Kritik, bei einer solchen Definition des natürlichen Gesetzes sei nicht einsehbar, wie die Menschen überhaupt gegen das natürliche Gesetz verstoßen könnten, da dieses Gesetz ja als Ausdruck der Handlungen, Überzeugungen und Neigun_____________ 219 DC: 98f.

6.3 De Cive

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gen der Menschen mit diesen zwangsläufig übereinstimmen müsse. Im Verlauf der entsprechenden Ausführungen führt Hobbes nun anders als in den Elements explizit Kinder und Geisteskranke als diejenigen an, die allein einem dergestalt begründeten bzw. definierten Naturgesetz zuwiderhandeln könnten. Der hinter diesem Hinweis stehende Gedanke ist wohl der, dass allein von Kindern und Geisteskranken kein grundsätzlich vernünftiges und in einem grundlegenden Sinne konsistentes Verhalten erwartet werden kann und beide Gruppen daher nicht unter den Begriff des „genus Humanum“ fallen, den Hobbes ja ausdrücklich auf die grundsätzlich vernünftig handelnden Individuen beschränkt („Nam voce illa genus Humanum comprehendunt certè omnes homines ratione actu vtentes“). Der Versuch, das Hobbes’sche Argument genau zu erfassen, wird allerdings durch den darauf folgenden Satz ein wenig erschwert, auf den sich auch die oben angesprochenen Missdeutungen und Fehlübersetzungen beziehen. So gibt etwa Gawlick den lateinischen Satz „Illi igitur contra eam vel non faciunt, vel faciunt non consentientes, ideoque excusandi sunt.“ in seiner deutschen Ausgabe von De Cive mit dem Satz „[D]iese handeln entweder nicht dagegen oder tun es nur unfreiwillig und deshalb ohne Schuld“220 wieder. Die Wendung „vel faciunt non consentientes“, die wörtlich als „sie tun es nicht als Zustimmende“ zu übersetzen wäre, in der von Gawlick vorgeschlagenen Weise mit „oder tun es nur unfreiwillig“ zu übersetzen, heißt aber, das Partizip „consentientes“ inhaltlich auf die Handlungen der Menschen zu beziehen. Die Menschen handeln demnach insofern nicht „als Zustimmende“, als sie Handlungen ausführen, die sie nicht ausführen wollen, die sie also gegen ihre Zustimmung bzw. gegen ihren eigentlichen Willen ausführen. Diese Übersetzung ist aber ausgesprochen problematisch, da die Möglichkeit äußeren Zwanges an dieser Stelle keinerlei Rolle spielt und ein Handeln gegen den eigentlichen eigenen Willen deshalb wenn überhaupt Kindern und Geisteskranken zugeschrieben werden könnte, aber gerade nicht den vernünftig handelnden Menschen, um die es Hobbes an dieser Stelle ja geht. Das zweite Problem besteht darin, dass Hobbes bei der von Gawlick favorisierten Übersetzung eine Begründung dafür zu liefern scheint, warum die Menschen nicht schuldhaft gegen die natürlichen Gesetze verstoßen können, was hieße, dass Hobbes sich der Annahme der Unmöglichkeit eines schuldhaften Verstoßens der Menschen gegen die natürlichen Gesetze anschließen würde, obwohl er die entsprechende Annahme doch gerade zuvor als Schwäche der von ihm kritisierten Position ausgemacht und damit implizit zurückgewiesen hat und obwohl er doch direkt im Anschluss selbst ausdrücklich hervorheben wird, dass die Menschen die natürlichen Gesetze insgesamt häufiger verletzen als befolgen. _____________ 220 DDC: 86.

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6. Die natürlichen Gesetze

Die Inkonsistenz lässt sich dagegen vermeiden, wenn man das Partizip „consentientes“ inhaltlich auf die natürlichen Gesetze bezieht und die Wendung „sie tun es nicht als Zustimmende“ dahingehend versteht, dass die Individuen den Gesetzen, die sie mit ihren Handlungen verletzen, nicht zustimmen. Hobbes’ Aussage bestünde dann in dem Hinweis, dass die vernünftigen Individuen entweder gegen die natürlichen Gesetze nicht verstoßen oder dass sie, wenn und indem sie ihnen zuwiderhandeln, den entsprechenden Geboten eo ipso ihre Zustimmung verweigern, was aber im Rahmen der von Hobbes diskutierten Möglichkeit einer Rückführung der natürlichen Gesetze auf den ‚consensus generis humani‘ nichts anderes heißt, als dass die entsprechenden Gebote dann eben nicht als natürliche Gesetze gelten können, weil sie – wie die Zuwiderhandlungen zeigen – eben offenbar nicht Gegenstand einer allgemeinen Übereinstimmung der Menschen sind. Folgt man dieser Lesart, dann wäre die Hobbes’sche Position frei von inneren Widersprüchen: Die Menschen verstoßen faktisch gegen die natürlichen Gesetze, und sie tun dies sogar häufiger, als sie die natürlichen Gesetze befolgen; führte man die natürlichen Gesetze aber auf die Übereinstimmung der Menschen zurück und verstünde man diese Übereinstimmung als den Inbegriff aller menschlichen Handlungen, dann könnte es aus logischen Gründen keine solchen Verstöße gegen das natürliche Gesetz geben, weil eine jede Handlung, die von einem Individuum ausgeführt werde, keines naturgesetzlichen Verbots mehr fähig sei. Die eigentliche Abweichung gegenüber den Elements besteht nun darin, dass Hobbes im Anschluss etwas umfangreicher auf die faktischen Übereinstimmungen unter den Menschen eingeht, wie sie in den menschlichen Gebräuchen und Sitten ihren Ausdruck finden. Der Zweck der entsprechenden Ausführungen liegt dabei einerseits darin, das Zustandekommen dieser Übereinstimmungen zu beschreiben und zu zeigen, dass sie kein Werk der von allen Menschen geteilten Vernunft darstellen, sondern eher darauf zurückgehen, dass die Einzelnen die vorherrschenden Meinungen und Überzeugungen unkritisch und mitunter sogar nur in heuchlerischer Weise übernehmen. Auf der anderen Seite führt Hobbes die Sitten und Gebräuche der Menschen und die ihnen innewohnende Macht an, um darauf hinzuweisen, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte auch schon ganze Völker in völliger innerer Übereinstimmung gegen diejenigen Pflichten verstoßen haben, die den Menschen von den traditionellen Lehren der natürlichen Gesetze zugeschrieben werden, was die Position, die natürlichen Gesetze könnten ohne Weiteres auf die Übereinstimmung der Menschen zurückgeführt werden, aus Hobbes’ Sicht noch einmal nachdrücklich in Frage stellt. Wie seine Bezugnahme auf die Vernunft in der zuletzt besprochenen Passage bereits andeutet, vertritt Hobbes auch in De Cive die Auffassung, dass allein die Vernunft als Grundlage und Maßstab der natürlichen Gesetze in

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Frage kommt. Anders als in den Elements greift Hobbes dabei auch hier auf den Begriff des ‚rechten‘ Vernunft (‚recta ratio‘) zurück und nutzt den Begriff, um sich auf einen consensus omnium zu berufen, nach dem allgemein das als unrecht angesehen werde, was der rechten Vernunft widerstreite. Wie im Rahmen unserer Erörterung des natürlichen Rechts bereits gezeigt, definiert Hobbes diese rechte Vernunft, die er auch mit dem Begriff der natürlichen Vernunft belegt, dabei ausdrücklich als den Inbegriff richtiger Schlussfolgerungen aus richtigen Prämissen. Sed cum concedant omnes iure fieri, quod non fit contra rectam Rationem, iniuriâ factum censere debemus, quod rectae rationi repugnat, (hoc est, quod contradicit alicui veritati à veris principiis rectè ratiocinando collectae.) Quod autem iniuria factum est, contra legem aliquam fieri dicimus. Est igitur lex quaedam recta Ratio, quae (cum non minùs sit pars naturae humanae, quam quaelibet alia facultas vel affectus animi) naturalis quoque dicitur. Est igitur lex naturalis, vt eam definiam, Dictamen rectae rationis circa ea, quae agenda vel omittenda sunt ad vitae membrorumque conseruationem, quantum fieri potest, diuturnam.221

Die schon ausführlich besprochene Definition des Begriffs ‚recta ratio‘, die ja in der zweiten Auflage von De Cive noch um eine ausführliche Anmerkung ergänzt wird, macht deutlich, dass die Vernunft, auf die Hobbes das natürliche Gesetz zurückführt, auch in De Cive nicht als eine Instanz fungiert, die dem Handelnden aus sich heraus ein bestimmtes Handlungsziel vorgibt oder Gebote aufzustellen vermag, die ihn im strengen Sinne moralisch verpflichten. Hobbes verzichtet zwar in De Cive darauf, das Gebot der Friedenssuche zum Streben des Einzelnen nach dem für ihn Guten in Beziehung zu setzen und es auf diese Weise inhaltlich zu begründen. Wenn die instrumentelle Funktion der Vernunft aber dadurch an dieser Stelle auch weniger deutlich zutage treten mag als in der entsprechenden Passage der Elements, so schließt Hobbes’ explizite Definition der recta ratio doch hinreichend aus, dass die natürlichen Gesetze von der Vernunft als kategorische Gebote aufgestellt werden. Auch in De Cive erscheinen die natürlichen Gesetze als Gebote der Vernunft folglich als vom vorausgesetzten Zweck der Selbsterhaltung abhängig. Dies legt auch die abschließende grundsätzliche Definition des natürlichen Gesetzes nahe sowie die ursprüngliche Formulierung des Gebotes der Friedenssuche im vorangegangenen ersten Kapitel, in dem Hobbes ja, wie schon in den Elements, das Gebot, den Frieden zu suchen, aus einer Erörterung der naturzuständlichen Bedrohung von Leib und Leben heraus entwickelt und seine Geltung auch ausdrücklich auf solche Situationen einschränkt, in denen das Ziel der Selbsterhaltung durch ein etwaiges friedfertiges Verhalten auch faktisch erreicht werden kann. _____________ 221 DC: 99.

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6. Die natürlichen Gesetze

Auffallend ist an der oben zitierten Passage allerdings, dass Hobbes den Terminus recta ratio benutzt, um in rechtlich-moralischen Begriffen die Falschheit der von der Vernunft verbotenen Handlungsweisen zu bekräftigen und der Vernunft Gesetzescharakter zuzugestehen. Wie oben bereits gezeigt worden ist, präsentiert Hobbes im vierzehnten Kapitel von De Cive Recht und Gesetz als gegensätzliche Begriffe und setzt sie zum Gegensatzpaar „libertas“ und „vinculum“222 in Verbindung. Die Darstellung im zweiten Kapitel folgt ganz offensichtlich eben dieser Entgegensetzung von Recht und Gesetz. Da das als unrecht anzusehen ist, was der rechten Vernunft widerstreitet, und da prinzipiell nur das als unrecht bezeichnet werden kann, was die Verletzung eines Gesetzes darstellt, muss es sich bei der rechten Vernunft, bzw. bei ihren Geboten, um Gesetze handeln, und zwar, insofern es sich bei der Vernunft als einem natürlichen Vermögen der Menschen zugleich um die natürliche Vernunft handelt, um natürliche Gesetze. Die Sichtweise, die Hobbes in den Elements erst am Ende seiner Bestätigung der natürlichen Gesetze aus der Heiligen Schrift formuliert hat, dass es sich nämlich bei den natürlichen Gesetzen schon in ihrer bloßen Eigenschaft als ‚dictates of natural reason‘ um Gesetze handelt, artikuliert Hobbes also in De Cive schon dort, wo er den Begriff des natürlichen Gesetzes einführt und definiert. So stimmig und plausibel die Bezüge, die Hobbes zwischen den Ausdrücken Recht, Gesetz, rechte Vernunft und natürliches Gesetz aufzeigt, aber auch sein mögen: Die explizite Definition der recta ratio als dem bloßen Inbegriff richtiger Schlussfolgerungen aus richtigen Prämissen liefert keine ausreichende theoretische Grundlage für Hobbes’ traditionell moralisierende Verwendung des Begriffes und für seine Gleichsetzung von Recht und rechter Vernunft, so dass der auf diese Weise begründete moralisch aufgeladene Gesetzescharakter der „Dictamen rectae rationis“ nur als ein uneigentlicher verstanden werden kann. Die Hinzufügung der expliziten Definition des Begriffes ‚lex naturalis‘ stellt in gewissem Sinne ebenfalls eine Neuerung gegenüber den Elements dar. Während Hobbes’ Ausführungen zum Begriff ‚law of nature‘ dort in eine Wiederaufnahme des bereits im vorangegangen Kapitel aufgestellten Friedensgebotes münden, schließt er seine Diskussion des Begriffes ‚lex naturalis‘ in De Cive mit einer relativ formalen Definition ab, die dem Gebot der Friedenssuche gegenüber einen noch fundamentaleren Status beanspruchen kann und die möglichst lange Erhaltung von Leib und Leben zum Gegenstand eines allgemeinen Gebotes der Vernunft macht. Dass aber auch in De Cive die erste konkrete naturgesetzliche Vorschrift dem Einzelnen den Auftrag zur Friedenssuche erteilt, zeigt der folgende Paragraph, zu dem es keine direkte Entsprechung in den Elements gibt und in dem Hobbes gleichsam die zuvor ausgesparte Formulierung des Friedensgebotes nachholt. Vor dem Hinter_____________ 222 Beides: DC: 207.

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grund seiner Ausführungen zum Begriff ‚lex naturalis‘ macht Hobbes noch einmal unmissverständlich deutlich, dass es sich bei dem von ihm zuvor aufgestellten Gebot der Friedenssuche um ein solches Naturgesetz handelt, und er gesteht diesem ersten Naturgesetz deshalb einen fundamentalen Status zu, weil die nun folgenden natürlichen Gesetze allesamt die Wege beschreiben, auf denen allein der Frieden erreicht und gesichert werden kann, und weil sie daher logisch vom ersten natürlichen Gesetz abhängig sind. Prima autem & fundamentalis lex naturae est, quaerendam esse pacem ubi haberi potest; ubi non potest, quaerenda esse belli auxilia: ostendimus enim, articulo vltimo praecedentis capitis, praeceptum hoc dictamen esse rectae rationis. Esse autem dictamina rectae rationis leges naturales, id proximè supra definitum est. Prima autem est, quia caeterae sunt ab hac deriuatae, praecipiuntque vias vel pacis vel defensionis acquirendae.223

Die nun einsetzende Ableitung der natürlichen Gesetze ist insofern von einem äußeren Unterschied gegenüber den entsprechenden Ausführungen der Elements geprägt, als Hobbes die Naturgesetze nun konsequent nummeriert – das erste natürliche Gesetz, d.h. das Gebot der Friedenssuche, dabei allerdings nicht in die Nummerierung miteinbeziehend. Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden jedoch an meiner schon bei der Diskussion der Elements verwendeten Zählung festhalten, nicht zuletzt, da Hobbes selbst in beiden Fassungen des Leviathan auf eben diese Zählung zurückgreifen wird. Das Gebot der Friedenssuche werde ich folglich konsequent als erstes Naturgesetz bezeichnen, das daraus abgeleitete Gebot der Aufgabe des ‚Rechts auf alles‘ als zweites und das Gebot der Vertragserfüllung als drittes etc., wenn dies im Fall von De Cive auch heißen mag, die natürlichen Gesetze mit anderen Zahlen zu versehen, als Hobbes selbst sie ihnen zugeordnet hat. Die Formulierung und Begründung des zweiten Naturgesetzes weicht nur unwesentlich vom Text der Elements ab. Hobbes stellt noch etwas deutlicher als zuvor heraus, dass ein Festhalten am ‚Recht auf alles‘ zwangsläufig zu gewaltsamen Konflikten führen würde, in denen alle Beteiligten mit Recht agieren, und er begründet und bekräftigt die Rechtmäßigkeit dieser Konflikte dadurch noch einmal explizit, dass er sie als Folge des naturnotwendigen Strebens nach Selbstverteidigung präsentiert. Die eigentliche Argumentation zeigt aber keine Veränderungen, und die konkrete Formulierung des natürlichen Gesetzes weicht nur insofern von der früheren Formulierung ab, als Hobbes nun etwas deutlicher klarstellt, dass mit dem ‚Recht auf alles‘ keineswegs alle natürlichen Rechte aufgegeben werden sollen, sondern lediglich einige, und als er nun bereits in der Formulierung des zweiten Gesetzes auf die Möglichkeit einer Rechtsübertragung und damit indirekt auf den Abschluss von Verträgen verweist. _____________ 223 DC: 100.

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6. Die natürlichen Gesetze

Legum autem Naturalium, à fundamentali illà deriuatarum, vna est, ius omnium in omnia retinendum non esse, sed iura quaedam transferenda, vel reliquenda esse. Nam si retineret vnusquisque suum ius in omnia, necesse est sequi vt iure alij inuaderent, alij defenderent (quisque enim & Corpus suum, & ea quae corpori tuendo necessaria sunt, necessitate naturae conatur defendere.) Bellum ergo sequeretur. Facit itaque contra rationes pacis, hoc est contra legem naturae, si quis de iure suo in omnia non decedat.224

Im Anschluss an die Formulierung des zweiten Naturgesetzes widmet Hobbes sich wie bereits in den Elements den verschiedenen Arten von Rechtsniederlegung und Rechtsübertragung, und wie schon im älteren Werk erstreckt sich diese ausführliche und allgemein gehaltene vertragstheoretische Erörterung bis zum Ende des Kapitels. An den Anfang des darauf folgenden Kapitels stellt Hobbes einmal mehr das dritte natürliche Gesetz, das die Erfüllung von Verträgen gebietet. Hobbes verzichtet allerdings diesmal auf die etwas unklare Gleichsetzung von logischer Schlussfolgerung und Naturgesetz und bringt auch die Redewendung „nature maketh nothing in vain“ nicht mehr ins Spiel. Als Folge dieser Überarbeitungen erscheint die inhaltlich ohnehin überzeugende Herleitung des Gebotes pacta sunt servanda aus dem zweiten Naturgesetz nun auch äußerlich deutlich stringenter. Erwähnenswert ist daneben vor allem, dass Hobbes dem Gebotscharakter des dritten Naturgesetzes, wie auch schon im Falle des ersten und des zweiten Naturgesetzes, sprachlich mit Hilfe eines Gerundivums Ausdruck verleiht und auf das in den Elements verwendete Verb ‚to oblige‘ bzw. ‚obligare‘ verzichtet. Legum naturalium deriuatarum altera est, Pacis standum esse, siue fidem seruandum esse. Ostensum enim est capite praecedente, legem naturae praecipere tamquam rem conciliandae paci necessariam, vnumquemque iura quaedam sua, mutuò transferre, atque hoc vocari pactum, quoties futurum sit, quod transfertur. Hoc autem ideo ad pacem conciliandam conducibile est, quatenus quae paciscimur facienda vel omittenda, ea reipsa facimus vel omittimus; frustraque essent pacta nisi illis staretur. Quoniam ergo Pactis stare, siue fidem securare necessarium est ad pacem conciliandam, erit per articulum 2. cap. 2. praeceptum legis naturalis.225

Den an die Formulierung des dritten Naturgesetzes anschließenden Ausführungen zu den Begriffen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geht in De Cive eine zusätzliche Passage voraus, in der Hobbes die Position widerlegt, die Nichterfüllung eines geschlossenen Vertrages könne unter Umständen durch den Hinweis auf bestimmte Eigenschaften des Vertragspartners legitimiert werden. Da sich Hobbes’ Widerlegung vor allem auf die Behauptung stützt, die in Frage stehende Nichterfüllung des Vertrages sei als in sich widersprüchliches Verhalten zu werten, verweist sie inhaltlich auf die Hobbes’sche Erörterung des Gerechtigkeitsbegriffes und der Verbindlichkeit von Verträgen und _____________ 224 DC: 100. 225 DC: 108.

6.3 De Cive

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soll daher auch erst im Kontext unserer diesbezüglichen Diskussion eingehender betrachtet werden. 6.3.2 Die weiteren Naturgesetze Die Ableitung der weiteren Naturgesetze setzt in De Cive wie in den Elements im Anschluss an die Ausführungen zur Gerechtigkeit ein, die allerdings in De Cive noch um eine Passage erweitert sind, in der Hobbes vor dem Hintergrund seiner vorangegangenen Gerechtigkeitsdefinition das Sprichwort volenti non fit iniuria erläutert und zu rechtfertigen versucht.226 Wie oben bereits angedeutet worden ist, hat Hobbes seine Ableitung der zahlreichen Naturgesetze in der Zeit zwischen den Elements und De Cive insgesamt den stärksten Überarbeitungen unterzogen. Die Modifikationen bestehen dabei keineswegs nur in der schon angesprochenen konsequenten Nummerierung. Hobbes ordnet vielmehr auch die Reihenfolge der natürlichen Gesetze neu an; er verzichtet auf einige der früheren Naturgesetze und ersetzt sie durch neue; und er formuliert in De Cive auch letztlich eine größere Anzahl natürlicher Gesetze als in den Elements, nämlich einundzwanzig statt der bisherigen achtzehn. Da den weiteren Naturgesetzen aber, wie bereits betont, im Hinblick auf Hobbes’ inhaltliche Argumentation und auf die zentrale Frage nach der Verpflichtungskraft der Naturgesetze keine ganz entscheidende Bedeutung zukommt, werde ich im Folgenden davon absehen, die natürlichen Gesetze noch einmal in ihrer Gesamtheit zu besprechen und zu zitieren, und mich stattdessen ausschließlich auf die Abweichungen gegenüber dem Text der Elements konzentrieren. Hobbes folgt bei seiner Formulierung der weiteren Naturgesetze in De Cive zunächst den gleichen Pfaden wie in den Elements. So bestehen die Naturgesetze 4 bis 8 wie schon im früheren Werk in dem Verbot, sich einem Wohltäter gegenüber undankbar zu erweisen; in dem Gebot, sich anderen Menschen gefällig zu zeigen; in der Vorschrift, einem reuigen Übeltäter zu verzeihen; in dem Gebot, bei der Ausübung von Bestrafungen auf den zukünftigen Nutzen und nicht auf den vergangenen Schaden zu schauen; sowie in dem Verbot, einem anderen Menschen durch Worte oder Handlungen Hass oder Verachtung zu zeigen. Zu den wenigen Unterschieden, die die Präsentation der einzelnen Gesetze aufweist, zählt die Tatsache, dass Hobbes einige der Gesetze mit neuen Namen versieht und in anderen Fällen auf die Verwendung eines Namens vollständig verzichtet. So erhält nur das fünfte Naturgesetz, das von Hobbes in den Elements unter die Bezeichnung „INGRATITUDE“ gefasst worden war, in De Cive den gleichen Titel bzw. mit _____________ 226 Vgl. DC: 111.

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dem Titel „INGRATITVDO“227 dessen lateinische Entsprechung. Die Vorschriften 5 und 6 dagegen, die in den Elements mit den Begriffen „charity“ und „PARDON“ benannt worden waren, erhalten in De Cive keinen derartigen Titel, und umgekehrt bezeichnet Hobbes die Gesetze 7 und 8, die in den Elements noch keinen Titel trugen, nun mit den Begriffen „CRVDELITAS“ und „CONTVMELIA“228. Die inhaltliche Begründung der jeweiligen Gesetze ist ebenfalls von einigen Abweichungen und Überarbeitungen geprägt, denen aber in den meisten Fällen keine besondere Bedeutung zukommt. Die einzige Ausnahme bildet Hobbes’ Begründung des fünften natürlichen Gesetzes. War das Gebot, sich anderen Menschen gefällig zu erweisen, in den Elements noch mit dem Hinweis begründet worden, solange die Menschen in Konkurrenz mit dem jeweils anderen träten und die eigene Position auf Kosten der jeweils anderen zu verbessern suchten, könne kein dauerhafter Frieden erreicht werden, so vergleicht Hobbes in De Cive zur Begründung des Gebotes die menschliche Gemeinschaft mit einem Bauwerk, das nur dann fest und sicher stehen könne, wenn die verwendeten Steine sich eng aneinanderfügten und keiner der Steine aufgrund einer rauhen und eckigen Gestalt mehr Platz einnehme als ihm eigentlich zustehe.229 Das Gebot, sich dem anderen gefällig oder gefügig zu erweisen, erhält auf diese Weise eine leicht veränderte Ausrichtung, und in dieser veränderten Ausrichtung dürfte der Grund zu sehen sein, warum Hobbes in De Cive darauf verzichtet, das Gesetz mit dem nun nicht mehr ganz so naheliegenden Titel „charity“ oder ‚caritas‘ zu versehen. Konsequenterweise stellt Hobbes zudem auch zwischen dem fünften und dem im Anschluss beschriebenen sechsten Gesetz, das er in den Elements noch als direkte Folgerung aus dem fünften präsentiert hatte, keinen expliziten Zusammenhang mehr her. Der enge Zusammenhang zwischen dem sechsten und dem siebten Gesetz bleibt dagegen erhalten, und auch die Aussagen, die Hobbes zur Begründung des siebten Naturgesetzes anführt, sind mit denjenigen der Elements weitgehend identisch. Die Begründung des achten Naturgesetzes schließlich ist noch weniger von sprachlichen Abweichungen gekennzeichnet, und der einzige auffällige Unterschied gegenüber dem Text der Elements besteht darin, dass das Gesetz nun explizit als Verbot der Schmähung („CONTVMELIA“230) anderer bezeichnet wird. Die erste deutliche Unterschied zwischen der Ableitung und Anordnung der natürlichen Gesetze von De Cive und derjenigen der Elements besteht darin, dass das neunte Gesetz der Elements, das den Menschen vorschrieb, einander gleichermaßen an Handel und Verkehr teilhaben zu lassen, in De Cive _____________ 227 228 229 230

DC: 112. Beides: DC: 113. Vgl. DC: 112. DC: 113.

6.3 De Cive

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gänzlich fehlt, und dass das zehnte Gesetz, das Friedensvermittlern Unverletzlichkeit zusicherte, an die fünfzehnte Position verschoben wird. Die Begründung dieses letzten Gesetzes weicht zudem insofern von der Begründung der Elements ab, als sie etwas umfangreicher ausfällt und Hobbes die Tätigkeit von Vermittlern nun etwas expliziter als notwendiges Mittel zum Frieden kennzeichnet.231 Aufgrund der Aussparung der beiden genannten Gesetze tritt das Gebot, den jeweils anderen als gleich anzuerkennen, in De Cive an die Stelle des neunten Gesetzes und das Gebot, dem anderen dieselben natürlichen Rechte zuzugestehen, die man selbst beizubehalten verlangt, an die Stelle des zehnten Gesetzes. Da Hobbes, wie weiter oben bereits ausgeführt, die beiden Kapitel, die sich in den Elements mit der Ableitung der natürlichen Gesetze beschäftigen, in De Cive zu einem einzigen Kapitel zusammenzieht, leiten die beiden Varianten des Gleichheitsgebotes nun kein neues Kapitel mehr ein. Das grundlegende Gebot, den anderen als gleich anzuerkennen, wird aber wie in den Elements mit dem Titel „pride“ bzw. „SVPERBIA“232 belegt, und die Begründung des Gebotes geht auch nach wie vor von einer kritischen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Behauptung einer natürlichen Ungleichheit der Menschen aus. Die Begründung folgt aber dennoch anderen Überlegungen als in den Elements. Von Bedeutung sind diese Veränderungen insofern, als nun auch an dieser Stelle der Hobbes’schen Argumentation noch einmal deutlich hervortritt, dass das Gleichheitsgebot nicht auf eine natürliche Gleichheit an Würde oder moralischem Wert zurückgeht oder von ihr abhängig wäre, sondern auf die faktische Gefahr, die von jedem anderen Individuum als einem möglichen Gegner ausgeht. Hobbes betont nicht nur, dass auch solche Individuen, die anderen intellektuell überlegen seien, diese anderen als gleich ansehen sollten, sondern er begründet dies ausdrücklich mit dem Hinweis, dass ansonsten ein Kampf um Herrschaft entbrennen könnte, in dem die intellektuell überlegenen, körperlich aber womöglich benachteiligten Individuen unterliegen könnten.233 Das darauf folgende Gebot, nach dem die Individuen denjenigen Teil des natürlichen ‚Rechts auf alles‘, den sie beizubehalten verlangen, auch anderen gewähren sollen, wird von Hobbes in ähnlicher Weise begründet wie schon in den Elements. Anders als dort bezeichnet Hobbes das Gesetz nun allerdings nicht mit dem Begriff der Billigkeit („equity“), sondern mit dem der Bescheidenheit („Modestia“234). Der Begriff der Billigkeit („AEQVITAS“235) bezeichnet stattdessen das darauf folgende und ebenfalls in den Kontext des Gleichheitsgebotes gehörende elfte Naturgesetz, das sich nicht in den Elements findet _____________ 231 232 233 234 235

Vgl. DC: 115. DC: 114. Vgl. DC: 113f. DC: 114. DC: 115.

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6. Die natürlichen Gesetze

und sich ausdrücklich auf Fragen der austeilenden Gerechtigkeit beschränkt. Wie Hobbes hervorhebt, verbiete das natürliche Gesetz nicht nur jedem Einzelnen, für sich mehr zu verlangen als er anderen zuzubilligen bereit sei, sondern es gebiete auch solchen Individuen, die mit der konkreten Austeilung oder Gewährung von Rechten befasst seien, keine Person gegenüber einer anderen zu bevorzugen. Das elfte Gebot des natürlichen Gesetzes lautet daher nach Hobbes „Vt unusquisque in iure aliis distribuendo, utrique parti aequalem se praebeat.“236. Bei den Naturgesetzen 12 bis 14 handelt es sich um diejenigen Gesetze, die die konkrete Nutzung und Verteilung von Gütern zum Gegenstand haben und sich daher, wie oben ausgeführt, auf das Problem der naturzuständlichen Konkurrenz um Güter zurückführen lassen, dem ja in De Cive bereits eine deutlich größere Bedeutung zugestanden wird als noch in den Elements. Wie in den Elements formuliert Hobbes zunächst zwei Gesetze, in denen für den Fall, dass die in Frage stehenden Güter nicht teilbar sind, ihr gemeinschaftlicher Gebrauch geboten wird, und für den Fall, dass sie auch nicht gemeinschaftlich gebraucht werden können, die wechselnde Nutzung bzw. die Entscheidung per Los vorgeschrieben werden. Anders als im früheren Werk folgt in De Cive allerdings mit dem vierzehnten Naturgesetz noch ein weiteres Gesetz, in dem festgeschrieben wird, welche Arten von Losen prinzipiell in Frage kommen. Beide Losarten, die erste Besitznahme wie auch die Erstgeburt, werden zwar von Hobbes auch in den Elements mit ähnlichen Worten beschrieben. Nur in De Cive wird der Rückgriff auf sie jedoch zum Gegenstand eines eigenständigen Naturgesetzes gemacht, dessen genaue Formulierung lautet: „Itaque quae neque diuidi, neque communiter haberi possunt, cedunt primo occupanti; item primogenito, ea quae patris fuerunt, nisi pater ipse Ius illud transtulerit priùs.237„ Als fünfzehntes Naturgesetz folgt in De Cive das schon angesprochene Gebot, Friedensvermittlern Unverletzlichkeit zu gewähren. Das fünfzehnte Naturgesetz der Elements, nämlich das Gebot, sich im Falle von Streitigkeiten dem Spruch eines Richters zu unterwerfen, rückt deshalb an die sechzehnte Stelle, wobei sowohl seine Formulierung als auch seine inhaltliche Begründung weitgehend gleich bleiben. Das sechzehnte Gesetz der Elements hingegen, das den Individuen verbot, dem jeweils anderen Ratschläge aufzuzwingen, wird von Hobbes in De Cive ersatzlos gestrichen, und auch die abschließenden Naturgesetze 17 und 18 erscheinen nicht mehr als eigenständige Gesetze. Hobbes hängt allerdings die darin zum Ausdruck gebrachten Positionen, nämlich die Gleichsetzung von natürlichem Gesetz und Goldener Regel sowie die Betonung der eingeschränkten Geltung der natürlichen Ge_____________ 236 DC: 114. 237 DC: 115.

6.3 De Cive

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setze, in De Cive an die Ableitung der natürlichen Gesetze an, so dass sie folglich nach wie vor in seiner Argumentation enthalten sind. Dass Hobbes trotz dieses Verzichtes auf einige der Naturgesetze der Elements in De Cive insgesamt eine größere Anzahl von Naturgesetzen formuliert, liegt vor allem daran, dass er einige derjenigen Bestimmungen, mit denen er in den Elements die Anforderungen umrissen hat, die an einen Richter zu stellen sind,238 nun ebenfalls in den Rang eigenständiger Naturgesetze erhebt. So schreibt das siebzehnte natürliche Gesetz in Übereinstimmung mit einer Wendung der Elements vor, dass niemand in eigener Sache Richter sein darf („Continetur itaque in lege naturae, [...] neminem judicem vel Arbitrum esse debere suae ipsius causae.“239). Das achtzehnte Naturgesetz gebietet zudem, dass niemand in einer Sache als Richter fungieren darf, in der er sich von einem bestimmten Schiedsspruch einen eigenen Vorteil versprechen kann („Neminem arbitrum esse oportere, cui commodi vel gloriae spes aliqua apparet maior ex victoriâ unius partis, quam alterius.“240). Das neunzehnte natürliche Gesetz legt fest, dass Richter sich in denjenigen Fällen, in denen sie über eine Tatfrage zu entscheiden haben, diese aber allein auf der Basis von Zeugenaussagen treffen können, auf die Aussage solcher Zeugen stützen sollen, die vom Richterspruch keinerlei Vorteile zu erwarten haben und in diesem Sinne unparteiisch sind („[...] arbitris & iudicibus facti iniungit, ut ubi signa certa facti non apparent, ibi secundum testes, qui utrique parti videntur aequi, sententiam regant.“241). Und das zwanzigste Gebot der natürlichen Vernunft sieht, wiederum in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Elements, vor, dass der Spruch des Richters frei sein soll („Arbitrum ergo lex naturae liberum iubet esse [...]“242), was heißt, dass die Person, die das Richteramt ausübt, nicht durch irgendwelche Verträge mit den streitenden Parteien verbunden sein darf. Beim einundzwanzigsten natürlichen Gesetz von De Cive, das ebenfalls in den Elements nicht aufgeführt ist, handelt es sich um das Verbot der Trunkenheit, von welchem naturgesetzlichen Verbot Hobbes, wie gesehen, in einer der Anmerkungen zur zweiten Auflage von De Cive sogar sagen wird, dass es immer und überall Geltung zu beanspruchen vermag. Begründet wird das Trunkenheitsverbot von Hobbes mit dem Hinweis, die Trunkenheit schränke die Fähigkeit des Vernunftgebrauchs und damit die Fähigkeit zu der so wichtigen Einsicht in die natürlichen Gesetze ein.243 Mit der Formulierung des Trunkenheitsverbotes endet die eigentliche Ableitung der natürlichen Gesetze. Wie bereits angedeutet, fügt Hobbes aber _____________ 238 239 240 241 242 243

Vgl. E: 91. DC: 116. DC: 116. DC: 116. DC: 117. Vgl. DC: 117.

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6. Die natürlichen Gesetze

dieser Ableitung noch zwei Passagen an, in denen er die natürlichen Gesetze wie schon in den Elements in den Kontext der Goldenen Regel stellt und noch einmal ausdrücklich bekräftigt, dass die Naturgesetze nur dort befolgt werden sollten, wo dies ohne Gefahr für den Handelnden möglich ist. Hobbes präsentiert die Regel Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris dabei wie in den Elements als eine Art Methode, mit deren Hilfe man eine bestimmte Handlung auf ihre Vereinbarkeit mit den natürlichen Gesetzen prüfen kann, und er weicht nur insofern in nennenswerter Weise von seinen früheren Ausführungen ab, als er in seinem einleitenden Satz anders als in den Elements einen Bezug zwischen der Kenntnis der Naturgesetze und ihrer Verbindlichkeit herstellt und diese Verbindlichkeit dabei mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ beschreibt. Dicet fortasse aliquis qui viderit praecedentia praecepta naturalia artificio quodam ab vnico rationis, nos ad nostri conseruationem & incolumitatem hortantis, dictamine deriuata, adeo difficilem esse deductionem harum legem, vt expectandum non sit, eas vulgo cognitas fore, neque ideo obligare; etenim leges nisi cognitae, non obligant, immò non sunt leges. Huic respondo, verum esse, spem, metum, iram, ambitionem, auaritiam, gloriam inanem, & caeteras perturbationes animi impedire, ne quis leges naturae pro eo tempore quo passiones istae praeualent cognoscere possit. Caeterùm nemo est, qui non aliquando sedato animo est. Eo igitur tempore nihil illi quamquam indocto & rudi, scitu est facilius; vnicâ scilicet hac regulâ, vt cùm dubitet, id quod facturus in alterum sit, iure facturus sit naturali, necne, putet se esse in illius alterius loco. Ibi statim perturbationes illae quae instigabant ad faciendum, tanquam translatae in alteram trutinae lancem, à faciendo dehortabuntur. Atque haec regula non modò facilis, sed etiam dudum celebrata his verbis est, Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.244

Der Rückgriff auf das Verb ‚obligare‘ stellt auch einer der wichtigsten Veränderungen der zweiten Passage dar, in der Hobbes die eingeschränkte Verbindlichkeit der Naturgesetze wie zuvor zum Anlass nimmt, um den Gesetzen der Natur eine Geltung in foro interno zuzuschreiben. Hobbes bezieht den Begriff in foro interno dabei diesmal sofort explizit auf das Gewissen als den Ort der inneren Gerichtsbarkeit. Zu erwähnen ist daneben, dass Hobbes anders als in den Elements bereits an dieser Stelle ausdrückliche Zweifel daran anmeldet, dass die natürlichen Gesetze allgemein befolgt werden werden, eine Einschätzung, die er hier wie auch später im fünften Kapitel mit dem Hinweis auf die menschlichen Leidenschaften begründet. Quoniam autem plerique homines, prae iniquo praesentis commodi appetitu, praedictas leges quantumuis agnitas obseruare minimè apti sunt; si forte aliqui caeteris modestiores, illam aequitatem commoditatemque quam ratio dictat exercerent, caeteris non idem facientibus, nihil minus quàm rationem sectarentur. Neque enim pacem, sed certum & maturius exitium sibi compararent, cederentque obseruantes, non obseruantibus in praedam. Non est igitur existimandum, naturâ, hoc est, ratione obligari homi-

_____________ 244 DC: 117f.

6.3 De Cive

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nes ad exercitium earum omnium, in eo statu hominum in quo non exercentur ab aliis. Interea tamen obligamur ad animum eas obseruandi, quandocunque ad finem ad quem ordinantur earum obseruatio conducere videbitur. Ideòque concludendum est, legem naturae semper & vbique obligare in Foro interno, siue conscientia; non semper in foro externo; sed tum solum modo cum securè id fieri possit.245

Hatte Hobbes in den Elements den natürlichen Gesetzen nur in einer etwas unspezifischen Weise eine Kraft („force“) in foro interno zugeschrieben, so setzt er den Begriff des forum internum nun also in Beziehung zu der ausdrücklich als solcher erscheinenden Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze. Den Gegenstand der entsprechenden Verpflichtung, den Hobbes in den Elements mit den Begriffen „desire“, „intention“, „endeavour“ und „will“ bezeichnet hatte, wird in De Cive in vergleichbarer Weise mit Hilfe des Begriffs ‚animus‘ gekennzeichnet. Verwirrend ist an der entsprechenden Aussage allerdings, dass Hobbes die Gewissensverpflichtung gegenüber den Naturgesetzen nun auf solche Situationen zu beziehen und zu beschränken scheint, in denen der Handelnde davon ausgeht, dass eine Befolgung der natürlichen Gesetze zu seiner Erhaltung – als demjenigen Ziel, von dem die Gesetze ihre Geltung beziehen, – beiträgt. Hobbes’ sonstigen Aussagen zufolge müssten die natürlichen Gesetze in einer derartigen Situation aber auch in foro externo gelten, also gerade nicht nur zu einer bestimmten inneren Haltung verpflichten, sondern auch zur Ausführung konkreter Handlungen. Der Rest des dritten Kapitels von De Cive ist von einer veränderten Anordnung der abschließenden Paragraphen sowie von einigen Erweiterungen gekennzeichnet. Die Passage, in der Hobbes in den Elements die natürlichen Gesetze den bloßen Sitten und Gebräuchen der Menschen gegenübergestellt und ihnen als den Geboten der unveränderlichen Vernunft indirekt eine zeitlose Geltung zugestanden hatte, ist in De Cive deutlich ergänzt und leicht nach hinten verschoben worden. Und die Passage, in der Hobbes die natürlichen Gesetze zu Gott als dem Schöpfer der Natur in Beziehung gesetzt hatte, markiert in De Cive das Ende des Kapitels. Aufgrund dieser Verschiebungen folgt die Aussage, die natürlichen Gesetze könnten prinzipiell auch durch solche Handlungen verletzt werden, die mit ihren Geboten übereinstimmten, aber in anderer Absicht ausgeführt worden seien, in direktem Anschluss an die Beschreibung der in foro interno-Geltung, mit der sie ja auch inhaltlich zusammengehört. Auch an dieser Passage fällt auf, dass Hobbes in De Cive die Kraft der natürlichen Gesetze insgesamt selbstverständlicher mit Hilfe des Verb „obligare“ bezeichnet.

_____________ 245 DC: 118.

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6. Die natürlichen Gesetze

Quae verò leges conscientiam obligant, violari possunt facto, non solum iis contrario, sed & consentaneo, siquidem qui facit, contrarium putet. Quamquam enim actio ipsa secundum leges sit, conscientia tamen contra est.246

Auf die zitierte Passage folgen nun direkt die bereits angesprochenen Ausführungen zur Unveränderlichkeit der naturgesetzlichen Gebote. War in den Elements noch eher indirekt auf die zeitlose Geltung der ‚dictates of reason‘ verwiesen worden, so tritt die betreffende Tatsache in De Cive schon allein deshalb viel deutlicher hervor, weil Hobbes sie direkt am Anfang des Abschnittes platziert und sie mit besonderer rhetorischer Kraft herausstellt. Schon durch diese stärkere Hervorhebung der Unveränderlichkeit und Zeitlosigkeit der natürlichen Gesetze wird die betreffende Passage etwas deutlicher in eine Beziehung zu den vorhergehenden Passagen und der Beschreibung der ebenfalls als zeitlos beschrieben in foro interno-Geltung der Naturgesetze gesetzt, und Hobbes stellt diesen Zusammenhang denn auch ausdrücklich her und bezeichnet die natürlichen Gesetze dabei einmal mehr explizit als verpflichtend. Leges naturae immutabiles & aeternae sunt; quod vetant nunquam licitum esse potest; qoud iubent nunquam illicitum. Nunquam enim superbia, ingratitudo, Pactorum violatio (siue iniuria) inhumanitas, contumelia, licitae, nec contrariae his virtutes illicitae erunt, quatenus pro animi dispositionibus intelliguntur, hoc est, quatenus in foro conscientiae spectantur, vbi solum obligant & sunt leges. Actiones tamen ita diuersificari possunt circumstantiis, & lege ciulli, vt quae vno tempore aequae, alio iniquae, & quae vno tempore cum ratione, alio contra rationem sint. Ratio tamen eadem neque finem mutat, quae est pax & defensio, neque media, nempe animi virtutes eas quas supra declarauimus, quaeque nullâ vel consuetudine vel lege ciuli abrogari possunt.247

Die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze wird von Hobbes in der darauf folgenden Passage ein weiteres Mal bekräftigt, bei der es sich um den ersten Abschnitt handelt, der keinerlei Entsprechung im siebzehnten Kapitel der Elements hat, und in der Hobbes die eingeschränkte Geltung der Naturgesetze zum Anlass für die Wiederholung seiner Behauptung nimmt, die natürlichen Gesetze könnten von jedem Menschen ausgesprochen leicht erfüllt werden. Die von den natürlichen Gesetzen geforderte innere Haltung bezeichnet Hobbes dabei nicht nur mit Hilfe des schon zuvor verwendeten Begriffes ‚animus‘, sondern auch mit Hilfe des Begriffes ‚conatus‘, der in Hobbes’ Werken allgemein als lateinisches Pendant zum Terminus ‚endeavour‘ fungiert. Hobbes beschreibt die damit umrissene innere Haltung dabei einmal mehr explizit als Gegenstand einer Verpflichtung. _____________ 246 DC: 118f. 247 DC: 119.

6.3 De Cive

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Patet ex hactenus dictis, quàm faciles obseruatu sint naturae leges, quippe quae conatum solum (sed verum & constantem) requirunt, quem qui praestiterit, eum rectè possumus IVSTVM appellare; nam qui toto conatu ad id tendit, vt omnes actiones suae sint secundum praeceptae naturae, clarè ostendit animum se habere leges eas omnes adimplendi; quod est omne id ad quod obligamur à natura rationali. Qui verò totum id praestitit ad quod obligatus erat, iustus est.248

Die Aussage, dass ein Individuum, welches seine naturgesetzlichen Verpflichtungen erfülle, als ‚gerecht‘ bezeichnet werden könne, lässt sich bereits in gewissem Sinne als Überleitung zu den Ausführungen lesen, in denen Hobbes die natürlichen Gesetz zum Tugendbegriff in Beziehung setzt. Die betreffenden Ausführungen folgen auch direkt im Anschluss an das obige Zitat, und sie nehmen in De Cive insgesamt einen etwas breiteren Raum ein als in den Elements. Da auf Hobbes’ Aussagen zum Verhältnis von natürlichem Gesetz und Tugend an späterer Stelle ohnehin noch etwas genauer einzugehen sein wird, soll hier zunächst von einer detaillierteren Betrachtung abgesehen werden, und gleiches gilt für die abschließende Passage des dritten Kapitels, die, wie bereits angedeutet, dem Verhältnis von Naturgesetz und Gott als dem Schöpfer der Natur gewidmet ist. Auch ohne die Frage beantwortet zu haben, welchen Verpflichtungscharakter Hobbes den natürlichen Gesetzen in De Cive zuschreibt und ob es Gründe gibt, unsere auf Basis der Elements entwickelte Haltung zur ‚TaylorWarrender-Debatte‘ in irgend einer Weise zu modifizieren, lässt sich mit Blick auf die eigentliche Ableitung und Formulierung der natürlichen Gesetze zweifelsohne festhalten, dass Hobbes’ Argumentation in De Cive von keinen signifikanten Abweichungen gegenüber dem früheren Text gekennzeichnet ist. Hobbes verzichtet zwar auf einige der in den Elements formulierten Naturgesetze und fügt seiner Auflistung einige neue Gesetze hinzu. Die wichtigsten natürlichen Gesetze bleiben aber erhalten, und auch die Veränderungen in den Ausführungen, mit denen Hobbes diese Gesetze inhaltlich begründet, ziehen für sich genommen keinerlei bedeutende Akzentverschiebung nach sich. 6.3.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze Die oben mit Blick auf die Elements erörterte Frage, ob Hobbes den natürlichen Gesetzen grundsätzlich einen präskriptiven Status und in einem zunächst unspezifisch verstandenen Sinne Verbindlichkeit zuschreibt, kann mit Blick auf De Cive noch ein wenig einfacher beantwortet und noch unzweifelhafter bejaht werden, als dies bereits dort der Fall war. Es finden sich nicht _____________ 248 DC: 119.

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6. Die natürlichen Gesetze

nur wieder zahllose Stellen, an denen Hobbes durch eine ähnliche Wortwahl wie zuvor den präskriptiven Charakter der natürlichen Gesetze hervorhebt, so etwa indem er sie als ‚dictamina‘ oder ‚praecepta‘ bezeichnet249 oder ihre Gebote und Verbote mit Hilfe der Verben ‚praescribere‘, ‚imperare‘, ‚iubere‘ oder ‚prohibere‘ umschreibt.250 Wie im vorangegangenen Kapitel bereits deutlich geworden ist, finden sich nun zudem auch wesentlich mehr Passagen, in denen Hobbes unter Verwendung des Verbs ‚obligare‘ die Naturgesetze ausdrücklich als verpflichtend beschreibt. Während Hobbes das Verb ‚to oblige‘ in den Elements fast ausschließlich dort verwendet, wo es ihm um die Verbindlichkeit freiwillig geschlossener Verträge geht, und nur an zwei Stellen die Kraft der natürlichen Gesetze direkt mit diesem Terminus belegt, werden die natürlichen Gesetze in De Cive geradezu standardmäßig in dieser Weise als verpflichtend charakterisiert. Neben den schon ausführlich beschriebenen Passagen gegen Ende des dritten Kapitels sind vor allem einige Passagen der Kapitel IX und XIII zu nennen, in denen Hobbes die Pflichten des staatlichen Souveräns skizziert und dabei neben dem Substantiv ‚officium’ auch mehrfach auf das Verb ‚obligare‘ zurückgreift.251 In den Passagen, in denen Hobbes sich auf die Verbindlichkeit von Verträgen und insbesondere auf die Verbindlichkeit des Gesellschaftsvertrages und der von ihm abhängigen bürgerlichen Gesetze bezieht, verwendet Hobbes die gleiche Terminologie, d.h. er nimmt hier keine Veränderungen gegenüber den Elements vor,252 sieht man einmal davon ab, dass er, wie bereits ausgeführt, bei seiner Formulierung des dritten Naturgesetzes das Verb ‚to oblige‘ streicht und stattdessen auf eine Gerundivkonstruktion zurückgreift. Inwieweit die Tatsache, dass Hobbes die allgemeine Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen und die besondere Verpflichtung, die aus einem Vertrag erwächst, in De Cive unterschiedslos mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ bezeichnet, jedoch ausreicht, um diejenigen Interpretationen zurückzuweisen, die einen Unterschied zwischen beiden Arten von Verbindlichkeit behaupten, wird in Kapitel 7 noch eingehender zu untersuchen sein. Hinsichtlich der hier zu beantwortenden Frage, wie mit Blick auf den Text von De Cive die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze zu bestimmen ist, lassen sich nun erneut diejenigen Interpretationsansätze als irreführend zurückweisen, die den natürlichen Gesetzen eine kategorische Verbindlichkeit zuschreiben wollen, welche sich allein aus der Vernunft herleitet. Wie an vielen Stellen unserer bisherigen Erörterung deutlich geworden ist, vermag die recta ratio, so wie sie in De Cive von Hobbes definiert und charakterisiert wird, den Individuen weder aus sich selbst heraus moralisch verpflichtende _____________ 249 250 251 252

Vgl. beispielsweise DC: 99, 111, 112, 114, 119 und 120. Vgl. DC: 113, 114, 117 und 145. Vgl. etwa DC: 169 und 199. Vgl. dazu etwa DC: 142, 144, 155 und 187f.

6.3 De Cive

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Befehle zu erteilen noch mit dem Ziel der Selbsterhaltung ein bestimmtes Handlungsziel kategorisch vorzuschreiben. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Hobbes die natürlichen Gesetze nicht immer konsequent als Folgerungen der Vernunft oder als Inhalt dessen präsentiert, was durch die Vernunft erkannt wird,253 sondern sie an einigen Stellen auch direkt mit der Vernunft gleich setzt.254 Und auch die bereits diskutierte Passage des zweiten Kapitels, die nahelegt, dass den natürlichen Gesetzen schon als ‚dictates of natural reason‘ ein gewisser Gesetzescharakter zukommt, liefert angesichts der expliziten Definitionen, mit denen Hobbes den Begriff der rechten Vernunft erläutert, keine Grundlage, um die natürlichen Gesetze als moralisch verbindliche Befehle einer kategorisch gebietenden Vernunft zu begreifen. Eine weitere Passage, in der dies deutlich wird, findet sich im vierzehnten Kapitel von De Cive, in dem Hobbes eine Definition des Begriffs ‚peccatum‘ entwickelt, die den instrumentellen Charakter der rechten Vernunft noch einmal klar hervortreten lässt. Erweckten Hobbes’ frühere Definitionen des Begriffs recta ratio mitunter den Eindruck, er wolle den Begriff auf rein formale Schlußfolgerungen beschränken und grenze ihn von der Sphäre der menschlichen Wünsche und Interessen und von Fragen des äußeren Handelns vollständig ab, so zeigt sich nun noch einmal deutlich, dass die Aufgabe der Vernunft auch und vor allem darin besteht, Mittel zu gegebenen Handlungszwecken aufzufinden und die Folgen bestimmter Verhaltensweisen zu kalkulieren. Peccatum significatione latissimâ comprehendit omne factum, dictum, & volitum contra rectam rationem. Vnusquisque enim media ad finem quam sibimet ipsi proponit ratiocinando quaerit; si ergo rectè ratiocinetur (hoc est, incipiens à principiis euidentissimis texat discursum ex consequentibus continuò necessariis) progredietur itinere directissimo, alter deuiabit; id est faciet, dicet vel conabitur aliquid contra finem proprium, quod cum fecerit, dicetur ratiocinando quidem erasse, actione vero & voluntate pecasse; nam peccatum ita sequitur erratum, sicut voluntas intellectum. Atque haec est vocis acceptio generalissima, qua continetur omne factum imprudens, siue contra legem, vt, alienam domum euertere, siue non contra legem, vt propriam, super arenam aedificare.255

Wie Hobbes in direktem Anschluss betont, liege ein Vergehen im engeren Sinne des Wortes, d.h. im Sinne einer Schuld, aber nicht überall dort vor, wo gegen die rechte Vernunft verstoßen würde, sondern nur da, wo zugleich gegen ein Gesetz verstoßen werde. Diese Unterscheidung von schuldhaften und schuldlosem Verstoß gegen die als rein instrumentelles Vermögen beschriebene rechte Vernunft ergäbe nun aber wenig Sinn, wenn die rechte Vernunft selbst als Gesetzgeber aufträte. Eher scheint es, als müsse es sich bei _____________ 253 So etwa DC: 121. 254 So etwa DC: 99 und 122. 255 DC: 213.

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6. Die natürlichen Gesetze

den von Hobbes genannten Gesetzen prinzipiell um solche handeln, die von einer anderen Instanz als der Vernunft erlassen werden, sei es von Gott, sei es vom staatlichen Souverän. Die Weisungen der rechten Vernunft wären demnach höchstens in einem uneigentlichen Sinne als Gesetze zu bezeichnen, und eine Verbindlichkeit im streng moralischen Sinne käme ihnen in ihrer bloßen Eigenschaft als Vernunftgebote nicht zu. Es kann folglich mit Blick auf De Cive zunächst das gleiche Zwischenfazit gezogen werden wie oben schon mit Blick auf die Elements: Wenn den natürlichen Gesetzen eine Verbindlichkeit zukommen soll, die von der Verbindlichkeit hypothetischer Imperative unterschieden und als Verbindlichkeit im Sinne unbedingter moralischer Pflichten zu verstehen ist, dann kann diese Verbindlichkeit, wenn überhaupt, nur in der Rolle Gottes als Autor der natürlichen Gesetze ihre Grundlage haben. Gerade die oben zitierte Passage scheint nun allerdings eine Basis für die Behauptung zu liefern, Gott müsse notwendigerweise als Gesetzgeber zu den ‚dictamina rectae rationis‘ hinzutreten, weil die ‚leges naturales‘ nämlich Hobbes’ obiger Aussage zufolge nur in diesem Fall legitimerweise als natürliche Gesetze bezeichnet werden können und weil ihre Verletzung nur in diesem Fall als Vergehen im engeren Sinne des Wortes begriffen werden kann. Festzuhalten ist aber, dass die beiden zuletzt genannten Annahmen keineswegs ohne Weiteres als richtig vorausgesetzt werden können. Vor dem Hintergrund der bislang erörterten Passagen ist es sowohl möglich, dass Hobbes die natürlichen Gesetze eben nicht als Gesetze im strengen Sinne des Wortes versteht, als auch, dass er die Verletzung der natürlichen Gesetze eben nicht im engeren Sinne als Schuld versteht. Um die natürlichen Gesetze als moralisch verbindliche Befehle Gottes auszuweisen, reicht es daher nicht aus, auf die Tatsache zu verweisen, dass Hobbes sie mit den Begriffen ‚lex‘ bzw. ‚leges‘ und ihre Übertretung an vielen Stellen mit dem Begriff ‚peccatum‘ kennzeichnet. Vielmehr muss einmal mehr gefragt werden, inwiefern Hobbes Gott ausdrücklich als Gesetzgeber und Autor der natürlichen Gesetze präsentiert; welche Möglichkeiten er zugesteht, die Autorschaft Gottes und die von ihm verhängten Sanktionen zu erkennen; und welche Stellung seinen religiösen und theologischen Ausführungen im Rahmen seiner ‚scientia moralis‘ überhaupt zukommt. Die erste Passage, die vor diesem Hintergrund eine eingehendere Betrachtung verlangt, sind die bereits angesprochenen Ausführungen, die das dritte Kapitel und damit die eigentliche Erörterung der natürlichen Gesetze beschließen und in denen Hobbes in ähnlicher Weise wie in den Elements seine eigene Verwendung des Begriffes ‚lex naturalis‘ hinterfragt und den Gesetzescharakter der natürlichen Gebote zu Gott in Beziehung setzt. Der entscheidende Unterschied zu den Ausführungen der Elements besteht darin, dass Hobbes die Redeweise von den natürlichen Gesetzen nun stärker als zuvor als uneigentliche Redeweise kennzeichnet und dass er Gott nicht des-

6.3 De Cive

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halb als Autor der natürlichen Gesetze präsentiert, weil die Gesetze aus der Natur hervorgehen und Gott der Schöpfer dieser Natur ist, sondern allein deshalb, weil sich die in den leges naturales formulierten Gebote und Verbote auch in der Heiligen Schrift finden. Naturae autem quas vocamus leges cùm nihil aliud sint, quam conclusiones quaedam ratione intellectae, de agendis & omittendis; lex autem propriè atque accuratè loquendò, sit oratio eius qui aliquid fieri vel non fieri aliis iure imperat, non sunt illae propriè loquendo leges, quatenus à naturâ procedunt. Quatenus tamen eaedem à Deo in scripturis sacris latae sunt, ut videbimus capite sequente, legum nomine propriissimè appellantur; est enim scriptura sacra in omnia maximo iure imperantis Dei oratio.256

Die Überarbeitungen, denen Hobbes die zugrundeliegende Passage der Elements unterzogen hat, scheinen allen Versuchen, die Gültigkeit der ‚TaylorWarrender-These‘ nun zumindest mit Blick auf die Argumentation von De Cive behaupten zu wollen, eine klare Absage zu erteilen. Hobbes macht sich zwar die von ihm zunächst als uneigentlich beschriebene Bezeichnung ‚leges naturae‘ insofern deutlich zu eigen, als er auf das folgende Kapitel verweist, in dem er die natürlichen Gesetze in der Heiligen Schrift nachweisen und damit selbst en detail eine Rechtfertigung für die schon zuvor von ihm verwendete Redeweise liefern wird. Indem Hobbes aber keinerlei Bezug auf Gottes Eigenschaft als Schöpfer der Natur und damit als Schöpfer der in den natürlichen Gesetzen ausgedrückten Gegebenheiten nimmt und den Zusammenhang zwischen den ‚dictamina rectae rationis‘ und dem göttlichen Gesetzgeber allein auf die Überlieferung der entsprechenden Gebote in der Heiligen Schrift beschränkt, entzieht er den Gesetzescharakter der leges naturales noch eindeutiger als bereits in den Elements der Sphäre der Wissenschaft. Zwar findet sich in De Cive keine ausführliche Diskussion der Frage, inwiefern die Aussagen der Offenbarung als gesichertes Wissen angesehen werden können. Im achtzehnten und letzten Kapitel unterscheidet Hobbes aber immerhin in ähnlicher Weise wie in den Elements zwischen den Begriffen ‚Wissen‘ und ‚Glauben‘ und definiert den Glauben einmal mehr als eine Zustimmung, die auf dem Vertrauen in die Behauptungen anderer Personen beruht und von diesem abhängig ist.257 Da es keinerlei Indizien dafür gibt, dass Hobbes die Position der Elements, nach der es sich bei der Autorität der Bibel in diesem Sinne um eine Frage des bloßen Glaubens handelt, in der kurzen Zeit zwischen der Fertigstellung der Elements und der Komposition von De Cive aufgegeben haben könnte, gibt es daher meines Erachtens zu der Einschätzung, die Darstellung der Bibel fiele in De Cive wie in den Elements nicht unter Hobbes’ Begriff des gesicherten Wissens, keine überzeugende Alternative. _____________ 256 DC: 121. 257 Vgl. DC: 282ff.

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6. Die natürlichen Gesetze

Dass Hobbes’ grundsätzliches Anliegen jedoch in De Cive gleichermaßen wie schon in den Elements darin besteht, die Lehre von den natürlichen Gesetzen auf eine gesicherte und wissenschaftliche Grundlage zu stellen, wird schon in der Epistola Dedicatoria deutlich, in der Hobbes sich einmal mehr von denjenigen Autoren distanziert, die bisher über die Moral geschrieben, aber seiner Einschätzung nach nichts zur Erkenntnis der Wahrheit beigetragen haben. Hobbes gibt dabei als sein eigenes Ziel aus, die Moralphilosophie auf die beiden sichersten Forderungen der menschlichen Natur aufbauen zu wollen, nämlich auf das egoistische Streben der Menschen nach dem für sie Guten und auf die Forderung der natürlichen Vernunft, dem Tod als dem größten Übel nach Möglichkeit auszuweichen.258 Die grundlegende Rolle, die Hobbes damit gleich zu Anfang der menschlichen Natur und dem individuellen Streben nach Selbsterhaltung zuweist, liefert einen weiteren Grund, die Berechtigung der ‚Taylor-Warrender-These‘, die dem Selbsterhaltungsstreben ja eben diese fundamentale Bedeutung abspricht, auch mit Blick auf De Cive in Zweifel zu ziehen. Dass die oben angedeutete Einschätzung, nach welcher der Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und dem göttlichen Gesetzgeber in De Cive noch eindeutiger aus Hobbes’ philosophischer und wissenschaftlicher Argumentation herausfällt, dennoch auf gewisse Probleme stößt, zeigt sich freilich im vierten Kapitel, in dem Hobbes die natürlichen Gesetze, wie gegen Ende des dritten Kapitels angekündigt, aus dem Text der Heiligen Schrift zu bestätigen versucht. Während Hobbes in der letzten Passage des dritten Kapitels die ‚dictamina rectae rationis‘ nur insofern als Befehle Gottes anerkannt hatte, als die in ihnen Ausdruck findenden Gebote und Verbote auch als Gebote Gottes in der Bibel enthalten sind, so begründet er die Urheberschaft Gottes nun doch, wie schon in den Elements, auch ausdrücklich mit der Tatsache, dass die Vernunft den Menschen von Gott verliehen worden sei, und bezieht sich dabei auf die Vernunft nicht so sehr im Sinne eines Erkenntnisvermögens, sondern vielmehr in ihrer Funktion als Richtschnur des menschlichen Handelns. Quae Naturalis, & Moralis, eadem & Diuina lex appelari solet. Nec immeritò; tum quia ratio, quae est ipsa lex naturae, immediatè à Deo, unicuique pro suarum actionum Regulâ tributa est. tum quia viuendi praecepta quae inde deriuantur, eadem sunt quae à diuina Maiestate, pro legibus Regni coelestis, per Dominum nostrum Iesum Christum, & per sanctos Prophetas, & Apostolos promulgata sunt. Quae igitur de lege naturali ratiocinando suprà intellecta sunt, ea hoc capite, ex scripturâ sacrâ confirmare conabimur.259

Wenn aufgrund dieser ambivalenten Interpretation der Rolle Gottes als Urheber der natürlichen Gesetze aber auch unsere frühere Aussage, nach der Hobbes in De Cive den Zusammenhang von Naturgesetz und göttlichem _____________ 258 Vgl. DC: 74f. 259 DC: 122.

6.3 De Cive

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Gesetzgeber und damit den eigentlichen Gesetzescharakter der ‚dictamina rectae rationis‘ noch deutlicher aus der Sphäre seines wissenschaftlichen Argumentes verbannt, nicht in dieser Form aufrechterhalten werden kann, so erzwingt die obige Passage jedoch für sich genommen auch keineswegs das Eingeständnis, Hobbes bestimme die natürlichen Gesetze im Rahmen des wissenschaftlichen Argumentes von De Cive, anders als in den Elements, als moralisch verbindliche Befehle Gottes. Gerade weil Hobbes in der zitierten Passage keine Aussage trifft, die über das in den Elements Ausgesagte hinausginge, behalten vielmehr die im Kontext unserer Erörterung des früheren Werks gegen die ‚Taylor-Warrender-These‘ vorgebrachten Einwände und die zur Rechtfertigung der traditionellen Lesart entwickelten Erklärungsversuche zunächst ihre Gültigkeit. Dies gilt in gleicher Weise auch für diejenigen Passagen, in denen Hobbes in De Cive in ähnlicher Weise wie in den Elements die Übertretung der natürlichen Gesetze als Unrecht oder Sünde gegenüber Gott bezeichnet,260 in denen er die inhaltliche Übereinstimmung von natürlichem Gesetz und göttlichem bzw. christlichem Gesetz hervorhebt,261 in denen er die Befolgung der natürlichen Gesetze als notwendige Bedingung des ewigen Heils präsentiert262 oder in denen er den natürlichen Gesetzen eine Geltung in foro interno bzw. eine Verbindlichkeit vor dem Gewissen zuschreibt.263 Dennoch wirft der Text von De Cive letztlich etwas größere Probleme für die traditionelle Lesart auf als der Text der Elements und liefert umgekehrt mehr Material zur Unterstützung der ‚Taylor-Warrender-These‘, als es der ältere Text getan hatte. Dies liegt daran, dass Hobbes sowohl im vierzehnten Kapitel von De Cive, das den Teil über den ‚Staat‘ („Imperium“) beschließt, als auch im darauf folgenden fünfzehnten Kapitel, das den in den Elements nicht enthaltenen Teil über die ‚Religion‘ („Religio“) einleitet, eine Reihe von Aussagen trifft, die nicht nur allgemein die Bedeutung Gottes für die natürlichen Gesetze noch einmal nachdrücklich betonen, sondern die auch die relativ klare Trennung von wissenschaftlichem Argument und theologischer Erörterung, wie sie oben auf Basis des Textes der Elements vertreten worden ist, mit Blick auf den Text von De Cive als problematisch erscheinen lassen. Bei der ersten in diesem Zusammenhang relevanten Passage handelt es sich um den vierten Abschnitt des vierzehnten Kapitels, in welchem Abschnitt Hobbes auf die Möglichkeit verweist, die verschiedenen Gesetzesarten mit Blick auf den jeweiligen Urheber der Gesetze zu klassifizieren. Während Hobbes’ Aussagen an anderen Stellen, so beispielsweise noch im vorangegan_____________ 260 261 262 263

Vgl. DC: 143, 155f. und 186f. Vgl. DC: 122f., 129 und 196. Vgl. DC: 186f., 188f. und 196. Vgl. DC: 118, 130, 169, und 186f.

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6. Die natürlichen Gesetze

gen zweiten Abschnitt des vierzehnten Kapitels,264 nahelegen, dass die Begriffe ‚natürliches Gesetz‘ und ‚göttliches Gesetz‘ zwei voneinander grundsätzlich unabhängige Kategorien, d.h. zwei vollständig separate Gesetzesarten, bezeichnen, die sich höchstens aufgrund einer inhaltlichen Übereinstimmung zueinander in Beziehung setzen lassen, präsentiert er die natürlichen Gesetze hier ausdrücklich als Bestandteil des göttlichen Gesetzes, indem er nämlich den Begriff des göttlichen Gesetzes offenbar als Oberbegriff versteht und das natürliche sowie das positive göttliche Gesetz als dessen zwei Spielarten vorstellt. Lex omnis diuidi potest, primum pro diuersitate authorum in Diuinam & Humanum. Diuina autem pro duobus modis, quibus Deus voluntatem suam hominibus notam facit, duplex est: Naturalis (siue Moralis) & Positiua. Naturalis ea est quam Deus omnibus hominibus patefecit, per Verbum suum aeternum ipsis innatum, nimirum Rationem naturalem. Atque haec est ea lex quam toto hoc libello explicare conatus sum. Positiua est, quam Deus nobis patefecit per Verbum Propheticum, quo locutus est ad hominem tanquam homo [...]265

Die Tatsache, dass Hobbes das natürliche Gesetz dabei nicht nur als göttliches, sondern auch als moralisches Gesetz kennzeichnet, wie er das ja auch schon in den Elements sowie im dritten und vierten Kapitel von De Cive getan hat, lässt sich zwar damit erklären, dass er die natürlichen Gesetze im dritten Kapitel ausdrücklich zum Tugendbegriff in Beziehung gesetzt und sie damit in einem eher deskriptiven Sinne als moralische Gesetze ausgewiesen hat, nämlich als solche, die sich auf die menschlichen Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche als ihren Gegenstand beziehen. Die betreffende Kennzeichnung muss folglich nicht als Hinweis auf eine besondere Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze gewertet werden. Auffällig ist jedoch, dass Hobbes die natürlichen Gesetze nun nicht mehr vorrangig als Gebote der Vernunft und lediglich in einem indirekten Sinne als Gesetze Gottes präsentiert, sondern dass er sie in einem unmittelbareren Sinne als Ausdruck des göttlichen Willens charakterisiert. Hatte Hobbes vorher den Eindruck erweckt, die natürlichen Gesetze seien lediglich insofern als Artikulation des Willens Gottes zu verstehen oder zu interpretieren, als Gott den Menschen die Vernunft und damit die Begabung verliehen habe, die entsprechenden Gebote bzw. die Notwendigkeit der betreffenden Handlungsweisen einzusehen, so erscheint nun der Wille Gottes als die eigentliche Grundlage sowohl der positiven göttlichen Gesetze als auch der natürlichen Gesetze und die Vernunft lediglich als das Mittel, dessen sich Gott bedient hat, um den Menschen seinen Willen kundzutun. _____________ 264 Vgl. DC: 206. („Manifestum enim est, leges Diuinas non esse ortas à consensu hominum, neque etiam naturales“) 265 DC: 207.

6.3 De Cive

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Man könnte nun einmal mehr geneigt sein, die hier zitierten Ausführungen als Aussagen zu werten, die nur für gläubige Christen Geltung beanspruchen und daher nicht als Teil des eigentlichen philosophischen Argumentes verstanden werden können. Hobbes’ Interesse wäre dann darin zu sehen, den natürlichen Gesetzen mit Blick auf seine Leserschaft bzw. auf einen bestimmten Teil seiner Leserschaft eine zusätzliche Autorität zu verleihen und die Klugheitspflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze für diesen Teil seiner Leserschaft in den Rang einer auch religiösen Pflicht zu erheben. Problematisch ist diese Deutung jedoch einerseits deshalb, weil Hobbes seine hier zitierte Charakterisierung der natürlichen Gesetze ausdrücklich zu seiner zuvor entwickelten Lehre von den natürlichen Gesetzen in Beziehung setzt („Atque haec est ea lex quam toto hoc libello explicare conatus sum.“). Auf der anderen Seite – und weit schwerwiegender – ist sie es, weil die Ausführungen bezüglich der Erkennbarkeit Gottes, die Hobbes im nun folgenden fünfzehnten Kapitel entwickelt, kaum eine hinreichende Grundlage liefern, um die Sichtweise, die natürlichen Gesetze stellten einen direkten Ausdruck des göttlichen Willens dar, in Hobbes’ eigenem Sinne als unwissenschaftlich oder außerwissenschaftlich auszuweisen. Der dritte Teil von De Cive mit dem Titel „Religio“, zu dem es, wie gesagt, kein wirkliches Pendant in den Elements gibt und der daher rein äußerlich den größten Unterschied zwischen den beiden Schriften markiert, besteht aus insgesamt vier Kapiteln, die überschrieben sind „De Regno Dei per Naturam“ (Kapitel XV), „De Regno Dei per Pactum Vetus“ (Kapitel XVI), „De Regno Dei per Pactum Nouum“ (Kapitel XVII) und „De Necessariis ad Introitum in Regnum Coelerum“ (Kapitel XVIII). Von diesen vier Kapiteln ist lediglich das erste für die Frage nach der Berechtigung der ‚Taylor-WarrenderThese‘ von wirklicher Bedeutung, weil es sich auf diejenigen Aspekte der Religion beschränkt, die in die Sphäre der natürlichen Vernunft und damit direkt in den Bereich der Wissenschaft fallen. Die letzten drei Kapitel beschäftigen sich dagegen explizit mit Fragen der Heiligen Schrift und Fragen des Glaubens und können daher keine unmittelbare Relevanz für Hobbes’ wissenschaftliche Lehre von den natürlichen Gesetzen beanspruchen. Hobbes bestimmt nun zwar in der Epistola Dedicatoria und im Praefatio zur zweiten Auflage von De Cive das Ziel des gesamten dritten Teils mit den Worten, er wolle lediglich die Übereinstimmung der natürlichen Gesetze und der Gesetze Gottes nachweisen und zeigen, dass die Rechte, die er dem staatlichen Herrscher im zweiten Teil zugestanden habe, in keinerlei Widerspruch zu den Rechten Gottes stünden.266 Diese Aussage, die er zu Beginn des fünfzehnten Kapitels noch einmal in ähnlicher Weise wiederholt267, legt nahe, dass _____________ 266 Vgl. DC: 76 und 82. 267 Vgl. DC: 219.

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6. Die natürlichen Gesetze

der gesamte dritte Teil inklusive des fünfzehnten Kapitels bloß eine Art Beigabe darstellt, in der die fundamentalen Fragen der Begründung und Verbindlichkeit der Naturgesetze nicht berührt oder zumindest nicht entscheidend beantwortet werden. Wie bereits angedeutet, beschreibt Hobbes dann im fünfzehnten Kapitel die Rolle Gottes aber in einer Weise, die die zuvor entwickelte Lehre von den natürlichen Gesetzen nachträglich in ein neues Licht zu rücken und den vorangegangenen Bezugnahmen auf Gott als den Autor der Naturgesetze eine umfassendere Bedeutung und Autorität zu verleihen scheint. Hatte Hobbes die natürlichen Gesetze schon im vierzehnten Kapitel in etwas direkterer Weise als Ausdruck des göttlichen Willens präsentiert, so beschreibt er Gott nun auch explizit als ein Wesen, das über die Menschen herrscht und sie mit Hilfe konkreter Gebote regiert. Diese Charakterisierung ist insofern von direkter Relevanz für die Bewertung der natürlichen Gesetze, als Gott Hobbes’ Aussagen zufolge in seinem natürlichen Königreich allein durch die natürliche Vernunft regiert, d.h. durch die Gesetze, die er den Menschen mit dieser Vernunft gegeben oder mitgeteilt hat.268 So betont Hobbes auch ausdrücklich, die Gebote, mit denen Gott in seinem natürlichen Königreich herrsche, seien die zuvor eingehend beschriebenen natürlichen Gesetze.269 Der zuvor und vor allem am Ende des dritten und zu Beginn des vierten Kapitels erweckte Eindruck, die natürlichen Gesetze seien zunächst und zuerst als bloße Folgerungen der Vernunft anzusehen, die dann nur in einem zweiten Schritt auch als Gesetze Gottes begriffen werden könnten, wird aber auf diese Weise in Frage gestellt. Ähnlich wie schon im vierzehnten Kapitel erscheinen die natürlichen Gesetze nun vorrangig als Ausdruck des göttlichen Willens und als göttliche Befehle; als ‚dictamina rectae rationis‘ erscheinen sie dagegen nur insofern, als Gott die Vernunft als Mittel der Verkündigung seines Willens gewählt hat, d.h. in einem sekundären Sinne. Diese Betonung des göttlichen Ursprungs der natürlichen Gesetze und vor allem die Beschreibung Gottes als Regent und Herrscher legen dabei nahe, dass auch die von Hobbes so häufig erwähnte Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze in einem engeren Zusammenhang zu deren göttlichem Ursprung stehen muss, und diese Sicht erfährt dadurch eine gewisse Bestätigung, dass Hobbes den Menschen ausdrücklich eine Verbindlichkeit zum Gehorsam gegenüber Gott und seinen Geboten zuschreibt und diese auch durch einen Verweis auf die Allmacht Gottes und die Ohnmacht der Menschen explizit begründet.270 Dass der Versuch, alle diese Aussagen strikt von der eigentlichen wissenschaftlichen Lehre der natürlichen Gesetze zu trennen, auf Probleme stößt, _____________ 268 Vgl. DC: 220f. 269 Vgl. DC: 223. 270 Vgl. DC: 22f.

6.3 De Cive

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liegt daran, dass Hobbes im direkten Anschluss an die betreffenden Passagen Möglichkeiten der rationalen Erkenntnis Gottes anerkennt, die er in den Elements noch nicht in dieser Deutlichkeit anerkannt hat. Hobbes vertritt zwar nach wie vor die Ansicht, dass viele der Eigenschaften, die die Menschen Gott üblicherweise zuschreiben, nicht als wirkliche Erkenntnisse, sondern nur als Ausdruck ihrer Reverenz gelten können. Anders als in den Elements interpretiert Hobbes nun jedoch die auf dem Wege der natürlichen Vernunft zu gewinnende Erkenntnis, dass es einen Gott gibt, welche ja in den Elements bloß als Erkenntnis einer ersten Ursache präsentiert wurde, als eine Erkenntnis, in der gleichzeitig auch Gottes Verhältnis zu den Menschen, d.h. seine Rolle als König, als Vater und als Herr der Menschen, eingesehen werde. Illum igitur qui nolit attribuere Deo alia nomina quam iubet ratio, oportet vti nominibus, quae vel negatiua sunt, vt infinitus, aeternus, incomprehensibilis, vel superlatiua, vt optimus, maximus, fortissimus, altissimus, &c. vel indefinita, vt bonus, iustus, fortis, creator, rex & similia; eo sensu, vt non velimus quid sit dicere, (quod esset eum limitibus nostrae phantasiae circumscribere,) sed propriam admirationem, & obedientiam confiteri, quod humilitatis est, & proprium animi honorantis quantum potest. Vnicum enim ratio dictat naturae significatiuum Dei nomen, existens, siue simpliciter, quod est, vnumque relationis ad nos, nempe Deus, quo continetur & Rex, Dominus, & Pater.271

So unzweifelhaft all diese Aussagen die ‚Taylor-Warrender-These‘ nun aber auch stärken und die traditionelle Lesart erschweren mögen, so wenig kann doch letztlich behauptet werden, die Interpretationen Taylors und Warrenders erführen durch sie eine eindeutige und umfassende Rechtfertigung, und zwar aus mehrerlei Gründen. Auf der einen Seite sind Hobbes’ Aussagen im fünfzehnten Kapitel von De Cive nicht ohne Weiteres mit den Ausführungen in früheren Kapiteln von De Cive vereinbar. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Hobbes an seiner eigenen Begriffsunterscheidung, nach der die natürlichen Gesetzen einen Teilbereich der göttlichen Gesetze ausmachen, keineswegs konsequent festhält und dass er beide Gesetzesarten im gesamten Laufe seiner Argumentation oftmals – so beispielsweise auch noch zu Beginn des vierzehnten Kapitels – als grundsätzlich voneinander unabhängig präsentiert. Die Darstellungen im vierten Abschnitt des vierzehnten Kapitels und im gesamten fünfzehnten Kapitel stehen daher durchaus in einer gewissen Spannung zu der Darstellung in den vorangegangenen Kapiteln, und eine derartige Spannung liegt auch insofern vor, als Hobbes im dritten und vierten Kapitel, also dort, wo er seine Lehre von den natürlichen Gesetzen eigentlich ausbreitet, die Rolle Gottes anders und wesentlich zurückhaltender bestimmt als in den zuletzt besprochenen Passagen. Hinzu kommt, dass Hobbes, wie gesehen, dem „Religio“ überschriebenen dritten Teil mit Blick auf den Gang der Gesamtargumentation lediglich _____________ 271 DC: 227.

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6. Die natürlichen Gesetze

die Bedeutung zuerkennt, die Vereinbarkeit seiner bereits vollständig ausgeführten Lehre von den natürlichen und bürgerlichen Gesetzen mit den religiösen Pflichten der Christen und den Rechten Gottes aufzuzeigen, ihre Funktion aber keineswegs darin zu sehen scheint, nun nachträglich die eigentliche Grundlage der natürlichen Gesetze vorzustellen und die Verbindlichkeit dieser Gesetze eingehender zu beschreiben und zu begründen. Erneut zu betonen ist zudem, dass Hobbes sich am Anfang von De Cive zu dem Vorhaben bekennt, die Lehre von den natürlichen Gesetzen auf ein sicheres Fundament zu stellen, dabei aber weder überhaupt auf Gott verweist noch auf die Möglichkeit, seine Rolle als Gesetzgeber mit Hilfe der natürlichen Vernunft einzusehen, sondern mit der menschlichen Natur und ihren fundamentalen Forderungen eine ungleich säkularere Basis seiner Moralphilosophie umreißt. Schließlich ist einmal mehr daran zu erinnern, dass Hobbes auch im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels, also dort, wo er die Frage erörtert, welche Instanz als Grundlage oder Kriterium der natürlichen Gesetze in Frage kommt, den göttlichen Gesetzgeber und den göttlichen Willen mit keiner Silbe erwähnt. Dem Eindruck, dass es sich beim fünfzehnten Kapitel von De Cive um einen Fremdkörper handelt, um einen Teil des Werkes, in dem die eigentliche Argumentation nicht wirklich fortgeführt, sondern eher aus einer grundsätzlich verschiedenen, nämlich aus einer außerwissenschaftlichen religiösen Perspektive ergänzt wird, vermag man sich als Leser von De Cive daher nur schwer zu entziehen. Noch wichtiger ist aber vielleicht, dass Hobbes’ Aussagen im fünfzehnten Kapitel auch für sich genommen keineswegs so eindeutig und unproblematisch sind wie es hier zunächst den Anschein gehabt haben mag. Erstens erweckt die Passage, in der Hobbes die natürlichen Gesetze als Inbegriff der Gesetze im natürlichen Königreich Gottes präsentiert, zum Teil durchaus den Eindruck, als wolle Hobbes nur ein weiteres Mal auf die inhaltliche Übereinstimmung zwischen beiden Gesetzesarten hinweisen. Hobbes scheint selbst hier, an dieser so wichtigen Stelle, nicht wirklich bestrebt zu sein, etwas über die natürlichen Gesetze und den eigentlichen Grund ihrer Verbindlichkeit zu sagen. Vielmehr scheint er seine Lehre von den natürlichen Gesetzen schon als abgeschlossen zu betrachten und nur kurz darauf hinweisen zu wollen, dass die Gebote der nun zu beschreibenden Gesetze im natürlichen Königreich Gottes inhaltlich mit den von ihm beschriebenen natürlichen Gesetzen identisch sind und folglich keiner eigenen inhaltlichen Diskussion oder Ableitung mehr bedürfen. Zweitens ist nicht immer ganz klar, welche Eigenschaften in Gottes Rolle als allmächtiger und allwissender Vater, König und Herr der Menschen genau enthalten sind und folglich von den Menschen auf dem Wege der natürlichen Vernunft eingesehen werden können. Die bloße Verwendung der Ausdrücke „Rex, Dominus, & Pater“ verleiht Gott mit Blick auf die natürlichen Gesetze

6.3 De Cive

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zwar ohne Zweifel eine ungleich gewichtigere und stärker normativ aufgeladene Rolle als der bloße Hinweis auf seine Eigenschaft als Urheber der Natur oder Verleiher der natürlichen Vernunft. Es ist aber nicht vollkommen eindeutig, ob die Menschen nach Hobbes’ Meinung auf dem Wege der bloßen Vernunft auch die Existenz göttlicher Sanktionen einsehen können und wirklich – im Sinne festen und gesicherten Wissens – wissen können, dass Gott ein direktes Interesse daran hat, dass die Menschen die natürlichen Gesetze befolgen, und jedes andere Verhalten bestrafen wird. Selbst wenn Hobbes die entsprechende Auffassung vertreten sollte, wäre zudem zumindest zu fragen, wie überzeugend sich die Auffassung in seine sonstige Position einfügt und ob Hobbes angesichts seiner sonstigen Ausführungen behaupten kann, dass die Menschen mit Hilfe der Vernunft einzusehen vermögen, dass Gott sich um die menschlichen Angelegenheiten überhaupt bekümmert. Ein drittes Problem ergibt sich angesichts der Frage, für wen die natürlichen Gesetze, wenn man sie denn im Sinne der ‚Taylor-Warrender-These‘ als Ausdruck des göttlichen Willens und als Gebote Gottes in seinem natürlichen Königreich versteht, überhaupt gelten. Hobbes’ Ausführungen im zweiten und dritten Kapitel schienen keinen Zweifel daran zu lassen, dass die von ihm im Kontext des natürlichen Selbsterhaltungsstrebens entwickelten Naturgesetze für alle Menschen gleichermaßen gelten – Kinder und Geisteskranke einmal ausgenommen. Hobbes gesteht zwar an einigen Stellen zu, dass nicht alle Menschen zu jeder Zeit die Notwendigkeit der in den natürlichen Gesetzen gebotenen Handlungsweisen einsehen werden. Er betont aber nachdrücklich, dass alle Menschen grundsätzlich zu den betreffenden Einsichten in der Lage sind, und er nimmt auch die Möglichkeit der mangelnden faktischen Einsicht an keiner Stelle zum Anlass, um die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze einzuschränken. Die Tatsache, dass jeder Mensch prinzipiell zur Einsicht in die natürlichen Gesetze fähig ist, scheint für Hobbes folglich auszureichen, um diesen Gesetzen mit Blick auf alle Menschen Geltung und Verbindlichkeit zuzusprechen. Für die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes, die ja nach der oben versuchsweise skizzierten Deutung des fünfzehnten Kapitels mit den natürlichen Gesetzen vollständig, d.h. nicht nur inhaltlich, sondern auch mit Blick auf Geltung und Verbindlichkeit, identisch sein müssten, gilt dies aber offenbar nicht. Hobbes’ Aussagen zufolge regiert Gott in seinem natürlichen Königreich nicht gleichermaßen über alle Menschen, die mit Vernunft begabt sind, sondern nur über diejenigen, die seine Existenz und Macht anerkennen und die anerkennen, dass er den Menschen Gebote gegeben und Strafen für deren Übertretung festgesetzt hat.272 Alle Menschen, die die Existenz Gottes leugnen oder der Auffassung sind, dass Gott sich nicht um die Belange der _____________ 272 Vgl. DC: 220f.

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6. Die natürlichen Gesetze

Menschen kümmert, sind danach nicht als Untertanen in Gottes natürlichem Königreich zu begreifen, sondern als Feinde Gottes, und folglich können die Gesetze, die Gott in seinem natürlichen Königreich erlassen hat, für sie nicht gelten und keinerlei Verbindlichkeit beanspruchen. Hobbes gesteht dies auch ausdrücklich ein. Wie er bereits im vierzehnten Kapitel hervorhebt, handelt ein Atheist, der die Existenz Gottes leugnet und folglich auch seine Rolle als Herrscher des natürlichen Königreiches Gottes nicht anerkennt, nicht sündhaft, sondern lediglich unklug, nicht zuletzt, weil er sich auf diese Weise zum Feind Gottes macht.273 Es liegt auf der Hand, dass dann auch derjenige keine Sünde begeht, der die spezifischen Gebote nicht befolgt, die im natürlichen Königreich Gottes gelten. Wenn es sich aber bei den natürlichen Gesetzen um die Gesetze eben dieses Königreiches handelt, dann folgt daraus, dass die natürlichen Gesetze nicht für alle Menschen gelten und nicht für alle Menschen verbindlich sein können, sondern nur für solche, die ihre Vernunft richtig gebrauchen und auf diese Weise zu Untertanen im natürlichen Königreich Gottes werden, indem sie nämlich erkennen, dass es einen Gott gibt und dass es sich bei den Geboten der Vernunft um seine Gesetze handelt. Die Sichtweise, dass die natürlichen Gesetze vorrangig Befehle Gottes sind und ihre Verbindlichkeit aus eben dieser Tatsache herleiten, zieht daher die Folgerung nach sich, dass die natürlichen Gesetze in ihrer primären Eigenschaft nur für einen bestimmten Teil der Menschheit gelten und höchstens in einer sekundären Eigenschaft, als rein weltliche Klugheitsregeln im Dienste der irdischen Selbsterhaltung, auch für den restlichen Teil der Menschheit. Dass diese Folgerung aber nur außerordentlich schwer mit einer ganzen Reihe von Hobbes’ Aussagen und mit den generellen Ansprüchen und Intentionen seiner Lehre zu vereinbaren ist, liegt auf der Hand. Die Probleme, auf die sowohl die traditionelle Lesart als auch die ‚TaylorWarrender-These‘ stoßen, zeigen letztlich, dass der Text von De Cive eine eindeutige und unangreifbare Festlegung bezüglich der Frage, welchen Status Hobbes den natürlichen Gesetzen im Rahmen seiner wissenschaftlichen Argumentation zuschreibt, nicht erlaubt und dass es gute Gründe gibt, den natürlichen Gesetzen in der von Röd und Spragens skizzierten Weise prinzipiell einen doppelten Status zuzugestehen. Entscheidet man sich für die traditionelle Lesart, dann vermag man mit dem strukturellen Aufbau der Hobbes’schen Theorie, mit einigen programmatischen Äußerungen von Hobbes und vor allem mit den Ausführungen in denjenigen Kapiteln, in denen Hobbes die Lehre von den natürlichen Gesetzen eigentlich entwickelt, eine ganze Reihe ausgesprochen gewichtiger Argumente dafür ins Feld zu führen, dass es sich bei den Hobbes’schen Naturgesetzen primär um bloße Folgerungen der Vernunft handelt, die dem Einzelnen den Weg zum Ziel der Selbsterhaltung _____________ 273 Vgl. DC: 214f.

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weisen. Man muss dann allerdings die durchaus zahlreichen Passagen, in denen Hobbes die natürlichen Gesetze als göttliche Gesetze, als Ausdruck des göttlichen Willens oder als Befehle eines göttlichen Herrschers und Gesetzgebers präsentiert, als Passagen interpretieren, die Hobbes selbst nicht als Bestandteil seiner eigentlichen wissenschaftlichen Theorie begriffen und dieser Theorie lediglich in ergänzender Weise beigefügt hat. Für eine solche Vorgehensweise ließen sich nun zwar ohne Weiteres einige plausible Beweggründe anführen, so etwa das Interesse, eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen, der Wunsch, den natürlichen und in ihrer Folge auch den bürgerlichen Gesetzen eine möglichst umfassende Autorität zu verleihen und auf diese Weise die Notwendigkeit bürgerlichen Gehorsams besonders nachhaltig zu bekräftigen, oder auch die Sorge, durch eine rein säkulare Argumentation in besonderer Weise den Widerstand konservativer Kräfte herauszufordern und gegebenenfalls gar die Gefahr politischer Verfolgung heraufzubeschwören. Es bliebe aber einzugestehen, dass der Hobbes’sche Gottesbegriff und die Möglichkeiten, die Hobbes hinsichtlich der vernünftigen Erkenntnis Gottes im fünfzehnten Kapitel von De Cive anerkennt, eine Einbeziehung der oben genannten Passagen in die wissenschaftliche Theorie durchaus zulassen würden, was hieße, dass Hobbes sie der Sphäre seiner wissenschaftlichen Argumentation entzöge, ohne eigentlich dazu gezwungen zu sein. Umgekehrt vermag man, wenn man sich entscheidet, die Hobbes’sche Theorie von den natürlichen Gesetzen als ‚divine command theory‘ zu interpretieren, den meisten Aussagen im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel von De Cive wesentlich leichter Plausibilität zu verleihen. Man muss dann jedoch eine überzeugende Erklärung dafür anbieten, warum Hobbes die natürlichen Gesetze über weite Strecken seines Werkes und insbesondere im Rahmen der Einführung, Erörterung und Begründung des entsprechenden Begriffes eben nicht ihrem vermeintlich primären Status gemäß als Befehle Gottes präsentiert und warum er dem irdischen Streben nach Selbsterhaltung, das ja dann lediglich die Grundlage einer sekundären Geltung der natürlichen Gesetze bilden würde, soviel Aufmerksamkeit schenkt. Taylors und Warrenders Behauptung einer strikten Trennung von Motivations- und Verpflichtungstheorie scheint mir nicht in diesem Sinne eine überzeugende Antwort darzustellen. Hobbes’ Vorgehen ließe sich allerdings auch im Rahmen der Deutung der Naturgesetze als göttliche Befehle auf taktische Überlegungen zurückführen, so etwa auf das Interesse, die Lehre von den natürlichen Gesetzen als eine Lehre zu präsentieren, die allein auf allgemein anerkannte Tatsachen gegründet ist, und auf diese Weise neben christlichen Lesern auch Atheisten und Agnostiker von der Vernünftigkeit bürgerlichen Gehorsams zu überzeugen. Wenn mit Blick auf den Text von De Cive aber auch beide Interpretationsvarianten grundsätzlich gangbar sein mögen, so erscheint mir doch die traditionelle Lesart einer Deutung der Hobbes’schen Moralphilosophie als

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6. Die natürlichen Gesetze

‚divine command theory‘ immer noch ein wenig überlegen, einerseits, weil sie dem Gang der Hobbes’schen Argumentation und der Gewichtung der einzelnen Elemente dieser Argumentation größere Gerechtigkeit widerfahren lässt, andererseits, weil sie – in Übereinstimmung mit Hobbes’ Darstellung in den zentralen Kapiteln seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen – den natürlichen Gesetzen in ihrer primären Eigenschaft allgemeine Geltung zugestehen kann und diese Geltung lediglich im Hinblick auf den sekundären Status der Gesetze mit einer Einschränkung versehen muss. Folgt man stattdessen der ‚Taylor-Warrender-These‘, dann ist man gezwungen, den natürlichen Gesetzen in ihrer primären und eigentlichen Bedeutung eine begrenzte, sich nicht auf Atheisten, Agnostiker und Deisten erstreckende Geltung zuzusprechen, und kann ihnen nur in ihrer sekundären Eigenschaft als irdische Klugheitsregeln eine umfassendere Geltung zuerkennen. Es kann zusätzlich darauf hingewiesen werden, dass es angesichts des im Rahmen dieser Arbeit nachgewiesenen Hobbes’schen Bemühens, seine politische Theorie von starken Voraussetzungen möglichst unabhängig zu machen, erstaunen müsste, wenn Hobbes seine Lehre von den natürlichen Gesetzen in De Cive ausdrücklich auf eine religiöse Grundlage stellen würde, um so mehr, als er dies in den Elements, die im Hinblick etwa auf die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ ja eher noch von stärkeren Voraussetzungen geprägt waren als De Cive, nicht in dieser Weise getan hat. Selbst wenn man aber die Hobbes’sche Moralphilosophie, wie von Taylor und Warrender gefordert, primär als ‚divine command theory‘ begreifen sollte, heißt das keineswegs, dass auch die von Taylor wie von Warrender vertretene These, den natürlichen Gesetzen komme als Befehlen Gottes Verbindlichkeit in einem strikt moralischen Sinne zu, Gültigkeit beanspruchen kann. Die Probleme, denen sich diese These gegenübersieht, sind bereits mit Blick auf die Elements eingehend erörtert worden, und sie stellen sich mit Blick auf De Cive grundsätzlich in der gleichen Weise. Ein Unterschied besteht höchstens darin, dass die oben bereits angesprochene Passage des fünfzehnten Kapitels, in der Hobbes die Verpflichtung der Untertanen des natürlichen Königreiches Gottes gegenüber ihrem göttlichen Herrscher begründet und eingehender beschreibt und zu der sich kein Pendant in den Elements findet, die erste der beiden von Warrender vorgeschlagenen Interpretationsvarianten relativ deutlich ausschließt. Die Begriffe, mit denen Hobbes die Rolle Gottes insgesamt kennzeichnet, mögen diesen zwar in den Rang einer auch moralischen Instanz erheben. Die Hobbes’sche Begründung der Verpflichtung gegenüber Gott macht aber unmissverständlich deutlich, dass die Pflicht, die Gebote Gottes zu befolgen, auf die göttliche Macht und damit wohl vor allem die göttlichen Sanktionen zurückgeht und keine Folge seiner bloßen moralischen Autorität ist.

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Quod si ius Regnandi habeat Deus ab omnipotentiâ suâ, manifestum est obligationem ad praestandam ipsi obedientiam, incumbere hominibus propter imbecillitatem. Obligatio enim quae ex pacto oritur, de qua dictum est capite secundo, hic vbi ius imperandi, nullo intercedente pacto, à naturâ oritur, locum habere non potest. Sunt autem obligationis naturalis duae species: Vna vbi libertas impedimentis corporeis tollitur; iuxta quam caelum & terram & creaturas omnes, communibus suae creationis legibus obedire dicimus. Altera, vbi tollitur spe & metu; iuxta quam, infirmior potentiori cui resistere se posse desperat, non potest non obedire. A secundo hoc obligationis genere nascitur, hoc est, à metu, siue imbecillitatis propriae (respectu diuinae potentiae) conscientiâ, quod in Regno Dei naturali, ad obediendum Deo obligemur; dictante scilicet ratione, omnibus Dei potentiam & prouidentiam agnoscentibus non esse calcitrandum contra stimulum.274

Die Rückführung der Gehorsamspflicht gegenüber Gott auf die Ohnmacht der Menschen und die Art und Weise, wie Hobbes dabei indirekt auf den im Rahmen der Freiheitsdefinition des neunten Kapitels entwickelten Begriff der ‚impedimenta arbitraria‘ zurückgreift, entziehen allen Versuchen, die Verbindlichkeit der Befehle Gottes als kategorische oder strikt moralische Verbindlichkeit zu interpretieren, die Grundlage. Hobbes mag die Gehorsamspflicht gegen Gott zwar an vielen Stellen moralisch aufladen, und er mag auch mitunter nahelegen, dass die Nichtbefolgung der natürlichen Gesetze für die Untertanen im natürlichen Königreich Gottes in einem umfassenderen Sinne ein Vergehen darstellt als im Sinne eines bloß unklugen Verhaltens. Das obige Zitat zeigt aber, dass auch die Gehorsamspflicht gegenüber Gott von Hobbes grundsätzlich nur im Sinne einer Klugheitspflicht begründet wird, d.h. als eine Pflicht, die von den Bedürfnissen und Ängsten des Handelnden abhängig ist und allein aus diesen ihre Geltung bezieht. Wie immer man daher mit Blick auf De Cive den eigentlichen Geltungsgrund und den primären Status der natürlichen Gesetze auch bestimmen mag, sie bleiben in jedem Fall hypothetische Imperative, die von einem vorausgesetzten Zweck abhängen, sei es nun von der irdischen Selbsterhaltung oder sei es vom ewigen Leben. 6.3.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre Die Frage, die abschließend zu beantworten bleibt, ist die Frage, ob Hobbes in De Cive das Verhältnis der natürlichen Gesetze zum Tugendbegriff anders fasst oder stärker hervorhebt als in den Elements und ob er damit eine Grundlage dafür schafft, die Moralphilosophie von De Cive sinnvollerweise als tugendethische Theorie zu begreifen. Dass es sich bei der Moralphilosophie der Elements nicht in einem strengeren Sinne um eine Theorie der ‚virtues‘ und ‚vices‘ handelt, ist oben unter anderem mit dem Hinweis auf die Anordnung _____________ 274 DC: 222f.

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6. Die natürlichen Gesetze

und Gewichtung der Hobbes’schen Ausführungen begründet worden sowie mit der Problematik, dass die gewohnheitsmäßige Befolgung der natürlichen Gesetze im Naturzustand gerade kein Gut darstellt und die Naturzustandsindividuen im Sinne ihrer eigenen Interessen von der Kultivierung eines wie auch immer gearteten Habitus absehen sollten. Wie aus unserer eingehenden Beschreibung der Kapitel II und III hervorgegangen ist, stimmen der Text der Elements und der Text von De Cive aber hinsichtlich aller dieser Aspekte fast vollständig überein. Auch in De Cive beschreibt Hobbes nahezu ausschließlich das Handeln der Menschen und widmet sich nur an wenigen Stellen der Frage nach ihren Gewohnheiten und Charaktereigenschaften, und auch in De Cive beschreibt er eindringlich die Gefahren, die im Naturzustand mit einer kategorischen Befolgung der Naturgesetze einhergehen würden. Die erste Passage, in der Hobbes Fragen des menschlichen Charakters überhaupt in seine Erörterung der natürlichen Gesetze einbezieht, findet sich wie schon in den Elements im Anschluss an Hobbes’ Definition des Begriffes der Gerechtigkeit. Hobbes nimmt die Begriffe ‚recht‘ und ‚unrecht‘ einmal mehr zum Anlass, um zwischen der Gerechtigkeit von Handlungen und der Gerechtigkeit von Personen zu unterscheiden, und in der zweiten Auflage von De Cive fügt Hobbes seinen Ausführungen noch eine Fußnote hinzu, in der er ein weiteres Mal auf diese Unterscheidung verweist. Da Hobbes sich aber wie in den Elements mit seiner anschließenden Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit wieder direkt und ausschließlich der Gerechtigkeit von Handlungen zuwendet, liefern die kurzen Ausführungen zur Gerechtigkeit von Personen keinerlei Grundlage, um der Beschreibung des ‚homo iustus‘ einen besonderen Stellenwert innerhalb der Hobbes’schen Ableitung der natürlichen Gesetze zuzugestehen. Um die erste Stelle, die einen wirklichen Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und dem Begriff der Tugend herstellt, handelt es sich ein weiteres Mal bei derjenigen Passage, die sich an die Beschreibung der Unveränderlichkeit und zeitlosen Gültigkeit der natürlichen Gesetze anschließt und in der Hobbes die von den natürlichen Gesetzen gebotenen Handlungsweisen noch einmal nachdrücklich als ein objektives Gut beschreibt. Die Passage zeigt nun zwar durchaus deutliche Überarbeitungen gegenüber dem Text der Elements. In ihrer überarbeiteten Fassung liefert sie aber noch weniger als zuvor eine Grundlage für die Behauptung, es handle sich bei der Hobbes’schen Theorie der natürlichen Gesetze um eine tugendethische Theorie. Hobbes’ Bemühen in den Elements bestand darin, die von den natürlichen Gesetzen gebotenen Handlungsweisen in einem ersten Schritt noch einmal unter Berufung auf den objektiven Maßstab der Vernunft als etwas auszuweisen, was alle Menschen als Gut ansehen müssen, um diese Aussage dann in einem zweiten Schritt dahingehend zu erweitern, dass auch die habituelle Ausübung der betreffenden Handlungen als ein Gut und folg-

6.3 De Cive

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lich als eine Tugend angesehen werden müsse. In De Cive geht er demgegenüber von der Frage aus, mit welchem Recht die natürlichen Gesetze gemeinhin als moralische Gesetze bezeichnet werden, und nutzt den Tugendbegriff allein dazu, die Berechtigung der von ihm angesprochenen Gleichsetzung von Naturgesetz und Moralgesetz aufzuzeigen. Hobbes präsentiert zwar wie in den Elements die von den natürlichen Gesetzen gebotenen Verhaltensweisen als etwas objektiv Gutes und bezieht sich dabei auch wie in dem früheren Werk noch einmal deutlich auf die Vernunft im Sinne eines objektiven Kriteriums. Er setzt die natürlichen Gesetze aber nicht deshalb zu den Begriffen ‚mores‘, ‚habitus‘ und ‚virtutes‘ in Beziehung, um ausdrücklich auf die Notwendigkeit oder den Wert der entsprechenden Gewohnheiten und Charaktereigenschaften hinzuweisen oder die Ausübung der Tugenden selbst zum Gegenstand der naturgesetzlichen Verpflichtung zu machen. Die Bezugnahmen haben vielmehr die Funktion, die inhaltliche Übereinstimmung seiner naturgesetzlichen Gebote mit den Tugenden der traditionellen Moralphilosophie herauszustellen und dadurch – wie auch durch die explizite Einbeziehung des Begriffes der ‚bonos mores‘ – deutlich zu machen, warum die Lehre von den natürlichen Gesetzen zurecht als Lehre von den moralischen Gesetzen bezeichnet wird und dass diese Gleichsetzung auch auf seine eigene Lehre von den natürlichen Gesetzen angewendet werden kann. Legem naturalem eandem esse cum lege morali consentiunt omnes scriptores. Id quare sit verum videamus. Sciendum igitur est, bonum & malum nomina esse rebus imposita ad significandum appetitum, vel auersionem eorum à quibus sic nominatur. Appetitus autem hominum pro diuersis eorum temperamentis, consuetudinibus, opinionibusque, diuersi sunt; vt videre est in iis rebus quas sensu percipimus, puta gustu, tactu, olfactu, sed multo magis, in iis rebus quae pertinent ad actiones vitae communes, vbi quod hic laudat, id est, appellat bonum, alter vituperat vt malum; immò saepissime idem homo diuersis temporibus idem & laudat & culpat. Haec dum faciunt necesse est oriri discordiam & pugnas. Sunt igitur tamdiu in statu belli, quàm bonum & malum prae appetituum praesentium diuersitate, diuersis mensuris metiuntur. Hunc statum facile omnes, dum in eo sunt, agnoscunt esse malum; & per consequens pacem esse bonam. Qui igitur de bono praesenti conuenire non poterant, conueniunt de futuro; quod quidem opus rationis est; nam praesentia sensibus, futura non nisi Ratione percipiuntur. Praecipiente ratione pacem esse bonam, sequitur eâdem ratione, omnia media ad pacem necessaria bona esse, ideoque modestiam, aequitatem, fidem, humanitatem, misericordiam, (quas demonstrauimus ad pacem necessarias) bonos esse mores, siue habitus, hoc est, virtutes. Lex ergo eo ipso quod praecipit media ad pacem, praecipit bonos mores, siue virtutes. Vocatur ergo moralis.275

Die anschließende Passage, in der Hobbes sich wie schon in den Elements kritisch mit der Mesoteslehre des Aristoteles auseinandersetzt, macht noch einmal deutlich, dass Hobbes’ Ausführungen letztlich ein doppeltes Ziel ver_____________ 275 DC: 119f.

318

6. Die natürlichen Gesetze

folgen. Auf der einen Seite will Hobbes seine eigene Lehre von den natürlichen Gesetzen in den Kontext der traditionellen Moralphilosophie und in den Kontext der traditionellen Gleichsetzung von natürlichem Gesetz und moralischem Gesetz stellen. Zu diesem Zweck, und allein zu diesem Zweck, verweist er auf den Tugendbegriff und hebt hervor, dass die von seinen natürlichen Gesetzen geforderten Verhaltensweisen mit den traditionellen Tugenden, so etwa mit den Tugenden der Bescheidenheit und der Billigkeit, übereinstimmen. Auf der anderen Seite geht es ihm darum herauszustellen, dass die Moralphilosophen bisher noch nicht die eigentlich zutreffende Begründung dafür geliefert haben, warum eine bestimmte Eigenschaft als Tugend oder als gute Sitte anzusehen ist und dass er selbst diese noch ausstehende Begründung geliefert hat, indem er nämlich den Beitrag aufgezeigt hat, den die genannten Tugenden bzw. die in den jeweiligen Begriffen eingeschlossenen Verhaltensweisen im Hinblick auf das Ziel des Friedens und das dahinterstehende Ziel der Selbsterhaltung leisten. Gerade indem der Frieden und indirekt die Selbsterhaltung aber einmal mehr als das erscheinen, was die Tugenden erst zu Tugenden macht, wird deutlich, dass dem Tugendbegriff keineswegs der Primat gegenüber dem Handlungsbegriff zukommen kann und dass Hobbes den Begriff der Tugend an dieser Stelle keinesfalls ins Spiel bringt, um nachträglich zu zeigen, warum die von ihm zuvor so eingehend beschriebenen friedensfördernden Handlungen eigentlich als gut anzusehen sind. Die tugendtheoretische Lesart der Hobbes’schen Moralphilosophie kann daher auch mit Blick auf Hobbes’ zweites Werk De Cive, das ja insbesondere von Gert und damit von zumindest einem Vertreter dieser Lesart als dasjenige Werk begriffen wird, das die überzeugendste und stärkste Fassung der Hobbes’schen Moralphilosophie enthält, keine wirkliche Berechtigung beanspruchen. Aufgrund der Überarbeitungen, denen Hobbes diejenige Passage unterzogen hat, in der er in den Elements die gewohnheitsmäßige Befolgung der natürlichen Gesetze als Tugend präsentiert hat, wird dem Tugendbegriff insgesamt eine deutlich geringere Aufmerksamkeit zuteil, und es tritt deutlich hervor, dass Hobbes’ Rückgriff auf den Tugendbegriff keineswegs vom Bestreben gekennzeichnet ist, diesem Begriff den Primat gegenüber dem Handlungsbegriff zuzugestehen. Erwähnenswert ist zudem, dass die letzte Passage des siebzehnten Kapitels der Elements, in der Hobbes die natürlichen Gesetze ein zweites Mal zum Tugendbegriff in Verbindung gesetzt hatte, in De Cive ersatzlos gestrichen ist. Die oben zitierte Passage stellt folglich die einzige Passage dar, in der Hobbes seinen Begriff des natürlichen Gesetzes überhaupt enger mit dem Begriff der Tugend in Verbindung bringt, und es wäre angesichts dieser Tatsache ausgesprochen irreführend, die ‚scientia moralis‘ von De Cive als Wissenschaft der Tugenden und Laster zu interpretieren.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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6.4 Die englische Fassung des Leviathan 6.4.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur Wie in den früheren Kapiteln der vorliegenden Arbeit bereits hinreichend deutlich geworden ist, unterzieht Hobbes die Anordnung der beiden ersten beiden Naturzustandskapitel im englischen Leviathan insofern einer Überarbeitung, als er im ersten Naturzustandskapitel, d.h. im Rahmen der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘, auf die eingehende Erörterung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung verzichtet und diese Erörterung stattdessen – in einer deutlich gekürzten Fassung – an den Anfang des zweiten Naturzustandskapitels, d.h. an den Anfang des vierzehnten Kapitels, stellt. Dieser strukturellen Überarbeitung kommt zwar, wie oben gezeigt, im Hinblick auf die eigentliche inhaltliche Argumentation keine wesentliche Bedeutung zu. Sie hat aber immerhin gewisse Konsequenzen für die Art und Weise, in der Hobbes im englischen Leviathan seine Lehre von den natürlichen Gesetzen einleitet, welche Lehre ja gleichsam die Antwort auf die Lehre vom natürlichen Recht und die mit diesem Recht verbundenen Probleme darstellt. Hobbes kündigt seine Lehre von den natürlichen Gesetzen am Ende des dreizehnten Kapitels in ähnlicher Weise wie zuvor in den Elements und in De Cive an, indem er nämlich auf die natürlichen Gesetze als diejenigen „Articles of Peace“276 verweist, die die Vernunft dem Menschen zur Überwindung des naturzuständlichen ‚Krieges aller gegen alle‘ an die Hand gebe. Das folgende Kapitel beginnt dann jedoch zunächst mit der Definition des natürlichen Rechts, und das natürliche Gesetz wird von Hobbes erst im Anschluss an die darauf folgende Definition von „Liberty (...) in the proper signification of the word“ ins Spiel gebracht. Der letztlich entscheidende Unterschied gegenüber den entsprechenden Kapiteln der Elements und von De Cive besteht jedoch nicht darin, dass Hobbes seinen Ausführungen zu den natürlichen Gesetzen nun die zuvor unterlassene Definition des natürlichen Rechts voranschickt, sondern darin, dass Hobbes im Zuge dieser neuen Anordnung auf seine ausführliche Kritik der bisherigen Versuche, den Begriff des natürlichen Gesetzes zu definieren und ihn theoretisch zu begründen, vollständig verzichtet. Hobbes nutzt die Einführung des Begriffes ‚law of nature‘ im englischen Leviathan weder zu einer Abgrenzung von denjenigen Autoren, die vor ihm über die Moral geschrieben haben, noch diskutiert er die Geltungsgrundlage des natürlichen Gesetzes oder begründet, warum sich das Naturgesetz nicht auf die Übereinstimmung der Völker oder der gesamten Menschheit zurückführen lässt. Hobbes beginnt seine Ausführungen stattdessen direkt mit der formalen Definition des _____________ 276 EL: 63.

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6. Die natürlichen Gesetze

Begriffes ‚law of nature‘, die in De Cive den Schlusspunkt der einleitenden Ausführungen gebildet hatte, und er präsentiert die Vernunft dabei als Grundlage des natürlichen Gesetzes, ohne dies in irgend einer Weise weiter zu rechtfertigen. A LAW OF NATURE, (Lex Naturalis,) is a Precept, or generall Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same; and to omit, that, by which he thinketh it may be best preserved. For though they that speak of this subject, use to confound Jus, and Lex, Right and Law; yet they ought to be distinguished; because RIGHT, consisteth in liberty to do, or to forbeare; Whereas LAW, determineth, and bindeth to one of them: so that Law, and Right, differ as much, as Obligation, and Liberty; which in one and the same matter are inconsistent.277

Vergleicht man die obige Definition mit dem Text von De Cive, in dem Hobbes den Begriff ‚lex naturalis‘ als „Dictamen rectae rationis circa ea, quae agenda vel omittenda sunt ad membrorumque conseruationem, quantum fieri potest, diuturnam“ definiert hatte, so fällt zunächst auf, dass Hobbes das natürliche Gesetz im englischen Leviathan eindeutiger und nachdrücklicher als Verbot bestimmter Verhaltensweisen charakterisiert. Man könnte diese Tatsache und die Wendung „by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life“ zum Anlass für die Behauptung nehmen, die Erhaltung des eigenen Lebens erscheine im englischen Leviathan deutlich als Ziel, das dem Einzelnen von der Vernunft direkt und im Sinne einer Pflicht vorgeschrieben werde. Gegen eine solche Deutung spricht aber, dass die Vernunft im Rahmen der Hobbes’schen Definition eindeutig als Erkenntnisvermögen in Erscheinung tritt. Die Vernunft erscheint im obigen Zitat wieder nicht als Instanz, die aus sich heraus Gebote oder Verbote aufstellt, sondern als Mittel, mit dessen Hilfe das natürliche Gesetz bzw. die darin zum Ausdruck kommende Handlungsanleitung eingesehen wird („found out by Reason“), und deshalb liefert auch der verstärkte Verbotscharakter des natürlichen Gesetzes keine Grundlage für eine Deutung, die der Vernunft die Formulierung kategorischer Handlungsanleitungen zuzuschreiben versucht. Wenn sich mit dem so deutlich betonten Verbotscharakter des natürlichen Gesetzes eine Verbindlichkeit im strengen Sinne einer moralischen Pflicht verbinden sollte, dann kann diese Verbindlichkeit folglich einmal mehr nur auf eine jenseits der Vernunft liegende Instanz zurückgehen. Der zweite auffällige Unterschied zwischen den Definitionen der beiden Texte besteht darin, dass Hobbes im englischen Leviathan an seine Definition die bereits in Kapitel 5.4 angesprochene prinzipielle Unterscheidung der Begriffe ‚law‘ und ‚right‘ bzw. ‚lex‘ und ‚jus‘ anschließt. Da sich vergleichbare Unterscheidungen bereits im zehnten Kapitel des zweiten Teils der Elements _____________ 277 EL: 64.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

321

sowie im vierzehnten Kapitel von De Cive fanden, ist die eigentliche Neuerung lediglich darin zu sehen, dass Hobbes im englischen Leviathan die ausdrückliche Gegenüberstellung der Begriffe schon an dieser Stelle vornimmt, um sie dann an ihrem vormals angestammten Platz, nämlich im Rahmen seiner eingehenden Diskussion der Gesetze in Kapitel XXVI, noch einmal in ähnlicher Form zu wiederholen.278 Da aber aufgrund der veränderten Anordnung der Hobbes’schen Ausführungen die Definitionen des natürlichen Rechts und des natürlichen Gesetzes im englischen Leviathan nun ohnehin kurz aufeinanderfolgen, erscheint die Vorziehung bzw. Hinzufügung der betreffenden Passage durchaus plausibel. Von Bedeutung ist allerdings, dass infolge dieser Veränderung das natürliche Gesetz an dieser Stelle explizit als Quelle einer Verpflichtung im Sinne des englischen Wortes ‚obligation‘ erscheint. Wie Hobbes im Rahmen seiner Gegenüberstellung hervorhebt, unterscheiden sich Recht und Gesetz wie „Liberty“ und „Obligation“, und da hier nur vom natürlichen, nicht aber vom bürgerlichen Gesetz die Rede ist, muss man folgern, dass das natürliche Gesetz den Einzelnen in dem genannten Sinne verpflichtet und bindet („bindeth“). Erwähnenswert ist zudem, dass dadurch, dass Hobbes das natürliche Recht und das natürliche Gesetz mit Hilfe der Begriffe ‚liberty‘ und ‚obligation‘, d.h. durch einen eher formalen Hinweis auf die unterschiedliche normative Kraft, kontrastiert, die inhaltliche Übereinstimmung zwischen beiden Begriffen indirekt betont wird. Der Unterschied von natürlichem Recht und natürlichem Gesetz besteht nicht etwa in einem anders gearteten Handlungsziel, sondern lediglich darin, dass das natürliche Recht die zur Erhaltung des eigenen Lebens notwendigen Handlungen erlaubt, während das natürliche Gesetz die zur Erhaltung des eigenen Lebens notwendigen Handlungen gebietet bzw. ihre Unterlassung verbietet. Wenn natürliches Recht und natürliches Gesetz also auch im Hinblick auf ihre normative Kraft Gegenbegriffe darstellen mögen, so sind beide Begriffe doch im Hinblick auf die Selbsterhaltung als ihren gemeinsamen Gegenstand untrennbar miteinander verbunden. Im Anschluss an seine allgemeine Definition des Begriffes ‚law of nature‘ widmet Hobbes sich zunächst erneut dem natürlichen Recht. Einerseits folgert er mit Hilfe der oben bereits eingehend erörterten Argumentation, dass das natürliche Recht auf Selbsterhaltung im Naturzustand als einem Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ zwangsläufig zu einem ‚Recht auf alles‘ wird. Andererseits betont er, dass, solange dieses ‚Recht auf alles‘ Geltung besitzt, die Erhaltung des eigenen Lebens nicht sichergestellt werden kann.279 In ähnlicher Weise wie am Ende des vierzehnten Kapitels der Elements und am Ende des ersten Kapitels von De Cive formuliert Hobbes vor diesem Hintergrund _____________ 278 Vgl. EL: 150. 279 Vgl. EL: 64.

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6. Die natürlichen Gesetze

von natürlichem ‚Recht auf alles‘ und allgemeinem Kriegszustand das fundamentale Gebot der Friedenssuche, das er allerdings wie schon in den früheren Werken von Anfang an grundsätzlich auf solche Situationen beschränkt, in denen friedfertiges Verhalten dem Zweck der Selbsterhaltung nicht faktisch entgegengesetzt ist. And consequently it is a precept, or generall rule of Reason, That every man, ought to endeavour Peace, as farre as he has hope of obtaining it; and when he cannot obtain it, that he may seek, and use, all helps, and advantages of Warre. The first branch of which Rule, containeth the first, and Fundamentall Law of Nature; which is, to seek Peace, and follow it. The Second, the summe of the Right of Nature; which is, By all means we can, to defend our selves.280

Der Unterschied zwischen den Ausführungen des englischen Leviathan und denen der früheren Schriften besteht vorrangig darin, dass Hobbes das Gebot, den Frieden zu suchen und sich ansonsten aller Mittel des Krieges zu versichern, nun nicht mehr in seiner Ganzheit als erstes und grundlegendes natürliches Gesetz interpretiert, sondern es in seine beiden Bestandteile aufspaltet und nur die erste Hälfte als erstes natürliches Gesetz, die zweite Hälfte aber als Ausdruck des natürlichen Rechts präsentiert. Durch diese veränderte Sprachregelung erscheinen die Begriffe des natürlichen Rechts und des natürlichen Gesetzes gleichsam als zwei Seiten derselben Medaille und die oben beschriebene inhaltliche Übereinstimmung von natürlichem Recht und natürlichem Gesetz tritt noch etwas deutlicher hervor. Etwas problematisch ist an der Hobbes’schen Darstellung lediglich, dass das Gebot der Friedenssuche streng genommen nicht so direkt aus der zuvor beschriebenen Problematik des ‚Rechts aller auf alles‘ folgt, wie Hobbes dies nahelegt („And consequently...“). Was aus dem ‚Recht auf alles‘ bzw. aus der Tatsache folgt, dass der Einzelne im Zustand, in dem dieses Recht gilt, seine eigene Erhaltung nicht sicherzustellen vermag, ist eigentlich die Notwendigkeit, das ‚Recht auf alles‘ aufzugeben, also das zweite natürliche Gesetz. Das erste natürliche Gesetz ist dagegen streng genommen von der Problematik des ‚Rechts auf alles‘ unabhängig und folgt bereits aus dem natürlichen Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen und der Tatsache, dass diese Selbsterhaltung in einem friedlosen Zustand dauerhaft bedroht ist. Dass Hobbes gezwungen ist, das Gebot, den Frieden suchen und sich gegebenenfalls mit Mitteln für den Krieg zu versehen, an einer etwas unpassenden Stelle einzuschieben und erst danach zum Gebot, das ‚Recht auf alles‘ aufzugeben, fortzuschreiten, liegt daran, dass er das Gebot der Friedenssuche im Rahmen seiner Beschreibung des ‚Krieges aller gegen alle‘ weitgehend ausgespart hat, _____________ 280 EL: 64.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

323

es aber unbedingt vor dem zweiten natürlichen Gesetz formulieren muss, dessen Voraussetzung und Grundlage es bildet. From this Fundamentall Law of Nature, by which men are commanded to endeavour Peace, is derived this second Law; That a man be willing, when others are so too, as farre-forth, as for Peace, and defence of himselfe he shall think it neceßary, to lay down his right to all things; and to be contented with so much liberty against other men, as he would allow other men against himselfe. For as long as every man holdeth this Right, of doing any thing he liketh; so long are all men in the condition of Warre. But if other men will not lay down their Right, as well as he; then there is no Reason for any one, to devest himselfe of his: For that were to expose himselfe to Prey, (which no man is bound to) rather than dispose himselfe to Peace. This is that Law of the Gospell; Whatsoever you require that others should do to you, that do ye to them. And that Law of all men, Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.281

Wenn dem zweiten natürlichen Gesetz von Hobbes auch innerhalb aller drei bisher erörterten Schriften prinzipiell der gleiche Platz zugewiesen und das darin ausgedrückte Gebot inhaltlich weitgehend gleich gefasst wird, so weist doch gerade die Formulierung des englischen Leviathan insgesamt einige deutliche Abweichungen gegenüber den beiden früheren Werken auf. Erstens widmet Hobbes im englischen Leviathan dem Ziel, den Zusammenhang von ‚Recht auf alles‘ und Kriegszustand hervorzuheben, deutlich weniger Interesse als er dies in den Elements und in De Cive getan hat. Wie an früherer Stelle schon eingehend beschrieben, erscheint das ‚Recht auf alles‘ schon im Rahmen der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ aufgrund der weitgehenden Auslagerung der Naturrechtserörterung nicht in der gleichen Deutlichkeit als Ursache oder Bedingung des naturzuständlichen Krieges. Hobbes stellt den betreffenden Zusammenhang aber auch im Rahmen des zweiten Naturzustandskapitels, d.h. insbesondere in der Begründung des zweiten natürlichen Gesetzes, nicht so ausführlich heraus wie in den entsprechenden Kapiteln der beiden früheren Werke. Hobbes verweist zwar, wie bereits gesehen, darauf, dass es, solange das ‚Recht aller auf alles‘ Bestand hat, für niemanden ausreichende Sicherheit geben kann, und er nimmt diesen Gedanken auch in der Begründung des zweiten Naturgesetzes insofern noch einmal auf, als er die Aussage trifft, solange die Menschen an ihrem ‚Recht auf alles‘ festhielten, befänden sie sich in einem Kriegszustand. Hobbes verzichtet aber darauf, diesen Gedanken weiter zu erläutern oder ihn dadurch zu veranschaulichen, dass er wie bisher die Entstehung rechtmäßiger Konflikte beschreibt, also jener Streitigkeiten, bei denen der eine mit Recht angreift und der andere sich mit Recht verteidigt. Da der enge Zusammenhang, den Hobbes in den Elements und in De Cive zwischen dem ‚Recht auf alles‘ und dem Kriegszustand behauptet, nicht ganz unproblematisch war, weil durch ihn mitunter der Ein_____________ 281 EL: 64f.

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6. Die natürlichen Gesetze

druck entstand, die von Hobbes beschriebenen gewaltsamen Konflikte folgten gleichsam wie von selbst aus dem ‚Recht auf alles‘, ist die zurückhaltendere Darstellung des englischen Leviathan aber nicht unbedingt als Verschlechterung zu werten, wenn man auch der Ansicht sein mag, dass der eigentliche Zusammenhang zwischen ‚Recht auf alles‘ und Kriegszustand, der ja ausschließlich in der faktischen Nutzung begründet ist, die die Individuen von ihrem natürlichen Recht machen, auch im englischen Leviathan nicht so klar hervortritt, wie dies eigentlich zu wünschen wäre. Zweitens betont Hobbes im englischen Leviathan noch deutlicher als schon in De Cive die Tatsache, dass das natürliche Recht nicht vollständig aufgegeben werden muss, sondern dass nur auf einen ein Teil der natürlichen Freiheit verzichtet werden muss, und zwar auf denjenigen Teil, den der Handelnde als zur Erlangung des Friedens notwendig erachtet. Der dritte und wichtigste Unterschied schließlich besteht darin, dass Hobbes das Gebot der Rechtsaufgabe schon innerhalb der Formulierung des zweiten natürlichen Gesetzes ausdrücklich an die Bedingung knüpft, dass die jeweils anderen Individuen ebenso verfahren („when others are so too“) und die Rechtsaufgabe daher dem Frieden und der Selbsterhaltung auch faktisch zuträglich ist und den Handelnden nicht zur Beute anderer werden lässt. Dieser dritte Aspekt ist dabei insofern eng mit dem zweiten verknüpft, als der Aspekt der Wechselseitigkeit von Hobbes auch ausdrücklich auf den Umfang der Rechtsaufgabe bzw. auf den Umfang der zurückbehaltenen Freiheit bezogen wird („and be contented with so much liberty against other men, as he would allow other men against himselfe“), was letztlich nichts anderes heißt, als dass er das „Modestia“ überschriebene zehnte Naturgesetz von De Cive („nempe ut quaecumque iura unusquisque sibimetipsi postulat, eadem etiam unicuique concedat caeterorum“), das diesen Platz auch im englischen Leviathan behauptet,282 noch einmal zusätzlich in das zweite natürliche Gesetz integriert. Aus der Tatsache, dass das zweite Naturgesetz auf diese Weise als Ausdruck des Gedankens der Reziprozität und des prinzipiellen Gleichheitsgebotes erscheint, lässt es sich denn auch erklären, dass Hobbes im englischen Leviathan bereits an dieser Stelle explizit auf die Goldene Regel verweist, die von ihm diesmal sowohl in ihrer positiven („Whatsoever you require that others should do to you, that do ye to them.“) als auch in ihrer negativen Formulierung („Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris“) zitiert wird. Wenn Hobbes also die Formulierung und Begründung des zweiten natürlichen Gesetzes einigen wichtigen Überarbeitungen unterzieht, so bleibt doch die Abfolge der darauf folgenden Ausführungen und damit der Aufbau des restlichen Kapitels grundsätzlich unverändert. Wie schon in den Elements und in De Cive widmet sich der gesamte Rest des Kapitels der eingehenderen Be_____________ 282 Vgl. dazu EL: 77; sowie die Ausführungen in Kapitel 6.4.2.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

325

schreibung von ‚contracts‘, ‚covenants‘ und ‚free gifts‘ als denjenigen Mitteln, mit denen die vom zweiten Naturgesetz gebotene Rechtsaufgabe vollzogen wird. In Übereinstimmung mit den früheren Werken mündet die Hobbes’sche Vertragstheorie auch im englischen Leviathan in das dritte natürliche Gesetz, das Hobbes einmal mehr an den Anfang des nun folgenden dritten Naturzustandskapitels stellt. Der Abschnitt, der das dritte natürliche Gesetz umschließt und der ja schon in De Cive von deutlichen Kürzungen gegenüber dem Text der Elements gekennzeichnet war, ist von Hobbes dabei noch einmal stärker auf das absolut Wesentliche zusammengestrichen worden. Hobbes bemüht weder wie in den Elements den Satz „that nature maketh nothing in vain“, noch bezieht er sich in so ausführlicher Weise wie in De Cive auf die bereits zuvor erarbeiteten Positionen. Er begnügt sich stattdessen damit, das dritte Naturgesetz als direkte Folgerung aus dem zweiten zu präsentieren und dies knapp und lakonisch damit zu begründen, dass Verträge, und damit die Aufgabe von Rechten, ohne ein Gebot, diese auch zu erfüllen, nutzlos und nichts als leere Worte seien. Eine nennenswerte Übereinstimmung mit dem Text von De Cive besteht dabei allerdings darin, dass Hobbes auch im englischen Leviathan darauf verzichtet, die Forderung des dritten Naturgesetzes mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ bzw. ‚to oblige‘ zu umschreiben. From that law of Nature, by which we are obliged to transferre to another, such Rights, as being retained, hinder the peace of Mankind, there followeth a Third; which is this, That men performe their Covenants made: without which, Covenants are in vain, and but Empty words; and the Right of all men to all things remaining, wee are still in the condition of Warre.283

An die Formulierung des dritten Naturgesetzes schließt sich wie schon in den beiden früheren Werken eine eingehende Erörterung der Begriffe ‚Gerechtigkeit‘ und ’Ungerechtigkeit‘ an. Die entsprechenden Ausführungen sind allerdings gegenüber dem bereits etwas umfangreicheren Text von De Cive noch einmal erheblich erweitert worden. Zu diesen Erweiterungen gehört vor allem eine längere Passage, in der Hobbes sich mit dem Einwand auseinandersetzt, der Bruch von Verträgen befördere in vielen Fällen das Eigeninteresse des Handelnden und sei in diesen Fällen folglich als vernünftig anzusehen. Da die betreffende Passage, die in der englischsprachigen Hobbes-Forschung üblicherweise mit dem Titel ‚reply to the Foole‘ bezeichnet wird und bei der es sich zumindest mit Blick auf die jüngere Vergangenheit um eine der am meisten diskutierten Passagen der Hobbes’schen Schriften überhaupt handeln dürfte, eher für die Frage nach der verpflichtenden Kraft von Verträgen von Interesse ist, soll sie, wie auch die weiteren Ausführungen zu Vertragserfül_____________ 283 EL: 71.

326

6. Die natürlichen Gesetze

lung und Gerechtigkeit, erst in Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit analysiert werden. Mit Blick auf die drei grundlegenden Gesetze der Natur lässt sich daher abschließend festhalten, dass Hobbes in der englischen Fassung des Leviathan den ersten Teil seiner Argumentation in Aufbau und Anordnung einer grundsätzlichen Überarbeitung unterzieht, auf einen umfangreichen Teil seiner bisherigen Ausführungen verzichtet und sowohl die Definition des Begriffes ‚law of nature‘ als auch die Formulierungen des ersten und insbesondere des zweiten natürlichen Gesetzes nachdrücklich modifiziert und erweitert. Es lässt sich aber ohne Zweifel behaupten, dass alle diese Veränderungen die Hobbes’sche Lehre von den grundlegenden Gesetzen der Natur in ihrer Substanz unverändert lassen. 6.4.2 Die weiteren Naturgesetze Es ist oben bereits vorweggenommen worden, dass diejenigen Veränderungen, die Hobbes zwischen 1640 und 1668 an seiner Ableitung der weiteren natürlichen Gesetze vornimmt, fast ausschließlich in der Zeit zwischen 1640 und 1642, also zwischen der Veröffentlichung der Elements of Law und der ersten Auflage von De Cive, ins Werk gesetzt werden. Im vorliegenden Kapitel soll in einem ersten Schritt zunächst anhand des Textes des englischen Leviathan die Berechtigung dieser Einschätzung nachgewiesen werden. Daneben soll untersucht werden, inwieweit Hobbes die allgemeineren Ausführungen zu Charakter, Geltung und Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze, die sich in den Elements wie in De Cive an die eigentliche Ableitung der weiteren Naturgesetz anschließen, einer Überarbeitung unterzieht. Hobbes beginnt seine Ableitung der weiteren natürlichen Gesetze im englischen Leviathan wie schon in den früheren Werken in der Folge seiner Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit, wobei allerdings die in De Cive noch zusätzlich eingeschobene Passage, in der Hobbes auf das Sprichwort „volenti non fit iniuria“ verweist, an eine andere Stelle verschoben und zudem leicht verändert wird. Wie oben bereits angedeutet, folgt Hobbes insofern den Pfaden von De Cive, als er die natürlichen Gesetze, anders als noch in den Elements, konsequent nummeriert. Er weicht aber insofern von seinem Vorgehen in De Cive ab, als er nun das grundlegende erste natürliche Gesetz, d.h. das Gebot der Friedenssuche, in seine Nummerierung miteinbezieht. Das erste der weiteren Naturgesetze, bei dem es sich im Leviathan wie in den anderen beiden Schriften um das Verbot der Undankbarkeit (‚ingratitude‘) handelt und das von Hobbes in De Cive noch als drittes Gebot

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

327

des natürlichen Gesetzes („Legis naturalis praeceptum tertium“284) bezeichnet worden war, erscheint daher nun in Übereinstimmung mit der von mir verwendeten Zählung als viertes Naturgesetz. Was die Formulierung und die Begründung des betreffenden Gesetzes angeht, weist der Text des englischen Leviathan jedoch keinerlei substanzielle Veränderungen auf, und das Gleiche gilt für die nun folgenden Naturgesetze 5 bis 19. War die Anordnung der weiteren Naturgesetze in De Cive noch von einer deutlichen Neugestaltung gegenüber den Elements geprägt, so hält Hobbes sich bei seiner Ableitung der weiteren Naturgesetze im englischen Leviathan vollständig an die in De Cive verwendete Reihenfolge, und auch einige der Formulierungen und Begründungen werden von ihm nahezu wortgleich übernommen, so etwa im Falle der Begründungen der Naturgesetze 5, 7 und 9.285 Zu den einzigen nennenswerten Unterschieden gegenüber der Darstellung in De Cive zählt die Tatsache, dass das fünfte natürliche Gesetz („That every man strive to accomodate himselfe to the rest“286), das in den Elements unter dem Titel „charity“ geführt worden war, dessen Begründung in De Cive aber eine inhaltliche Überarbeitung erfahren hatte, nun mit dem Titel „COMPLEASANCE“ einen neuen Namen erhält, der der veränderten Begründung angemessener ist. Zudem erhält das sechste natürliche Gesetz („That upon caution of the Future time, a man ought to pardon the offences past of them that repenting, desire it“287), das in De Cive nicht mit einem Titel versehen worden war, nun wieder den Namen „PARDON“, der ihm bereits in den Elements zugewiesen worden war. Die einzige inhaltliche Neugestaltung betrifft die Formulierung des neunzehnten Gesetzes. Dieses gebietet nun nicht mehr, wie in De Cive, einem Richter, sich dort, wo er zur Entscheidung einer Tatfrage auf Zeugenaussagen angewiesen ist, an diejenigen Zeugen zu halten, die in der betreffenden Sache als unparteiisch gelten können, sondern erteilt ihm nur den allgemeinen Auftrag, diejenige Anzahl von Zeugen zu befragen, die im Hinblick auf das Fällen eines Urteils erforderlich ist. And in a controversie of Fact, the Judge being to give no more credit to one, than to the other, (if there be no other Arguments) must give credit to a third; or to a third and fourth; or more: For else the question is undecided, and left to force, contrary to the Law of Nature.288

Die Begründungen der anderen, bisher noch nicht genannten natürlichen Gesetze gleichen den Ausführungen in De Cive insofern nicht aufs Wort, als sie – wie beispielsweise die Gesetze 6, 8, 11, 15 und 16 – durch mitunter star_____________ 284 285 286 287 288

DC: 111. Vgl. EL: 76f. EL: 76. EL: 76. EL: 78.

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6. Die natürlichen Gesetze

ke Kürzungen geprägt sind,289 durch die die Ableitung der weiteren Naturgesetze im englischen Leviathan insgesamt deutlich gestrafft erscheint und die den Eindruck nahelegen, Hobbes habe der relativ geringen Bedeutung, die der eingehenden Beschreibung und Begründung der weiteren Naturgesetz im Hinblick auf die zentralen Aspekte seiner Argumentation zukommt, im englischen Leviathan auch selbst stärker Tribut gezollt. Den auffallendsten Unterschied zwischen der Ableitung der weiteren Naturgesetze in De Cive und derjenigen im Leviathan stellt die Tatsache dar, dass Hobbes auf zwei der insgesamt 21 Naturgesetze von De Cive, nämlich auf die Gesetze 20 und 21, vollständig verzichtet. Der Grund für den Verzicht auf das zwanzigste natürliche Gesetz, nach dem der Spruch eines Richters frei zu sein hat und der Richter nicht durch etwaige Verträge mit einer der streitenden Parteien verbunden sein darf, mag darin zu sehen sein, dass der entsprechende Sachverhalt in gewissem Sinne bereits durch das achtzehnte Naturgesetz ausgeschlossen ist, nach welchem nur solche Personen als Richter zuzulassen sind, die von keinem der möglichen Urteile einen persönlichen Vorteil zu erhoffen haben. Seinen Beweggrund, das Verbot der Trunkenheit aus der Auflistung der natürlichen Gesetze zu streichen, gibt Hobbes dagegen selbst explizit an, indem er nämlich ausdrücklich nur diejenigen Naturgesetze zum Gegenstand seiner politischen Theorie erklärt, die sich auf die sozialen Beziehungen der Menschen und auf die Erhaltung des Friedens beziehen. These are the Lawes of Nature, dictating Peace, for a means of the conservation of men in multitudes; and which onely concern the doctrine of Civill Society. There be other things tending to the destruction of particular men; as Drunkenness, and all other parts of Intemperance; which may therefore also be reckoned amongst those things which the Law of Nature hath forbidden; but are not necessary to be mentioned, nor are pertinent enough to this place.290

Die in dieser Erläuterung zum Ausdruck kommende Beschränkung des Gegenstandsbereiches wird von Hobbes zwar in De Cive weder eindeutig formuliert noch konsequent umsetzt. Dass ihm die zugrundeliegende Auffassung aber auch zur Zeit von De Cive nicht völlig fremd ist, zeigt sich dort in einer Passage des dritten Kapitels. In der betreffenden Passage beschreibt Hobbes seine Auflistung der natürlichen Gesetze rückblickend mit den Worten, er habe sich lediglich demjenigen Teil der natürlichen Gesetze gewidmet, der sich auf die menschliche Erhaltung beziehe und sich gegen diejenigen Gefahren richte, die aus dem Unfrieden entsprängen, und verweist dabei bereits, wie dann auch in der obigen Passage des englischen Leviathan, ausdrücklich auf das Vergehen der Unmäßigkeit (‚intemperantia‘).291 _____________ 289 Vgl. EL: 76-78. 290 Vgl. EL: 78f. 291 Vgl. DC: 120f.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

329

Die Anordnung der restlichen Ausführungen des fünfzehnten Kapitels des englischen Leviathan stimmt wieder stark mit derjenigen des dritten Kapitels von De Cive überein. Wie oben bereits angedeutet, nimmt Hobbes seine frühe Betonung der bedingten Geltung der natürlichen Gesetze und seinen frühen Hinweis auf die Goldene Regel keineswegs zum Anlass, um dafür auf die etwas ausführlichere Diskussion der betreffenden Aspekte zu verzichten, wie sie sich in De Cive an die Formulierung des letzten natürlichen Gesetzes angeschlossen hatte. Die entsprechenden Ausführungen folgen vielmehr im englischen Leviathan direkt auf die oben zitierte Passage und sind auch von keinen wesentlichen inhaltlichen Unterschieden gegenüber den früheren Aussagen gekennzeichnet, wenn Hobbes die Leichtigkeit, mit der die natürlichen Gesetze seines Erachtens grundsätzlich eingesehen werden können, auch noch ein wenig stärker betonen mag als in De Cive. And though this may seem too subtile a deduction of the Lawes of Nature, to be taken notice of by all men; whereof the most part are too busie in getting food, and the rest too negligent to understand; yet to leave all men unexcusable, they have been contracted into one easie sum, intelligible, even to the meanest capacity; and that is, Do not that to another, which thou wouldest not have done to thy selfe; which sheweth him, that he has no more to do in learning the Lawes of Nature, but, when weighing the actions of other men with his own, they seem too heavy, to put them into the other part of the ballance, and his own into their place, that his own passions, and selfe-love, may adde nothing to the weight; and then there is none of these Lawes of Nature that will not appear unto him very reasonable.292

Die deutliche Hervorhebung der vermeintlichen Leichtigkeit, die natürlichen Gesetze zu erkennen, ist allerdings insofern von Bedeutung, als sie den Grund dafür geliefert haben dürfte, die nun folgende Passage, in der Hobbes wie zuvor die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze beschreibt, neu zu gestalten. The Lawes of Nature oblige in foro interno; that is to say, they bind to a desire they should take place: but in foro externo; that is, to the putting them in act, not alwayes. For he that should be modest, and tractable, and performe all he promises, in such time, and place, where no man els should do so, should but make himselfe a prey to others, and procure his own certain ruine, contrary to the ground of all Lawes of Nature, which tend to Natures preservation. And again, he that having sufficient Security, that others shall observe the same Lawes towards him, observes them not himselfe, seeketh not Peace, but War; & consequently the destruction of his Nature by Violence.293

Anders als in De Cive beginnt Hobbes im englischen Leviathan nicht damit, zunächst noch einmal die Unwahrscheinlichkeit einer allgemeinen Befolgung _____________ 292 EL: 79. 293 EL: 79.

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6. Die natürlichen Gesetze

der natürlichen Gesetze nachhaltig zu bekräftigen – was ja auch in einer gewissen Spannung zu seiner direkt zuvor getroffenen Aussage gestanden hätte –, um danach und vor diesem Hintergrund auf die eingeschränkte Geltung der natürlichen Gesetze zu verweisen. Hobbes stellt die Beschreibung der eingeschränkten Geltung der Naturgesetze stattdessen an den Anfang und begründet diese dann anschließend durch einen deutlich allgemeiner gehaltenen und dadurch zurückhaltender wirkenden Hinweis auf solche Zeiten, in denen die natürlichen Gesetze nicht von allen Individuen befolgt werden könnten und in denen deshalb derjenige, der sie konsequent beachte, zur Beute der anderen werden müsse. Der Sache nach erfährt die Hobbes’sche Position durch diese leichte Akzentverschiebung aber keinerlei Veränderung. Die eingeschränkte Geltung der natürlichen Gesetze liegt nach wie vor in der fehlenden Sicherheit begründet, dass die Gesetze von allen Menschen befolgt werden werden, und sie ist nach wie vor von dieser abhängig. Ein ungleich wichtigerer Unterschied zum Text von De Cive besteht darin, dass die Beschreibung der in foro interno-Geltung der Naturgesetze selbst an einigen Stellen verändert ist. Der ersten Abweichung kommt dabei allerdings keine besondere Bedeutung zu. So verweist Hobbes zwar nicht eigens auf die Tatsache, dass die natürlichen Gesetze immer und überall in der von ihm beschriebenen Weise in foro interno gelten. Der allgemeine Charakter seiner Aussage („The Lawes of Nature oblige in foro interno“) legt dies aber durchaus nahe, und dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass Hobbes seine Verneinung einer in foro externo-Geltung der natürlichen Gesetze wie in De Cive ihrerseits durch die Aussage einschränkt, die natürlichen Gesetze gälten nicht immer („not alwayes“) in foro externo. Auch die Tatsache, dass Hobbes die Verpflichtung in foro externo diesmal explizit als Verpflichtung beschreibt, die natürlichen Gesetze in Handlungen umzusetzen, stellt zwar eine Abweichung gegenüber dem Text von De Cive dar, kaum aber eine, die in irgendeiner Weise als wesentlich gelten könnte. Der wichtigere Unterschied zu den Ausführungen von De Cive besteht darin, dass Hobbes die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze an dieser Stelle nicht ausdrücklich als Gewissenspflicht bezeichnet, eine Tatsache, die erst dadurch ihr eigentliches Gewicht erhält, dass Hobbes die betreffende Kennzeichnung anders als in den Elements auch in keiner der folgenden Passagen des Kapitels nachholt. Die in foro interno-Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetz erscheint zwar in ähnlicher Weise wie in beiden früheren Werken als Verpflichtung zu dem Wunsch („desire“), die natürlichen Gesetz möchten befolgt werden, und sie wird von Hobbes auch wie in De Cive mehrfach mit Hilfe des Verbs ‚to oblige‘ bzw. ‚obligare‘ beschrieben. An keiner Stelle des fünfzehnten Kapitels macht Hobbes sich aber dadurch den Hintergrund des von ihm verwendeten Begriffes zu eigen, dass er den natürlichen Gesetzen eine Verbindlichkeit vor dem Gewissen zugestünde und die Ver-

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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pflichtung gegenüber diesen Gesetzen auf diese Weise vordergründig mit einem gewissen moralischen Unterton versähe. In der nun folgenden Passage betont Hobbes zwar einmal mehr, dass die Naturgesetze grundsätzlich auch durch Handlungen verletzt werden können, die faktisch mit ihren Geboten übereinstimmen. Anders als in beiden früheren Schriften verweist Hobbes im Rahmen der Begründung dieser These aber nicht auf das Gewissen (‚conscience‘ bzw. ‚conscientia‘) des Handelnden, sondern in deutlich weniger moralisierender Weise lediglich auf die Absicht bzw. den Zweck („Purpose“294), der der Handlung eigentlich zugrundeliegt. Auch die Passage, in der Hobbes den natürlichen Gesetzen explizit eine zeitlose Geltung zuspricht, enthält keinen Hinweis auf das Gewissen mehr. Die Passage ist gegenüber dem Text von De Cive nachhaltig gekürzt worden, und diese Kürzung betrifft auch denjenigen Satz, in dem Hobbes sich zuvor auf die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze als Geltung „in foro conscientiae“295 bezogen hatte. The Lawes of Nature are Immutable and Eternall; For Injustice, Ingratitude, Arrogance, Pride, Iniquity, Acception of persons, and the rest, can never be made lawfull. For it can never be that Warre shall preserve life, and Peace destroy it.296

In ihrer verkürzten Form ist die Passage vor allem insofern interessant, als der abschließende letzte Satz („For it can never be...“) noch einmal relativ unmissverständlich deutlich macht, dass der Frieden, auf den sich die natürlichen Gesetze beziehen und von dem sie ihre Geltung herleiten, selbst nur einen sekundären Zweck darstellt und dem primären Zweck der Selbsterhaltung logisch nachgeordnet ist. Dass die von Hobbes aufgeführten Verhaltensweisen unterlassen werden müssen, liegt folglich logisch betrachtet zunächst und in erster Linie darin begründet, dass sie der Erhaltung des Lebens entgegengesetzt sind, nicht aber etwa darin, dass der Frieden, dem sie förderlich sind, als Gut an sich zu betrachten wäre. Es muss daher auch mit Blick auf die obige Passage ausgesprochen zweifelhaft erscheinen, ob man den Hobbes’schen Ausführungen zum Selbsterhaltungsstreben gerecht zu werden vermag, wenn man sie wie Taylor und Warrender lediglich als Teil einer weitgehend eigenständigen Motivationstheorie begreift. An den obigen Absatz schließt sich im englischen Leviathan wie in De Cive diejenige Passage an, in der Hobbes noch ein weiteres Mal bekräftigt, wie leicht die natürlichen Gesetze, eben da sie ja zumeist nur in foro interno verpflichteten, für den Einzelnen zu befolgen seien. Hobbes beschreibt die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze dabei in Übereinstimmung mit dem _____________ 294 EL: 79. 295 DC: 119. 296 EL: 79.

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6. Die natürlichen Gesetze

Text von De Cive erneut mit Hilfe des Verbs ‚to oblige‘ und kennzeichnet sie als Verpflichtung zu einem Bemühen oder Bestreben („endeavour“297). Er verweist aber auch an dieser Stelle nicht auf das Gewissen als denjenigen Ort, an dem die innere Gerichtsbarkeit ihren Platz hat. Der vorletzte Absatz des fünfzehnten Kapitels widmet sich der auch in De Cive an dieser Stelle aufgeworfenen Frage, inwiefern es sich bei den natürlichen Gesetzen um moralische Gesetze bzw. bei der Lehre von diesen Gesetzen um eine moralphilosophische Lehre handelt. Die entsprechende Passage, in der Hobbes einmal mehr einen Zusammenhang zwischen den von ihm beschriebenen Naturgesetzen und den Begriffen „Vertues“ and „Vices“298 herstellt, ist allerdings gegenüber den Ausführungen von De Cive ebenfalls deutlich gekürzt worden, und insbesondere der Abgrenzung von der Aristotelischen Mesoteslehre wird von Hobbes weniger Raum zugestanden als zuvor. Da die Passage im Rahmen unserer Erörterung der Frage, ob es sich bei der Morallehre des englischen Leviathan um eine tugendethische Theorie handelt, noch eingehender zu analysieren sein wird, soll auf die diesbezüglichen Abweichungen und Übereinstimmungen zwischen beiden Schriften an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, und gleiches gilt für die Besonderheiten des letzten Abschnitts des Kapitels, in dem Hobbes einmal mehr auf Gott als den Gesetzgeber der natürlichen Gesetze Bezug nimmt und der im Rahmen unserer eingehenderen Untersuchung des verpflichtenden Charakters der natürlichen Gesetze genauer betrachtet werden wird. Auch ohne die abschließende Passage an dieser Stelle in den Blick zu nehmen, lässt sich aber bereits festhalten, dass sich in denjenigen Kapiteln, in denen Hobbes im englischen Leviathan seine Lehre von den natürlichen Gesetzen eigentlich entfaltet und begründet, insgesamt noch etwas weniger Indizien für die Sichtweise finden, es könne sich bei den natürlichen Gesetzen um moralisch verbindliche Gebote der Vernunft oder moralisch verbindliche Befehle Gottes handeln, als schon in den entsprechenden Kapiteln der früheren Werke. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass Hobbes in den betreffenden Kapiteln des englischen Leviathan vollständig darauf verzichtet, die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen als Gewissenspflicht zu kennzeichnen, dass er in seiner Definition des natürlichen Gesetzes auf die Vernunft ausdrücklich als ein Erkenntnisvermögen Bezug nimmt und dass er im Rahmen seiner Betonung des zeitlosen Charakters der natürlichen Gesetze noch einmal deutlich werden lässt, dass es sich beim Frieden gegenüber der Selbsterhaltung um ein sekundäres Gut handelt, wodurch er das natürliche Streben nach Selbsterhaltung zumindest indirekt als Geltungsgrundlage der _____________ 297 EL: 79. 298 EL: 80.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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natürlichen Gesetze in Erscheinung treten lässt. Der säkulare Charakter der Hobbes’schen Ausführungen wird andererseits dadurch betont, dass Hobbes im englischen Leviathan zum ersten Mal davon absieht, die von ihm eingehend beschriebenen Naturgesetze im direkten Kontext dieser Beschreibung aus der Heiligen Schrift zu bestätigen. Zwar muss an dieser Stelle zunächst offen gelassen werden, ob und inwieweit Hobbes in den späteren Kapiteln des englischen Leviathan die Vereinbarung seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen mit dem Text der Offenbarung behaupten wird. Dadurch, dass Hobbes dasjenige Kapitel, das sowohl in den Elements als auch in De Cive eigens diesem Zweck gewidmet war und das sich in beiden Fällen direkt an die Ableitung der natürlichen Gesetze anschloss und die Naturgesetzlehre damit gleichsam abrundete, im englischen Leviathan ersatzlos streicht, wird aber die etwaige Übereinstimmung zwischen natürlichem Gesetz und Heiliger Schrift in jedem Fall deutlicher aus der Sphäre der eigentlichen Naturgesetzlehre verwiesen, als dies angesichts des äußeren Aufbaus der Theorie in den früheren Schriften möglich war. An die Stelle der Bestätigung der natürlichen Gesetze aus der Bibel tritt im englischen Leviathan das Kapitel „Of Persons, Authors, and things Personated“, in dem Hobbes die Begriffe der Person, des Autors und der Repräsentation diskutiert und auf diese Weise die terminologische und theoretische Grundlage für seine spätere Beschreibung der Autorisierung des staatlichen Souveräns und von dessen Rolle als Repräsentant des Willens der Bürger entwickelt. Das Kapitel gehört folglich inhaltlich nicht zur Naturzustandstheorie im engeren Sinne, wenn seine Position auch fälschlich diesen Eindruck erwecken mag, und es wird daher im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch eine deutlich untergeordnete Rolle spielen und lediglich in Kapitel 8 zur Sprache kommen, d.h. im Rahmen der Erörterung des Hobbes’schen Gesellschaftsvertrages und der Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und Repräsentation im Leviathan. Mit Blick auf die Ableitung der Naturgesetze 5 bis 19 lässt sich abschließend festhalten, dass die bereits von Gert geäußerte Behauptung, die Lehre von den weiteren Naturgesetzen werde im englischen Leviathan von Hobbes gegenüber dem Text von De Cive keinen wirklich wesentlichen Überarbeitungen unterzogen, im Rahmen unserer Analyse eine deutliche Bestätigung erfahren hat. Hobbes streicht zwar die bisherigen Naturgesetz 20 und 21. Beiden Gesetzen kommt innerhalb der Lehre von den natürlichen Gesetzen aber ohnehin keine zentrale Rolle zu, und zudem erweisen sich die von Hobbes in den beiden Gesetzen zum Ausdruck gebrachten Gebote nach wie vor als ohne Weiteres mit der Hobbes’schen Position vereinbar. Auch die Überarbeitungen, die Hobbes an den Formulierungen, Bezeichnungen oder Begründungen der bestehenden Naturgesetze vornimmt, ziehen keine veränderte Ausrichtung der jeweiligen Gesetze oder gar der Hobbes’schen Lehre als

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6. Die natürlichen Gesetze

Ganzes nach sich. Die einzige nachhaltige Auswirkung dieser Überarbeitungen, bei denen es sich oftmals um Kürzungen handelt, besteht darin, dass die Lehre von den weiteren natürlichen Gesetzen im englischen Leviathan insgesamt deutlich gestrafft und auf das absolut Wesentliche reduziert erscheint, eine Tendenz, die oben schon mit Blick auf andere Teile der Naturzustandstheorie des englischen Leviathan beschrieben worden ist. 6.4.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze Bezüglich der zentralen Frage, welche Art von Verbindlichkeit Hobbes den natürlichen Gesetzen im englischen Leviathan zugesteht, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Text des englischen Leviathan hinsichtlich einer Reihe fundamentaler Aspekte ebenso deutlich mit dem Text von De Cive übereinstimmt wie dieser seinerseits mit dem Text der Elements. Die grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen dem Leviathan und den früheren Texten bestehen darin, dass Hobbes den natürlichen Gesetzen erstens ohne jeden Zweifel prinzipiell eine normative Kraft beilegt, dass er diese Kraft zweitens mehrfach unter Verwendung des Verbs ‚to oblige‘ als Ursprung einer Verpflichtung auf Seiten der Individuen präsentiert, und dass drittens seine konkreten Ausführungen zum Zusammenhang von Naturgesetz und Vernunft sowie seine grundsätzliche Definition des letzteren Begriffs keinerlei Grundlage liefern, um die natürlichen Gesetze als kategorische Vorschriften einer aus sich selbst heraus gebietenden Vernunft aufzufassen. Der grundsätzlich präskriptive Charakter der natürlichen Gesetze tritt einmal mehr dadurch hervor, dass Hobbes die natürlichen Gesetze als ‚dictates‘ oder ‚precepts‘ bezeichnet, wobei er nun freilich auch häufiger auf den Begriff ‚rule’ zurückgreift;299 dass er den Inhalt der naturgesetzlichen Regeln mit Hilfe der Verben ‚to command‘, ‚to prescribe‘, ‚to require‘ und ‚to forbid‘ umschreibt;300 und dass er die naturgesetzlichen Forderungen durch Rückgriff auf Wendungen wie ‚ought to‘ und ‚must‘ auch unmissverständlich als solche ausweist, denen von Seiten der Individuen nachzukommen ist.301 Wie in beiden früheren Werken wird die Verpflichtung zur Befolgung der Naturgesetze dabei auch mit Hilfe des Verbs ‚to oblige‘ bzw. mit Hilfe der Begriffe ‚obligation‘ und ‚obliging‘ beschrieben. Die erste Passage, in der Hobbes die Verbindlichkeit der Naturgesetze mit den entsprechenden Ausdrücken belegt, findet sich, wie gesehen, gleich zu Beginn des vierzehnten Kapitels mit der definitorischen Gegenüberstellung von Recht und Gesetz bzw. von ‚liberty‘ _____________ 299 Vgl. etwa EL: 64, 77 und 80. 300 Vgl. etwa EL: 64 und 78. 301 Vgl. EL: 76 und 78.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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und ‚obligation‘, die ohne Zweifel Geltung für den direkt zuvor entwickelten Begriff der ‚lex naturalis‘ beansprucht. Während die natürlichen Gesetze an dieser Stelle aber eher indirekt als verpflichtend ausgewiesen werden, finden sich im Verlauf des fünfzehnten Kapitels sowie in einigen Passagen des zweiten Buches mehrere Stellen, an denen Hobbes die natürlichen Gesetze auch direkt und explizit als ‚obliging‘ präsentiert. Um die erste dieser Stellen handelt es sich, wie gesehen, bei der Begründung des dritten Naturgesetzes, in deren Rahmen Hobbes das zweite Naturgesetz als Gesetz beschreibt „by which we are obliged to transferre to another, such Rights, as being retained, hinder the peace of Mankind“302. Weitere Stellen finden sich am Ende des fünfzehnten Kapitels, also dort, wo Hobbes noch einmal eingehend die eingeschränkte Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze diskutiert und die genannten Begriffe gleich dreimal in kurzer Folge auf die Naturgesetze anwendet.303 Innerhalb des zweiten Buches werden die natürlichen Gesetze wie schon in De Cive vor allem dort ausdrücklich als verpflichtend gekennzeichnet, wo Hobbes die Aufgaben und Pflichten des staatlichen Souveräns beschreibt, so etwa im Rahmen der Diskussion der Pflicht des Souveräns, einen Nachfolger zu bestellen, und seiner fundamentalen Pflicht, für die Sicherheit der Untertanen Sorge zu tragen.304 Der Nachweis, dass die Naturgesetzlehre des englischen Leviathan in keiner Weise von einem Verzicht auf die in den früheren Schriften verwendeten Ausdrücke ‚to oblige‘, ‚obligation‘, ‚obligatory‘ oder ‚obliging‘ gekennzeichnet ist, dass Hobbes also im englischen Leviathan grundsätzlich an seiner früheren Terminologie festhält, ist nun deshalb von besonderer Bedeutung, weil er die Behauptung Ludwigs, Hobbes finde im englischen Leviathan auch terminologisch zu einer konsequenten Trennung von Moraltheorie und Verpflichtungstheorie und präsentiere ausschließlich freiwillig geschlossene Verträge, nicht aber die natürlichen Gesetze als verpflichtend, nachhaltig in Frage stellt. Wie oben bereits angedeutet, fußt Ludwigs entwicklungsgeschichtliche Deutung der Hobbes’schen Theorie auf der These, Hobbes habe in seinen früheren Werke noch nicht deutlich genug zwischen der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze und der Verbindlichkeit von Verträgen unterschieden, habe aber im englischen Leviathan seine Naturgesetzlehre insofern einer fundamentalen Überarbeitung unterzogen, als er den Begriff der Verpflichtung dort für die Sphäre der vertraglichen Pflichten reserviere, die natürlichen Gesetze aber überhaupt nicht mehr als verpflichtend begreife, sondern sie nur noch als vorrangig deskriptive Umschreibungen solcher Charaktereigenschaften präsentiere, die dem friedlichen Zusammenleben der Menschen förderlich sei_____________ 302 EL: 71. 303 Vgl. EL: 79. 304 Vgl. EL: 98 und 175. Vgl. daneben auch EL: 140f.

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6. Die natürlichen Gesetze

en.305 Auch wenn die Hobbes’sche Vertragstheorie und Hobbes’ Beschreibung der aus vertraglichen Übereinkünften hervorgehenden Verbindlichkeiten erst noch eingehender zu analysieren sind, muss Ludwigs These, zumindest in ihrer umfassenden Form, bereits an dieser Stelle in Zweifel gezogen werden. Unsere bisherige Analyse der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen hat zweifelsfrei erwiesen, dass Hobbes die natürlichen Gesetze auch im englischen Leviathan mehrfach und keineswegs seltener als zuvor explizit als verpflichtend beschreibt und folglich ein- und denselben Ausdruck zur Beschreibung naturgesetzlicher und vertraglicher Pflichten verwendet. Schon angesichts dieses zunächst bloß terminologischen Sachverhaltes erscheint die Aussage, Hobbes präsentiere die natürlichen Gesetze im englischen Leviathan nicht mehr als verpflichtend oder grenze sie aus seiner ‚theory of obligation‘ aus, als fragwürdig. Angesichts der grundsätzlichen Kontinuität in der sprachlichen Beschreibung der natürlichen Gesetze und ihrer normativen Kraft vermag aus meiner Sicht auch Ludwigs Hinweis, Hobbes unterziehe die Begründung des dritten Naturgesetzes einer weitgreifenden Überarbeitung und lasse in der Formulierung dieses Gesetzes im englischen Leviathan „keinen Stein auf dem anderen“306, nicht zu überzeugen. Es trifft zu, dass Hobbes in den Elements die Erfüllung von Verträgen noch explizit qua natürlichem Gesetz als verpflichtend ausweist („That every man is obliged to stand to, and perform, those covenants which he maketh“307), im englischen Leviathan hingegen auf eine entsprechende Kennzeichnung verzichtet („That men performe their Covenants made“308) und nur das oben zitierte zweite Naturgesetz ausdrücklich als Ursprung einer Verpflichtung anspricht. Es kann aber kein Zweifel bestehen, dass sich die Passagen gegen Ende des fünfzehnten Kapitels, in denen die natürlichen Gesetze allgemein als verpflichtend beschrieben werden, auf alle natürlichen Gesetze gleichermaßen, d.h. auch auf das dritte natürliche Gesetz, beziehen, so dass die Erfüllung geschlossener Verträge im englischen Leviathan wie in den Elements ohne jeden Zweifel Gegenstand einer naturgesetzlichen Verpflichtung bleibt. Gegenüber der Darstellung Ludwigs ist zudem darauf hinzuweisen, dass der Verzicht auf das Verb ‚to oblige‘ bzw. ‚obligare‘ nicht erst die Formulierung des dritten Naturgesetzes im englischen Leviathan prägt, sondern dass Hobbes den Ausdruck bereits in De Cive streicht. Und auch Ludwigs Behauptung, die inhaltliche Begründung des dritten Naturgesetzes ziele im englischen Leviathan grundsätzlich auf andere Aspekte als in den früheren Werken, vermag aus meiner Sicht einer eingehenden Prüfung kaum standzuhalten. Hobbes begründet das dritte natürliche Gesetz in allen _____________ 305 306 307 308

Vgl. etwa Ludwig 1998: 366. Ludwig 1998: 248. E: 82. EL: 71.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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drei Werken damit, dass der Abschluss von Verträgen ohne das Gebot, die geschlossenen Verträge auch zu erfüllen, nutzlos bzw. wirkungslos sei. Er zielt demnach in allen drei Werken, und nicht etwa bloß im englischen Leviathan, auf die empirisch-praktische Frage der faktischen Vertragserfüllung und ihrer Folgen ab, und es ist angesichts dieser Übereinstimmung nicht einzusehen, warum der sprachliche Wechsel von „That every man is obliged to stand to, and perform“ zu „That men performe“ hinreichenden Anlass für die Deutung geben sollte, das dritte Naturgesetz habe im englischen Leviathan, und nur dort, die Aufgabe, auf die Notwendigkeit einer Sicherstellung der faktischen Erfüllung der unabhängig vom dritten Naturgesetz bestehenden Vertragspflichten zu verweisen, während ihm in den früheren Werken die Aufgabe zukomme, die Pflicht als solche zu benennen. Gegen die entwicklungsgeschichtliche These Ludwigs spricht im Übrigen auch die Tatsache, dass Hobbes ausgerechnet in der ersten Fassung seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen, nämlich in den Elements of Law, am wenigsten Wert darauf legt, neben vertraglichen Übereinkünften auch die natürlichen Gesetze als ‚obliging‘ auszuweisen, so dass die Behauptung, Hobbes unterscheide begrifflich zwischen der Kraft der Naturgesetze und der Verbindlichkeit von Verträgen, auf die späteren Werke deutlich weniger zutrifft als auf die erste Formulierung von Hobbes’ politischer Theorie. Wenn sich hinsichtlich der vermeintlichen Trennung von Verpflichtungstheorie und Moraltheorie innerhalb der Hobbes’schen Schriften eine Entwicklung aufzeigen ließe, so schiene diese daher zumindest auf den ersten Blick in der umgekehrten Richtung zu verlaufen. Die Frage, inwiefern die Verbindlichkeit vertraglicher Übereinkünfte von Hobbes theoretisch anders gefasst wird als die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze und ob sich diesbezüglich Abweichungen zwischen den verschiedenen Schriften aufzeigen lassen, kann freilich allein auf der Grundlage der bloßen Terminologie nicht abschließend beantwortet werden und bleibt daher in Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit nach wie vor eingehend zu diskutieren. Der dritte und letzte der oben genannten Aspekte, nämlich die Tatsache, dass die Vernunft im englischen Leviathan ebenso wenig wie in den früheren Werken als kategorisch gebietend auftritt, ist nicht nur im Hinblick auf die Interpretationen Harveys und Gerts von Bedeutung, sondern liefert auch zumindest indirekt ein weiteres Argument gegen die Darstellung Ludwigs. Wie weiter oben ausgeführt, vertritt Ludwig nicht nur die Auffassung, den natürlichen Gesetzen des englischen Leviathan komme keine wirkliche Verbindlichkeit mehr zu, sondern er gesteht auch zu, dass die natürlichen Gesetze und das natürliche Recht in den früheren Werken durch die Rückbindung auf die recta ratio normativ aufgeladen würden. Ludwigs Interpretation ist in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit mit Blick auf die Hobbes’sche Erörterung des natürlichen Rechts bereits widersprochen worden, und die gleichen Zwei-

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6. Die natürlichen Gesetze

fel erscheinen mir mit Blick auf die Lehre von den natürlichen Gesetzen angebracht. Wie im Rahmen unserer bisherigen Untersuchung deutlich geworden ist, verfügt Hobbes nicht nur in allen drei Schriften über einen nahezu identischen Begriff der Vernunft, sondern greift auch im Rahmen der Begründung des natürlichen Gesetzes in allen Fällen auf die Vernunft gleichermaßen im Sinne eines bloßen Erkenntnisvermögens zurück, das die notwendigen Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung bzw. zu dem von diesem Zweck abgeleiteten Ziel des Friedens ermittelt, das aber nicht aus sich selbst heraus bestimmte Zwecke vorschreibt oder bestimmte Handlungsweisen kategorisch gebietet. Ludwig ist zwar zuzustimmen, dass Hobbes im englischen Leviathan die Vernunft im Rahmen seiner Definition des Begriffes ‚law of nature‘ deutlicher als Erkenntnisvermögen anspricht, als er dies in der entsprechenden Passage von De Cive tut. Es finden sich aber auch in De Cive und den Elements genügend Passagen, die Ludwigs Einschätzung, in den früheren Werken trete die recta ratio als Normenquelle in Erscheinung, widerlegen. Die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen stützt sich nicht nur im englischen Leviathan, sondern gleichermaßen in allen drei Werken auf die Vernunft als ein ausschließlich instrumentelles Vermögen, und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Hobbes an einigen Stellen der früheren Werke die natürlichen Gesetze direkt mit der Vernunft gleichsetzen mag. Einerseits finden sich derartige Stellen durchaus auch noch im englischen Leviathan. Andererseits tritt die Vernunft auch schon in den Elements und in De Cive an einigen Stellen deutlich als Erkenntnisvermögen in Erscheinung. Im Übrigen verzichtet Hobbes keineswegs erst im englischen Leviathan darauf, sich auf die Vernunft als ‚recta ratio zu beziehen, sondern bereits in den Elements, was heißt, dass auch kein äußeres terminologisches Kriterium eine Entwicklung wie die von Ludwig behauptete nahelegt. Dass Hobbes aber die instrumentelle Funktion der Vernunft im englischen Leviathan an einer so entscheidenden Stelle wie der Definition des Begriffes ‚law of nature‘ besonders hervorhebt, hat immerhin zur Folge, dass die von Gert und Harvey vertretenen Deutungen mit Blick auf Hobbes’ drittes Werk noch etwas deutlicher einer Grundlage entbehren, als dies bereits zuvor der Fall war. Im Hinblick auf die von Harvey und Lloyd vorgebrachten Interpretationen fällt zwar auf, dass Hobbes den Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und der Goldenen Regel im englischen Leviathan dadurch noch etwas nachdrücklicher betont, dass er ihn an einer weiteren Stelle ins Spiel bringt. Nichts an den betreffenden Ausführungen spricht aber dafür, dass die Goldene Regel für Hobbes nicht nach wie vor im Eigeninteresse des Einzelnen ihre Begründung findet und folglich ihrerseits als Ausdruck einer bloß instrumentellen Vernunft begriffen werden muss. Ganz im Gegenteil findet sich im Rahmen der Begründung des neunten Naturgesetzes, das als direkter Ausdruck des Gleichheitsgebotes die Anerkennung der menschlichen

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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Gleichheit fordert, im englischen Leviathan in ähnlicher Weise wie zuvor in De Cive die Aussage, dass die Menschen einander deshalb als gleich anerkennen sollten, weil nur auf diesem Wege, d.h. nur unter dieser Bedingung, die Überwindung des lebensbedrohenden Kriegszustandes und der Eintritt in einen Zustand des Friedens faktisch möglich sei.309 Daran, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen nur im hypothetischen Sinne um Vernunftgebote handeln kann und ihnen eine strikt moralische Verbindlichkeit höchstens in ihrer Eigenschaft als Befehle Gottes zukommen könnte, vermag also auch die äußerlich verstärkte Einbeziehung der Goldenen Regel im englischen Leviathan nichts zu ändern. Die Beantwortung der Fragen, ob es sich bei den natürlichen Gesetzen für Hobbes um göttliche Befehle handelt, ob diese Eigenschaft den primären Status der Naturgesetze ausmacht und ob ihre göttliche Herkunft den Gesetzen in einem strikt moralischen Sinne Verbindlichkeit zu verleihen vermag, stößt nun im englischen Leviathan zum Teil auf ähnliche Schwierigkeiten wie in De Cive, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass dasjenige Kapitel, welches in De Cive eine eindeutige Beantwortung der obigen Fragen erschwert hatte, nämlich das neu hinzugefügte Kapitel über das natürliche Königreich Gottes, in weitgehend unveränderter Form Eingang in den Text auch des englischen Leviathan gefunden hat. Es muss jedoch nachdrücklich betont werden, dass die Position des englischen Leviathan in einigen zentralen Punkten wesentlich klarer und eindeutiger ist als die von De Cive und dass die schon mit Blick auf De Cive vertretene Bevorzugung der traditionellen Lesart gegenüber den Interpretationen Taylors und Warrenders durch diese Veränderungen entscheidend gestützt wird. Es ist oben bereits darauf hingewiesen worden, dass Hobbes’ Darstellung im englischen Leviathan noch weniger als schon in De Cive von dem Bemühen gekennzeichnet ist, die natürlichen Gesetze von Beginn an in einen religiösen Kontext einzuordnen. Auf der einen Seite verzichtet Hobbes im Rahmen der eigentlichen Entwicklung und Begründung seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen nun vollständig darauf, die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze in Übereinstimmung mit dem religiös-moralischen Hintergrund der Wendung forum internum explizit als Verpflichtung vor dem Gewissen zu kennzeichnen. Auf der anderen Seite wird dasjenige Kapitel, welches die Bestätigung der natürlichen Gesetze aus der Heiligen Schrift zum Gegenstand hatte und in dem sich in De Cive wie in den Elements sowohl explizite Bezugnahmen auf Gott als den Autor der natürlichen Gesetze als auch weitere Verweise auf die Gewissenspflicht des Einzelnen fanden, ersatzlos gestrichen. Es muss zugestanden werden, dass der erste Sachverhalt für sich genommen kaum ein hinreichendes Argument gegen die ‚Taylor-Warrender-These‘ liefert, _____________ 309 Vgl. EL: 77.

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nicht zuletzt, da der Terminus des forum internum natürlich auch ohne eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Ausdruck ‚conscience‘ den Gedanken an das menschliche Gewissen als den Ort, an dem Gott Rechenschaft abzulegen ist, zu evozieren imstande ist. Es verdient aber die Tatsache Erwähnung, dass Hobbes auch in den ersten Kapiteln des zweiten Teils des englischen Leviathan, also in denjenigen Kapiteln, die sich dem Ursprung des Staates, den Rechten des Inhabers der souveränen Gewalt, den verschiedenen Regierungsformen, dem Verhältnis von ‚master‘ und ‚servant‘ sowie dem Recht der Eltern über ihre Kinder widmen, alle diejenigen Stellen streicht, an denen er in den entsprechenden Kapiteln der Elements und von De Cive die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen als Gewissenspflicht und die Verletzung der natürlichen Gesetze als Sünde oder Unrecht gegenüber Gott gekennzeichnet hatte. Die erste Passage des englischen Leviathan, in dem die Übertretung der natürlichen Gesetze als Unrecht gegen Gott gekennzeichnet wird, findet sich erst im einundzwangzigsten Kapitel, in dem Hobbes die Freiheit der Untertanen diskutiert und den staatlichen Souverän als Untertanen Gottes und die Tötung Urias durch David als Unrecht zwar nicht gegen Uria, wohl aber gegen Gott bezeichnet.310 Die ersten Passagen, in denen die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen als Gewissenspflicht erscheint, finden sich gar erst in den Kapiteln XXIX und XXX.311 So wenig aussagekräftig der Verzicht darauf, die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen im Rahmen der eigentlichen Lehre von den natürlichen Gesetzen als Gewissenspflicht oder als Verpflichtung gegenüber Gott auszuweisen, daher auch sein mag: Die Konsequenz, mit der Hobbes diesen Verzicht auch in den anschließenden Kapiteln umsetzt und seine Ausführungen entsprechend überarbeitet, legt in jedem Fall nahe, ihn nicht als bloßen Zufall, sondern als Ausdruck eines bewussten Darstellungsinteresses zu deuten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass Hobbes seine ausdrückliche Definition des Begriffes ‚conscience‘, die ja bereits in den Elements zur Zurückweisung der ‚Taylor-Warrender-These‘ genutzt werden konnte, im englischen Leviathan in gewisser Hinsicht verschärft, indem er den Begriff nämlich nicht nur, in ähnlicher Weise wie schon in den Elements, zum Begriff der Meinung (‚opinion‘) in Beziehung setzt, sondern darüber hinaus auch die übliche moralisierende Verwendung des Begriffes explizit als metaphorisch bezeichnet. When two, or more men, know of one and the same fact, they are said to be CONSCIOUS of it one to another; which is as much as to know it together. And because such are the fittest wittnesses of the facts of one another, or of a third; it was, and ever will be reputed a very Evill act, for any man to speak against his Conscience; or to

_____________ 310 Vgl. EL: 109. 311 Vgl. EL: 168f. und 185f.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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corrupt, or force another to do so: Insomuch that the plea of Conscience, has been always hearkened unto very diligently in all times. Afterwards, men made use of the same word metaphorically, for the knowledge of their own secret facts, and secret thoughts; and therefore it is Rhetorically said, that the Conscience is a thousand witnesses. And last of all, men, vehemently in love with their own new opinions, (though never so absurd,) and obstinately bent to maintain them, gave those their opinions also that reverenced name of Conscience, as if they would have it seem unlawfull, to change or speak against them; and so pretend to know they are true, when they know at most, but that they think so.312

Der Hinweis, die moralisierende Verwendung des Begriffes ‚conscience‘ sei metaphorisch, ist insofern von Bedeutung, als Hobbes im vierten Kapitel des englischen Leviathan die Verwendung von Metaphern ausdrücklich als Missbrauch („abuse“313) der Sprache kritisiert und im anschließenden fünften Kapitel nachdrücklich die Auffassung vertritt, im Rahmen wissenschaftlicher Argumentationen solle konsequent auf metaphorische Ausdrücke verzichtet werden, weil diese die Gefahr absurder Schlussfolgerungen heraufbeschwörten.314 Die obige Passage erlaubt daher einerseits, die Interpretationen Taylors und Warrenders, nach der die in foro interno-Geltung der Hobbes’schen Naturgesetze in eben diesem, von Hobbes als metaphorisch kritisierten moralisierenden Sinne des Wortes ‚Gewissen‘ als Gewissenspflicht zu begreifen ist, noch nachdrücklicher zurückzuweisen, als dies schon mit Blick auf die Elements möglich war. Auf der anderen Seite liefert die Passage einen Hinweis auf die Motive, die Hobbes im englischen Leviathan dazu bewogen haben könnten, relativ konsequent darauf zu verzichten, die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze selbst mit Hilfe des Begriffes ‚conscience‘ zu erläutern. Legt man Hobbes’ programmatische Aussagen zur Verwendung metaphorischer Ausdrücke und Wendungen zugrunde, denen Hobbes selbst allerdings zugegebenermaßen nicht immer und überall treu bleibt, dann lässt sich die Tatsache, dass die Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen von Hobbes an kaum einer Stelle des englischen Leviathan noch ausdrücklich als Gewissenspflicht gekennzeichnet wird, als Folge der Einsicht deuten, dass eine solche Kennzeichnung den eigentlich gemeinten Sachverhalt eher verdüstert als erhellt, eben weil sie jene religiös-moralischen Vorstellungen hervorruft, die angesichts von Hobbes’ expliziter Definition in Kapitel VII in seinem wissenschaftlichen Verständnis der Gewissenspflicht zur Befolgung der Naturgesetze gar nicht mehr enthalten sind. Dass der Begriff des Gewissens für Hobbes selbst lediglich die Meinungen und Urteile des Handelnden bezeichnet, wird von Hobbes in den späteren Passagen des englischen Leviathan in ähnlicher Weise wie in den früheren _____________ 312 EL: 31. 313 EL: 13. 314 Vgl. EL: 20.

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6. Die natürlichen Gesetze

Werken noch einmal ausdrücklich herausgestellt. So trifft Hobbes in eben jener Passage des neunundzwangzigsten Kapitels, in der er den Naturzustandsindividuen überhaupt zum ersten Mal ausdrücklich Gewissenspflichten zuschreibt, nach wie vor die Aussage, das Gewissen eines Menschen und sein Vernunfturteil seien ein- und dieselbe Sache und das Handeln gegen das eigene Gewissen sei im Naturzustand lediglich insofern als Sünde zu begreifen, als es ein Handeln gegen die eigene Vernunft darstelle. Another doctrine repugnant to Civill Society, is, that whatsoever a man does against his Conscience, is Sinne; and it dependeth on the presumption of making himselfe judge of Good and Evill. For a mans Conscience, and his Judgement is the same thing; and as the Judgement, so also the Conscience may be erroneous. Therefore, though he that is subject to no Civill Law, sinneth in all he does against his Conscience, because he has no other rule to follow but his own reason; yet it is not so with him that lives in a Common-wealth; because the Law is the publique Conscience, by which he hath already undertaken to be guided.315

Wie schon die Hobbes’sche Aussage, die Naturzustandsindividuen seien nicht zur Ausübung bestimmter Handlungen, sondern nur zur Formung eines bestimmten Willens verpflichtet, so wirft auch die implizit in der obigen Passage enthaltene Behauptung, die Menschen könnten gegen ihr eigenes Urteil handeln, angesichts der Hobbes’schen Definitionen der Überlegung, der Vernunft und des Willens einige Probleme auf. So erscheint es nicht einsichtig, wie es den Hobbes’schen Individuen, deren Willen und Handlungen sich im Zuge des Überlegungsprozesses ja gleichsam automatisch aus ihren Neigungen und ihren konkreten Vernunfturteilen ergeben, möglich sein soll, Handlungen auszuführen, die nicht mit ihrem Vernunfturteil übereinstimmen bzw. von diesem abgesegnet sind. Es lässt sich jedoch im Sinne unserer Aussagen in Kapitel 6.2.3 die Auffassung vertreten, dass Hobbes unter dem Handeln gegen die Vernunft an dieser Stelle nicht so sehr das Handeln gegen das konkrete Vernunfturteil versteht, zu dem ein Individuum im Zuge des Überlegungsprozesses faktisch gefunden hat, sondern eher das Handeln gegen die objektiv verstandene Vernunft, d.h. als Handeln gegen dasjenige Vernunfturteil, zu dem der Einzelne bei Beachtung aller relevanten Aspekte und bei Durchführung richtiger Schlussfolgerungen gelangt wäre. Das hieße dann letztlich nichts anderes, als dass Hobbes in der obigen Passage das naturzuständliche Handeln gegen das Gewissen in eben jener Weise als Handeln gegen die objektiven Notwendigkeiten der Selbsterhaltung und des Eigeninteresses präsentieren würde, wie dies oben mit Blick auf die Elements von uns vertreten worden ist. Wenn daher der Verzicht auf den Begriff des ‚Gewissens‘ im Kontext der Naturgesetzlehre für sich genommen auch unbedeutend scheinen mag: Es _____________ 315 EL: 168f.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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lässt sich immerhin festhalten, dass es sich ohne Zweifel um eine bewusste Überarbeitung der in den Elements und in De Cive entwickelten Ausführungen handelt, und es lässt sich darüber hinaus festhalten, dass Hobbes im englischen Leviathan eine Erläuterung des Begriffes ‚Gewissen‘ liefert, die einerseits imstande ist, diesem Verzicht eine gewisse theoretische Plausibilität zu verleihen, und die andererseits eine weitere Unterstützung für unsere oben entwickelte säkulare und nicht-moralisierende Deutung der inneren Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen liefert und damit einen zusätzlichen Beitrag zur Zurückweisung der Deutung Taylors und Warrenders leistet. Die vollständige Streichung der eingehenden Bestätigung der Naturgesetze aus der Heiligen Schrift, der – wie schon angedeutet – auch eine Passage zum Opfer fällt, in der Hobbes auf Gott als den Urheber der natürlichen Gesetze Bezug nimmt, hat nicht nur zur Folge, dass die Lehre von den natürlichen Gesetzen rein äußerlich deutlicher von religiösen und theologischen Aspekten unabhängig erscheint. Sie führt auch dazu, dass nun mit dem letzten Absatz des fünfzehnten Kapitels nur eine einzige Passage innerhalb der eigentlichen Entwicklung und Begründung der Lehre von den natürlichen Gesetzen einen deutlichen inhaltlichen Bezug zwischen den Gesetzen der Natur und Gott als dem Schöpfer der Welt herstellt. These dictates of Reason, men use to call by the name of Lawes, but improperly: for they are but Conclusions, or Theoremes concerning what conduceth to the conservation and defence of themselves; whereas Law, properly is the word of him, that by right hath command over others. But yet if we consider the same Theoremes, as delivered in the word of God, that by right commandeth all things; then are they properly called Laws.316

Die obige Passage ähnelt insofern der entsprechenden Passage von De Cive, als Hobbes die Verwendung des Begriffes ‚law of nature‘ zunächst als uneigentlich kennzeichnet, um die Verwendung dann durch den Rückgriff auf den göttlichen Gesetzgeber gleichsam zu rechtfertigen. Die Darstellung unterscheidet sich allerdings insofern von den früheren Aussagen, als der Zusammenhang der „Conclusions“ bzw. „Theoremes“ mit dem Zweck der individuellen Selbsterhaltung etwas deutlicher hervortritt und als Hobbes die anschließend zur Rechtfertigung des Begriffes ‚law of nature‘ angeführte Sichtweise streng genommen nur als mögliche Sichtweise präsentiert („But yet if we consider [...], then are they properly called Laws“317), was heißt, dass er sich die in Frage stehende Position damit nicht so eindeutig zu eigen macht wie zuvor („Quatenus tamen eaedem à Deo in scripturis sacris latae sunt [...], legum nomine propriissimè appellantur“318). Da Hobbes aber nicht nur im _____________ 316 EL: 80. 317 Hervorh. v. mir 318 DC: 121.

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6. Die natürlichen Gesetze

Rahmen seiner gesamten Argumentation am Begriff ‚law of nature‘ festhalten wird, sondern in den späteren Kapiteln auch mehrfach in selbstverständlicher Weise auf den hier angedeuteten Zusammenhang zwischen Gott und den natürlichen Gesetzen Bezug nehmen wird, gibt es aus meiner Sicht kein überzeugendes Argument für die Annahme, Hobbes habe inhaltlich etwas gegen die Deutung der natürlichen Gesetze als Gebote Gottes einzuwenden gehabt und sich kritisch von der betreffenden Sichtweise abgrenzen wollen. Ein weiterer und wichtigerer Unterschied zur Darstellung in De Cive besteht darin, dass Hobbes im englischen Leviathan nicht ausdrücklich die Heilige Schrift und die dortige Niederlegung der naturgesetzlichen Gebote als Rechtfertigung des Begriffs ‚law of nature‘ anführt, sondern den ungleich unspezifischeren Ausdruck „word of God“ wählt, der zwar ohne Weiteres als Hinweis auf die Offenbarung gedeutet werden kann, der aber auch ebenso gut als Hinweis auf die natürliche Vernunft interpretiert werden kann, über die Gott laut Hobbes die Gesetze seines natürlichen Königreiches verkündet hat. Dass diese zweite Deutung gerade im Sinne der ‚Taylor-WarrenderThese‘ letztlich die unproblematischere ist, wird deutlich, wenn man die Aussagen betrachtet, mit denen Hobbes im englischen Leviathan die Autorität der Bibel beschreibt. Wie in den Elements, und anders als in den thematisch begrenzteren Ausführungen von De Cive, widmet sich Hobbes in den früheren Kapiteln des englischen Leviathan nicht nur der ausführlichen Erläuterung der Begriffe ‚science‘, ‚knowledge‘, ‚opinion‘, ‚belief‘ und ‚faith‘, sondern nimmt die Unterscheidung von ‚knowledge‘ und ‚belief‘ auch zum Anlass, um die Autorität der Bibel als vermeintliches Wort Gottes ausschließlich auf das Vertrauen zurückzuführen, das die Menschen in die Kirche und ihre Lehre haben. From whence we may inferre, that when wee believe any saying whatsoever it be, to be true, from arguments taken, not from the thing it selfe, or from the principles of naturall Reason, but from the Authority, and good opinion wee have, of him that hath sayd it; then is the speaker, or person we believe in, or trust in, and whose word we take, the object of our Faith; and the Honour done in Believing, is done to him onely. And consequently, when wee Believe that the Scriptures are the word of God, having no immediate revelation from God himselfe, our Beleefe, Faith, and Trust is in the Church; whose word we take, and acquiesce therein.319

Bei denjenigen Einsichten in den göttlichen Willen, die die Menschen auf Grundlage der Bibel gewinnen oder zu gewinnen glauben, handelt es sich folglich nicht um diejenige Form von Wissen, die laut Hobbes’ nachdrücklich bekräftigtem Wissenschaftsbegriff als Grundlage einer ‚science‘ zu fungieren vermag. Konsequenterweise tauchen auf der in Kapitel IX des englischen Leviathan enthaltenen Tafel der Wissenschaften die Begriffe ‚Theologie‘ und _____________ 319 EL: 32.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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‚Religion‘ nicht als Kennzeichnungen eigener wissenschaftlicher Disziplinen auf.320 Deutet man daher die Rolle Gottes als Gesetzgeber der natürlichen Gesetze als eine Rolle, die ausschließlich durch die Heilige Schrift verbürgt ist, so fällt sie ohne jeden Zweifel aus dem Bereich von Hobbes’ wissenschaftlicher Argumentation heraus, was die ‚Taylor-Warrender-These‘ in entscheidender Weise schwächen würde. Entscheidet man sich aus diesem Grund für die zweite der oben genannten Deutungen und liest die Wendung „word of God“ als Hinweis auf die natürliche Vernunft, dann stellt sich einmal mehr die Frage, inwieweit die Existenz und die Eigenschaften Gottes mit Hilfe der natürlichen Vernunft einzusehen und inwieweit die natürlichen Gesetze mit Hilfe dieser Vernunft als Befehle Gottes zu identifizieren sind. Bezüglich der Möglichkeit einer Erkenntnis Gottes und seiner Eigenschaften vertritt Hobbes im englischen Leviathan dieselbe Position, die er in De Cive vertreten hat. Im dritten Kapitel erweckt Hobbes zwar zunächst ein wenig den Eindruck, als sei überhaupt keine Erkenntnis Gottes möglich.321 Die ausführlicheren Erörterungen in den Kapiteln XI, XII und XXXI lassen aber keinen Zweifel daran, dass Hobbes an der in De Cive entwickelten Auffassung festhält, nach der grundsätzlich sowohl die Existenz Gottes als einer ersten Ursache als auch seine Rolle als Vater, König und Herr mit Hilfe der natürlichen Vernunft eingesehen werden können. Hee that will attribute to God, nothing but what is warranted by naturall Reason, must either use such Negative Attributes, as Infinite, Eternall, Incomprehensible; or Superlatives, as Most High, most Great, and the like; or Indefinite, as Good, Just, Holy, Creator; and in such sense, as if he meant not to declare what he is, (for that were to circumscribe him within the limits of our Fancy,) but how much wee admire him, and how ready we would be to obey him; which is a signe of Humility, and of a Will to honour him as much as we can: For there is but one Name to signifie our Conception of his Nature, and that is, I AM: and but one Name of his Relation to us, and that is God; in which is contained Father, King, and Lord.322

Das obige Zitat, bei dem es sich zum Teil um eine wörtliche Wiedergabe der Aussagen von De Cive handelt, zeigt, wie eng Hobbes sich im einunddreißigsten Kapitel des englischen Leviathan, das sich wie das fünfzehnte Kapitel von De Cive dem natürlichen Königreich Gottes widmet, an seine früheren Ausführungen anlehnt. Trotz der zahlreichen Übereinstimmungen ist der Text des englischen Leviathan aber hinsichtlich einiger wichtiger Fragen eindeutiger. Wie oben angemerkt worden ist, lässt die Darstellung von De Cive insgesamt nicht deutlich genug hervortreten, ob die Menschen nach Hobbes’ Auffas_____________ 320 Vgl. EL: 40. 321 Vgl. EL: 11. 322 EL: 191.

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sung mit Gottes Rolle als Vater, König und Herr auch die Drohung der ewigen Verdammnis bzw. allgemein die Existenz jenseitiger Belohnungen und Bestrafungen einzusehen vermögen. Im englischen Leviathan ist Hobbes’ diesbezügliche Position vollkommen eindeutig. Hobbes hebt ausdrücklich hervor, dass die Menschen nicht mit Hilfe der natürlichen Vernunft erkennen können, inwiefern sie nach dem Tode göttliche Sanktionen zu erwarten haben, und die entsprechende Stelle, zu der es keinerlei Pendant im Text von De Cive gibt, gewinnt im Hinblick auf die Erörterung und Bewertung der ‚TaylorWarrender-These‘ dadurch noch an Bedeutung, dass sie sich im fünfzehnten Kapitel und damit im direkten Zusammenhang der Lehre von den natürlichen Gesetzen befindet. There be some that proceed further; and will not have the Law of Nature, to be those Rules which conduce to the preservation of mans life on earth; but to the attaining of an eternall felicity after death; to which they think the breach of Covenant may conduce; and consequently be just and reasonable; (such are they that think it a work of merit to kill, or depose, or rebell against, the Soveraigne Power constituted over them by their own consent.) But because there is no naturall knowledge of mans estate after death; much lesse of the reward that is then to be given to breach of Faith; but onely a beliefe grounded upon other mens saying, that they know it supernaturally, or that they know those, that knew them, that knew others, that knew it supernaturally; Breach of Faith cannot be called a Precept of Reason, or Nature.323

Hobbes’ Zurückweisung der Position, die natürlichen Gesetzen leiteten ihre Geltung und ihren Inhalt aus göttlichen Strafen ab, die der Menschen nach Beendigung ihres irdischen Lebens harrten, und diese Strafen trügen dem Einzelnen unter Umständen den Bruch bestimmter Verträge auf, zeigt deutlich – und nicht zuletzt durch ihren geradezu sarkastischen Unterton („or that they knew those, that knew them, that knew others, that knew it supernaturally“) –, dass Hobbes seine Lehre von den natürlichen Gesetzen grundsätzlich und ausschließlich als Lehre versteht, die sich auf das irdische Leben der Menschen und auf das Ziel der Selbsterhaltung bezieht. Da Hobbes die Beschränkungen der natürlichen Vernunft als den entscheidenden Grund für diese Zurückweisung anführt, bekräftigt die Passage zudem noch einmal den prinzipiellen rationalen und wissenschaftlichen Anspruch, den Hobbes mit seiner Moralphilosophie verfolgt. Sollte die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze daher in irgendeinem Zusammenhang zu der Erwartung göttlicher Sanktionen stehen, so kann dieser Zusammenhang höchstens darin bestehen, dass die Menschen im Rahmen ihres irdischen Lebens spezifische Belohnungen und Bestrafungen durch Gott erfahren können oder dass sich zumindest die empirischen Folgen, die aus ihrem Verhalten erwachsen, in gewissem Sinne als göttliche Sank_____________ 323 EL: 73f.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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tionen interpretieren lassen. Dass Hobbes mit Blick auf die Existenz göttlicher Strafen eindeutig die zweite der hier angedeuteten Positionen vertritt, dass er also von keinem direkten Eingreifen Gottes in das Leben der Menschen ausgeht, welches allein mit Hilfe der natürlichen Vernunft als solches zu erkennen wäre, zeigt sich in zwei Passagen aus dem achtundzwanzigsten und dem einunddreißigsten Kapitel des englischen Leviathan. Die erste Passage folgt auf die Hobbes’sche Definition des Begriffes ‚punishment‘, nach der es sich bei einer Strafe um ein von einer öffentlichen Autorität zugefügtes Übel handelt, das seinen Grund in der Übertretung eines Gesetzes hat.324 Die Passage enthält den ausdrücklichen Hinweis, dass die negativen Konsequenzen der menschlichen Handlungen nur insofern mit einer gewissen Berechtigung als Strafen bezeichnet werden können, als sie in letzter Konsequenz auf Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten zurückgehen, die Gott in seiner Eigenschaft als Urheber der Natur geschaffen hat. [...] whereas to certain actions, there be annexed by Nature, divers hurtfull consequences; as when a man is assaulting another, is himselfe slain, or wounded; or when he falleth into sicknesse by the doing of some unlawfull act; such hurt, though in respect of God, who is the author of Nature, it may be said to be inflicted, and therefore a Punishment divine; yet it is not contaned in the name of Punishment in respect of men, because it is not not inflicted by the Authority of man.325

Die zweite Passage beschließt die Ausführungen zum natürlichen Königreich Gottes, und sie ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern von noch größerer Bedeutung, als Hobbes diesmal bei der Aufzählung solcher Handlungsweisen, die negative Konsequenzen für den Handelnden nach sich ziehen können, ausdrücklich auch auf solche Handlungsweisen Bezug nimmt, die durch die natürlichen Gesetze verboten sind. Having thus briefly spoken of the Naturall Kingdome of God, and his Naturall Lawes, I will adde onely to this Chapter a short declaration of his Naturall Punishments. There is no action of man in his life, that is not the beginning of so long a chayn of Consequences, as no humane Providence, is high enough, to give a man prospect to the end. And in this Chayn, there are linked together both pleasing and unpleasing events; in such manner, as he that will do any thing for his pleasure, must engage himselfe to suffer all the pains annexed to it; and these pains, are the Naturall Punishments of those actions, which are the beginning of more Harme than Good. And hereby it comes to passe, that Intemperance, is naturally punished with Diseases; Rashnesse, with Mischances; Injustice, with the Violence of Enemies; Pride, with Ruine; Cowardise, with Oppression; Negligent government of Princes, with Rebellion; and Rebellion, with Slaughter. For seeing Punishments are consequent to the breach

_____________ 324 Vgl. EL: 161. 325 EL: 162.

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6. Die natürlichen Gesetze

of Lawes; Naturall Punishments must be naturally consequent to the breach of the Lawes of Nature; and therfore follow them as their naturall, not arbitrary effects.326

Die Konsequenz, mit der Hobbes im gesamten einunddreißigsten Kapitel auf die natürlichen Gesetzen als Gesetze Gottes Bezug nimmt, und der explizite Zusammenhang, den Hobbes in der obigen Passage zwischen den natürlichen Gesetzen und den als natürliche Bestrafungen gedeuteten negativen Folgen ihrer Missachtung herstellt, liefern ohne jeden Zweifel eine ausreichende Grundlage für die Behauptung, die natürlichen Gesetze würden im englischen Leviathan von Hobbes auch als Befehle Gottes präsentiert und sie würden dabei zudem als solche Befehle präsentiert, deren Nichtbefolgung mit göttlichen Strafen geahndet würde. Wie schon mit Blick auf De Cive bleibt aber auch mit Blick auf den englischen Leviathan die grundsätzliche Frage zu beantworten, ob die betreffende Eigenschaft den primären Status der natürlichen Gesetze ausmacht, eine Frage, die an dieser Stelle allerdings zunächst noch einen Moment lang zurückgestellt werden soll. Selbst wenn man nämlich die Auffassung vertreten sollte, die natürlichen Gesetze stellten im englischen Leviathan primär göttliche Befehle und nur in einem sekundären Sinne Regeln zur Selbsterhaltung dar, so verbleibt doch angesichts der oben zitierten Aussagen eine noch geringere Basis für die Behauptung, die natürlichen Gesetze erhielten durch ihren Charakter als Befehle Gottes auch eine spezifisch moralische Verbindlichkeit, als dies schon in De Cive der Fall war. Da die Bestrafungen, mit denen Gott Hobbes’ Darstellung zufolge die Übertretung der natürlichen Gesetze ahndet, nun eindeutig auf diejenigen negativen Konsequenzen beschränkt sind, die innerhalb des irdischen Lebens ohnehin zwangsläufig auf die in Frage stehenden Handlungen folgen, können die Bestrafungen den natürlichen Gesetzen keine Verbindlichkeit verleihen, die sie nicht bereits in ihrer Eigenschaft als ‚dictates of reason‘ besäßen. Die oben zitierten Ausführungen zum Zusammenhang von Gesetzesübertretung und göttlicher Sanktionierung stellen die ‚TaylorWarrender-These‘ also nicht nur, wie das im Falle jenseitiger Sanktionen der Fall wäre, vor das Problem, dass die aus den göttlichen Strafen ableitbare Verbindlichkeit der Naturgesetze keine strikt moralische Verbindlichkeit ist, sondern eine, wenn auch in gewissem Sinne erweiterte oder besondere, so doch immer noch prudenzielle Verbindlichkeit bleibt. Sie stellt sie vielmehr vor das Problem, dass die durch die göttlichen Bestrafungen generierte prudenzielle Verpflichtung überhaupt keine erweiterte Verpflichtung mehr ist, sondern mit der säkularen Verpflichtungskraft der ‚dictates of reason‘ vollkommen zusammenfällt. Selbst wenn die natürlichen Gesetze daher primär als mit göttlichen Sanktionen versehene Befehle Gottes zu verstehen wären, so würden doch die auf die Missachtung folgenden göttlichen Sanktionen _____________ 326 EL: 193.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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keinerlei spezifische Verbindlichkeit begründen, und erst recht keine, die als Verbindlichkeit im streng moralischen Sinne zu bezeichnen wäre. Soll der Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze oder Befehle Gottes zu sein, überhaupt irgendeine Relevanz für die Frage nach ihrer Verpflichtungskraft zukommen, so kann diese Relevanz folglich allein in der bloßen Tatsache begründet sein, dass sie Befehle Gottes als einer zur Erteilung von Befehlen berechtigten Instanz darstellen. Dass diese von Warrender skizzierte erste Interpretationsvariante mit Blick auf den englischen Leviathan aber ebenfalls auf Schwierigkeiten stößt und stoßen muss, liegt einerseits daran, dass es auch angesichts der Anthropologie und Psychologie des englischen Leviathan nicht einsichtig ist, wie es den Hobbes’schen Individuen überhaupt möglich sein soll, eine Handlung allein deshalb auszuführen, weil sie von Gott geboten und dadurch gegebenenfalls mit moralischer Autorität versehen ist. Die Interpretationsvariante ist andererseits deshalb problematisch, weil Hobbes das Recht Gottes, über die Untertanen seines natürlichen Königreiches zu herrschen und ihnen Befehle zu erteilen, im englischen Leviathan wie schon in De Cive ausdrücklich auf die Allmacht und Überlegenheit Gottes zurückführt. Hobbes verzichtet zwar im englischen Leviathan darauf, die korrespondierende Verpflichtung auf Seiten der Individuen explizit mit ihrer Ohnmacht zu begründen und sie als eine prudenzielle Verpflichtung auszuweisen, die sich allein aus der Furcht vor nachteiligen Folgen herleitet. Der Grund für diese Auslassung dürfte aber ausschließlich darin zu sehen sein, dass die entsprechende Passage von De Cive deutliche Anklänge an die Hobbes’sche Lehre von den ‚impedimenta arbitraria‘ enthielt, die Hobbes, wie gesehen, im englischen Leviathan aus seinen Ausführungen verbannt hat, aus Gründen jedoch, die nichts mit der Lehre von den natürlichen Gesetzen als solcher zu tun haben. Auch für sich genommen reicht Hobbes’ Begründung des Herrschaftsrechts Gottes aber aus, um zu der Folgerung zu gelangen, dass eine jede Verpflichtung der Hobbes’schen Individuen ihrem göttlichen König und Herrscher gegenüber sich allein aus dessen Sanktionen herleiten kann und dass es den Individuen auch allein auf Grundlage dieser Sanktionen, die sich ja der Darstellung des englischen Leviathan zufolge vollständig auf die eher in einem uneigentlichen Sinne als Bestrafungen Gottes anzusehenden negativen irdischen Konsequenzen einer Handlung beschränken, möglich ist, ihren Verpflichtungen faktisch nachzukommen. Es erscheint daher ausgesprochen fraglich, ob die Tatsache, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen des englischen Leviathan auch um Befehle Gottes handelt, irgendetwas zu der Verpflichtungskraft der ‚dictates of reason‘ hinzuzufügen imstande ist. Vielmehr scheint das Fazit unvermeidlich, dass die Autorschaft Gottes den natürlichen Gesetzen zwar äußerlich eine gewisse Würde und den Individuen gegebenenfalls einen anderen emotionalen Bezug zu diesen Gesetzen zu verleihen vermag, dass sie in rationaler Hinsicht jedoch, und das

350

6. Die natürlichen Gesetze

heißt hier, im Hinblick auf ihre Geltung und ihre Verbindlichkeit, im Hinblick auf die Einsicht der Menschen in diese Geltung und Verbindlichkeit und sogar im Hinblick auf die Motivation zu ihrer faktischen Befolgung, vollkommen unerheblich ist. Die Interpretationen Taylors und Warrenders, nach denen den natürlichen Gesetzen in ihrer Eigenschaft als Befehle Gottes zugleich moralische Verbindlichkeit zukommt, sind daher mit Blick auf den englischen Leviathan selbst dann nicht zu retten, wenn man bereit sein sollte, in der genannten, von Hobbes erst so spät ins Spiel gebrachten Eigenschaft den vorrangigen Status der ‚leges naturales‘ zu erblicken. Auch hinsichtlich der damit angesprochenen Frage nach dem primären Status der Naturgesetze weist der englische Leviathan aber einige Überarbeitungen bzw. Ergänzungen auf, die die Bevorzugung der traditionellen Lesart und die Zurückweisung der ‚Taylor-WarrenderThese‘ noch zusätzlich stützen. Diese Überarbeitungen betreffen die universelle Geltung der natürlichen Gesetze, die schon im Rahmen unserer Erörterung von De Cive gegen die Annahme ins Feld geführt wurde, die natürlichen Gesetze seien zuerst und zunächst die Gesetze des natürlichen Königreichs Gottes und erst in einem sekundären Sinne die Folgerungen der Vernunft bezüglich des zur Erhaltung des eigenen Lebens Notwendigen. Während Hobbes in De Cive zwar an keiner Stelle den Eindruck erweckte, die Nichtbeachtung der natürlichen Gesetze könne durch mangelnde Einsicht entschuldigt werden, die entsprechende Sichtweise aber auch an keiner Stelle explizit als falsch zurückwies, tut er im englischen Leviathan eben dies, und zwar gleich an mehreren Stellen. Eine erste diesbezügliche Andeutung findet sich bereits gegen Ende des fünfzehnten Kapitels, wo Hobbes die Goldene Regel als Summe der natürlichen Gesetze präsentiert und die Aussage trifft, angesichts der Leichtigkeit, diese Regel zu verstehen und anzuwenden, sei jeder Verstoß gegen die natürlichen Gesetze als unentschuldbar anzusehen.327 Eine weitere Passage findet sich im sechsundzwanzigsten Kapitel, in dem Hobbes sich mit der Frage beschäftigt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Gesetz als verpflichtend betrachtet werden kann, und in dem er zunächst die Aussage trifft, die natürlichen Gesetze seien qua natürlicher Vernunft in hinreichender Weise verkündigt, um dann auch explizit zu betonen, dass angesichts der allen Menschen prinzipiell offenstehenden rationalen Einsicht in die natürlichen Gesetze ihre Übertretung grundsätzlich unentschuldbar sei. All Laws, written, and unwritten, have need of Interpretation. The unwritten Law of Nature, though it be easy to such, as without partiality, and passion, make use of their naturall reason, and therefore leaves the violaters thereof without excuse [...]328

_____________ 327 Vgl. EL: 79. 328 EL: 143.

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351

Die zweite Passage findet sich im anschließenden siebenundzwanzigsten Kapitel, in dem Hobbes die Begriffe ‚Sünde‘ („Sinne“) und ‚Verbrechen‘ („CRIME“329) einander gegenüberstellt. Die Erörterungen sind denjenigen Ausführungen im vierzehnten Kapitel von De Cive verwandt, die sich dem Begriff des ‚Vergehens’ in seiner weiteren und engeren Bedeutung widmen. Die Hobbes’sche Position hat allerdings insofern eine Überarbeitung erfahren, als Hobbes nun den Begriff ‚Sünde‘, den er explizit als Übersetzung des lateinischen ‚peccatum‘ ausweist, grundsätzlich auf solche Handlungen beschränkt, die als Übertretung eines Gesetzes anzusehen sind. Der entscheidende Unterschied besteht im Hinblick auf den vorliegenden Zusammenhang jedoch darin, dass Hobbes Sünden und Verbrechen anschließend als Folgen mangelnder Einsicht oder fehlerhafter Schlussfolgerungen kennzeichnet und dabei ausdrücklich hervorhebt, dass kein Mensch, der aus mangelnder Einsicht gegen die natürlichen Gesetze verstößt, als schuldlos gelten kann. Ignorance of the Law of Nature Excuseth no man; because every man that hath attained to the use of Reason, is supposed to know, he ought not to do to another, what he whould not have done to himselfe.330 [...] The want of means to know the Law, totally Excuseth: For the Law whereof a man has no means to enforme himself, is not obligatory. But the want of diligence to enquire, shall not be considered as a want of means; Nor shall any man, that pretendeth to reason enough for the Government of his own affairs, be supposed to want means to know the Lawes of Nature; because they are known by the reason he pretends to: only Children, and Madmen are Excused from offences against the Law Naturall.331

Die Tatsache, dass mit Ausnahme von Kindern und Geisteskranken alle Menschen den natürlichen Gesetzen gegenüber verpflichtet sind und bleiben, unabhängig von den faktischen Einsichten, zu denen sie im Laufe ihres Lebens gelangen, stellt nun aber die Sichtweise, bei den natürlichen Gesetzen handle es sich für Hobbes primär um Befehle Gottes bzw. um die Gesetze in Gottes natürlichem Königreich insofern in Frage, als Hobbes im englischen Leviathan vollständig an der schon in De Cive vertretenen Position festhält, dass keineswegs alle Menschen mit Ausnahme von Kindern und Geisteskranken allein qua Vernunftbegabung zu den Untertanen in diesem Königreich zählen, sondern lediglich diejenigen Menschen, die an Gott, an seine Rolle als Vater, König und Herr und an die Existenz göttlicher Sanktionen glauben, allein solche Menschen also, die im Laufe ihres Lebens faktisch bestimmte Einsichten erworben haben. _____________ 329 Beides: EL: 151. 330 EL: 152. 331 EL: 156.

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6. Die natürlichen Gesetze

But to call this Power of God, which extendeth it selfe not onely to Man, but also to Beasts, and Plants, and Bodies inanimate, by the name of Kingdome, is but a metaphoricall use of the word. For he onely is properly said to Raigne, that governs his Subjects, by his Word, and by promise of Rewards to those that obey it, and by threatening them with Punishment that obey it not. Subjects therefore in the Kingdome of God, are not Bodies Inanimate, nor creatures Irrationall; because they understand no Precepts as his: Nor Atheists; nor they that believe not that God has any care of the actions of mankind; because they acknowledge no Word for his, nor have hope of his rewards, or fear of his threatnings. They therefore that believe there is a God that governeth the world, and hath given Praecepts, and propounded Rewards, and Punishments to Mankind, are Gods Subjects; all the rest, are to be understood as Enemies.332

Während Atheisten trotz ihrer prinzipiellen Vernunftbegabung durch ihren Unglauben von der Mitgliedschaft im natürlichen Königreich Gottes ausgeschlossen und den Gesetzen dieses Königreichs folglich nicht unterworfen sind, hebt Hobbes in einer Passage des sechsundzwanzigsten Kapitel noch einmal ausdrücklich hervor, dass der fehlende Glaube an Gott zwar mit der Zurückweisung der göttlichen Gesetze einhergehen mag, dass die natürlichen Gesetze sich aber grundsätzlich nicht in dieser Weise zurückweisen lassen, sondern auch für Atheisten gelten.333 Will man Hobbes’ mehrfacher Bekräftigung, dass fehlende faktische Einsichten und Überzeugungen keinen Menschen von seiner Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen zu entbinden und seine etwaige Missachtung dieser Gesetze zu entschuldigen vermögen, die nötige Gerechtigkeit erweisen, muss man daher folgern, dass die Geltung und die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze für Hobbes von ihrer Eigenschaft als Gesetze bzw. Befehle Gottes prinzipiell unabhängig ist. Die natürlichen Gesetze des englischen Leviathan sind somit, ganz wie das auch vom Aufbau der Hobbes’schen Argumentation und von der Anordnung der letzten Passage des fünfzehnten Kapitels nahegelegt wird, primär bloße „Conclusions“ und „Theoremes“ im Dienste der Selbsterhaltung – und als solche für alle Menschen gültig. Sie sind nur in einem sekundären Sinne Gesetze Gottes, ohne dass diese Tatsache aber in wissenschaftlicher Hinsicht ihrer Bedeutung oder Verbindlichkeit irgend etwas hinzuzufügen vermöchte, nicht zuletzt, da es sich bei den Sanktionen, die sich in ihrer Eigenschaft als Befehle Gottes mit den natürlichen Gesetzen verbinden, um genau und ausschließlich diejenigen negativen Konsequenzen handelt, die sich schon in ihrer primären Eigenschaft als „Conclusions“ zwangsläufig aus einer Missachtung der Naturgesetze ergeben. Es muss allerdings abschließend zugestanden werden, dass Hobbes seine eigentlich eindeutige Position zum Status und zur Verbindlichkeit der natürli_____________ 332 EL: 186f. 333 Vgl. EL: 149.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

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chen Gesetze durch einige seiner Aussagen selbst ein wenig verdüstert. Zu den diesbezüglichen Beispielen zählen erstens einige wenige Passagen, in denen Hobbes in selbstverständlicher Weise auf die Darstellung der Heiligen Schrift zurückgreift, ohne dabei immer explizit auf die lediglich bedingte Autorität der Offenbarung hinzuweisen, und in denen er deshalb den Eindruck erweckt, als könne die Heilige Schrift grundsätzlich als Grundlage seiner wissenschaftlichen Argumentation fungieren. So macht er sich etwa zu Beginn des vierten Kapitels, das sich der menschlichen Sprache widmet, die Darstellung der Bibel zu eigen, nach der Adam von Gott mit der Fähigkeit zu sprechen ausgestattet worden sei,334 und so trifft er im vierzehnten Kapitel im Kontext seiner Erörterung der scholastischen Unterscheidung von meritum ex congruo und meritum ex condigno die Aussage, Gott habe denjenigen Menschen, die seine Gebote befolgten, das Paradies versprochen.335 Dadurch, dass Hobbes aber in der weiter oben zitierten Passage des fünfzehnten Kapitels jegliche rationale Erkenntnis bezüglich eines Lebens nach dem Tode explizit als unmöglich zurückweist, fällt gerade der Hinweis auf die Belohnung der Gottesfürchtigen durch den Eingang ins Paradies ohne jeden Zweifel aus der eigentlichen wissenschaftlichen Argumentation heraus, und das Gleiche lässt sich angesichts Hobbes’ ausdrücklicher und ausführlicher Einschränkung der Autorität der Heiligen Schrift auch von der ersten Passage sowie von allen anderen Verweisen auf den Text der Offenbarung sagen. Zu den Stellen, die Hobbes’ Position zum Status der natürlichen Gesetze nicht eben klarer machen, gehören zweitens auch einige Passagen in den späteren Kapiteln des englischen Leviathan, in denen Hobbes die natürlichen Gesetze mitunter relativ konsequent als Gesetze im eigentlichen Sinne des Wortes behandelt, obwohl er direkt zuvor seine frühere Aussage noch einmal ausdrücklich bekräftigt hat, nach der es sich bei den natürlichen Gesetzen eigentlich nicht um Gesetze handelt. Verwirrend ist dabei vor allem, dass Hobbes die uneigentliche Redeweise von den ‚laws of nature‘ diesmal nicht, wie am Ende des fünfzehnten Kapitels, durch den Hinweis auf Gott rechtfertigt, sondern durch den Hinweis auf die Autorität und die Befehle des staatlichen Herrschers. The Law of Nature, and the Civill Law, contain each other, and are of equall extent. For the Lawes of Nature, which consist in Equity, Justice, Gratitude, and other morall Vertues on these depending, in the condition of meer Nature (as I have said before in the end of the 15th Chapter,) are not properly Lawes, but qualities that dispose men to peace, and to obedience. When a Common-wealth is once settled, then they are actually Lawes, and not before; as being then the commands of the Common-wealth; and therefore also Civill Lawes: For it is the Soveraign Power that obliges men to obey them. For in the differences of private men, to declare, what is Equity, what is Justice,

_____________ 334 Vgl. EL: 12. 335 Vgl. EL: 67f.

354

6. Die natürlichen Gesetze

and what is morall Vertue, and to make them binding, there is need of Ordinances of Soveraign Power, and Punishments to be ordained for such as shall break them; which Ordinances are therefore part of the Civill Law.336

So überraschend diese plötzliche Akzentverschiebung aber auch sein mag und so schwierig es auch fallen mag, sie wirklich plausibel zu machen: Der Umschwung in Hobbes’ Darstellung trägt in jedem Fall nicht dazu bei, die ‚Taylor-Warrender-These‘ gegenüber der traditionellen Deutung der natürlichen Gesetze zu stärken, da er die Bedeutung Gottes für die Geltung der natürlichen Gesetze eher in Frage stellt. Ein Problem für die von uns vertretene Position ergibt sich, wenn überhaupt, daraus, dass Hobbes an dieser Stelle den Eindruck erweckt, als seien die natürlichen Gesetze in ihrer primären Eigenschaft als „qualities that dispose men to peace, and obedience“ nicht verpflichtend. Da es sich bei dem Satz „For it is the Soveraign Power that obliges men to obey them“ aber um eine vereinzelte Aussage handelt, der zahlreiche anders lautende Passagen entgegenstehen – von denen sich einige bereits im direkten Anschluss an die obige Passage finden –,337 bietet die betreffende Aussage keinen hinreichenden Anlass, um unsere oben entwickelte Position wieder in Zweifel zu ziehen. Dass die grundsätzliche Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes von den Befehlen des staatlichen Souveräns unabhängig sein muss, folgt im Übrigen auch aus der Tatsache, dass Hobbes’ Darstellung zufolge die natürlichen Gesetze, um verpflichtend zu sein, einer Veröffentlichung oder Verkündigung durch Wort, Schrift oder andere Handlungen, wie sie mit ihrer Bekräftigung oder Positivierung durch den staatlichen Souverän gegeben wäre, nicht bedürfen.338 Der Beitrag, den der staatliche Souverän zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze leistet, kann demnach eigentlich nur darin bestehen, dass er die Rahmenbedingungen schafft, in denen die natürlichen Gesetze sicher befolgt werden können. Die Darstellung in der oben zitierten Passage dürfte folglich so zu deuten sein, dass die natürlichen Gesetze erst innerhalb des Staates und als Teil der bürgerlichen Gesetze auch in foro externo verpflichten und die Einzelnen wirksam zur Unterlassung bestimmter Handlungen anhalten können, während sie im Naturzustand zwar grundsätzlich verpflichten, aber eben nur in foro interno, und daher nicht wirklich effektiv sein können. Hinzu kommt zudem, dass die Klugheitspflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze durch die drohenden Strafen des staatlichen Souveräns eine wichtige Erweiterung erfährt. Hält man aber in dieser Weise an der Sichtweise fest, dass die natürlichen Gesetze auch schon als ‚dictates of reason‘ und nicht erst als wirkliche Gesetze verpflichten, dann stellen die sich einander zum Teil widersprechenden _____________ 336 EL: 138. 337 Vgl. EL: 140f. 338 Vgl. EL: 140f.

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

355

Aussagen zum Gesetzescharakter der natürlichen Gesetze kein Problem für die hier vertretene Position dar. Es mag sich dann bei den natürlichen Gesetzen um Gesetze handeln oder nicht, und der Gesetzescharakter mag vom staatlichen Souverän oder vom göttlichen Gesetzgeber abhängig sein: In jedem Fall sind die Individuen in einer gewissen Weise zur Befolgung der natürlichen Gesetze verpflichtet, und in keinem Fall kann es sich bei der Verbindlichkeit, die den natürlichen Gesetzen in ihrer Eigenschaft als natürliche Gesetze zukommt, um eine Verbindlichkeit im streng moralischen Sinne handeln. Die einzige Passage, die die hier vertretene Position vor wirkliche Schwierigkeiten stellt, findet sich am Ende des dreißigsten Kapitels, also im unmittelbaren Vorfeld der Ausführungen zum natürlichen Königreich Gottes. Hobbes kommt an dieser Stelle auf das ‚law of nations‘ zu sprechen und flicht in seine Behauptung, die Gebote des Völkerrechts seien mit den natürlichen Gesetze identisch, unter anderem einen Hinweis auf Gott als den ‚König der Könige‘ ein. And the same Law, that dictateth to men that have no Civil Government, what they ought to do, and what to avoyd in regard of one another, dictateth the same to Common-wealths, that is, to the Consciences of Soveraign Princes, and Soveraign Assemblies; there being no Court of Naturall Justice, but in the Conscience onely; where not Man, but God raigneth; whose Lawes, (such of them as oblige all Mankind,) in respect of God, as he is the Author of Nature, are Naturall; and in respect of the same God, as he is King of Kings, are Lawes. But of the Kingdome of God, as King of Kings, and as King also of a peculiar People, I shall speak in the rest of this discourse.339

Das eigentlich Problematische an den obigen Aussagen besteht dabei nicht so sehr darin, dass Hobbes den staatlichen Herrschern ein weiteres Mal eine naturgesetzliche Verpflichtung gegenüber Gott zuspricht oder dass er diese Verpflichtung nun nachdrücklich als Gewissenspflicht kennzeichnet. Die Möglichkeiten zu einer säkularen Deutung der Gewissenspflicht sind oben bereits angedeutet worden, und sowohl der Hinweis auf das Gewissen als auch die Hinweise auf Gott als denjenigen, der mit seinen Gesetzen im „Court of Naturall Justice“ regiert, lassen sich zudem durchaus als Hinweise lesen, die eher der rhetorischen Bekräftigung der wissenschaftlichen Lehre oder der Adressierung bestimmter Lesergruppen dienen, eine Deutung, die sich auch im Hinblick auf die anderen Passagen, in denen Hobbes den staatlichen Souverän als Untertanen Gottes präsentiert, anbietet.340 Für diese Sichtweise spricht nicht zuletzt, dass es in rhetorischer Hinsicht ausgesprochen plausibel erscheinen muss, wenn Hobbes ausgerechnet dort, wo er die Pflichten des souveränen Herrschers und damit die ausgesprochen fragwürdige und _____________ 339 EL: 185f. 340 Vgl. EL: 168f. und 175.

356

6. Die natürlichen Gesetze

problematische Begrenzung der souveränen Gewalt zu thematisieren hat, versuchen sollte, möglichst schwere Geschütze aufzufahren, um etwaigen Einwänden den Wind aus den Segeln zu nehmen, und ebenso plausibel erscheint es, wenn er zu diesem Zweck mehrfach und nachdrücklich auf Gott als den ‚König der Könige‘ und damit auf die einzige Instanz verweisen sollte, vor dem der so mächtig erscheinende staatliche Herrscher überhaupt sinnvollerweise als schwach und durch Strafen bedroht präsentiert werden kann. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass Hobbes die Gesetze Gottes in der obigen Passage als Gesetze kennzeichnet, die die gesamte Menschheit verpflichten („such of them as oblige all Mankind“). Wie oben deutlich geworden ist, legen Hobbes’ sonstige Aussagen eine relativ konsequente und nicht bloß terminologische Unterscheidung der natürlichen Gesetze auf der einen und der Gesetze Gottes bzw. der Gesetze in Gottes natürlichem Königreich auf der anderen Seite nahe. Die von Hobbes’ in den Kapiteln XIV und XV des englischen Leviathan formulierten natürlichen Gesetze stimmen zwar inhaltlich weitgehend mit den Gesetzen im natürlichen Königreich Gottes überein. Sie sind aber deshalb mit diesen nicht einfach identisch, weil die natürlichen Gesetze Hobbes’ Darstellung zufolge eine umfassendere Geltung beanspruchen können, nämlich eine, die sich auch auf Atheisten erstreckt. Die systematische Unterscheidung beider Gesetzesarten scheint zudem auch deshalb geboten, weil die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes insofern inhaltlich umfangreicher sind, als sie auch solche Gebote beinhalten, die sich dem Gottesdienst bzw. der Verehrung Gottes widmen, Gebote also, die Hobbes im Rahmen seiner eigentlichen Lehre von den natürlichen Gesetzen mit keinem Wort erwähnt. In der oben zitierten Passage zeigt Hobbes nun aber wenig Bestreben, die natürlichen Gesetze und die Gesetze im natürlichen Königreich terminologisch und theoretisch auseinanderzuhalten. Dass Hobbes in seiner Darstellung die beiden Beschreibungsebenen gleichsam ineinanderlaufen lässt, könnte nahelegen, dass entgegen unserer obigen Unterscheidung die natürlichen Gesetze und die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes für Hobbes eben doch ein- und dasselbe sind. Wäre dies der Fall, dann würde Hobbes sich jedoch mit der Aussage, die von ihm genannten Gesetze verpflichteten alle Menschen gleichermaßen, zwangsläufig in einen Widerspruch verwickeln. Da die betreffende Aussage im Widerstreit zu derjenigen Position steht, die Hobbes bereits im sechsundzwanzigsten Kapitel eingenommen hat und die er im folgenden einunddreißigsten Kapitel noch einmal bekräftigen wird, führt das Zugeständnis, Hobbes spreche in der oben zitierten Passage gleichermaßen von den natürlichen Gesetzen und den Gesetzen im natürlichen Königreich Gottes, zwangsläufig zum Vorwurf der Inkonsistenz. Interpretiert man die Passage daher in der angedeuteten Weise, dann widerspricht sie nicht nur der

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

357

traditionellen Deutung der natürlichen Gesetze, sondern einer jeden Interpretation, die Hobbes eine in sich konsistente Position zuzuschreiben versucht. Will man Hobbes vom Vorwurf der Inkonsistenz freisprechen und zu diesem Zweck an der theoretischen Unterscheidung von natürlichen Gesetzen und göttlichen Gesetzen festhalten, dann ließe sich aus meiner Sicht am ehesten die Vermutung äußern, Hobbes habe in der obigen Passage bewusst eine eindeutige terminologische Festlegung vermieden, weil ein solches Bekenntnis seine rhetorische Bekräftigung der Pflichten des souveränen staatlichen Herrschers unterhöhlt hätte. Wenn Hobbes sich an dieser Stelle eindeutig auf die natürlichen Gesetze, d.h. auf die ‚dictates of reason‘ bezogen hätte, so hätte seine Betonung der Verpflichtungen des staatlichen Herrschers einiges von ihrer Kraft eingebüßt und mit Blick auf etwaige Einwände gegen die Hobbes’sche Lehre von der souveränen Gewalt nicht die von uns skizzierte und von Hobbes vermutlich beabsichtigte rhetorische Funktion ausüben können. Hätte Hobbes sich aber umgekehrt eindeutig auf die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes berufen, um seinen Ausführungen eben diese rhetorische Kraft zu verleihen, dann hätte er seine Position angesichts seiner sonstigen Aussagen zur Geltung der Gesetze des natürlichen Königreichs Gottes dem Einwand ausgesetzt, die von ihm so stark hervorgehobene Gewissenspflicht des staatlichen Herrschers verlöre im Falle eines atheistischen Herrschers jegliche Geltung und Wirkung. Nur durch die Vermeidung einer eindeutigen Festlegung vermag Hobbes daher vordergründig beide Interessen gleichermaßen zu realisieren, nämlich den staatlichen Souverän mit einer rhetorisch aufgeladenen Verpflichtung gegenüber Gott als dem „King of Kings“ auszustatten und diese Verpflichtung zugleich als eine zu präsentieren, die immer und überall gilt und der jeder nur denkbare staatliche Herrscher zum Wohl seiner Untertanen unterworfen sein wird. Wie immer man sich angesichts der Probleme, die aus der obigen Passage erwachsen, aber auch entscheiden mag: Es muss festgehalten werden, dass diese Probleme keinerlei Relevanz für die Frage nach der Art der Verbindlichkeit besitzen, die den natürlichen Gesetzen im englischen Leviathan zukommt, sondern dass sie allein die Frage betreffen, welche Eigenschaft den primären Status der Hobbes’schen Naturgesetze ausmacht. Wenn die natürlichen Gesetze und die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes in theoretischer Hinsicht als vollkommen identisch anzusehen sein sollten, dann würde das ohne Frage ein wichtiges Indiz dafür liefern, die natürlichen Gesetze primär als Befehle Gottes zu verstehen. Wie oben ausführlich gezeigt worden ist, hat ein entsprechendes Eingeständnis aber keinerlei Folgen für die genauere Bestimmung der Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze, bei der es sich in jedem Fall um eine Klugheitspflicht im Dienste der irdischen Interessen der Menschen handeln würde. Die zentralen Aspekte unserer Position und unserer Zurückweisung der ‚Taylor-Warrender-These‘ bleiben daher letztlich

358

6. Die natürlichen Gesetze

von den Problemen, die sich aus der oben zitierten Passage des dreißigsten Kapitels ergeben, unangetastet. Mit Blick auf die Naturgesetzlehre des englischen Leviathan kann deshalb abschließend folgendes Fazit gezogen werden: Wie schon im Fall von De Cive gibt es auch im Fall des englischen Leviathan gute Gründe, den natürlichen Gesetzen grundsätzlich einen doppelten Status zuzugestehen. Wie vor allem das Kapitel zum natürlichen Königreich Gottes, aber auch einige andere Passagen nahelegen, können die natürlichen Gesetze einerseits als bloße Vernunftregeln, andererseits aber auch als Befehle Gottes verstanden werden, und nur wenig an Hobbes’ Ausführungen spricht dafür, dass er selbst die zweite Sichtweise nicht ebenso aufrichtig vertritt wie die erste. Die Indizien sprechen allerdings noch wesentlich stärker als schon in De Cive dafür, dass Hobbes die primäre Eigenschaft der natürlichen Gesetze darin gesehen hat, bloße Theoreme oder Schlussfolgerungen im Dienste der Selbsterhaltung zu sein, und dass die natürlichen Gesetze auch in dieser Eigenschaft den Mittelpunkt seiner Theorie der Moral bilden. Zudem wird im englischen Leviathan noch deutlicher als in De Cive, dass die natürlichen Gesetze aus ihrer Eigenschaft, Befehle Gottes zu sein, keinerlei umfangreichere Verbindlichkeit beziehen. Hobbes lässt keinen Zweifel daran, dass die göttlichen Strafen, die auf die Missachtung der Befehle Gottes folgen, allein in denjenigen negativen Konsequenzen bestehen, die die natürlichen Gesetze auch in ihrer Eigenschaft als ‚dictates of reason‘ nach sich ziehen, und er legt mit seiner Rückführung des Herrschaftsrechts Gottes auf dessen unüberwindliche Macht nahe, dass der Rolle Gottes als Urheber der natürlichen Gesetze jenseits dieser göttlichen Sanktionen keine Relevanz für die rationale Geltung oder Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze zukommt. Selbst wenn man daher der Ansicht sein sollte, die natürlichen Gesetze des englischen Leviathan seien primär Befehle Gottes, wird man doch letztlich nicht umhin kommen, der ‚Taylor-Warrender-These‘ in ihrer umfassenden Form mit Blick auf diese dritte Formulierung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre ihre Rechtfertigung abzusprechen. 6.4.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre Die noch ausstehende Beantwortung der Frage, inwiefern die Naturgesetzlehre des englischen Leviathan als tugendethische Theorie begriffen werden kann oder begriffen werden muss, erfordert zunächst, den Blick einmal mehr auf alle diejenigen Passagen zu lenken, in denen Hobbes die natürlichen Gesetze zu Fragen des menschlichen Charakters oder der menschlichen Sitten in Beziehung setzt. Insgesamt lässt sich dabei festhalten, dass die diesbezüglichen Verweise im englischen Leviathan gegenüber denjenigen in De Cive und den

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

359

Elements zahlenmäßig relativ deutlich überwiegen. Wenn die betreffenden Passagen aber auch einen gewissen Anlass bieten mögen, um dem Begriff der Tugend im englischen Leviathan eine größere Bedeutung im Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild der Hobbes’schen Moralphilosophie zuzubilligen, so wird die eingehende Betrachtung der Passagen doch zeigen, dass der Tugendbegriff dem Handlungsbegriff logisch nachgeordnet bleibt und es folglich keinen Grund gibt, die Naturgesetzlehre des englischen Leviathan als tugendethische Theorie zu charakterisieren. Dass Hobbes im englischen Leviathan den Begriff der Tugend ein wenig stärker in den Vordergrund rückt als in De Cive und in den Elements, zeigt sich zunächst in derjenigen Passage des fünfzehnten Kapitels, in der Hobbes die Gerechtigkeit von Handlungen und die Gerechtigkeit von Personen einander gegenüberstellt. Während die entsprechenden Passagen der früheren Werke nur allgemeine Hinweise auf die menschlichen Neigungen und Gewohnheiten („habits of mind“341) bzw. auf die menschliche Gesinnung (‚animus‘)342 enthielten, bezeichnet Hobbes die Ungerechtigkeit von Personen im englischen Leviathan nicht nur mit Hilfe des Begriffs „Injustice of manners“343, sondern kennzeichnet diese Ungerechtigkeit der Sitten auch ausdrücklich als „Vice“ sowie umgekehrt die „Justice of Manners“, d.h. die Neigungen und den Habitus des „Just man“, mit dem Begriff „Vertue“344. Wenn Hobbes der „Injustice of Manners“ und damit den moralischen Lastern aber im Folgenden auch noch einige zusätzliche Worte widmen mag, so kommt er doch auch im englischen Leviathan mit seiner Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit schon bald wieder auf die Gerechtigkeit von Handlungen zurück und bringt den Begriff der Tugend erst da wieder ins Spiel, wo er dies auch in den Elements und in De Cive getan hat, nämlich nach Beendigung seiner Ableitung der weiteren Naturgesetze, d.h. am Ende des fünfzehnten Kapitels. Wie oben bereits angedeutet, besteht der inhaltliche Ansatzpunkt für die entsprechenden Ausführungen erneut in der Frage, inwiefern es sich bei den natürlichen Gesetzen um Moralgesetze handelt, eine Frage, die allerdings im englischen Leviathan insofern leicht anders gefasst wird, als Hobbes nun zu zeigen versucht, dass es sich bei der Wissenschaft von diesen natürlichen Gesetzen um die Philosophie der Moral, und zwar um die wahre und einzige Philosophie der Moral, handelt. Ähnlich wie in De Cive beginnt Hobbes’ Argumentation mit einer Erörterung der Begriffe „Good“ und „Evill“, wobei Hobbes diesmal aber gleich zu Beginn mit den Worten „For Morall Philosophy is nothing else but the Science of what is Good, and Evill, in the conversa_____________ 341 342 343 344

E: 83. Vgl. DC: 110. EL: 74. Alles: EL: 104.

360

6. Die natürlichen Gesetze

tion, and Society of man-kind.“345 eine prinzipielle Definition des Begriffs Moralphilosophie liefert, angesichts derer er zur Rechtfertigung seiner Gleichsetzung von Naturgesetzlehre und Moralphilosophie eigentlich nur noch zu zeigen hätte, dass die natürlichen Gesetze bzw. die von ihnen gebotenen Handlungsweisen ein objektives Gut darstellen. Dass Hobbes es aber nicht dabei belässt, sondern die natürlichen Gesetze nicht nur als ein objektives Gut, sondern auch ausdrücklich als Tugenden ausweist, liegt daran, dass er das, was im Umgang der Menschen als objektives Gut zu bezeichnen ist, anschließend mit dem Begriff „Morall Vertue“ kennzeichnet und vor diesem Hintergrund eine zweite, abweichende Definition des Begriffs „Morall philosophy“ entwickelt, nach der es sich bei der Philosophie der Moral um die Wissenschaft der Tugenden und Laster handelt. And therefore so long a man is in the condition of meer Nature, (which is a condition of War,) as private Appetite is the measure of Good, and Evill: And consequently all men agree on this, that Peace is Good, and therefore also the way, or means of Peace, which (as I have shewed before) are Justice, Gratitude, Modesty, Equity, Mercy, & the rest of the Laws of Nature, are good; that is to say, Morall Vertues; and their contrarie Vices, Evill. Now the science of Vertue and Vice, is Morall Philosophie; and therfore the true Doctrine of the Lawes of Nature, is the true Morall Philosophie. But the Writers of Morall Philosophie, though they acknowledge the same Vertues and Vices; Yet not seeing wherein consisted their Goodnesse; nor that they come to be praised, as the meanes of peacable, sociable, and comfortable living; place them in a mediocrity of passions: as if not the Cause, but the Degree of daring, made Fortitude; or not the Cause, but the Quantity of a gift, made Liberality.346

So stark Hobbes aber den Zusammenhang von Naturgesetzen und Tugendbegriff auch hervorheben und so nachhaltig er an dieser Stelle seine eigene Lehre von den natürlichen Gesetzen als Lehre von den „Morall Vertues“ präsentieren mag, so wenig Zweifel lässt er doch auch im englischen Leviathan daran, dass diesen „Morall Vertues“ ein lediglich instrumenteller Wert zukommt. Der Satz „And consequently all men agree on this, that Peace is Good, and therefore also the way, or means of Peace, which (...) are Justice, Gratitude, Modesty, Equity, Mercy, & the rest of the Laws of Nature, are good; that is to say, Morall Vertues...“347 macht unmissverständlich deutlich, dass die von den Naturgesetzen gebotenen Handlungsweisen für Hobbes insofern „Morall Vertues“ darstellen, als sie im Hinblick auf das menschliche Zusammenleben als objektiv gut anzusehen sind, dass es sich aber bei ihnen nur deshalb in diesem Sinne um objektive Güter handelt, als sie Mittel zum Erhalt des Friedens sind, der seinerseits seinen Charakter als Gut aus dem _____________ 345 EL: 79. 346 EL: 80. 347 Hervorh. v. mir

6.4 Die englische Fassung des Leviathan

361

vorausgesetzten Zweck der Selbsterhaltung herleitet. Der Frieden stellt danach lediglich insofern einen wertvollen Zustand darstellt, als er Handlungsund Verhaltensweisen erlaubt bzw. durch solche gekennzeichnet ist, die der Selbsterhaltung förderlich bzw. mit ihr vereinbar sind. Vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Begründung liefert Hobbes’ Behauptung, seine Lehre von den natürlichen Gesetzen sei eine Theorie der Tugenden und Laster, daher keinen hinreichenden Grund, um mit Blick auf diese Lehre dem Tugendbegriff den Primat gegenüber dem Handlungsbegriff zuzusprechen, und zwar um so weniger, als Hobbes in dem obigen Zitat gar nicht explizit deutlich macht, dass er mit dem Begriff der Tugend keine Handlungen oder Handlungsweisen, sondern menschliche Charaktereigenschaften bezeichnen will. Dass man die natürlichen Gesetze allerdings durchaus in diesem Sinne auch als Beschreibung charakterlicher Neigungen und Gewohnheiten verstehen kann und dass Hobbes sie in dieser Weise verstanden sehen will, zeigt sich in der oben bereits erörterten Passage des sechsundzwanzigsten Kapitels, in der Hobbes etwas überraschend auf die natürlichen Gesetze als Eigenschaften Bezug nimmt, die die Menschen zu einem friedvollen Leben geneigt machen („qualities that dispose men to peace, and to obedience“348). Da die natürlichen Gesetze auf diese Weise aber erneut dem Zweck des Friedens und dem dahinterstehenden Zweck der Selbsterhaltung nachgeordnet werden, bleibt der Primat des Handlungsbegriffes, über den allein ja der Wert des Friedens für das Selbsterhaltungsstreben begreiflich gemacht werden kann, unangetastet. In gleicher Weise trifft dies auf eine weitere Passage aus dem sechsundzwanzigsten Kapitel zu, in der Hobbes zwischen natürlichen und positiven Gesetzen unterscheidet und die natürlichen Gesetze als Ausdruck solcher Geistesverfassungen bezeichnet, die dem Frieden förderlich sind. Another Division of Lawes, is into Naturall and Positive. Naturall are those which have been Lawes from all Eternity; and are called not onely Naturall, but also Morall Lawes; consisting in the Morall Vertues, as Justice, Equity, and all habits of the mind that conduce to Peace, and Charity; of which I have already spoken in the fourteenth and fifteenth Chapters.349

Noch deutlicher tritt der instrumentelle Charakter der moralischen Tugenden allerdings in einer dritten Passage des sechsundzwanzigsten Kapitels zutage, in der Hobbes die „Morall Vertues“ ausdrücklich als notwendiges Mittel zur Erlangung und Erhaltung des Friedens und damit als Mittel zur Ermöglichung bestimmter menschlicher Handlungsweisen präsentiert. _____________ 348 EL: 138. 349 EL: 147f.

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6. Die natürlichen Gesetze

That which I have written in this Treatise, concerning the Morall Vertues, and of their necessity, for the procuring, and maintaining peace, though it bee evident Truth, is not therefore presently Law; but because in all Common-wealths in the world, it is part of the Civill Law: For though it be naturally reasonable; yet it is by the Soveraign Power that it is Law [...]350

Da das oben bereits mit Blick auf die Elements beschriebene Problem der eingeschränkten Geltung der natürlichen Gesetze im Naturzustand in gleicher Weise auch im Kontext des englischen Leviathan besteht, die von Hobbes beschriebenen Charaktereigenschaften also nur in bestimmten Situationen überhaupt in der von ihm behaupteten Weise Tugenden darstellen, und zwar in solchen, in denen sie den Einzelnen keiner Gefährdung seiner Sicherheit aussetzen, kann dem Tugendbegriff auch mit Blick auf die dritte Fassung der Hobbes’schen Moralphilosophie unmöglich der Primat gegenüber dem Handlungsbegriff zuerkannt werden. Hobbes legt zwar eindeutig mehr Wert als zuvor darauf, einen Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und dem Begriff der „Morall Vertues“ herzustellen und den Beitrag hervorzuheben, den die mit den natürlichen Gesetzen korrespondierenden charakterlichen Dispositionen im Zustand der allgemeinen Sicherheit zur Aufrechterhaltung des Friedens zu leisten vermögen. Das Ziel der betreffenden Ausführungen besteht aber keineswegs darin, den logischen Primat des Handlungsbegriffes aufzugeben. Hobbes’ Interesse, seine Lehre von den natürlichen Gesetzen als Theorie der Tugenden und Laster zu kennzeichnen, dürfte vielmehr ein weiteres Mal darauf zurückzuführen sein, dass Hobbes seine Naturgesetzlehre als Philosophie der Moral ausweisen und sie in einer Weise in die moralphilosophische Tradition einordnen will, durch die sowohl seine Übereinstimmung mit dieser Tradition als auch seine Abweichung von ihr und damit sein originärer Beitrag zur Geschichte der Moralphilosophie deutlich hervortreten kann. Sich der Hobbes’schen Redeweise aus einer modernen Position heraus anzuschließen und die Lehre von den ‚laws of nature‘ als tugendethische Theorie zu begreifen, erscheint daher auch mit Blick auf den englischen Leviathan weder zwingend noch sonderlich erhellend.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan 6.5.1 Die drei grundlegenden Gesetze der Natur Der Text des lateinischen Leviathan ist im Hinblick auf die Lehre von den natürlichen Gesetzen ein weiteres Mal von lediglich relativ geringen Abweichungen gegenüber der englischen Fassung geprägt. Einige dieser Abwei_____________ 350 EL: 143.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

363

chungen verdienen aber deshalb eine eingehendere Betrachtung, weil sie die oben mit Blick auf den englischen Leviathan beschriebene Entwicklung, die vor allem darin bestand, dass die natürlichen Gesetze im Rahmen ihrer eigentlichen Entwicklung und Beschreibung von Hobbes weniger deutlich zum göttlichen Gesetzgeber in Beziehung gesetzt wurden, in einer entscheidenden Weise weiter fortsetzen. Hobbes’ Beschreibung und Formulierung der grundlegenden natürlichen Gesetze weisen allerdings zunächst keine derartigen Abweichungen auf. Wie schon im englischen Leviathan verweist Hobbes zum Ende des dreizehnten Kapitels darauf, dass die Vernunft den Menschen gewisse Regeln des Friedens nahelege („Pacis autem articulos quosdam suggerit Ratio“), und wie im früheren Text bezeichnet Hobbes diese Regeln dabei als Gesetze der Natur („quae Leges sunt Naturales“351). Die Definition des Begriffes ‚lex naturalis‘ zu Beginn des nun folgenden vierzehnten Kapitels folgt in ähnlich konsequenter Weise dem englischen Text. Die einzige wirkliche Neuerung besteht darin, dass Hobbes die etwas umständliche Formulierung, das Gesetz der Natur verbiete, solche Handlungen zu unterlassen, durch die das eigene Leben erhalten werden könne, streicht und die naturgesetzliche Handlungsanweisung nun ausschließlich und etwas allgemeiner als das Verbot fasst, etwas zu tun, durch das sich der Handelnde selbst Schaden zufügt. Die Vernunft tritt dabei im Hinblick auf die naturgesetzliche Regel aber nach wie vor als Erkenntnisvermögen in Erscheinung („Regula generalis Ratione excogitata“352), und auch die anschließende Gegenüberstellung von Recht und Gesetz bleibt weitgehend unverändert, was heißt, dass die ‚lex naturalis‘ an dieser Stelle nach wie vor als Ursprung einer Verpflichtung („Obligatio“353) erscheint. Die Begründung und die Formulierung des fundamentalen Gebotes der Friedenssuche ist ebenfalls weitgehend mit den entsprechenden Ausführungen des englischen Leviathan identisch, und im Fall des daran anschließenden zweiten natürlichen Gesetzes, das zum Zweck des Friedens die Aufgabe des ‚Rechts auf alles‘ verlangt, besteht die einzige auffällige Neuerung darin, dass Hobbes die eingeschränkte Verbindlichkeit des Gesetzes nun bereits an dieser Stelle mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ beschreibt („Verùm si caeteri Iura sua in omnia deponere recusent, neque ille suum deponere obligatur.“354). Umgekehrt verzichtet Hobbes jedoch in der ersten Passage des fünfzehnten Kapitels, also dort, wo er im englischen Leviathan das zweite Naturgesetz rückblickend mit dem Verb ‚obligare‘ beschrieben hatte, auf eine entsprechende Kennzeichnung und wählt stattdessen das Verb ‚jubere‘. Die anschließende _____________ 351 352 353 354

Beides: LL: 66. LL: 66. LL: 66. LL: 67.

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6. Die natürlichen Gesetze

Formulierung und Begründung des dritten Naturgesetzes sind dabei insofern von gewissem Interesse, als Hobbes seine frühere Begründung des Gesetzes leicht verändert und als er, wie schon in De Cive, eine Gerundivform wählt, um der normativen Kraft des dritten natürlichen Gesetzes Ausdruck zu verleihen. A Lege Naturae, quae impedientia Pacem humanam Iura relinqui jubet, sequitur Lex Naturae tertia, Praestanda esse Pacta. Nam atque [absque] eo Ius in omnia frustra deponitur, manetque omnium contra omnes Bellum.355

Dass Hobbes das dritte Naturgesetz im lateinischen Leviathan mit dem Hinweis begründet, ohne das betreffende Gebot werde das ‚Recht auf alles‘ vergeblich aufgegeben, und nicht, wie im englischen Text, mit dem Hinweis, ohne das betreffende Gebot seien Verträge fruchtlos und nichts als leere Worte, ändert an seiner inhaltlichen Position nichts. Wie in allen früheren Werken zielt Hobbes auch hier grundsätzlich auf den empirischen Nutzen der vertraglichen Rechtsaufgabe, und wie zuvor besteht sein eigentliches Argument in der Aussage, dass der Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ nur dann überwunden werden kann, wenn die vertraglich vereinbarten Handlungen auch faktisch erfolgen, die Aufgabe des ‚Rechts auf alles‘ also ein verändertes Handeln der Menschen nach sich zieht. Dass Hobbes bei der Formulierung des dritten Naturgesetzes auf eine Wendung zurückgreift, die sich in nahezu identischer Form („Pactis standum esse“356) schon in De Cive findet und in der der normative Charakter des dritten Naturgesetzes durchaus deutlich hervortritt, ist aber insofern erwähnenswert, als diese Tatsache die Deutung Ludwigs noch einmal deutlich in Frage stellt, nach der Hobbes das dritte Naturgesetz nach De Cive einer sprachlichen wie inhaltlichen Neugestaltung unterzieht und es nicht mehr so sehr zur Formulierung der eigentlichen Pflicht zur Vertragserfüllung nutzt, sondern eher zur Bekräftigung der Notwendigkeit solcher äußerer Maßnahmen, die die Vertragserfüllung faktisch sicherzustellen vermögen. 6.5.2 Die weiteren Naturgesetze Die Ableitung und Formulierung der Naturgesetze 4 bis 19 ist insgesamt von noch weniger inhaltlich relevanten Überarbeitungen gekennzeichnet als die Erörterung der grundlegenden Gesetze der Natur. Hobbes fügt seinen natürlichen Gesetze keine neuen Gesetze hinzu, und er streicht auch keine der bisherigen Gesetze; er hält wie im englischen Leviathan an seiner konsequen_____________ 355 LL: 72. 356 DC: 108.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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ten Nummerierung fest; und er begründet alle natürlichen Gesetze inhaltlich in eben der Weise, in der er dies auch im Rahmen seiner englischen Ausführungen getan hat. Die Abweichungen bestehen allenfalls darin, dass Hobbes an seinen Begründungen der einzelnen Gesetze einige weitere Kürzungen vornimmt; dass er im Fall der Naturgesetze 4 und 5 wieder darauf verzichtet, die Gebote eigens mit einem Namen zu versehen;357 dass er das neunte Naturgesetz in einer Weise umformuliert, die den handlungsanleitenden Charakter des Gesetzes ein wenig zurücktreten lässt („Lex Naturae nona est Homines omnes inter se Naturâ aequales esse“), was allerdings dadurch ausgeglichen wird, dass Hobbes seine frühere Aussage, die Menschen sollten einander als gleich anerkennen, unmittelbar vor dem eigentlichen Gesetzestext wiederholt („Admittenda ergo est Aequalitas“358); und dass er bei seinem Verweis auf diejenigen natürlichen Gesetze, die sich nicht auf das Zusammenleben der Menschen, sondern einzig und allein auf das Individuum als solches beziehen und deshalb aus dem Gegenstandsbereich seiner Lehre herausfallen, nun nicht das Verbot der Trunkenheit als Beispiel anführt, sondern in etwas allgemeinerer Weise auf alle diejenigen Verhaltensweisen Bezug nimmt, die sich unter den Begriff der Unmäßigkeit subsummieren lassen („ut omne genus Intemperantiae“359). Die restlichen Passagen des fünfzehnten Kapitels, also diejenigen Passagen, die sich in etwas allgemeinerer Form mit der Geltung und der Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze auseinandersetzen, weisen demgegenüber insgesamt die stärkeren bzw. die deutlich wichtigeren Überarbeitungen auf. Die Passage, in der Hobbes die natürlichen Gesetze ein zweites Mal zur Goldenen Regel in Beziehung setzt, ist insofern überarbeitet worden, als Hobbes nun auch hier ausdrücklich beide Versionen der Goldenen Regel zitiert.360 Die anschließenden Aussagen zur Geltung der natürlichen Gesetze sind insofern von einer prinzipiellen terminologischen Kontinuität geprägt, als Hobbes die eingeschränkte Verbindlichkeit der Naturgesetze wie bereits im englischen Leviathan drei Mal mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ beschreibt und die in foro interno-Geltung an keiner Stelle des fünfzehnten Kapitel als Gewissenspflicht kennzeichnet.361 Die erste der drei Passagen, d.h. diejenige Passage, in der Hobbes die Wendung in foro interno zuerst ins Spiel bringt, weicht allerdings in anderer Hinsicht von seinem englischen Pendant ab, insofern nämlich, als Hobbes sich zur Einordnung der Entgegensetzung in foro interno/externo nun die Begriffe des Verbrechens und des Lasters zunutze zu machen versucht. _____________ 357 358 359 360 361

Vgl. LL: 75f. Beides: LL: 77. LL: 78. Vgl. LL: 78. Vgl. LL: 78f.

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6. Die natürlichen Gesetze

Leges Naturales obligant in Foro interno, id est, earum transgressio, non Crimen propriè, sed Vitium dicendum est. Sed in Foro externo non semper obligant. Nam qui illas observaret tunc, quando à caeteris contemnuntur, caeteris praeda esset, contra fundamentum omnium Legum Naturalium, nempe Naturae conservationem. Attamen, quando de earundem observatione à caeteris cautum est, tunc is, qui eas non observat, Bellum, non Pacem quaerit.362

Dass Hobbes die Aussage trifft, eine Verletzung der natürlichen Gesetze sei nicht als Verbrechen anzusehen, wirft angesichts der Definition des Begriffs ‚crime‘, den er im siebenundzwanzigsten Kapitel des englischen Leviathan entwickelt hat und an der er auch im entsprechenden Kapitel des lateinischen Leviathan festhält, keinerlei Problem auf. Da für Hobbes ein Verbrechen nur da vorliegt, wo es eine menschliche Instanz oder Autorität gibt, der gegenüber eine Handlung als ein solches Verbrechen angeklagt werden kann,363 kann es im Naturzustand als einem Zustand, in der jeder sein eigener Richter ist, schon per definitionem keine Verbrechen geben. Etwas überraschender ist es, dass Hobbes seine vorherige Unterscheidung zwischen dem Wunsch bzw. Willen zu einer bestimmten Handlung und der Handlung selbst aufgibt. Dass Hobbes die Verpflichtung in foro interno an dieser Stelle nicht mehr als Verpflichtung zu einem bestimmten Wunsch oder Willen ausweist, mag zwar angesichts der Probleme, eine solche Verpflichtung innerhalb des Hobbes’schen Systems mit Sinn zu erfüllen, als Verbesserung erscheinen. Die folgenden Passagen zeigen aber, dass Hobbes die Verpflichtung in foro interno auch im lateinischen Leviathan in dieser Weise als Verpflichtung zu einem bestimmten Willen versteht.364 Dadurch, dass Hobbes die Verpflichtung in foro interno in der ersten Passage jedoch nicht als solche kennzeichnet, entsteht dort der Eindruck, als stelle im Naturzustand auch ein jeder Verstoß gegen die natürlichen Gesetze qua Handlung ein Vergehen dar („earum transgressio, non Crimen propriè, sed Vitium dicendum est“), obwohl doch aufgrund der von Hobbes noch einmal eigens betonten Gefahren des Naturzustandes gerade dies nicht der Fall ist. Das zweite Problem besteht darin, dass Hobbes den schuldhaften naturzuständlichen Verstoß gegen die natürlichen Gesetze nicht, wie man dies angesichts der Begriffsunterscheidung des siebenundzwanzigsten Kapitels erwarten könnte, als Sünde („Peccatum“365) bezeichnet. Ein möglicher Grund für Hobbes’ Wahl des Begriffes „Vitium“ könnte darin zu sehen sein, dass Hobbes an dieser Stelle ein weiteres Mal den Zusammenhang der natürlichen Gesetze und des Tugendbegriffs herausstellen und die natürlichen Gesetze _____________ 362 363 364 365

LL: 78. Vgl. LL: 137f. Vgl. LL: 78f. LL: 137.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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indirekt als ‚virtutes morales‘ kennzeichnen will. Gegen diese Deutung spräche allerdings, dass Hobbes, wie unten eingehender gezeigt werden wird, im lateinischen Leviathan insgesamt deutlich weniger bemüht scheint, den entsprechenden Sachverhalt hervorzuheben, und eine ganze Reihe derjenigen Stellen fehlen, an denen der Text des englischen Leviathan die natürlichen Gesetze als „Morall Vertues“ auswies. Eine zweite Möglichkeit bestünde darin, dass Hobbes in der obigen Passage den Begriff der Sünde vermeidet, weil dieser Begriff seiner eigenen Definition zufolge die Existenz eines Gesetzes voraussetzt. Die Aussage, die Übertretung der natürlichen Gesetze stelle ein Laster, also weder ein Verbrechen noch eine Sünde, dar, würde danach mit derjenigen Passage des sechsundzwangzigsten Kapitels korrespondieren, in der Hobbes im lateinischen wie im englischen Leviathan nicht nur ausdrücklich hervorhebt, dass die natürlichen Gesetze erst als Gesetze des staatlichen Souveräns zu wirklichen Gesetzen werden, sondern in der er die natürlichen Gesetze mit Blick auf den Naturzustand auch explizit als Eigenschaften („Qualitates“366) bezeichnet, was die Entscheidung, ihre Missachtung, Übertretung oder schlicht ihr Nichtvorhandensein mit dem Begriff des Lasters zu bezeichnen, plausibel machen würde. Problematisch ist an dieser Sichtweise, dass Hobbes die natürlichen Gesetze in den späteren Kapiteln des lateinischen Leviathan zum Teil eben doch wieder so behandeln wird, als könnten sie als wirkliche Gesetze begriffen werden, und auch den Begriff der Sünde auf die Missachtung der natürlichen Gesetze anwenden wird.367 Aus meiner Sicht reicht aber diese Tatsache nicht aus, um die hier entwickelte Deutung der oben zitierten Passage endgültig zurückzuweisen. Der Grund hierfür liegt darin, dass Hobbes die letzte Passage des fünfzehnten Kapitels, also diejenige Passage, in der er im englischen Leviathan auf den göttlichen Gesetzgeber verwiesen und damit die Redeweise von den ‚laws of nature‘ gerechtfertigt hat, in ganz entscheidender Weise überarbeitet, und zwar in einer Weise, die mit der von uns vertretenen Deutung der zuvor zitierten Passage auffallend übereinstimmt. Dictamina haec Rationis nomen quidem obtinuerunt Legum; sed improprie dictarum. Sunt enim de iis rebus quae ad Conservationem hominum conducunt tantùm Theoremata. Lex autem propriè dicta, est Vox Imperantis, vel prolata, vel scripta, ita ut omnes qui obedire tenentur, sciant vocem ejus esse.368

Dadurch, dass Hobbes im lateinischen Leviathan den Hinweis auf den göttlichen Gesetzgeber komplett streicht und keine Rechtfertigung mehr dafür anbietet, die von ihm beschriebenen ‚dictamina rationis‘ als Gesetze zu be_____________ 366 LL: 130. 367 Vgl. etwa LL: 152f. 368 LL: 79.

368

6. Die natürlichen Gesetze

zeichnen, erscheint die Redeweise von den ‚laws of nature‘ oder ‚leges naturales‘ an dieser Stelle nun erstmals konsequent als uneigentliche Redeweise, was Hobbes’ Entscheidung, die Übertretung der natürlichen Gesetze nicht mit dem Begriff der Sünde, sondern mit dem des Lasters zu bezeichnen, in der oben von uns skizzierten Weise Plausibilität verleiht. Noch wichtiger ist aber, dass aufgrund der Streichung des Verweises auf Gott im lateinischen Leviathan keine einzige Stelle mehr im Text verbleibt, die im Rahmen der eigentlichen Lehre von den natürlichen Gesetzen einen Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und Gott herstellen und überhaupt nahelegen würde, dass die natürlichen Gesetze mehr sein könnten als hypothetische Imperative im Dienste der Selbsterhaltung oder dass die mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ beschriebene Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze in irgendeiner Weise von Gott und seinen Strafen abhängig sein könnte. Hatte Hobbes schon im englischen Leviathan durch den Verzicht auf die Bestätigung der natürlichen Gesetze aus dem Text der Heiligen Schrift und indirekt auch durch den konsequenten Verzicht darauf, die Verpflichtung in foro interno als Gewissenspflicht zu kennzeichnen, theologischen und religiösen Aspekten im Rahmen der eigentlichen Entwicklung und Begründung seiner Lehre von den natürlichen Gesetzen eine noch einmal deutlich begrenztere Rolle zugewiesen als schon in den beiden ersten Formulierungen seiner politischen Theorie, so verbannt er nun alle diese Aspekte vollständig aus den betreffenden Kapiteln, indem er nämlich Gott weder als Gesetzgeber der natürlichen Gesetze noch in seiner Eigenschaft als Autor der Natur ins Spiel bringt und indem er selbst diejenige Passage des vierzehnten Kapitels, in der er im englischen Leviathan zwischen den Begriffen meritum ex condigno und meritum ex congruo unterschieden und dabei auf die Verheißung des Paradieses verwiesen hat, um eben diese Ausführungen kürzt.369 Hinzu kommt, dass eine weitere Passage des vierzehnten Kapitels eine ähnliche Überarbeitung erfährt. Es handelt sich dabei um den vorletzten Paragraphen des Kapitels, in dem Hobbes auf die Frage eingeht, ob ein Eid der Verbindlichkeit eines Vertrag etwas hinzuzufügen vermag, ein Abschnitt, auf den im Rahmen unserer Erörterung der Hobbes’schen Vertragslehre noch gesondert einzugehen sein wird. An dieser Stelle muss aber bereits darauf verwiesen werden, dass der Vergleich der beiden Fassungen des Leviathan eine Umarbeitung des Hobbes’schen Argumentes offenbart, die mit den Umarbeitungen der beiden zuvor genannten Passagen auffallend zusammenstimmt. Hobbes hält zwar im lateinischen Leviathan an seiner grundsätzlichen Position fest, nach der die Ablegung eines Eides die Verpflichtung des Handelnden zur Erfüllung seines vertraglichen Versprechens in keiner nennenswerten Weise verstärkt. Hatte Hobbes diese Position im englischen Leviathan aber _____________ 369 Vgl. LL: 69.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

369

noch mit dem Hinweis begründet, ein legitimer und gültiger Vertrag binde auch ohne ausdrücklichen Eid vor Gott („For a Covenant, if lawfull, binds in the sight of God, without the Oath, as much as with it“370), so verzichtet er im lateinischen Text darauf, in direkter Weise auf theologische oder religiöse Aspekte Bezug zu nehmen und führt stattdessen allein das natürliche Gesetz als Autorität an („Pactum enim, si licitum sit, obligat per vim Legis Naturalis sine Iurejurando“371). Der bewusste Verzicht darauf, in den Kapiteln 14 und 15 einen deutlichen Zusammenhang zwischen den natürlichen Gesetzen und Gott herzustellen, prägt demnach den lateinischen Leviathan nicht nur in derselben Weise wie zuvor den englischen Text, sondern er wird von Hobbes sogar noch einmal konsequenter vorangetrieben, und zwar so konsequent, dass theologischen und religiösen Aspekte im Rahmen der eigentlichen Formulierung und Begründung der natürlichen Gesetze jetzt überhaupt keine sichtbare Rolle mehr zugeschrieben werden kann, sieht man einmal von Hobbes’ Bezugnahme auf die Goldene Regel ab, auf die Hobbes aber im lateinischen Leviathan wie schon in allen früheren Werken lediglich als eine Methode verweist, um die eigenen Handlungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Vernunft zu prüfen. Die letzte Überarbeitung des englischen Textes, die Erwähnung verdient, ist die Streichung derjenigen Passage, in der Hobbes den natürlichen Gesetzen im englischen Leviathan explizit eine zeitlose Geltung attestiert hatte. Während der vorhergehende Hinweis, dass die natürlichen Gesetze auch durch eine Handlung verletzt werden können, die faktisch mit den Forderungen dieser Gesetze übereinstimmt, ebenso im Text verbleibt wie der anschließende Hinweis auf die Leichtigkeit der Befolgung der natürlichen Gesetze und die daran anschließende Beschreibung der Lehre von den natürlichen Gesetzen als Wissenschaft der Tugenden und Laster, verzichtet Hobbes im lateinischen Leviathan darauf, die natürlichen Gesetze an dieser Stelle als unveränderlich und ewig zu kennzeichnen.372 Da die entsprechende Charakterisierung der natürlichen Gesetze von Hobbes aber in den späteren Kapiteln nachgeholt wird,373 ist dieser letzten Überarbeitung des fünfzehnten Kapitels kaum eine besondere Bedeutung beizumessen. 6.5.3 Zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze Die obige Erörterung des fünfzehnten Kapitels hat bereits deutlich gemacht, dass sich die im englischen Leviathan zu beobachtende Entwicklung in der _____________ 370 371 372 373

EL: 71. LL: 72. Vgl. LL: 79. Vgl. etwa LL: 133 und 135.

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6. Die natürlichen Gesetze

Hobbes’schen Naturgesetzlehre, nämlich die Tatsache, dass Hobbes die natürlichen Gesetze im Rahmen der eigentlichen Naturgesetzlehre zunehmend weniger zu den Gesetzen Gottes in Beziehung setzt oder sie als Befehle Gottes präsentiert, im lateinischen Leviathan weiter fortsetzt. Angesichts dieser Entwicklung und angesichts der Tatsache, dass die übrigen Ausführungen, die für die Beantwortung der Frage nach dem primären Status und der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze relevant sind, weitgehend unverändert bestehen bleiben, erfährt die oben vertretene Einschätzung, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen des englischen Leviathan primär und eigentlich um bloße Vernunfttheoreme handelt und dass ihnen keinerlei Verbindlichkeit im strikt moralischen Sinne zukommt, mit Blick auf den lateinischen Leviathan eine zusätzliche Bekräftigung. Im Hinblick auf die Frage nach der Verbindlichkeit der Naturgesetze und die diesbezügliche Kontinuität zwischen den Argumentationen des englischen und des lateinischen Leviathan ist zunächst noch einmal ausdrücklich festzuhalten, dass Hobbes dem unzweifelhaften normativen Charakter der ‚leges naturales‘ nach wie vor nicht nur mit Hilfe der Begriffe ‚dictamen‘, ‚praeceptum‘, ‚regula‘ und der Verben ‚jubere‘ und ‚prohibere‘ sowie durch Verwendung von Gerundivformen Ausdruck verleiht,374 sondern dass er den normativen Charakter der natürlichen Gesetze dabei zu einer Verpflichtung auf Seiten der Individuen in Beziehung setzt, die er oftmals mit Hilfe des Verbs ‚debere‘,375 an zahlreichen Stellen aber auch mit Hilfe des Verbs ‚obligare‘ umschreibt. Dass im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel die betreffenden Begriffsverwendungen praktisch unverändert bestehen bleiben, ist oben bereits hervorgehoben worden, und ein ähnlicher Befund ergibt sich für das zweite Buch des lateinischen Leviathan. Bei seiner Beschreibung der Pflicht des staatlichen Herrschers, für einen Nachfolger zu sorgen, um das Zurückfallen der Untertanen in den Kriegszustand zu verhindern, greift Hobbes zwar im neunzehnten Kapitel nicht mehr auf das Verb ‚obligare‘, sondern auf das Verb ‚debere‘ zurück.376 Dass es sich hierbei aber keineswegs um den Versuch handelt, die naturgesetzliche Verbindlichkeit terminologisch neu zu gestalten und sie von der Verbindlichkeit von Verträgen abzuheben, zeigt sich nicht nur daran, dass Hobbes an so prominenten Stellen wie im fünfzehnten Kapitel gleich mehrfach am Verb ‚obligare‘ festhält. Dies zeigt sich auch daran, dass Hobbes die Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen nun mitunter an solchen Stellen mit Hilfe dieses Verbs beschreibt, an denen er dies im englischen Leviathan noch nicht getan hat,377 und dass er umgekehrt das Verb ‚obligare‘ auch durchaus an solchen Stellen durch eine andere Wendung er_____________ 374 375 376 377

Vgl. beispielsweise LL: 66, 67, 72 und 79. Vgl. etwa LL: 75. Vgl. LL: 96. Vgl. beispielsweise LL: 105f.; und demgegenüber EL: 109.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

371

setzt, an denen er die Verpflichtung beschreibt, die sich aus freiwillig geschlossenen Verträgen ergibt.378 Dass die in dieser Weise umschriebene Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen sich nicht im Sinne kategorischer Gebote direkt aus der Vernunft ergibt und ergeben kann, zeigt sich im lateinischen wie schon im englischen Leviathan bereits allein an Hobbes’ Ausführungen zur Vernunft, zum Überlegungsprozess und zum menschlichen Willen, die gegenüber dem englischen Text in allen relevanten Punkten unverändert sind. Und sie zeigt sich auch noch einmal daran, dass die Vernunft gerade im Rahmen der Definition des Begriffes ‚lex naturalis‘ eindeutig als Erkenntnisvermögen in Erscheinung tritt. Wie schon im englischen Leviathan ändert an der rein instrumentellen Funktion der Vernunft auch die verstärkte Einbeziehung der Goldenen Regel nichts, da diese selbst nach wie vor im Eigeninteresse begründet bleibt, was einmal mehr dadurch deutlich wird, dass Hobbes das neunte natürliche Gesetz, das die Anerkennung der Gleichheit anderer Individuen fordert, mit dem Hinweis begründet, allein unter dieser Bedingung sei der Frieden faktisch zu erreichen.379 Eine strikte moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze ließe sich daher mit Blick auf den lateinischen Leviathan wie schon zuvor mit Blick auf die anderen drei Schriften allein aus der Rolle Gottes herzuleiten versuchen, und bei der Beantwortung der Frage, welche Rolle Gott und seinen Strafen im Rahmen der Argumentation des lateinischen Leviathan zugestanden wird, fallen die oben beschrieben zusätzlichen Kürzungen und Überarbeitungen, die Hobbes in den Kapiteln XIV und XV vornimmt, noch einmal deutlich ins Gewicht und entziehen den schon mit Blick auf den englischen Text eindeutig zurückzuweisenden Interpretationen Taylors und Warrenders weiteren Boden. Von den schon genannten Abweichungen abgesehen, die allesamt im ersten Buch des Werkes zu finden sind, weist der lateinische Text allerdings nur wenige diesbezügliche Veränderungen auf. In den späteren Kapiteln bezeichnet Hobbes die natürlichen Gesetze nach wie vor als göttliche Gesetze und begründet auch mit dieser Tatsache ihren Status als unveränderliche und ewige Gesetze;380 er kennzeichnet in den Kapiteln XXI und XXX mit Blick auf den staatlichen Souverän die Übertretung der natürlichen Gesetze als Sünde gegenüber Gott;381 und er nimmt auch in den Kapitel XXIX und XXX wie zuvor auf die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen als eine Gewissenspflicht Bezug.382 _____________ 378 379 380 381 382

Vgl. etwa LL: 98f.; und demgegenüber EL: 102. Vgl. LL: 77. Vgl. LL: 133, 135, 151, 152, 153 und 166. Vgl. LL: 106 und 157. Vgl. LL: 152 und 166.

372

6. Die natürlichen Gesetze

Wenn angesichts dieser Kontinuität in Hobbes’ Ausführungen aber den Naturgesetzen auch mit Blick auf den lateinischen Leviathan ein doppelter Status ebensowenig abgesprochen werden kann wie zuvor mit Blick auf den englischen Leviathan, so kann doch angesichts der ebenfalls unveränderten Positionen zur Autorität der Bibel, zur Existenz und Erkennbarkeit göttlicher Strafen, zur Geltung der Naturgesetze und zur Geltung der Gesetze im natürlichen Königreich Gottes sowie zum Ursprung des Herrschaftsrechts Gottes kein Zweifel bestehen, dass Hobbes die natürlichen Gesetze auch im lateinischen Leviathan in erster Linie als bloße Vernunftregeln präsentiert, dass sie in dieser Eigenschaft den eigentlichen Gegenstand seiner Moralphilosophie bilden und dass sich aus ihrer sekundären Eigenschaft als Gesetze Gottes keine umfassendere Verbindlichkeit herleiten lässt, und hieran kann umso weniger ein Zweifel bestehen, wenn man die bereits angesprochenen Kürzungen im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel in Betracht zieht. Die Aussagen, die Hobbes im siebten Kapitel vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung von Wissen und Glauben zur Autorität der Bibel trifft, sind mit den Aussagen des englischen Textes nahezu identisch.383 Da Hobbes zudem wie schon im englischen Leviathan auf eine Bestätigung der natürlichen Gesetze aus dem Text der Offenbarung verzichtet und da er zusätzlich im vierzehnten Kapitel den Verweis auf die Verheißung des Paradieses, die unserer Interpretation zufolge schon im englischen Leviathan nicht als Teil der wissenschaftlichen Argumentation gelten konnte, streicht, ist im lateinischen Leviathan der Sichtweise, die natürlichen Gesetze seien aufgrund ihrer Verkündigung in der Heiligen Schrift innerhalb von Hobbes’ wissenschaftlicher Theorie als Befehle Gottes anzusehen, ohne Zweifel jede Grundlage entzogen, und dies gilt auch für die Sichtweise, die Heilige Schrift liefere mit der Verheißung göttlicher Sanktionen einen Beitrag zur Begründung der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze. Die Passage des vierzehnten Kapitels, in der Hobbes sich ausdrücklich von der Auffassung distanziert, die Lehre von den natürlichen Gesetzen könne als Lehre derjenigen Handlungsweisen begriffen werden, die dem ewigen Heil der Menschen förderlich seien, zeigt zudem einmal mehr, dass die Existenz jenseitiger Strafen auch nicht mit Hilfe der natürlichen Vernunft, d.h. unabhängig von der Offenbarung, eingesehen werden kann.384 Wie Hobbes sowohl im Rahmen seiner Erörterung des Begriffes der Strafe („Poena“385) in Kapitel XXVIII als auch zum Ende des Kapitels zum natürlichen Königreich Gottes erneut hervorhebt,386 können die Menschen daher allein insofern um die Existenz göttlicher Strafen wissen, als sie die negativen Konsequenzen, die _____________ 383 384 385 386

Vgl. LL: 34. Vgl. LL: 74. LL: 146. Vgl. LL: 147 und 172.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

373

innerhalb ihres irdischen Lebens auf ihre Handlungen folgen, als Strafen Gottes interpretieren können, eine Interpretation, die Hobbes sich im achtundzwanzigsten Kapitel nun etwas deutlicher zu eigen macht, als er dies im englischen Leviathan getan hat („malum illud, quanquam respectu Authoris Naturae dici rectè possit Poena Divina, non continetur tamen nomine Poenae respectu hominum“387). Die Tatsache, dass die Strafen Gottes allein in denjenigen negativen Folgen bestehen, die sich ohnehin aus einer Übertretung der natürlichen Gesetze ergeben, hat aber nichtsdestotrotz im Hinblick auf die Frage nach der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze dieselben Konsequenzen, wie sie oben mit Blick auf den englischen Leviathan entwickelt und zur Zurückweisung der ‚Taylor-Warrender-These‘ in ihrer umfassenden Form genutzt worden sind. Die Ablehnung der Position, die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze sei als Verbindlichkeit im strikt moralischen Sinne zu begreifen, lässt sich auch erneut durch den Hinweis bekräftigen, dass Hobbes das Herrschaftsrecht Gottes allein auf Gottes unwiderstehliche Macht zurückführt388 und dass den Gesetzen Gottes deshalb im Rahmen der Hobbes’schen Argumentation keine Verpflichtungskraft zukommen kann, die von den hier beschriebenen göttlichen Sanktionen unabhängig wäre oder über die durch diese Sanktionen begründete Verbindlichkeit hinausgehen würde. Dass es zudem keinen wirklich überzeugenden Grund gibt, in der Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze Gottes zu sein, ihren primären Status zu erblicken, liegt nun vor allem daran, dass Hobbes die natürlichen Gesetze im lateinischen Leviathan zunächst überhaupt nicht als Gesetze Gottes präsentiert, nämlich weder in den ersten Kapiteln des zweiten Teils noch im Rahmen der eigentlichen Naturgesetzlehre in den Kapiteln XIV und XV. Auf der anderen Seite ergibt sich für die Interpretationen Taylors und Warrenders auch mit Blick auf den lateinischen Text nach wie vor das Problem, dass die natürlichen Gesetze von Hobbes als Gesetze beschrieben werden, die für alle Menschen gleichermaßen gelten, die – um zu gelten und zu verpflichten – weder einer besonderen Verkündigung noch einer offiziellen Interpretation bedürfen und deren Übertretung nicht durch Unwissenheit entschuldigt werden kann.389 Die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes werden demgegenüber einmal mehr als Gesetze kennzeichnet, die nur für diejenigen Menschen gelten, die die Existenz Gottes und die Existenz göttlicher Gesetze anerkennen.390 Dass die Übertretung der natürlichen Gesetze nicht durch Unwissenheit oder falsche Schlussfolgerungen entschuldigt oder gerechtfertigt werden kann, wird von Hobbes dabei zwar insgesamt nicht so häufig betont wie im englischen Leviathan. Die eindeutigste und prägnanteste der _____________ 387 388 389 390

LL: 147. (Hervorh. v. mir) Vgl. LL: 167f. Vgl. LL: 131 und 138. Vgl. LL: 166f.

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6. Die natürlichen Gesetze

dortigen Aussagen bleibt aber im lateinischen Text in unveränderter Form erhalten („Ignorantia Legum Naturalium excusat neminem; illi enim, qui Rationis Naturalis usum assequutus est, Leges Naturales quaenam sint, cognitum esse praesumitur“391), und sie reicht aus, um den prinzipiellen Geltungsunterschied zwischen den natürlichen Gesetzen und den Gesetzen im natürlichen Königreich Gottes zu belegen, erst recht, da Hobbes in der oben eingehend diskutierten Passage zum Völkerrecht am Ende des dreißigsten Kapitels den verwirrenden Einschub, dem zufolge die Gesetze Gottes alle Menschen gleichermaßen verpflichten („such of them as oblige all Mankind“392), im lateinischen Leviathan streicht und so die Konsistenz seiner Position wiederherstellt.393 Es gibt daher im Text des lateinischen Leviathan insgesamt keine Passage, durch die die ‚Taylor-Warrender-These‘ gegenüber dem englischen Text eine wirkliche Stärkung erfahren würde, und dies allein reicht aus, um die Interpretationen Taylors und Warrenders wie schon mit Blick auf den englischen Leviathan erneut als unangemessen zurückzuweisen. Dass diese Zurückweisung im Fall des lateinischen Leviathan noch deutlich leichter fällt, liegt daran, dass Hobbes an einer zentralen und entscheidenden Stelle, nämlich am Ende des fünfzehnten Kapitels, erstmals darauf verzichtet, die natürlichen Gesetze überhaupt als Gesetze Gottes auszuweisen und auf diese Weise die uneigentliche Redeweise von den ‚leges naturales‘ zu rechtfertigen. Schon für sich genommen bekräftigt diese Tatsache die Entwicklung, die bereits im englischen Leviathan zu beobachten war, nämlich Hobbes’ Interesse, seine wissenschaftliche Lehre von den natürlichen Gesetzen zumindest im Rahmen ihrer eigentlichen Grundlegung stärker von theologischen und religiösen Aspekten zu befreien, und sei es nur im Hinblick auf die äußere Präsentation dieser Lehre. Wenn in der Überarbeitung des fünfzehnten Kapitels aber auch die entscheidende Schwächung zu sehen ist, die die ‚Taylor-Warrender-These‘ im lateinischen Leviathan erfährt, so soll doch nicht gänzlich darauf verzichtet werden, auf zwei weitere Überarbeitungen hinzuweisen, die zwar für sich genommen wenig aussagekräftig sein mögen, die aber für den vorliegenden Zusammenhang insofern interessant sind, als sie tendenziell eher zu einer weiteren Schwächung der ‚Taylor-Warrender-These‘ beitragen als zu ihrer Stärkung. Bei der ersten Passage handelt es sich um denjenigen Abschnitt des einunddreißigsten Kapitels, in dem Hobbes im Kontext seiner Beschreibung des natürlichen Königreiches Gottes die Möglichkeit einer Erkenntnis Gottes behandelt. Während die betreffende Passage zunächst nahezu vollständig dem _____________ 391 LL: 138. 392 EL: 185. 393 Vgl. LL: 166.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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Text des englischen Leviathan folgt, weicht sie doch insofern in entscheidender Weise von ihr ab, als Hobbes nun auf den Hinweis, mit Hilfe der natürlichen Vernunft ließe sich nicht nur die Existenz Gottes, sondern zugleich auch seine Rolle als Vater, König und Herr einsehen, verzichtet. Is qui Deo attribuere nomen nullum vellet nisi, quod naturali Rationi conforme sit, Nominibus uti debet vel Negativis, Infinitus, Aeternus, Incomprehensibilis; vel Superlativis, ut Altissimus, Maximus, vel indefinitis, ut Bonus, Justus, Sanctus, Creator; idque eo sensu, ut non velit declarare quid sit Deus, sed quantum ipsum admiramur & veneramur nos. Unicum enim Naturae suae Nomen habet EST.394

Hobbes’ Entscheidung, an dieser Stelle allein die Existenz Gottes als möglichen Gegenstand der natürlichen Erkenntnis zu präsentieren, sollte angesichts der Tatsache, dass Hobbes im ganzen einunddreißigsten Kapitel das natürliche Königreich Gottes beschreibt und dabei ständig mehr oder minder explizit auf Gott als König oder Herrscher Bezug nimmt, nicht überbewertet werden, nicht zuletzt, da Hobbes im zwölften Kapitel, das sich allgemein der Religion widmet, nach wie vor die Aussage trifft, Gott sei König über die ganze Welt („Deus Terrarum quidem omnium Rex est“395). Da Hobbes aber die Redeweise vom natürlichen Königreich Gottes und von Gott als dem Herrscher und Regenten dieses Königreiches zum Teil durchaus als metaphorische oder uneigentliche Redeweise kennzeichnet, wirft die obige Passage, wenn man sie denn als indirektes Eingeständnis wertet, dass die Rolle Gottes als König und Herrscher der Welt und der Menschen eben nicht mit Hilfe der natürlichen Vernunft eingesehen werden kann, immerhin die Frage auf, ob die Ausführungen über das natürliche Königreich Gottes im lateinischen Leviathan überhaupt, wie dies auf den englischen Leviathan noch zutraf, eindeutig dem Bereich der rationalen und wissenschaftlichen Argumentation zugeordnet werden können. Wie immer man diese Frage aber auch letztlich beantworten mag: In jedem Fall lässt sich festhalten, dass durch die Begrenzung der Möglichkeiten einer Erkenntnis Gottes den natürlichen Gesetzen durch ihre Eigenschaft, Gesetze Gottes zu sein, im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Beschreibung eine etwas geringere moralische Autorität verliehen wird als zuvor. Es war oben mit Blick auf den englischen Leviathan gezeigt worden, dass sich weder aus den Strafen Gottes, die lediglich in den negativen Konsequenzen bestehen, die innerhalb des irdischen Lebens ohnehin auf eine Missachtung der natürlichen Gesetze folgen, noch aus der bloßen Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze Gottes zu sein bzw. als solche interpretiert werden zu können, eine erweiterte Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze oder gar eine Verbindlichkeit im strikt moralischen Sinne ableiten lässt, dass _____________ 394 LL: 170. 395 LL: 60.

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6. Die natürlichen Gesetze

aber die Tatsache, dass die natürlichen Gesetze mit Hilfe der Vernunft als Gesetze des göttlichen Vaters, Königs und Herrschers der Menschen erkannt werden können, den natürlichen Gesetzen auch im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Beschreibung immerhin eine gewisse zusätzliche Autorität und ihrer Verbindlichkeit einen gewissen moralischen Unterton verleiht. Dadurch, dass nun aber die diesbezügliche Rolle Gottes im lateinischen Leviathan als eine Rolle erscheint, deren Erkenntnis jenseits der natürlichen Vernunft liegt, büßen die natürlichen Gesetze ein wenig von dieser Autorität ein, und alle diejenigen Interpretationen, die die natürlichen Gesetze primär als Befehle Gottes und als Ursprung einer moralischen Verpflichtung im strengen Sinne begreifen wollen, werden vor noch etwas größere Probleme gestellt, als dies schon mit Blick auf den englischen Text der Fall war. Die zweite der genannten Passagen findet sich in demjenigen Abschnitt des siebten Kapitels, in dem Hobbes den Begriff des Gewissens zu den Begriffen des Wissens und des Bewusstseins in Verbindung bringt und eine Definition des Gewissens liefert, die seinen weitgehenden Verzicht darauf, die Verpflichtung in foro interno im englischen Leviathan als Gewissenspflicht zu kennzeichnen, zu erklären vermochte und für die Stützung der schon mit Blick auf die Elements entwickelten säkularen und nicht-moralisierenden Deutung der in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze fruchtbar gemacht werden konnte. Hobbes stellt in der betreffenden Passage des lateinischen Leviathan nach wie vor den Zusammenhang zwischen dem Begriff des Gewissens und den Begriffen des Wissens und des Bewusstseins her, und wie zuvor bekräftigt er ihn noch einmal dadurch, dass er im neunundzwanzigsten Kapitel die Identität der Begriffe „Conscientia“ und „Iudicium“396 behauptet. Der Unterschied gegenüber dem englischen Leviathan besteht nun darin, dass Hobbes im siebten Kapitel die stärker auf moralische Aspekte abzielende sekundäre Verwendung des Begriffs ‚Gewissen‘ nicht mehr mit Hilfe des Begriffes der Metapher umschreibt, sondern mit Hilfe des Verbs ‚usurpare‘. Quando duo vel plures idem simul sciunt, Conscii dicuntur; & quia illi factorum suorum mutuo testes maximè idonei sunt, maxima semper fuit & erit existimata improbitas, testimonium contra conscientiam dicere, vel alium ut dicat inducere. Vsurpatur autem vox Conscientia saepissimè pro sua cujusque facti vel cogitati secreta cognitione.397

Geht man von der Tatsache aus, dass Hobbes die moralisierende Verwendung des Begriffs ‚conscience‘ schon im englischen Leviathan als metaphorisch kritisiert und die Schwierigkeiten, die für ihn offenbar mit dem Begriff verbunden sind, zum Anlass genommen hatte, um die eingeschränkte Verpflich_____________ 396 Beides: LL: 152. 397 LL: 33.

6.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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tung gegenüber den natürlichen Gesetzen kaum noch mit Hilfe des betreffenden Begriffes zu kennzeichnen, dann erscheint es ausgesprochen verlockend, die Wendung „Vsurpatur autem vox Conscientia...“ als Beschreibung eines sprachlichen Missbrauchs („Vsurpatur“) zu deuten und darin eine nochmalige Verschärfung der Hobbes’schen Position erblicken zu wollen. Es muss aber eingestanden werden, dass es angesichts der klassischen Bedeutung des Verbs ‚usurpare‘ durchaus denkbar ist, dass Hobbes in der obigen Passage keinerlei Wertung der von ihm genannten Verwendungsweise vornehmen will, sondern dass er schlicht angeben will, wie der Ausdruck ‚conscientia’ zumeist und üblicherweise gebraucht wird. Dafür spräche auch, dass Hobbes das Verb ‚usurpare‘ – und nicht etwa das Verb ‚uti‘ – auch an anderen Stellen des lateinischen Leviathan verwendet, um die Verwendung bestimmter Begriffe zu beschreiben, so beispielsweise im Zuge seiner Gegenüberstellung der Begriffe ‚lex‘ und ‚jus‘ in Kapitel XXVI („Invenio voces Legem Civilem, & Ius Civile à Scriptoribus promiscuè usurpatas esse; quod fieri non debet.“398). Dafür, dass Hobbes durch seine Verwendung des Verbs ‚usurpare‘ die von ihm beschriebene Verwendungsweise des Ausdrucks ‚conscientia‘ als unangemessen ausweisen und als sprachlichen Missbrauch kritisieren will, spräche allerdings, dass Hobbes auch im Rahmen der genannten Entgegensetzung von ‚lex‘ und ‚jus‘ eine Begriffsverwendung beschreibt, die er für falsch hält und von der er sich distanzieren will („quod fieri non debet“); dass er demgegenüber dort, wo er – wie etwa in der zuvor zitierten Passage des einunddreißigsten Kapitels – auf die legitimen Verwendungsweisen bestimmter Begriffe abzielt, eben doch auf das Verb ‚uti‘ zurückgreift („Is qui Deo attribuere nomen nullum vellet nisi, quod naturali Rationi conforme sit, Nominibus uti debet...“399); und dass zu Hobbes’ Zeit das englische Pendant zum lateinischen ‚usurpare‘, nämlich das Verb ‚to usurp‘, und ebenso die Ausdrücke ‚usurpation‘ und ‚usurpator‘ bereits vorrangig zur Beschreibung unrechtmäßiger oder illegitimer Aneignungen oder Verhaltensweisen benutzt werden. Die Deutung, dass Hobbes die moralisierende Verwendung des Ausdrucks ‚conscientia‘ im lateinischen Leviathan durch seine Verwendung des Verbs ‚usurpare‘ noch etwas schärfer zurückweist als zuvor und dass er sich noch etwas deutlicher zu der nicht-moralisierenden Bedeutung des Begriffes bekennen will, die oben zu unserer Deutung der in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze in Beziehung gesetzt worden ist, erscheint daher durchaus möglich. Die oben zitierte Passage würde dann umgekehrt noch ein wenig stärker als die entsprechende Passage aus dem englischen Leviathan alle diejenigen Interpretationen vor Probleme stellen, die wie die Interpretationen _____________ 398 LL: 137. (Hervorh. v. mir) 399 LL: 170. (Hervorh. v. mir)

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6. Die natürlichen Gesetze

Taylors und Warrenders die in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze und die Gewissenspflicht des staatlichen Souveräns gegenüber diesen Gesetzen als Indiz dafür werten wollen, dass es sich bei der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze um eine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne handeln muss. Selbst wenn man sich der hier entwickelten spekulativen Deutung nicht anschließen will, erfährt unsere Zurückweisung der ‚TaylorWarrender-These‘ aber keine signifikante Schwächung. Begreift man die Hobbes’sche Verwendung des Verbs ‚usurpare‘ als neutral, dann mag man zwar die Auffassung vertreten, dass Hobbes, indem er den moralisierenden Gebrauch des Begriffs ‚conscience‘ nicht mehr als ausdrücklich metaphorisch bezeichnet, seine frühere mehr oder minder explizite Zurückweisung der Begriffsverwendung aufgibt. Die Tatsache, dass Hobbes sich den moralisierenden Gebrauch des Begriffes ‚conscientia‘ aber auch im lateinischen Leviathan keineswegs zu eigen macht, sondern ihm ausdrücklich einen nichtmoralisisierenden Gewissensbegriff entgegensetzt, nach dem der Begriff ‚conscientia‘ praktisch mit den Begriffen ‚opinio‘ und ‚iudicium‘ zusammenfällt, reicht jedoch nach wie vor aus, um die Hobbes’schen Ausführungen zum Begriff des Gewissens dazu zu nutzen, Taylors und Warrenders Deutung der in foro interno-Verpflichtung zur Befolgung der Naturgesetze entscheidend in Zweifel zu ziehen. 6.5.4 Zur tugendethischen Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre Auch ohne auf die beiden zuletzt besprochenen Passagen zurückzugreifen, lässt sich konstatieren, dass die Überarbeitungen, denen Hobbes den Text des Leviathan in der lateinischen Fassung unterzogen hat, eine hinreichende Grundlage liefern, um die ‚Taylor-Warrender-These‘ mit Blick auf den lateinischen Leviathan insgesamt noch nachdrücklicher als irreführend zurückzuweisen, als dies oben schon mit Blick auf den englischen Leviathan geschehen ist. Zu fragen bleibt abschließend, ob der lateinische Text eine umfassendere Grundlage als der englische Leviathan liefert, um die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen als Theorie der Tugenden und Laster zu begreifen, und diese Frage kann ebenso eindeutig verneint werden. Hobbes fügt seinem Text zwar an einer so prominenten Stelle wie der Passage zur in foro internoGeltung der natürlichen Gesetze insofern einen Hinweis auf den Tugendbegriff zu, als er die Übertretung der natürlichen Gesetze als Laster („Vitium“) bezeichnet. Wie oben bereits ausgeführt, dürfte der Grund für die betreffende Änderung aber vor allem darin zu sehen sein, dass Hobbes die schuldhafte Verletzung der Naturgesetze mit einem Terminus beschreiben wollte, der nicht suggeriert, dass es sich bei den natürlichen Gesetze um wirkliche Gesetze handelt, und der folglich mit der entscheidenden Veränderung des fünf-

6.6 Zusammenfassung

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zehnten Kapitels, nämlich mit der inhaltlich weitreichenden Kürzung des letzten Abschnittes, zusammenstimmt. Wichtiger ist aber vielleicht noch, dass der restliche Text des lateinischen Leviathan keine weiteren derartigen Ergänzungen aufweist. Ganz im Gegenteil streicht Hobbes im sechsundzwanzigsten Kapitel gleich zwei Hinweise darauf, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen um ‚virtutes morales‘ handelt,400 und auch im anschließenden siebenundzwanzigsten Kapitel verzichtet Hobbes im Rahmen seiner Diskussion des Begriffes ‚peccatum‘ darauf, die Übertretung der natürlichen Gesetze, bei der es sich seiner Darstellung zufolge immer und überall um eine Sünde, nicht aber um ein Verbrechen handelt, wie zuvor als „Facts contrary to any Morall Vertue“401 zu charakterisieren.402 Da die Koordinaten der Hobbes’schen Moralphilosophie ansonsten unverändert bleiben und da Hobbes in der für die tugendtheoretische Interpretation so zentralen Passage des fünfzehnten Kapitels, in der er die Lehre von den natürlichen Gesetzen als „Scientia [...] Virtutum & Vitiorum“403 bezeichnet, den Wert der Tugenden nach wie vor mit dem Hinweis auf ihren instrumentellen Nutzen für den Frieden begründet („Itaque Media ad Pacem necessaria bona esse negari non potest. Sunt autem illa, Iustitia, Gratitudo, Modestia, Aequitas, & caeterae Leges Naturae. Bona igitur Moralia sunt, id est, Virtutes; & his contraria Mala, id est, Vitia.“404), gibt es folglich keinerlei Grund, die Bewertung des Leviathan mit Blick auf die lateinische Fassung zu modifizieren. Auch im lateinischen Leviathan ist Hobbes das Bemühen, seine Moralphilosophie als Wissenschaft von den Tugenden und Lastern zu präsentieren, nicht abzusprechen. Aber auch hier gibt es letztlich keine Alternative dazu, den Primat des Handlungsbegriffes gegenüber dem Tugendbegriff anzuerkennen und aus diesem Grund die Berechtigung der tugendethischen Deutung der Lehre von den natürlichen Gesetzen in Zweifel zu ziehen.

6.6 Zusammenfassung Die eingehende Analyse der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen, wie sie in den Elements of Law und in De Cive sowie in den englischen und lateinischen Fassungen des Leviathan entwickelt wird, hat deutlich gemacht, dass die traditionelle Deutung der natürlichen Gesetze, nach der es sich bei den Naturgesetzen primär um hypothetische Imperative im Dienste der indi_____________ 400 401 402 403 404

Vgl. LL: 132f. und 135; sowie demgegenüber EL: 143 und 148. EL: 151f. Vgl. LL: 138. LL: 79. LL: 79.

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viduellen Erhaltung handelt, denen keine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne des Wortes zukommt, mit Blick auf alle vier Schriften die angemessenste Deutung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre darstellt und dass all diejenigen Interpretationsansätze, die die natürlichen Gesetze als im strengen Sinne verbindliche Moralgesetze begreifen wollen, auf eine Reihe entscheidender Schwierigkeiten stoßen. Am problematischsten haben sich dabei insgesamt solche Ansätze erwiesen, die auf den Rekurs auf den göttlichen Gesetzgeber verzichten und die vermeintliche strikt moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze allein mit ihrer Eigenschaft als Vernunftgebote zu begründen versuchen. Keine einzige der vier Schriften liefert ausreichende Belege für die Sichtweise, die Hobbes’sche Vernunft könne gleichsam aus sich selbst heraus Gebote aufstellen, die von den Interessen und Bedürfnissen des Handelnden logisch unabhängig sind und die Charakteristik des unbedingten Gefordertseins aufweisen. Ganz im Gegenteil präsentiert Hobbes, einigen geringfügigen Abweichungen zum Trotz, die Vernunft in allen seinen Schriften grundsätzlich als ein rein instrumentelles Vermögen, das dem Handelnden nicht aus sich heraus Zwecke zu setzen vermag, sondern lediglich mit der Findung solcher Mittel und Handlungen befasst ist, die zur Realisierung gegebener Interessen und Zwecke notwendig sind. Und auch im Rahmen der eigentlichen Begründung der natürlichen Gesetze, in der Hobbes in allen vier Werken, besonders ausführlich aber in den Elements und in De Cive, die als objektiven Maßstab verstandene Vernunft als Kriterium und Grundlage der naturgesetzlichen Gebote anführt und auch mitunter so weit geht, das natürliche Gesetz und die Vernunft miteinander gleichzusetzen, greift Hobbes prinzipiell und zumeist ausdrücklich auf die Vernunft als ein Erkenntnisvermögen zurück, dessen Gebote in letzter Konsequenz vom natürlichen und naturnotwendigen, für sich genommen aber zunächst arationalen Zweck der Selbsterhaltung abhängig bleiben. Im Rahmen der eingehenden Erörterung der Hobbes’schen Ausführungen konnte zudem gezeigt werden, dass auch die Goldene Regel, die Hobbes in allen vier Schriften und mit besonderer Häufigkeit in den beiden Fassungen des Leviathan als Summe der natürlichen Gesetze bzw. als Methode zur Einsicht in diese Gesetze ins Spiel bringt, nicht zur Begründung der vermeintlichen strikt moralischen Verbindlichkeit genutzt werden kann. Wie die Aussagen zeigen, mit denen Hobbes das in der Goldenen Regel zum Ausdruck kommende Gleichheits- bzw. Reziprozitätsgebot in den verschiedenen Schriften begründet, kann die Goldene Regel, sei es in ihrer negativen, sei es in ihrer positiven Variante, innerhalb der Hobbes’schen Theorie selbst nur im Sinne eines hypothetischen Imperativs Geltung beanspruchen, als Prinzip nämlich, das seine Geltung allein aus der Tatsache bezieht, dass ohne seine faktische Anerkennung das Ziel des dauerhaften Friedens – und damit auch

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der fundamentale Zweck der dauerhaften Erhaltung – nicht realisiert werden kann. Auch der ursprünglich von Taylor und Warrender favorisierte Ansatz, die natürlichen Gesetze durch den Hinweis auf ihre Eigenschaft als Gesetze oder Befehle Gottes als im strengen Sinne moralisch verbindliche Gesetze auszuweisen, muss aber letztlich mit Blick auf alle vier Werke scheitern. Am offenkundigsten sind dabei die Probleme der von Hood vertretenen Deutungsvariante, nach der die natürlichen Gesetze deshalb als strikt moralisch verbindlich anzusehen sind, weil sie in der biblischen Überlieferung als Befehle Gottes in Erscheinung treten, sie also positive Gesetze Gottes darstellen. Hobbes unterscheidet nicht nur in allen seinen Schriften ausdrücklich zwischen wahrem Wissen und bloßen Glaubenstatsachen und bekennt sich dabei nachdrücklich zu dem Ziel, innerhalb seines philosophischen Systems eine wissenschaftliche und wissenschaftlich gesicherte Lehre der Moral im Sinne einer ‚moral science‘ oder ‚civil science‘ bzw. einer ‚scientia moralis‘ zu entwickeln. Er weist auch in zumindest dreien seiner Schriften, nämlich in den Elements of Law sowie in den beiden Fassungen des Leviathan, ausdrücklich darauf hin, dass die Heilige Schrift, da sie ihre Autorität dem Zeugnis bestimmter Menschen verdankt und vom Vertrauen in diese Menschen abhängig ist, als Grundlage wahren Wissens nicht in Frage kommen kann. In De Cive findet sich zwar keine derartige Aussage. Da der Unterschied zwischen dem wahrem Wissen und dem Glauben an bestimmte Sachverhalte aber in De Cive in dergleichen Weise umrissen und der Glaube wie in den anderen Schriften als ein Wissen definiert wird, das vom Vertrauen in das Zeugnis anderer Menschen abhängig ist, ließe sich eine vergleichbare Position zur Autorität der Bibel ohne Probleme aus Hobbes’ Aussagen rekonstruieren. Der Grund für den Verzicht darauf, ausdrücklich zur Autorität der Heiligen Schrift Stellung zu nehmen, dürfte daher ausschließlich darin zu sehen sein, dass die Darstellung von De Cive, bei welchem Werk es sich ja lediglich um den dritten Teil der Elementa Philosophica handelt, thematisch begrenzt ist und nicht, wie die Elements und der Leviathan, eingehende und umfassende Erörterungen der Themen Vernunft, Wissenschaft und Religion beinhaltet. Den Status und den Verpflichtungscharakter der natürlichen Gesetze an ihre Überlieferung in der Bibel zu koppeln, hieße folglich mit Blick auf alle vier Werke, die Naturgesetzlehre entgegen Hobbes’ eigenem Anliegen weitgehend dem Bereich der wissenschaftlichen Argumentation zu entziehen, und käme daher zwangsläufig dem Eingeständnis gleich, die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen sei von Grund auf gescheitert. Wenn die Ausführungen Hoods aber auch von der Bereitschaft gekennzeichnet sein mögen, die betreffende Konsequenz zu akzeptieren, so stellt die Konsequenz doch meines Erachtens einen hinreichenden Grund da, um Hoods Interpretation mit Nachdruck zurückzuweisen. Da es in keinem der Hobbes’schen Werke

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wirkliche Indizien dafür gibt, dass Hobbes seine natürlichen Gesetze vorrangig als positive Gesetze Gottes begriffen hat oder ihre Verbindlichkeit mit dieser Eigenschaft hat begründen wollen, kann eine Interpretation, die eben dies behauptet, allerhöchstens dadurch gerechtfertigt werden, dass sie die Hobbes’sche Theorie stärkt oder ihr zu einem größeren Maß an Konsistenz verhilft. Die diesbezügliche Leistungsfähigkeit der traditionellen Deutung ist derjenigen von Hood aber nicht nur deutlich überlegen, sondern die Leistungsfähigkeit von Hoods Interpretation tendiert schon für sich genommen geradezu gegen Null, was aus meiner Sicht keinen Zweifel an der Notwendigkeit lässt, diese Interpretation abzulehnen. Um die beiden von Warrender unterschiedenen Interpretationsvarianten ist es allerdings insgesamt nur unwesentlich besser bestellt als um die Interpretation Hoods. So entzieht der zweite der von Warrender skizzierten Deutungsansätze, nach dem die natürlichen Gesetze deshalb im streng moralischen Sinne verpflichten, weil ihre Missachtung das Schicksal der ewigen Verdammnis bzw. allgemein negative Sanktionen Gottes nach sich zu ziehen droht, die Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze fast ebenso deutlich der Sphäre der Wissenschaft wie der Deutungsansatz Hoods. Hobbes weist sowohl im englischen als auch im lateinischen Leviathan im direkten Kontext der Naturgesetzlehre explizit darauf hin, dass die Menschen nicht mit Hilfe der natürlichen Vernunft erkennen können, inwiefern sie nach ihrem irdischen Leben mit göttlichen Bestrafungen oder Belohnungen zu rechnen haben, und es also kein gesichertes Wissen bezüglich des Lebens nach dem Tode geben kann. In den Elements of Law lässt Hobbes die entsprechende Deutlichkeit zwar ein wenig vermissen. Seine Bekräftigung, dass zwar die Existenz Gottes, nicht aber sein Wesen, sein Willen oder sein Handeln von den Menschen erkannt werden können, reicht jedoch hin, um Hobbes mit Blick auf die Elements die gleiche Position bezüglich einer Möglichkeit der Einsicht in göttliche Sanktionen zuzuschreiben, wie er sie im Leviathan dann ausdrücklich vertreten wird. Wenn die von Warrender vertretene und von ihm prinzipiell auf alle Hobbes’schen Werke bezogene Deutungsvariante daher überhaupt Geltung beanspruchen will, dann kann sie dies höchstens mit Blick auf den Text von De Cive tun, in dem Hobbes’ Aussagen bezüglich der Möglichkeit einer vernünftigen Einsicht in das göttliche Handeln am uneindeutigsten sind und den größten Raum für Spekulationen lassen. Die bloße Tatsache, dass Hobbes in der ersten Formulierung seiner politischen Theorie derartige Erkenntnismöglichkeiten indirekt ausschließt und elf bzw. achtundzwanzig Jahre später in der dritten und vierten Formulierung seiner politischen Theorie an der anfänglich vertretenen Position nicht nur festhält, sondern diese noch nachdrücklicher und direkter als zuvor bekräftigt, muss aber die Annahme, Hobbes habe in De Cive die Möglichkeit anerkannt, gesichertes Wissen über das Leben nach dem Tode und die Drohung jenseitiger

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Sanktionen Gottes zu erlangen, als fragwürdige Spekulation erscheinen lassen, da sie auf die Behauptung hinausläuft, innerhalb der anderthalb Jahre nach Fertigstellung der Elements habe Hobbes seine diesbezügliche Position aufgegeben, um dann nach De Cive wieder mit umso größerer Überzeugung zu ihr zurückzufinden. Dass die hier angedeutete schwer zu begründende Spekulation zudem in jedem Fall eine Spekulation bleiben muss, liegt daran, dass Hobbes, so uneindeutig er sich in De Cive auch ausdrücken mag, die Möglichkeit, mit Hilfe der natürlichen Vernunft gesichertes Wissen bezüglich des Lebens nach dem Tode zu erlangen, auch in dieser zweiten Formulierung seiner politischen Lehre keineswegs an irgendeiner Stelle ausdrücklich anerkennt. Angesichts des Fehlens wirklicher positiver und direkter Indizien dafür, dass Hobbes seine Position in der oben beschriebenen Weise zwischenzeitlich geändert haben könnte, erscheint es meines Erachtens daher nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten, mit Blick auf die Frage nach den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten von einer prinzipiellen Kontinuität in Hobbes’ Denken auszugehen und anzunehmen, dass die in den Elements angedeutete und in beiden Fassungen des Leviathan mit Nachdruck vertretene Position auch den Ausführungen von De Cive zugrundeliegt. Können die Menschen aber über kein gesichertes Wissen darüber verfügen, dass sie nach Ende ihres irdischen Lebens von Gott für eine Missachtung der natürlichen Gesetze bestraft werden werden, dann lässt sich mit dieser Tatsache den natürlichen Gesetzen im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Beschreibung auch keine zusätzliche Verbindlichkeit zuschreiben. Das Problem der Interpretationsvariante Warrenders besteht zudem darin, dass es sich, selbst wenn sich mit den drohenden Sanktionen Gottes in diesem Sinne eine umfassendere Verpflichtung der Individuen begründen ließe, bei dieser Verpflichtung immer noch um eine Klugheitspflicht handeln würde, den natürlichen Gesetzen also immer noch nur im Sinne hypothetischer Imperative Verbindlichkeit zuzugestehen wäre. Der zweiten Interpretationsvariante Warrenders zu folgen, hieße daher, die natürlichen Gesetze prinzipiell nur im Sinne einer erweiterten Klugheitspflicht als verbindlich auszuweisen, die Lehre von den natürlichen Gesetzen mit der Betonung dieser erweiterten Verbindlichkeit aber dem Bereich des eindeutig gesicherten Wissens und der von Hobbes zweifelsfrei als solcher gekennzeichneten Sphäre der wissenschaftlichen Argumentation zu entziehen, was hieße, dass auch durch die zweite Interpretationsvariante mit Blick auf die Stärke und Kohärenz der Hobbes’schen Argumentation mehr verloren als gewonnen wäre. Die einzigen Sanktionen, die im Rahmen der wissenschaftlichen Argumentation als Folge der Missachtung der natürlichen Gesetze gelten können, sind folglich diejenigen negativen Konsequenzen, die innerhalb des irdischen Lebens ohnehin auf die Übertretung der naturgesetzlichen Gebote folgen werden und die überhaupt nur in einem uneigentlichen Sinne als Sanktionen

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interpretiert werden können, insofern nämlich, als sowohl die Welt und die innerhalb dieser Welt bestehenden Kausalverhältnisse als auch die Vernunft, mit deren Hilfe diese Zusammenhänge eingesehen werden können, auf Gott als die erste Ursache und den Schöpfer der Natur zurückgeführt werden können. Dass die negativen Folgen einer naturgesetzwidrigen Handlung in diesem Sinne als natürliche Strafen Gottes begriffen werden können, wird von Hobbes sowohl im englischen als auch lateinischen Leviathan ausdrücklich hervorgehoben, wobei er sich im letzteren Werk die betreffende Sichtweise auch relativ unmissverständlich zu eigen macht, und nichts spricht dagegen, dass auch in den beiden früheren Schriften, in denen Hobbes nicht explizit auf die natürlichen Strafen Gottes zu sprechen kommt, die Hinweise auf Gott als den Schöpfer der Natur und den Autor der natürlichen Gesetze von ähnlichen Hintergrundüberlegungen begleitet werden. Die Tatsache, dass die negativen Konsequenzen, die eine Übertretung der natürlichen Gesetze innerhalb des irdischen Lebens nach sich zieht, in gewissem Sinne als göttliche Sanktionen begriffen werden können, verleiht den natürlichen Gesetzen aber keinerlei Verbindlichkeit, über die sie nicht bereits als bloße Vernunfttheoreme verfügen, und erst recht keine solche, die als Verbindlichkeit im strikt moralischen Sinne zu gelten hätte. Die einzige Möglichkeit, eine derartige Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze aus ihrer Eigenschaft, Gesetze Gottes zu sein, herleiten zu wollen, besteht folglich mit Blick auf alle vier Schriften in der ersten von Warrender skizzierten Interpretationsvariante, nach der die natürlichen Gesetze unabhängig von etwaigen irdischen oder jenseitigen Folgen ihrer Missachtung allein dadurch moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne erlangen, dass sie Befehle Gottes als einer zur Erteilung von Befehlen berechtigten Instanz darstellen. Diese Interpretationsvariante ist aber aus zweierlei Gründen problematisch. Auf der einen Seite gesteht Hobbes Gott in keiner seiner Schriften eine moralische Autorität zu, die von seiner faktischen Macht und seinen zu erwartenden Sanktionen unabhängig wäre und mit Hilfe der natürlichen Vernunft als solche erkannt werden könnte. Hobbes lässt zwar keinen Zweifel daran, dass die Menschen, die an Gott glauben, fast zwangsläufig eine gewisse Ehrfurcht für Gott empfinden werden. Da es sich bei diesen und anderen Gefühlen der Hochachtung aber nicht um wirkliche Einsichten in Gottes Wesen handelt, sondern um Zuschreibungen, mit denen die Menschen Gott ihre Reverenz erweisen, können sie nicht zur Unterstützung der Behauptung angeführt werden, Hobbes habe Gott im Rahmen seiner wissenschaftlichen Argumentation mit einer Autorität ausgestattet, die seinen Befehlen eo ipso den Charakter streng verpflichtender Gesetze verleihe. Hinzu kommt, dass Hobbes in dreien seiner Werke, nämlich in De Cive sowie in beiden Fassungen des Leviathan, das Herrschaftsrecht Gottes, also das Recht, das ihn letztlich als eine zur Erteilung von Befehlen berechtigte Instanz ausweist, auch ausdrück-

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lich auf seine faktische Macht zurückführt, wobei er in De Cive die daraus resultierende Verpflichtung der Untertanen Gottes sogar explizit als solche kennzeichnet, die im Sinne unabwendbarer negativer Handlungsfolgen allein aus der Furcht vor göttlichen Bestrafungen erwächst. Das zweite Problem besteht darin, dass die vermeintliche strikt moralische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze, wenn man sie von der Drohung göttlicher Sanktionen abkoppelt und allein aus dem Befehlscharakter der Naturgesetze ableiten will, den Charakter einer Verpflichtung annimmt, die gleichsam um ihrer selbst willen zu erfüllen ist. Wie Warrender in kritischer Abgrenzung von Taylor selbst betont, ist aber nicht einzusehen, wie angesichts der anthropologischen und psychologischen Grundannahmen der Hobbes’schen Theorie den Hobbes’schen Individuen ein Handeln aus Pflicht möglich sein soll. Hobbes hält nicht nur Zeit seines Lebens konsequent an einer deterministischen Willenslehre fest, wenn er diese auch in De Cive aufgrund der thematischen Begrenzung des Werks nicht eigens entfalten mag. Er betont auch in allen vier Schriften, dass die Menschen von Natur aus nur solche Gegenstände begehren, bei denen es sich um ein Gut für sie selbst handelt, von dem sie also im weiteren Sinne des Wortes einen Vorteil zu erwarten haben. Die betreffende Position, die Gert zurecht mit dem Begriff des „Tautological egoism“405 umschrieben hat, schließt nun zwar nicht aus, dass die Hobbes’schen Individuen altruistisch handeln können. Sie können dies aber nur tun, wenn und weil die konkrete Beförderung des Wohlbefindens eines anderen Individuum auch die Beförderung des eigenen Wohlbefindens nach sich zieht. Es ist jedoch ausgesprochen fragwürdig, ob die bloße Pflichtgemäßheit einer Handlung von den Hobbes’schen Individuen in diesem Sinne als ein Gut begriffen werden kann, das der Beförderung des eigenen Vorteils zuträglich ist, und daher die Ausführung der betreffenden Handlung nach sich zu ziehen vermag. Selbst wenn den naturgesetzlichen Geboten daher schon in ihrer Eigenschaft als Befehle Gottes eine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zukäme, so könnten die Individuen sie doch wieder nur unabhängig von dieser Verbindlichkeit faktisch befolgen, nämlich nur als Gesetze, deren Befolgung auf lange Sicht mit einem eigenen, aus den Handlungsfolgen erwachsenden Vorteil verbunden ist. Ist aber der vermeintlichen strikt moralischen Verbindlichkeit der moralischen Gesetze in dieser Weise eine Relevanz für das faktische Handeln der Individuen rundweg abzusprechen, so wäre es angesichts der Betonung, die Hobbes auf das faktische Handeln der Individuen und auf die Aufrechterhaltung eines dauerhaften Friedens legt, selbst dann höchst fragwürdig, ob in dieser Eigenschaft der natürlichen Gesetze das eigentliche Darstellungsinteresse der Hobbes’schen Naturgesetzlehre zum Ausdruck kommt, wenn sich die strikt moralische Verbindlichkeit _____________ 405 Gert 1967: 507.

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der Befehle Gottes innerhalb des Hobbes’schen Systems überzeugend begründen ließe. Wenn es daher hinreichende Gründe gibt, um die Behauptung, die natürlichen Gesetze seien als Befehle Gottes mit moralischer Verbindlichkeit im strengen Sinne ausgestattet, und damit auch die ‚Taylor-Warrender-These‘ in ihrer umfassenden Form mit Blick auf alle vier Fassungen der Hobbes’schen Theorie gleichermaßen zurückzuweisen, so muss das Ergebnis doch hinsichtlich der schwächeren Behauptung, die natürlichen Gesetze seien auch und in erster Linie als Gesetze oder Befehle Gottes anzusehen, anders und ein wenig differenzierter ausfallen. Es trifft zu, dass Hobbes die natürlichen Gesetze in allen seinen Schriften als göttliche Gesetze präsentiert oder sie in eine direkte Beziehung zu den Gesetzen Gottes setzt – etwa indem er die inhaltliche Übereinstimmung der natürlichen und der göttlichen Gesetze hervorhebt. Es gibt zudem in keinem der Werke hinreichende Indizien für die Annahme, Hobbes sei es mit den entsprechenden Hinweisen nicht ernst gewesen oder er habe sich die betreffende Sichtweise der natürlichen Gesetze selbst nicht zu eigen machen wollen. Den Interpretationen Taylors und Warrenders ist daher ohne jeden Zweifel das generelle Verdienst zuzusprechen, auf diese weitgehend vernachlässigte zweite Perspektive der Hobbes’schen Naturgesetzbeschreibung aufmerksam gemacht zu haben. Fraglich ist allerdings, inwiefern die Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze Gottes zu sein, einen Teil der eigentlichen wissenschaftlichen Lehre von den natürlichen Gesetzen ausmacht und ob dort, wo dies der Fall ist, in dieser Eigenschaft der primäre Status der Gesetze gesehen werden kann oder gesehen werden sollte. Bezüglich der ersten Frage sind im Rahmen unserer eingehenden Analyse gewisse Unterschiede zwischen den Texten der Elements und des lateinischen Leviathan auf der einen und den Texten des englischen Leviathan und von De Cive auf der anderen Seite zutage getreten. Da Hobbes sowohl in De Cive als auch im englischen Leviathan die natürlichen Gesetze nicht nur im Rahmen ihrer eigentlichen Beschreibung und Begründung als Gesetze Gottes präsentiert und mit dieser Tatsache auch die Redeweise von den ‚laws of nature‘ bzw. den ‚leges naturales‘ ausdrücklich rechtfertigt und da er darüber hinaus die Möglichkeit anerkennt, Gott mit Hilfe der natürlichen Vernunft als Vater, Herr und König der Menschen und die natürlichen Gesetze als Gesetze seines natürlichen Königreiches zu erkennen, gibt es hinsichtlich dieser beiden Fassungen der Hobbes’schen Theorie keinen zwingenden Grund, die Kennzeichnung der natürlichen Gesetze als Gesetze Gottes aus dem Bereich der rationalen und wissenschaftlichen Argumentation auszuschließen. Da die natürlichen Gesetze innerhalb der rational-wissenschaftlichen Argumentation sowohl als bloße Theoreme oder Folgerungen der Vernunft als auch als Befehle Gottes erscheinen, ist ihnen folglich – wie von Autoren wie Röd oder

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Spragens vorgeschlagen – mit Blick auf beide Texte prinzipiell ein doppelter Status zuzuschreiben. Im Fall der anderen beiden Texte ist der Befund weniger eindeutig. Der Text der Elements liefert insofern keine ausreichende Grundlage, um Hobbes’ Aussage, bei den natürlichen Gesetzen handle es sich um göttliche Gesetze, ganz sicher und eindeutig dem Bereich der wissenschaftlichen Argumentation zuzuordnen, als Hobbes nicht ausdrücklich zu der Frage Stellung bezieht, ob Gottes Rolle als Gesetzgeber mit Hilfe der natürlichen Vernunft eingesehen werden kann. Da Hobbes aber im siebzehnten Kapitel der Elements die Redeweise von den ‚natürlichen Gesetzen‘ mit der bloßen Tatsache erklärt, dass Gott der Autor der Natur ist, und da er im neunten Kapitel bekräftigt, dass die Rolle Gottes als einer ersten Ursache – und damit doch wohl auch die Rolle als Ursache oder Urheber der Natur – mit Hilfe der natürlichen Vernunft eingesehen werden kann, erscheint es nicht unmöglich, die Sichtweise, bei den natürlichen Gesetze handle es sich um Gesetze Gottes, als eine zu werten, die den Menschen prinzipiell auf Grundlage ihrer Vernunftfähigkeiten zugänglich ist und die für sich genommen auf keine weitergehenden Glaubensüberzeugungen angewiesen ist. Zu betonen bleibt dabei allerdings noch einmal, dass es sich bei der betreffenden Auffassung eher um eine Interpretation denn um eine direkte Erkenntnis handelt und dass mit dieser Interpretation keineswegs die Einsicht in jenseitige Sanktionierungen oder in eine spezifische Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze einhergeht. Dass die Position des lateinischen Leviathan nicht ganz eindeutig ist, d.h. dass sie nicht mehr so eindeutig ist wie noch die Position des englischen Leviathan, liegt daran, dass Hobbes im Rahmen seiner Ausführungen zum natürlichen Königreich Gottes auf die frühere Aussage verzichtet, die Menschen könnten mit Hilfe der Vernunft das Verhältnis Gottes zu den Menschen als das eines Vaters, Königs und Herrn einsehen. Da Hobbes allerdings auch im lateinischen Leviathan an der Behauptung festhält, die Menschen könnten mit Hilfe der Vernunft erkennen, dass Gott im Sinne einer ersten Ursache existiert, so steht die oben mit Blick auf die Elements skizzierte Interpretation der natürlichen Gesetze als Gesetze des Autors der Natur prinzipiell auch mit Blick auf den Text des lateinischen Leviathan offen. Die hier angedeuteten Abweichungen zwischen den vier Texten sollten daher letztlich nicht überbewertet werden. Es liegt vielmehr grundsätzlich nahe, von einer Kontinuität der eigentlichen Hobbes’schen Position anzugehen und anzunehmen, dass Hobbes zu allen Zeiten die Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze Gottes zu sein, als eine verstanden hat, die grundsätzlich mit Hilfe der natürlichen Vernunft eingesehen werden kann, wenn es sich bei der betreffenden Einsicht auch nicht um eine handeln mag, die so zwangsläufig und zwingend ist, wie die Einsicht, dass eine Befolgung der natürlichen Gesetze zur Erhaltung des Friedens und des eigenen Lebens notwendig ist. Den natürlichen

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Gesetzen kann folglich nicht nur mit Blick auf alle vier Schriften grundsätzlich ein doppelter Status zugestanden werden, sondern dieser doppelte Status kann auch mit guten Gründen prinzipiell als Teil des wissenschaftlichen Argumentes begriffen werden. Die oben angedeutete Differenzierung, nach der die Einsicht, dass die natürlichen Gesetze Gesetze Gottes sind, weniger zwingend und weniger grundlegend ist, zeigt aber bereits, dass es mit Blick auf alle vier Werke fragwürdig erscheinen muss, ob in der Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze oder Befehle Gottes zu sein, ihr primärer oder eigentlicher Status gesehen werden kann. Für die traditionelle Deutung, d.h. für die Sichtweise, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen primär um Regeln im Dienste der Selbsterhaltung und nur in einem sekundären und eher uneigentlichen Sinne um Befehle Gottes handelt, spricht nicht nur der gesamte Aufbau der Hobbes’schen Argumentation, in deren Verlauf die natürlichen Gesetze ja ausgehend vom Problem der Selbsterhaltung zunächst und umfassend als bloße Vernunfttheoreme entwickelt und begründet werden, sowie Hobbes’ programmatische Äußerungen, nach denen das Ziel seiner Moralwissenschaft darin besteht, die Lehre von den menschlichen Rechten und Pflichten auf sichere anthropologische Tatsachen zu gründen. Für die Sichtweise spricht vielmehr auch und vor allem, dass Hobbes die Einsicht in die natürlichen Gesetze und in die Notwendigkeit ihrer Befolgung als Einsicht präsentiert, die nicht nur jedem Menschen prinzipiell möglich ist, sondern die im Grunde genommen auch ausgesprochen leicht ist, und dass er vor diesem Hintergrund die natürlichen Gesetze als allgemeingültig und allgemein verbindlich versteht und ihre Missachtung als unentschuldbar ansieht. Der Hinweis, wie einfach es sei, die natürlichen Gesetze und die Notwendigkeit ihrer Befolgung einzusehen, findet sich in allen vier Schriften, mitunter gleich mehrfach. Die Tatsache, dass die natürlichen Gesetze für alle Menschen gleichermaßen gelten und dass ihre Nichtbefolgung angesichts der Einfachheit ihrer Erkenntnis und ihrer Befolgung unentschuldbar ist, wird von Hobbes zwar nur in den beiden Fassungen des Leviathan umfassender ausgeführt. Alle Indizien sprechen aber dafür, dass die dann im Leviathan ausdrücklich und eingehend bekräftigte Position auch schon den Darstellungen der Elements und von De Cive zugrundeliegt. In allen drei Schriften, in denen Hobbes ausführlich auf das natürliche Königreich Gottes zu sprechen kommt, präsentiert Hobbes jedoch die Gesetze Gottes als Gesetze, die nur für solche Individuen gelten und Verbindlichkeit beanspruchen können, die Untertanen Gottes sind. Um Untertanen Gottes handelt es sich aber keineswegs bei allen Menschen, sondern nur bei solchen, die faktisch an ihn, an sein natürliches Königreich und an seine Gesetze glauben. Während also die natürlichen Gesetze Hobbes’ Darstellung zufolge für jeden Mensch als Menschen gelten, gelten die Befehle Gottes bzw.

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die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes, obwohl sie grundsätzlich von allen Menschen mit Hilfe ihrer Vernunft in dieser Eigenschaft erkannt werden können, nicht für den Menschen als Menschen – d.h. nicht für den Menschen in seiner Eigenschaft als Geschöpf Gottes, als Bewohner der von Gott geschaffenen Erde und als Teilhaber der von Gott verliehenen Vernunft –, sondern nur für den Menschen als Gläubigen. Angesichts dieser Tatsache aber erscheint es ausgesprochen irreführend, in der Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze Gottes zu sein, ihren primären Status erblicken zu wollen, weil dies hieße, die natürlichen Gesetze mit Blick auf ihre primäre und vorrangige Bedeutung eben derjenigen umfassenden und allgemeinen Geltung und Verbindlichkeit zu berauben, mit der Hobbes sie ausdrücklich ausstattet. Wenn die Hobbes’sche Darstellung daher auch nicht in allen Schriften so eindeutig sein mag, wie sie es in den beiden Fassungen des Leviathan ist, so überwiegen doch letztlich mit Blick auf alle vier Schriften diejenigen Argumente, die dafür sprechen, die Hobbes’schen Naturgesetze vorrangig als Vernunfttheoreme zu begreifen und ihre Eigenschaft als Befehle oder Gesetze Gottes als sekundäre und lediglich ergänzende Eigenschaft zu verstehen, der innerhalb der eigentlichen Lehre von den natürlichen Gesetzen, keine wirklich tragende Rolle zukommt. Die ‚Taylor-Warrender-These‘ ist folglich mit Blick auf alle vier Schriften insgesamt zurückzuweisen, wenn diese Zurückweisung auch im Falle einiger Schriften etwas leichter fallen mag und wenn die Zurückweisung der Behauptung, den natürlichen Gesetzen komme moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne des Wortes zu, auch leichter fallen mag als die Zurückweisung der Auffassung, der primäre Status der natürlichen Gesetze und ihre primäre Bedeutung innerhalb der Hobbes’schen Theorie liege in ihrer Eigenschaft als Gesetze Gottes begründet. Dass die Interpretationen Taylors und Warrenders mit Blick auf keine der Hobbes’schen Schriften umfassende Geltung beanspruchen können, heißt jedoch keineswegs, dass Hobbes seine Lehre von den natürlichen Gesetzen im Hinblick auf die zentralen Apekte der ‚TaylorWarrender-These‘ keinerlei relevanten Überarbeitungen unterzogen hätte oder dass keinerlei Entwicklung zwischen den verschiedenen Fassungen zu beobachten wäre. So ist schon zwischen den beiden ersten Formulierungen der Hobbes’schen Theorie insofern eine gewisse Verschiebung festzustellen, als Hobbes seine Ausführungen in De Cive um umfangreiche theologische bzw. religiöse Erörterungen ergänzt, deren erster Abschnitt, nämlich das fünfzehnte Kapitel, das sich dem natürlichen Königreich Gottes widmet, nicht nur deutlicher als die vereinzelten theologischen und religiösen Aussagen der Elements als prinzipieller Bestandteil der rational-wissenschaftlichen Argumentation in Erscheinung tritt, sondern auch dafür verantwortlich ist, dass die Zurückweisung der ‚Taylor-Warrender-These‘ mit Blick auf diese zweite Formulierung der Hobbes’schen Lehre insgesamt am schwierigsten

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fällt. Da die eigentliche Lehre von den natürlichen Gesetzen, wie sie in den Kapiteln II und III von De Cive entwickelt wird, kaum schwerwiegende Überarbeitungen gegenüber dem Text der Elements aufweist – sieht man einmal von den quantitativ umfangreichen Überarbeitungen der weiteren Naturgesetze ab, die für den Gesamtzusammenhang der Hobbes’schen Argumentation aber nur von geringer Bedeutung sind –, und da keineswegs ausgeschlossen werden kann, dass Hobbes die in den neu hinzugefügten Kapiteln entwickelten Positionen grundsätzlich nicht auch schon zur Zeit der Elements vertreten hat, gibt es aber keinen hinreichenden Grund, um die in De Cive zu beobachtenden Abweichungen in den Rang einer konzeptuellen Neugestaltung der Naturgesetzlehre zu erheben, erst recht nicht, da sich bezüglich der zentralen Aspekte der ‚Taylor-Warrender-These‘ eine inhaltliche Kontinuität der Hobbes’schen Lehre durchaus mit guten Gründen behaupten ließ und die Interpretationen Taylors und Warrenders sich daher ja auch mit Blick auf den Text von De Cive letztlich in der gleichen Weise als unangemessen zurückweisen ließen wie mit Blick auf den Text der Elements. Die insgesamt deutlichste Entwicklung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre ist im Übergang von der Darstellung von De Cive zur Darstellung des englischen Leviathan zu beobachten. Dass diese Entwicklung nun sehr wohl als Ergebnis einer bewussten Neugestaltung der Hobbes’schen Argumentation gewertet werden kann und dass sie das Erscheinungsbild der Lehre von den natürlichen Gesetzen in wichtiger Weise verändert, liegt vor allem daran, dass sich eine Reihe der Überarbeitungen im Rahmen der eigentlichen Naturgesetzlehre vollziehen und dass den Veränderungen darüber hinaus eine direkte inhaltliche Relevanz für die Interpretation dieser Lehre und damit auch für die Bewertung der ‚Taylor-Warrender-These‘ zugesprochen werden kann. Zu den augenfälligsten Unterschieden zwischen dem englischen Leviathan und den beiden vorangegangenen Schriften zählt die Tatsache, dass Hobbes im englischen Leviathan vollständig darauf verzichtet, die von ihm beschriebenen natürlichen Gesetze aus dem Text der Heiligen Schrift zu bestätigen. Der zweite wichtige Unterschied besteht darin, dass Hobbes sowohl im Rahmen der eigentlichen Begründung und Beschreibung der natürlichen Gesetze, als auch in den direkt anschließenden Kapiteln darauf verzichtet, die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen, bei der es sich seinen Worten zufolge zunächst und vorrangig um eine Verpflichtung in foro interno handelt, als Gewissenspflicht auszuweisen, eine Kennzeichnung, die Hobbes erst deutlich später nachholt, so wie er die Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen auch erst viel später als in De Cive ausdrücklich als Verpflichtung gegenüber Gott präsentiert. Der Verzicht darauf, die Verpflichtung in foro interno explizit als Verpflichtung vor dem Gewissen zu beschreiben, erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass Hobbes im siebten Kapitel des englischen Leviathan die übliche moralisierende Verwendung des Begriffes ‚conscience‘ als metapho-

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risch bezeichnet und sich dadurch noch deutlicher von ihr distanziert, als er dies durch seine Gleichsetzung der Begriffe ‚conscience‘, ‚opinion‘ und ‚judgement‘ bereits in den Elements getan hat. Nimmt man diese Abweichungen zwischen dem Text des englischen Leviathan und dem Text von De Cive zusammen, so kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass Hobbes vor allem im Rahmen der eigentlichen Begründung und Beschreibung der natürlichen Gesetze, zum Teil aber auch in den späteren Kapiteln des englischen Leviathan, seine Argumentation bewusst in einer Weise überarbeitet, durch die die natürlichen Gesetzen stärker in ihrer Eigenschaft als bloße Regeln im Dienste der Selbsterhaltung in Erscheinung treten; durch die ihre Eigenschaft, Gesetze Gottes zu sein, weniger deutlich hervortritt als zuvor; und durch die der mögliche Eindruck, die natürlichen Gesetze könnten über eine besondere strikte moralische Verbindlichkeit verfügen, deutlich abgeschwächt wird. Diese Einschätzung der hier skizzierten Unterschiede zwischen dem Text des englischen Leviathan und dem von De Cive wird dadurch gestützt, dass Hobbes an mehreren Stellen des dritten Werkes neue Passagen in den Text einfügt, die den in De Cive mitunter entstandenen gegenläufigen Eindruck korrigieren. So distanziert Hobbes sich im fünfzehnten Kapitel im Kontext des dritten Naturgesetzes ausdrücklich von der Sichtweise, die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze leite sich aus jenseitigen Belohnungen und Bestrafungen her, mit denen Gott die Beachtung oder Missachtung der natürlichen Gesetze sanktionieren werden; so hebt er deutlich hervor, dass die einzigen Strafen Gottes, von denen die Menschen auf Grundlage der natürlichen Vernunft wissen können, in denjenigen negativen Konsequenzen bestehen, die innerhalb des irdischen Lebens ohnehin auf bestimmte Handlungsweisen folgen werden; und so hebt er insgesamt noch deutlicher und ausdrücklicher als in De Cive und in den Elements hervor, dass die natürlichen Gesetze anders als die Gesetze im natürlichen Königreich Gottes allein aufgrund der Tatsache, dass sie allen vernünftigen Wesen grundsätzlich zugänglich sind, verpflichten und ihre Missachtung unentschuldbar ist. Der Text des englischen Leviathan ist also insgesamt ohne jeden Zweifel von signifikanten Überarbeitungen gekennzeichnet, die den säkularen Charakter der Hobbes’schen Naturgesetzlehre gegenüber der theologisch-religiösen Komponente betonen und folglich die Unangemessenheit der Interpretationen Taylors und Warrenders noch wesentlich deutlicher hervortreten lassen, als dies mit Blick auf den Text von De Cive behauptet werden kann. Die damit konstatierte Entwicklung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre findet nun dadurch eine indirekte Bestätigung, dass sich die eindeutigere säkulare Ausrichtung der Naturgesetzlehre in der lateinischen Fassung des Leviathan weiter fortsetzt. Zwar finden sich insgesamt nur deutlich weniger Veränderungen gegenüber dem englischen Text, als dieser seinerseits gegenüber dem Text

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von De Cive aufweist. Dieses Manko wird aber dadurch aufgewogen, dass den betreffenden Überarbeitungen eine absolut zentrale Bedeutung zukommt. So verzichtet Hobbes im lateinischen Leviathan am Ende der eigentlichen Naturgesetzdiskussion erstmals vollständig darauf, die natürlichen Gesetze zu Gott als dem Autor der Natur oder dem Gesetzgeber eines natürlichen Königreiches in Beziehung zu setzen, eine Tatsache, die in der Hobbes-Forschung bislang nahezu unbemerkt geblieben ist,406 die aber ein weiteres entscheidendes Indiz für die oben beschriebene bewusste Neugestaltung der Naturgesetzlehre, d.h. für die bewusste Reinigung der eigentlichen Begründung und Beschreibung der natürlichen Gesetze von theologisch-religiösen Anklängen liefert, erst recht, wenn man sie im Verbund mit den anderen diesbezüglichen Überarbeitungen der Kapitel XIV und XV betrachtet, auf die in der HobbesForschung bislang überhaupt noch nicht hingewiesen worden ist. Bei diesen Überarbeitungen handelt es sich um Hobbes’ Streichung des Verweises auf die Verheißung des Paradieses in Kapitel XIV; um seine Entscheidung, den naturzuständlichen Verstoß gegen die Naturgesetze nicht mehr mit dem Begriff der Sünde, sondern mit dem des Lasters zu bezeichnen; und um die Tatsache, dass Hobbes die Bedeutung eines Eides für die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen nicht mehr – wie noch im englischen Leviathan – durch die Aussage zurückweist, ein Vertrag binde auch ohne Eid vor Gott, sondern durch die Aussage, ein Vertrag binde auch ohne Eid kraft des natürlichen Gesetzes. Die entscheidende Bedeutung, die diesen Überarbeitungen im Hinblick auf den Charakter der Naturgesetzlehre des lateinischen Leviathan zukommt, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass als Folge der betreffenden Umformulierungen die natürlichen Gesetze nun erstmals an keiner Stelle der eigentlichen Naturgesetzlehre überhaupt als Gesetze Gottes präsentiert werden, und diese äußerliche Neugestaltung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre muss umso bedeutender erscheinen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass gerade die Darstellung des lateinischen Leviathan von dem Bestreben gekennzeichnet ist, den Vorwurf der Ketzerei zu entkräften und die Übereinstimmung der vorgetragenen Lehre mit den Lehren und Forderungen des Christentums herauszustellen. Dass Hobbes seinem Text die drei Dialoge „De Symbolo Niceno“, „De Haeresi“ and „De quibusdam Objectionibus contra Leviathan“ hinzufügt und seine Ausführungen an einigen weiteren Stellen um religiöse oder theologische Bezugnahmen ergänzt, um dann ausgerechnet im Rahmen seiner Naturgesetzlehre, also da, wo sich derartige Bezugnahmen besonders leicht hätten herstellen lassen, geradezu peinlich genau die früheren religiösen und theologischen Verweise zu streichen und die Eigenschaft der natürlichen Gesetze, Gesetze Gottes zu sein, ent_____________ 406 Der einzige Hinweis auf diese Tatsache findet sich, soweit ich sehe, bei Harrison (vgl. Harrison 2003: 89).

6.6 Zusammenfassung

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scheidend zurücktreten zu lassen, bezeugt nachhaltig, wie sehr Hobbes daran gelegen gewesen sein muss, seine Lehre von den natürlichen Gesetzen als eine säkulare, von religiösen Überzeugungen unabhängige Moraltheorie zu präsentieren, und es lässt die Behauptung, Hobbes selbst habe die natürlichen Gesetze primär als Befehle Gottes verstanden, als eine unbegründete und absolut unzulässige Spekulation erscheinen. Der eingehende Vergleich der vier Hobbes’schen Schriften vermag daher insgesamt einen mehrfachen und gleichsam ambivalenten Beitrag zur ‚TaylorWarrender-Debatte‘ zu leisten. Auf der einen Seite macht er deutlich, dass die Interpretationen Taylors und Warrenders mit Blick auf keine der vier Schriften eine wirkliche Berechtigung behaupten können, dass also die Entscheidung zwischen der traditionellen Lesart, der ‚Taylor-Warrender-These‘ oder den Interpretationen Gerts und Harveys allen Unterschieden zwischen den vier Hobbes’schen Schriften zum Trotz keineswegs, wie etwa von Gert, vor allem aber von Taylor nahegelegt, von der Entscheidung abhängig ist, auf welchen der Texte man sich bezieht und welchen der Texte man als definitive Formulierung der Hobbes’schen Theorie ansieht. Zwar mag Taylors Präferenz für den Text von De Cive in gewisser Weise durch die Tatsache erhellt werden, dass die traditionelle Lesart sich mit Blick auf diese Version der Hobbes’schen Philosophie den insgesamt größten Schwierigkeiten gegenübersieht. Auch mit Blick auf De Cive kommt man aber letztlich nicht umhin, eine Überlegenheit der traditionellen Lesart gegenüber der Interpretation Taylors zu konstatieren, und im Hinblick auf die Interpretation Gerts – wie auch im Hinblick auf die Interpretation Harveys – sind überhaupt keine signifikanten Unterschiede zwischen den vier Schriften auszumachen. Auf der anderen Seite offenbart der Vergleich der Schriften, dass die Naturgesetzlehren des englischen und des lateinischen Leviathan von einer Entwicklung gekennzeichnet sind, die die Hobbes’sche Moraltheorie einer Deutung als ‚divine command theory‘ in zunehmendem Maße weiter entzieht. Gibt es schon in den Elements und in De Cive keine ausreichenden Argumente, die für eine Übernahme der ‚Taylor-Warrender-These‘ sprechen, so wird die Unangemessenheit der These im Zuge der Weiterentwicklung der Hobbes’schen Lehre noch deutlicher und deutlicher, da Hobbes’ Ausführungen – vor allem im Rahmen der eigentlichen Begründung und Beschreibung der natürlichen Gesetze – von dem Bestreben gekennzeichnet sind, religiöse und theologische Anklänge mehr und mehr zu vermeiden und die Deutung der natürlichen Gesetze als Gesetze Gottes immer konsequenter auf die späteren Kapitel seiner Werke zu beschränken, denen nicht die Funktion zukommt, die Lehre von den natürlichen Gesetzen zu entfalten oder zu begründen, sondern die ihre Existenz Hobbes’ eigenem Bekenntnis zufolge lediglich dem Interesse verdanken, die Annahme zu widerlegen, die natürlichen Gesetze und die

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6. Die natürlichen Gesetze

Gesetze Gottes könnten einander widerstreiten und die naturgesetzlichen Gebote könnten gläubige Christen daher in moralische Dilemmata stürzen. Die damit zu konstatierende Tendenz der Hobbes’schen Lehre liefert ein zusätzliches, entwicklungsgeschichtliches Argument für die Zurückweisung der ‚Taylor-Warrender-These‘. Wenn der theologische Charakter der Hobbes’schen Naturgesetzlehre nicht nur in den späteren Werken aus mehr oder minder zufälligen Gründen weniger deutlich zum Ausdruck kommt als in den früheren Werken, sondern wenn diese Tatsache als Folge einer bewussten und relativ kontinuierlichen Überarbeitung der früheren Ausführungen begriffen werden muss, dann erscheint die Position, die Hobbes’sche Lehre von den natürlichen Gesetzen sei ‚eigentlich‘ eine ‚divine command theory‘, etwa weil der Text von De Cive mit Blick auf die Lehre von den natürlichen Gesetzen den ‚eigentlichen Hobbes‘ enthalte, als ausgesprochen problematisch. Die Darstellungen des englischen und des lateinischen Leviathan zeigen nicht nur, dass Hobbes offensichtlich ausreichende Gründe gesehen hat, seine frühere Darstellung an einigen Stellen zu modifizieren, sondern sie erwecken auch durchaus den Eindruck, als habe Hobbes seine Position nicht so sehr aufgeben und verändern, sondern vielmehr klarstellen wollen. Es liegt daher weitaus näher, die Naturgesetzlehre des englischen bzw. des lateinischen Leviathan als definitive Formulierung der Hobbes’schen Moralphilosophie zu werten, als diese in der mitunter etwas unklaren und widersprüchlichen Darstellung von De Cive erblicken zu wollen. Tut man dies aber, dann bleibt eine noch deutlich geringere Grundlage, um der ‚Taylor-Warrender-These‘ mit Blick auf die Hobbes’sche Philosophie eine Berechtigung zuzusprechen. Wenn aber angesichts der Unterschiede zwischen der Darstellung von De Cive und der Darstellung des englischen Leviathan auch in der Tat eine Entwicklung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre konstatiert werden kann, die in der Zeit zwischen 1642 und 1651 ins Werk gesetzt wird, so handelt es sich doch bei dieser Entwicklung, die nach 1651 in gewisser Weise weiter geführt wird, keineswegs um die von Ludwig behauptete und skizzierte inhaltlichkonzeptuelle Neuausrichtung der Hobbes’schen Theorie. Die eingehende Prüfung der Hobbes’schen Schriften liefert nicht nur keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Hobbes seine Lehre von den natürlichen Gesetzen in den früheren Werken inhaltlich stärker als theistische Lehre begriffen hat oder dass er sie auf einen anderen, einen werthaltigeren Begriff der Vernunft im Sinne des traditionellen Begriffes der recta ratio hat stützen wollen. Es gibt vielmehr auch keine äußeren terminologischen Anhaltspunkte für Ludwigs zentrale These, dass die Argumentation des englischen Leviathan von einer strikten Trennung von Moral- und Verpflichtungstheorie gekennzeichnet ist. In allen vier Werken präsentiert Hobbes sowohl die natürlichen Gesetze als auch freiwillig geschlossene Verträge ausdrücklich und konsequent als verpflichtend. Da es sich zudem bei den Elements um demjenigen Text handelt, in dem die betref-

6.6 Zusammenfassung

395

fende Charakterisierung der natürlichen Gesetze insgesamt am seltensten erfolgt, erscheint Ludwigs Behauptung, in beiden frühen Schriften erschienen die natürlichen Gesetze noch als Ursprung von Verpflichtungen, im englischen Leviathan aber als weitgehend deskriptive Umschreibungen bestimmter nicht-verbindlicher Charaktereigenschaften, als ausgesprochen irreführend. Wie begründet Ludwigs These einer Trennung von Moral- und Vertragstheorie jedoch letztlich ist, kann erst nach einer eingehenden Analyse der Hobbes’schen Theorie der Verträge und der vertraglichen Verpflichtung abschließend beantwortet werden. Eine zweite entwicklungsgeschichtliche These, an der angesichts der obigen Untersuchungsergebnisse gewisse Zweifel angebracht scheinen, ist die von Miner zumindest angedeutete Einschätzung, dass der Text der Elements of Law eine etwas umfassendere Grundlage für die Bewertung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre als einer tugendethischen Theorie liefere als der Text von De Cive oder die Darstellung des englischen Leviathan. Wenn die spezifischen Ausführungen Miners im Rahmen unserer Untersuchung auch nicht eingehend erörtert worden sind, so hat doch die Analyse der Hobbes’schen Werke deutlich gemacht, dass Aufbau und Inhalt der Hobbes’schen Argumentation in keiner der vier Schriften einen hinreichenden Anlass liefern, um die Hobbes’sche Moralphilosophie als Theorie der Tugenden und Laster zu begreifen, wobei sich zudem die häufigsten Hinweise, die rein äußerlich eine derartige Einschätzung nahelegen, eher im englischen Leviathan als in den Elements finden. Will man die Bewertung der Hobbes’schen Moralphilosophie nicht auf die bloße Tatsache gründen, dass Hobbes selbst seine Theorie an einigen Stellen als Wissenschaft der Tugenden und Laster präsentiert, oder auf die als trivial zu bewertende Tatsache, dass sich der Wert, der bestimmten Handlungsweisen im Hinblick auf das Ziel des dauerhaften Friedens zukommt, auch auf solche Charaktereigenschaften erstreckt, die die betreffenden Handlungsweisen hervorzubringen in der Lage sind, dann lassen sich wenig Argumente dafür finden, der Hobbes’schen Moralphilosophie den von Autoren wie Gert, Ewin, Boonin-Vail und Berkowitz geforderten Status einer ‚theory of virtues and vices‘ zuzuerkennen. Der Schwerpunkt der Hobbes’schen Argumentation liegt in allen vier Werken eindeutig darauf, bestimmte Handlungsweisen und Handlungsregeln zu beschreiben, die dem Ziel des Friedens und damit auch dem fundamentalen Ziel der Selbsterhaltung zuträglich sind. Und da die Charaktereigenschaften, die von Hobbes als Tugenden beschrieben werden, ihren Wert und damit ihren Status als Tugenden allein aus dem instrumentellen Beitrag herleiten, den sie faktisch zur Ausführung der entsprechenden Handlungen und zur Erreichung des Ziels der Selbsterhaltung leisten, kommt dem Handlungsbegriff auch in logischer Hinsicht eindeutig der Primat gegenüber dem Tugendbegriff zu, eine Tatsache, die es als wenig erhellend erscheinen lässt, dem Tugendbegriff in der äußeren Einordnung

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6. Die natürlichen Gesetze

und Bewertung der Hobbes’schen Moraltheorie einen derartig zentralen Platz zuzuweisen, wie die oben genannten Autoren dies vorschlagen.

7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie 7.1 Einleitung Es ist bereits im Rahmen unserer Einführung in die ‚Taylor-WarrenderDebatte‘ darauf hingewiesen worden, dass einige Autoren, die mit Blick auf die Frage nach dem Status und der Verpflichtungskraft der natürlichen Gesetze eindeutig der traditionellen Lesart zugeordnet werden können, dennoch die Auffassung vertreten, Hobbes entwickle, wie von Taylor und Warrender behauptet, innerhalb seines Systems den Begriff einer Verbindlichkeit im strikt moralischen Sinne. Wie oben schon deutlich geworden ist, handelt es sich nach Einschätzung der betreffenden Autoren bei dieser strikt moralischen Verpflichtung um eine vertraglich generierte Selbstverpflichtung, die von der Geltung des dritten Naturgesetzes logisch unabhängig ist. Angesichts dieser logischen Unabhängigkeit von naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung und vor allem angesichts des qualitativen Unterschiedes der beiden Verpflichtungsarten ist von den Autoren eine gesonderte Betrachtung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre auf der einen und der Hobbes’schen Vertragstheorie auf der anderen Seite gefordert worden und – so etwa im Fall von Ludwig – zum Teil auch relativ konsequent in die Tat umgesetzt worden. Unsere bisherige Diskussion der Hobbes’schen Naturzustandslehre ist dieser Forderung grundsätzlich gefolgt. Der Existenz der Interpretationen Ludwigs, Barrys und Raphaels ist zudem auch insofern Tribut gezollt worden, als im Rahmen unserer Diskussion der ‚Taylor-Warrender-These‘ auf ein zentrales Argument Taylors und Warrenders nicht eigens eingegangen worden ist, auf die Behauptung nämlich, dass den Bürgern des Hobbes’schen Staates nur dann eine im strengen Sinne moralische Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem staatlichen Souverän zukommen kann, wenn es sich auch bei der vorbzw. außerstaatlichen Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze um eine solche strikt moralische Pflicht handelt, eine Behauptung, die bei der von Ludwig, Barry und Raphael angedeuteten Rückführung der strikt moralischen Gehorsamspflicht der Bürger auf den Akt der vertraglichen Selbstbindung notwendigerweise ihre argumentative Kraft einbüßen muss. Mit dieser gleichsam provisorischen Berücksichtigung der Positionen Ludwigs, Barrys und Raphaels verbindet sich aber weder die inhaltliche Festlegung, dass die von diesen Autoren vertretene Rückführung der bürgerlichen Gehorsamspflicht auf die Rechtsfigur des Vertrages der Hobbes’schen Argu-

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

mentation angemessen oder dass sie zumindest im Sinne einer Rekonstruktion der Hobbes’schen Position möglich ist. Noch soll damit bereits der Auffassung zugestimmt werden, dass es sich bei der Gehorsamspflicht der Bürger überhaupt in der von Ludwig, Barry und Raphael sowie auch von Taylor und Warrender vorausgesetzten Weise um eine moralische Verpflichtung im strengen Sinne handelt. Unsere bisherige Diskussion der Hobbes’schen Naturgesetzlehre und des Hobbes’schen Begriffs der Verpflichtung lässt vielmehr sowohl die Möglichkeit offen, dass aus den Hobbes’schen Verträgen und aus dem Gesellschaftsvertrag im Besonderen strikt moralische Verbindlichkeiten hervorgehen, die in ihrer Geltung vom dritten Naturgesetz unabhängig sind, als auch die Möglichkeit, dass es innerhalb des Hobbes’schen Systems überhaupt keine derartigen strikt moralischen Verbindlichkeiten gibt und sich alle Verpflichtungen der Hobbes’schen Individuen, d.h. auch die Verpflichtung gegenüber Vertragspartnern und dem staatlichen Gesetzgeber, auf bloße Klugheitspflichten reduzieren lassen. Die einzige Möglichkeit, die durch unsere bisherige Erörterung und unsere Zurückweisung der ‚TaylorWarrender-These‘ ausgeschlossen ist, ist die von Taylor und Warrender vertretene Sichtweise, dass es sich bei den positiven Gesetzen um im strengen Sinne verbindliche Gesetze handelt, sich diese Verbindlichkeit aber nicht auf die Rechtsfigur des Vertrages als solcher, sondern in letzter Konsequenz auf das dritte natürliche Gesetz gründet. Da das dritte natürliche Gesetze wie auch die anderen Naturgesetze lediglich eine prudenzielle Verpflichtung zu generieren imstande ist, muss eine etwaige strikt moralische Gehorsamspflicht der Hobbes’schen Bürger grundsätzlich eine andere theoretische Basis haben, als sie mit den natürlichen Gesetzen gegeben ist, und bei dem von Ludwig, Barry und Raphael bemühten Begriff der freiwilligen vertraglichen Selbstbindung handelt es sich in der Tat um das einzige Element der Hobbes’schen Lehre, das für die betreffende Rolle überhaupt in Betracht kommen kann. Es bleibt daher im Folgenden zu untersuchen, inwiefern die von Ludwig, Barry und Raphael vertretene deontologische Lesart der Hobbes’schen Vertragstheorie und insbesondere die kategorische Unterscheidung von naturgesetzlicher und vertraglicher Pflicht letztlich mit Hobbes’ Darstellung übereinstimmt bzw. von ihr aus gerechtfertigt werden kann. In den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Arbeit ist bereits deutlich geworden, dass die Termini, auf die Hobbes im Rahmen seiner Beschreibung naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung zurückgreift, keine Indizien für die Auffassung liefern, die Verpflichtung der Hobbes’schen Individuen gegenüber den Naturgesetzen und die Verpflichtung gegenüber den freiwillig von ihnen geschlossenen Verträgen seien prinzipiell unterschiedlich geartet. Wenn diese Tatsache aber auch nahelegen mag, dass es sich bei den vertraglichen Pflichten und damit letztlich auch bei der Pflicht zur Befolgung der staatlichen Gesetze nur um Klugheitspflichten handeln dürfte, die ihren Geltungsgrund

7.1 Einleitung

399

in den langfristigen Interessen der Handelnden haben, so bedürfen die Hobbes’sche Vertragstheorie und Hobbes’ Verständnis der bürgerlichen Gehorsamspflicht doch ohne jeden Zweifel noch einer umfassenderen Prüfung. Diese erscheint umso erforderlicher angesichts der Tatsache, dass einige von Hobbes’ inhaltlichen Aussagen durchaus in eine andere Richtung zu weisen scheinen. Die Untersuchung der Hobbes’schen Vertrags- und Gesetzestheorie wird sich dabei im Folgenden relativ konsequent auf solche Passagen beschränken, die für die zentrale Frage nach der Verbindlichkeit vertraglicher Übereinkünfte und der daraus abgeleiteten Verbindlichkeit der staatlichen Gesetze von direkter Relevanz sind. Die Untersuchung wird daher denjenigen Teil von Hobbes’ vertrags- und gesetzestheoretischen Ausführungen weitestgehend außen vor lassen, der eher einem allgemeinen definitorischen Anliegen verpflichtet ist. Wie oben deutlich geworden ist, ist schon Hobbes’ Ableitung der weiteren natürlichen Gesetze von einem derartigen Anliegen gekennzeichnet und umfasst daher eine Reihe von Ausführungen, die für das eigentliche Naturzustandsargument von einem höchstens untergeordneten Interesse sind. Auf Hobbes’ Vertragstheorie trifft dies nun in einem noch größeren Maße zu. Ein beträchtlicher Teil der vertragstheoretischen Erörterungen scheint von dem Bemühen geprägt, eine möglichst umfassende Theorie und eine möglichst vollständige Klassifizierung menschlicher Übereinkünfte vorzulegen, ein Bemühen, das seinen Ursprung eher in den juristischen Diskursen von Hobbes’ Zeit als in den konkreten Zielen und Anforderungen seiner politischen Theorie haben dürfte. Wenn die Hobbes’sche Vertragstheorie daher auch im Rahmen der Naturzustandstheorie und im Kontext der natürlichen Gesetze entwickelt wird, so handelt es sich doch bei ihr letztlich um eine weitgehend eigenständige Theorie, die in ihrer Gesamtheit kaum als integraler Bestandteil der Naturzustandstheorie gelten kann. In direktem inhaltlichen Zusammenhang mit der Naturzustandstheorie steht die Vertragstheorie nur dort, wo ihr eine inhaltliche Relevanz für das Hobbes’sche Naturzustandsargument zukommt, und dies trifft fast ausschließlich auf solche Passagen zu, die sich den Fragen der Notwendigkeit, der Geltung und der Verpflichtungskraft vertraglicher Übereinkünfte widmen und damit einen direkten Beitrag zur theoretischen Fundierung der Hobbes’schen Staats- und Souveränitätstheorie leisten. Auf die Frage, warum der Abschluss von Verträgen notwendig ist, ist oben bereits hinreichend eingegangen worden. Ziel kann es daher im Folgenden nur sein, diejenigen Passagen der Hobbes’schen Vertragstheorie eingehender zu analysieren, in denen Hobbes die Geltung vertraglicher Übereinkünfte und die damit generierten Verpflichtungen beschreibt. Zu den betreffenden Passagen gehören freilich auch solche, in denen Hobbes auf die verpflichtende Kraft der staatlichen Gesetze eingeht. Diese Passagen finden

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

sich zwar jeweils erst in den späteren Kapiteln der vier Schriften, d.h. im Anschluss an die eigentliche Vertragstheorie. Für die Beantwortung der Frage nach der Verbindlichkeit vertraglicher Übereinkünfte sind die entsprechenden Passagen aber ebenso unverzichtbar wie für die abschließende Bewertung sowohl der Deutungen Ludwigs, Barrys und Raphaels als auch der Interpretationen Taylors und Warrenders. Da die Position Ludwigs, so wie auch die Positionen von Raphael und Barry als den Vorläufern Ludwigs, in Kapitel 6.1.6 schon ausführlich dargelegt worden ist, kann an dieser Stelle von einer umfassenden Erörterung der in Frage stehenden Deutungen abgesehen werden. Auch auf die Gegenposition, wie sie vor allem von Autoren wie Nagel, Hampton, Esfeld und Loukola vertreten worden ist, soll hier nicht noch einmal eigens eingegangen werden. Der Vollständigkeit halber ist allerdings noch einmal darauf hinzuweisen, dass Interpretationen, die denen Raphaels, Barrys und Ludwigs vergleichbar sind, auch von einigen anderen Autoren vertreten oder zumindest angedeutet worden sind. Andeutungen zu der zuerst von Raphael und Barry formulierten deontologischen Deutung finden sich schon bei Oakeshott, der die vermeintliche moralische Verpflichtung der Bürger gegenüber den positiven Gesetze aber nicht auf den Gesellschaftsvertrag zurückführt, sondern auf den Akt der Autorisierung der souveränen Herrschers.1 Oakeshotts Position bleibt dabei allerdings insgesamt ein wenig unklar, und Ähnliches trifft auf die Positionen Gauthiers, Kavkas und Kerstings zu, die einerseits mit Nachdruck die Bedeutung der vertraglichen Selbstbindung als eines willentlichen Aktes hervorheben, die Vertragspflichten aber dennoch in einer gewissen Bindung an das menschliche Eigeninteresse zu belassen scheinen.2 Am deutlichsten haben sich in der jüngeren Vergangenheit Ewin und Harvey zu der deontologischen Deutung der Hobbes’schen Verträge bekannt. Ewin betont ausdrücklich, dass die Verpflichtung zur Vertragserfüllung von prudenziellen Erwägungen unabhängig sei und allein aus der Tatsache folge, dass das betroffene Individuum die Erbringung der in Frage stehenden Leistung versprochen habe.3 Und Harvey relativiert seine zunächst vertretene, oben bereits dargelegte Position in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz „Teasing a limited deontological theory of morals out of Hobbes“ dahingehend, dass er Hobbes nun nur noch eine begrenzt-deontologische Position zuschreibt, derzufolge zwar nicht die natürlichen Gesetze, aber immerhin alle freiwilligen Rechtsübertragungen eine moralische Verpflichtung im strengen Sinne nach sich ziehen, die als solche nicht im Eigeninteresse des Handelnden begründet liege und auch unabhängig von egoistischen Erwägungen erfüllt werden könne.4 _____________ 1 2 3 4

Vgl. Oakeshott 1960: LIX-LXI. Vgl. Gauthier 1969: 40ff. und 60f.; Kavka 1986: 303ff.; und Kersting 1992: 136f. Vgl. Ewin 1991: 114f. Vgl. Harvey 2004: 37f. und 40.

7.1 Einleitung

401

Eine Position, die der Position Harveys zumindest zum Teil verwandt ist, ist zuvor von Eleanor Curran vertreten worden, die zwar nicht die Hobbes’sche Vertrags- oder Verpflichtungstheorie, sondern den Hobbes’schen Rechtsbegriff in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rückt, die aber wie Harvey und Raphael und gegen Autoren wie Hampton betont, aus der vertraglichen Übertragung von Rechten entstünden genuine ‚claim-rights‘, Rechte also, denen Verpflichtungen auf Seiten anderer Individuen korrespondierten.5 Curran verzichtet zwar darauf, diese korrespondierenden Verpflichtungen eingehender zu beschreiben. Es scheint aber, als verstehe auch sie die neuen und gleichsam künstlich geschaffenen Verpflichtungen, die sich aus der vertraglichen Übereinkunft zweier oder mehrerer Individuen ergeben, als von den ursprünglichen naturgesetzlichen Pflichten qualitativ verschieden. Eine direkte Relevanz für die Untersuchung und Bewertung der von Ludwig, Barry und Raphael skizzierten Deutungen der vertraglichen Selbstbindung kommt darüber hinaus auch solchen Studien zu, die sich mit dem Hobbes’schen Freiheitsbegriff und seinem Verhältnis zum Begriff der Verpflichtung beschäftigen, wie dies auf die meisten der schon in Kapitel 5.1.1 angesprochenen Studien und daneben auf die Studien von Rosamond Rhodes und Michael LeBuffe zutrifft. So ist der Wert der Interpretationen Ludwigs, Barrys und Raphaels nicht zuletzt von der Frage abhängig, ob der Hobbes’sche Freiheitsbegriff es erlaubt, aus dem Akt der freiwilligen Rechtsaufgabe eine Verpflichtung im strikt moralischen Sinne abzuleiten bzw. wie die Entstehung dieser Verpflichtung aus dem freien Willensentscheid des Individuums im Rahmen des Hobbes’schen Systems zu denken ist. Die möglichen Probleme, denen sich eine solche Herleitung einer strikt moralischen Verpflichtung aus dem Faktum der vertraglichen Übereinkunft gegenübersieht, sind bislang insgesamt nicht deutlich genug gesehen und folglich auch nicht umfassend diskutiert worden. Auf eine Darstellung der bisherigen Debatte kann daher an dieser Stelle verzichtet werden. Sowohl die angedeuteten Probleme als auch die von Ludwig, von Leyden, Rhodes und LeBuffe vorgeschlagenen Deutungen des Vertragsaktes werden aber im Rahmen der konkreten Erörterung des Hobbes’schen Textes noch etwas eingehender zur Sprache gebracht werden. Abschließend bleibt noch auf eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der Hobbes’schen Vertragstheorie hinzuweisen, die kürzlich von Luc Foisneau vorgelegt worden ist. Foisneaus Thesen stehen zwar vordergründig in keiner direkten Verbindung zum Problem der Verpflichtung. Dennoch können sie im Rahmen einer vergleichenden Studie zur Hobbes’schen Naturzustandstheorie nicht einfach übergangen werden. Nach Foisneau ergänzt Hobbes seine Argumentation im englischen Leviathan um eine allgemeine _____________ 5

Vgl. Curran 2002: 69-72.

402

7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Theorie der Gerechtigkeit, dessen Mittelpunkt eine formale Definition des Begriffes ‚justice‘ bildet, nach der die Gerechtigkeit in der Erfüllung gültiger Verträge besteht. Während die beiden früheren Werke laut Foisneau noch Beispiel für die zeitgenössische Krise des Gerechtigkeitskonzeptes geben, die in Hobbes’ weitgehender Zurückweisung des Konzeptes ihren Ausdruck finde, entwickle Hobbes im englischen Leviathan vor dem Hintergrund seiner Vertragstheorie eine neue, eigene Definition des Begriffes ‚justice‘ und versuche auf diese Weise, die Krise des Konzeptes zu überwinden.6 Bei aller Konzentration auf die Frage nach dem Status der vertraglich generierten Verpflichtung wird im Folgenden auch zu untersuchen sein, inwiefern Hobbes’ Vertragstheorie in der Tat von einem solchen veränderten Umgang mit dem Begriff der Gerechtigkeit gekennzeichnet ist, nicht zuletzt, da nicht gänzlich auszuschließen ist, dass sich die von Foisneau und die von Ludwig behaupteten Revisionen der Hobbes’schen Vertragstheorie im englischen Leviathan sinnvoll zueinander in Beziehung setzen lassen würden.

7.2 The Elements of Law 7.2.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre Wie schon im Rahmen unserer Diskussion der Hobbes’schen Naturgesetze angemerkt, entwickelt Hobbes seine Theorie vertraglicher Übereinkünfte im direkten Anschluss an seine Formulierung des zweiten natürlichen Gesetzes in Kapitel XV. Nachdem Hobbes mit Hilfe des zweiten Naturgesetzes der Notwendigkeit Ausdruck verliehen hat, zum Zweck des dauerhaften Friedens das individuelle ‚Recht auf alles‘ aufzugeben, widmet er sich der eingehenden Beschreibung von ‚contracts‘, covenants’ und ‚free gifts‘ als denjenigen Rechtsfiguren, mit denen die Aufgabe des uneingeschränkten natürlichen Rechts konkret in die Tat umgesetzt werden kann. Zunächst unterscheidet Hobbes dabei mit Hilfe der Begriffe ‚relinquishment‘ und ‚transfer‘ die beiden grundlegenden Formen, in denen sich die Entäußerung von Rechten vollziehen kann.7 Wenn Hobbes’ diesbezügliche Aussagen auch etwas knapp gehalten sind, so versteht er doch offenbar die Rechtsübertragung als das umfassendere Konzept, welches das begrenztere Konzept des Rechtsverzichts notwendig miteinschließt. So definiert er den Rechtsverzicht im Sinne seines permissiven Rechtsbegriffes als den einfachen und individuellen Verzicht darauf, bestimmte Handlungen weiterhin auszuführen, definiert sie also so, dass sie nicht die Beteiligung weiterer Personen voraussetzt und folglich für _____________ 6 7

Vgl. Foisneau 2004: 106f. Vgl. E: 75f.

7.2 The Elements of Law

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sich genommen auch keinerlei Übereinkunft darstellt. Eine solche liegt erst vor, wenn das aufgegebene Recht einem bestimmten anderen Menschen übertragen worden ist, sich also mit der Aufgabe die gezielte Erklärung verbindet, ein bestimmtes anderes Individuum fortan nicht mehr bei der Ausführung solcher Handlungen zu stören, die zuvor in Konflikt mit dem nun aufgegebenen eigenen Freiheitsrecht gestanden haben oder zumindest hätten stehen können. Wichtig ist Hobbes dabei vor allem klarzustellen, dass angesichts des universalen ‚Rechts auf alles‘ die Aufgabe des natürlichen Rechts nicht im eigentlichen Sinne des Wortes als ‚Übertragung‘ verstanden werden könne, da jeder der möglichen Vertragspartner ja bereits selbst über ein uneingeschränktes Recht verfüge, ihm mit dem Vertrag also kein Recht übertragen werden könne, welches er nicht bereits besitze. Da nur durch die Übertragung des natürlichen Rechts eine Atmosphäre des Friedens und der Sicherheit geschaffen werden kann, beschäftigt sich Hobbes’ Argumentation im Folgenden ausschließlich mit der Rechtsübertragung und geht auf die Möglichkeit des einfachen Rechtsverzichts nicht weiter ein. Die anschließenden drei Abschnitte beschäftigen sich dabei zunächst mit der Frage, welche Bedingungen erfüllt, d.h. welche Handlungen und Erklärungen erfolgt sein müssen, damit eine Rechtsübertragung gültig vollzogen wird. Hobbes richtet sein Augenmerk in diesem Zusammenhang vor allem auf die sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen, mit denen die Vertragsparteien rechtswirksam ihre Zustimmung zu der in Frage stehenden Vereinbarung erklären können, und er hebt hervor, dass Worte, die sich auf die Zukunft beziehen, grundsätzlich einer Ergänzung durch nicht-sprachliche Zeichen bedürfen. Der folgende siebte Paragraph beschreibt dann mit der freiwilligen Schenkung die erste mögliche Form einer konkreten Rechtsübertragung. Hobbes definiert die Schenkung als eine Rechtsübertragung, die nicht im Hinblick auf einen wechselseitigen Nutzen vollzogen wird („When a man transferreth any right of his to another, without consideration of reciprocal benefit“8). Die auf die Definition folgende Erörterung der Frage, ob eine Schenkung auch als Versprechen vollzogen werden kann, zu einem späteren Zeitpunkt eine Schenkung vorzunehmen, ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie auf den Zusammenhang von Überlegungsprozess, Willenserklärung und Verpflichtung Bezug nimmt und vor dem Hintergrund der Aussagen in den vorangegangenen Kapiteln der Elements diejenigen Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit ein Individuum konkrete Verbindlichkeiten auf sich nehmen kann. Auf die betreffenden Aussagen wird daher im Rahmen der kritischen Prüfung der deontologischen Lesart noch detaillierter einzugehen sein. _____________ 8

E: 77.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Im Anschluss an seine Erörterung der freiwilligen Schenkung widmet sich Hobbes denjenigen Rechtsübertragungen, die sehr wohl auf die Erwägung eines wechselseitigen Vorteils gegründet sind und die er allgemein mit dem Begriff „CONTRACT“9 bezeichnet. Wie an früherer Stelle bereits angemerkt, klassifiziert Hobbes die verschiedenen Arten von Verträgen dahingehend, ob beide Parteien die jeweils versprochene Leistung sofort erbringen oder ob die Erbringung für einen zukünftigen Zeitpunkt vereinbart wird. Angesichts der zusätzlichen Möglichkeit, dass eine der Parteien sofort, die andere aber zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt, unterscheidet Hobbes insgesamt drei mögliche Arten von Verträgen, wobei er alle Verträge, die das Vertrauen auf die spätere Erbringung einer Leistung beinhalten, mit dem Begriff „COVENANT“10 belegt. Um ‚covenants‘ handelt es sich also sowohl bei solchen Verträgen, bei denen nur eine der beteiligten Parteien ihre Leistung zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen hat, als auch bei solchen Verträgen, bei denen dies auf mehrere oder alle Parteien zutrifft. In all contracts where there is trust, the promise of him that is trusted, is called a COVENANT. And this, though it be a promise, and of the time to come, yet doth it transfer the right, when that time cometh, no less than an actual donation. For it is a manifest sign, that he which did perform, understood it was the will of him that was trusted, to perform also. Promises therefore, upon consideration of reciprocal benefit, are covenants and signs of the will, or last act of deliberation, whereby the liberty of performing, or not performing, is taken away, and consequently are obligatory. For where liberty ceaseth, there beginneth obligation.11

Wie Hobbes ausdrücklich hervorhebt, sind nun ‚covenants‘, obwohl sie wie die von ihm zuvor diskutierte Ankündigung einer Schenkung in dem Versprechen einer zukünftigen Leistung bestehen, im Gegensatz zu dieser verpflichtend. Da die Begründung, die Hobbes für diese Tatsache liefert, von direkter Relevanz für die Frage nach dem Status der Verbindlichkeit von Verträgen ist, soll auch sie in Kapitel 7.2.2 eingehender analysiert werden. Bereits hier kann aber darauf verwiesen werden, dass Hobbes die Verbindlichkeit von ‚covenants‘ grundsätzlich darauf zurückführt, dass es sich bei ihnen um Erklärungen des Willens handelt, und d.h. – gemäß des Hobbes’schen Begriffes des Willens – um Erklärungen, denen ein Überlegungsprozess vorangegangen ist, welcher in dem zum Ausdruck gebrachten Willen seinen Abschluss gefunden hat. Es scheint daher, als stünde die von Hobbes bekräftigte Verpflichtungskraft von ‚covenants‘ in irgendeiner Verbindung zu derjenigen Art von Freiheit, die im Rahmen unserer Ausführungen zum natürlichen Recht als ‚freedom as deliberation‘ bezeichnet worden ist, ja als handle es sich bei dieser _____________ 9 10 11

E: 77. E: 78. E: 78.

7.2 The Elements of Law

405

Form der Freiheit und bei der vertraglichen Verpflichtung um direkte Gegenbegriffe. Der zehnte Abschnitt des fünfzehnten Kapitels enthält den für die Hobbes’sche Begründung des Staates so wichtigen Hinweis, dass in einem Zustand ohne allgemeine Zwangsgewalt alle ‚covenants of mutual trust‘, also all diejenigen Verträge, bei denen beide Parteien eine Erfüllung für die Zukunft zusagen, wirkungslos („of none effect“12) sind. Bis zu Warrenders eingehender Erörterung der Hobbes’schen Vertragslehre ist dieser Hinweis oftmals dahingehend interpretiert worden, als seien derartige Verträge im Naturzustand prinzipiell nicht verbindlich. Es ist Warrender und den Autoren, die sich in der Folgezeit seiner Analyse angeschlossen haben, aber zuzustimmen, dass es Hobbes an dieser Stelle nicht um die Frage der Verbindlichkeit geht, sondern um die praktische Frage, ob es faktisch zu einer Erfüllung der betreffenden Verträge kommen wird, ob ‚covenants of mutual trust‘ also ein gangbares Instrument zur Aufgabe des natürlichen Rechts und zur Herstellung des Friedens darstellen. Nach Hobbes muss davon ausgegangen werden, dass diejenige Partei, die als erste ihre Leistung zu erbringen hat, dies nicht tun wird, da sie befürchten muss, von der anderen Partei, die sich dann ja bereits im Besitz des von ihr angestrebten Vorteils befände, um dessen Leistung betrogen zu werden. Verzichten aber erste Parteien in dieser Weise darauf, ihre jeweilige Leistung zu erbringen, dann heißt das nichts anderes, als dass die in Frage stehenden Verträge keinerlei faktische Wirkung entfalten werden, was dazu führen dürfte, dass in den meisten Fällen erst gar keine ‚covenants of mutual trust‘ geschlossen werden. Hobbes lässt nun wenig Zweifel daran, dass das von ihm beschriebene Verhalten der ersten Partei sowohl vernünftig als auch legitim ist, etwa indem er zugesteht, dass es für eine erste Partei keinen Grund gebe, ihre Leistung zu erbringen („For there is no reason why the one should perform first, if the other be likely not to perform afterward.“13), und indem er auch hier ausdrücklich die Geltung des ipse-iudex-Prinzips bekräftigt und die erste Partei selbst zum Richter darüber macht, ob von der zweiten Partei die Erfüllung des Vertrages erwartet werden kann oder nicht. Aus dieser Tatsache aber abzuleiten, dass Hobbes ‚covenants of mutual trust‘ per se als Verträge auffasst, die im Naturzustand ungültig sind und über keinerlei Verbindlichkeit verfügen, wäre voreilig. Wenn Hobbes an dieser Stelle auch nicht ausdrücklich auf diese Tatsache verweisen mag, so lassen seine Ausführungen doch durchaus die Möglichkeit offen, dass in einem jeden Fall, in dem eine erste Partei in gutgläubiger und gegebenenfalls irrationaler Weise ihre Leistung erbracht hat, auch die zweite Partei ohne jede Einschränkung zur Vertragser_____________ 12 13

E: 78. E: 78.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

füllung verpflichtet ist. Dies wäre aber mit der Sichtweise, dass ‚covenants of mutual trust‘ im Naturzustand prinzipiell nicht verbindlich sind, nicht zu vereinbaren. Es scheint daher mit Blick auf die Elements sinnvoll, in der von Warrender vorgeschlagenen Weise zwischen der grundsätzlichen Verbindlichkeit von Verträgen und den ‚validating conditions‘ dieser Verbindlichkeit zu unterscheiden, nicht zuletzt, da sich eine entsprechende Deutung der in Frage stehenden Passage mit Hobbes’ Position zur Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze decken würde. Auch die natürlichen Gesetze sind im Naturzustand im Prinzip verpflichtend und werden nur durch bestimmte Bedingungen und lediglich unter bestimmten Bedingungen ihrer Verbindlichkeit beraubt bzw. in ihrer Verbindlichkeit eingeschränkt. Dass ‚covenants of mutual trust‘ prinzipiell als verbindlich anzusehen sind, heißt aber keineswegs, dass es sich bei dieser Verbindlichkeit um eine im strengen Sinne moralische Verbindlichkeit handeln muss. Gerade die angedeuteten Parallelen zwischen Hobbes’ Erörterung des Problems der Befolgung der Naturgesetze und seiner Erörterung des Problems der Vertragserfüllung scheinen an dieser Stelle eher nahezulegen, dass auch die vertraglich generierte Verpflichtung nur eine prudenzielle Verpflichtung ist. Die beiden folgenden Abschnitte widmen sich der Frage, mit welchen Wesen überhaupt Verträge geschlossen werden können, sowie der Frage, auf welche Weise ein Vertragspartner aus der Pflicht zur Vertragserfüllung entlassen wird. Von größerer Bedeutung ist demgegenüber der anschließende dreizehnte Paragraph, in dem Hobbes ausdrücklich bekräftigt, dass auch solche Verträge als Ursprung einer Verpflichtung anzusehen sind, die aus Furcht geschlossen werden. Wie Hobbes selbst anmerkt, handelt es sich auch bei dem Gesellschaftsvertrag um einen Vertrag, der – als ein Vertrag, der den ‚Krieg aller gegen alle‘ überwinden soll, – seinen Grund in der Furcht der Menschen hat. Soll die Überwindung des Naturzustandes via Gesellschaftsvertrag möglich und legitim und der Gesellschaftsvertrag Grundlage bürgerlicher Gehorsamspflichten sein, dann darf daher die Motivation, die die Vertragsparteien konkret zum Abschluss eines Vertrages bewogen hat, keine Auswirkung auf dessen verpflichtende Kraft haben. Der Anerkennung der Verbindlichkeit von „covenants [...], as are extorted [...] by fear“14 kommt zudem auch insofern eine politische Bedeutung zu, als sie eine direkte Relevanz für die in England schon zur Zeit der Elements diskutierte und oben bereits angesprochene Frage besitzt, ob aus der normannischen Eroberung eine legitime Form politischer Herrschaft hervorgegangen ist. Das Zugeständnis, dass Verträge, die ihren Ursprung in der Furcht vor Gewalt oder Tod haben, keine Verpflichtungen begründen, käme dem Eingeständnis gleich, dass die englischen Bürger gegenüber dem Eroberer William selbst dann _____________ 14

E: 79.

7.2 The Elements of Law

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keine wirkliche Gehorsamspflicht gehabt hätten, wenn man Williams Machtübernahme als eine Art stillschweigenden Vertrag zwischen ihm und dem englischen Volk zu deuten geneigt ist. Dies aber würde wiederum die Frage aufwerfen, warum die englischen Untertanen dann eine Gehorsamspflicht gegenüber denjenigen Herrschern haben sollten, die – wie auch Charles I. – ihr Herrschaftsrecht historisch aus dem Herrschaftsrecht Williams herleiten. Dass das Eingeständnis daher in absolutem Widerspruch zu den Zielen der Hobbes’schen Theorie gestanden hätte, liegt auf der Hand. Das eigentliche Argument, das Hobbes für die Verbindlichkeit der durch Furcht abgenötigten Verträge anführt, besteht in dem Hinweis, dass es sich auch bei Vertragsabschlüssen, die auf die Furcht vor Gewalt oder Tod zurückgehen, von Seiten der beteiligten Individuen wie bei allen anderen Vertragsabschlüssen um ‚voluntary actions‘ handelt. Dieser Hinweis, der in Übereinstimmung sowohl mit Hobbes’ Beispielen freiwilliger Handlungen in Kapitel XII als auch mit seiner Beschreibung der Verbindlichkeit von ‚covenants‘ in Paragraph IX steht, legt nun wieder durchaus nahe, dass die Verpflichtung gegenüber Verträgen von der Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen qualitativ verschieden sein könnte, da letztere ja zumindest vordergründig von allen individuellen Handlungen des Verpflichteten unabhängig zu sein scheint. It is a question often moved, whether such covenants oblige, as are extorted from men by fear. As for example: whether, if a man for fear of death, have promised to give a thief a hundred pounds the next day, and not discover him, whether such a covenant be obligatory or not. And though in some cases such covenant may be void, yet it is not therefore void, because it is extorted by fear. For there appeareth no reason, why that which we do upon fear, should be less firm than that which we do for covetousness. For both the one and the other maketh the action voluntary.15

In eine ähnliche Richtung weist auch eine Aussage, die Hobbes wenig später im Rahmen seiner Erläuterung des Eides als eines Verfahrens zur Bekräftigung eines Vertrages und der damit übernommenen Pflichten vor Gott trifft. Nachdem Hobbes im vierzehnten Abschnitt betont hat, dass ein- und dieselbe Sache oder Handlung nicht zweimal unterschiedlichen Personen zugesichert werden kann und dass in einem solchen Fall der später geschlossene Vertrag als ungültig anzusehen ist, widmet er sich in den vier Paragraphen, die das fünfzehnte Kapitel beschließen, der Beschreibung des Eides. Von Bedeutung sind dabei im vorliegenden Zusammenhang weniger Hobbes’ Definition des Begriffes „OATH“16 oder die Umschreibung der Bedingungen, die zur Abgabe eines Eides erfüllt sein müssen, als vielmehr seine Aussage, ein Eid vermöge der Verbindlichkeit eines Vertrages nichts hinzufügen, eine Aussage, _____________ 15 16

E: 79. E: 80.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

auf die oben mit Blick auf den Text des englischen und lateinischen Leviathan bereits hingewiesen worden ist. Hobbes macht in diesem Zusammenhang nicht nur die Bemerkung, ein ‚covenant‘ trage Verbindlichkeit in sich selbst, sondern er verweist auch darauf, dass der Eid nur insofern Relevanz habe, als er das betreffende Individuum für den Fall einer Nichterfüllung des Vertrages größeren Gefahren und einer größeren Bestrafung aussetze, weil er weitergehende göttliche Sanktionen heraufbeschwöre. And by the definition of an oath, it appeareth that it addeth not a greater obligation to perform the covenant sworn, than the covenant carrieth in itself, but it putteth a man into a greater danger, and of greater punishment.17

Würde es sich nun aber bei der Verpflichtung gegenüber freiwillig geschlossenen Verträgen um eine ausschließlich prudenzielle Verpflichtung handeln, so wäre nicht einzusehen, warum die Erwartung göttlicher Sanktionen, die ja den individuellen Nutzen der Vertragserfüllung bzw. den Schaden der Zuwiderhandlung deutlich erhöhen würde, von Hobbes nicht als Erweiterung oder Verstärkung der Vertragspflicht präsentiert wird. Schon die Darlegung der eigentlichen Vertragstheorie im fünfzehnten Kapitel der Elements vermag daher gewisse Zweifel an der vordergründig so naheliegenden Einschätzung aufkommen zu lassen, die Verbindlichkeit von Verträgen müsse sich allein aus dem im direkten Anschluss formulierten dritten Naturgesetz herleiten, das die Verpflichtung zur Erfüllung von Verträgen ja auch explizit benennt, und müsse folglich vollständig mit dieser lediglich prudenziellen Verpflichtung zusammenfallen. Verstärkt werden diese Zweifel dadurch, dass Hobbes in demjenigen Paragraphen, der auf die Formulierung des dritten Naturgesetzes folgt, den Bruch eines Vertrages, den er mit dem Begriff „INJURY“ belegt, als ein in sich widersprüchliches Verhalten beschreibt und dabei einmal mehr auf die Tatsache verweist, dass es sich bei dem Abschluss eines Vertrages um einen freiwilligen Akt handelt, eine Tatsache, die für die prudenzielle Verpflichtung gegenüber dem dritten Naturgesetzes eigentlich unerheblich sein müsste. The breach or violation of covenant, is that which men call INJURY, consisting in some action or omission, which is therefore called UNJUST. For it is action or omission, without jus, or right; which was transferred or relinquished before. There is a great similitude between that we call injury, or injustice in the actions and conversations of men in the world, and that which is called absurd in the arguments and disputations of the Schools. For as he, that is driven to contradict an assertion by him before maintained, is said to be reduced to an absurdity; so he that through passion doth, or omitteth that which before by covenant he promised not to do, or not to omit, is said to commit injustice. And there is in every breach of covenant a contradiction properly so called; for he that covenanteth, willeth to do, or omit, in the time to

_____________ 17

E: 81.

7.2 The Elements of Law

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come; and he that doth any action, willeth it in that present, which is part of the future time, contained in the covenant: and therefore he that violateth a covenant, willeth the doing and the not doing of the same thing, at the same time; which is a plain contradiction. And so injury is an absurdity of conversation, as absurdity is a kind of injustice in disputation.18

Wie oben bereits mehrfach angemerkt, handelt es sich beim Hobbes’schen Vergleich von Unrecht und absurder Schlussfolgerung, die sich in weitgehend unveränderter Form auch in den drei anderen Schriften findet, um eine Passage, die von Autoren wie Taylor, Raphael und Harvey als ein zentraler Beleg für die Sichtweise angeführt worden ist, dass Verträge innerhalb des Hobbes’schen Systems den Vertragsparteien eine genuin moralische Verpflichtung auferlegen, und die sogar von allen drei Autoren zum Anlass genommen worden ist, die Hobbes’sche Position in die Nähe des Kantischen kategorischen Imperativs zu rücken. Auf die Frage, wie berechtigt es ist, derartige Parallelen zwischen Hobbes und Kant zu ziehen, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Man kann sich aber kaum des Eindrucks erwehren, dass die diesbezüglichen Hinweise ihren Ursprung auch in einem verkürzten Begriff der Kantischen Moralphilosophie und in der etwas zu undifferenzierten Einschätzung haben, Kant leite seinen Begriff des unmoralischen Handelns allein aus dem Begriff der logischen Inkonsistenz ab. Konzentriert man sich stattdessen auf die Frage, inwiefern angesichts der obigen Passage den Hobbes’schen Verträgen eine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zugesprochen werden kann oder werden muss, so lassen sich in einem ersten Zugriff zwei Argumente anführen, die es zumindest als problematisch erscheinen lassen, die Passage zum alleinigen Dreh- und Angelpunkt einer deontologischen Interpretation der Hobbes’schen Vertragspflichten zu machen. Auf der einen Seite muss festgehalten werden, dass Hobbes zwar deutlich bemüht ist, den Bruch von Verträgen als widersprüchliches und irrationales Verhalten zu diskreditieren, dass er aber innerhalb der Passage an keiner Stelle explizit die Aussage trifft, Verträge seien eben deshalb verpflichtend, weil ihre Nichterfüllung in diesem Sinne widersprüchlich sei.19 Man mag zwar der Auffassung sein, dass die Passage im Kontext der bereits angesprochenen Aussagen des vorangegangen fünfzehnten Kapitels eben diesen Eindruck erweckt. Es ist aber nicht gänzlich auszuschließen, dass Hobbes die Erfüllung von Verträgen, die er im dritten Naturgesetz als verpflichtend ausgewiesen hat, an dieser Stelle lediglich mit einem zusätzlichen Argument empfehlen will, das für sich genommen nichts mit der Frage der Verbindlichkeit zu tun hat. _____________ 18 19

E: 82. Vgl. auch Gauthier 1969: 46.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Der zweite und schwerwiegendere Einwand lautet, dass die Hobbes’sche Gleichsetzung von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung ihrerseits ausgesprochen absurd ist und schlicht nicht zu überzeugen vermag. Selbst wenn man Hobbes zugestehen mag, dass er streng genommen ja nur eine große Ähnlichkeit („great similitude“) zwischen den beiden Verhaltensweisen oder Vorkommnissen behauptet, so ist doch seine Behauptung, jeder Vertragsbruch enthalte einen logischen Widerspruch im Willen des Handelnden, in keinem Fall aufrechtzuerhalten. Hobbes’ zentrale These, ein Vertragspartner, der eine bestimmte Leistung verspreche, die fällige Leistung aber nicht erbringe, wolle zur gleichen Zeit die Erbringung und die Nichterbringung der Leistung („willeth the doing and the not doing of the same thing, at the same time“), ist nicht nur falsch, sondern sie ist, indem sie den Zeitaspekt nicht einfach ignoriert, sondern relativ offen eine zeitliche Kontinuität zwischen Versprechen und späterer Nichterfüllung behauptet („for he that covenanteth, willeth to do, or omit, in the time to come; and he that doth any action, willeth it in that present, which is part of the future time, contained in the covenant“), fast schon als unverfroren zu bezeichnen, wenn Autoren wie LeBuffe sie auch ohne Probleme zu akzeptieren scheinen.20 Über die Tatsache, dass es sich bei demjenigen Zeitpunkt, zu dem ein ‚covenant‘ geschlossen wird, und demjenigen Zeitpunkt, zu dem die Erbringung der vereinbarten Leistung fällig wird, um zwei verschiedene, aufeinander folgende und gegebenenfalls weit auseinander liegende Zeitpunkte handelt, vermag auch die bestenfalls in metaphorischem Sinne zutreffende Aussage nicht hinwegzutäuschen, die Zukunft als Zeitpunkt der Leistungserbringung sei in dem Vertragsschluss bereits enthalten. Dass ein Individuum zum Zeitpunkt A den Willen haben sollte, für einen zukünftigen Zeitpunkt B eine bestimmte eigene Leistung zu vereinbaren, bei Eintreffen dieses Zeitpunktes B jedoch den neuen Willen haben sollte, die Erbringung der Leistung zu verweigern, widerspricht aber weder den Gesetzen der Logik noch Hobbes’ eigener Theorie des Willens, wie er sie in den früheren Kapiteln der Elements eingehend dargelegt hat. Mit der Behauptung eines logischen Widerspruchs zwischen Vertragsabschluss und Vertragsbruch muss aber auch ein etwaiges Argument in sich zusammenfallen, die Erfüllung geschlossener Verträge habe eben deshalb zu erfolgen, weil die betreffende Vertragspartei sich ansonsten eines solchen Widerspruches schuldig mache. Es zeigt sich also, dass der Vergleich von Vertragsbruch und Absurdität, selbst wenn man ihn als Versuch zu einer Begründung der Verbindlichkeit von Verträgen zu deuten geneigt ist, kaum ein wirklich sicheres theoretisches Fundament zu liefern vermag, um die Verbindlichkeit der Hobbes’schen Verträge als moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne zu interpretieren. _____________ 20

Vgl. LeBuffe 2003: 23f.

7.2 The Elements of Law

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Bevor die prinzipiellen Probleme, die sich mit der Lesart Raphaels, Ludwigs und Barrys verbinden, noch ausführlicher diskutiert werden werden, soll aber abschließend noch kurz auf einige weitere Passagen des sechzehnten Kapitels und der folgenden Kapitel eingegangen werden, die ebenfalls als Teil der Hobbes’schen Vertragslehre gelten können oder denen zumindest eine gewisse Relevanz für die Frage nach der Verbindlichkeit von Verträgen zugestanden werden kann. Auf die zuletzt besprochene Passage folgt zunächst der Hinweis, dass das Unrecht, das in der Verletzung eines Vertrages liegt, grundsätzlich nur derjenigen Person angetan wird, die als Partei des Vertrages fungiert, nicht aber einer dritten Person, die durch die Vertragsverletzung ebenfalls einen etwaigen Schaden erleiden mag. An die betreffenden Ausführungen schließt sich dann die schon in Kapitel 6.2.4 angesprochene Passage an, in der Hobbes zwischen der Gerechtigkeit von Handlungen und der Gerechtigkeit von Personen unterscheidet. Dass diese Passage keine ausreichende Grundlage liefert, um die Hobbes’sche Moralphilosophie als tugendethische Theorie zu begreifen, ist oben bereits gezeigt worden. Zu fragen bleibt aber, ob die Passage einen Hinweis darauf liefert, wie die Verpflichtung gegenüber Verträgen zu charakterisieren ist und inwiefern sie von der Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen verschieden ist. The names of just, unjust, justice, injustice, are equivocal, and signify diversly. For justice and injustice, when they be attributed to actions, signify the same thing with no injury, and injury; and denominate the action just, or unjust, but not the man so; for they denominate him guilty, or not guilty. But when justice and injustice are attributed to men, they signify proneness and affection, and inclination of nature, that is to say, passions of the mind apt to produce just and unjust actions. So that when a man is said to be just, or injust, not the action, but the passion, and aptitude to do such action is considered. And therefore a just man may have committed an unjust act; and an unjust man may have done justly not only one, but most of his actions. For there is an oderunt peccare in the unjust, as well as in the just, but from different causes; for the unjust man who abstaineth from injuries for fear of punishment, declareth plainly that the justice of his actions dependeth upon civil constitution, from whence punishments proceed; which would otherwise in the estate of nature be unjust, according to the fountain from whence they spring.21

Die genauere Betrachtung der Passage zeigt, dass Hobbes auch an dieser Stelle keinerlei direkte Aussagen zur Verbindlichkeit von Verträgen macht. Von Bedeutung ist die Passage allerdings insofern, als Hobbes am Beispiel des gerechten Menschen eine Art Handeln aus Pflicht zu skizzieren scheint. Schon die Wendung „when justice and injustice are attributed to men, they signify proneness and affection, and inclination of nature, that is to say, passions of the mind apt to produce just and unjust actions“ ist in dieser Weise _____________ 21

E: 83.

412

7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

gedeutet worden. Stärker noch dürfte ins Gewicht fallen, dass Hobbes den ungerechten Menschen als einen Menschen schildert, der nur deshalb von ungerechten Handlungen absehe, weil er sich vor Bestrafungen fürchte. Wenn der ungerechte Mensch dadurch charakterisiert ist, dass er seine Handlungen auf die Gefahr möglicher Bestrafungen ausrichtet, dann scheint zu folgen, dass der gerechte Mensch ungerechte Handlungen allein deshalb unterlässt, weil sie ungerecht sind. Träfe dies zu, dann ließe sich die obige Passage gegebenenfalls nutzen, um ein mögliches Gegenargument gegen die deontologische Lesart zu entkräften. Die Deutung, dass die Hobbes’schen Verträge den Vertragsparteien aus sich selbst heraus moralische Verpflichtungen im strengen Sinne auferlegen, scheint nämlich prinzipiell darauf angewiesen zu sein, dass es den Hobbes’schen Individuen möglich ist, ihre Verträge unabhängig von prudenziellen Erwägungen zu erfüllen. Ansonsten ergäbe sich einmal mehr jene scharfe Trennung von Verpflichtungs- und Motivationstheorie, die wir oben schon mit Blick auf die ‚Taylor-Warrender-These‘ diskutiert und kritisiert haben. Gestünde Hobbes nun in der obigen Passage die Möglichkeit eines solchen Handelns ein, so schiene seine motivationstheoretische Position der Interpretation Ludwigs, Raphaels und Barrys keine unüberwindlichen Hindernisse entgegenzusetzen. Wenn nun aber auch nicht geleugnet werden kann, dass Hobbes’ seiner Verpflichtungstheorie sowohl in der obigen Passage als auch an einigen wenigen weiteren Stellen einen gewissen deontologischen Zug verleiht, so ist doch im Rahmen unserer kritischen Erörterung der ‚Taylor-Warrender-These‘ schon hinreichend deutlich gemacht worden, dass die Hobbes’sche Psychologie insgesamt mit der Annahme eines Handelns aus Pflicht nicht vereinbar ist und dass den Passagen, die die Möglichkeit eines Handelns aus Pflicht anzudeuten scheinen, eine ganze Reihe von Ausführungen gegenüberstehen, auf deren Grundlage diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen werden muss. Zwar mag es innerhalb des Hobbes’schen Systems Individuen geben können, die im Sinne der oben zitierten Wendung über eine innere Neigung zum gerechten Handeln und zur Erfüllung von Verträgen verfügen, etwa weil ihnen in besonderer Weise an dem harmonischen Miteinander mit anderen gelegen ist oder weil sie durch ein ausgeprägtes Bedürfnis nach gleichförmigem, konsistentem Verhalten geprägt sind. Das Handeln dieser Individuen wäre dann aber streng genommen nicht als Handeln aus Pflicht, sondern als Handeln aus Neigung zu pflichtgemäßem Handeln zu bezeichnen. Die Möglichkeit eines derartigen Handelns jedoch reicht meines Erachtens nicht aus, um diejenigen Anforderungen zu erfüllen, die die Behauptung einer strikt moralischen, allein aus der Tatsache des Vertragsschlusses erwachsenden Pflicht zur Vertragserfüllung an die Hobbes’sche Psychologie stellt. Eine solche Pflicht zur Erfüllung des Vertrages um des gegebenen Versprechens willen kann, da sie für

7.2 The Elements of Law

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alle Individuen in der gleichen Weise und unabhängig von ihren jeweiligen Charaktereigenschaften gilt, erst dann sinnvoll behauptet werden, wenn die Hobbes’schen Individuen prinzipiell frei wären, Verträge um der Pflicht willen zu erfüllen, es also allen Hobbes’schen Individuen gleichermaßen möglich wäre, Verträge allein deshalb zu erfüllen, weil sie sie geschlossen haben. Mit anderen Worten: Wenn die Verpflichtung zur Erfüllung von Verträgen eine strikt moralische Verpflichtung ist, die sich allein aus dem Vertragsschluss als einem freiwilligen Akt ergibt, dann muss es mit Blick auf Verträge gleichsam eine allgemeine Pflicht zum Handeln aus Pflicht geben, die wiederum voraussetzt, dass auch solche Individuen um der Pflicht willen handeln können, die nicht die von Hobbes beschriebenen Neigungen besitzen. Eine solche Pflicht zum Handeln aus Pflicht ist aber im Kontext der Hobbes’schen Psychologie und seiner deterministischen Willenslehre nicht sinnvoll zu denken. Es liegt daher nahe, an die oben zitierte Passage nicht die starke deontologische Interpretation heranzutragen, die von Taylor und Harvey vorgeschlagen und hier versuchsweise übernommen worden ist. Bei dem gerechten Menschen würde es sich dann schlicht um einen Menschen handeln, der über gewisse, mit Blick auf das Ziel des dauerhaften Friedens nützliche Charaktereigenschaften verfügt, während es sich bei demjenigen Menschen, der nur aus Furcht vor Strafen gerecht agiert, um einen Menschen handelt, der diese Charaktereigenschaften nicht besitzt, der aber, indem und solange er gerecht agiert, seinen vertraglichen Verpflichtungen ebenso nachkommt wie der gerechte Mensch. Interpretiert man die obige Passage jedoch in dieser Weise, dann vermag sie auch keinen Beitrag zur Stützung der Interpretationen Raphaels, Barrys und Ludwigs zu leisten, und das aus meiner Sicht unvermeidbare Zugeständnis, dass es den Hobbes’schen Individuen generell unmöglich ist, aus Pflicht zu handeln, ist seinerseits ganz im Gegenteil geeignet, um weitere Zweifel an der Fruchtbarkeit dieser Interpretation aufzuwerfen. Die Unterscheidung zwischen kommutativer und distributiver Gerechtigkeit, die sich an die oben zitierte Passage an- und Hobbes’ vertragtheoretische Ausführungen abschließt, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner weitergehenden Untersuchung, da sie keinerlei Indizien enthält, die für oder gegen die Lesart Ludwigs, Raphaels und Barrys ins Feld geführt werden könnten. Das zweite Buch der Elements enthält ebenfalls nur einige wenige diesbezügliche Hinweise. Als Unterstützung für die Sichtweise, dass die Verbindlichkeit von Verträgen anders als die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze gleichsam direkt aus der Tatsache erwächst, dass es sich beim Vertragsabschluss um einen Willensakt handelt, lässt sich eine Passage aus dem fünften Kapitel anführen, in der Hobbes die Verpflichtung gegenüber dem staatlichen Souverän als eine Verpflichtung beschreibt, die aus der Festlegung auf einen

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

bestimmten Willen im Zuge des Gesellschaftsvertrages erwächst.22 Dass die Verbindlichkeit von Verträgen wesentlich von der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze unterschieden sein könnte, wird zudem dadurch nahelegt, dass Hobbes’ relativ zahlreichen Hinweisen zufolge mit der Existenz gültiger und wirksamer Verträge die Existenz des Eigentums beginnt, es also spätestens im staatlichen Zustand ein Mein und Dein und damit Formen individueller Rechte gibt, die es in einem Zustand, in dem allein die natürlichen Gesetze gelten, noch nicht gibt. Für die prinzipielle Gleichartigkeit naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtungen scheint dagegen zu sprechen, dass Hobbes im achten Kapitel des zweiten Buches die Tatsache, dass es sich bei den Befehlen des staatlichen Souveräns um Gesetze handelt, allein mit dem Hinweis auf die Strafen begründet, die auf eine Zuwiderhandlung folgen, und nicht etwa damit, dass die Bürger dem Souverän gegenüber durch einen aus sich heraus verbindlichen Vertrag verpflichtet sind.23 Als weiteres Argument lässt sich anführen, dass Hobbes im zehnten Kapitel des zweiten Teils der Elements, also da, wo er anhand wechselnder Kriterien verschiedene Arten von Gesetzen unterscheidet, davon absieht, die Gesetze auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Verbindlichkeit zu klassifizieren. Wenn Verträge dem Einzelnen eine Verpflichtung auferlegen, die von der Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen qualitativ verschieden ist, dann muss auch die Verpflichtung gegenüber den positiven Gesetzen, die ja aus dem Gesellschaftsvertrag folgt, von der Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen qualitativ verschieden sein. Der Begriff der Verpflichtung müsste dann aber ein weiteres und sogar ganz zentrales Kriterium darstellen, anhand dessen sich die Kontrastierung von natürlichen und positiven Gesetzen, um die es Hobbes in Kapitel X vorrangig zu tun ist, bewerkstelligen ließe. Ein letzter Punkt, der ebenfalls eher die Gleichartigkeit von naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung nahelegt, besteht darin, dass Hobbes in einer Passage des dritten Kapitels die Verpflichtung, die einem Diener aus seinem Vertrag mit seinem Herren erwächst, in selbstverständlicher Weise und ohne jegliche Erläuterung als „obligation in foro interno“24 bezeichnet, wodurch der Eindruck erweckt wird, als handle es sich bei der Verpflichtung gegenüber Verträgen um eine naturgesetzliche Pflicht, auf die im Hinblick auf die Frage der Geltung all das zutrifft, was in Kapitel XVII allgemein über die naturgesetzlichen Verpflichtungen ausgesagt worden ist.

_____________ 22 23 24

Vgl. E: 139. Vgl. E: 172. E: 130.

7.2 The Elements of Law

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7.2.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen Unsere obige Darlegung zentraler Elemente der Hobbes’schen Vertragslehre hat deutlich werden lassen, dass es auf der einen Seite eine Reihe von Gründen gibt, von einer prinzipiellen Gleichartigkeit von naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung auszugehen, dass es auf der anderen Seite aber durchaus Indizien dafür gibt, Hobbes könne beide Arten von Verpflichtung als wesentlich verschieden begriffen haben. Zwar liefern die Tatsachen, dass Hobbes das Gebot der Vertragserfüllung explizit und in selbstverständlicher Weise in seinen Kanon der natürlichen Gesetze aufnimmt und dass er die Verpflichtung gegenüber Verträgen mit eben jenem Ausdruck bezeichnet, mit dem er zumindest an einer Stelle auch die allgemeine Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen bezeichnet, weiterhin ein starkes Argument für die Annahme einer Gleichartigkeit von naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung und für die Auffassung, die Verpflichtung zur Vertragserfüllung folge direkt und ausschließlich aus dem dritten natürlichen Gesetz. Gerade im Hinblick auf die Kontinuität innerhalb der Hobbes’schen Terminologie erfordern unsere obigen Ergebnisse aber auch eine gewisse Differenzierung. Zwar verwendet Hobbes den Begriff der Verpflichtung (‚obligation‘), wie von uns nachgewiesen, sowohl zur Kennzeichnung naturgesetzlicher als auch zur Kennzeichnung vertraglicher Verpflichtungen. Ein gewisser terminologischer Unterschied besteht aber insofern, als Hobbes bemüht ist, den Begriff des Unrechtes (‚injury‘) auf die Beschreibung des Vertragsbruches zu beschränken und ihn im Zusammenhang mit der Verletzung der natürlichen Gesetze möglichst zu vermeiden, so wie er auch den Begriff des Eigentums bzw. die Begriffe ‚mine‘ und ‚thine‘ allein auf solche individuellen Rechte anwendet, denen der Abschluss gültiger Verträge vorangegangen ist. Will man vor dem Hintergrund der oben genannten Argumente an der Auffassung festhalten, dass naturgesetzliche und vertragliche Verpflichtungen prinzipiell gleichgeartet sind und die letzteren lediglich einen Teilbereich der ersteren ausmachen, dann muss man daher zunächst einmal die Frage beantworten, was diese terminologische Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. Aus meiner Sicht lassen sich insgesamt fünf Gründe anführen, die Hobbes zu seinem Vorgehen veranlasst haben könnten. Erstens handelt es sich bei denjenigen Verpflichtungen, die aus einem Vertrag erwachsen, schlicht um Verpflichtungen, die vom Individuum durch konkretes eigenes Handeln übernommen worden und daher in einem durchaus vordergründigen Sinne von ihm selbst geschaffen, zumindest aber aktualisiert worden sind. Zweitens handelt es sich, wie Hobbes im zehnten Kapitel des zweiten Buches selbst hervorhebt,25 bei vertraglichen Verpflichtungen um Verpflichtungen, die sich _____________ 25

Vgl. E: 185.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

auf eine konkrete Handlung bzw. auf eine ganz bestimmte Leistung beziehen, während es sich bei der Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen um eine Verpflichtung zur Befolgung relativ allgemeiner Handlungsregeln handelt. Drittens sind vertragliche Verpflichtungen dadurch von den naturgesetzlichen Pflichten unterschieden, dass sie sich direkt auf bestimmte andere Individuen, und nur auf diese, beziehen. Vertragliche Verpflichtungen sind also in einem ebenfalls ganz vordergründigen Sinn immer Verpflichtungen gegen bestimmte andere. Viertens entstehen durch den Abschluss von Verträgen, und erst durch diesen, rechtliche Unterschiede zwischen den Individuen. Während vor dem Abschluss von Verträgen alle Individuen über dieselben Rechte und Pflichten verfügen und alles allen gehört, findet durch die Einführung vertraglicher Vereinbarungen eine Art Rechteverteilung statt, nach der ein Individuum über Rechte verfügen kann, über die andere Individuen nicht mehr verfügen, eine Tatsache, die die Redeweise vom Privateigentum oder vom ‚mine‘ und ‚thine‘ auch dann mit Sinn zu erfüllen vermag, wenn sich mit diesen Begriffen keine grundsätzlich und qualitativ andere Art von Rechten und Verpflichtungen verbindet. Fünftens und letztens verpflichten vertragliche Vereinbarungen da, wo sie wirklich effektiv geschlossen werden können und folglich überhaupt erst in relevanter Zahl zustande kommen werden, nämlich innerhalb des Staates, immer in einem umfassenderen Sinne, als sie durch die Sanktionen des staatlichen Souveräns gestützt werden, die prudenzielle Verpflichtung zur Vertragserfüllung also eine gewisse Erweiterung erfährt. Zwar könnte man einwenden, dass innerhalb des Staates auch alle natürlichen Gesetze in diesem umfassenderen Sinne verpflichten. Sie tun dies aber nur, weil und wenn sie vom staatlichen Souverän ausdrücklich in den Rang positiver Gesetze erhoben worden sind, und auch mit Blick auf diejenigen Gesetze, auf die dies konkret zutrifft, muss festgehalten werden, dass die durch die staatlichen Sanktionen bewirkte umfassendere prudenzielle Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze nur eine sekundäre, weil bereits vom Gesellschaftsvertrag und dessen umfassenderer Verbindlichkeit abgeleitete Verpflichtung ist. Es lässt sich deshalb ohne Zweifel die Auffassung vertreten, dass zwischen der Möglichkeit staatlicher Sanktionierung und der Verbindlichkeit gültiger Verträge insgesamt ein engerer innerer Zusammenhang besteht als zwischen der Möglichkeit staatlicher Sanktionierung und der Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze. Es zeigt sich also, dass sich auch unabhängig von der Annahme, die Hobbes’schen Verträge errichteten aus sich heraus eine moralische Verpflichtung im strengen Sinne des Wortes, einige gewichtige Unterschiede zwischen denjenigen Verpflichtungen aufzeigen lassen, die aus den natürlichen Gesetzen entspringen, und denjenigen, die ihren Ursprung in vertraglichen Übereinkünften haben. Wenn die hier versammelten Argumente aber den Abweichungen, die sich in der Hobbes’schen Beschreibung von naturgesetzlichen

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und vertraglichen Verpflichtungen bzw. von den ihnen jeweils entsprechenden Rechten finden, auch einige Plausibilität zu verleihen vermögen, so muss doch zugestanden werden, dass sie für sich genommen noch nicht ausreichen, um die deontologische Lesart der Hobbes’schen Vertragstheorie entscheidend zurückzuweisen. Da die Anhänger dieser Lesart, wie gesehen, zur Stützung ihrer Deutung nicht nur auf die letztlich marginale sprachliche Ungleichbehandlung verweisen können, sondern auch und vor allem auf all diejenigen Passagen, in denen Hobbes die Verbindlichkeit von Verträgen eigens und ohne Rückgriff auf die Ziele der Selbsterhaltung und des Friedens zu begründen und auf das Versprechen als einen freiwilligen Akt zurückzuführen versucht, kann die deontologische Lesart nur dann überzeugend in Frage gestellt werden, wenn sie als unangemessene Deutung der betreffenden Passagen charakterisiert werden kann oder wenn die Passagen ihrerseits als in sich problematisch ausgewiesen werden können. Ansätze zu einem entsprechenden Nachweis sind im vorangegangenen Kapitel bereits an einigen Stellen entwickelt worden. Wie dabei deutlich geworden ist, besteht das Hauptproblem der deontologischen Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten nicht darin, dass sich in den genannten Passagen des Hobbes’schen Textes keinerlei Indizien für diese Lesart auffinden ließen oder dass Hobbes nachweislich jedes Bemühen abgesprochen werden könnte, die Verbindlichkeit von vertraglichen Übereinkünften als eine nichtprudenzielle Verbindlichkeit zu kennzeichnen. Sie besteht darin, dass Hobbes letztlich keine vollständige, in sich konsistente und überzeugende Begründung für eine strikt moralische Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen liefert und dass eine solche Begründung darüber hinaus innerhalb seines Systems auch grundsätzlich nicht möglich ist. Dass die Annahme, die Hobbes’schen Verträge seien aus sich selbst heraus im strengen Sinne verpflichtend, im Hinblick auf die konkrete Erfüllung dieser Verpflichtungen durch die betroffenen Individuen problematisch ist, ist oben bereits hinreichend erörtert worden. Da die Hobbes’schen Individuen nicht zu einem Handeln aus Pflicht in der Lage sind, wären sie, handelte es sich denn bei der Verpflichtung gegenüber den von ihnen geschlossenen Verträgen im deontologischen Sinne um eine strikt moralische Verpflichtung, nicht in der Lage, ihre Verpflichtungen als solche zu erfüllen, sondern sie wären höchstens in der Lage, aus Klugheitserwägungen heraus oder aufgrund starker Neigungen oder Leidenschaften, d.h. aufgrund kontingenter Ursachen, pflichtkonform zu agieren. Es wäre dann aber zu fragen, welchen Sinn es überhaupt haben sollte, ihnen eine strikt moralische Verpflichtung zuzuschreiben, und diese Frage stellt sich – wie unsere Diskussion der ‚Taylor-Warrender-These‘ gezeigt hat – nicht nur mit Blick auf die deontologische Lesart der Vertragstheorie, sondern prinzipiell mit Blick auf alle Deutungen, die innerhalb der Hobbes’schen Lehre eine

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strikt moralische Verpflichtung zu erkennen glauben, die in ihrer Geltung von den Folgen der in Frage stehenden Handlungen unabhängig ist. Die Lesart Raphaels, Barrys und Ludwigs trifft aber auch hinsichtlich der Art und Weise, in der Hobbes die Entstehung der Verpflichtung aus dem Willensentscheid der Individuen herzuleiten und sie damit zu begründen versucht, auf Schwierigkeiten. Dies zeigt sich, wenn man sich vor dem Hintergrund der Hobbes’schen Theorie der Überlegung und des Willens noch einmal eingehender mit denjenigen Passagen beschäftigt, die im vorangegangenen Kapitel bislang nur kurz erwähnt worden waren. Wie die schon etwas ausführlicher besprochenen Passagen der Kapitel XV und XVI deutlich gemacht haben, ist Hobbes offensichtlich bemüht, die Verpflichtungskraft vertraglicher Vereinbarungen dadurch zu begründen oder zumindest zu bekräftigen, dass er Verträge als willentliche Akte kennzeichnet. Wie der neunte Paragraph des fünfzehnten Kapitels zeigt, in dem Hobbes die Verbindlichkeit von ‚covenants‘ zu erläutern versucht, scheint sein eigentliches Argument dabei in der Behauptung zu bestehen, dass ein Vertragspartner mit dem Vertragsabschluss nicht nur einem bestimmten gegenwärtigen Willen Ausdruck verleiht, sondern auch für die Zukunft auf diesen Willen festgelegt wird. Dass diese Behauptung problematisch ist, ist oben bereits im Rahmen der kritischen Diskussion des Hobbes’schen Vergleichs von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung angedeutet worden. Dass das Vorhaben, die aus einem Vertrag erwachsende Verpflichtung direkt aus dem Willen als dem letzten Teil eines Überlegungsprozesses herzuleiten und sie damit als Gegenbegriff zum Begriff ‚freedom as deliberation‘ zu etablieren, nicht gelingt und nicht gelingen kann, zeigt sich aber auch dann deutlich, wenn man von den Beschreibungen des Prozesses der Überlegung und der Willensbildung ausgeht, die Hobbes im zwölften Kapitel sowie in den frühen Paragraphen des fünfzehnten Kapitels selbst vornimmt. Schon im Rahmen der eigentlichen Entwicklung seiner Theorie des Willens in Kapitel XII verweist Hobbes ausdrücklich darauf, dass weder die Neigung einer Person, eine bestimmte Handlung auszuführen, noch ihre explizite Erklärung, in dieser Weise handeln zu wollen, als Wille der betreffenden Person bezeichnet werden können. Wie Hobbes im Zuge der oben bereits zitierten knappen Erörterung des Ausdrucks ‚last will‘ hervorhebt, sei der Überlegungsprozess bezüglich einer in Frage stehenden Handlung erst dann wirklich abgeschlossen, wenn die Person die Handlung entweder ausgeführt oder endgültig von ihr Abstand genommen habe, und aus diesem Grund könne ihr auch erst in diesem Moment der Wille zur Ausübung oder Unterlassung der Handlung zugeschrieben werden. It is all one therefore to say will and last will: for though a man express his present inclination and appetite concerning the disposing of his goods, by words or writing; yet

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shall it not be accounted his will, because he hath liberty still to dispose of them otherwise [...]26

Die oben schon angesprochene Erörterung der Schenkung in Kapitel XV folgt nun offenbar ähnlichen Überlegungen. Hobbes hebt ausdrücklich hervor, dass aus der Ankündigung oder dem Versprechen, zu einem zukünftigen Zeitpunkt eine Schenkung vorzunehmen bzw. vornehmen zu wollen, keine Verpflichtung erwächst, und er begründet dies damit, dass der Überlegungsprozess bezüglich der in Frage stehenden Schenkung erst dann abgeschlossen sei, wenn die Schenkung faktisch vollzogen werde. Erst zu diesem Zeitpunkt könne die Schenkung als Wille der betreffenden Person bezeichnet werden, und erst dann könne ihr als einem willentlichen Akt Verbindlichkeit zukommen. And in free gift no other words can be binding, but those which are de praesenti, or de praeterito: for being de futuro only, they transfer nothing, nor can they be understood, as if they proceeded from the will of the giver; because being a free gift, it carrieth with it no obligation greater than that which is enforced by the words. For he that promiseth to give, without any other consideration but his own affection, so long as he hath not given, deliberateth still, according as the causes of his affections continue or diminish; and he that deliberateth hath not yet willed, because the will is the last act of his deliberation.27

Vor dem Hintergrund dieser beiden Passagen ist nun aber nicht einsichtig, warum ein ‚covenant‘ aus eben dem Grund, dass er den Abschluss eines Überlegungsprozesses und einen willentlichen Akt darstellt, verpflichten sollte. Entweder, so scheint es doch, müsse Hobbes bereits das Versprechen, eine bestimmte Handlung auszuführen, als solches als Abschluss eines Überlegungsprozesses und als willentlichen Akt anerkennen. Dann wären aber neben ‚covenants‘ auch alle Versprechen als verpflichtend anzusehen, die sich auf eine zukünftige Schenkung beziehen. Oder er erkennt – gemäß der beiden obigen Passagen – nur die konkrete Ausführung der im Versprechen benannten Handlung als willentlichen Akt an. Dann dürfte es sich aber beim Abschluss eines ‚covenants‘ ebensowenig um einen solchen Akt handeln wie bei dem Versprechen, zu einem späteren Zeitpunkt eine Schenkung vorzunehmen. In beiden Fällen sagt der Versprechende für die Zukunft eine bestimmte Handlungsabsicht zu; in beiden Fällen steht ihm aber auch gleichermaßen die faktische Möglichkeit offen, seinen im Versprechen zum Ausdruck gebrachten Willen zu ändern. Hobbes’ Aussage, ‚covenants‘ seien, anders als Versprechen, die eine Schenkung zum Inhalt haben, Akte, die das betroffene Individuum der Freiheit beraubten, die in Frage stehende Handlung auszuführen _____________ 26 27

E: 62. E: 77.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

oder nicht auszuführen, ist schlicht unzutreffend, und auch Hobbes’ Hinweis auf den seinen Teil der Vereinbarung zuerst erfüllenden Vertragspartner, der dies ja allein im Vertrauen auf den unveränderlichen Willen des Verpflichteten tue („For it is a manifest sign, that he which did perform, understood it was the will of him that was trusted, to perform also“), vermag den hier in Frage stehenden Unterschied zwischen ‚free gifts‘ und ‚covenants‘ und die Verbindlichkeit letzterer nicht überzeugend zu begründen. Wenn sich – wie das empirische Auftreten von Vertragsbrüchen hinreichend beweist – der Wille, eine bestimmte Leistung zu erbringen, nach Abschluss eines Vertrages prinzipiell ändern kann, dann besteht der einzige Weg, um im Sinne der von Hobbes beschriebenen Verpflichtung eine Übereinstimmung zwischen dem im Vertrag zum Ausdruck gebrachten und dem zum Zeitpunkt der vereinbarten Leistungserbringung vorliegenden Willen zu behaupten, darin, den Hobbes’schen Individuen die Fähigkeit zu unterstellen, den Willen, den sie im Hinblick auf eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt haben werden, selbst aktiv und bewusst zu determinieren oder ihren zu einem früheren Zeitpunkt zum Ausdruck gebrachten Willen in der Folgezeit aktiv beizubehalten. Eine entsprechende Deutung der Hobbes’schen Aussagen ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil es dann eine vorhergehende Verpflichtung aller Individuen geben müsste, diese aktive Festlegung auch faktisch vorzunehmen, welche aber nicht ihrerseits durch den Akt der Festlegung begründet werden könnte. Die Deutung ist auch grundsätzlich unvereinbar mit der Hobbes’schen Theorie des Willens. Wenn es sich beim Überlegungsprozess um das stetige Wechselspiel von ‚appetite‘ und ‚fear‘ und beim Willen lediglich um diejenige Neigung handelt, die in diesem Prozess letztlich die Oberhand behält, dann ist schon kaum einzusehen, wie die Hobbes’schen Individuen aktiv darauf Einfluss nehmen sollten, ob im Rahmen einer bestimmten Zeitspanne ein Überlegungsprozess in Gang gesetzt werden wird oder nicht. Noch viel weniger ist aber einzusehen, wie sie aktiv darauf Einfluss nehmen sollten, welches Ergebnis ein etwaiger Überlegungsprozess zeitigen wird, über welchen Willen sie also nach Abschluss des Überlegungsprozesses verfügen werden. Der Abschluss eines Vertrages kann daher weder insofern als Festlegung auf einen zukünftigen Willen gedeutet werden, als diese Festlegung im Moment des Vertragsschlusses faktisch und gleichsam automatisch vollzogen und von den betroffenen Individuen passiv erfahren wird. Noch kann er es insofern, als das theoretisch mögliche Abweichen von einem im Zuge eines Vertrages zum Ausdruck gebrachten Willen vom betreffenden Individuum bewusst verhindert werden und die Übereinstimmung des früheren und des zukünftigen Willens damit gleichsam aktiv her- und sichergestellt werden könnte. Gerade der zweite Punkt ist jedoch von den Vertretern der deontologischen Lesart der Hobbes’schen Vertragstheorie nicht hinreichend anerkannt

7.2 The Elements of Law

421

worden. Ludwig gesteht an einigen wenigen Stellen zwar zu, dass die Hobbes’schen Individuen ihren zukünftigen Willen nicht selbst bestimmen können.28 Er interpretiert den Akt des Vertragsschlusses und der Willenserklärung aber dennoch als einen Akt, in dem die Individuen moralisch verbindlich erklären, dass der im Vertrag zum Ausdruck gebrachte Wille auch ihr zukünftiger Wille sein wird, und in dem sie zusichern, dass sie mit Blick auf die in Frage stehende Handlung keinerlei weitergehende Überlegungen mehr anstellen, sondern den Überlegungsprozess und damit ihren Willen gleichsam ‚einfrieren‘ werden.29 Hat aber das Individuum gar keine Möglichkeit, ein Wiedereinsetzen des Überlegungsprozesses und eine etwaige Veränderung seines früheren Willens zu verhindern, dann kann eine derartige Deutung des Vertragsaktes und der daraus erwachsenen Pflichten unmöglich sinnvoll sein, und auch LeBuffes Deutung, ein Individuum, das für die Zukunft die Erbringung einer bestimmten Leistung versprochen habe, zum betreffenden Zeitpunkt aber den Willen habe, sein Versprechen zu brechen, müsse einfach diesen neuen Willen zugunsten seines früher erklärten Willens aufgeben oder unterdrücken,30 unterstellt den Hobbes’schen Individuen Fähigkeiten, über die sie gar nicht verfügen. Solange die Möglichkeit eines aktiven Festhaltens an einem einmal erklärten Willen nicht existiert, solange kann folglich überhaupt nicht ausgeschlossen werden, dass ein Individuum, das sich im Zuge eines ‚covenants‘ zu einem bestimmten Willen bekannt hat, dann, wenn die Erbringung der vereinbarten Leistung fällig wird, über einen anderen Willen verfügen wird, nämlich über den gleichsam passiv empfangenen und daher nicht einfach zu ignorierenden oder wieder umzukehrenden Willen, die Erbringung der vereinbarten Leistung zu verweigern. Dass Hobbes dieses Problem ansatzweise gesehen hat, legt eine Passage aus dem neunzehnten Kapitel nahe, in der Hobbes die Verpflichtung der Bürger gegenüber dem staatlichen Souverän erläutert. And though the will of man, being not voluntary, but the beginning of voluntary actions, is not subject to deliberation and covenant; yet when a man covenanteth to subject his will to the command of another, he obligeth himself to this, that he resign his strength and means to him, whom he covenanteth to obey; and hereby, he that is to command may by use of all their means and strength, be able by the terror thereof, to frame the will of them all to unity and concord amongst themselves.31

Hobbes’ Aussage, der menschliche Wille sei, da er selbst nicht Gegenstand des Wollens sei, weder der Überlegung noch einem ‚covenant‘ und dem darin _____________ 28 29 30 31

Vgl. Ludwig 1998: 338. Vgl. Ludwig 1998: 337f. Vgl. LeBuffe 2003: 37. E: 103f.

422

7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

enthaltenen Versprechen unterworfen, steht in deutlicher Spannung zu seinen früheren Aussagen, nach denen sich die Vertragsparteien mit dem Abschluss eines ‚covenants‘ auf einen bestimmten zukünftigen Willen festlegen. Dem Eingeständnis, dass der ‚covenant‘ selbst den Willen nicht zu determinieren vermag, zum Trotz, hält Hobbes aber auch hier daran fest, den Vertragsabschluss als Ursprung einer Verpflichtung zu präsentieren. Die abschließenden Sätze legen dabei jedoch nahe, dass Hobbes den eigentlichen Grund dieser Verpflichtung nicht in der bloßen Tatsache des Vertragsabschlusses sieht, sondern darin, dass der staatliche Herrscher als diejenige Person, der die Vertragserfüllung geschuldet wird, in der Lage ist, durch die Androhung von Bestrafungen die Vertragserfüllung sicherzustellen und seine Untertanen in dieser Hinsicht zu einem bestimmten Willen zu zwingen. Die Untertanen sind demnach nicht deshalb auf den Willen zum Gehorsam festgelegt, weil sie diesen Gehorsam zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst gewollt haben, sondern deshalb, weil der Souverän über die Macht verfügt, ihren zukünftigen Willen in diese Richtung zu beeinflussen. Damit erweckt die obige Passage aber nun den Eindruck, als habe Hobbes die Verbindlichkeit von Verträgen eben doch auf die negativen Folgen zurückführen wollen, die aus einem Vertragsbruch erwachsen können und die – zumindest in den meisten Fällen – dafür sorgen werden, dass die Vertragsparteien faktisch keinen neuen Willen entwickeln werden, obwohl die theoretische Möglichkeit dazu bestünde. Bei dieser Interpretation würde es sich dann aber auch bei der von Hobbes mit so großem zusätzlichen Aufwand beschriebenen Vertragspflicht letztlich um eine Klugheitspflicht handeln. Hobbes’ zusätzliches Darstellungsinteresse wäre dann höchstens darin zu sehen, dass er mit Hilfe des Rückgriffs auf seine Theorie des Willens und der Überlegung etwas eingehender zu beschreiben versucht, wie diese Klugheitserwägungen konkret auf den menschlichen Willen wirken und die menschlichen Handlungen determinieren. Welchen Wert man der oben zitierten Passage aber letztlich auch beimessen und ob man sie zum Anlass nehmen mag, über die zuvor zitierten Aussagen, die ja teilweise in eine andere Richtung zu weisen schienen, hinwegzusehen: Das eigentliche Hauptproblem der Hobbes’schen Rückführung der Vertragspflichten auf die Begriffe ‚deliberation‘, ‚will‘ und ‚voluntary action‘ bzw. auf denjenigen Freiheitsbegriff, den wir oben als ‚freedom as deliberation‘ bezeichnet haben, ist von dem Eingeständnis, dass Hobbes selbst an einigen Stellen die Verbindlichkeit von Verträgen zu reinen Klugheitserwägungen in Beziehung setzt, weitgehend unabhängig. Es besteht darin, dass diese Rückführung, selbst wenn sie innerhalb des Hobbes’schen Systems grundsätzlich gelingen könnte und von Hobbes konsistent durchgeführt würde, überhaupt keinen genuin normativen Begriff von ‚obligation‘ zu begründen vermag, sondern lediglich einen deskriptiven. Wenn, wie dies viele der hier erörterten Hobbes’schen Aussagen nahelegen, die Verpflichtung gegenü-

7.2 The Elements of Law

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ber Vertragspartnern aus der Tatsache erwächst, dass der Handelnde sich im Zuge des Vertragsschlusses faktisch – sei es nun aktiv oder passiv – auf einen bestimmten zukünftigen Willen festgelegt hat, dann kann der Begriff ‚obliged‘ lediglich besagen, dass der Handelnde faktisch nicht anders als in Übereinstimmung mit dem von ihm geschlossenen Vertrag handeln kann. Der Begriff ‚obligation‘ wäre dann, wie beispielsweise von McNeilly vorgeschlagen, im Sinne des Begriffes ‚compulsion‘ zu verstehen.32 Die Behauptung, die Vertragsparteien seien zur Erfüllung des Vertrages verpflichtet, würde dann aber überhaupt nicht die Existenz jener Art von Verpflichtung konstatieren, um die es den Vertretern der deontologischen Lesart gerade geht und die in der Tatsache besteht, dass der Handelnde zwar anders als in Übereinstimmung mit dem von ihm geschlossenen Vertrag handeln kann, aber nicht handeln darf. Der einzige mögliche Ansatzpunkt, um den Hobbes’schen Individuen mit Blick auf das Problem der Vertragserfüllung in diesem normativen Sinne eine Verpflichtung zuzuschreiben, bestünde darin, ihnen zusätzlich eine Verpflichtung zuzuschreiben, in der oben angedeuteten Weise die Festlegung auf den faktischen Willen zur Vertragserfüllung aktiv vorzunehmen. Wie oben eingehend gezeigt, sind die Hobbes’schen Individuen aber grundsätzlich nicht in der Lage, ihren eigenen Willen in dieser Form zu bestimmen oder zu wählen, und selbst wenn sie dazu in der Lage wären, bliebe immer noch das Problem, dass die durch die Wahl des Willens bewirkte faktische Festlegung die logisch vorhergehende Verpflichtung, diese Festlegung vorzunehmen, nicht selbst zu begründen vermag. Dies hieße dann aber, dass die Hobbes’sche Position bei dieser Lesart überhaupt kein Argument enthalten würde, warum die Individuen sich in der beschriebenen Weise aktiv auf den Willen zur Vertragserfüllung festlegen sollten, die umrissene normative Verpflichtung also ohne jegliches theoretische Fundament bliebe. In dem Versäumnis, diesen Unterschied zwischen normativer und deskriptiver Ebene, d.h. zwischen normativem Verpflichtungsbegriff und deskriptivem Verpflichtungsbegriff, angemessen zu berücksichtigen, liegt das zentrale Defizit all derjenigen Studien, die in der jüngeren Vergangenheit die Hobbes’schen Ausführungen zur vertraglichen Selbstbindung diskutiert und dabei in Hobbes’ Sinne versucht haben, die Verbindlichkeit von Verträgen auf den Begriff der Freiheit zurückzuführen. Von Leyden etwa deutet die Verbindlichkeit von Verträgen ganz im Sinne der hier besprochenen Hobbes’schen Aussagen als eine Verbindlichkeit, die aus der Tatsache erwächst, dass ein Individuum sich im Hinblick auf eine bestimmte Handlung einen konkreten Willen gebildet und sich auf diesen Willen festgelegt hat und danach gar nicht länger über die Freiheit verfügt, von dem im Vertrag zum Ausdruck gebrachten Willen abzuweichen. _____________ 32

Vgl. McNeilly 1968: 203f.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Since a person who is under an obligation to do x, is no longer free either to perform x or not to perform x, he cannot be said either to will or not will x; nor again can he, strictly speaking, either will or not will non-x. Viewed in this context, being obliged means the absence of liberty, deliberation, decision, and the will.33

Von Leyden gesteht dabei allerdings durchaus zu, dass der Überlegungsprozess in manchen Fällen wieder neu einsetzen kann und dass der zum Ausdruck gebrachte Wille gegebenenfalls durch einen neuen ersetzt werden kann,34 was hieße, dass der die Verpflichtung begründende Wille eben doch noch nicht der ‚letzte Wille‘ war und folglich auch keine Verpflichtung vorliegen dürfte. Von Leyden versucht die diesbezüglichen Probleme der Hobbes’schen Position dadurch zu lösen, dass er eine Verpflichtung letztlich nur da als gegeben ansieht, wo ein Individuum aufrichtig glaubt, eine solche Verpflichtung zu haben, und aufgrund dieser Tatsache faktisch an seinem früheren Willen festhält.35 Vor dem Hintergrund dieser Spezifizierung ließen sich nun in der Tat die vertraglichen Verpflichtungen der Hobbes’schen Individuen auf den Prozess der konkreten Willensbildung und auf die Unmöglichkeit zurückführen, anders als im Vertrag vereinbart zu handeln. Das Problem der von Leyden’schen Deutung besteht aber einerseits darin, dass Hobbes ganz offensichtlich allen Individuen, die einen Vertrag geschlossen haben, eine Verpflichtung zur Vertragserfüllung zuschreiben will, also auch denen, die selbst nicht an ihr Verpflichtetsein glauben bzw. sich gegenüber ihrem Vertragspartner nicht verpflichtet fühlen. Es besteht andererseits darin, dass es sich auch bei dem von von Leyden umrissenen Verpflichtungsbegriff um eine ausschließlich empirische Kategorie handelt, der Rückgriff auf den konkreten Willens- oder Glaubensinhalt einer Person also nicht im normativmoralischen Sinne eine Verpflichtung zu begründen vermag, welcher zuwidergehandelt werden kann, aber nicht zuwidergehandelt werden darf. Wenn die Verpflichtung zur Vertragserfüllung auf den Glauben zurückgeht, verpflichtet zu sein, und auf den daraus folgenden Willen, die angenommene Verpflichtung auch zu erfüllen, dann kann es den Fall einer Pflichtverletzung per definitionem nicht geben, weil nur solche Individuen ihre Verträge brechen werden, die mit der Bildung des Willens, den Vertrag zu brechen, eo ipso ihre Verpflichtung zur Vertragserfüllung verlieren. Die hier umrissenen Schwierigkeiten ergeben sich in der gleichen Weise auch für die Interpretation von Rosamond Rhodes. Rhodes versucht nicht nur die Verbindlichkeit von Verträgen, sondern auch die Verbindlichkeit der natürlichen Gesetze als Ergebnis eines individuellen Zustimmungsprozesses zu begreifen, und geht dabei noch deutlicher als von Leyden vom Begriff des _____________ 33 34 35

Von Leyden 1982: 76. Vgl. von Leyden 1982: 42. Vgl. von Leyden 1982: 37 und 76ff.

7.2 The Elements of Law

425

Glaubens (‚belief‘) aus. Nach Rhodes schafft ein Individuum, das an die Richtigkeit der Befolgung der Naturgesetze oder der Erfüllung seiner Verträge glaubt, durch diesen Glauben gewisse innere Beschränkungen („internal constraints“ bzw. „mental hindrances“36) seines eigenen Wollens im Hinblick auf die in Frage stehenden Handlungen. Wer den Naturgesetzen und den von ihm geschlossenen Verträgen sowie den dadurch errichteten Verbindlichkeiten innerlich zustimmt, der ist demnach in psychologischer Hinsicht an eine bestimmte Handlungsweise gebunden und in diesem Sinne verpflichtet. The one who lays down his liberty becomes psychologically bound to do what he has committed himself to do, and thereby it seems to him as if, by his committment, his liberties have been diminished.37

So sehr Rhodes sich nun aber auch bemühen mag, die von ihr beschriebene Verpflichtung als moralische Verpflichtung auszuweisen, so wenig vermag ihr Ansatz doch die oben umrissenen Schwierigkeiten zu lösen. Wenn es sich bei der von Hobbes beschriebenen Verpflichtung um ein psychologisches Faktum handelt, um die Tatsache nämlich, dass ein Individuum aufgrund seiner spezifischen Überzeugungen nur in Übereinstimmung mit den natürlichen Gesetzen und seinen vertraglichen Versprechen handeln kann und in diesem Sinne nur einen bestimmten Willen zu haben vermag, dann müssen Verpflichtung und faktisches Handeln notwendigerweise zusammenfallen. Der für einen normativ-moralischen Verpflichtungsbegriff so zentrale Fall, dass ein Individuum seine Verpflichtung verletzt und dadurch Unrecht tut, kann folglich überhaupt nicht eintreten. Rhodes’ Ansatz liefert daher keineswegs, wie von ihr selbst behauptet, eine Grundlage, um die Hobbes’sche Moralund Vertragslehre als deontische Ethik und als Vorläufer der Theorien Kants und Rawls’ zu begreifen.38 Indem auch sie den Begriff ‚obligation‘ lediglich im Sinne des Begriffes ‚compulsion‘ begründet, verwandelt Rhodes den Begriff der Pflicht in einen psychologisch-deskriptiven Begriff, der keinen genuinen Beitrag zu einer deontologischen Moraltheorie zu leisten vermag. Dass die Hobbes’sche Rückführung der vertraglichen Verpflichtung auf den Abschluss des Überlegungsprozesses und das Vorliegen eines bestimmten Willens vor der Schwierigkeit steht, das Phänomen der Pflichtverletzung zu erklären, ist am ehesten von Annabel Brett gesehen worden. Brett folgt zwar der Hobbes’schen Argumentation und deutet die vertragliche Verpflichtung als eine, die direkt aus dem Willen erwächst, die im Vertrag zugesagte Leistung zu erbringen.39 Sie weist aber ausdrücklich darauf hin, dass Hobbes _____________ 36 37 38 39

Rhodes 2002: 51 und 52. Rhodes 2002: 52. Vgl. Rhodes 2002: 67. Vgl. Brett 1997: 217.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

vor dem Hintergrund dieses Begriffes der Verpflichtung nicht plausibel erklären kann, auf welche Weise ein Individuum seinen vertraglichen Pflichten überhaupt zuwiderhandeln kann, da dies hieße, Gebrauch von derjenigen Freiheit zu machen, die das Individuum Hobbes’ eigener Argumentation zufolge im Zuge des Vertragsschlusses aufgegeben hat.40 Indem sie diese im Vertragsschluss aufgegebene Freiheit im Sinne des Begriffes ‚freedom as deliberation‘ deutet, sie aber zugleich als diejenige Freiheit begreift, die im natürlichen Recht ihren Ausdruck findet, behandelt aber auch Brett die von ihr beschriebene Vertragspflicht zugleich als einen psychologischen und als einen rechtlich-moralischen Begriff und verwischt damit den Unterschied zwischen normativer und deskriptiver Ebene. Es scheint allerdings, als habe auch Hobbes selbst den betreffenden Unterschied nicht gesehen oder ihn zumindest zeitweilig aus den Augen verloren. Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass Hobbes’ ehrgeiziges Ziel gerade darin bestanden haben mag, durch den Rückgriff auf die empirischen Momente des Überlegungsprozesses und der Willensbildung und damit unter direktem Rückgriff auf seine von den neuzeitlichen Naturwissenschaften geprägte deskriptive Lehre vom Menschen eine Art tertium quid zu schaffen, d.h. einen Begriff der Verpflichtung, der einerseits in Übereinstimmung mit den Inhalten der traditionellen Moralphilosophie besagt, was geschehen soll, und der das moralische Handeln zugleich mit der Überzeugungskraft der physikalischen Naturgesetze als das vorführt, was geradezu unweigerlich geschieht und geschehen muss. Ein derartiges tertium quid, eine Verpflichtung, die sowohl in deskriptiv-naturwissenschaftlicher als auch in strikt normativmoralischer Hinsicht Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Handeln beschreibt, kann es aber nicht geben, und so muss ein entsprechender Ansatz zwangsläufig in eine Art naturalistische Ethik führen, in der für den Begriff der strikt moralischen Verpflichtung kein Platz ist, oder in eine deontologische Ethik, der es an dem eigentlich begründenden Argument mangelt und in der es für die Individuen keine Möglichkeit gibt, die behaupteten strikt moralischen Pflichten überhaupt als solche zu erfüllen. Schließt man sich also der deontologischen Lesart der Hobbes’schen Vertragstheorie an und nimmt die hier ausführlich erörterten Passagen der Elements zum Anlass, um die Verbindlichkeit der Hobbes’schen Verträge als eine strikt moralische Verbindlichkeit zu begreifen, die vom dritten Naturgesetz logisch unabhängig ist, dann stützt man seine Interpretation der Hobbes’schen Vertragstheorie einerseits auf Ausführungen, die nicht sonderlich klar und zum Teil in sich widersprüchlich sind, und dann rückt man die Vertragstheorie andererseits in einen unaufhebbaren Widerspruch zur Hobbes’schen Anthropologie und Psychologie und damit auch zu dem so zentra_____________ 40

Vgl. Brett 1997: 220.

7.2 The Elements of Law

427

len Prinzip ‚ought implies can‘, einem Prinzip, zu dem Hobbes sich gerade im Rahmen seiner Vertragstheorie ausdrücklich bekennt.41 Man käme in diesem Fall nicht umhin, mit der strikt moralischen Verbindlichkeit der Hobbes’schen Verträge auch das vollständige Scheitern der Hobbes’schen Vertragstheorie zu behaupten. Wie oben im Zusammenhang mit der Deutung Hoods bereits ausgeführt, würde ein derartiges Fazit aber den grundsätzlichen Ansprüchen widersprechen, die an die Interpretation eines umfassenden philosophischen Werkes zu stellen sind. Zwar muss zugestanden werden, dass im vorliegenden Fall die in Frage stehende Alternativinterpretation nicht in so einfacher Weise durch die Hobbes’schen Aussagen gestützt und damit positiv gerechtfertigt werden kann, wie dies bei der traditionellen Deutung der natürlichen Gesetze als der Alternativinterpretation zur Deutung Hoods der Fall war. Auch die Interpretation, dass es sich bei der Pflicht zur Erfüllung gültiger Verträge letztlich um eine Klugheitspflicht handelt, kann aber – zumindest mit Blick auf den Text der Elements – durchaus auf eine Reihe von textbezogenen Argumenten zurückgreifen. Hinzu kommt, dass jeder Versuch, in die andere Richtung eine Konsistenz der Hobbes’schen Aussagen herzustellen, in noch größerem Maße künstlich und unangemessen erscheinen muss bzw. schlicht unzulässig wäre. Die deterministische Theorie der Überlegung und des Willens, die das zentrale Hindernis der deontologischen Lesart der Vertragstheorie bildet, stellt nicht nur eine ungleich fundamentalere wissenschaftliche Position und einen weitaus umfassenderen Teil des Hobbes’schen Systems dar als die vermeintlich deontologische Position zum verpflichtenden Status vertraglicher Vereinbarungen, sondern sie wird von Hobbes auch ohne Zweifel in eindeutiger und in sich konsistenter Weise entwickelt und in allen Fassungen seiner politischen Theorie in weitgehend unveränderter Form beibehalten. Sie wird von ihm zudem im Rahmen der Debatte mit John Bramhall, die ihren Anfang im Jahr 1645 nimmt und sich bis zum Jahr 1658 hinzieht, ausgiebig gerechtfertigt und dabei noch einmal in vehementer Weise bekräftigt.42 Raphaels beiläufiger und lakonischer Hinweis, Hobbes hätte angesichts der Probleme, die seine deterministische Position im Hinblick auf seine Verpflichtungstheorie aufwerfe, seine deterministische Lehre besser aufgeben sollen,43 ist daher wenig hilfreich, wenn Raphael auch zugestanden werden muss, dass er als einziger Vertreter der deontologischen Lesart den Widerspruch zwischen deterministischer Willenslehre und deontologischer _____________ 41 42

43

Vgl. E: 81. Vgl. hierzu die Schriften Of Libertie and Necessitie (1654) und The Questions Concerning Liberty, Necessity, and Chance (1656) von Hobbes sowie die Schriften „A Defence of True Liberty from Antecedent and Extrinsical Necessity“ (1655) und „Castigations of Mr Hobbes His last Animadversions“ (1658) von Bramhall. Vgl. auch die Darstellung in Chappell 1999. Vgl. Raphael 1977: 67. („If Hobbes is going to talk about obligation at all, as he certainly wants to do, he should in consistency abandon determinism.“)

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Vertragspflicht überhaupt sieht und anerkennt. Da Hobbes jedoch nicht in der von Raphael empfohlenen Weise auf seine deterministische Position verzichtet hat, kann eine Interpretation der Hobbes’schen Vertragstheorie, die mit diesem zentralen Element der Hobbes’schen Philosophie grundsätzlich unvereinbar ist, nicht akzeptiert werden. Wenn also vielleicht auch von keiner Interpretation der Vertragslehre der Elements gesagt werden kann, dass sie alle Spannungen und Inkonsistenzen der Hobbes’schen Argumentation restlos zu beseitigen vermag, so stellt doch das Fazit, dass Hobbes die Verpflichtung gegenüber Verträgen wie schon die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen nur im Sinne einer Klugheitspflicht begründet, daneben aber auch gewisse Versuche zu einer zum Scheitern verurteilten deontologischen Begründung der Vertragspflichten unternimmt, auch und gerade aufgrund seiner Vereinbarkeit mit den Grundkoordinaten der Hobbes’schen Philosophie letztlich die angemessenste Deutung der Vertragstheorie des Hobbes’schen Textes dar. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Argumenten, die gegen die Übernahme der deontologischen Lesart sprechen, um ausgesprochen grundlegende Argumente handelt, die sich direkt aus der Hobbes’schen Theorie des Willens und damit aus einem Element seiner Lehre ergeben, das im Anschluss an die Veröffentlichung der Elements keine schwerwiegenden Überarbeitungen mehr erfährt, lässt sich allerdings bereits an dieser Stelle festhalten, dass die deontologische Lesart letztlich mit Blick auf die anderen drei Schriften ebenso zurückgewiesen werden muss wie mit Blick auf die erste Fassung der Hobbes’schen Lehre.44 Selbst wenn es sich erweisen sollte, dass Hobbes in den späteren Fassungen seiner politischen Theorie noch etwas offensichtlicher und nachdrücklicher versuchen würde, die Verbindlichkeit von Verträgen auf den Vertragsabschluss als einen willentlichen Akt zurückführen, oder dass seine diesbezüglichen Aussagen in sich konsistenter wären als noch in den Elements, so könnte die deontologische Lesart aufgrund der oben hinreichend beschriebenen fundamentalen Schwierigkeiten dennoch nicht akzeptiert werden. Das Ziel der folgenden Kapitel kann folglich nicht darin bestehen, die deontologische Lesart noch einmal mit Blick auf jede einzelne Fassung umfassend zu diskutieren. Die Darstellung wird sich stattdessen vorrangig darauf beschränken, etwaigen Überarbeitungen der Hobbes’schen Vertragslehre nachzugehen und auf diese Weise einer etwaigen Entwicklung der Hobbes’schen Argumentation nachzuspüren und dabei zu prüfen, ob die betref_____________ 44

In dieser Tatsache liegt im Übrigen auch der Grund dafür, dass die in der Sekundärliteratur unternommenen Versuche, die Verpflichtung zur Vertragserfüllung mit Hilfe der Hobbes’schen Begriffe des Willens, der Überlegung und der Freiheit als eine strikt moralische Verpflichtung auszuweisen, im vorliegenden Kapitel, d.h. vor dem Hintergrund der Argumentation der Elements, diskutiert und kritisiert worden sind, obwohl sich die betreffenden Autoren selbst zum Teil stärker auf andere Fassungen der Hobbes’schen Argumentation beziehen.

7.3 De Cive

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fenden Überarbeitungen die hier bereits gewonnene und aus meiner Sicht letztlich alternativlose Deutung der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen weiter zu stützen vermögen oder ob sie sie eher erschweren.

7.3 De Cive 7.3.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre Die Hobbes’schen Ausführungen zu den verschiedenen Arten vertraglicher Vereinbarungen sind in De Cive von einer Reihe von Erweiterungen gegenüber dem Text der Elements gekennzeichnet, von denen einige durchaus in einer gewissen Beziehung zum Problem der vertraglichen Verpflichtung stehen. Im Anschluss an die Formulierung des zweiten natürlichen Gesetzes unterscheidet Hobbes zunächst wie schon in den Elements zwischen dem einfachen Rechtsverzicht (‚renuntiatio‘) und der Rechtsübertragung (‚translatio‘) und betont, dass die Übertragung des natürlichen Rechts angesichts des universalen ‚Rechts auf alles‘ nur in der Erklärung bestehen könne, einer anderen Person mit Blick auf bestimmte Handlungen fortan keinen Widerstand mehr entgegensetzen zu wollen. Nach dem zusätzlichen Hinweis, dass zum Zustandekommen eines gültigen Vertrages auch die Erklärung des Rechteempfängers erforderlich sei, das in Frage stehende Recht annehmen zu wollen, hebt Hobbes in den Paragraphen VI und VII einmal mehr hervor, dass sich die Worte, mit denen die Rechtsübertragung vollzogen werden soll, auf die Vergangenheit oder die Gegenwart beziehen müssen. Wie schon in den Elements begründet Hobbes dies mit dem Hinweis, dass Worte, die sich auf die Zukunft beziehen, für sich genommen keine hinreichenden Zeichen für das Vorliegen eines bestimmten Willens darstellen. Wie in den Elements gesteht er aber auch zu, dass zu der reinen sprachlichen Äußerung außersprachliche Zeichen hinzukommen und die Äußerung in den Rang einer Willenserklärung erheben können. Die anschließende Erörterung der Schenkung (‚donum‘) hat nun insofern eine Überarbeitung erfahren, als Hobbes, anders als in den Elements, bei seiner Diskussion der Frage, ob die bloße Ankündigung einer zukünftigen Schenkung eine wirksame und verbindliche Rechtsübertragung darstellt, ausdrücklich auch auf diesen zweiten Aspekt Bezug nimmt und zu prüfen versucht, welche außersprachlichen Zeichen oder Tatsachen der Ankündigung einer Schenkung Rechtskraft zu verleihen vermögen. In donatione autem liberâ, obligant ea verba sola, quae de praesenti sunt, vel de praeterito. Nam si de futuro sint, non obligant ut verba, propter rationem articulo proximè superiore adductam. Oportet igitur vt ab aliis signis voluntatis nascatur obligatio. Quoniam autem quicquid fit voluntariò, propter bonum aliquid fit volentis, nullum signum voluntatis

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

dandi assignari potest, praeter aliquod bonum tali donatione acquisitum, vel acquirendum. Supponitur autem nullum tale bonum acquisitum esse, neque pactum existere, quia sic non esset donatio libera. Restat igitur vt bonum mutuum sine pacto expectandum sit. Signum autem nullum dari potest, quare is qui verbis futuro vsus est, aduersus eum qui ad mutuum beneficium non teneretur, sic vellet verba eius intelligi, vt obligaretur ipse.45

Wenn die Hobbes’schen Überlegungen auch mitunter nicht ganz einsichtig sein mögen, so liegt das Ziel der Argumentation doch offensichtlich darin zu zeigen, dass es im Falle der freiwilligen Schenkung letztlich keine derartigen außersprachlichen Zeichen gibt und geben kann. Die Möglichkeit, die Hobbes in erster Linie diskutiert, ist die Frage, ob der Versprechende durch die in Frage stehende Schenkung einen Vorteil erlangt, von dem auf sein Interesse an der Schenkung und damit gleichsam indirekt auf seinen Willen rückgeschlossen werden könnte. Da sich mit der Schenkung als einer uneigennützigen Rechtsübertragung aber per definitionem kein solcher Vorteil verbindet und da laut Hobbes auch nicht sicher angenommen werden kann, dass der Versprechende auf einen jenseits der eigentlichen Vereinbarung liegenden Vorteil spekuliere, könne die Ankündigung einer Schenkung nicht als ein Vorkommnis begriffen werden, im Zuge dessen sich das betreffende Individuum wirksam zur Erbringung einer bestimmten Leistung verpflichte. Hobbes bekräftigt dieses Fazit allerdings noch einmal dadurch, dass er wie in den Elements in etwas allgemeinerer und grundlegenderer Weise die Auffassung vertritt, dass ein Versprechen prinzipiell nicht als Abschluss eines Überlegungsprozesses gewertet werden könne, wobei er explizit zugesteht, dass ein Individuum nach Leistung eines Versprechens dieses noch einmal neu überlegen und seine Neigung eine Veränderung erfahren könne. Neque rationis est, vt qui aliis facilè bene volunt, omni promisso praesentem affectum testante obligentur; & propterea promissor talis deliberare intelligendus est, & mutare affectum posse, quemadmodum & is cui promittitur mutare meritum potest. Qui deliberat autem eâtenus liber est, neque donasse dicitur; quod si promittat saepe, donet autem raro, leuitatis condemnari debet, nec vocari Donans, sed Doson.46

Wie Hobbes in De Cive seine Definition der Schenkung als Rechtsübertragung ohne beidseitigen Vorteil beibehält („Si quis ius aliquod suum ad alterum transferat, neque id faciat propter bonum mutuo acceptum, vel propter pactum, eiusmodi translatio DONVM vocatur“47), so nimmt er auch keine wirklichen Änderungen an seiner Vertragsdefinition vor, wenn er den Aspekt des wechselseitigen Vorteils auch nicht so deutlich herausstellen mag wie noch in den Elements und stattdessen den Aspekt der Rechtsübertragung etwas stärker _____________ 45 46 47

DC: 101f. DC: 102. DC:101.

7.3 De Cive

431

in den Mittelpunkt rückt. Unter dem Begriff ‚Vertrag’ (‚contractus‘) begreift Hobbes nun generell eine wechselseitige Übertragung von Rechten, und wie zuvor kennzeichnet er einen Vertrag, bei denen eine oder alle Parteien die von ihnen zugesagte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen haben, mit einem eigenen Begriff, nämlich mit dem Begriff ‚pactum‘. Die nun folgende Begründung, warum ‚pacta‘ im Gegensatz zur Ankündigung einer zukünftigen Schenkung verpflichten, ist in einer Weise geändert worden, die den schon im Text der Elements enthaltenen Hinweis auf die erste Partei und ihre bereits erfolgte Erfüllung klarer hervortreten und etwas deutlicher werden lässt, was Hobbes mit dem betreffenden Hinweis überhaupt bezweckt. Pactum autem quod fit ab eo cui creditur, cum eo qui iam praestitit, etiamsi promissio facta sit verbis de futuro, non minus futuri temporis ius transfert, quam si facta esset verbis de praesenti vel praeterito. Praestatio enim signum manifestissimum est, eum qui praestitit, ita intellexisse orationem alterius cui credebat, tanquam volentis praestare condicto tempore; eoque signo cognouit is, sic se intelligi; quod quia non correxit, voluit fieri. Promissa igitur quae fiunt propter bonum acceptum (quae & pacta sunt) signa sunt voluntatis, hoc est (vt praecedente sectione ostensum est) vltimi actûs deliberandi, quo libertas non praestandi tollitur, & per consequens sunt obligatoria; vbi enim libertas desinit, ibi incipit obligatio.48

Während Hobbes in den Elements die Vertragserfüllung durch die erste Partei nur als Beleg für deren subjektiven Glauben, die zweite Partei habe den Willen zur Erbringung der versprochenen Leistung, angeführt hat, rückt er nun stärker die Tatsache in den Mittelpunkt, dass die zweite Partei die Erfüllung durch die erste Partei nicht verhindert und auf diese Weise den eigenen, im Vertragsabschluss zum Ausdruck gebrachten Willen noch einmal stillschweigend bekräftigt habe („eoque signo cognouit is, sic se intelligi; quod quia non correxit, voluit fieri“). Die diesbezügliche Umarbeitung der Passage stellt nun zwar ohne Zweifel eine gewisse Verbesserung dar, weil die Vertragserfüllung durch die erste Partei nur in dieser Form überhaupt als mögliches Indiz für einen fremden Willen, nämlich den der zweiten Partei, in Frage kommen kann. Auch in der überarbeiteten Form vermag die Passage aber nicht die argumentative Funktion zu erfüllen, die Hobbes ihr zugedacht hat. Auf der einen Seite ist keineswegs auszuschließen, dass die zweite Partei, obwohl sie die Erfüllung durch die erste Partei nicht verhindert und dadurch deren Vertrauen vordergründig bestätigt hat, insgeheim schon nicht mehr beabsichtigt, die versprochene Leistung zu erbringen. Das Verhalten der zweiten Partei wäre in diesem Fall kein Indiz für den wirklichen und aufrichtigen Willen der zweiten Partei, sondern diente lediglich dem Zweck, der ersten Partei den Willen zur Vertragstreue vorzuspielen und sich auf diese Weise den mit der _____________ 48

DC: 102.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Leistung der ersten Partei verbundenen Vorteil zu erschleichen. Und selbst wenn das Verhalten der zweiten Partei im Sinne der Hobbes’schen Ausführungen deren wirklichen und aufrichtigen Willen zum Ausdruck brächte, an der Vereinbarung festzuhalten und die eigene Leistung ebenfalls zu erbringen, so kann doch deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Wille der zweiten Partei bis zu dem Zeitpunkt, an dem die eigene Leistung fällig wird, noch ändern wird. Mit seinem Hinweis gelingt es Hobbes daher im besten Fall zu zeigen, dass die zweite Partei über den zum Zeitpunkt A als dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zum Ausdruck gebrachten Willen auch noch zum Zeitpunkt A’ als dem Zeitpunkt der Vertragserfüllung durch die erste Partei verfügt. Es gelingt ihm aber nicht, das zu zeigen, was er eigentlich zeigen will, nämlich dass die zweite Partei auch noch zum Zeitpunkt B als demjenigen Zeitpunkt, an dem sie ihr eigenes Versprechen zu erfüllen hat, über diesen Willen verfügen wird oder verfügen muss. Folglich fehlt es Hobbes’ abschließendem Fazit, alle vertraglichen Versprechen, im Austausch für ein empfangenes Gut eine zukünftige Leistung zu bringen, stellten Willenserklärungen dar, die im Hinblick auf die in Frage stehende Handlung die Freiheit des Versprechenden aufhöben und ihn in diesem Sinne verpflichteten, in De Cive ebenso an einer überzeugenden Grundlage wie zuvor in den Elements. Im folgenden elften Paragraph hebt Hobbes einmal mehr hervor, dass Verträge, die auf wechselseitigem Vertrauen beruhen, im Naturzustand als einem Zustand ohne allgemeine Zwangsgewalt keine wirkliche Kraft entfalten können. Hobbes leistet dabei der oben von uns zurückgewiesenen Lesart, derartige Verträge seien per se nicht verbindlich, insofern Vorschub, als er die betreffenden vertraglichen Übereinkünfte nicht mehr nur als nutzlos oder wirkungslos bezeichnet, sondern als ungültig („inualida“49). Der Eindruck, ‚pacta‘ brauchten von den Vertragsparteien im Naturzustand prinzipiell nicht erfüllt zu werden, wird allerdings schon durch den relativierenden Einschub „si iustus ex vtrauis parte metus oriatur“50 ein wenig korrigiert, und erst recht trifft dies auf die in der zweiten Auflage von De Cive hinzugefügte Anmerkung zu, in der Hobbes ausdrücklich darauf hinweist, dass ‚pacta‘ auch im Naturzustand erst und nur dann ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit verlieren, wenn nach Abschluss des Vertrages ein neuer und zusätzlicher Grund eintritt, an der Erfüllung durch die jeweils andere Partei zu zweifeln. Nam nisi causa metus noua exsistat, ex facto, vel alio signo voluntatis non praestandi à parte alterâ, metus justus conseri non potest. Causa enim quae impedire non poterat, quin pacisceretur, impedire non debet quin pactum praestet.51

_____________ 49 50 51

DC: 102. DC: 102. DC: 103.

7.3 De Cive

433

Die Anmerkung bestätigt daher mit Blick auf De Cive ausdrücklich die oben schon mit Blick auf die Elements vertretene Auffassung, nach der nach einer bereits erfolgten Vertragserfüllung durch die erste Partei die zweite Partei auch im Naturzustand uneingeschränkt zur Erbringung der versprochenen Leistung verpflichtet ist und bleibt. Da im Falle einer bereits vollzogenen Vertragserfüllung durch die erste Partei prinzipiell kein Grund mehr existieren oder eintreten kann, aus dem an dieser Erfüllung gezweifelt werden könnte, muss jeder Vertrag, der von einer der Parteien erfüllt worden ist, mit Blick auf die andere Partei notwendigerweise seine Gültigkeit und Verbindlichkeit behalten. Auf den zwölften Paragraphen, in dem Hobbes sich unverändert zur Frage äußert, mit welchen Wesen überhaupt gültige Verträge geschlossen werden können, folgen zwei Abschnitte, die so nicht im Text der Elements enthalten sind, wenn die darin zum Ausdruck gebrachten Positionen auch zum Teil nicht gänzlich neu sind. Der dreizehnte Paragraph schließt sich inhaltlich an die vorangegangenen Ausführungen an und widmet sich dem Gelübde als dem vergeblichen Versuch, einen gültigen Vertrag mit Gott zu schließen. Der vierzehnte Paragraph enthält einige ergänzende Aussagen zum Zusammenhang von Überlegungsprozess, Wille und Verpflichtung. Da die Ausführungen unter anderem von dem Bemühen geprägt sind, nur solche Verträge als gültig und verbindlich auszuweisen, in denen Leistungen vereinbart werden, deren Erbringung den Parteien auch prinzipiell möglich ist, stehen sie inhaltlich in einem gewissen Zusammenhang zum abschließenden Paragraphen des fünfzehnten Kapitels der Elements, in dem Hobbes in ähnlicher Weise darauf verwiesen hatte, dass Eide und Verträge sich nur auf Handlungen beziehen können, die vom betreffenden Individuum auch ausgeführt werden können und bezüglich derer ein Überlegungsprozess möglich ist. Die Passage ist aber insofern von zusätzlichem Interesse, als Hobbes ausdrücklich hervorhebt, dass eine erst nach dem Vertragsabschluss erfolgende Einsicht in die Unmöglichkeit der versprochenen Leistung die betreffende Partei nicht zwangsläufig von allen Verpflichtungen entbindet, und als er in diesem Zusammenhang in ähnlicher Weise wie schon im Rahmen seiner Erörterung der Schenkung eine Beziehung zwischen der Pflicht zur Vertragserfüllung und dem durch einen Vertrag erlangten Vorteil herzustellen versucht. Pacta fiunt de actionibus illis solis, quae cadunt sub deliberationem; pactio enim non fit sine voluntate paciscentis; voluntas autem, vltimus actus est deliberantis. Sunt ergo de possibilibus tantùm & futuris. Nemo igitur pacto suo obligat se ad impossibile. Quoniam autem paciscimur saepissimè eas res quae possibiles tum videntur cum promittimus, quas tamen post constat esse impossibiles, non ideo omni obligatione liberamur. Ratio cuius rei ea est, quod is qui futurum incertum promittit, beneficium praesens ea lege accipit vt mutuum reddat; voluntas enim eius qui praesens beneficium praestat, pro obiecto, simpliciter habet bonum sibi, quanti erat res promissa; ipsam autem rem, non

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

simpliciter, sed si fieri potest. Verum si accidat, neque id possibile esse, praestandum est quantum praestari potest. Obligant igitur pacta, non ad ipsam rem pactam, sed ad summum conatum; hoc enim solum, non res ipsae in nostra potestate sunt.52

Der Hinweis auf den Zusammenhang von Verpflichtung und empfangenem Vorteil ist vor allem deshalb auffällig, weil er von Hobbes noch an einer dritten Stelle wiederholt wird. Nachdem Hobbes in ähnlicher Weise wie in den Elements skizziert hat, auf welche Weise man aus einem gültigen Vertrag entlassen werden kann, widmet er sich einmal mehr relativ ausgiebig der Frage, ob auch solche Versprechen verpflichten, die aus Furcht um das eigene Leben abgegeben worden sind. Anders als in den Elements verweist Hobbes im Rahmen seiner Antwort nun aber nicht mehr darauf, dass es sich bei einem solchen Versprechen um einen willentlichen Akt handle. Als entscheidendes Kriterium für das Vorliegen einer Verpflichtung präsentiert Hobbes stattdessen die Frage, ob der Versprechende infolge des Versprechens ein Gut empfängt, sowie die schon in den Elements angedeutete Frage, ob die versprochene Leistung selbst von den bestehenden Gesetzen erlaubt wird. Vniuersaliter verum est obligare pacta, quando acceptum est bonum, & promittere & id quod promittitur licitum est; licitum autem est & ad redimendam vitam promittere, & de meo dare quicquid voluero cuiquam, etiam latroni. Obligamur ergo pactis, à metu profectis, nisi lex ciuilis aliqua prohibeat, per quam id quod promittitur fiat illicitum.53

Auf den anschließenden Hinweis, dass ein- und dieselbe Sache nicht mehrfach veräußert werden dürfe und dass in einem solchen Fall der spätere Vertrag als ungültig anzusehen sei, folgen zwei weitere Paragraphen, die nicht im Text der Elements enthalten sind. Beim ersten der beiden Paragraphen handelt es sich um eine umfangreiche Erörterung der Frage, ob ein Vertrag verpflichtend sein kann, in dem ein Individuum zusagt, sich etwaigen Angriffen auf sein Leben oder seinen Körper nicht zu widersetzen. Nachdem Hobbes diese Frage im Sinne des Rückgriffes auf das Prinzip ‚ought implies can‘ verneint und eine begrenztes Widerstandsrecht begründet hat, betont er im folgenden neunzehnten Paragraphen zusätzlich, dass niemand verpflichtet sein könne, sich selbst oder seine Angehörigen anzuklagen, und begründet auf diese Weise ein Zeugnisverweigerungsrecht. Die vier Paragraphen, die das zweite Kapitel beschließen, widmen sich wie schon in den Elements der Erörterung des Eides (‚ius-iurandum‘). Die beiden letzten Paragraphen sind dabei insofern überarbeitet worden, als Hobbes im letzten Paragraphen auf den schon angesprochenen, an eine frühere Stelle verschobenen Hinweis verzichtet, dass Eide und Verträge Handlungen zum Inhalt haben müssen, deren Ausführung _____________ 52 53

DC: 103f. DC: 104.

7.3 De Cive

435

möglich sei, und als er im vorletzten Paragraphen den Zusammenhang von Eid und Verpflichtung mit leicht veränderten Worten beschreibt. Auch in der überarbeiteten Version enthält die Passage aber den Hinweis, dass Verträge aus sich selbst heraus verpflichteten und der Eid, obwohl er für den Fall der Zuwiderhandlung göttliche Bestrafungen herausfordere, der Verbindlichkeit des Vertrages nichts hinzuzufügen vermöge. Ex allatâ iuris-iurandum definitione intelligi potest, pactum nudum non minus obligare, quam in quod iurauimus. Pactum enim est quo astringimur; iuramentum ad punitionem diuinam attinet, quam prouocare ineptum esset, si pacti violatio non esset per se illicita; illicita autem non esset, nisi pactum esset obligatorium. Praeterea qui renunciat misericordiae diuinae, non obligat se ad poenam, quia semper licitum est, poenam vt cumque prouocatam deprecari, atque diuina, si concedatur, frui indulgentia. Effectus ergo iuramenti is solus est, vt hominibus natura pronis ad violationem datae fidei, maior Iuratis causa sit metuendi.54

Die vertragstheoretischen Passagen des anschließenden dritten Kapitels sind ebenfalls von einigen Erweiterungen gekennzeichnet. So fügt Hobbes im Anschluss an seine Formulierung des dritten Naturgesetzes eine zusätzliche Passage in den Text ein, in der er betont, dass die Erfüllung eines Vertrages nicht mit einem Hinweis auf die grundsätzliche Unzuverlässigkeit der anderen Partei verweigert werden dürfe, da in einem solchen Fall nicht einzusehen sei, warum mit der betreffenden Person überhaupt ein Vertrag geschlossen worden sei. Die folgende Definition des Begriffes ‚injuria‘ sowie der anschließende Vergleich von Unrecht und absurder Schlussfolgerung weisen keine entscheidenden Abweichungen zum Text der Elements auf. Wie zuvor behauptet Hobbes unzulässigerweise, eine Vertragspartei, die die von ihr zugesagte Leistung zum fraglichen Zeitpunkt nicht erbringe, wolle zur gleichen Zeit die Erbringung und die Nichterbringung der Leistung und verwickle sich auf diese Weise in einen Widerspruch („Nam futuram actionem paciscendo, vult fieri; non faciendo, vult non fieri: quod est velle fieri & non fieri idem eodem tempore, quae contradictio est.“55). Der darauf folgende Hinweis, man könne nur derjenigen Person durch die Verletzung eines Vertrages ein Unrecht tun, mit der man den Vertrag geschlossen habe, nicht aber einer dritten Person, die durch die Vertragsverletzung einen Schaden erleide, ist in der zweiten Auflage von De Cive um eine Anmerkung erweitert, in der Hobbes eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Ungerechtigkeit (‚injustitia‘) und Unrecht (‚injuria‘) vorzunehmen versucht und die Besonderheit des Unrechts, d.h. der Vertragsverletzung, darin sieht, dass es eine bestimmte Person trifft, nämlich diejenige, mit der der in Frage stehende Vertrag konkret geschlossen worden ist. _____________ 54 55

DC: 106f. DC: 109.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Injustitiae nomen significat relativè ad legem; Injuriae, tum ad legem tum ad Personam certam. Nam Injustum, omnibus injustum est; Injuria vero potest esse nec tamen mihi vel illi, sed alii; & quandoque nemini privato, sed ciuitati tantum; etiam nec homini cuiquam nec ciuitati, sed soli Deo. Nam pacto, & juris translatione, fit, ut injuria in hunc vel illum fieri dicatur.56

Wie im nächsten Kapitel ausführlicher gezeigt werden wird, lässt sich die Unterscheidung zwischen ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ zur Stützung der oben von uns vertretenen Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten nutzen. Die Unterscheidung zieht indirekt allerdings insofern einige leichtere Schwierigkeiten nach sich, als sie zu gewissen terminologischen Spannungen führt. Diese ergeben sich daraus, dass Hobbes im Rahmen der folgenden Erörterung der Unterscheidung von gerechten Personen und gerechten Handlungen, der von den Begriffen ‚justitia’ und ‚injustitia‘ ausgeht. den Begriff ‚injuria‘ weiterhin wie in den Elements als Begriff präsentiert, mit dem Handlungen als ungerecht gekennzeichnet werden („Cùm actionibus tribuuntur, idem significat Iustum, quod iure factum; & Iniustum, quod Iniuriâ.“57), wenn er auch in Rahmen der daran anschließenden Unterscheidung von distributiver und kommutativer Gerechtigkeit von der zusätzlichen expliziten Aussage, der Begriff des Unrechtes bezeichne die Ungerechtigkeit von Handlungen („injury, which is the injustice of action“58) absehen mag. Angesichts der zuvor vorgenommenen Entgegensetzung von ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ dürfte im Rahmen der Unterscheidung von gerechten Handlungen und gerechten Personen nun aber eigentlich ausschließlich von solchen Pflichten und Pflichtverletzungen die Rede sein, die sich nicht direkt auf bestimmte andere Individuen beziehen, d.h. der Begriff ‚injuria‘, der ja allein die Verletzung derjenigen Pflichten bezeichnet, die aus einem Vertrag entstehen und sich folglich auf einen bestimmten Vertragspartner beziehen, dürfte im Kontext der Unterscheidung von gerechten Handlungen und gerechten Personen und damit im Kontext der Gerechtigkeitsdiskussion überhaupt keine Verwendung mehr finden. Umgekehrt ließe sich auch argumentieren, dass es sich bei denjenigen Pflichtverletzungen, die sich nicht direkt auf bestimmte andere Personen beziehen und die deshalb von Hobbes zunächst mit dem Begriff ‚injustitia‘ als dem Gegenbegriff zum Begriff ‚injuria‘ bezeichnet worden sind, unzweifelhaft um Handlungen handelt, d.h. sie müssten gemäß der späteren Aussage, nach der der Begriff ‚injuria‘ die Ungerechtigkeit von Handlungen kennzeichnet, unter den Begriff ‚injuria‘ und eben nicht unter dessen Gegenbegriff fallen. Wenn Hobbes den Begriff des Unrechtes daher unbedingt in seine Diskussi_____________ 56 57 58

DC: 109f. DC: 110. E: 84.

7.3 De Cive

437

on des Unterschiedes zwischen gerechten Personen und gerechten Handlungen hätte integrieren wollen, so hätte er zumindest eine zusätzliche Unterscheidung zwischen solchen ungerechten Handlungen vornehmen sollen, die sich nicht direkte auf bestimmte andere Menschen beziehen, und solchen, die sich sehr wohl direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen, und er hätte ausschließlich die letzteren mit dem Begriff ‚injuria‘ kennzeichnen sollen. Der Begriff ‚injuria‘ wäre dann nicht synonym mit dem Begriff der ungerechten Handlung bzw. mit dem Begriff ‚injustice of actions‘ verwendet worden, sondern hätte lediglich einen Teilbereich des übergeordneten Begriffs der ungerechten Handlung ausgemacht, und dieser Unterschied hätte ausgereicht, um die vorherige Entgegensetzung von ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ weiterhin als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Im Zuge unserer Erörterung des englischen Leviathan wird deutlich werden, dass sich die terminologischen Schwierigkeiten, die sich mit den Begriffen ‚Unrecht‘ und ‚Ungerechtigkeit‘ verbinden und auf die – soweit ich sehe – bislang von keinem Autor hingewiesen worden ist,59 in der dritten Formulierung der Hobbes’schen Vertragstheorie noch zu verschärfen drohen, da Hobbes den Begriff der Ungerechtigkeit dort erstmals auch zur direkten Kennzeichnung von Vertragsbrüchen verwenden wird, dass Hobbes diesen Schwierigkeiten aber auch mit Hilfe einer leichten Überarbeitung seiner Argumentation bewusst zu begegnen versucht. Der fünfte Paragraph, in dem die Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen ihren Platz hat, weist im Übrigen keine entscheidenden Modifikationen gegenüber dem Text der Elements auf. Einige der Änderungen stützen zwar zusätzlich die oben von uns entwickelte nicht-deontologische Lesart, so etwa die leicht veränderten anfänglichen Beschreibungen des gerechten und des ungerechten Menschen. Wenn aber die Aussage, der gerechte Mensch bemühe sich, gerecht zu handeln, und erfreue sich am gerechten Handeln („esse iustum significat, idem quod iustè faciendo delectari, iustitiae studere, vel conari facere in omni re id quod iustum est“60), den Begriff des Handelns aus Pflicht weniger stark nahelegen mag als die diesbezüglichen Beschreibungen der Elements, und wenn die Schilderung der ungerechten Person als einer Person, die sich nicht von der Gerechtigkeit, sondern vom kurzfristigen Vorteil leiten lasse („esse Iniustum est negligere iustitiam, vel eam non pacto suo, sed praesenti commodo mensurandam existimare“61), die Möglichkeit offen lassen mag, dass auch die Ge_____________ 59

60 61

Vgl. etwa Foisneau, der zwar relativ ausführlich auf die oben zitierte Passage eingeht, der aber nicht auf die Schwierigkeiten verweist, die innerhalb der Argumentation von De Cive aus Hobbes’ Entgegensetzung von ‚injuria‘ und ‚injustitia‘ resultieren und der auch die diesbezügliche Umgestaltung des Begriffsgebrauches im englischen Leviathan nicht in der angemessenen Weise berücksichtigt (vgl. Foisneau 2004: 107). DC: 110. DC: 110.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

rechtigkeit für Hobbes ihre Grundlage letztlich im Nutzen, nämlich im langfristigen Nutzen, haben könnte, so scheint doch die Darstellung gegen Ende der Passage mit ihrer Betonung des Handelns um des gesetzlichen Gebotes willen eher wieder eine deontologische Deutung nahezulegen („Iustus autem homo dicendus est, qui iusta facit propter preceptum legis; iniusta non nisi infirmitatem; iniustus qui iusta facit propter poenam legi adiunctam, iniusta per animi iniquitatem.“62). An die folgende Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit schließt sich abermals eine neue Passage an, die die vertragstheoretischen Ausführungen beschließt und in der Hobbes das traditionelle Diktum volenti non fit injuria aus den Annahmen und Begriffen seiner eigenen Vertragslehre herzuleiten versucht. Vetus est, volenti non fit injuria. Veritatem tamen dicti liceat ex principiis nostris deriuare. Factum enim sit id quod quis iniurium sibi putet volenti, ergo, volente eo, fit id quod per pactum non licuit. Sed volente eo fieri, id quod pacto non licebat, pactum ipsum (per articulum 15. capitis praecedentis) fit irritum; ius ergo faciendi redit; fit igitur iure; quare iniuria non est.63

7.3.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen Es ist oben bereits vorweggenommen worden, dass die prinzipiellen Probleme, die die Hobbes’sche Psychologie und Anthropologie für die deontologische Deutung der Vertragstheorie aufwerfen, ausreichen, um die Deutung mit Blick auf alle vier Fassungen der Hobbes’schen Theorie zurückzuweisen. Auch die noch zu untersuchende Frage, ob die nicht leugbaren Ansätze zu einer nicht-prudenziellen Begründung der vertraglichen Verpflichtungen und zu einer Rückführung dieser Verpflichtungen auf die Begriffe des Willens und der Überlegung von Hobbes in den späteren Werken weiter entwickelt und zu größerer Konsistenz und Klarheit geführt werden, kann aber mit Blick auf De Cive ohne Zweifel verneint werden. Wie in den Elements finden sich auch in De Cive sowohl solche Passagen, in denen die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen als Folge einer faktischen Festlegung der Vertragsparteien auf einen bestimmten Willen präsentiert wird, als auch Passagen, in denen Hobbes selbst zuzugestehen scheint, dass im Zuge des Vertragsschlusses eine solche Festlegung gar nicht erfolgt oder erfolgen kann. Wie schon in den Elements vermag zudem die versuchte Rückführung der Vertragspflichten auf den Begriff ‚freedom as deliberation‘ auch in De Cive die deontologischen Anklänge in Hobbes’ Beschreibung der vertraglichen Verpflichtungen der _____________ 62 63

DC: 110. DC: 111.

7.3 De Cive

439

Individuen gar nicht hinreichend zu legitimieren, weil sie kein Argument dafür zu liefern imstande ist, warum die Individuen ihre Pflichten erfüllen sollten. Wie im vorangegangenen Kapitel deutlich geworden ist, hält Hobbes in De Cive an der in den Elements vertretenen Auffassung fest, dass die Ankündigung einer zukünftigen Schenkung keinerlei Verpflichtung nach sich zieht, und den oben beschriebenen Überarbeitungen seiner Argumentation zum Trotz lautet sein entscheidendes Argument auch in De Cive letztlich, dass die beabsichtigte Schenkung einer neuen Überlegung unterworfen werden und sich die zum Ausdruck gebrachte Neigung des Ankündigenden oder Versprechenden verändern kann. Wie in den Elements gesteht Hobbes aber weiterhin solchen Verträgen, bei denen eine Partei oder beide Parteien für die Zukunft die Erbringung einer bestimmten Leistung versprechen, Verbindlichkeit zu und begründet diese Verbindlichkeit nach wie vor mit dem Hinweis, es handle sich bei den betreffenden Versprechen um Willenserklärungen, in deren Zuge der Versprechende die Freiheit, die in Frage stehende Leistung zu verweigern, einbüße. Hobbes bemüht sich nun zwar, den Unterschied zwischen der Ankündigung einer zukünftigen Schenkung und der vertraglichen Zusage einer zukünftigen Leistung zusätzlich dadurch zu bekräftigen, dass er den durch die vertragliche Übereinkunft erzielten Vorteil ins Spiel bringt, zu dem es im Fall der Schenkung per definitionem kein Äquivalent gibt und geben kann. Hobbes’ Versuch, diesen objektiven Vorteil als ein nicht-sprachliches, die sprachliche Zusage ergänzendes oder bekräftigendes Zeichen für den Willen des Verpflichteten zur Vertragserfüllung zu präsentieren, vermag aber so nicht zu überzeugen, vor allem, da Hobbes nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen vermag, dass das betreffende Individuum seinen Willen bis zu dem letztlich entscheidenden Zeitpunkt, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem die vereinbarte Leistung fällig wird, faktisch ändern kann. Die damit unvermeidbare Spannung zwischen Hobbes’ Erörterung der Schenkung und seiner Erörterung des auf Vertrauen beruhenden Vertrages wird im Übrigen wie in den Elements dadurch bekräftigt, dass Hobbes im Rahmen seiner Beschreibung des Gesellschaftsvertrages ausdrücklich betont, der menschliche Wille sei selbst nicht frei und unterliege weder der Überlegung noch der vertraglichen Festlegung,64 und wie schon in den Elements erwecken die entsprechenden Ausführungen den Eindruck, als gehe der Wille und mit ihm die Verpflichtung zur Befolgung des Gesellschaftsvertrages letztlich vor allem auf die Sanktionen des Souveräns und den von ihnen bewirkten Schrecken (‚terror‘) zurück. Da Hobbes zudem noch an einer zusätzlichen, in den Elements so nicht enthaltenen Stelle, nämlich in seiner Erörterung des Satzes volenti non fit injuria in Kapitel III, indirekt zugesteht, dass sich nach Abschluss eines Vertrages der Wille der Vertragsparteien verändern und dies _____________ 64

Vgl. DC: 134.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

zu einer legitimen Modifizierung oder Aufhebung des vertraglich Vereinbarten führen kann,65 und gleichzeitig umgekehrt weiterhin an seinem problematischen Vergleich von Unrecht und absurder Schlussfolgerung festhält, in dem er eben dies zu leugnen scheint, lässt sich sogar mit einigem Recht die Auffassung vertreten, die Argumentation von De Cive sei mit Blick auf den vermeintlichen Zusammenhang von Willenserklärung und vertraglicher Verpflichtung noch ein wenig unklarer und inkonsistenter als die der Elements. Die Überarbeitungen, die Hobbes an denjenigen Passagen vornimmt, in denen er die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen zu den Begriffen Überlegung, Wille und Freiheit in Verbindung zu setzen versucht, vermögen also die Widersprüchlichkeit der Hobbes’schen Position nicht aufzulösen und können damit schon in diesem Sinne nicht zur Stärkung der deontologischen Lesart herangezogen werden. Hinzu kommt aber noch, dass sie ihrer inhaltlichen Ausrichtung nach eher die Deutung stützen, bei den Hobbes’schen Vertragspflichten handle es sich wie bei der Pflicht zur Befolgung der Naturgesetze um Klugheitspflichten, die ihre Grundlage im wohlverstandenen und langfristigen Eigeninteresse der betreffenden Individuen haben. Es ist oben bereits angemerkt worden, dass Hobbes in derjenigen Passage des zweiten Kapitels, in der er für die Verbindlichkeit solcher Verträge argumentiert, die aus Furcht um das eigene Leben geschlossen worden sind, sich nicht mehr wie noch in den Elements auf die Tatsache beruft, dass es sich bei den betreffenden Verträge um willentliche Akte handle. Stattdessen rückt er mit dem Nutzen, den der Verpflichtete aus dem Vertrag zieht, ein neues Kriterium in den Mittelpunkt, ein Kriterium, auf das er auch in drei weiteren Passagen des zweiten Kapitels ausdrücklich zurückgreift und das die Bedeutung des Aktes der Selbstbindung, d.h. der aktiven oder passiven Festlegung auf einen bestimmten Willen im Zuge des Vertrages, spürbar gegenüber prudenziellen Aspekten zurücktreten lässt. Indem Hobbes die Verpflichtung zur Erfüllung geschlossener Verträge nicht mehr mit so viel Nachdruck auf die Tatsache zurückführt, dass sich die Vertragsparteien der Freiheit begeben haben, die zugesicherte Leistung zu verweigern, sondern sie zumindest vordergründig zunehmend zu der Tatsache in Beziehung setzt, dass der Vertrag mit einem Nutzen für den Handelnden verbunden ist oder von diesem zumindest ursprünglich als vorteilhaft gesehen wurde, wertet er in gewisser Weise all diejenigen Indizien zusätzlich auf, die ohnehin den Eindruck erwecken, als bleibe die Verbindlichkeit von Verträgen wie die Verbindlichkeit aller Naturgesetze in letzter Konsequenz vom Eigeninteresse der Individuen abhängig. Es muss allerdings zugestanden werden, dass sich das Kriterium des individuellen Vorteils auch durchaus sinnvoll zu den Begriffen Überlegung und Wille in Beziehung setzen lässt. Da, wie Hobbes mehrfach betont, der Ge_____________ 65

Vgl. DC: 111.

7.3 De Cive

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genstand des menschlichen Wollens immer in einem individuellen Vorteil besteht, kann einem Menschen immer nur da der Wille zu einer bestimmten Handlung unterstellt werden, wo gezeigt werden kann, dass die in Frage stehende Handlung mit einem gewissen subjektiven Vorteil verbunden ist. Man könnte daher die Hervorhebung des Nutzenaspekts in De Cive allein damit zu erklären versuchen, dass Hobbes neben den im Zuge des Vertragsschlusses gesprochenen Worten ein weiteres objektives Kriterium einführen will, von dem aus auf das Vorliegen eines bestimmten Willens rückgeschlossen werden kann. Wenn diese Überlegung aber auch sinnvoll aus den Hobbes’schen Aussagen rekonstruiert werden kann, so weisen doch die vordergründigen und sichtbaren Überarbeitungen der vertragstheoretischen Ausführungen meines Erachtens eher in die zuvor von uns skizzierte Richtung. Auch wenn man die genannten Überarbeitungen nicht in dieser Weise als zusätzliches Indiz für die hier vertretene Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten gelten lassen will, so lässt sich doch noch von zwei weiteren Abweichungen des lateinischen Textes behaupten, dass sie eher die von uns vertretene Lesart als die deontologische Deutung stärken oder bestätigen. So findet sich eine Passage, die nahelegt, dass die oben ausführlich beschriebene marginale terminologische Ungleichbehandlung von Naturgesetzübertretung und Vertragsbruch bzw. von natürlichem Recht und vertraglich generiertem Recht ihren Ursprung in der Tat in den denjenigen Gründen hat, die oben versuchsweise aufgelistet worden sind. Es handelt sich bei dieser Passage um die im vorangegangen Kapitel bereits ausführlich zitierte Anmerkung des dritten Kapitels, die sich der Unterscheidung der Begriffe ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ widmet und in der Hobbes die Tatsache, dass durch einen Vertragsbruch immer auch eine bestimmte Person geschädigt wird, als Wesensmerkmal des ‚Unrechtes‘ identifiziert, die Tatsache, dass durch eine bestimmte Handlung ein Gesetz verletzt wird, dagegen als Merkmal der ‚Ungerechtigkeit‘. Der Hinweis, dass es sich bei der Vertragsverletzung insofern um einen umfassenderen Begriff handelt, als diese immer sowohl eine bestimmte Person als auch ein Gesetz trifft, stützt nun deutlich unsere oben vorgeschlagene Interpretation, nach der Hobbes den Begriff des Unrechts (‚injuria‘) nicht deshalb für die Missachtung vertraglicher Verpflichtungen zu reservieren versucht, weil diese Verpflichtungen ihrer prinzipiellen Kraft nach von den Verpflichtungen gegenüber den Naturgesetzen verschieden wären, sondern eher deshalb, weil der Bruch eines Vertrages nicht nur allgemein eine Verletzung des dritten natürlichen Gesetzes darstellt, sondern sich zudem immer und notwendigerweise auf eine bestimmte Person bezieht, also in einem spezifischeren Sinne ein Unrecht darstellt, das jemandem angetan wird. Analog lässt sich folgern, dass auch der Hobbes’sche Begriff des Eigentums bzw. des ‚mine‘ und ‚thine‘ nicht deshalb ausschließlich zur Bezeichnung vertraglich generierter Rechte verwendet wird, weil diesen Rechten – und nur ihnen –

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

moralische Verpflichtungen im strengen Sinne korrespondierten, sondern allein deshalb, weil es Rechte sind, die sich ebenfalls notwendigerweise direkt auf jemand anderen, nämlich auf einen Vertragspartner, beziehen. Die zweite Passage stützt die von uns vertretene Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten nur in einer sehr indirekten Weise, insofern nämlich, als sie dazu beiträgt, den Versuch, die Vertragspflichten stark deontologisch zu deuten und sie im Akt der individuellen Selbstbindung zu verankern, als übertriebene Kantianisierung der Hobbes’schen Position erscheinen zu lassen. Sie findet sich im sechsten Kapitel von De Cive, in dem Hobbes sich mit den Recht des Inhabers der souveränen Gewalt befasst. Wie schon in den Elements weist Hobbes nachdrücklich darauf hin, dass der Souverän über keine Pflicht zur Befolgung der positiven Gesetze verfüge, da er keinen direkten Vertrag mit seinen Untertanen geschlossen habe. Hobbes ergänzt sein Argument aber insofern, als er den grundsätzlichen Hinweis hinzufügt, eine Person könne prinzipiell niemals sich selbst gegenüber verpflichtet sein, da sie sich selbst jederzeit aus der betreffenden Verpflichtung entlassen könne. Neque sibi dare aliquid quisquam potest, quia iam habere supponitur quod dare sibi potest; neque sibi obligari; nam cùm idem esset obligatus & obligans, obligans autem obligatum possit liberare, frustra esset sibi obligari, quia liberare seipsum potest arbitratu suo, & qui hoc potest iam actu liber est.66

Die obige Passage steht nun zwar für sich genommen sicherlich nicht in einem direkten Widerspruch zur deontologischen Lesart. Der Hinweis, eine Person könne sich selbst immer aus einer vermeintlichen Selbstverpflichtung entlassen, stellt aber einerseits ein weiteres indirektes Eingeständnis dar, dass der Wille einer Person prinzipiell nicht durch eine einmal erfolgte Willenserklärung determiniert ist, sondern im Anschluss an einen Überlegungsprozess eine Veränderung erfahren kann. Auf der anderen Seite liefert die Passage ein Indiz dafür, wie weit Hobbes in seinem Denken vom Kantischen Autonomiebegriff und davon entfernt ist, die vertragliche Bindung im Sinne einer strikt verbindlichen autonomen Selbstbindung zu begreifen, wie dies die Vertreter der deontologischen Lesart mitunter nahelegen. Die bislang besprochenen Überarbeitungen der Hobbes’schen Argumentation führen also insgesamt dazu, dass das in den Elements relativ deutlich hervortretende Bemühen, den Begriff der vertraglichen Verpflichtung im Ausgang vom Begriff ‚freedom as deliberation‘ eigens zu begründen, spürbar zurücktritt und dass sich der vordergründige Eindruck, die Verpflichtung gegenüber Verträgen sei vom dritten natürlichen Gesetz abhängig und folglich als eine prudenzielle Verpflichtung zu begreifen, etwas verstärkt. Dass die Hobbes’sche Argumentation aber auch in dieser Richtung letztlich zu keiner _____________ 66

DC: 144.

7.3 De Cive

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wirklichen Konsistenz gelangt, liegt einerseits daran, dass mit der bereits angesprochenen Erörterung der Beziehung von Eid und vertraglicher Verpflichtung sowie mit der Passage, in der Hobbes die Gerechtigkeit von Personen beschreibt, zwei Stellen im Text verbleiben, die gewisse deontologische Anklänge enthalten. Es liegt andererseits daran, dass die Argumentation in den späteren Kapiteln von De Cive um mindestens eine neue Passage ergänzt wird, auf die dies ebenfalls zutrifft. Eine erste neu hinzugefügte Passage, die zur Stützung der deontologischen Lesart geeignet erscheinen könnte, findet sich im achten Kapitel, in dem Hobbes die Verpflichtung eines im Krieg unterworfenen und zum Diener gemachten Gefangenen gegenüber seinem Besieger und Herrn erörtert und in dem er wie in den Elements die Bedeutung der Frage hervorhebt, ob der Diener in Fesseln gehalten oder ob ihm von seinem Herrn sichtbares Vertrauen entgegengebracht wird. Wie Hobbes betont, liege eine Verpflichtung nicht schon deshalb vor, weil der Herrn seinem Diener das Leben geschenkt habe, sondern nur und erst dann, wenn er ihm körperliche Freiheit gewähre, weil allein vor dem Hintergrund des damit zum Ausdruck gebrachten Vertrauens das Verhältnis von Herr und Diener im Sinne eines Vertragsverhältnisses gedeutet werden könne. Obligatio igitur serui, aduersus Dominum, non nascitur ex simplici vitae condonatione, sed ex eo quod non vinctum eum, vel incarceratum teneat; obligatio enim ex pacto oritur, pactum autem nisi fide habitâ nullum est, vt patet ex cap. 2. Articulo 9. vbi definitur, Pactum esse promissum eius cui creditur.67

Der Passage kommt nun insofern eine gewisse Bedeutung für die Bewertung der deontologischen Deutung und insbesondere der Interpretation Ludwigs zu, als der Satz „obligatio enim ex pacto oritur“ üblicherweise als eine allgemeine Aussage interpretiert worden ist, nach der Verpflichtungen allein aus Verträgen erwachsen, sich also jede Verpflichtung notwendigerweise aus einem Vertrag herleiten lässt. Entsprechend übersetzt etwa Gawlick in seiner deutschen Ausgabe von De Cive die Passage mit „Deshalb entspringt die Verpflichtung eines Sklaven gegen seinen Herrn nicht einfach daraus, daß dieser ihm das Leben geschenkt hat, sondern vielmehr daraus, daß er ihn nicht in Fesseln oder eingesperrt hält. Denn jede Verbindlichkeit entspringt aus einem Vertrage; einen Vertrag aber gibt es ohne Vertrauen nicht (...)“68. Und auch Tuck und Silverthorne legen mit ihrer englischen Übersetzung der Passage nahe, dass sich Hobbes’ Aussage auf den Begriff der Verpflichtung als solchen bezieht und folglich für jede Verpflichtung gilt („The obligation, therefore, of a slave to a Master does not arise simply because he spared his life but _____________ 67 68

DC: 161. DDC: 162.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

because he does not keep him bound or in prison. For an obligation arises from agreement, and there is no agreement without trust [...]“69). Liest man die Passage in dieser Weise, dann ließe sie sich gegebenenfalls als Beleg für die Behauptung Ludwigs ins Feld führen, Hobbes habe nach der Fertigstellung der Elements den Begriff ‚obligation‘ bzw. ‚obligatio‘ in zunehmendem Maße zur Beschreibung ausschließlich vertraglich generierter Verpflichtungen reservieren wollen. Es wäre dann im Sinne Ludwigs zu fragen, ob das betreffende Interesse seinen Ursprung darin haben könnte, dass Hobbes naturgesetzliche und vertragliche Verpflichtung als qualitativ verschieden begriffen hat. Die diesbezügliche Deutung der obigen Passage stößt aber nicht nur deshalb auf Schwierigkeiten, weil es sich bei der Aussage, Verpflichtungen erwüchsen allein aus Verträgen, um eine vereinzelte Aussage handeln würde, die in unvereinbarem Widerspruch zu Hobbes’ sonstigem Gebrauch der Begriffe ‚obligation‘ und ‚obligatio‘ und zu all denjenigen Passagen steht, in denen Hobbes sowohl in De Cive als auch noch in beiden Fassungen des Leviathan die Verpflichtung gegenüber den Naturgesetzen mit eben diesen Begriffen beschreibt. Sie ist andererseits problematisch, weil die Übersetzungen von Gawlick bzw. von Tuck und Silverthorne nicht wirklich zwingend sind. Betrachtet man den Satz „obligatio enim ex pacto oritur“ losgelöst von der ihn umgebenden Passage, dann mag die Knappheit der Aussage und die Verwendung des Präsens nahelegen, dass es sich um eine allgemeine Aussage handelt. Betrachtet man aber die Passage als Ganzes, dann liegt angesichts der formalen Parallelität der Sätze „Obligatio igitur serui (...) non nascitur ex simpli condonatione“ und „obligatio enim ex pacto oritur“ und angesichts der Tatsache, dass Hobbes auch schon im ersten Satz auf das Präsens zurückgreift, durchaus nahe, dass der Satz „obligatio enim ex pacto oritur“ sich ebenfalls allein auf diejenige Verpflichtung bezieht, um die es im ersten Satz und in der gesamten Passage geht, nämlich um die auch schon im vorangegangen Paragraphen erörterte konkrete Verpflichtung eines Dieners gegenüber seinem Herrn. Der Satz wäre demnach zu übersetzen mit „Die Verpflichtung (des Dieners gegen seinen Herrn) erwächst nämlich aus einem Vertrag“, und in dieser Form liefert sie keinerlei Indizien, die zur Stützung der deontologischen Lesart genutzt werden könnten. Dass sowohl Gawlick als auch Tuck und Silverthorne den Satz als allgemeinere und umfassendere Aussage gewertet haben, mag seinen Grund darin haben, dass Hobbes im einleitenden ersten Paragraphen des Kapitels ankündigt, seine anschließenden Überlegungen zur Entstehung menschlicher Herrschaftsverhältnisse einmal mehr vom Naturzustand ihren Ausgang nehmen zu lassen, und dass er auf den herrschaftsfreien Naturzustand dabei als einen Zustand Bezug nimmt, in dem die Menschen über keinerlei Verpflichtungen _____________ 69

EDC: 103.

7.3 De Cive

445

gegenüber dem jeweils anderen verfügen („Vt redeamus iterùm in statum naturalem, consideremusque homines tanquam si essent iamiam subito è terrà (fungorum more) exorti & adulti, sine omni vnius ad alterum obligatione“70). Wenn die Menschen im Naturzustand ursprünglich über keine Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen verfügen und dann durch den Abschluss von Verträgen solche Verpflichtungen schaffen, dann, so könnte man meinen, lässt sich nicht nur von der spezifischen Verpflichtung eines Dieners gegenüber seinem Herrn, sondern von prinzipiell allen menschlichen Verpflichtungen sagen, dass sie ihren Ursprung in vertraglichen Vereinbarungen haben. Eine solche Deutung unterschätzt aber die Relevanz des Zusatzes „ad alterum“. Unsere bisherige Untersuchungen haben hinreichend deutlich werden lassen, dass es für Hobbes einen wichtigen theoretischen Unterschied ausmacht, ob sich die Verpflichtungen eines Menschen direkt auf einen bestimmten anderen Menschen beziehen oder nicht. Dass die Menschen im Sinne des „ad alterum“ keine direkten Pflichten gegen andere Menschen haben, heißt daher keineswegs, dass sie überhaupt keine Verpflichtungen haben. Es ist vielmehr mit Hobbes’ Ausführungen absolut vereinbar, dass die im ersten Paragraphen von ihm beschriebenen Menschen, obwohl sie keine direkten Pflichten gegen einander haben, sehr wohl die Verpflichtung zur Befolgung der Naturgesetze haben, ja die oben erörterte Hobbes’sche Unterscheidung von ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ lässt gar keinen Zweifel daran, dass die Wendung „sine omni unius ad alterum obligatione“ in eben dieser Weise gelesen werden muss. Nimmt man die Wendung daher zum Anlass, um den im dritten Paragraphen folgenden Satz „obligatio enim ex pacto oritur“ als eine allgemeinere Aussage zu interpretieren, dann müsste man konsequenterweise den Zusatz „ad alterum“ auch bei diesem zweiten Satz mitdenken. Die Aussage würde dann aber lauten „Denn jede Verpflichtung gegen (bestimmte) andere Menschen entspringt aus einem Vertrage“, und in dieser Form impliziert der Satz keinen Unterschied zwischen der Kraft der natürlichen Gesetze und der Kraft vertraglicher Vereinbarungen, der in der oben von uns entwickelten nicht-deontologischen Deutung der Vertragspflichten nicht bereits berücksichtigt wäre. Eine eindeutige Stärkung erfahren die deontologischen Anklänge in Hobbes’ Vertragstheorie dagegen durch eine zweite neu hinzugefügte Passage, bei der es sich um eine Anmerkung handelt, um die die Gegenüberstellung von Vertrag und Gesetz in Kapitel XIV in der zweiten Auflage von De Cive ergänzt wird. Nachdem Hobbes die Unterschiede von Verträgen und positiven Gesetzen in ähnlicher Weise wie in den Elements beschrieben und darauf verwiesen hat, dass die Verbindlichkeit der positiven Gesetze von der logisch vorhergehenden Verbindlichkeit des Gesellschaftsvertrages abhängig ist, fügt _____________ 70

DC: 160.

446

7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

er in der Anmerkung zu der betreffenden Passage hinzu, dass ein Vertrag prinzipiell auch ohne ein positives Gesetz, das dessen Erfüllung befehle, allein aufgrund des darin gegebenen Versprechens verpflichte und dass eine Positivierung lediglich die Funktion habe, die Verpflichtung zur Vertragserfüllung unter Strafe zu stellen und sie dadurch zu sanktionieren. Pacto obligari hominem, id est, propter promissionem praestare debere. Lego vero obligatum teneri, id est, metu poenae quae in Lege constituitur ad praestationem cogi.71

Die Passage korrespondiert inhaltlich mit der Charakterisierung von gerechtem und ungerechtem Menschen, die Hobbes’ Gegenüberstellung der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen beschließt, sowie mit seiner Beschreibung des Verhältnisses von Eid und vertraglicher Verpflichtung. Wie dort, so erweckt Hobbes auch hier den Eindruck, als sei die Verbindlichkeit von Verträgen von etwaigen Sanktionen grundsätzlich unabhängig, als folge sie allein aus der Tatsache, dass das betreffende Individuum die in Frage stehende Leistung versprochen habe, und als könne der Verpflichtete auch allein von der Tatsache, dass er das Versprechen abgegeben habe, zur Erbringung seiner Leistung motiviert werden. Selbst wenn man die oben bereits ausführlich erörterten Schwierigkeiten, eine solche Verpflichtung, ein Versprechen um des Versprechens willen zu halten, innerhalb des Hobbes’schen Systems zu begründen und mit Sinn zu erfüllen, an dieser Stelle nicht noch einmal eigens heranziehen will, muss die obige Passage aber nicht als eine entscheidende Stärkung der deontologischen Lesart bewertet werden. Das vorliegende Kapitel hat hinreichend deutlich gemacht, dass die deontologischen Anklänge in Hobbes’ Argumentation auch in De Cive durch eine ganze Reihe anders lautender Aussagen in Frage gestellt werden und dass eine beträchtliche Anzahl derjenigen Überarbeitungen, die Hobbes nach der Fertigstellung der Elements an seinem Text vorgenommen hat, eher in diese andere Richtung weisen. Sowohl mit Blick auf die Vereinbarkeit der Vertragstheorie mit der Hobbes’schen Lehre vom Menschen als auch mit Blick auf die innere Konsistenz der Vertragstheorie und derjenigen Passagen, in denen Hobbes die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen zu erläutern oder zu begründen versucht, widersetzt sich der Text von De Cive daher mindestens ebenso so nachdrücklich einer konsequent deontologischen Deutung wie schon der Text der Elements.

_____________ 71

DC: 207.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

447

7.4 Die englische Fassung des Leviathan 7.4.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre Bei den Ausführungen zu Natur und Geltung vertraglicher Vereinbarungen handelt es sich um das einzige Element der Hobbes’schen Naturzustandstheorie, das im Abschluss an die Veröffentlichung von De Cive noch eine deutliche Erweiterung erfährt. Während Hobbes, wie gesehen, sowohl die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ als auch seine Erörterung des natürlichen Rechtes und seine Ableitung der natürlichen Gesetze im englischen Leviathan spürbar strafft, nimmt er an den vertragstheoretischen Passagen des zweiten und dritten Naturzustandskapitels kaum Kürzungen vor. Stattdessen fügt er seiner Argumentation eine ganze Reihe von Passagen hinzu, die so weder in De Cive noch in den Elements enthalten sind. Die erste dieser neu hinzugefügten Passagen findet sich bereits im Rahmen der Erörterung von Rechtsverzicht und Rechtsübertragung als den beiden prinzipiellen Möglichkeiten, das natürliche ‚Recht auf alles‘ aufzugeben. Anders als in den beiden früheren Werken stellt Hobbes dieser Unterscheidung nun schon von Anfang an den Hinweis voran, die Aufgabe des natürlichen Rechts könne grundsätzlich nur in der Aufgabe bestimmter Freiheiten bestehen und die jeweils anderen Individuen könnten von dieser Aufgabe nur in dem Sinne profitieren, dass die Hindernisse, die der Nutzung ihres eigenen natürlichen Rechtes bislang entgegengestanden hätten, eine Verminderung erführen. Die im direkten Anschluss vorgenommene ausdrückliche Unterscheidung von ‚renouncement‘ und ‚transfer‘ selbst ist zudem in zweierlei Hinsicht überarbeitet und erweitert worden. Auf der einen Seite schließt sich an sie nun ein gänzlich neuer Abschnitt an, der sich dem Verhältnis von Rechtsaufgabe und Verpflichtung widmet und in dem die Verletzung gültiger Verträge bereits mit den Ausdrücken ‚injustice‘ und ‚injury‘ bezeichnet wird. Auf der anderen Seite nimmt Hobbes diesen neuen Abschnitt und das damit verbundene frühere Auftauchen der Begriffe der Ungerechtigkeit bzw. des Unrechts zum Anlass, um schon an dieser Stelle, und nicht wie bisher erst im folgenden Kapitel, seinen Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung vorzunehmen. Right is layd aside, either by simply Renouncing it; or by Transferring it to another. By Simply RENOUNCING; when he cares not to whom the benefit thereof redoundeth. By TRANSFERRING; when he intendeth the benefit thereof to some certain person, or persons. And when a man hath in either manner abandoned, or granted away his Right; then is he said to be OBLIGED, or BOUND, not to hinder those, to whom such Right is granted, or abandoned, from the benefit of it: and that he Ought, and it is his DUTY, not to make voyd that voluntary act of his own: and that such hindrance is INIUSTICE, and INIURY, as being Sine Jure; the Right being before renounced, or transferred. So that Injury, or Injustice, in the controversies of the world, is somewhat

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

like to that, which in the disputations of Scholers is called Absurdity. For as it is there called an Absurdity, to contradict what one maintained in the Beginning: so in the world, it is called Injustice, and Injury, voluntarily to undo that, which from the beginning he had voluntarily done.72

Der Mittelteil der obigen Passage, in dem Hobbes die Begriffe „OBLIGED“, „BOUND“ und „DUTY“ zur Aufgabe des natürlichen Rechts in Beziehung setzt, stellt neben dem anschließenden Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung eine der Aussagen des englischen Leviathan dar, auf die sich die Vertreter der deontologischen Lesart der Hobbes’schen Vertragspflichten am stärksten stützen. Die betreffenden Sätze werden daher in Kapitel 7.4.2 noch ausführlich zu diskutieren sein, und das Gleiche gilt für eine weitere Passage, die sich im einundzwanzigsten Kapitel des englischen Leviathan befindet. Im vorliegenden Zusammenhang muss lediglich hervorgehoben werden, dass das vertragswidrige Verhalten bzw. das Handeln im Widerspruch zu einer gültig vollzogenen Rechtsaufgabe von Hobbes in der oben zitierten Passage nicht mehr allein mit dem Begriff „INIURY“ gekennzeichnet wird, sondern auch gleichermaßen mit dem Begriff „INIUSTICE“, den er in der zweiten Auflage von De Cive ja ausdrücklich vom Begriff des Unrechts abzusetzen versucht hatte. Daneben bleibt darauf hinzuweisen, dass die Gleichsetzung von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung eine wichtige inhaltliche Überarbeitung überfahren hat. Anders als in den Elements und in De Cive verzichtet Hobbes nun darauf, den Zeitaspekt in seine Erörterung zu integrieren und die Behauptung aufzustellen, eine Vertragspartei, die die von ihr zugesagte zukünftige Leistung nicht erbringe, wolle zur gleichen Zeit die Erbringung und die Nichterbringung der Leistung bzw. habe zur gleichen Zeit den Willen zur Vertragserfüllung und zur Vertragsverletzung. Indem Hobbes die Aussage trifft, eine solche Vertragspartei hebe ihren früheren Willen und ihr früheres willentliches Verhalten durch ihre Zuwiderhandlung nun willentlich auf („voluntarily to undo that, which from the beginning he had voluntarily done“), gesteht er stattdessen zu, dass die Vertragsparteien ihren Willen grundsätzlich ändern können und dass es sich bei Vertragsschluss und Vertragsbruch um zwei voneinander verschiedene willentliche Akte handelt. Die Überarbeitung der Passage stellt daher insofern eine Verbesserung dar, als Hobbes’ Aussagen nun sowohl mit seiner eigenen Theorie des Willens und der Überlegung als auch mit dem empirischen Faktum des Vertragsbruches vereinbar sind. Die Überarbeitung zieht damit allerdings zugleich die Konsequenz nach sich, dass die Verletzung eines Vertrages nun noch viel weniger als logisch widersprüchliches Verhalten erscheint als zuvor und dass die vermeintliche Nähe zwischen Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung gar nicht wirklich greifbar wird. Die Passage vermag daher _____________ 72

EL: 65.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

449

letztlich nur noch eine sehr entfernte Verwandtschaft zwischen Ungerechtigkeit und absurder Schlussfolgerung zu konstatieren und kann folglich noch viel weniger als Passage gelesen werden, in der von Hobbes ein Versuch zur Begründung der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen unternommen wird. Auf die Passage folgt der Hinweis auf Worte und sonstige Zeichen des Willens als diejenigen Mittel, mit denen eine Rechtsaufgabe konkret vollzogen wird. Hobbes verweist an dieser Stelle noch nicht darauf, dass nur bestimmte Worte eine gültige Rechtsübertragung bewirken, nämlich solche, die sich auf die Vergangenheit oder auf die Gegenwart beziehen. Er fügt seinen Ausführungen aber die Bemerkung hinzu, dass ein Rechtsverzicht in den meisten Fällen durch Wort und Tat gleichzeitig geleistet werde. Die zuvor hergestellte Beziehung von Rechtsübertragung und Verpflichtung wird dabei von Hobbes insofern noch einmal aufgenommen, als er die betreffenden Worte und Taten anschließend in metaphorischer Weise als diejenigen Fesseln bezeichnet, durch die die Vertragsparteien an die Erfüllung des Vertrages gebunden werden. Die Aussage ist vor allem deshalb von Interesse, weil Hobbes ausdrücklich hervorhebt, dass diese Fesseln ihre eigentliche Kraft erst durch die negativen Konsequenzen erhalten, die die Vertragsparteien im Falle einer Vertragsverletzung zu befürchten haben, und weil er auf diese Weise den Eindruck erweckt, als müsse es sich bei der Verpflichtung, die in der zuvor beschriebenen Weise aus der Rechtsaufgabe erwächst, um eine Klugheitspflicht handeln. The way by which a man either simply Renounceth, or Transferreth his Right, is a Declaration, or Signification, by some voluntary and sufficient signe, or signes, that he doth so Renounce, or Transferre; or hath so Renounced, or Transferred the same, to him that accepteth it. And these Signes are either Words onely, or Actions onely; or (as it happeneth most often) both Words, and Actions. And the same are the BONDS, by which men are bound, and obliged: Bonds, that have their strength, not from their own Nature, (for nothing is more easily broken then [than] a mans word,) but from Feare of some evill consequence upon the rupture.73

Es ist Autoren wie Ludwig allerdings zuzustimmen, dass die Passage nicht notwendigerweise in dieser Weise gelesen werden muss. Der Text lässt sowohl die Deutung zu, dass eine Rechtsübertragung nur aufgrund der auf ihre spätere Missachtung direkt folgenden negativen Konsequenzen eine Verpflichtung generiert, als auch die Deutung, dass die Verpflichtung von diesen Konsequenzen unabhängig ist, von den Menschen aber faktisch nur aufgrund der drohenden Nachteile erfüllt werden wird. Hobbes’ Hinweis würde sich in diesem letzteren Fall einmal mehr auf motivationstheoretische Fragen beziehen und nicht in den Kontext der eigentlichen Verpflichtungstheorie gehören. _____________ 73

EL: 65.

450

7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Auf die obige Passage folgt eine weiterer Paragraph, der so weder im Text der Elements noch im Text von De Cive enthalten ist. Es handelt sich um den schon an früherer Stelle ausführlich zitierten Abschnitt, in dem Hobbes hervorhebt, dass die Übertragung von Rechten – wie jeder willentliche Akt eines Menschen – ein Gut für den Handelnden zum Ziel hat, und in dem Hobbes diesen Zusammenhang von Eigeninteresse und Vertragsschluss zum Anlass nimmt, um all diejenigen Rechte aufzulisten, von denen prinzipiell nicht angenommen werden könne, dass ein ansatzweise vernünftiges Individuum sie könne veräußern wollen. Wie Hobbes nachdrücklich betont, müsse daher in all denjenigen Fällen, in denen die Aufgabe derartiger Rechte faktisch zum Inhalt eines Vertrages gemacht worden sei, der Vertrag als ungültig angesehen werden. Im Anschluss an die darauf folgende Definition des Begriffes ‚contract‘, den er wie in De Cive als die wechselseitige Übertragung von Rechten beschreibt, hebt Hobbes zunächst in einer neu hinzugefügten Passage in allgemeiner Weise hervor, dass zwischen der Übertragung eines Rechts und der Erbringung der damit zugesicherten Leistung ein grundsätzlicher Unterschied bestehe und die Leistungserbringung in deutlichem zeitlichen Abstand zum Vertragsschluss erfolgen könne, eine Unterscheidung, die nun den inhaltlichen Hintergrund für die direkt folgende Definition des Begriffes ‚covenant‘ liefert. Again, one of the Contractors; may deliver the Thing contracted for on his part, and leave the other to perform his part at some determinate time after, and in the mean time be trusted; and then the Contract on his part, is called PACT, or COVENANT: Or both parts may contract now, to performe hereafter: in which cases, he that is to performe in time to come, being trusted, his performance is called Keeping of Promise, or Faith; and the fayling of performance (if it be voluntary) Violation of Faith.74

Die betreffende Passage unterscheidet sich insofern von der entsprechenden Passage von De Cive bzw. von der früheren englischen Fassung der Elements, als Hobbes mit dem englischen ‚pact‘ noch eine zweite Bezeichnung für die in Frage stehenden vertraglichen Vereinbarungen angibt und auch die Akte der Vertragserfüllung und -verletzung mit eigenen Bezeichnungen versieht. Vor allem aber unterscheidet sie sich insofern, als die Satzfolge nun ein wenig den Eindruck erweckt, als begreife Hobbes nur noch solche Verträge als ‚covenants‘, bei denen eine Partei sofort und die zweite zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt, nicht mehr aber solche, bei denen beide Parteien ihre Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erbringen. Da Hobbes für diesen zweiten Fall keinen eigenen Namen angibt und da sich auch die Begriffe, die er zur Kennzeichnung von Vertragserfüllung und Vertragsverletzung verwendet, glei_____________ 74

EL: 66.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

451

chermaßen auf beide Fälle beziehen („in which cases“75), sprechen aber bereits hier einige Indizien dafür, dass für Hobbes nach wie vor auch ein wechselseitiges Versprechen für die Zukunft unter den Begriff ‚covenant‘ fällt. Diese Deutung erfährt auch wenig später im Rahmen von Hobbes’ Aussagen zur Geltung wechselseitiger Versprechen im Naturzustand eine eindeutige Bestätigung („If a Covenant be made, wherein neither of the parties performe presently, but trust one another [...]“76). Auf die Definition des Begriffes ‚covenant‘ folgt im englischen Leviathan die zunächst ausgesparte Definition des Begriffes ‚free gift‘, die der Sache nach keinerlei Unterschiede zu den entsprechenden Definitionen der früheren Werke aufweist. Die sich direkt anschließende Passage ist aber wiederum weder in den Elements noch in De Cive enthalten. Sie widmet sich der expliziten Unterscheidung von ausdrücklichen Willenserklärungen bzw. ausdrücklichen „Signes of Contract“77, wie sie mit der Artikulation bestimmter Worte gegeben sind, und solchen Verhaltensweisen, aus denen auf einen bestimmten Willen lediglich rückgeschlossen werden kann und die folglich nur in einem indirekten Sinn („by Inference“78) als Willenserklärungen fungieren können. Laut Hobbes können diese „Signes by Inference“ ebenfalls in sprachlichen Aussagen, daneben aber auch in Stillschweigen und bestimmten anderen Handlungen und Unterlassungen bestehen. Ihr Vorliegen könne aber prinzipiell nur da behauptet werden, wo die in Frage stehenden Zeichen über den Willen des betreffenden Individuums hinreichend Auskunft gäben („and generally a signe by Inference, of any Contract, is whatsoever sufficiently argues the will of the Contractor“79). Schon im Rahmen seiner Beschreibung derjenigen Worte, bei denen es sich um ausdrückliche Willenserklärungen handelt, macht Hobbes deutlich, dass sich die Worte, mit denen ein Vertrag vollzogen wird, auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft beziehen können, wobei er solche Worte, die sich auf die Zukunft beziehen, wie „I will Give“ oder „I will Grant“, ausdrücklich unter einen eigenen Begriff fasst, nämlich unter den des Versprechens („PROMISE“80). Diese Unterscheidung der sprachlichen Tempora wird nun im Anschluss an die Beschreibung der indirekten Zeichen des Willens insofern wieder aufgenommen, als Hobbes den sowohl in den Elements als auch in De Cive enthaltenen Hinweis einfügt, dass die bloße Ankündigung einer zukünftigen Schenkung nicht verpflichtend sei. _____________ 75 76 77 78 79 80

Hervorh. v. mir EL: 68. EL: 66. EL: 66. EL: 67. Alles: EL: 66.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Die betreffende Passage unterscheidet sich jedoch in zweierlei Hinsicht von den früheren Ausführungen. Auf der einen Seite argumentiert Hobbes zwar nach wie vor, dass eine derartige Ankündigung nicht als wirkliche Willenserklärung angesehen werden könne. Er konzentriert sich dabei aber noch stärker als zuvor auf rein sprachliche Aspekte und verzichtet gänzlich darauf, seine Behauptung dadurch zu stützen, dass er auf den Willen als den letzten Teil eines Überlegungsprozesses Bezug nehmen und die Tatsache ins Feld führen würde, die Überlegung bezüglich der in Frage stehenden Schenkung sei noch nicht abgeschlossen. Auf der anderen Seite gesteht Hobbes nun anders als noch in De Cive zu, dass es zusätzliche nicht-sprachliche Zeichen des Willens geben kann, die der Ankündigung einer Schenkung Verbindlichkeit zu verleihen vermögen, und führt das Beispiel eines Wettrennens an, für dessen Gewinn ein Preis ausgesetzt ist. But if there be others signes of the Will to transferre a Right, besides Words; then, though the gift be Free, yet may the Right be understood to passe by words of the future: as if a man propound a Prize to him that comes first to the end of a race, The gift is Free; and though the words be of the Future, yet the Right passeth: for if he would not have his word so be understood, he should not have let them runne.81

Dass Hobbes in seiner Erörterung der Verbindlichkeit einer angekündigten Schenkung im englischen Leviathan zu einem anderen Ergebnis gelangt als noch in De Cive, liegt daran, dass er davon absieht, das gesuchte nichtsprachliche Zeichen des Willens in dem Vorteil finden zu wollen, der sich für den Ankündigenden mit der in Frage stehenden Schenkung verbindet. Hobbes folgt nun stattdessen derjenigen argumentativen Strategie, die er in De Cive schon im Rahmen seiner Erörterung der Verbindlichkeit von ‚covenants‘ angewendet hat. So weist er darauf hin, dass das Individuum, welches die Schenkung in Aussicht gestellt hat, das folgende Wettrennen nicht verhindert und damit seinen in der bloßen Ankündigung behaupteten Willen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal stillschweigend bekräftigt hat. Das Problem dieser Überarbeitung besteht allerdings darin, dass durch die Aussparung des Rückgriffs auf den Begriff der Überlegung und durch den völligen Wegfall der Behauptung, die Erklärung eines bestimmten Willens lege das betreffende Individuum faktisch für die Zukunft auf diesen Willen fest, nun das eigentliche Argument fehlt, warum und in welchem Sinne der einmal erklärte Wille überhaupt verbindlich sein sollte. Selbst wenn man daher die Tatsache außen vor lassen sollte, dass die stillschweigende Zustimmung zur Durchführung des Wettrennens eine Erklärung des Willens zu einem Zeitpunkt darstellt, der noch deutlich vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die eigentliche Leistung fällig wird, vermag Hobbes’ Argument lediglich zu zeigen, dass das Individuum, _____________ 81

EL: 67.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

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das die Schenkung zugesagt hat, faktisch über den Willen verfügt, diese auch vorzunehmen. Das Argument vermag aber nicht zu zeigen, warum das Individuum dazu verpflichtet ist und bleibt, diesen Willen zu haben. Das gleiche Problem ergibt sich auch für den nun folgenden Abschnitt, in dem Hobbes in ähnlicher Weise wie zuvor in De Cive und in struktureller Übereinstimmung mit der zuletzt zitierten Passage eine Begründung dafür zu liefern versucht, warum Verträge prinzipiell auch dann verpflichten, wenn sie in einem Versprechen für die Zukunft bestehen. Hobbes führt dabei nicht nur einmal mehr die stillschweigende Zustimmung, die die zweite Partei zum Ausdruck bringt, indem sie die erste Partei nicht an der Erbringung ihrer Leistung hindert, als Grund für die Verpflichtung dieser zweiten Partei an. Er streicht auch wie in der zuletzt zitierten Passage all diejenigen Aussagen, die in De Cive noch den Eindruck erweckt hatten, als sei die zweite Partei auf den zum Ausdruck gebrachten Willen faktisch festgelegt, weil mit diesem der Überlegungsprozess bezüglich der in Frage stehenden Leistung endgültig zu einem Abschluss gekommen sei. In contracts, the right passeth, not onely where the words are of the time Present, or Past; but also where they are of the Future: because all Contract is mutuall translation, or change of Right; and therefore he that promiseth onely, because he hath already received the benefit for which he promiseth, is to be understood as if he intended the Right should passe: for unlesse he had been content to have his words so understood, the other would not have performed his part first. And for that cause, in buying, and selling, and other acts of Contract, a Promise is equivalent to a Covenant; and therefore obligatory.82

Der Vorteil der inhaltlichen Überarbeitungen, die Hobbes an der Passage vorgenommen hat, besteht erneut darin, dass nicht mehr die empirisch unhaltbare Behauptung aufgestellt wird, der Willen der zweiten Partei sei mit Blick auf die Vertragserfüllung faktisch determiniert. Der Nachteil besteht aber darin, dass noch weniger als in De Cive ersichtlich wird, worin die Verpflichtung, den Vertrag zu erfüllen, eigentlich begründet liegt. Der Hinweis, dass ohne die stillschweigende Zustimmung der zweiten Partei die erste Partei nicht auf deren Vertragstreue vertraut und folglich auch ihre eigene Leistung nicht erbracht hätte, mag zwar nahelegen, dass es ein Gebot der Fairness und des rücksichtsvollen Umgangs miteinander wäre, die erste Partei nun nicht zu enttäuschen und sie nicht für ihr Vertrauen bezahlen zu lassen. Eine derartige Argumentation setzt aber schon diejenigen moralischen Kategorien und Verpflichtungen voraus, die von Hobbes erst noch zu begründen wären und die er in der obigen Passage ja auch zu begründen vorgibt. Weiterer Aufschluss über die eigentliche Grundlage der Verpflichtung zur Vertragstreue wäre gegebenenfalls vom nächsten Textabschnitt zu erwarten, _____________ 82

EL: 67.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

der sich den Rechten einer ersten Partei widmet, den Ansprüchen also, die aus der einseitigen Erfüllung eines Vertrages erwachsen und der zuvor beschriebenen Verpflichtung der zweiten Partei korrespondieren. Der Abschnitt, der ebenfalls nicht in De Cive enthalten ist, beginnt mit der definitorischen Aussage, eine erste Partei, die die von ihr zugesagte Leistung erbracht habe, verdiene die vom anderen versprochene Leistung, bzw. die in Frage stehende Leistung stehe der ersten Partei zu („He that performeth first in the case of a Contract, is said to MERIT that which he is to receive by the performance of the other; and he hath it as DUE.“83). Die folgenden Sätze werfen aber zunächst kaum weiteres Licht auf den genauen Charakter des mit den Begriffen ‚merit‘ und ‚due‘ umschriebenen Anspruches. Hobbes ist vorrangig daran interessiert zu zeigen, dass ein derartiges Anrecht auch im Fall einer Schenkung besteht, wobei er erneut das zuvor skizzierte Beispiel des Wettrennens und des ausgesetzten Preises bemüht. Seine weiteren Aussagen dienen dem Zweck, unter Rückgriff auf die oben bereits angesprochene scholastische Unterscheidung von ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ deutlich zu machen, warum mit Blick auf die entsprechenden Rechte dennoch ein wichtiger Unterschied zwischen einer Schenkung und einem Vertrag besteht. In den betreffenden Ausführungen findet sich aber dennoch ein Satz, dem eine entscheidende Relevanz für die Frage nach dem Status der vertraglichen Pflichten zukommt. So enthält der Satz, der Hobbes’ Ausführungen zum Unterschied zwischen beiden Anspruchsarten einleitet, die Aussage „In Contract, I Merit by vertue of my own power, and the Contractors need“84. Wenn nun laut Hobbes die Kraft vertraglich generierter Ansprüche in der Macht dessen begründet liegt, der über diese Ansprüche verfügt, sowie in den Bedürfnissen dessen, der den Ansprüchen nachzukommen hat, dann scheint das Fazit unvermeidlich, dass es sich bei der Pflicht zur Vertragserfüllung um eine Klugheitspflicht handeln muss, die ihren letztlichen Geltungsgrund im individuellen Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen hat. Die Hobbes’sche Aussage weist ganz offenbar nicht nur auf die Tatsache hin, dass die zweite Partei durch die Leistung der ersten Partei einen konkreten Vorteil erlangt hat, sondern weist mit den Begriffen ‚need‘ und ‚power‘ in wesentlich grundlegenderer Form auf die Gründe hin, die den Abschluss von Verträgen überhaupt haben notwendig werden lassen und die von Hobbes im Rahmen seiner Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ eingehend beschrieben worden sind. Wie oben hinreichend deutlich geworden ist, hat das zweite natürliche Gesetz, das die Aufgabe des natürlichen ‚Rechts auf alles‘ und den Abschluss von Verträgen gebietet, seine Grundlage insofern in den Bedürfnissen und in _____________ 83 84

EL: 67. EL: 67.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

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der Macht der Menschen, als alle Menschen von Natur nach der Erhaltung des eigenen Lebens streben, dieses Ziel aber angesichts der Macht der anderen nicht ohne wechselseitige Kooperation realisieren können. Wenn nun das Recht, das aus einem konkreten Vertragsabschluss und der einseitigen Erfüllung der Vertragspflichten erwächst, und folglich auch die dadurch korrespondierende Verpflichtung zur Vertragstreue ihre Grundlage in eben diesen Aspekten haben, dann kann kaum eine überzeugende Basis für die Behauptung verbleiben, die vertraglich generierten Rechte und Pflichten seien in ihrer Geltung von den natürlichen Gesetzen unabhängig, gingen allein auf den Akt der vertraglichen Selbstverpflichtung zurück und hätten den Status strikt moralischer Rechte und Pflichten. Da die anschließende ausgiebige Erörterung der Unterscheidung von ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ keine weiteren Aussagen enthält, die für den vorliegenden Zusammenhang von wirklicher Bedeutung wären, kann sie ebenso übergangen werden wie diejenigen Passagen des vierzehnten Kapitels, in denen Hobbes ohne nennenswerte Abweichungen vom Text von De Cive hervorhebt, dass ‚covenants of mutual trust‘ im Naturzustand unwirksam seien; dass Verträge mit Tieren oder mit Gott unmöglich seien; dass und auf welche Weise man aus einem gültigen Vertrag entlassen werden könne; dass ein späterer Vertrag bezüglich ein- und derselben Sache ungültig sei; dass nur eine Handlung Gegenstand eines Vertrages sein könne, die der Überlegung unterliege und deren Ausführung prinzipiell möglich sei; und dass ein Versprechen, das eigene Leben nicht zu verteidigen, ebenso null und nichtig sei wie ein Versprechen, sich selbst oder diejenigen anzuklagen oder zu belasten, die einem nahestehen. Im Hinblick auf die erste der genannten Passagen ist lediglich zu erwähnen, dass Hobbes die fehlende naturzuständliche Wirksamkeit von ‚covenants of mutual trust‘ erneut mit Hilfe des Begriffes ‚ungültig‘ („Voyd“85) beschreibt, dass er aber wie in De Cive klarstellt, dass die entsprechenden Vereinbarungen nur unter bestimmten Bedingungen ungültig werden, nämlich bei Eintreten eines neuen Grundes, an der Erfüllung durch die zweite Partei zu zweifeln. Im Unterschied zu De Cive haben die diesbezüglichen Ausführungen aber nicht die Form einer Anmerkung, sondern sind Teil des eigentlichen Textes. Zu den bemerkenswerteren Überarbeitungen des vierzehnten Kapitels zählt eine an diese Ausführungen anschließende neue Passage, in der Hobbes betont, dass die Übertragung des Rechts zu einem bestimmten Zweck auch die Übertragung des Rechts zu den notwendigen Mitteln beinhaltet, soweit diese Mittel in der Macht dessen liegen, der das Recht aufgibt.86 Eines der Beispiele, die Hobbes gibt, um den von ihm umschriebenen Sachverhalt zu _____________ 85 86

EL: 68. Vgl. EL: 68.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

illustrieren, lautet, dass der Inhaber der souveränen Gewalt in einem Staat auch das Recht haben muss, all das zu tun, was zur Aufrechterhaltung dieser Gewalt und des Staates notwendig ist, wozu Hobbes etwa die Erhebung von Geldern zur Unterhaltung einer Armee oder die Ernennung von Richtern zählt. Die Passage bereitet daher in gewissem Sinne Hobbes’ Erörterung der Rechte der souveränen Gewalt in Kapitel XVIII vor, in der Hobbes dann auch indirekt auf seine Ausführungen in Kapitel XIV Bezug nehmen wird,87 und in dieser Tatsache ist wohl auch die eigentliche Funktion der Passage und der Grund für ihre Aufnahme in den Text zu sehen. Eine gewisse Überarbeitung hat daneben die Passage erfahren, in der Hobbes betont, dass auch Verträge verpflichten, die im Naturzustand aus Furcht geschlossen werden. Die Passage ist insofern gekürzt worden, als sie nun nicht mehr den expliziten Hinweis erhält, dass es sich auch beim Gesellschaftsvertrag um einen Vertrag handle, der seinen Ursprung in der Furcht der Vertragsparteien habe. Der Hinweis wird von Hobbes aber an späterer Stelle, nämlich zu Beginn des zwanzigsten Kapitels, nachgeholt.88 Wie in De Cive lautet Hobbes’ eigentliches Argument für die Verbindlichkeit der in Frage stehenden Vereinbarungen, dass die Vereinbarungen mit einem Vorteil für die Parteien verbunden sind und dass sie – da sie im Naturzustand geschlossen werden – gegen keinerlei positive Gesetze verstoßen. Der Zusammenhang von Vorteil und Verpflichtung wird dabei von Hobbes allerdings etwas beiläufiger und damit noch etwas selbstverständlicher präsentiert als schon in De Cive. Covenants entered into by fear, in the condition of meer Nature, are obligatory. For example, if I Covenant to pay ransome, or service for my life, to an enemy; I am bound by it. For it is a Contract, wherein one receiveth the benefit of life; the other is to receive mony, or service for it; and consequently, where no other Law (as in the condition, of meer Nature) forbiddeth the performance, the Covenant is valid.89

Die letzten nennenswerten Überarbeitungen des zweiten Naturzustandskapitels betreffen die Hobbes’sche Diskussion des Eides, die wie in den beiden früheren Werken das Kapitel und damit die Vertragslehre im engeren Sinne beschließt. Die Ausführungen zum Eid erhalten im englischen Leviathan eine gänzlich neue Einleitung. Sie nehmen ihren Ausgang nun von dem schon an früherer Stelle betonten Problem, dass die Kraft der bloßen Worte, d.h. des bloßen Versprechens, zu gering ist, um die Menschen wirksam zur Erfüllung ihrer Verträge anzuhalten. Nach Hobbes gibt es zwei denkbare Hilfsmittel, die Kraft von Verträgen zu stärken, von denen in der Praxis aber nur auf eines wirklich gerechnet werden könne, nämlich auf die Angst vor den nega_____________ 87 88 89

Vgl. EL: 90f. Vgl. EL: 102. EL: 69.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

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tiven Folgen, die ein Vertragsbruch unter Umständen nach sich zu ziehen vermöge. Wie Hobbes hervorhebt, könne allerdings im Naturzustand als einem Zustand, in dem die Menschen einander weitestgehend gleich sind und in dem es keine übermächtige Zwangsgewalt gibt, nicht sicher davon ausgegangen werden, dass eine Vertragsverletzung direkte und wirksame Sanktionen durch die davon betroffene Vertragspartei erfahren werde. Die Furcht vor etwaigen negativen Konsequenzen eines Vertragsbruches werde daher im Naturzustand nur dann ausgeprägt sein und folglich auch nur dann die Wahrscheinlichkeit vertragskonformen Verhaltens erhöhen, wenn sie sich auf göttliche Sanktionen beziehe. Der Eid, bei dem es sich ja um die ausdrückliche Anrufung Gottes und seiner Strafen handelt, stellt daher für Hobbes letztlich die einzige Möglichkeit dar, um die faktische Wirksamkeit von naturzuständlichen Verträgen zu stärken. The force of Words, being (as I have formerly noted) too weak to hold men to the performance of their Covenants; there are in mans nature, but two imaginable helps to strengthen it. And those are either a Feare of the consequence of breaking their word; or a Glory, or Pride in appearing not to need to break it. This later is a Generosity too rarely found to be presumed on, especially in the pursuers of Wealth, Command, or sensuall Pleasure; which are the greatest part of Mankind. The Passion to be reckoned upon, is Fear; whereof there be two very generall Objects: one, The Power of Spirits Invisible; the other, the Power of those men they shall therein Offend. Of these two, though the former be the greater Power, yet the feare of the later is commonly the greater Feare. The Feare of the former is in every man, his own Religion: which hath place in the nature of man before Civill Society. The later hath not so; at least not place enough, to keep men to their promises; because in the condition of meer Nature, the inequality of Power is not discerned, but by the event of Battell. So that before the time of Civill Society, or the interruption thereof by Warre, there is nothing can strengthen a Covenant of Peace agreed on, against the temptations of Avarice, Ambition, Lust, or other strong desire, but the feare of that Invisible Power, which they every one Worship as God; and Feare as a Revenger of their perfidy. All therefore that can be done between two men not subject to Civill Power, is to put one another to swear by the God he feareth: Which Swearing, or OATH, is a Forme of Speech, added to a Promise; by which he that promiseth, signifieth, that unleße he performe, he renounceth the mercy of his God, or calleth to him for vengeance on himselfe.90

Schon im Rahmen unserer Erörterung der weiter oben zitierten Passage ist darauf hingewiesen worden, dass die Hobbes’schen Aussagen zur Kraft (‚force‘) vertraglicher Vereinbarungen nicht zwingend als Aussagen gelesen werden müssen, die sich auf die Frage der Verbindlichkeit beziehen und einen Beitrag zur theoretischen Begründung dieser Verbindlichkeit leisten sollen. Mit Blick auf die vorliegende Passage kann nun eindeutig festgehalten werden, dass es Hobbes hier ausschließlich um die Frage der faktischen Wirk_____________ 90

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samkeit geht und dass es für ihn weder die möglichen, im Naturzustand aber unwahrscheinlichen konkreten Sanktionen durch die betrogenen Vertragspartner noch die im Zuge des Eides angerufenen Strafen Gottes sind, die den Verträgen ihre ursprüngliche Verbindlichkeit verleihen. Es muss allerdings betont werden, dass diese Tatsache keineswegs die Deutung widerlegt, nach der es sich bei der Verpflichtung zur Einhaltung vertraglicher Vereinbarungen für Hobbes letztlich um eine prudenzielle Verpflichtung handelt. So kann nach wie vor behauptet werden, dass die Verbindlichkeit von Verträgen auf den langfristigen Nutzen zurückgeht, der sich allgemein mit dem Instrumentarium des Vertrages verbindet, bzw. auf den langfristigen Schaden, der vor der Drohung des ‚Krieges aller gegen alle‘ aus einer allgemeinen Nichtbefolgung von Verträgen und dem damit verbundenen Scheitern des Instrumentariums folgen würde. In diesem Fall würde es sich bei der Verpflichtung zur Befolgung von Verträgen prinzipiell um eine prudenzielle Verpflichtung handeln, und dennoch könnte Hobbes zulässigerweise behaupten, dass es nicht die gegebenenfalls zu erwartenden konkreten Sanktionen der betrogenen Vertragspartner oder die Strafen Gottes sind, die einem Vertrag seine Verbindlichkeit verleihen. Mit Blick auf die Erörterung des Zusammenhangs von Eid und Verpflichtung muss zudem betont werden, dass die diesbezügliche Argumentation im englischen Leviathan einen Teil ihrer deontologischen Untertöne einbüßt, weil Hobbes auf die direkten Sanktionen, die auf den Bruch eines Eides folgen, an dieser Stelle gar nicht mehr eingeht und damit auch nicht mehr den Eindruck erwecken kann, die Verbindlichkeit des beeideten Vertrages sei von diesen Sanktionen oder sogar überhaupt von prudenziellen Aspekten prinzipiell unabhängig. Hobbes hebt in der betreffenden Passage des englischen Leviathan zwar einmal mehr hervor, dass durch den Eid der Verpflichtung zur Vertragserfüllung nichts hinzugefügt werde. Er greift aber bei seiner Begründung dieser Behauptung nicht mehr auf die frühere Unterscheidung von inhärenter Verbindlichkeit und äußerer Sanktionierung zurück. It appears also, that the Oath addes nothing to the Obligation. For a Covenant, if lawfull, binds in the sight of God, without the Oath, as much as with it: if unlawfull, bindeth not at all; though it be confirmed with an Oath.91

Hobbes’ eigentliches Argument lautet nun nicht mehr, dass die Verpflichtung zur Vertragserfüllung im Vertrag selbst begründet liege, ein Eid dagegen lediglich zur Folge habe, dass der Bruch des Vertrages mit göttlichen Strafen belegt werde. Wie in Kapitel 6.5.3 bereits kurz angemerkt, lautet es vielmehr, dass jeder legitime Vertrag auch ohne ausdrücklichen Eid vor Gott verpflichte, woraus gefolgert werden kann, dass ein gläubiges Individuum auch dann _____________ 91

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göttliche Strafen befürchten muss, wenn es einen Vertrag bricht, den es nicht eigens mit einem Eid bekräftigt hat. Daraus würde nun allerdings folgen, dass es sich bei der zuvor von Hobbes beschriebenen Stärkung der Vertragskraft durch einen Eid um einen irrationalen Akt bzw. um eine Illusion handeln muss. Wenn ein gläubiges Individuum auch dann mit dem Eintreten göttlicher Sanktionen rechnen muss, wenn es einen unbeeideten Vertrag bricht, dann kann die größere Kraft, den der Vertrag durch den Eid erhält, lediglich darauf zurückgehen, dass das Individuum, das den Eid geleistet hat, nun subjektiv und unbegründeterweise größere Furcht vor denjenigen Strafen hat, die es im Falle einer Vertragsverletzung ohnehin zu erwarten gehabt hätte. Die vertragstheoretischen Ausführungen des folgenden dritten Naturzustandskapitels haben im englischen Leviathan ebenfalls eine deutliche Erweiterung erfahren. Diese geht vor allem darauf zurück, dass Hobbes seinem Text eine komplett neue Erörterung hinzufügt, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob die Erfüllung von Verträgen prinzipiell rational bzw. ob die Verletzung von Verträgen in allen Fällen irrational ist, und die unter dem Titel ‚Hobbes’s reply to the Foole‘ in den letzten Jahren zu einer der am ausgiebigsten diskutierten Passagen der Hobbes’schen Schriften avanciert ist. Der ‚reply to the Foole‘ findet sich im direkten Anschluss an die Formulierung des dritten Naturgesetzes und an jene definitorische Erörterung des Vertragsbruchs, in der Hobbes die Nichterfüllung von Verträgen in den früheren Werken mit dem Begriff des ‚Unrechts‘ belegt hatte. Die zuletzt genannte Passage erfordert im vorliegenden Zusammenhang deshalb eine ebenso eingehende Betrachtung wie die Widerlegung des ‚Narren‘, weil sie eine deutliche Überarbeitung erfahren hat und sich in ihr die von Foisneau beschriebene Hinwendung zum traditionellen Begriff der Gerechtigkeit vollzieht. Wie oben deutlich geworden ist, widmet sich Hobbes im englischen Leviathan dem Begriff der Vertragsverletzung schon im Zusammenhang seiner Diskussion der Rechtsaufgabe und seiner definitorischen Erörterung der Begriffe ‚obliged‘, ‚bound‘, ‚ought‘ und ‚duty‘. Während Hobbes die Verletzung von Verträgen an der betreffenden Stelle sowohl mit dem Begriff ‚injustice‘ als auch mit dem schon in den früheren Werken verwendeten Begriff ‚injury‘ belegt, greift er in derjenigen Passage, die auf die Formulierung des dritten Naturgesetzes folgt und die nun an die Stelle des Paragraphen tritt, in dem Hobbes in De Cive begründet hatte, warum die Erfüllung eines Vertrages nicht mit dem nachträglichen Hinweis auf die Unzuverlässigkeit der anderen Partei gerechtfertigt werden kann, ausschließlich auf den Begriff ‚injustice‘ zurück. Hobbes weist dabei in Übereinstimmung mit einer der abschließenden Passagen des dreizehnten Kapitels nachdrücklich darauf hin, dass es Ungerechtigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes im Naturzustand nicht geben könne, da es dort keine dauerhaft gültigen ‚covenants of mutual trust‘ gebe,

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und dass der Begriff ‚injustice‘ deshalb nur auf den staatlichen Zustand wirklich sinnvoll angewendet werden könne. And in this law of Nature, consisteth the Fountain and Originall of JUSTICE. For where no Covenant hath preceded, there hath no Right been transferred, and every man has right to every thing; and consequently, no action can be Unjust. But when a Covenant is made, then to break it is Unjust: and the definition of INIUSTICE, is no other than the not Performance of Covenant. And whatsoever is not Unjust, is Just. But because Covenants of mutuall trust, where there is a feare of not performance on either part, (as hath been said in the former Chapter,) are invalid; though the Originall of Justice be the making of Covenants; yet Injustice actually there can be none, till the cause of such feare be taken away; which while men are in the naturall condition of Warre, cannot be done. Therefore before the names of Just, and Unjust can have place, there must be some coercive Power, to compell men equally to the performance of their Covenants, by the terrour of some punishment, greater than the benefit they expect by the breach of their Covenant; and to make good that Propriety, which by mutuall Contract men acquire, in recompence of the universall Right they abandon; and such power there is none before the erection of a Common-wealth.92

Das Problem der Passage besteht nun vor allem darin, dass die abschließenden Aussagen zum Anwendungsbereich des Gerechtigkeitsbegriffs nur dadurch möglich werden, dass Hobbes sich, ohne dies weiter zu begründen, allein auf ‚covenants of mutual trust‘ bezieht, nicht aber auf solche ‚covenants‘ eingeht, bei denen nur einer Partei Vertrauen geschenkt wird, und dass er auch im Fall der wechselseitigen Vertrauensverhältnisse etwas zu leichtfertig voraussetzt, alle derartigen Vereinbarungen seien bzw. würden im Naturzustand ungültig, was ja seiner eigenen Darstellung gemäß nur dann der Fall sein wird, wenn bei allen derartigen Vereinbarungen im Anschluss an ihren Abschluss legitime neue Gründe auftreten, um an der Treue der anderen Partei zu zweifeln. Verweigert man dieser Voraussetzung seine Zustimmung und bezieht man auch solche Verträge mit ein, bei denen eine der Parteien ihre Leistung sofort erbringt, dann kann die Aussage, es könne im Naturzustand keine Ungerechtigkeit im Sinne der Hobbes’schen Definition des Wortes geben, nicht aufrechterhalten werden, weil es dann auch im Naturzustand zu einer Verletzung gültiger ‚covenants‘ kommen könnte. Man kann Hobbes’ Aussagen aber meines Erachtens durch die zusätzliche und bereits bemühte Annahme stützen, dass angesichts der generellen Unsicherheit des Naturzustandes und angesichts der zu erwartenden Enttäuschungen etwaiger Vertragspartner durch den jeweils anderen immer weniger ‚covenants‘ überhaupt geschlossen werden werden, so dass es auch dann irgendwann im Naturzustand keine Ungerechtigkeit mehr geben wird, wenn dies theoretisch eigentlich noch möglich wäre. _____________ 92

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Die Passage scheint auf der anderen Seite auch insofern mit einigen Schwierigkeiten verbunden, als sich angesichts des Wechsels vom Begriff ‚injury‘ zum Begriff ‚injustice‘ die Frage stellt, ob sich die oben bereits mit Blick auf den Text von De Cive konstatierten terminologischen Spannungen, die aus Hobbes’ Verwendung der Begriffe ‚Unrecht‘ und ‚Ungerechtigkeit‘ erwachsen, verschärfen müssen und inwiefern Hobbes überhaupt noch an der in der zweiten Auflage von De Cive explizit getroffenen Unterscheidung von ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ festhalten kann. Wenn der Begriff ‚injustice‘ nun die Verletzung von Verträgen und damit solche Pflichtverletzungen bezeichnet, die sich direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen, dann ist einerseits zu fragen, unter welchen Begriff fortan solche Pflichtverletzungen fallen, die sich nicht direkt auf bestimmte andere beziehen. Andererseits ist zu fragen, welche Bedeutung dem Begriff ‚injury‘ noch zukommen kann und ob er, wie dies die offenbar synonyme Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ im Kontext der Hobbes’schen Erörterung der Rechtsaufgabe und der Begriffe ‚obliged‘, ‚bound‘, ‚ought‘ und ‚duty‘ nahelegt, nun vollständig mit dem Begriff ‚injustice‘ zusammenfällt. Da die möglichen Schwierigkeiten, die aus dem Wechsel von ‚injury‘ zu ‚injustice‘ resultieren könnten, jedoch davon abhängig sind, ob Hobbes im Zuge der Unterscheidung zwischen gerechten Personen und gerechten Handlungen an seiner früheren Darstellung festzuhalten versuchen wird, soll diesen Fragen auch erst im Kontext der betreffenden Passage eingehender nachgegangen werden. Der neue bzw. nun in anderem Sinne verwendete Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ wird von Hobbes dadurch besonders in den Mittelpunkt gerückt, dass er seine Begriffsdefinition zum Anlass nimmt, um das dritte Naturgesetz zur Wendung suum cuique tribuere und damit zur scholastischen Definition der Gerechtigkeit in Beziehung zu setzen, eine Beziehung, die Hobbes nutzt, um noch ein weiteres Mal zu zeigen und zu bekräftigen, dass und warum der Begriff der Gerechtigkeit allein zur Beschreibung des Verhaltens innerhalb eines Staates geeignet sei. And this is also to be gathered out of the ordinary definition of Justice in the Schooles: For they say, that Justice is the constant Will of giving to every man his own. And therefore where there is no Own, that is, no Propriety, there is no Injustice; and where there is no coercive Power erected, that is, where there is no Common-wealth, there is no Propriety; all men having Right to all things: Therefore where there is no Common-wealth, there nothing is Unjust. So that the nature of Justice, consisteth in keeping of valid Covenants: but the Validity of Covenants begins not but with the Constitution of a Civill Power, sufficient to compell men to keep them: And then it is also that Propriety begins.93

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Vor allem angesichts der expliziten Bezugnahme auf den scholastischen Begriff der Gerechtigkeit kann der These Foisneaus, nach der sich im englischen Leviathan eine bewusste Hinwendung zum traditionellen Begriff der Gerechtigkeit vollzieht, ohne Weiteres zugestimmt werden. Auch der explizite Rückgriff auf den Begriff des Eigentums bzw. des „Own“ vermag dabei freilich die oben angedeuteten Probleme der Hobbes’schen Argumentation nicht zu überdecken. Wenn im Naturzustand nur ‚covenants of mutual trust‘ ungültig werden und auch diese nur unter bestimmten Bedingungen, dann heißt das zwangsläufig, dass es prinzipiell auch im Naturzustand Eigentum geben kann, was wiederum heißt, dass es Handlungen geben kann, die als ‚unjust‘ zu bezeichnen wären. Zu stellen wäre zudem auch die bislang noch nicht formulierte Frage, warum Hobbes den Begriff der Gerechtigkeit überhaupt auf ‚covenants‘ beschränkt und die Nichterfüllung solcher Verträge, bei denen beide sofort ihre Leistung erbringen, gänzlich außen vor lässt. Auch in solchen Fällen wäre angesichts eines möglichen minimalen Zeitunterschiedes zwischen den beiden Leistungen ja prinzipiell denkbar, dass eine Partei die andere betröge. Die oben skizzierte Annahme zur Stützung der Hobbes’schen Behauptung lässt sich aber ohne größeren Aufwand auch auf diese Fälle anwenden, so dass Hobbes’ Versäumnis auch hier nicht allzu schwer zu gewichten wäre. Im direkten Anschluss an die zuletzt zitierte Passage beginnt Hobbes relativ unvermittelt – und ohne dies näher zu erläutern – damit, in ausgesprochen umfangreicher Form diejenige Position zu entwickeln, die er als Position des ‚Narren‘ bezeichnet und die er in der Folge in ebenso umfangreicher Form zu widerlegen versucht. Die Position des ‚Narren‘ steht freilich insofern in einer unzweifelhaften inhaltlichen Verbindung zum Vorhergegangenen, als diese Position sich direkt auf den zuvor entwickelten Begriff der Gerechtigkeit bezieht und vorrangig in der Behauptung besteht, die Erfüllung geschlossener Verträge sei in vielen Fällen irrational, weil sie für das betreffende Individuum mit geringeren Vorteilen verbunden sei als deren Verletzung. Mit den zentralen Annahmen der Hobbes’schen Theorie steht sie zudem auch insofern in Beziehung, als sie den Versuch darstellt, Hobbes’ eigenen Grundsatz, nach dem der Zweck eines Vertrages wie überhaupt der Zweck einer jeden willentlichen Handlung in einem Gut für den Handelnden besteht, zu nutzen, um das dritte natürliche Gesetz in Zweifel zu ziehen. Wenn, so lautet das zentrale Argument des ‚Narren‘, es sich bei dem Streben nach dem eigenen Guten um eine Art anthropologischer Konstante und bei der Erzielung des größtmöglichen individuellen Vorteils um das primäre und grundlegende Handlungsziel jedes vernünftigen Menschen handelt, dann scheint es doch, als müsse überall dort, wo sich durch die Nichterfüllung eines Vertrages ein größerer Vorteil erzielen lässt als durch dessen Erfüllung, die Vernunft die Nichterfüllung des Vertrages gebieten und eben nicht, wie von Hobbes be-

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hauptet und im dritten natürlichen Gesetz zum Ausdruck gebracht, dessen Erfüllung. Die Geltung des dritten natürlichen Gesetzes wäre demnach in noch wesentlich grundsätzlicherer Weise einzuschränken, als Hobbes dies im Zuge seiner Beschreibung der in foro interno-Geltung der natürlichen Gesetze tun wird. Es wäre nämlich einzugestehen, dass die von Hobbes mit so viel Aufwand beschriebene und geforderte Erfüllung gültiger Verträge oftmals auch da irrational ist, wo sie mit keinerlei Gefahren für den Handelnden verbunden ist, und dass in solchen Fällen eben nicht die Gerechtigkeit, sondern vielmehr die Ungerechtigkeit ein Gebot der Vernunft darstellt. Die Notwendigkeit, sich mit der Position des ‚Narren‘ auseinanderzusetzen, erwächst daher in gewissem Sinne aus Hobbes’ eigener Argumentation und aus der Art und Weise, wie Hobbes die Lehre von den natürlichen Gesetzen im Allgemeinen und das Gebot „That men performe their Covenants made“ im Besonderen aus seiner Lehre vom Menschen herleitet. The Foole hath sayd in his heart, there is no such thing as Justice; and sometimes also with his tongue; seriously alleaging, that every mans conservation, and contentment, being committed to his own care, there could be no reason, why every man might not do what he thought conduced thereunto: and therefore also to make, or not make; keep, or not keep Covenants, was not against Reason, when it conduced to ones benefit. He does not therein deny, that there be Covenants; and that they are sometimes broken, sometimes kept; and that such breach of them may be called Injustice, and the observance of them Justice: but he questioneth, whether Injustice, taking away the feare of God, (for the same Foole hath said in his heart there is no God,) may not sometimes stand with that Reason, which dictateth to every man his own good; and particularly then, when it conduceth to such a benefit, as shall put a man in a condition, to neglect not onely the dispraise, and revilings, but also the power of other men. The Kingdome of God is gotten by violence: but what if it could be gotten by unjust violence? were it against Reason so to get it, when it is impossible to receive hurt by it? and if it be not against Reason, it is not against Justice: or else Justice is not to be approved for good.94

Der folgende zweite Teil des Abschnitts legt allerdings nahe, dass Hobbes sich nicht nur deswegen so eingehend mit der Position des ‚Narren‘ auseinandersetzt, weil er dem Versuch etwaiger Kritiker zuvorkommen will, seine Theorie als inkonsistent auszuweisen und ihn gleichsam mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der zunächst noch eher indirekte Hinweis auf solche Personen, die sich in der Vergangenheit die Position des ‚Narren‘ zu eigen gemacht haben, vor allem aber die expliziten Bezugnahmen auf die 1628 veröffentlichten „Commentaries on Littleton“ von Edward Coke und damit auf die juristischen Debatten von Hobbes’ Zeit sowie die deutliche Bezugnahme auf die Frage nach der Möglichkeit einer legitimen oder zumindest vernünftigen Usurpation machen deutlich, dass die Motivation, die Naturzu_____________ 94

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standstheorie um den ‚reply to the Foole‘ zu erweitern, ihren Ursprung nicht nur in inner-theoretischen Notwendigkeiten, sondern auch im konkreten historisch-politischen Kontext des Leviathan und in solchen zeitgenössischen Lehren gehabt haben dürfte, die aus Hobbes’ Sicht die Stabilität des Staates gefährdet haben. From such reasoning as this, Succesfull wickednesse hath obtained the name of Vertue: and some that in all other things have disallowed the violation of Faith; yet have allowed it, when it is for the getting of a Kingdome. And the Heathen that believed, that Saturn was deposed by his son Jupiter, believed nevertheless the same Jupiter to be the avenger of Injustice: Somewhat like to a piece of Law in Cokes Commentaries on Litleton; where he says, If the right Heire of the Crown be attainted of Treason; yet the Crown shall descend to him, and eo instante the Atteynder be voyd: From which instances a man will be very prone to inferre; that when the Heire apparent of a Kingdome, shall kill him that is in possession, though his father; you may call it Injustice, or by what name you will; yet it can never be against Reason, seeing all the voluntary actions of men tend to the benefit of themselves; and those actions are most Reasonable, that conduce most to their ends.95

Dass der Position des ‚Narren‘ und dem Hobbes’schen Versuch, diese Position zu widerlegen, in der jüngeren Vergangenheit so große Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, steht freilich mit den historisch-politischen Bezügen der Passage kaum in einem nennenswerten Verhältnis.96 Das auffallende Interesse am ‚reply to the Foole‘ dürfte neben der Bedeutung, die der Stelle im Hinblick auf den inneren Zusammenhalt der Hobbes’schen Argumentation zukommt, vor allem auf vier zentrale Ursachen zurückzuführen sein. Auf der einen Seite entwickelt Hobbes’ mit dem ‚Narren‘ eine Figur, die als eine der wichtigsten Manifestationen des sogenannten ethischen Skeptikers gelten kann, der zum festen Inventar der modernen Versuche gehört, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Begründung universaler moralischer Normen zu diskutieren.97 Zweitens steht im Mittelpunkt der Argumentation des ‚Narren‘ die spezifische Frage, ob und warum es vernünftig ist, gerecht zu sein, und damit auch die gerade in der jüngeren Vergangenheit zunehmend erörterte allgemeine Frage, ob und warum es vernünftig ist, moralisch zu handeln.98 Drittens hängt, wie sich unten zeigen wird, die Stärke der Hobbes’schen Widerlegung nicht zuletzt davon ab, mit welcher Strategie Hobbes dem Problem des ‚Unrechttuns im Verborgenen‘ zu begegnen vermag, ein Problem, das seine klassische philosophische Formulierung in der platonischen Sage vom _____________ 95 96 97 98

EL: 72f. Eine Ausnahme stellt der Versuch Foisneaus dar, die Bedeutung der Lehren Machiavellis für die Hobbes’sche Auseinandersetzung mit dem ‚Narren‘ aufzuzeigen (vgl. Foisneau 2004: 144ff.). Vgl. etwa Stemmer 2000: 16ff. Vgl. Bayertz 2004; sowie die Aufsätze und Literaturhinweise in Bayertz 2002.

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‚Ring des Gyges‘ findet,99 das aber auch für die Diskussion der modernen kontraktualistischen Ethikansätze von großer Relevanz ist und einige Berührungspunkte mit dem sogenannten ‚free-rider problem‘ aufweist.100 Viertens und letztens, ist dem Hobbes’schen ‚reply to the Foole‘ auch deshalb ein so starkes Interesse entgegengebracht worden, weil es sich bei ihm um denjenigen Abschnitt des englischen Leviathan handelt, dem für die spieltheoretische Analyse der Hobbes’schen Vertragstheorie die größte Bedeutung zukommt.101 Gerade im Rahmen der spieltheoretischen Untersuchungen des ‚reply to the Foole‘ ist deutlich geworden, dass der Hobbes’sche Versuch, die Argumentation des ‚Narren‘ zu entkräften, durchaus komplexe Züge aufweist und keineswegs frei von Problemen ist. Die Argumente, mit denen Hobbes den Angriff des ‚Narren‘ abzuwehren versucht, lassen sich in der folgenden Weise zusammenfassen: Hobbes betont zunächst, dass sich die vom ‚Narren‘ aufgeworfene Frage nach der Vernünftigkeit der Vertragserfüllung letztlich nur im Hinblick auf solche ‚covenants‘ stellt, bei denen eine der beiden Parteien bereits erfüllt hat bzw. sicher erfüllen wird. Die entscheidende Frage lässt sich demnach so formulieren: Ob es für eine zweite Partei vernünftiger ist, die von ihr zugesagte Leistung zu erbringen, oder ob es vernünftiger ist oder vernünftiger sein kann, die Erbringung zu verweigern, um so aus der bereits erfolgten Vertragserfüllung durch die erste Partei einen einseitigen Vorteil zu ziehen. Hobbes hebt dann in grundsätzlicher Weise hervor, dass sich die Vernünftigkeit der in Frage stehenden Handlung nicht an denjenigen Vorteilen bemisst, die sich objektiv aus der betreffenden Handlung ergeben, sondern an denjenigen Vorteilen, mit denen im Moment der Festlegung auf eine der Handlungsalternativen subjektiv gerechnet werden kann. Das Kriterium der Vernünftigkeit bestünde demnach nicht in der objektiven Nützlichkeit (‚actual utility‘), sondern in der erwartbaren Nützlichkeit (‚expected utility‘ bzw. ‚expectable utility‘) der in Frage stehenden Handlung. Das entscheidende Argument von Hobbes besteht nun nicht so sehr in der Leugnung der Tatsache, dass eine Vertragsverletzung unter Umständen einen kurzfristigen Vorteil zu erbringen vermag. Es besteht in der Behauptung, dass vernünftigerweise davon ausgegangen werden muss, dass dieser kurzfristige Vorteil durch langfristige Nachteile überwogen werden wird. Die Grundlage für diese Behauptung liegt in der Annahme, dass jedes Individuum im Naturzustand prinzipiell nur durch die Kooperation mit anderen Individuen überleben kann, dass aber einem Individuum, das seine Verträge nicht erfüllt und in diesem Sinne selbst unkooperativ agiert, aller Wahrscheinlich_____________ 99 Vgl. P: 359b-360d. 100 Vgl. etwa Stemmer 2000: 166ff.; und Gauthier 1986: 306ff. 101 Die Analyse des ‚reply to the Foole‘ steht bereits im Mittelpunkt der spieltheoretischen Überlegungen Gauthiers (vgl. Gauthier 1969: 76ff.). Vgl. daneben vor allem Hampton 1986; Kavka 1986; Haji 1990; und Pasquino 2001.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

keit nach von Seiten der anderen diese Kooperation langfristig verweigert werden wird. Mit anderen Worten: Im Naturzustand ist jedes Individuum im Sinne seiner eigenen Interessen darauf angewiesen, dass es in Verteidigungsbündnisse oder gar in eine zu gründende bürgerliche Gemeinschaft aufgenommen und dort auch dauerhaft akzeptiert werden wird; wer aber seine Verträge mit anderen Menschen und insbesondere mit seinen Bündnispartnern nicht erfüllt und auf diese Weise die jeweils anderen hintergeht, stellt sich gegen das Bündnis und muss im Falle einer Entdeckung damit rechnen, aus der Gemeinschaft verwiesen zu werden und damit einer deutlich erhöhten Gefahr für das eigene Leben ausgesetzt zu sein. Da nun nicht vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass der Betrug an den jeweils anderen auf Dauer unentdeckt bleiben wird, muss jedes Individuum im Sinne des eigenen Wohls daran interessiert sein, seine Verträge zu erfüllen, um so seine dauerhafte Zugehörigkeit zum Bündnis und damit seine Chancen auf das eigene Überleben zu sichern. Wie Hobbes abschließend folgert, stelle daher, anders als vom ‚Narren‘ behauptet, die Erfüllung von Verträgen die einzig rationale Handlungsalternative und folglich ein natürliches Gesetz dar. This specious reasoning is neverthelesse false. For the question is not of promises mutuall, where there is no security of performance on either side; as when there is no Civill Power erected over the parties promising; for such promises are no Covenants: But either where one of the parties has performed already; or where there is a Power to make him performe; there is the question whether it be against reason, that is, against the benefit of the other to performe, or not. And I say it is not against reason. For the manifestation whereof, we are to consider; First, that when a man doth a thing, which notwithstanding any thing can be foreseen, and reckoned on, tendeth to his own destruction, howsoever some accident which he could not expect, arriving, may turne it to his benefit; yet such events do not make it reasonably or wisely done. Secondly, that in a condition of Warre, wherein every man to every man, for want of a common Power to keep them all in awe, is an Enemy, there is no man can hope by his own strength, or wit, to defend himselfe from destruction, without the help of Confederates; where every one expects the same defence by the Confederation, that any one else does: and therefore he which declares he thinks it reason to deceive those that help him, can in reason expect no other means of safety, than what can be had from his own single Power. He therefore that breaketh his Covenant, and consequently declares that he thinks he may with reason do so, cannot be received into any Society, that unite themselves for Peace and Defence, but by the errour of them that deceive him; nor when he is received, be retayned in it, without seeing the danger of their errour; which errours a man cannot reasonably reckon upon as the means of his security: and therefore if he be left, or cast out of Society, he perisheth; and if he live in Society, it is by the errours of other men, which he could not foresee, nor reckon upon; and consequently against the reason of his preservation; and so, as all men that contribute not to his destruction, forbear him onely out of ignorance of what is good for themselves.

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[...] Justice therefore, that is to say, Keeping of Covenant, is a Rule of Reason, by which we are forbidden to do anything destructive to our life; and consequently a Law of Nature.102

Das zentrale Problem der Hobbes’schen Widerlegung des ‚Narren‘ besteht nach Einschätzung vieler Autoren darin, dass Hobbes dem oben angesprochenen Problem des ‚Unrechttuns im Verborgenen‘ eben nicht diejenige Aufmerksamkeit zukommen lässt, die eigentlich erforderlich wäre, und dass er naiverweise vorauszusetzen scheint, jeder Vertragsbruch, den eine zweite Vertragspartei begehe, werde all denjenigen Individuen zu Ohren kommen, auf deren Kooperation diese Partei angewiesen ist. Zumindest der zweite Teil der Einschätzung bedarf allerdings einer Einschränkung, da er der Hobbes’schen Argumentation nicht ganz gerecht zu werden vermag. Zu Hobbes’ Verteidigung muss einerseits angemerkt werden, dass es Hobbes ganz offenbar nicht so sehr auf die einzelnen Vertragsverletzungen ankommt, sondern auf die Reputation, die sich ein Individuum, das Teil eines Verteidigungsbündnisses oder einer Gemeinschaft ist, nach und nach erwirbt. Um sich die Reputation zu erwerben, kein verlässlicher Vertragspartner zu sein, muss ein Individuum aber weder alle seine Verträge verletzen, noch müssen alle seine Vertragsverletzungen von anderen Individuen bemerkt werden. Es reicht vielmehr aus, wenn hie und da Vertragsverletzungen ans Licht kommen und innerhalb der Gemeinschaft weitergetragen werden. Auf der anderen Seite ist anzumerken, dass der von Hobbes hervorgehobene Aspekt der subjektiven Erwartbarkeit angemessen berücksichtigt werden muss. Um die Gefahr eines Verlustes der Hilfe und der Kooperationswilligkeit anderer Individuen plausibel machen zu können, muss Hobbes nicht voraussetzen, dass eine bestimmte Anzahl der Vertragsverletzungen, derer sich ein bestimmtes Individuum schuldig macht, faktisch bemerkt werden wird. Für Hobbes’ Argument reicht es vielmehr aus, wenn sich das Individuum prinzipiell nicht sicher sein kann, dass keine seiner Vertragsverletzungen ans Licht kommen wird, weil schon in einem solchen Fall die Gefahr bestünde, dass die Reputation in der oben skizzierten Weise litte. Da Hobbes sich nun im Rahmen seiner Widerlegung auf solche Verträge bezieht, mit denen sich die Mitglieder eines Verteidigungsbündnisses und damit Mitglieder einer relativ begrenzten sozialen Gemeinschaft unter einander zur Hilfeleistung verpflichtet haben, scheint die grundsätzliche Gefahr, als unzuverlässig oder vertragsuntreu enttarnt zu werden, durchaus in beträchtlichem Maße gegeben. Das eigentliche Problem besteht freilich darin, dass Hobbes sich mit eben dieser Beschränkung auf diejenigen Verträge, die einem Verteidigungsbündnis zugrundeliegen, in unzulässiger Weise von der ungleich grundlegenderen Position des ‚Narren‘ entfernt. Der Einwand des ‚Narren‘, nach der die Nich_____________ 102 EL: 73.

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terfüllung gültiger Verträge manchmal auch auf lange Sicht vorteilhaft und folglich rational sein kann („but he questioneth, whether Injustice [...] may not sometimes stand with that Reason, which dictateth to every man his own good“), lässt sich nicht durch den Hinweis widerlegen, dass alle Menschen im Naturzustand auf Verteidigungsbündnisse angewiesen sind und dass sie – sobald sie sich gegenüber ihren Bündnispartnern unzuverlässig oder unehrlich zeigen – damit rechnen müssen, enttarnt und aus dem Bündnis ausgeschlossen zu werden. Die Position des ‚Narren‘ lässt sich nur dann in ihrer ursprünglichen Form entkräften, wenn zu zeigen wäre, dass a) bei allen nur denkbaren Verträgen, also auch bei solchen, die mit Individuen geschlossen werden, die selbst nicht Teil des Bündnisses sind, eine ausreichende Gefahr besteht, dass eine etwaige Vertragsverletzung ans Licht kommen wird, und dass es b) darüber hinaus auch keine Situationen geben kann, in der ein Individuum grundsätzlich nicht mehr auf die Kooperationswilligkeit anderer Individuen angewiesen wäre. Der entsprechende Nachweis wird von Hobbes aber nicht geführt, und es dürfte auch ausgesprochen schwer fallen, ihn zu führen. So sind einerseits ohne Weiteres Situationen denkbar, in denen ein Individuum erwarten darf, dass eine konkrete Vertragsverletzung unbemerkt und das Unrechttun seinem direkten sozialen Umfeld verborgen bleiben wird, beispielsweise dort, wo der Betrug am Vertragspartner durch dessen Tötung gleichsam ‚abgesichert‘ wird, ein Fall, der im Übrigen indirekt auch in solchen Situationen eintreten kann, in denen ein Individuum sich weigert, einem angegriffenen Bündnispartner zu Hilfe zu kommen, da auch in diesen Situationen denkbar ist, dass die erfolgte Vertragsverletzung innerhalb des Bündnisses ohne Zeugen bleiben wird. Auf der anderen Seite sind durchaus Fälle möglich, in denen ein Individuum nicht mehr in dem von Hobbes vorausgesetzten Maße auf die Kooperationswilligkeit der anderen bzw. zumindest nicht mehr auf die Kooperationswilligkeit bestimmter anderer angewiesen sein wird. Die Hobbes’sche Widerlegung des ‚Narren‘ bezieht sich dort, wo ihr eigentliches Argument entwickelt wird, praktisch ausschließlich auf Menschen, die sich im Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ befinden und ohne die Hilfe der sie umgebenden Menschen nicht dauerhaft überleben könnten. Selbst wenn man nun zugestehen wollte, dass in einer solchen Situation jede Vertragsverletzung den Ausschluss aus dem Bündnis zu provozieren und die Gefahr für das eigene Leben in unverhältnismäßiger Weise zu erhöhen vermag, so kann dies doch für eine Vertragsverletzung innerhalb etwas stabilerer Verhältnisse nicht in derselben Weise gelten. In solchen Verhältnissen wäre es unter Umständen durchaus denkbar, dass ein Individuum, das aufgrund seiner Unehrlichkeit oder Unzuverlässigkeit von Seiten seines direkten sozialen Umfeldes eine Zurückweisung erfährt, Aufnahme in ein anderes soziales Netzwerk finden könnte, in dem niemand von dieser Unzuverlässigkeit weiß,

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so dass der durch die Vertragsverletzungen erzielte Vorteil keineswegs durch den völligen Verlust sozialer Kooperation aufgehoben würde. Hinzu kommt, dass Hobbes bei seinen Ausführungen in zweierlei Hinsicht den Aspekt der Macht nicht ausreichend berücksichtigt. Auf der einen Seite konzentriert er sich ausschließlich auf den Fall, dass ein einzelnes Individuum die von ihm geschlossenen Verträge verletzt und sich damit gegen das aus einer Vielzahl von Individuen bestehende Bündnis stellt. Während in einem solchen Fall die Aufdeckung etwaiger Vertragsbrüche in der Tat gewichtige soziale Sanktionen nach sich ziehen mag, so sind doch in solchen Fällen, in denen eine größere Gruppe von mächtigen Individuen gemeinschaftlich ungerecht agiert – sei es gegenüber einer kleineren Gruppe oder gegenüber einer einzelnen Person –, gegebenenfalls überhaupt keine nennenswerten Sanktionen zu erwarten oder aber nur solche, die den Vorteil, der aus dem ungerechten Handeln erwachsen ist, nicht aufzuwiegen vermögen. Auf der anderen Seite geht Hobbes insgesamt zu wenig auf die Möglichkeit ein, dass Individuen gerade im Zuge ihres Vertrags- oder Gesetzesbruches zu soviel Macht gelangen könnten, dass sie auf die Kooperationswilligkeit der Geschädigten oder anderer Individuen nicht mehr angewiesen sind oder diese fortan erzwingen können. Wie oben deutlich geworden ist, stellt gerade die Usurpation der souveränen Gewalt, bei der es sich um einen derartigen Fall handelt, eines der Beispiele dar, von denen die Hobbes’sche Auseinandersetzung mit dem ‚Narren‘ motiviert ist. Es muss daher erstaunen, dass das Kernargument, auf welches Hobbes seine Widerlegung des ‚Narren‘ stützt, auf die Fälle der Usurpation bzw. der Rebellion überhaupt nicht wirklich anwendbar ist. Dass Hobbes zumindest diesen Schwachpunkt seiner Argumentation gesehen hat, zeigt sich daran, dass er im Anschluss an die oben zitierte Passage auf den Fall der Rebellion noch einmal separat eingeht. Wie Hobbes anmerkt, sei der Versuch, die souveräne Gewalt im Zuge einer Rebellion an sich zu reißen, einerseits deshalb unvernünftig, weil nicht sicher von einem Gelingen des Aufstandes ausgegangen werden könne. Andererseits sei er es deshalb, weil im Falle eines solchen Gelingens andere Individuen ebenfalls zur Rebellion ermuntert würden und die durch den Umsturz erlangte Herrschaft daher sofort wieder bedroht wäre. So berechtigt Hobbes’ Hinweis aber grundsätzlich auch sein mag, er vermag doch kaum eine wirklich umfassende Geltung zu beanspruchen und aufzuzeigen, dass jeder nur denkbare politische Umsturz mit Blick auf den dadurch erzielten bzw. einer realistischen Einschätzung gemäß zu erzielenden individuellen Vorteil der späteren Machthaber als irrational eingeschätzt werden muss. Die Hobbes’sche Auseinandersetzung mit der Position des ‚Narren‘ mag daher ohne Zweifel eine ganze Reihe gewichtiger Argumente und Hinweise enthalten und eine ganze Reihe möglicher Gefahren und möglicher Nachteile

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

aufzeigen, die aus der einseitigen Verletzung vertraglicher Vereinbarungen erwachsen können. Den pauschalen Beweis, dass Vertrags- und Gesetzesbrüche unter allen Umständen langfristige Nachteile nach sich ziehen und daher schlichtweg irrational sind, vermag Hobbes aber, obwohl er dies vorgibt, nicht zu erbringen, und so erfährt auch die Position des ‚Narren‘ letztlich keine ganz überzeugende und umfassende Widerlegung. Hoekstra hat dieses Fazit und vor allem den häufig erhobenen Vorwurf, Hobbes habe das diesbezügliche Scheitern seines ‚reply‘ selbst nicht gesehen, kürzlich zum Anlass genommen, um die Frage zu stellen, ob es sich bei der Position des ‚Narren‘ nicht um eine andere als die gemeinhin angenommene handeln könnte und ob es Hobbes nicht gegebenenfalls um ein anderes Problem gegangen sei als um das, auf das sich seine Widerlegung vordergründig zu beziehen scheint.103 Hoekstra geht dabei zunächst von der Frage aus, worin eigentlich die Narrheit des ‚Narren‘ bestehe, welche Eigenschaft des ‚Narren‘ es also für Hobbes als gerechtfertigt erscheinen lasse, ihn in eben dieser Weise zu bezeichnen. In Gegensatz zu der vorherrschenden Meinung, nach der der ‚Narr‘ deshalb ein Narr ist, weil er in selbstwidersprüchlicher Weise agiert, weil nämlich die Vertragsverletzungen, die er mit Blick auf den eigenen Vorteil unternimmt, diesen eigenen Vorteil letztlich gar nicht befördern, sieht Hoekstra die entscheidende Narrheit des ‚Narren‘ dahin, dass er sich öffentlich zu seiner Ideologie bekennt und sich damit selbst als einen Menschen zu erkennen gibt, der zu den von ihm geschlossenen Verträgen nicht stehen wird und den man deshalb in keine vertraglich begründete Gemeinschaft aufnehmen sollte. Bestünde die Position des ‚Narren‘ aber darin, im Hinblick auf den eigenen Vorteil Vertragsverletzungen vorzunehmen und sich zugleich nicht ausreichend darum zu bemühen, diese Vertragsverletzungen geheim zu halten, dann erschiene Hobbes’ konkreter Widerlegungsversuch deutlich weniger unangemessen. Das Hobbes’sche Argument bestünde dann vor allem in der Behauptung, dass es immer unvernünftig sei, sich in irgendeiner Weise zur Ideologie des Vertragsbruches zu bekennen, weil man dadurch die Vorteile der wechselseitigen Kooperation einbüße, und in dieser Form ginge die Hobbes’sche Argumentation nicht an der Position des ‚Narren‘ vorbei und folglich auch nicht ins Leere. So scharfsinnig Hoekstra seine Interpretation aber mitunter auch vortragen mag, so wenig liefert der Text des englischen Leviathan doch letztlich eine ausreichende Basis für die Behauptung, es gehe Hobbes vorrangig darum, das direkte oder indirekte Bekenntnis zur Vernünftigkeit des Vertragsbruches und damit das direkte oder indirekte Bekenntnis zu staatsgefährdenden Lehren als unvernünftiges Verhalten auszuweisen. Hobbes’ anfängliche Beschreibung des ‚Foole‘ („The Foole hath sayd in his heart, [...] and sometimes also with _____________ 103 Zum Folgenden vgl. Hoekstra 1997: 622ff. Vgl. auch: Hayes 1999; und Hoekstra 1999.

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his tongue“104) mag zwar eine gewisse Stützung für Hoekstras Charakterisierung des ‚Narren‘ liefern. Wenn Hobbes den ‚Narren‘ jedoch genau deshalb als ‚Narren‘ begreifen würde, weil er sich zu seinen Vertragsbrüchen bekennt, wäre doch wohl zu erwarten, dass er in seinem einleitenden Satz gänzlich auf das einschränkende „sometimes“ verzichten würde. Indem er dies nicht tut, erweckt er eher den Eindruck, als handle es sich bei der Geschwätzigkeit des ‚Narren‘ um ein keineswegs zwingendes Vorkommnis und schon gar nicht um diejenige zentrale Eigenschaft, der der ‚Narr‘ seinen Namen verdankt. Zur Stützung von Hoekstras Interpretation lassen sich daher am ehesten zwei Sätze aus der Widerlegung des ‚Narren‘ anführen, in denen Hobbes erst die Notwendigkeit von Verteidigungsbündnissen bekräftigt, um dann auf den ‚Narren‘ Bezug zu nehmen mit den Worten „and therefore he which declares he thinks it reason to deceive those that help him“ bzw. mit den Worten „He therefore that breaketh his Covenant, and consequently declareth that he may with reason do so“105. Gerade der Gebrauch des „consequently“ im Rahmen der zweiten Wendung legt nun aber nahe, dass die Erklärung bzw. das Bekenntnis des ‚Narren‘, von dem an dieser Stelle die Rede ist, kein Bekenntnis ist, das zum Akt des Vertragsbruches hinzukommt, sondern dass es notwendig mit diesem Vertragsbruch einher geht und von expliziten sprachlichen Äußerungen unabhängig ist. Diese Deutung, deren Möglichkeit Hoekstra auch ausdrücklich anerkennt,106 stünde nicht nur in Übereinstimmung mit Hobbes’ sonstigem Gebrauch des Ausdrucks „consequently“, sondern auch in Übereinstimmung mit seiner früheren Beschreibung der vertraglichen Willenserklärung, in der er den Begriff ‚declaration‘ bzw. das Verb ‚to declare‘ ebenfalls auf Handlungen und Unterlassungen ausgedehnt und keineswegs auf sprachliche Äußerungen beschränkt hatte. Wenn aber das Bekenntnis des ‚Narren‘ zu seiner Ideologie untrennbar mit seinem Handeln verbunden ist und in seinen konkreten Vertragsverletzungen besteht, dann kann es letztlich gar keinen „Silent Foole“ geben, weil jeder ‚Foole‘, indem er gemäß seiner Ideologie handelt, automatisch zum „Explicit Foole“107 werden muss. Während Hoekstra diese Tatsache als entscheidenden Beleg für die von ihm vertretene Lesart wertet, d.h. für die Interpretation, dass es Hobbes im Rahmen seines ‚reply‘ um die Widerlegung eines „Explicit Foole“ gehen muss, spricht sie meines Erachtens eher dafür, dass Hoekstras Unterscheidung von „Silent Foole“ und „Explicit Foole“ nicht wirklich hilfreich ist, weil dann, wenn sich nach Hobbes’ Auffassung der „Silent Foole“ zwangsläufig in einen „Explicit Foole“ verwandeln wird, gar _____________ 104 105 106 107

Hervorh. v. mir Hervorh. v. mir Vgl. Hoekstra 1997: 624. Beides: Hoekstra 1997: 623.

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nicht einzusehen ist, warum Hobbes überhaupt eigens die Frage diskutieren sollte, ob es unvernünftig ist, sich zur Ideologie der Ungerechtigkeit zu bekennen. Dass das Hobbes’sche Interesse darin besteht, die Unvernünftigkeit von Vertragsverletzungen aufzuzeigen, nicht aber darin, die Frage zu erörtern, ob man sich in irgendeiner Weise zu der Überzeugung bekennen sollte, Verträge verletzen zu wollen, zeigt sich zudem auch an einigen weiteren Stellen des Hobbes’schen ‚reply‘. Schon der einleitende Satz „This specious reasoning is neverthelesse false“ macht deutlich, dass sich Hobbes’ Widerlegung nicht auf die Geschwätzigkeit des ‚Foole‘ bezieht, sondern auf die Überlegungen, die hinter seinem Handeln stehen, d.h. um die zuvor ausgiebig beschriebene und unter Verweis auf Coke mit einem zeitgenössischen Vertreter versehene Überzeugung, dass die Verletzung von Verträgen unter Umständen mit dauerhaften Vorteilen für den Handelnden verbunden und in solchen Fällen rational ist. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man den abschließenden Satz des ‚reply‘ betrachtet. Das Fazit „Justice, therefore, that is to say, Keeping of Covenant, is a Rule of Reason, by which we are forbidden to do any thing destructive to our life; and consequently a Law of Nature“ macht unmissverständlich deutlich, dass es Hobbes in der gesamten Auseinandersetzung mit der Position des ‚Narren‘ darum geht, die Vernünftigkeit der Vertragstreue zu beweisen und damit das dritte Naturgesetz zu begründen bzw. es noch einmal ausdrücklich zu verteidigen, nicht aber darum, den Nutzen der Heuchelei oder des Schweigens über die eigenen Ungerechtigkeiten zu begründen. Hinzu kommt schließlich, dass man, auch ohne Hoekstras Deutung zu übernehmen, ein ausreichendes Argument dafür besitzt, warum Hobbes den ‚Narren‘ als eben solchen bezeichnet. Die oben beschriebene Tatsache, dass der ‚Narr‘ in der Ergebenheit an seinen egoistischen Handlungszweck seinem Eigeninteresse letztlich zuwiderhandelt, genügt schon für sich genommen, um der Hobbes’schen Redeweise vom ‚Narren‘ Plausibilität zu verleihen. Einen zusätzlichen Grund dürfte sie daneben auch in der spürbaren Polemik haben, die die Hobbes’sche Darlegung der Position des ‚Narren‘ grundsätzlich kennzeichnet und die allgemein ein Kennzeichen solcher Passagen ist, in denen sich Hobbes mit fremden Positionen auseinandersetzt, erst recht, wenn es sich um zeitgenössische Positionen handelt, die darüber hinaus aus Hobbes’ Sicht noch zu den staatsgefährdenden Lehren zu zählen sind. Der letzte Teil der vertragstheoretischen Ausführungen des englischen Leviathan, auf den im vorliegenden Zusammenhang einzugehen ist, ist die oben schon angesprochene Unterscheidung von gerechten Personen und gerechten Handlungen, die in kurzem Abstand auf den ‚reply to the Foole‘ folgt. Die zuvor eingeschobene Erörterung der Fragen, ob die natürlichen Gesetze nicht prinzipiell als diejenigen Regeln zu begreifen sind, die zur Er-

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langung des ewigen Heils beitragen, und ob die Verletzung geschlossener Verträge nicht in einigen Fällen mit dem Hinweis auf göttliche Gebote und göttliche Sanktionen gerechtfertigt werden kann, stellt zwar ebenfalls eine bedeutsame Erweiterung der Hobbes’schen Argumentation dar. Sie kann hier aber übergangen werden, da sie in Kapitel 6.4.2 und 6.4.3 schon hinreichend diskutiert worden ist. Auch die Erörterung des Unterschiedes zwischen kommutativer und distributiver Gerechtigkeit, die die vertragstheoretischen Ausführungen des fünfzehnten Kapitels beschließt, und die direkt vorhergehende Passage, in der Hobbes das Prinzip volenti non fit injuria verteidigt – diesmal freilich, ohne es wörtlich zu zitieren –, bedürfen an dieser Stelle keiner eingehenderen Betrachtung. Der Unterscheidung der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen kommt einerseits insofern eine größere Relevanz als den zuletzt genannten Passagen zu, weil sie einigen leichteren Überarbeitungen unterzogen worden ist, die für die Frage nach dem Status der vertraglichen Verpflichtung von gewisser Bedeutung sind. Hobbes charakterisiert den gerechten Menschen zunächst in etwas verkürzter, inhaltlich aber ähnlicher Weise wie in De Cive als denjenigen Menschen, der sich konsequent darum bemüht, gerechte Handlungen auszuführen („he that taketh all the care he can, that his Actions may be all Just“108), und den ungerechten Menschen als denjenigen, der die Forderungen der Gerechtigkeit vernachlässigt („he that neglecteth it“109). Während von diesen Charakterisierungen erneut nicht gesagt werden kann, dass sie der Hobesschen Position einen starken deontologischen Unterton verleihen würden, trifft dies doch auf die abschließende zweite Charakterisierung des ungerechten Menschen wieder deutlich eher zu. So kennzeichnet Hobbes den ungerechten Menschen am Ende der Passage als einen Menschen, der dann, wenn er in Übereinstimmung mit den Forderungen der Gerechtigkeit handelt, dies nicht deshalb tut, weil sein Wille von der Gerechtigkeit geformt wird, sondern nur deshalb, weil ungerechtes Handeln in den betreffenden Fällen mit direkten Nachteilen verbunden wäre („his Will is not framed by the Justice, but by the apparent benefit of what he is to do“110). Hobbes suggeriert dadurch einmal mehr, dass sich das wahrhaft gerechte Handeln dadurch auszeichnen könnte, dass es ein Handeln um der Gerechtigkeit bzw. um des Gebotes willen ist, wie Hobbes dies in der korrespondierenden zweiten Beschreibung des gerechten Menschen in De Cive ja auch explizit formuliert hatte. Es muss nun aber betont werden, dass Hobbes die betreffende Charakterisierung des gerechten Menschen im englischen Leviathan komplett neu ge_____________ 108 EL: 74. 109 EL: 74. 110 EL: 74.

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staltet. Hobbes kennzeichnet den gerechten Menschen nun nicht mehr als einen Menschen, der das Rechte aufgrund des Gebotes des Gesetzes tut, sondern präsentiert ihn stattdessen als einen Menschen, der angesichts seines Edelmutes und seiner charakterlichen Vorzüge zu erhaben ist, um zum Zwecke der Annehmlichkeit des eigenen Lebens zu so niederen Mitteln wie Betrügereien und falschen Versprechungen Zuflucht zu nehmen („That which gives to humane Actions the relish of Justice, is a certain Noblenesse or Gallantnesse of courage, (rarely found,) by which a man scorns to be beholding for the contentment of his life, to fraud, or breach of promise.“111). Der gerechte Mensch erscheint daher an dieser Stelle nicht mehr wie in De Cive als einer, der aus Pflicht handelt, sondern wieder konsequenter als einer, der eine Neigung zu pflichtgemäßem Handeln besitzt. Hinzu kommt, dass Hobbes’ obiger Hinweis auf den „apparent benefit“ sich in ähnlicher Weise wie die Wendung „praesenti commodo“ in De Cive und in Übereinstimmung mit unserer Deutung derjenigen Passage, in der Hobbes die Kraft vertraglich generierter Rechte beschreibt, durchaus als Hinweis auf den lediglich kurzfristigen Vorteil lesen lässt. Der Unterschied zwischen dem gerechten und dem ungerechten Menschen wäre dann nicht darin zu sehen, dass der ungerechte Mensch ausschließlich vom eigenen Vorteil – wie etwa von der Furcht vor Strafen – geleitet wird, der gerechte Mensch aber von dem Begriff der Gerechtigkeit als solchem, eine Auffassung, die ja auch in deutlichem Widerspruch zu dem Hobbes’schen Prinzip stünde, dass jeder Mensch prinzipiell nach dem für ihn Guten strebt. Der Unterschied bestünde dann eher darin, dass sich der ungerechte Mensch von kurzfristigen und mitunter nur scheinbaren Vorteilen leiten lässt, während der gerechte Mensch den langfristigen und wahren Vorteil im Auge hat, der im friedlichen Miteinander besteht, welches wiederum auf das Instrumentarium des Vertrages angewiesen ist. Es wäre daher zwar nicht der kurzfristige Vorteil, wie er in der Vermeidung direkter Sanktionen besteht, der die theoretische Grundlage der Gerechtigkeit und damit auch der vertraglichen Pflichten bildet, mit dem langfristigen Vorteil und dem Interesse an der eigenen Erhaltung aber sehr wohl ein prudenzieller Aspekt. Der zweite Grund dafür, dass die Unterscheidung der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen von einem gewissen Interesse ist, liegt in der oben bereits angedeuteten Tatsache, dass es sich bei der Passage um denjenigen Teil der Hobbes’schen Vertragstheorie handelt, in dem die terminologischen Spannungen, die sich aus Hobbes’ verändertem Gebrauch des Begriffes ‚injustice‘ ergeben könnten, am deutlichsten zu Tage treten würden. Dass es letztlich jedoch nur in sehr begrenztem Maße zu diesen Spannungen kommt, liegt daran, dass Hobbes einerseits die inhaltliche _____________ 111 EL: 74.

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Unterscheidung zwischen gerechten Personen und gerechten Handlungen nun auch mit größerer terminologischer Konsequenz umsetzt und dass er die Unterscheidung andererseits terminologisch und inhaltlich für die frühere Unterscheidung von ‚injuria‘ und ‚injustitia‘ fruchtbar zu machen versucht. Nachdem Hobbes zunächst in ähnlicher Weise wie in den früheren Werken hervorgehoben hat, dass die Begriffe ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ sowohl auf Personen als auch auf Handlungen angewendet werden können und dass sie in beiden Fällen voneinander zu unterscheidende Sachverhalte zum Ausdruck bringen, greift er nicht nur wie in den Elements erneut auf den Begriff ‚injustice of actions‘ zurück, sondern stellt auch in grundsätzlicherer Weise und mit wesentlich mehr Nachdruck den Begriffen ‚justice of actions“ bzw. ‚injustice of actions’ die Begriffe ‚justice of manners’ bzw. ‚injustice of manners’ gegenüber. Die eigentlich entscheidende Überarbeitung besteht nun darin, dass Hobbes den Begriff ‚injustice of manners‘ in seine frühere Unterscheidung von ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ integriert und dabei eine inhaltliche Verbindung herzustellen versucht zwischen der Unterscheidung von Personen und Handlungen auf der einen Seite und der Unterscheidung von solchen Pflichtverletzungen, die sich direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen, und solchen, die sich nicht direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen, auf der anderen Seite. Again, the Injustice of Manners, is the disposition, or aptitude to do Injurie; and is Injustice before it proceed to Act; and without supposing any individuall person injured. But the Injustice of an Action, (that is to say Injury,) supposeth an individuall person Injured; namely him to whom the Covenant was made: And therefore many times the injury is received by one man, when the dammage redoundeth to another.112

Da Hobbes in der obigen Passage, bei der es sich um eine deutlich überarbeitete Version der in der zweiten Auflage neu hinzugefügten Fußnote von De Cive handelt, nicht mehr den allgemeinen Begriff ‚injustice‘, sondern den spezifischeren Begriff ‚injustice of manners‘ zum Gegenbegriff des Ausdrucks ‚injury‘ macht, wirft nun weder die Tatsache, dass Hobbes den Begriff ‚injury‘ wie in den Elements und in De Cive mit dem Begriff ‚injustice of actions‘ gleichsetzt, ein wirklich schwerwiegendes Problem auf, noch die Tatsache, dass er in den früheren Passagen des fünfzehnten Kapitels die Verletzung eines Vertrages und damit die Verletzung einer Pflicht gegenüber einer bestimmten anderen Person anders als in den früheren Werken mit dem Begriff ‚injustice‘ belegt hat. Die Hobbes’sche Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ ist zwar immer noch nicht so eindeutig und konsequent, wie sie es sein könnte, und sie bedarf auch sicherlich einiger Interpretation, eine Tatsache, die weder von Foisneau noch von anderen Autoren hinreichend gewür_____________ 112 EL: 74.

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digt worden ist. Ist man aber bereit zuzugestehen, dass Hobbes dort, wo er zu Beginn des fünfzehnten Kapitels die Verletzungen gültiger Verträge, die durch konkrete Handlungen vollzogen werden und sich auf bestimmte andere Menschen beziehen, allgemein mit dem Begriff ‚injustice‘ belegt, eigentlich im spezifischeren Sinne von ‚injustice of actions‘ spricht, lässt sich eine wirkliche Inkonsistenz zwischen den hier besprochenen Hobbes’schen Aussagen nicht mehr behaupten. Der Begriff ‚injury‘ bezieht sich dann nach wie vor allein auf solche Pflichtverletzungen, die sich direkt auf andere Menschen beziehen und denen vertragliche Vereinbarungen vorausgehen, und als solcher fällt er mit dem Begriff ‚injustice of actions‘ vollständig zusammen. Den einzigen und eigentlichen Gegenbegriff zu den Begriffen ‚injury‘ und ‚injustice of actions‘ stellt nun aber der Begriff ‚injustice of manners‘ dar, der die Ungerechtigkeit von Menschen bzw. die Ungerechtigkeit ihrer charakterlichen Eigenschaften bezeichnet und sich nun weder auf solche Pflichtverletzungen bezieht, die bestimmte andere Menschen treffen, noch auf solche Pflichtverletzungen, die nicht bestimmte andere Menschen treffen, da er sich nämlich überhaupt nicht auf Handlungen bezieht, weswegen er sich auch mit dem Begriff ‚injury‘ in keiner Weise mehr überschneiden kann. Das einzige Problem der oben beschriebenen Überarbeitungen des englischen Leviathan besteht darin, dass sich angesichts der Tatsache, dass Hobbes sich bei seiner Entgegensetzung von ‚injustice‘ und ‚injury‘ explizit auf die ‚injustice of manners‘ beschränkt, die Frage stellt, mit welchem Begriff nun die aktive Verletzung der natürlichen Gesetze bzw. allgemein die aktive Verletzung solcher Verpflichtungen bezeichnet werden kann, die sich nicht direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen. Eine solche Pflichtverletzung kann einerseits, da sie sich nicht auf bestimmte andere Menschen bezieht und von keinem vorausgehenden Vertrag abhängig ist, nicht unter die Begriffe ‚injury‘ oder ‚injustice of actions‘ fallen. Sie kann andererseits aber, da sie in konkreten Handlungen und nicht in bloßen Handlungsgneigungen besteht, auch vom Begriff ‚injustice of manners‘ nicht wirklich abgedeckt werden. Man könnte nun versucht sein zu behaupten, dass es derartige Pflichtverletzungen innerhalb des Hobbes’schen Systems gar nicht geben kann, da überall dort, wo die natürlichen Gesetze in foro externo gelten, also durch Handlung verletzt werden können, immer zugleich auch gültige Verträge existieren, die deren Befolgung vorschreiben, was hieße, dass die entsprechenden Pflichtverletzungen gemäß der Hobbes’schen Terminologie immer schon ein Unrecht darstellen müssten. Die Hobbes’sche Erörterung der Pflichten des staatlichen Souveräns widerspricht dieser Auffassung aber. Der Souverän ist nicht Teil des Gesellschaftsvertrages und den positiven Gesetzen nicht unterworfen, und kann daher – wie Hobbes ja auch ausdrücklich hervorhebt – kein Unrecht tun, d.h. er besitzt keine Verpflichtungen gegenüber bestimmten anderen Menschen, die er verletzen könnte, sondern lediglich die allgemeine

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Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze bzw. zum Gehorsam gegenüber Gott. Es kann aber kein Zweifel bestehen, dass die Möglichkeiten des Souveräns, die natürlichen Gesetze zu verletzen, sich nicht in dem Besitz bestimmter charakterlicher Neigungen erschöpfen, sondern dass ihm auch die Möglichkeit offensteht, seiner Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen aktiv durch Handlung untreu zu werden, selbst wenn die irdische Entscheidung darüber, ob eine solche Pflichtverletzung vorliegt, prinzipiell dem eigenen Gewissensurteil des Souveräns vorbehalten bleiben mag. Dass Hobbes diese Möglichkeit durchaus eingesteht, zeigt sein Hinweis auf die Tötung Urias in Kapitel XXI. Die hier beschriebene Versündigung Davids gegenüber Gott fällt nicht unter den Begriff des Unrechts im strengen Sinne, da zwischen David und Uria keine vertragliche Vereinbarung bestanden hat, die durch die Tötung verletzt worden wäre; sie ist aber andererseits auch keine Versündigung, die sich mit dem Begriff ‚injustice of manners‘ angemessen beschreiben ließe, da sie bestimmte Handlungen Davids voraussetzt und keineswegs ausschließlich in einer charakterlichen Disposition zum Unrechttun besteht. Es gibt folglich innerhalb des Hobbes’schen Systems Sünden oder Ungerechtigkeiten, die in konkreten Handlungen bestehen, sich aber nicht direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen und denen keinerlei Vertrag vorausgeht, und für eben diese Pflichtverletzungen fehlt aufgrund der oben skizzierten Überarbeitung der Hobbes’schen Terminologie nun eine spezifische Bezeichnung. Es kann allerdings abschließend die Vermutung geäußert werden, dass Hobbes die diesbezüglichen Konsequenzen seines veränderten Gebrauchs der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ schon während der Abfassung des englischen Leviathan gesehen hat. So scheint Hobbes an einigen Stellen des Textes den Versuch zu unternehmen, den Begriff ‚iniquity‘ als Bezeichnung zur aktiven Verletzung der natürlichen Gesetze zu etablieren und mit ihm die entstandene Lücke zwischen den Begriffen ‚injustice of manners‘ und ‚injury‘/‚injustice of actions‘ zu schließen. Ein Beispiel für den betreffenden Gebrauch des Begriffes ‚iniquity‘ findet sich etwa im achtzehnten Kapitel, in dem Hobbes auf die Tatsache Bezug nimmt, dass die Handlungen des Souveräns von den Untertanen autorisiert worden sind und daher kein Unrecht darstellen können, und in dem er die betreffenden Ausführungen mit dem Satz abschließt: „It is true that they that have Soveraigne power, may commit Iniquity; but not Injustice, or Injury in the proper signification.“113 Und auch die schon angesprochene Erörterung der Tötung Urias enthält einerseits den Hinweis, die souveränen Herrscher könnten den Untertanen nichts antun, was zulässigerweise mit den Begriffen ‚injustice‘ oder ‚injury‘ bezeichnet werden könne, und andererseits den Hinweis, das Verhalten Davids falle unter _____________ 113 EL: 90.

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den Begriff ‚iniquity‘. Hobbes’ Ausführungen erwecken dabei allerdings teilweise den Eindruck, als verwende er an dieser Stelle deshalb den Begriff ‚iniquity‘, weil er das konkrete Verhalten Davids als Verstoß gegen das elfte natürliche Gesetz wertet, das mit dem Begriff „EQUITY“114 überschrieben ist.115 Auch unabhängig von dieser Unklarheit würde man aber mit der Behauptung, Hobbes wende die oben skizzierte begriffliche Dreiteilung im englischen Leviathan konsequent an, deutlich zu weit gehen, nicht zuletzt, weil Hobbes schon innerhalb seiner Erörterung der biblischen Geschichte von der Tötung Urias seiner eigenen Terminologie insofern ein wenig untreu wird, als er Davids Verhalten als Unrecht („Injurieh“116) bezeichnet, wenn auch als Unrecht gegenüber Gott. 7.4.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen Die obige Erörterung des Hobbes’schen Gebrauches der Begriffe ‚injustice‘, ‚injury‘ und ‚iniquity‘ macht bereits deutlich, dass Hobbes’ Entscheidung, den Verstoß gegen die natürlichen Gesetze mit einem anderen Begriff zu kennzeichnen als die Verletzung vertraglicher Vereinbarungen und auch zwischen natürlichen Rechten und vertraglich generierten Eigentumsrechten strikt zu unterscheiden, wie schon in De Cive nicht als Indiz dafür gewertet werden kann, dass die verpflichtende Kraft vertraglicher Vereinbarungen von derjenigen der natürlichen Gesetze wesenhaft verschieden wäre. Hobbes hält zwar im englischen Leviathan an der Behauptung, Unrecht bzw. Ungerechtigkeit und Eigentum gebe es erst im staatlichen Zustand, nicht nur grundsätzlich fest, sondern er gesteht ihr sogar insgesamt noch einen weitaus größeren Raum zu als in den früheren Schriften. Die Tatsache, dass Hobbes häufiger und nachdrücklicher auf den betreffenden Sachverhalt verweist, stellt aber deshalb keine Überarbeitung seiner Argumentation dar, die für die Frage nach der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen relevant wäre, weil die Hobbes’sche Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ auch in ihrer veränderten Form und auch mit ihrer Ergänzung durch den Begriff ‚iniquity‘ nach wie vor darauf zurückgeführt werden kann, dass im Zuge der Verletzung eines Vertrages ein Recht verletzt wird, das eine bestimmte Person und nur diese Person besitzt, während sich die natürlichen Gesetze prinzipiell auf alle Menschen in derselben Weise beziehen. Der Wechsel vom Begriff ‚injury‘ zum Begriff ‚injustice‘, den Hobbes zu Beginn des fünfzehnten Kapitels vollzieht, und die verstärkte Integration der Unterscheidung zwischen der ‚injus_____________ 114 EL: 77. 115 Vgl. EL: 109f. 116 EL: 109.

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tice of manners‘ und der ‚injustice of actions‘ mag nicht gänzlich unproblematisch sein und Fragen offen lassen, die auch durch den etwas halbherzigen Rückgriff auf den Begriff ‚iniquity‘ nicht vollständig beantwortet werden. Es kann aber überhaupt kein Zweifel bestehen, dass es für Hobbes auch zur Zeit des englischen Leviathan einen wichtigen theoretischen Unterschied ausmacht, ob die Verpflichtung, über die ein Individuum verfügt, aus dem eigenen Handeln dieses Individuums erwachsen ist und sich als konkrete Verpflichtung ausschließlich auf eine bestimmte andere Person bezieht, oder ob die Verpflichtung sich in unspezifischerer Weise auf alle Menschen als Menschen bezieht und von vorhergehenden Handlungen des Verpflichteten unabhängig ist. Ebenso wenig kann ein Zweifel bestehen, dass die Abweichungen in der begrifflichen Kennzeichnung von natürlichen Rechten und vertraglich generierten Rechten bzw. von Naturgesetzübertretung und Vertragsverletzung im englischen Leviathan wie schon in De Cive ihren Grund in eben dieser theoretischen Differenz haben und dass ihnen keineswegs die Funktion zukommt, einen qualitativen Unterschied im Charakter der jeweiligen Verpflichtung anzuzeigen. Blickt man auf diejenigen Passagen des englischen Leviathan, denen demgegenüber eine solche Relevanz für die Frage nach der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen und für die Frage nach dem genauen Charakter und der Grundlage dieser Verbindlichkeit zukommt, so muss in erster Linie konstatiert werden, dass das vor allem in den Elements spürbare, in De Cive aber bereits etwas zurückgetretene Bemühen, unter Rückgriff auf den Begriff ‚freedom as deliberation‘ und ohne direkte Bezugnahme auf das dritte natürliche Gesetz eine zusätzliche oder gar eigenständige Begründung für die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen zu liefern, im englischen Leviathan überhaupt nicht mehr greifbar ist. Wie oben deutlich geworden ist, verzichtet Hobbes in seinem Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung, die im englischen Leviathan an eine frühere Stelle verschoben wird, erstmals darauf, eine zeitliche Kontinuität zwischen Vertragsschluss und Vertragsverletzung zu behaupten. Aus diesem Grund erweckt er auch nicht mehr den Eindruck, als legten sich die Vertragsparteien im Zuge des Vertragsschlusses, weil es bei diesem um einen willentlichen Akt und damit um den Abschluss eines Überlegungsprozesses handelt, auf einen zukünftigen Willen fest und als seien sie aus diesem Grund und in diesem Sinne zur Erbringung der versprochenen Leistung verpflichtet. Schwerer noch fällt ins Gewicht, dass Hobbes auch in den beiden Passagen, in denen er begründet, warum ‚covenants‘ verpflichten, Ankündigungen von Schenkungen dies aber nicht tun, nun konsequent davon absieht, auf den Willen als den Abschluss eines Überlegungsprozesses Bezug zu nehmen und die betreffende Eigenschaft des Willens zur Erläuterung oder Rechtfertigung der in Frage stehenden Verpflichtung zu nutzen. In beiden Passagen legt

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Hobbes zwar nach wie vor großen Wert darauf, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Verpflichtung, eine bestimmte Leistung zu erbringen, und dem durch hinreichende Zeichen erklärten Willen, die in Frage stehenden Handlungen auszuführen. Anders als zuvor verzichtet Hobbes nun aber darauf, zusätzlich den Zusammenhang von Wille und Überlegungsprozess ins Spiel zu bringen und die Verpflichtung explizit aus der Behauptung abzuleiten, dass der Überlegungsprozess bezüglich der in Frage stehenden Leistung abgeschlossen sei. Das Hobbes’sche Argument beschränkt sich stattdessen auf den Hinweis, dass die im Vertrag vereinbarte Leistung Ausdruck des Willens des Verpflichteten sei bzw. dies zumindest zu bestimmten Zeitpunkten gewesen sei und dass sie für die Beteiligten mit einem Vorteil verbunden sei. Dieser zweite Aspekt kommt dabei allerdings insgesamt weniger deutlich zur Sprache als in De Cive und wird streng genommen nur in derjenigen Passage deutlich herausgestellt, in der Hobbes wenig später begründet, warum auch solche Verträge verpflichten, die aus Furcht geschlossen werden. In den anderen Passagen, die in De Cive einen Hinweis auf den Nutzen des Vertragsschlusses enthalten hatten, legt Hobbes im englischen Leviathan stattdessen größeren Wert darauf zu betonen, dass im Zuge des Vertragsschlusses und der darin enthaltenen und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal bestätigten Willenserklärung eine wechselseitige Rechtsaufgabe stattgefunden hat. Die verstärkte Einbeziehung des Rechtsbegriffes bzw. des Begriffes der Rechtsaufgabe leistet vordergründig insofern einen Beitrag zur Begründung der in Frage stehende Verpflichtung, als sie den Akt des Vertragsschlusses als einen Akt erscheinen lässt, durch den die Vertragsparteien die Freiheit, in Widerspruch zu ihrem Versprechen zu handeln, verloren haben. Bei genauerem Hinsehen vermag der Begriff der Rechtsaufgabe freilich das prinzipielle Problem der Hobbes’schen Ausführungen nicht zu lösen. Bei dem Hinweis, dass die Vertragsparteien sich im Zuge des Vertragsschlusses der Freiheit begeben haben, bestimmte Handlungen auszuführen, handelt es sich nur dann um einen zwingenden Beitrag zur Beantwortung der Frage, warum oder inwiefern Verträge verpflichten, wenn die angeführte Freiheit in einem deskriptiven Sinne interpretiert wird, d.h. als die empirisch-faktische Möglichkeit, bestimmte Handlungen auszuführen oder zu unterlassen. Würden die Individuen diese Freiheit im Zuge der vertraglichen Rechtsaufgabe einbüßen, dann ließe sich in der Tat in einem gewissem Sinne sagen, sie seien durch die Rechtsaufgabe wirksam zur Ausführung oder Unterlassung bestimmter Handlungen verpflichtet. Wie schon im korrespondierenden Fall der Willensfestlegung besteht das Problem dann aber einerseits darin, dass eine Rechtsaufgabe in Wahrheit eben nicht mit einem solchen empirisch-faktischen Freiheitsverlust einhergeht, und andererseits darin, dass es sich bei der auf diese Weise begründeten Art von Verpflichtung um Verpflichtung in einem lediglich deskriptiven Sinn handeln würde.

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Interpretiert man aber stattdessen die im Zuge der Rechtsaufgabe eingebüßte Freiheit in einem normativen Sinne als die Erlaubnis, bestimmte Handlungen auszuführen, wie dies angesichts der Hobbes’schen Verwendung des Begriffes ‚Recht‘ ja auch nahe liegt, dann liefert der Hinweis auf die wechselseitige Rechtsaufgabe keine wirkliche Begründung, sondern höchstens eine mehr oder minder synonyme Umschreibung der ja erst noch zu erläuternden Tatsache, dass die Vertragsparteien mit dem Vertragsschluss die Pflicht zur Erbringung der von ihnen versprochenen Leistung auf sich nehmen. Dass die Vertragsparteien nicht mehr die Freiheit haben, in Widerspruch zu ihrem Versprechen zu handeln, hieße dann nur, dass sie ihr Versprechen nicht brechen dürfen bzw. dass sie verpflichtet sind, sich an ihr Versprechen zu halten. Die Frage, warum sie diese Verpflichtung haben, bliebe aber unbeantwortet oder würde nur eine zirkuläre Antwort erfahren: Verträge würden dann deshalb verpflichten, weil im Zuge des Vertragsschlusses bestimmte Rechte aufgegeben worden sind und weil bestimmte Rechte aufzugeben nichts anderes heißt, als bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen. Eine solche Antwort vermag aber ganz offensichtlich das philosophische Problem der Begründung einer moralischen Pflicht zur Vertragstreue nicht zu lösen, und daran ändert sich auch dann nichts, wenn man – wie Ludwig – auf sprechakttheoretische Begriffe zurückgreift und im Sinne Austins darauf hinweist, dass es sich bei den im Zuge des Vertragsschlusses gesprochenen Worten um performative Äußerungen handelt.117 Will man in sprachtheoretischer oder kommunikationstheoretischer Hinsicht begründen, was es heißt, eine Verpflichtung zur Erbringung einer bestimmten Leistung zu übernehmen, dann mag es ausreichen, auf unsere sprachliche Praxis und auf die Regeln zu verweisen, durch die diese Praxis gekennzeichnet ist, und zu zeigen, dass sich eine Person dann verpflichtet, wenn sie unter Berücksichtigung bestimmter sprachlicher und außersprachlicher Bedingungen und unter Verwendung bestimmter sprachlicher Zeichen auf gewisse Rechte Verzicht leistet oder bezüglich ihres zukünftigen Handelns ein Versprechen abgibt und auf diese Weise den illokutionären Akt des Versprechens realisiert. In moralphilosophischer Hinsicht aber heißt ‚verpflichtet sein‘ mehr, als wirksam einen bestimmten Sprechakt vollzogen zu haben, zumindest solange man nicht alle menschliche Moral auf bloße ‚Sprachspiele‘ reduzieren will, eine Position, die Hobbes zu unterstellen es keinen Anlass gibt. Eine moralphilosophische Begründung des Begriffes der Verpflichtung erfordert daher eine andere und umfassendere Argumentation, als sie durch den Hinweis auf die illokutionäre Kraft bestimmter Ausdrücke zu leisten wäre, und nach einer solchen Argumentation sucht man in den oben genannten Hobbes’schen Passagen vergebens. _____________ 117 Vgl. Ludwig 1998: 339ff.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Die Passagen, die sich den Verpflichtungsgründen und den Verpflichtungsbedingungen von ‚covenants‘ und Schenkungen widmen, können daher in ihrer überarbeiteten Version im englischen Leviathan ebenso wenig wie der Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung als Passagen gelten, in denen überhaupt ein wirklicher Versuch zur theoretischen Begründung vertraglicher Pflichten unternommen wird, und erst recht nicht als Passagen, in denen eine solche Begründung als Begründung einer strikt moralischen Verpflichtung zur Vertragstreue gelingt. Zur Stützung der deontologischen Lesart und zur Stützung der Behauptung, dass die Verpflichtung gegenüber vertraglichen Vereinbarungen auf gänzlich anderer theoretischer Grundlage steht als die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze, können sie folglich noch viel weniger herangezogen werden, als dies bereits mit Blick auf die Elements und auf De Cive der Fall war. Hinzu kommt, dass zwei weitere Passagen des Textes ebenfalls Überarbeitungen erfahren haben, die die früheren deontologischen Anklänge deutlich zurücktreten lassen, nämlich auf der einen Seite die Passage, die sich mit dem Verhältnis von Eid und vertraglicher Verpflichtung befasst, und auf der anderen Seite die Passage, die sich der Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen widmet. Wie oben bereits ausgeführt, begründet Hobbes die Tatsache, dass ein Eid der Verpflichtung zur Erfüllung des betreffenden Vertrages nichts hinzufüge, im englischen Leviathan erstmals nicht mehr mit dem Satz, ein Vertrag trage Verbindlichkeit in sich selbst, sondern mit dem Hinweis, ein Vertrag binde auch ohne zusätzlichen Eid vor Gott. Die betreffende Passage liefert daher keinerlei Indiz für die Annahme, die Verpflichtung zur Vertragserfüllung müsse in irgendeiner Weise direkt aus dem Vertrag selbst entspringen und von den natürlichen Gesetzen unabhängig sein, und gerade die Tatsache, dass die Verpflichtung zur Vertragserfüllung hier wie im folgenden auch die Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen als Verpflichtung gegenüber Gott erscheint, legt eher eine Identität der beiden Verpflichtungsarten nahe. Die Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen büßt insofern einen Teil ihrer deontologischen Untertöne ein, als der gerechte Mensch gegen Ende der betreffenden Passage nicht mehr als Mensch präsentiert wird, der das Gerechte um des Gebotes des Gesetzes willen tut, sondern lediglich als einer, der durch eine fast schon ästhetisch zu nennende Abneigung gegenüber der Ausführung ungerechter Handlungen und damit allein durch bestimmte Charaktereigenschaften gekennzeichnet ist, was heißt, dass die diesbezüglichen Aussagen deutlich weniger die Vorstellung eines Handelns aus Pflicht oder einer prinzipiellen Unabhängigkeit von Verpflichtung und prudenzieller Handlungsmotivation nahelegen.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

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Durch all diese Überarbeitungen, die zum Teil Entwicklungen von De Cive weiterführen, erfährt nun die zu Beginn des fünfzehnten Kapitels vorgenommene Begründung des dritten natürlichen Gesetzes eine deutliche Aufwertung. Da von keiner der genannten Stellen noch wirklich gesagt werden kann, dass sich in ihnen der Versuch zu einer eigenständigen Begründung der Verpflichtung zur Vertragserfüllung vollzieht oder dass in ihnen der Eindruck erweckt wird, diese Verpflichtung müsse von den natürlichen Gesetzen und überhaupt von prudenziellen Aspekten unabhängig sein, erscheinen das dritte natürliche Gesetz und damit in letzter Konsequenz das individuelle Streben nach Frieden und Selbsterhaltung nun relativ unmissverständlich als eigentliche Grundlage für die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen. Unterstützt wird dieser Eindruck dadurch, dass der Text des englischen Leviathan einige neue Passagen enthält, in denen die Vertragstreue ebenfalls aus prudenzieller Perspektive erörtert wird und die deshalb in eine ähnliche Richtung weisen. Wie oben schon angedeutet worden ist, müssen nicht alle der betreffenden Passagen als Passagen interpretiert werden, die sich im engeren Sinne mit dem Problem der Verbindlichkeit auseinandersetzen. Dass sich die Passage, die die Diskussion des Eides einleitet und in der Hobbes die eingeschränkte Kraft der bloßen Worte beklagt, eindeutig mit dem motivationstheoretischen Problem auseinandersetzt, welche Kräfte die Menschen zur faktischen Erfüllung ihrer Verträge anhalten könne, ist bereits zugestanden worden, und auch die ähnlich metaphorischen Aussagen im Zuge der definitorischen Erörterung der Rechtsaufgabe, mit deren Hilfe Hobbes einmal mehr darauf hinweist, dass die Worte, mit denen die Pflicht zur Vertragserfüllung übernommen wird, der Stützung bedürfen, lassen sich in dieser Weise lesen. Eine dritte Passage, auf die dies ebenfalls zutrifft, ist Hobbes’ ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Narren. Der ‚reply to the Foole‘ ist von den meisten Anhängern der traditionellen Lesart als Passage gedeutet worden, in der die Verbindlichkeit zur Vertragserfüllung ihre eigentliche umfassende Begründung und Rechtfertigung erfährt, und gerade vor dem Hintergrund der oben beschrieben Aufwertung, die das dritte Naturgesetzes im englischen Leviathan durch die Überarbeitung des Textes erfährt, liegt diese Deutung auch ausgesprochen nahe. Es ist den Anhängern der deontologischen Lesart aber zuzugestehen, dass der ‚reply to the Foole‘ für sich genommen kein wirkliches Indiz dafür darstellt, dass die Verpflichtung zur Vertragserfüllung ausschließlich eine prudenzielle Verpflichtung sein kann. Zwar handelt es sich bei der Hobbes’schen Widerlegung des Narren ohne jeden Zweifel ihrem Wesen nach um eine prudenzielle Argumentation. Ob der Zweck der Widerlegung aber darin besteht, die Verbindlichkeit von Verträgen zu begründen, kann aus der Passage selbst nicht eindeutig entnommen werden. Außer Frage steht lediglich, dass es Hobbes mit dem ‚reply‘ um die Begründung des dritten Naturgesetzes geht. Wertet man die prudenzielle Verpflichtung zur Vertragserfüllung, wie sie

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

im dritten Naturgesetz zum Ausdruck kommt, aber als eine lediglich zusätzliche Verpflichtung, d.h. um eine, die zur eigentlichen nicht-prudenziellen Verpflichtung zur Vertragserfüllung hinzutritt, dann stellt Hobbes’ umfangreiche Auseinandersetzung mit dem ‚Narren‘ kein Hindernis für die deontologische Lesart dar, weil es sich bei ihr dann ausschließlich um eine prudenzielle Antwort auf die Frage ‚Warum soll ich meine moralischen Pflichten erfüllen?‘ bzw. ‚Warum ist es gut für mich, meine moralischen Pflichten zu erfüllen?‘ handeln würde. Selbst wenn man aber bereit sein sollte, der deontologischen Lesart in dieser Weise entgegenzukommen und anzunehmen, dass Hobbes für die eigentliche moralische Pflicht zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen keinerlei wirkliche Begründung liefern sollte, um dann aber die sekundäre Frage, warum die Erfüllung dieser moralischen Pflicht zusätzlich mit individuellen Vorteilen verbunden ist, gleich in besonderer Ausgiebigkeit zu diskutieren, findet sich doch im Text des englischen Leviathan in jedem Fall eine neue Passage, in der die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen in deutlichem Widerspruch zu den zentralen Annahmen der deontologischen Lesart als prudenzielle Verpflichtung präsentiert wird und als Verpflichtung erscheint, die mit der Pflicht zur Befolgung des dritten Naturgesetzes zusammenfällt bzw. mit ihr identisch ist. Es handelt sich dabei um den bereits eingehend besprochenen Abschnitt des vierzehnten Kapitels, in dem Hobbes die Begriffe ‚merit‘ und ‚due‘ erörtert und das Recht einer ersten Vertragspartei auf die Leistung der zweiten Partei auf die Begriffe ‚power‘ und ‚need‘ und damit auf eben diejenigen prudenziellen Aspekte zurückführt, die auch die Grundlage des später ausdrücklich formulierten dritten Naturgesetzes bilden. Betrachtet man die Änderungen, die die eigentliche Vertragslehre in den Kapitel XIV und XV des englischen Leviathan erfahren hat, dann muss daher insgesamt festgehalten werden, dass die prudenzielle Verpflichtung zur Vertragserfüllung, wie sie im dritten natürlichen Gesetz ihren Ausdruck findet, nicht nur insofern indirekt eine kompositorische Aufwertung erfährt, als Hobbes seine früheren Versuche, durch den Rückgriff auf seine Lehre des menschlichen Willens und der menschlichen Überlegung eine von der Lehre von den natürlichen Gesetzen vordergründig unabhängige zweite Begründung der Pflicht zur Vertragstreue zu entwickeln, vollständig einstellt. Die prudenzielle Verpflichtung zur Vertragserfüllung erfährt darüber hinaus auch insofern eine direkte Bekräftigung, als die vertraglich generierten Rechte, die der Pflicht zur Vertragserfüllung korrespondieren, in inhaltlicher Übereinstimmung mit der Lehre von den natürlichen Gesetzen auf eine prudenzielle Grundlage gestellt werden. Es gibt daher mit Blick auf die Vertragslehre des englischen Leviathan überhaupt keinen zwingenden Grund für die Annahme, es könne eine nicht-prudenzielle Pflicht zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen geben, die allein aus der Tatsache des Vertragsschlusses er-

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

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wachse und von der prudenziellen Pflicht zur Befolgung des dritten Naturgesetzes unabhängig wäre. Die einzigen beiden Aussagen, durch die die deontologische Lesart im englischen Leviathan eine Stützung zu erfahren scheint und die oben zu denjenigen Aussagen gezählt worden sind, denen von den Vertretern der deontologischen Lesart allgemein die größte Aufmerksamkeit geschenkt und die größte Bedeutung zugewiesen worden ist, offenbaren sich bei näherem Hinsehen als Aussagen, die die hier beschriebene Akzentverschiebung zugunsten einer ausschließlich prudenziellen Begründung der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen nicht in Frage zu stellen vermögen. Die erste der beiden betreffenden Passagen, die sich der Erörterung von Rechtsverzicht und Rechtsaufgabe widmet, ist oben bereits zitiert worden. Der entscheidende Teil der Hobbes’schen Ausführungen, nämlich die definitorische Erläuterung der Begriffe ‚obliged‘, ‚bound‘, ‚ought‘ und ‚duty‘, die von den Vertretern der deontologischen Lesart zum Anlass für die Behauptung genommen worden ist, Verpflichtungen gebe es innerhalb des Hobbes’schen Systems ausschließlich als Folge vertraglicher Vereinbarungen, soll an dieser Stelle jedoch noch einmal wiederholt werden. And when a man hath in either manner abandoned, or granted away his Right; then he is said to be OBLIGED, or BOUND, not to hinder those, to whom such Right is granted, or abandoned, from the benefit of it: and that he Ought, and it is his DUTY, not to make voyd that voluntary act of his own: and that such hindrance is INIUSTICE, and INIURY, as being Sine Jure; the Right being before renounced, or transferred.118

Die zweite der betreffenden Passagen findet sich, wie bereits angemerkt, im einundzwanzigsten Kapitel, das sich der Frage nach dem Wesen und dem Umfang der bürgerlichen Freiheit widmet, d.h. der Frage, welche Freiheiten den Menschen als Untertanen eines souveränen staatlichen Herrschers verbleiben. Wie Hobbes anfänglich ausführt, könne diese Frage prinzipiell nur dadurch beantwortet werden, dass man den Gesellschaftsvertrag und den Akt der Autorisierung des staatlichen Souveräns genauer betrachte, da sich im Zuge dieser Akte der Verlust der natürlichen Freiheit vollziehe und die Verpflichtung der Bürger gegenüber dem staatlichen Herrscher überhaupt erst ins Leben gerufen werde. Dass die Passage in der Vergangenheit zur Stützung der deontologischen Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten herangezogen worden ist, liegt daran, dass Hobbes im Rahmen seiner Ausführungen in ähnlicher Weise wie in der obigen Passage und in ähnlicher Weise wie zuvor im achten Kapitel von De Cive den Eindruck erweckt, alle menschlichen Verpflichtungen gingen auf vertragliche Vereinbarungen zurück. _____________ 118 EL: 65.

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To come now to the particulars of the true Liberty of a Subject; [...] we are to consider, what Rights we passe away, when we make a Common-wealth; or (which is all one,) what Liberty we deny our selves, by owning all the Actions (without exception) of the Man, or Assembly we make our Soveraign. For in the act of our Submission, consisteth both our Obligation, and our Liberty; which must therefore be inferred by arguments taken from thence; there being no obligation on any man, which ariseth not from some Act of his own; for all men equally, are by Nature Free.119

Auf beide Passagen trifft nun ziemlich genau das zu, was auch auf die angesprochene und oben ausführlich diskutierte Passage von De Cive zutrifft, die im Übrigen im zwanzigsten Kapitel des englischen Leviathan, in dem die Erörterung der Verpflichtung eines Dieners gegen seinen Herrn ihren Platz hat, nicht mehr in der früheren Form enthalten ist. Sowohl die Passage aus dem vierzehnten Kapitel als auch die aus dem einundzwanzigsten Kapitel mögen sich durchaus für die von den Vertretern der deontologischen Lesart propagierte Deutung anbieten. Die Interpretation, dass Hobbes in den obigen Passagen kategorische Aussagen über jegliche Art von Verpflichtung bzw. über den Begriff der Verpflichtung als solchen zu machen versucht, ist aber einerseits wiederum nicht wirklich zwingend, und die diesbezüglichen Aussagen stehen andererseits, wenn man sie denn in dieser Weise interpretiert, in Widerspruch zu Hobbes’ eigenem Gebrauch des Begriffes ‚obligation‘, der ja, wie hinlänglich gezeigt, von Hobbes im englischen Leviathan durchgehend sowohl zur Kennzeichnung der Kraft vertraglicher Vereinbarungen als auch zur Kennzeichnung der Kraft der natürlichen Gesetze verwendet wird. Zwingend ist die von Barry, Ludwig und anderen vorgeschlagene Deutung der Passagen insofern nicht, als Hobbes in der ersten Passage streng genommen überhaupt keine verallgemeinernde oder umfassendere Geltung beanspruchende Aussage trifft und als sich die scheinbar mit eben diesem Absolutheitsanspruch auftretende Aussage in der zweiten Passage unter Rückgriff auf den Kontext der Passage relativieren lässt. Die erste Passage mag zwar mit ihrem definitorischen Charakter den Eindruck erwecken, als wolle Hobbes etwas Prinzipielles über den Begriff der Verpflichtung aussagen. Die einzige Aussage, die ihm ohne jeden Zweifel zugeschrieben werden kann, ist aber lediglich die Aussage, dass ein Mensch dann, wenn er einen Teil seines natürlichen Rechtes aufgegeben und einen Vertrag geschlossen hat, zur Erbringung der zugesagten Leistung verpflichtet ist, nicht jedoch die Aussage, dass er nur in diesem Fall, d.h. nur durch die vertragliche Rechtsaufgabe, in den Besitz einer Verpflichtung gelangen kann. Die Aussage „And when a man hath in either manner abandoned, or granted way his Right; then he is said to be OBLIGED“ lässt für sich genommen durchaus die Möglichkeit offen, dass es auch Verpflichtungen gibt, die von der willentlichen Aufgabe des _____________ 119 EL: 111.

7.4 Die englische Fassung des Leviathan

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natürlichen Rechtes unabhängig sind, ja es muss sogar die Auffassung vertreten werden, dass die Deutungen Barrys und Ludwigs, die den Satz so interpretieren, als sage Hobbes nicht „And when“, sondern als sage er „And only when“, eine Nuance in Hobbes’ Aussage hineintragen, die im Satz eigentlich nicht enthalten ist. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die zweite Passage mit der zentralen Wendung „there being no obligation on any man, which ariseth not from some Act of his own“ eben den umfassenderen Geltungsanspruch aufweist, der rein sprachlich gesehen der ersten Passage fehlt. Betrachtet man die oben zitierte Passage separat, dann scheint es daher in der Tat, als treffe Hobbes eine allgemeine Aussage, die für alle Beispiele menschlicher Verpflichtung uneingeschränkte Geltung beansprucht. Vergegenwärtigt man sich allerdings, um welches Thema es in dem Abschnitt, aus dem das Zitat stammt, eigentlich geht, dann stellt sich die Frage, ob der Aussage letztlich nicht doch eine etwas begrenztere Geltung zukommt und zukommen soll. Da es Hobbes in dem betreffenden Abschnitt, wie im gesamten einundzwanzigsten Kapitel, um die ‚Liberty of Subjects‘ geht, d.h. um eine ganz bestimmte Art von Freiheit, nämlich die von Bürgern gegenüber anderen Bürgern bzw. gegenüber dem staatlichen Souverän, läge es durchaus nahe, dass es ihm dort, wo er auf den Begriff ‚obligation‘ als den Gegenbegriff zum Freiheitsbegriff Bezug nimmt, auch im spezifischeren Sinne um die ‚Obligation of Subjects‘ ginge, also um diejenigen Verpflichtungen, die die Bürger eines Staates – und nur die Bürger eines Staates – gegen einander bzw. gegen den staatlichen Souverän besitzen und die nun in der Tat allesamt unzweifelhaft aus bestimmten individuellen Handlungen hervorgegangen und von diesen abhängig sind. Für diese Sichtweise spricht einerseits, dass Hobbes die oben zitierte zentrale Wendung nicht durch den Satz ‚for all men are by Nature free‘ stützt, sondern durch den Satz „for all men equally, are by Nature free“. Dass Hobbes nicht nur auf die natürliche Freiheit, sondern zusätzlich auch auf den Gleichheitsaspekt Bezug nimmt, legt nahe, dass es ihm mit seiner Bemerkung nicht um die Tatsache geht, dass die Menschen von Natur und vor dem Abschluss von Verträgen keinerlei Verpflichtungen hätten – eine Behauptung, die ja auch in Widerspruch zu Hobbes’ eigener Darstellung stünde –, sondern um die Tatsache, dass sie in genau gleichem Maße frei sind, weil sie nämlich keine Verpflichtungen gegen bestimmte andere Menschen haben und folglich auch kein Mensch eine Verpflichtung hat, die nicht alle anderen Menschen in eben demselben Maße besitzen. Andererseits und stärker noch spricht für die oben skizzierte Sichtweise, dass Hobbes im direkten Anschluss an die zitierte Passage tatsächlich die Wendung ‚Obligation of Subject‘ gebraucht und damit seine frühere Aussage rückwirkend in eben jenen begrenzteren Kontext einordnet, der soeben von uns entwickelt worden ist.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

And because such arguments, must either be drawn from the expresse words, I Authorise all his Actions, or from the Intention of him that submitteth himselfe to his Power, (which Intention is to be understood by the End for which he so submitteth;) The Obligation, and Liberty of the Subject, is to be derived, either from those Words, (or others equivalent;) or else from the End of the Institution of Soveraignty; namely the Peace of the Subjects within themselves, and their Defence against a common Enemy...120

So sehr die Ausführungen in den Kapiteln XIV und XXI daher auch auf den ersten Blick nahelegen mögen, dass Hobbes allgemeine Aussagen über den Charakter und die Entstehungsbedingungen menschlicher Verpflichtungen zu treffen versucht, so sehr muss doch betont werden, dass der Text als solcher durchaus eine abweichende Deutung zulässt. Zwar ist zuzugestehen, dass die von uns entwickelte Deutung mit einigem Aufwand verbunden und vielleicht auch auf Seiten des Interpreten auf ein gewisses Wohlwollen angewiesen ist. Sie ist aber nicht nur ohne jeden Zweifel grundsätzlich möglich, sondern sie hat gegenüber den Deutungen Barrys und Ludwigs den ausgesprochen schwer wiegenden Vorteil, dass sie die in Frage stehenden Passagen in keinerlei Widerspruch zu Hobbes’ sonstigen Aussagen und zu seinem eigenen Gebrauch des Begriffes ‚obligation‘ setzt. Festzuhalten ist abschließend zudem, dass die beiden Passagen, wie immer man ihre zentralen Aussagen nun auch interpretieren mag, keine direkten Beschreibungen oder Charakterisierungen der Verpflichtung zur Vertragserfüllung enthalten und deshalb auch keine direkte, sondern allenfalls eine indirekte Stützung der deontologischen Lesart bewirken können. Selbst wenn man der Deutung Barrys und Ludwigs folgt, liefern die Passagen höchstens insofern einen Beitrag zur Stützung der deontologischen Lesart, als sie ein Indiz dafür liefern, dass die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen von der Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze wesenhaft verschieden sein könnte, da angesichts der Aussagen, die Hobbes in den beiden Passagen macht, streng genommen nur die Verpflichtung zur Vertragserfüllung mit dem Begriff der Verpflichtung (‚obligation‘) zu bezeichnen wäre. Mit der Folgerung, dass sich die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze von der Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen signifikant unterscheidet, verbindet sich aber keineswegs zwangsläufig die Folgerung, dass es sich bei der letzteren nicht um eine prudenzielle Verpflichtung handeln kann, sondern dass es sich bei ihr um eine moralische Verpflichtung im strengen Sinne des Wortes handeln muss. Wie oben hinlänglich gezeigt worden ist, lässt sich auch ohne Rückgriff auf die Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Verpflichtungen eine Reihe von wichtigen Unterschieden zwischen der Verpflichtung zur Befol_____________ 120 EL: 111.

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gung der natürlichen Gesetze und der Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen aufzeigen, und wie ebenfalls hinlänglich gezeigt worden ist, hat Hobbes selbst diese Unterschiede nicht nur gesehen, sondern sie auch als wichtig genug erachtet, um an einigen Stellen seiner Argumentation explizit auf sie hinzuweisen und ihnen zum Teil auch mit Hilfe spezifischer terminologischer Unterscheidungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Selbst wenn Hobbes sich daher in den beiden genannten Passagen bemühen sollte, den Begriff ‚obligation‘ für die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen zu reservieren und diese auf diese Weise von der Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze abzusetzen, so muss der Grund hierfür doch keineswegs darin gesehen werden, dass es sich bei der Pflicht zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen – und nur bei dieser – um eine strikt moralische Pflicht handelt. Er könnte vielmehr ohne Weiteres eben dort zu suchen sein, wo auch der Grund für Hobbes’ begrenzte Verwendung der Begriffe des Unrechts, der Ungerechtigkeit und des Eigentums zu suchen war, nämlich in der Tatsache, dass die Pflicht zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen eine gleichsam geschaffene Pflicht gegen bestimmte andere Individuen ist, die Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze aber nicht. Der Text des englischen Leviathan ist daher insgesamt keineswegs, wie von Ludwig behauptet, von einer konsequenten Trennung von Moraltheorie und Verpflichtungstheorie bzw. von Naturgesetzlehre und Vertragslehre und einer diesbezüglichen Umarbeitung der Argumentation der Elements und von De Cive gekennzeichnet. Ganz im Gegenteil liefert der Text insgesamt noch weitaus weniger Anhaltspunkte als die früheren Texte für die Sichtweise, die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen könne einen gänzlich anderen theoretischen Charakter haben als die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze und im Gegensatz zu dieser in einem strikt deontologischen Sinne als moralische Verpflichtung zu werten sein. Während Hobbes in den Elements und in De Cive, wenn auch letztlich vergebens, so doch zumindest bemüht scheint, eine von der Naturgesetzlehre unabhängige Begründung oder Erläuterung der Verpflichtung zur Vertragserfüllung zu entwickeln und der Verpflichtung zur Vertragserfüllung hie und da gewisse deontologische Untertöne zu verleihen, so sucht man derartige Versuche in der Argumentation des englischen Leviathan vergebens. Da der Text zudem zumindest an einer zentralen Stelle um neue Ausführungen ergänzt wird, in denen in inhaltlicher Übereinstimmung mit der Naturgesetzlehre prudenzielle Aspekte als Grundlage für die verpflichtende Kraft vertraglicher Vereinbarungen angeführt werden, steht die von Ludwig und anderen vertretene deontologische Deutung der Hobbes’schen Vertragstheorie mit Blick auf den englischen Leviathan auf noch schwächeren Füßen als schon mit Blick auf die Elements und auf De Cive.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

7.5 Die lateinische Fassung des Leviathan 7.5.1 Die Hobbes’sche Vertragslehre Die vertragstheoretischen Ausführungen des lateinischen Leviathan sind von einer ganzen Reihe zumeist kleinerer Überarbeitungen des englischen Textes gekennzeichnet. Diese Überarbeitungen führen in vielen Fällen die oben mit Blick auf den englischen Leviathan beschriebenen Tendenzen weiter. Es finden sich aber auch einige wenige Änderungen, von denen dies nicht ohne Weiteres behauptet werden kann. Die erste nennenswerte Änderung findet sich einmal mehr im Rahmen der anfänglichen Unterscheidung von Rechtsaufgabe und Rechtsübertragung. Während die Erläuterung der Begriffe ‚renuntiatio‘ und ‚translatio‘ selbst relativ konsequent dem früheren Text folgt, ist die anschließende Erörterung des Begriffs der Verpflichtung bzw. die Erörterung derjenigen Termini, mit denen üblicherweise auf den Sachverhalt des Verpflichtet-Seins Bezug genommen wird, von Hobbes gestrichen bzw. zumindest deutlich modifiziert worden. Hobbes verweist zwar nach wie vor darauf, dass jedes Handeln, welches in Widerspruch zu einem zuvor erfolgten Rechtsverzicht stehe, zu unterbleiben habe und als Unrecht anzusehen wäre, wobei er wie im englischen Leviathan sowohl auf den Begriff ‚injustice‘ bzw. ‚injustitia‘ als auch auf den Begriff ‚injury‘ bzw. ‚injuria‘ zurückgreift. Und er fügt der betreffenden Bemerkung auch wie zuvor den Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung an. Sein Hinweis, eine Person, die einen Teil ihres natürlichen Rechtes aufgegeben habe, gebe damit die Freiheit auf, den Vertragspartner an der Ausführung der in Frage stehenden Handlungen zu hindern, und müsse sich auch dementsprechend verhalten, enthält aber keinerlei Bezugnahme auf die Begriffe ‚obliged‘, ‚bound‘ und ‚duty‘ bzw. auf deren lateinische Äquivalente mehr und büßt damit ihren früheren definitorischen Charakter ein. Deponitur Ius vel simplici Renuntiatione, vel Translatione ad alium. Simpliciter Renuntiat, qui in medium abjicit, nemini tribuens. Transfert, qui certo alicui concedit. Vtrovis autem modo faciat, Ius habentem, quin re utatur, impedire non debet; esset enim hoc suum ipsius actum irritum facere. Injustitia enim Injuria etiam dicitur ex eo, quod (deposito ante Iure) absque Iure impedimentum fit. Est enim in controversiis hominum Injustitia similis ejus, quam in Scholis Absurditatem vocant. Sicut enim iis quae initio supposita erant contradicere Absurdum; ita quod faciendum voluntariè susceperis, irritum facere, Injustum appellatur.121

Wie der Blick auf das obige Zitat zeigt, ist der Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung ebenfalls leicht überarbeitet worden. Auf der _____________ 121 LL: 67.

7.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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einen Seite bezieht sich Hobbes an dieser Stelle nun sprachlich nur noch auf die Ungerechtigkeit („Injustitia“) und verzichtet darauf, daneben auch den Begriff „Injuria“ anzuführen, wodurch die schon im englischen Leviathan vollzogene Hinwendung zum Gerechtigkeitsbegriff noch einmal eine gewisse Bekräftigung erfährt. Auf der anderen Seite bezeichnet Hobbes das vertragswidrige Handeln nun nicht ausdrücklich als willentlich, so dass das frühere implizite Eingeständnis, dass es sich bei Vertragsschluss und Vertragsbruch um zwei voneinander getrennte Willensakte handelt, an dieser Stelle verloren geht. Auch im lateinischen Text findet sich aber keinerlei Indiz dafür, dass eine zeitliche Kontinuität zwischen beiden Ereignissen bestehen oder der Willen des Handelnden im Zuge des Vertragsschlusses eine Festlegung erfahren könnte. Da Hobbes zudem an einer späteren Stelle des vierzehnten Kapitels nun erstmals innerhalb der eigentlichen Vertragslehre explizit eingestehen wird, dass der Mensch nicht Herr seines eigenen zukünftigen Willens ist, erfordert die Umarbeitung der Passage keine Abwandlung unseres oben mit Blick auf den englischen Text formulierten Fazits, nach dem im Rahmen des Vergleiches von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung keinerlei Versuch unternommen wird, die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen durch einen Rückgriff auf die Lehre des menschlichen Willens und der menschlichen Überlegung zu begründen. Ähnliches gilt auch für das Fazit, das oben mit Blick auf diejenige Passage getroffen worden ist, in der Hobbes den Begriff ‚covenant‘ bzw. den Begriff ‚pactum‘ definiert. Praeterea, alter Contrahentium ad tradendam Rem, vel ad Contractum exequendum altero prior esse potest; tunc posteriori Credi sive Fides haberi dicitur; & Promissio ejus Pactum dicitur; & non praestitisse, Violatio Fidei.122

Die betreffende Passage wird zwar im lateinischen Leviathan in einer Weise gestrafft, dass jeglicher Hinweis auf solche Verträge, bei denen beide Vertragsparteien die Erbringung einer Leistung für die Zukunft versprechen, verloren geht, was nun noch stärker als in der englischen Fassung den Eindruck entstehen lässt, Hobbes wolle unter dem Begriff ‚covenant‘ bzw. dem Begriff ‚pactum‘ nur noch ausschließlich solche Verträge verstehen, bei denen eine der Parteien sofort und die andere zu einem späteren Zeitpunkt erfülle. Wie schon im englischen Leviathan macht Hobbes aber wenig später durch seine eigene Verwendung des Begriffes ‚pactum‘ unmissverständlich deutlich, dass für ihn nach wie vor auch ein wechselseitiges Versprechen für die Zukunft unter den betreffenden Begriff fällt („Verùm, si Contractus fiat, quo

_____________ 122 LL: 68.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

nentes [sic] Contrahentium statim praestare obligantur, sed ad diem certum Futurum, Pactum illud in merâ conditione Naturae, [...] invalidum est“123). Die Erörterung der Ankündigung einer Schenkung erfährt im lateinischen Leviathan insofern eine wichtige Überarbeitung, als die Unterscheidung zwischen den Sätzen volo hoc tuum esse cras und cras (tibi hoc) dabo nun um das bereits angesprochene prinzipielle Eingeständnis ergänzt wird, dass kein Mensch Herr seines zukünftigen Willens sei. Magna enim differentia est inter Volo hoc tuum esse Cras, & Cras tibi hoc Dabo. Nam illic Volo, Praesentem & certam Voluntatem; hic Futuram, id est incertam, id est, nullam indicat; quia Voluntatis suae Crastinae dominus nemo est. Illic ergo Ius de Praesente debet intelligi.124

Die anschließende Erläuterung, dass und warum ‚pacta‘ im Gegensatz zu Ankündigungen von Schenkungen sehr wohl verpflichten, hat leichte Kürzungen erfahren, durch die das eigentliche Argument etwas weniger deutlich hervortreten mag als im englischen Leviathan, die Hobbes’ inhaltliche Position aber letztlich unverändert lassen. Eine größere Bedeutung kommt demgegenüber den Kürzungen zu, die Hobbes an der direkt folgenden Passage vorgenommen hat. Wie in Kapitel 6.5.3 schon angemerkt worden ist, verzichtet Hobbes im lateinischen Leviathan darauf, seine definitorische Erörterung des vertraglich generierten Rechtes einer ersten Partei auf die Leistung der zweiten Partei in den Kontext der scholastischen Unterscheidung von ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ einzuordnen, und belässt es stattdessen dabei, das Recht nur kurz mit dem Begriff ‚debitum‘ zu kennzeichnen und zusätzlich darauf hinzuweisen, dass ein vergleichbares Recht auch dem Sieger eines Wettrennens zukomme, da es sich, wie von ihm zuvor ausgeführt, bei der Inaussichtstellung eines etwaigen Preises um einen rechtskräftigen und verpflichtenden Akt handle. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Kürzung deshalb von besonderer Bedeutung, weil ihr auch der so wichtige Hinweis auf die Begriffe ‚power‘ und ‚need‘ als denjenigen Gründen, denen vertraglich generierte Rechte ihre Kraft verdanken, zum Opfer fällt. Während diese Kürzung in gewisser Weise in Widerspruch zu der allgemeinen Tendenz steht, die oben mit Blick auf die nach den Elements, vor allem aber nach De Cive einsetzende Entwicklung der Hobbes’schen Vertragstheorie konstatiert worden ist, stellt die nächste nennenswerte Überarbeitung des Textes wieder eine Fortführung der früheren Modifikationen dar. War Hobbes schon im englischen Leviathan an einigen Stellen dazu übergegangen, die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen mit Hilfe des Rechtsbegriffes bzw. des Begriffes der Rechtsaufgabe zu erläutern und zu _____________ 123 LL: 69. (Hervorh. v. mir) 124 LL: 68f.

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stützen und den in De Cive mehrfach bemühten Aspekt des mit dem Vertrag verbundenen Vorteils demgegenüber etwas in den Hintergrund treten zu lassen, so erfährt im lateinischen Leviathan nun auch die letzte noch verbliebene Stelle, in der im englischen Leviathan auf diesen Aspekt Bezug genommen worden war, eine entsprechende Überarbeitung, nämlich die Erörterung solcher Verträge, die aus Furcht geschlossen werden. Die Tatsache, dass die Menschen auch zur Erfüllung solcher Verträge verpflichtet sind, die sie nur aus Furcht um das eigene Leben geschlossen haben, begründet Hobbes im lateinischen Leviathan nicht mehr mit einem direkten Hinweis auf den „benefit of life“125 als den individuellen Vorteil, der mit dem Vertrag verbunden ist, sondern mit dem Hinweis auf das diesbezügliche Recht, das im Zuge der vertraglichen Rechtsübertragung gewonnen wird bzw. gewahrt bleibt. Pactum etiamsi Metu extortum sit, in conditione tamen hominum naturali validum est; ut si paciscar cum hoste, servandae vitae causâ, pecuniam dare, praestare teneor. Contractus enim est, in quo alter Ius in Vitam, alter in Pecuniam transfert.126

Die letzte erwähnenswerte Änderung des vierzehnten Kapitels führt ebenfalls eine der im englischen Leviathan greifbaren Entwicklungen weiter. Anders als die zuletzt genannte Änderung liefert sie dabei einen direkten Beitrag zur Frage nach dem Status der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen. Es handelt sich um die schon in Kapitel 6.5.3 zur Zurückweisung der ‚TaylorWarrender-These‘ ins Feld geführte Überarbeitung der Aussagen zum Zusammenhang von Eid und vertraglicher Verpflichtung. Wie oben angemerkt, hält Hobbes grundsätzlich an der zentralen Behauptung fest, ein Eid vermöge der Verbindlichkeit eines Vertrages nichts hinzuzufügen. Er begründet seine Behauptung nun aber nicht mehr wie im englischen Leviathan durch den Hinweis, die Vertragsparteien seien auch ohne ausdrücklichen Eid Gott gegenüber zur Erfüllung des Vertrages verpflichtet, sondern durch einen direkten und unmissverständlichen Hinweis auf die Kraft der natürlichen Gesetze. Constat denique, quòd Obligationi, à Iuramento nihil additur. Pactum enim, si licitum sit, obligat per vim Legis Naturalis sine Iurejurando; sin illicitum sit, ne addito quidem Iurejurando obligare potest.127

Im anschließenden fünfzehnten Kapitel finden sich nur in zwei Passagen interessante Änderungen, nämlich innerhalb der Widerlegung des ‚Narren‘ und innerhalb der Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen. Dagegen folgt sowohl die anfängliche Definition der Begriffe ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ und die Diskussion der _____________ 125 EL: 69. 126 LL: 70. 127 LL: 72.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Frage, ob es Unrecht und Ungerechtigkeit auch im natürlichen Zustand geben kann, als auch die Unterscheidung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit und die abschließende Erörterung des Satzes volenti non fit injuria relativ konsequent dem englischen Text. Die Modifikationen, die Hobbes an seinem ‚reply to the Foole‘ vornimmt, finden sich sowohl in der anfänglichen Zusammenfassung der Position des ‚Narren‘ als auch in der eigentlichen Widerlegung. Die Wiedergabe der Position des ‚Narren‘ weist insofern eine Veränderung auf, als Hobbes im einleitenden Satz auf die Wendung „hath sayd in his heart, [...] and sometimes also with his tongue“128 verzichtet und sich stattdessen auf das einfache „Dixit Insipiens“129 beschränkt. Darüber hinaus sind auch einige weitere Wendungen, zu denen auch die explizite Nennung der Namen Coke und Littleton gehört, von Hobbes gestrichen worden. Die Widerlegung der Position des ‚Narren‘ enthält ebenfalls einige Kürzungen und Umformulierungen. Die wichtigste dieser Änderungen besteht darin, dass Hobbes in seiner anfänglichen Betonung, dass der Position des ‚Narren‘ nur im Hinblick auf bestimmte Formen von Verträgen wirkliche Relevanz zukomme, den Anwendungsbereich deutlich enger fasst als noch im englischen Leviathan, eine Änderung, die einige schwerwiegende Probleme aufwirft. Verumtamen ratiocinatio haec, utcunque speciosa, falsa est. Quaestio enim non est de Promissis mutuis in conditione hominum naturali, ubi nulla est Potentia cogens; Nam sic Promissa illa Pacta non essent. Sed existente Potentiâ, quae cogat, & alter promissum praestiterit, ibi quaestio est, an is, qui fallit cum Ratione, & ad bonum proprium congruenter fallat. Ego verò contra Rationem, & imprudenter facere dico. Primò enim in Civitate, si quis id faciat, quod (quantùm Prospici, & Ratione intelligi potest) ad suam ipsius tendit destructionem, quanquam improvisum aliquod accidat, quod eventum felicem efficiat, factum nihilominus fuisse imprudenter, quia improvisum. In conditione autem naturali, ubi unusquisque uniuscujusque hostis est, sine ope Sociorum securè vivere nemo potest. Hominem autem, qui Pacta fallere Rationis esse putat, in Societatem (quae mutuis Pactis ad singulorum defensionem initur,) quis (nisi per inscitiam) admittet, aut admissum retinebit? Quare, aut ejectus peribit, aut quod ejectus non sit, alienae debebit inscitiae, quod est contra rectam Rationem.130

Hobbes schließt zunächst in Übereinstimmung mit dem Text des englischen Leviathan alle naturzuständlichen ‚covenants of mutual trust‘ als irrelevant aus, weil es sich bei ihnen nicht um gültige Verträge handle bzw. – so muss man im Interesse der Hobbes’schen Argumentation ergänzen – zumindest nicht um Verträge, die ihre Gültigkeit dauerhaft behalten. Anders als im englischen Leviathan zählen zu den vertraglichen Vereinbarungen, auf die sich die Positi_____________ 128 EL: 72. 129 LL: 73. 130 LL: 73.

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on des ‚Narren‘ laut Hobbes beziehen und an denen sie sich kritisch prüfen lässt, nun aber nicht mehr gleichermaßen all diejenigen Vereinbarungen, bei denen eine der beiden Parteien bereits erfüllt hat oder die unter einer allgemeinen Zwangsgewalt geschlossen worden sind, welche diese Erfüllung durch die erste Partei sicher stellen könnte („But either where one of the parties has performed already; or where there is a Power to make him performe“131), sondern nur noch jene Vereinbarungen, bei denen beide Kriterien zugleich erfüllt sind – das heißt, nur noch solche Vereinbarungen, bei denen eine der beiden Parteien bereits erfüllt hat und eine allgemeine Zwangsgewalt existiert („sed existente Potentiâ, quae cogat, & alter promissum praestiterit [...]“). Das aber hieße zwangsläufig, dass Hobbes nun ausnahmslos alle naturzuständlichen Verträge und keineswegs nur die naturzuständlichen ‚covenants‘ aus seiner Betrachtung ausschließt und dass er die Position des ‚Narren‘ nur noch im Sinne der Frage diskutiert, ob innerhalb eines bestehenden Staates und vor dem Hintergrund der dort existierenden Sanktionierungsmöglichkeiten die Verletzung vertraglicher Vereinbarungen für den Handelnden mit Vorteilen verbunden ist. Pasquino hat im Rahmen seiner spieltheoretischen Untersuchung des Leviathan als erster auf diese erstaunliche Abweichung des lateinischen Textes hingewiesen;132 er hat dabei aber versäumt, auf die Schwierigkeiten einzugehen, die sich aus der Abweichung ergeben. Das zentrale Problem liegt darin, dass Hobbes sich im Folgenden gar nicht an seine eigene Beschränkung des Gegenstandsbereiches hält, sondern dass er in unveränderter Weise auf den Naturzustand und den ‚Krieg aller gegen alle‘ Bezug nimmt, seine Widerlegung des ‚Narren‘ nach wie vor als Begründung und Rechtfertigung des dritten natürlichen Gesetzes präsentiert und sich weiterhin auf das zentrale Argument stützt, die Individuen seien im Sinne des eigenen Überlebens darauf angewiesen, Aufnahme in die Gemeinschaft mit anderen zu finden, würden diese Aufnahme durch die Verletzung ihrer Vertragspflichten aber nachhaltig gefährden. Dass Pasquino den damit verbundenen Bruch in der Widerlegung des ‚Narren‘ nicht sieht, liegt daran, dass er davon ausgeht, dass es sich bei der Gemeinschaft, auf die Hobbes im Rahmen seines Rückgriffs auf den Naturzustand Bezug nimmt, um die staatliche Gemeinschaft handeln muss. Das eigentliche Argument bestünde dann in der Behauptung, dass Menschen, die ihre Verträge brechen, nicht in die bürgerliche Gesellschaft aufgenommen würden oder nachträglich aus ihr ausgeschlossen würden und anschließend ohne Schutz wären. Pasquinos Deutung vermag aber aus zwei Gründen nicht zu überzeugen. Auf der einen Seite legt die Art und Weise, in der Hobbes auf die in Frage _____________ 131 EL: 73. 132 Vgl. Pasquino 2001: 409f.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

stehende Gemeinschaft Bezug nimmt, nahe, dass es ihm nach wie vor vorrangig um naturzuständliche Verteidigungsbündnisse geht, nicht aber um die bürgerliche Gesellschaft, mit der der zuvor beschriebene Zustand des ‚Krieges aller gegen alle‘ ja bereits wirksam überwunden wäre. Hobbes beschreibt die in Frage stehende Gemeinschaft mit den Worten „in Societatem (quae mutuis Pactis ad singulorum defensionem initur,)“, d.h. er beschreibt sie als eine Gemeinschaft, die durch wechselseitige Verträge zum Zweck der Verteidigung der Einzelnen gegründet worden ist. Dabei scheint er nicht nur vorauszusetzen, dass es nach Gründung der Gemeinschaft Fälle geben wird, in denen Einzelne sich gegenüber äußeren Angreifern werden verteidigen müssen, sondern er suggeriert auch, dass die Abwehr solcher Angriffe von der Gemeinschaft als Ganzes vorgenommen werden wird und dass in dieser Funktion auch ihr eigentlicher Daseinszweck zu sehen ist. Beide Eigenschaften treffen aber auf die bürgerliche Gesellschaft nur bedingt zu, da die dort zu erwartenden äußeren Angriffe sich eher auf die Gemeinschaft als Ganzes denn auf einzelne Individuen beziehen dürften, das Gewaltmonopol und damit auch das Monopol zur Zurückschlagung derartiger Angriffe jedoch gerade nicht bei der Gesellschaft als Ganzer, sondern allein in den Händen der souveränen Gewalt liegen würde. Das zweite Problem der Deutung Pasquinos besteht darin, dass die negativen Folgen, die sich innerhalb des staatlichen Zustandes aus der Verletzung gültiger Verträge ergeben, vorrangig sicherlich nicht in einem Ausschluss aus der Gemeinschaft bestehen, sondern vielmehr in den Bestrafungen, mit denen der staatliche Souverän die Vertragsverletzungen sanktionieren wird. Würde es Hobbes also an dieser Stelle wirklich darum gehen, die Gefahren zu beschreiben, die sich ergeben, wenn innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft begangene Vertragsverletzungen ans Licht kommen, dann bestünde die naheliegendste Strategie doch wohl darin, auf die staatlichen Bestrafungen hinzuweisen, die derartige Vertragsverletzungen nach sich ziehen werden, nicht aber darin, die sekundäre und relativ weit hergeholte Möglichkeit einer vollständigen Ächtung oder eines Ausschlusses aus dem Staat ins Feld zu führen. Pasquinos Versuch, den Wechsel vom englischen ‚or‘ zum Zeichen ‚&‘ mit der anschließenden konkreten Widerlegung des ‚Narren‘ in Übereinstimmung zu bringen, muss daher letztlich als gescheitert angesehen werden, und es muss angesichts des unleugbaren Bruchs innerhalb der Hobbes’schen Ausführungen die Frage gestellt werden, ob es sich beim Wechsel von ‚or‘ zu ‚&‘ nicht um ein bloßes Versehen handeln könnte und ob dieser Wechsel überhaupt in Hobbes’ ursprünglichem Manuskript enthalten ist. Eine weitere Frage, die mit Blick auf die überarbeitete Fassung des Hobbes’schen ‚reply to the Foole‘ zu stellen ist, ist die Frage, ob sich im lateinischen Text neue Indizien für die Bewertung der oben bereits kritisch diskutierten Deutung Hoekstras finden, nach welcher sich Hobbes’ Widerlegung in

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erster Linie an den ‚explicite Foole‘ richtet, an ein Individuum also, das nicht nur an die Rationalität der Strategie der Vertragsverletzung glaubt, sondern diesem Glauben auch öffentlich Ausdruck verleiht. Die Frage stellt sich nicht zuletzt deshalb, weil Hoekstra selbst in seinem Aufsatz die Behauptung aufstellt, Hobbes habe in der lateinischen Ausgabe des Leviathan all diejenigen Hinweise gestrichen, die in der englischen Ausgabe noch suggeriert hätten, es könne ihm bei seiner Widerlegung um einen ‚silent Foole‘ gehen.133 Blickt man nun aber auf den lateinischen Text, dann muss Hoekstras Behauptung als Übertreibung erscheinen, zumindest aber als eine Deutung, die sich nicht zwingend aus den textlichen Abweichungen zwischen dem englischen und dem lateinischen Leviathan ergibt. Indem Hobbes die Position des ‚Foole‘ mit dem einfachen „Dixit Insipiens“ einleitet und den früheren Einschub „in his heart, [...] and sometimes also with his tongue“ streicht, kürzt er seinen Text zwar in der Tat um einen Hinweis auf den ‚silent Foole‘. Er kürzt ihn aber ebenso um einen Hinweis auf den ‚explicit Foole‘, und diese zweite Kürzung wiegt insofern schwerer als die erste, als Hobbes im Folgenden auch die beiden weiteren Stellen streicht, die im englischen Leviathan vordergründig nahegelegt hatten, der ‚Foole‘ bekenne sich öffentlich zu seinen Vertragsverletzungen. So findet sich weder die Aussage „and therefore he which declares he thinks it reason to deceive those that help him“ noch die Aussage „He therefore that breaketh his Covenant, and consequently declareth that he thinks he may with reason do so“ in vergleichbarer Form im lateinischen Text. Hobbes präsentiert den ‚Foole‘ überhaupt nicht als einen, der eine bestimmte Meinung erklärt oder sich zu ihr bekennt – sei es nun durch die Tat oder durch das Wort –, sondern wesentlich zurückhaltender als einen, der über einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Meinung verfügt („Hominem autem, qui Pacta fallere Rationis esse putat“134), wenn Hobbes’ Argumentation auch ohne jeden Zweifel voraussetzt und voraussetzen muss, dass dieser Glaube bzw. das Handeln, das aus diesem Glauben hervorgeht, hie und da anderen Individuen bekannt werden wird. Die Überarbeitungen des ‚reply to the Foole‘ erzwingen daher keineswegs das Fazit, Hobbes wolle bewusst den Eindruck vermeiden, der ‚Foole‘ könne ein ‚silent Foole‘ sein. Ganz im Gegenteil ließe sich eher die Auffassung vertreten, Hobbes wolle alle Hinweise darauf tilgen, dass der ‚Foole‘ so dumm sein könnte, seine Ideologie gegenüber seinen konkreten Vertragspartnern offen einzugestehen. Da zudem die oben mit Blick auf den englischen Text entwickelten kontextualen Argumente weiterhin unverändert gegen die Lesart Hoekstras sprechen, müssen auch mit Blick auf den lateinischen Leviathan schwere Zweifel an dieser Lesart geäußert werden. _____________ 133 Hoekstra 1997: 626. 134 Hervorh. v. mir

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

Die Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen hat wie schon in De Cive und im englischen Leviathan Überarbeitungen erfahren, die sich nicht ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen und von denen daher auch nur schwer auf ein bestimmtes Darstellungsinteresse geschlossen werden kann. Iustum & Injustum vocabula, aliud Hominibus, aliud Actionibus attributa significant. Hominibus attributa Morem vel Habitum significant, ut Virtutem aut Vitium. Sic Homo cui constans est voluntas Ius suum unicuique tribuendi, etsi Actiones ejus aliquando Injustae fuerint, ipse tamen Iustus est, modo Iustitiam amet, vel quod Injuste fecerat, etiamsi clam sit, ipse damnet, factum nollet, damnum, si quod factum sit, resarciat quantum potest. Injustus contra est, qui Iustitiam negligit, etsi Metu, vel alia causâ sinistrâ nemini unquam Injuriam fecisset; Id quod Iustitiam veram & facere & condire solet, & est animi generositas quaedam quicquam fraudi & perfidiae deberi dedignantis.135

Auf der einen Seite verstärkt sich der Eindruck, dass der gerechte Mensch durch eine Neigung zum pflichtgemäßen Handeln gekennzeichnet ist und seine Gerechtigkeit ihren Ursprung nicht in einem bewussten Handeln aus Pflicht hat. Für diese Sichtweise spricht einerseits die Bemerkung, der gerechte Mensch liebe die Gerechtigkeit („Iustitiam amet“), andererseits aber auch die Wendung „cui constans est voluntas Ius suum unicuique tribuendi“, da die Aussage, der gerechte Mensch habe den beständigen Willen, jedem das zu geben, was ihm zustehe, den gerechten Menschen nicht mehr so deutlich wie die frühere Aussage „A Just man therefore, is he that taketh all the care he can, that his Actions may be all Just“ als jemanden präsentiert, der sich aktiv um die Übereinstimmung seines Handelns mit den Anforderungen der Gerechtigkeit bemüht. Die Wendung „cui constans est voluntas Ius suum unicuique tribuendi“, mit der Hobbes im Übrigen an einer weiteren Stelle die scholastische Gerechtigkeitsdefinition in seine Argumentation integriert, lässt sich durchaus als bloßer Hinweis auf das faktische Vorhandensein eines bestimmten, passiv empfangenen Willens lesen. Der gerechte Mensch wäre dann nicht gerecht, weil er sich bemüht, gerecht zu sein, oder weil er gerecht sein will, sondern er wäre schlicht ein Mensch, dessen Wille aufgrund bestimmter Neigungen und bestimmter Charaktereigenschaften üblicherweise mit den Anforderungen der Gerechtigkeit übereinstimmt, ohne dass der Mensch jedoch selbst für diese Tatsache in einem engeren Sinne verantwortlich zu machen wäre. Neu an Hobbes’ Ausführungen ist jedoch auch der Hinweis, eine ungerechte Handlung mache aus einem gerechten Menschen keinen ungerechten Menschen, wenn dieser seine Tat auch dann verurteile, wenn sie unbemerkt von anderen ausgeführt worden sei, und wenn er sich darum bemühe, den _____________ 135 LL: 74.

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entstandenen Schaden auszubessern. Dieser Hinweis weist wieder eher in eine andere Richtung und lässt den gerechten Menschen als einen Menschen erscheinen, der nicht nur prinzipiell zu einer kritischen Bewertung seines eigenen früheren Willens in der Lage ist, sondern auch um der Gerechtigkeit willen individuelle Nachteile in Kauf zu nehmen vermag, wie sie mit der Wiedergutmachung eines eigentlich unbemerkt gebliebenen Unrechts verbunden sind. Abmildern ließe sich der deontologische Unterton der Aussage allerdings dann, wenn man bereit wäre zuzugestehen, dass Hobbes – im Sinne seines ‚reply to the Foole‘ – auch an dieser Stelle voraussetzt, dass die zunächst unbemerkt gebliebene ungerechte Handlung auf lange Sicht ans Licht kommen wird. In diesem Fall würden die Nachteile, die dem gerechten Menschen durch das Streben nach Wiedergutmachung entstehen, gegebenenfalls durch die zu erwartenden langfristigen Nachteile der Handlung überwogen werden, was hieße, dass das von Hobbes geforderte Streben nach Wiedergutmachung auch mit prudenziellen Erwägungen hinreichend erklärt werden könnte. Problematisch an dieser Deutung ist allerdings, dass Hobbes den ungerechten Menschen anschließend nicht mehr, wie noch in De Cive oder im englischen Leviathan, explizit als einen Menschen präsentiert, der in seinen rechtmäßigen Handlungen allein von kurzfristigen oder scheinbaren Vorteilen geleitet wird, sondern als einen Menschen, dessen gerechte Handlungen auf Furcht oder andere unangemessene Ursachen zurückgehen („Metu, vel alia causâ sinistrâ“). Da Hobbes an dieser Stelle nicht zwischen der allgemeinen Furcht vor persönlichen Nachteilen oder Gefahren für das eigene Leben und der spezifischeren Furcht vor konkreten Sanktionen, die auf eine ungerechte Handlung folgen könnten, unterscheidet, scheinen sich der gerechte und der ungerechte Mensch wieder einmal nur dann in der von Hobbes angedeuteten Weise kontrastieren zu lassen, wenn man den gerechten Menschen als einen begreift, der das Gerechte deshalb tut, weil es gerecht ist, und dessen rechtmäßige Handlungen eben nicht von prudenziellen Erwägungen bestimmt werden. Während die Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen also durch eine Reihe von sprachlichen Abweichungen gekennzeichnet ist, die sich jedoch nicht zu einem eindeutigen Bild zusammenfügen und die früheren Überarbeitungen der Passage nur zum Teil weiterführen, ist die anschließende Passage, in der Hobbes mit Hilfe der vorherigen Unterscheidung den Unterschied zwischen solchen Ungerechtigkeiten zu fassen versucht, die sich direkt auf bestimmte andere Individuen beziehen, und solchen Ungerechtigkeiten, auf die dies nicht zutrifft, weitgehend von Überarbeitungen verschont geblieben. Wie schon im englischen Leviathan betont Hobbes, dass die Ungerechtigkeit einer Person in der Neigung zur Ausführung ungerechter Handlungen bestehe und deshalb schon vor der eigentlichen Ausführung der Handlungen eine Ungerechtigkeit dar-

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

stelle, während die Ungerechtigkeit von Handlungen einen bestehenden Vertrag und eine bestimmte geschädigte Person voraussetze. Da Hobbes folglich relativ konsequent an seiner früheren Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ bzw. ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ festhält, wirft auch der Text des lateinischen Leviathan die Frage auf, mit welchem Terminus aktive Verletzungen der natürlichen Gesetze bezeichnet werden können, eine Frage, zu der sich jedoch in einem der späteren Kapitel des Textes nun eine explizite Antwort findet. Hatte Hobbes schon in den Kapiteln XVIII und XXI des englischen Leviathan den Eindruck erweckt, als wolle er neben den Begriffen ‚injustice‘ und ‚injury‘ den Begriff ‚iniquity‘ etablieren und letzteren zur Kennzeichnung naturgesetzwidrigen Verhaltens verwenden, so greift er im einundzwanzigsten Kapitel des lateinischen Leviathan im Zuge seiner Erörterung der Tötung Urias nun nicht nur etwas konsequenter auf den Begriff der Unbilligkeit zurück als zuvor, sondern ergänzt auch in Kapitel XVIII seine Erörterung der Frage, inwiefern der staatliche Souverän seinen Untertanen Unrecht zu tun vermag, um eine definitorische Gegenüberstellung der Begriffe ‚injustum‘ und ‚iniquum‘, in der er den letzteren Begriff ausdrücklich als denjenigen Begriff präsentiert, der den Verstoß gegen die natürlichen Gesetze bezeichnet. Quin is qui Summam habet Potestatem facere iniquè possit, non negaverim. Iniquum enim quod contra legem naturae, Injustum quod contra Legem Civilem factum est, appellatur. Nam Iustum aut Injustum ante Civitatem constitutam nihil erat.136

Hobbes muss zwar erneut der Vorwurf gemacht werden, dass er angesichts der theoretischen Möglichkeit gültiger naturzuständlicher ‚covenants‘ und der damit einhergehenden theoretischen Möglichkeit naturzuständlicher Ungerechtigkeiten eine etwas zu kategorische und vereinfachende Gegenüberstellung von Naturzustand, Nichtbefolgung der natürlichen Gesetze und Unbilligkeit auf der einen sowie bürgerlichem Zustand, Nichtbefolgung der positiven Gesetze und Ungerechtigkeit auf der anderen Seite vornimmt. Zuzugestehen ist ihm aber ohne Zweifel, dass er die terminologischen Probleme, die sich aus seinem Gebrauch der Begriffe ‚injuria‘ und ‚injustitia‘ ergeben, gesehen hat und nun auch einen relativ konsequenten Versuch zur Lösung dieser Probleme unternimmt. 7.5.2 Zur Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen Es ist oben bereits darauf hingewiesen worden, dass die Überarbeitungen, denen Hobbes seine Vertragslehre im lateinischen Leviathan unterzieht, sich nur mit gewissen Einschränkungen als Weiterführung derjenigen Änderungen _____________ 136 LL: 88.

7.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

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lesen lassen, die Hobbes im englischen Leviathan vorgenommen hatte und durch die die Vertragslehre eine spürbare Akzentverschiebung gegenüber der Fassung von De Cive erfahren hatte. Eine zusätzliche Bekräftigung erfährt ohne Zweifel die von Foisneau beschriebene und durch unsere Analyse des englischen Leviathan bestätigte Hinwendung zum Begriff der Gerechtigkeit. Hobbes beschränkt sich nicht nur an zwei Stellen, an denen er im englischen Leviathan noch gleichermaßen auf den Begriff ‚injustice‘ und den Begriff ‚injury‘ zurückgegriffen hatte, nun ausschließlich auf den Begriff ‚injustitia‘,137 sondern er integriert auch die scholastische Gerechtigkeitsdefinition, auf die er im englischen Leviathan nur zu Beginn des fünfzehnten Kapitels Bezug genommen hatte, an einer zusätzlichen Stelle in seinen Text, nämlich im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen. Weitere Tendenzen des englischen Leviathan, die sich im lateinischen Text fortsetzen, bestehen in dem verstärkten Rückgriff auf die Begriffe des Rechts und der Rechtsaufgabe an solchen Stellen, an denen Hobbes die durch vertragliche Vereinbarungen generierten Verpflichtungen zu erläutern und zu rechtfertigen versucht, sowie in dem verstärkten Bemühen, den mit der veränderten Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ bzw. ‚injustitia‘ und ‚injuria‘ verbundenen Schwierigkeiten Tribut zu zollen und mit dem Begriff ‚iniquitas‘ einen dritten Begriff zu etablieren, mit dem in Abgrenzung von den beiden anderen Begriffen die aktive Verletzung der natürlichen Gesetze gekennzeichnet werden kann. Gerade im Hinblick auf die zentrale Frage nach dem Status der Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen, setzen sich im lateinischen Leviathan aber nur zum Teil die Tendenzen des englischen Textes fort. Wie oben bereits vorweggenommen, lassen sich die Änderungen, die Hobbes an seiner Charakterisierung des gerechten und des ungerechten Menschen vornimmt, kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie suggerieren einerseits, dass sich der gerechte Mensch nur durch bestimmte Handlungsneigungen, nicht aber durch eine grundsätzlich unterschiedliche Handlungsmotivation auszeichnet, um auf der anderen Seite wieder nahezulegen, das Handeln des wahrhaft gerechten Menschen könne in solchen Situationen, in denen die Gebote der Gerechtigkeit zur Anwendung kommen, von eigennützigen Erwägungen prinzipiell unabhängig sein. Hinzu kommt, dass durch die Überarbeitung derjenigen Passage, in der Hobbes am Ende des vierzehnten Kapitels den Zusammenhang von Eid und Verpflichtung erörtert, der Text um einen weiteren Hinweis darauf ergänzt wird, dass sich die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen von den natürlichen Gesetzen herleitet, während jedoch durch die Kürzung derjenigen Passage, in der Hobbes zuvor die Begriffe ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ erörtert und mit dem Verweis auf _____________ 137 Vgl. LL: 67 und 88; und demgegenüber EL: 65 und 90.

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

die Aspekte ‚power‘ und ‚need‘ die Frage nach der Kraft bzw. der Basis vertraglich generierter Rechte beantwortet hatte, der neben der Formulierung und Begründung des dritten natürlichen Gesetzes vielleicht wichtigste frühere Hinweis auf diese Tatsache verloren geht. Erwähnen ließe sich zudem, dass mit der definitorischen Erörterung der Begriffe ‚obliged‘, ‚bound‘, ‚ought‘ und ‚duty‘ eine der beiden Passagen, auf die sich die Vertreter der deontologischen Lesart in der Vergangenheit in besonderer Weise gestützt haben, aus dem Text verschwindet, während die zweite diesbezügliche Passage, nämlich die Aussage des einundzwanzigsten Kapitels, nach der es keine Verpflichtung gibt, die nicht auf einen willentlichen Akt des Verpflichteten zurückgeht, in praktisch unveränderter Form erhalten bleibt.138 Da oben jedoch gezeigt worden war, dass beide Passagen ohnehin keinen wirklich zwingenden Beitrag zur Stützung der deontologischen Lesart leisten und die prudenzielle Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten daher letztlich auch vor keine schwerwiegenden Probleme stellen, muss auf diesen letzten Unterschied zwischen dem lateinischen und dem englischen Leviathan nicht weiter eingegangen werden. Das Zugeständnis, dass die im englischen Leviathan zu beobachtende Tendenz, die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen deutlicher und unmissverständlicher als eine prudenzielle Verpflichtung zu präsentieren, die auf das dritte natürliche Gesetz zurückgeht, im lateinischen Leviathan eine Fortsetzung oder Bekräftigung erfährt, ist daher letztlich davon abhängig, wie man die oben zusammengefassten Änderungen gewichtet und ob man bereit ist, denjenigen Änderungen, die den prudenziellen Charakter der Verpflichtung zur Vertragserfüllung betonen, den Vorrang vor denjenigen Änderungen zuzugestehen, durch die dieser Charakter weniger deutlich hervortritt. Aus meiner Sicht sprechen nun in der Tat einige Gründe dafür, eine derartige Gewichtung zu favorisieren. Bei der einzigen Stelle, von der eindeutig gesagt werden kann, dass in ihr die im englischen Leviathan gewonnene Präsentation der Verpflichtung zur Vertragserfüllung aufgegeben wird, handelt es sich um die Stelle, in der Hobbes sich dem vertraglich generierten Recht einer ersten Partei widmet und in der er nun anders als im englischen Leviathan davon absieht, die Kraft vertraglich generierter Rechte ausdrücklich auf die Macht des Rechteinhabers und die Bedürfnisse des Verpflichteten zurückzuführen. Von dieser Änderung kann aber einerseits schon allein aufgrund der im Text verbliebenen Hinweise auf das dritte natürliche Gesetz und den Nutzen der Vertragstreue sowie aufgrund der neu hinzugefügten Bezugnahme auf die Kraft der natürlichen Gesetze im Rahmen der Erörterung des Zusammenhangs von Eid und Verpflichtung nicht gesagt werden, dass ihr eine umfassende Bedeutung zukäme und dass durch sie die Verpflichtung zur _____________ 138 Vgl. dazu LL: 107.

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Vertragserfüllung insgesamt in einem anderen Licht erschiene. Hinzu kommt, dass gar nicht ohne Weiteres angenommen werden kann, Hobbes habe bei seiner Kürzung überhaupt vorrangig seine frühere Bezugnahme auf die Aspekte ‚power‘ und ‚need‘ im Auge gehabt. Wie in Kapitel 6.5.3 deutlich geworden ist, dürfte der Grund zur Kürzung der betreffenden Passage in erster Linie in dem Bemühen zu suchen sein, das vierzehnte Kapitel möglichst von den Bezugnahmen auf religiöse und theologische Aspekte zu reinigen, zu denen auch die Unterscheidung von ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ und die damit verbundenen Verweise auf die Verheißung des Paradieses zu zählen sind. Die Änderung der Passage liefert daher – da sie in einer schlichten Kürzung, nicht aber in einer direkten inhaltlichen Neugestaltung besteht – nicht nur grundsätzlich einen lediglich indirekten Beitrag zur Präsentation der vertraglichen Verpflichtungen im lateinischen Leviathan. Es kann zudem gar nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Streichung der Aussagen zur Grundlage vertraglich generierter Rechte um ein bloßes Nebenprodukt der Streichung der formal und inhaltlich daran anschließenden Erörterung der Begriffe ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ handelt und dass sie als bloßes Nebenprodukt mit keinem spezifischen Darstellungsinteresse verbunden ist. Von der Überarbeitung der abschließenden Ausführungen des vierzehnten Kapitels kann dies dagegen in keinem Fall gesagt werden. Die neu hinzugefügte Aussage, vertragliche Vereinbarungen verpflichteten auch ohne Eid allein durch die Kraft der natürlichen Gesetze, stellt ohne jeden Zweifel eine bewusste Überarbeitung des englischen Textes und eine Aussage dar, deren direkter Relevanz für die Frage nach dem Status der Verpflichtung zur Vertragserfüllung sich Hobbes jederzeit bewusst sein musste. Es würde daher aus meiner Sicht eine Untertreibung darstellen, wollte man behaupten, der zusätzliche explizite Hinweis auf die natürlichen Gesetze im Zuge der Erörterung des Zusammenhanges von Eid und Verpflichtung gleiche die Streichung der früheren Bezugnahme auf die Begriffe ‚power‘ und ‚need‘ lediglich aus und die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen erscheine im lateinischen Leviathan mit eben derselben Deutlichkeit als prudenzielle Verpflichtung wie im englischen Text. Die Hinzufügung eines ausdrücklichen Hinweises auf den Zusammenhang von vertraglicher Verpflichtung und Naturgesetz, und zwar innerhalb des allgemeinen Teils der Vertragslehre und noch vor der Formulierung und Begründung des dritten natürlichen Gesetzes, ist vielmehr argumentativ deutlich schwerer zu gewichten als die Tatsache, dass der Kürzung der Erörterung von ‚meritum congrui‘ und ‚meritum condigni‘ auch der Hinweis auf die Grundlage vertraglich generierter Rechte zum Opfer fällt. Der Text des lateinischen Leviathan erlaubt daher durchaus das Fazit, dass sich auch mit Blick auf die Charakterisierung der Pflicht zur Vertragserfüllung im lateinischen Leviathan eine gewisse Fortsetzung der Tenden-

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zen des englischen Textes beobachten lässt und sich die Hobbes’sche Vertragstheorie in ihrer letzten Formulierung aus dem Jahr 1668 noch etwas stärker der deontologischen Deutung widersetzt als schon zur Zeit des englischen Leviathan, wenn dieses Fazit auch auf interpretatorische Zugeständnisse angewiesen sein mag und daher vielleicht nicht als unvermeidbar gelten kann.

7.6 Zusammenfassung Die eingehende Untersuchung der Hobbes’schen Vertragslehre hat deutlich werden lassen, dass sich die von Autoren wie Barry, Raphael und Ludwig vertretene deontologische Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten mit Blick auf keine der vier Fassungen von Hobbes’ politischer Theorie aufrechterhalten lässt. Ein zentrales Problem besteht darin, dass die Annahme, es handle sich bei der Pflicht zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen um eine moralische Pflicht im strengen Sinne des Wortes, die allein aus der Tatsache des Vertragsabschlusses erwachse und von der Geltung des dritten natürlichen Gesetzes logisch unabhängig sei, mit den Hobbes’schen Theorien des menschlichen Willens und der menschlichen Überlegung unvereinbar ist. Die deontologische Lesart setzt, will man sie konsequent vertreten, nicht nur voraus, dass die Hobbes’schen Individuen grundsätzlich die Fähigkeit haben, aktiv auf ihren eigenen Willen Einfluss zu nehmen, sondern sie setzt auch voraus, dass die Individuen zu einem Handeln aus Pflicht in der Lage sind, ihren Willen also nicht nur selbst, sondern auch in vollständiger Unabhängigkeit von prudenziellen Erwägungen zu bestimmen vermögen. Die Hobbes’schen Theorien des Willens und der Überlegung lassen aber keinen Zweifel daran, dass der Wille, bei dem es sich für Hobbes um lediglich diejenige Neigung handelt, die im Überlegungsprozess letztlich überwiegt, von den Individuen eher passiv erfahren denn aktiv bestimmt wird, und sie lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Handlungen der Individuen grundsätzlich von Erwägungen des Eigeninteresses abhängig bleiben und eine abstrakte Tatsache, wie die Pflichtgemäßheit einer Handlung, für sich genommen die Individuen nicht zur Ausübung bestimmter Handlungen zu motivieren vermag. Würde man sich den zentralen Annahmen der deontologischen Lesart anschließen, dann hieße das daher, die Hobbes’sche Vertragstheorie in eine unaufhebbare Distanz zur Hobbes’schen Lehre vom Menschen zu bringen und den Hobbes’schen Individuen moralische Pflichten aufzuerlegen, die sie überhaupt nicht in ihrer Eigenschaft als moralische Pflichten zu erfüllen vermögen. Die deontologische Deutung der Pflichten zur Vertragsfüllung ist im Übrigen auch dadurch nicht in eine Übereinstimmung mit der Hobbes’schen Lehre vom Menschen zu bringen, dass man auf die Annahme, die Hob-

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bes’schen Individuen könnten aktiv Einfluss auf ihren eigenen Willen nehmen, verzichtet und stattdessen behauptet, im Zuge des Vertragsschlusses vollziehe sich eine passive Festlegung auf den Willen zur Vertragserfüllung. Bei einer auf diese Weise erworbenen Verpflichtung würde es sich um ein reines psychologisches Faktum und folglich um eine deskriptive Kategorie handeln, d.h. die Verpflichtung zur Vertragserfüllung fiele vollständig mit der faktischen Motivation zur Vertragserfüllung zusammen, sie würde ihren normativ-moralischen Charakter einbüßen und die für die Behauptung einer jeden genuin moralischen Pflicht so zentrale Voraussetzung einer möglichen Pflichtverletzung wäre nicht mehr gegeben. Eine derartige Deutung des Vertragsschlusses ist aber angesichts der empirisch beobachtbaren Vertragsverletzungen nicht nur empirisch unhaltbar, sondern sie würde auch mit dem Verlust des moralisch-normativen Verpflichtungsbegriffs die deontologische Lesart ihres eigentlichen deontologischen Charakters berauben. Wie bereits vorweggenommen, stellt sich das hier beschriebene zentrale Problem der Unvereinbarkeit mit der Hobbes’schen Psychologie und Anthropologie nicht nur mit Blick auf den Text der Elements of Law, an dem die diesbezügliche Widerlegung der deontologischen Lesart oben erarbeitet worden ist. Da die Hobbes’sche Lehre vom Menschen zwischen 1640 und 1668 keine relevante Veränderung erfährt, stellt es sich vielmehr mit Blick auf alle vier Hobbes’schen Schriften in prinzipiell derselben Weise, so dass die Zurückweisung der deontologischen Lesart auch unabhängig von dem eingehenden Vergleich aller vier Fassungen der Hobbes’schen Vertragslehre bereits für alle diese Fassungen gleichermaßen Geltung beanspruchen kann. Der im Anschluss an die Analyse der Elements vorgenommene detaillierte Vergleich der vertragstheoretischen Ausführungen der vier Schriften hat sich jedoch in dreierlei Hinsicht als wichtig und fruchtbar erwiesen. Erstens hat der Vergleich der Vertragslehren der Elements und von De Cive mit den Vertragslehren des englischen und des lateinischen Leviathan deutlich gemacht, dass in den beiden späteren Fassungen der Hobbes’schen Theorie auch vordergründig keine nennenswerte Basis mehr für die Annahme verbleibt, die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen könne ihre Grundlage in etwas anderes als den natürlichen Gesetzen und den Charakter einer strikt moralischen Verpflichtung haben. Insbesondere der Text der Elements erweckt an einigen Stellen durchaus den Eindruck, als sei die Hobbes’sche Vertragsdiskussion unter anderem von dem Interesse bestimmt gewesen, eine von der Formulierung und Begründung des dritten natürlichen Gesetzes theoretisch unabhängige Erläuterung und Rechtfertigung der Verbindlichkeit vertraglicher Übereinkünfte zu entwickeln, ein Interesse, dass auch in De Cive noch spürbar ist, das Hobbes aber weder in den Elements noch in De Cive in Form einer klaren und konsistenten Position umsetzt. Im englischen und im lateinischen Leviathan finden sich hingegen für ein solches Interesse keine nennens-

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werten Indizien mehr. Während in den Elements noch von drei Passagen gesagt werden kann, dass sie von dem Anliegen geprägt sind, eine Erläuterung oder Rechtfertigung der Verbindlichkeit vertraglicher Übereinkünfte anzubieten, die in gewisser Weise als selbstständig gelten kann, findet sich im englischen Leviathan keine einzige Passage mehr, von der dies wirklich behauptet werden könnte. Sowohl der Vergleich von Vertragsbruch und absurder Schlussfolgerung als auch die Passagen, in denen Hobbes die verpflichtende Kraft von ‚covenants‘ und in kontrastierender Weise die verpflichtende Kraft der Ankündigung einer Schenkung diskutiert, werden von Hobbes im Anschluss an die Veröffentlichung von De Cive um alle Hinweise auf den menschlichen Überlegungsprozess gekürzt und stellen daher fortan keine Versuche mehr dar, der Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen durch den Rückgriff auf den Begriff ‚freedom as deliberation‘ Plausibilität zu verleihen. Hinzu kommt, dass Hobbes auch in einer weiteren Passage, nämlich im Rahmen seiner Erörterung des Verhältnisses von Eid und vertraglicher Verpflichtung, im englischen und mit noch größerer Deutlichkeit im lateinischen Leviathan den in den Elements entstandenen Eindruck korrigiert, die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen könne von den natürlichen Gesetzen unabhängig sein und den Charakter einer strikt moralischen Pflicht haben. Auch ohne die schwer auf einen Nenner zu bringenden, teilweise jedoch in eine ähnliche Richtung weisenden Überarbeitungen ins Feld zu führen, die Hobbes an seiner Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen vornimmt, lässt sich daher festhalten, dass die Kürzungen und direkten Überarbeitungen der Hobbes’schen Vertragslehre die deontologischen Untertöne der Hobbes’schen Argumentation tendenziell beseitigen und die Bedeutung des dritten Naturgesetzes für die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen deutlicher hervortreten lassen – und damit auch den prinzipiellen Zusammenhang von Naturgesetzlehre und Vertragslehre. Eine wichtige Bekräftigung erfährt diese Tendenz dadurch, dass sich zumindest im Text des englischen Leviathan eine gänzlich neue Passage findet, in der Hobbes die Pflicht zur Vertragserfüllung als eine Klugheitspflicht präsentiert bzw. als eine, die ihre Grundlage in der prudenziellen Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze hat. Selbst wenn man zugestehen sollte, dass viele derjenigen Passagen, in denen Hobbes im Leviathan die vertraglichen Vereinbarungen der Menschen von einem prudenziellen Standpunkt aus erörtert, keine wirkliche Relevanz für die Frage nach dem Status der Pflicht zur Vertragserfüllung besitzen und folglich auch nicht – wie häufig geschehen – zur Zurückweisung der deontologischen Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten herangezogen werden sollten: Es kann doch von mindestens einer Passage des englischen Leviathan gesagt werden, dass in ihr das Eigeninteresse deutlich als die eigentliche Grundlage der Pflicht zur Vertragserfül-

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lung erscheint, von derjenigen Passage nämlich, in der Hobbes die Rechte beschreibt, die einer ersten Vertragspartei durch die Erbringung der von ihr versprochenen Leistung erwachsen, und in der er die Kraft dieser Rechte in Übereinstimmung mit seiner anthropologischen Beschreibung des Naturzustandes und seiner Ableitung der natürlichen Gesetze auf die Macht des Rechteinhabers und die Bedürfnisse des Verpflichteten zurückführt. Die betreffende Passage fällt zwar in der lateinischen Fassung des Leviathan einer Kürzung zum Opfer. Der Verlust, den die Hobbes’sche Argumentation dadurch erleidet, wird aber durch die oben schon angesprochene Überarbeitung der Erörterung des Verhältnisses von Eid und Vertragspflicht mehr als ausgeglichen, durch die die Pflicht zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen nun ganz explizit als Folge bzw. Ausdruck der Kraft der natürlichen Gesetze erscheint. Gab es daher schon mit Blick auf die Elements und De Cive genügend Argumente, um der prudenziellen Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten gegenüber der deontologischen Lesart den Vorzug zu geben, so fällt die Zurückweisung der deontologischen Lesart mit Blick auf die beiden Fassungen des Leviathan noch deutlich leichter, eine Tatsache, die sich in gewissem Sinne als zusätzliche Bestätigung unserer mit Blick auf die früheren Werke vertretenen Deutung lesen lässt. Zweitens hat die Untersuchung der Entwicklung der Hobbes’schen Vertragslehre mit diesem Ergebnis auch eo ipso eine ausreichende Basis geliefert, um die entwicklungsgeschichtliche These, die sich im Fall Ludwigs und ansatzweise auch im Fall Barrys mit der Formulierung der deontologischen Deutung verbindet und an der im Rahmen unserer Diskussion der natürlichen Gesetze bereits begründete Zweifel geäußert worden waren, nachdrücklich in Frage zu stellen. Ludwigs Behauptung, Hobbes finde im englischen Leviathan erstmals zu einer konsequenten Trennung von Moralphilosophie und Verpflichtungstheorie, er präsentiere dabei nur noch vertragliche Vereinbarungen, nicht aber die natürlichen Gesetze als verpflichtend und er verstehe die Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen dabei unzweifelhaft als eine moralische Verbindlichkeit im strengen Sinne des Wortes, war oben zunächst mit dem Hinweis auf die Kontinuität in Hobbes’ Kennzeichnung von naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung in Zweifel gezogen worden. Hobbes bezeichnet nicht nur in allen seinen Schriften sowohl vertragliche Vereinbarungen als auch die natürlichen Gesetze explizit als verpflichtend, sondern er kennzeichnet die natürlichen Gesetze auch im englischen Leviathan deutlich häufiger mit dem entsprechenden Terminus als noch in den Elements. Es gibt folglich nicht nur keinen wirklichen äußeren Anlass für die Annahme, Hobbes habe die natürlichen Gesetze nicht in eben der gleichen Weise als verpflichtend begriffen wie vertragliche Übereinkünfte, sondern die vermeintliche Trennung von Naturgesetzlehre und Vertrags- bzw. Verpflichtungstheorie ist zumindest terminologisch im englischen Leviathan noch viel weniger zu

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

greifen als in der ersten Formulierung der Hobbes’schen Theorie. Die eingehende Untersuchung der vier Fassungen der Hobbes’schen Vertragslehre hat nun mit Blick auf die Hobbes’sche Terminologie ergänzend deutlich gemacht, dass die leichteren terminologischen Abweichungen, die sich in Hobbes’ Beschreibung von natürlichen Rechten auf der einen und vertraglich generierten Rechten auf der anderen Seite sowie in der sprachlichen Kennzeichnung von Naturgesetzverletzung und Vertragsverletzung aufzeigen lassen, keineswegs als Indiz für einen qualitativen Unterschied zwischen naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung gelten können. Hobbes zeigt sich zwar bemüht, den Begriff des Unrechts für die Verletzung vertraglicher Pflichten zu reservieren und die Verletzung der natürlichen Gesetze terminologisch in anderer Weise zu fassen, und er verwendet auch den Begriff des Eigentums ausschließlich zur Kennzeichnung vertraglich generierter Rechte, nicht aber zur Kennzeichnung des natürlichen Rechts. Gerade in denjenigen Passagen, in denen Hobbes sich in De Cive sowie in den englischen und lateinischen Fassungen des Leviathan explizit mit der terminologischen Entgegensetzung von Vertragsverletzungen und Verletzungen der natürlichen Gesetze befasst, wird jedoch deutlich, dass der theoretische Unterschied, den Hobbes mit Hilfe seiner Terminologie anzuzeigen versucht, nicht in einer grundsätzlich unterschiedlichen Verpflichtungskraft von vertraglicher Übereinkunft und Naturgesetz begründet liegt. Vielmehr liegt er in der Tatsache begründet, dass sich die Verpflichtung zur Vertragserfüllung als eine vom Individuum in einer konkreten Situation und im Zuge eines sozialen Kooperationsaktes erworbene Verpflichtung immer auf bestimmte andere Individuen bezieht, nämlich auf die konkreten Vertragspartner und ausschließlich auf diese, während die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze nicht nur für alle Menschen in derselben Weise gilt, sondern sich auch prinzipiell auf alle Menschen in derselben Weise bezieht. Hinzu kommt, dass sich die hier genannten terminologischen Unterschiede, allen Überarbeitungen und Neugestaltungen der Hobbes’schen Terminologie zum Trotz, grundsätzlich in ungefähr dem gleichen Umfang in allen vier Schriften nachweisen lassen, so dass sie auch in dieser Hinsicht nicht als Beleg für die von Ludwig vertretene Deutung in Frage kommen. Einen ungleich größeren Beitrag zur Zurückweisung der entwicklungsgeschichtlichen Interpretation Ludwigs liefert freilich die zuvor ausführlich beschriebene Tatsache, dass die vergleichende Analyse derjenigen Passagen der Hobbes’schen Vertragslehre, in denen Hobbes implizit oder explizit auf die Frage der Verbindlichkeit eingeht, eine Akzentverschiebung offenbart, die der von Ludwig behaupteten Entwicklung deutlich entgegengesetzt ist. Kann von den Elements noch gesagt werden, dass Hobbes sich wenigstens um eine gewisse Trennung von Naturgesetzlehre und Vertragslehre und um eine eigenständige Rechtfertigung der Pflicht zur Vertragserfüllung bemüht, so fin-

7.6 Zusammenfassung

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den sich doch gerade im englischen und im lateinischen Leviathan keine wirklichen Anzeichen mehr für das entsprechende Anliegen, und die prudenzielle Begründung der Pflicht zur Vertragserfüllung, die direkt wie indirekt eine deutliche Aufwertung erfährt, steht unangefochten im Mittelpunkt der Hobbes’schen Argumentation. Die einzigen Überarbeitungen der Hobbes’schen Argumentation, die unter Umständen als Indizien für die entwicklungsgeschichtliche These Ludwigs gedeutet werden könnten, stellen die Hinzufügungen solcher Passagen dar, in denen die Verpflichtung zur Vertragserfüllung auf den Begriff des Rechts und der Rechtsübertragung zurückführt wird bzw. in denen vordergründig nahegelegt wird, alle menschliche Verpflichtung entspringe aus vertraglichen Übereinkünften. Während der Text der Elements noch keine derartigen Passagen enthält und sich auch in De Cive nur wenige diesbezügliche Aussagen finden, nehmen sie sowohl im englischen als auch im lateinischen Leviathan einen relativ festen Platz ein. Auf der einen Seite ist oben jedoch gezeigt worden, dass die zunehmend häufigeren Bezugnahmen auf die Begriffe des Rechts und der Rechtsübertragung nicht als Beitrag zu einer naturgesetzunabhängigen deontologischen Begründung der vertraglichen Verpflichtungen gelesen werden können. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Bezugnahmen streng genommen gar keinen wirklichen Beitrag zur Begründung der individuellen Vertragspflichten leisten, sondern die vorausgesetzte und anderweitig zu begründende Tatsache, dass die Individuen die Pflicht zur Erfüllung ihrer Verträge haben, lediglich in einer anderen sprachlichen Form, nämlich mit Hilfe des Rechtsbegriffes als dem Komplementärbegriff zum Verpflichtungsbegriff, bekräftigen. Hinzu kommt, dass die Begriffe der Rechtsaufgabe und des damit einhergehenden Freiheitsverlustes selbst einer weitergehenden inhaltlichen Füllung bedürfen und dem Begriff der Verpflichtung für sich genommen keinen deontologischen Charakter zu verleihen vermögen. Auf der anderen Seite konnte gezeigt werden, dass die Passagen, in denen Hobbes den Eindruck erweckt, als verstehe er alle menschlichen Pflichten als Ergebnis menschlicher Übereinkünfte, durchaus abweichende Interpretationen zulassen, die darüber hinaus mit dem Vorteil verbunden sind, dass sie mit Hobbes’ oben beschriebenem eigenen Gebrauch der Begriffe ‚obligation‘ und ‚to oblige‘ bzw. ‚obligare‘ und ‚obligatio‘ vereinbar sind, was auf die entgegengesetzten Interpretationen der in Frage stehenden Passagen nicht zutrifft. Zudem kann von den betreffenden Passagen gesagt werden, dass sie ohnehin keinen direkten Beitrag zur Beantwortung der zentralen Frage leisten, welcher Status der vertraglich generierten Verpflichtung zukommt. Würde Hobbes den Begriff der Verpflichtung in der Tat für vertragliche Übereinkünfte zu reservieren versuchen, dann müsste zwar angenommen werden, dass es zwischen der Kraft der natürlichen Gesetze und der Kraft vertraglicher Verein-

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

barungen für Hobbes einen wichtigen theoretischen Unterschied gibt. Dieser Unterschied müsste aber keineswegs in der Tatsache bestehen, dass die natürlichen Gesetze im Sinne hypothetischer Imperative verpflichten, Verträge hingegen im Sinne kategorischer Imperative, sondern er könnte auch ohne Weiteres mit der oben bereits hinreichend beschriebenen und von Hobbes mehrfach hervorgehobenen Tatsache zusammenfallen, dass sich die Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen direkt auf bestimmte andere Individuen bezieht, die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze aber nicht. Drittens hat sich die eingehende Beschreibung der Ähnlichkeiten und Abweichungen zwischen den Vertragslehren der vier Schriften insofern als fruchtbar erwiesen, als sie eine Bestätigung der entwicklungsgeschichtlichen These Foisneaus erbracht hat, nach der die Hobbes’sche Vertragstheorie im englischen Leviathan an zentraler Stelle um das Konzept der Gerechtigkeit erweitert wird, und als sie dabei gleichzeitig hat deutlich werden lassen, dass Foisneaus Studie an einigen Stellen durchaus noch Raum für Ergänzungen lässt. Während Hobbes die Verletzung gültiger Verträge in den Elements und in De Cive noch relativ konsequent mit dem Begriff des Unrechtes, d.h. mit dem Ausdruck ‚injury‘ bzw. seinem lateinischen Pendant ‚injuria‘, bezeichnet, stellt er dem Begriff des Unrechts im englischen Leviathan den Begriff der Ungerechtigkeit (‚injustice‘) an die Seite. Dieser nimmt sogar in einer zentralen Passage der Vertragslehre, nämlich im Rahmen der definitorischen Diskussion des Vertragsbruches zu Beginn des fünfzehnten Kapitels, vollständig die Stelle des Unrechtsbegriffes ein und wird von Hobbes im Zuge einer neu hinzugefügten Erörterung explizit zur scholastischen Gerechtigkeitsdefinition suum cuique tribuere in Beziehung gesetzt. Diese Hinwendung zum traditionellen Gerechtigkeitsbegriff, der durch Hobbes’ Gleichsetzung von ‚injustice‘ und Vertragsbruch gleichwohl eine spezifische Neugestaltung erfährt, bleibt in der lateinischen Fassung des Leviathan nicht nur erhalten, sondern setzt sich noch weiter fort. So beschränkt sich Hobbes an solchen Stellen seiner Argumentation, an denen er im englischen Leviathan noch sowohl auf den Unrechts- als auch auf den Ungerechtigkeitsbegriff zurückgegriffen hatte, nun mitunter konsequent auf den Begriff der Ungerechtigkeit, und so fügt er die scholastische Gerechtigkeitsdefinition an einer weiteren Stelle in den Text ein, um sie zur Umschreibung vertragswidrigen Verhaltens zu benutzen. Einer Ergänzung bedarf die Untersuchung Foisneaus allerdings im Hinblick auf die terminologischen Spannungen, die sich aus Hobbes’ Verwendung der Begriffe Unrecht und Ungerechtigkeit insgesamt ergeben und denen Hobbes zum Teil schon im englischen, vor allem dann aber im lateinischen Leviathan durch die zusätzliche Einbeziehung des Begriffes der Unbilligkeit (‚iniquity‘ bzw. ‚iniquitas‘) zu begegnen versucht. Wie Foisneau zurecht anmerkt, fügt Hobbes den Begriff der Ungerechtigkeit, der in den Elements na-

7.6 Zusammenfassung

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hezu ausschließlich in derjenigen Passage Verwendung findet, in der Hobbes seine Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen vornimmt, seinem Text schon in der zweiten Auflage von De Cive an einer zusätzlichen Stelle hinzu. Er versucht dabei, ihn als Gegenbegriff zum Begriff des Unrechts zu etablieren, der nicht wie dieser die Verletzung vertraglicher Vereinbarungen und die Nichtbeachtung der positiven Gesetze bezeichnet, sondern ausschließlich die Nichtbefolgung der natürlichen Gesetze. Da Foisneau diesen inhaltlichen Differenzen zwischen dem Ungerechtigkeitsbegriff und dem Unrechtsbegriff jedoch nicht die notwendige Aufmerksamkeit zukommen lässt, sieht er auch nicht die Probleme, die sich vor dem Hintergrund der nach wie vor im Text enthaltenen Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen aus dieser inhaltlichen Differenz ergeben und denen Hobbes im englischen Leviathan erstmals Tribut zollt. In den Elements, in denen Hobbes dem Begriff der Ungerechtigkeit vordergründig noch keine wichtige Stellung einräumt, fungiert der Begriff noch relativ konsequent als Oberbegriff, der den Begriff des Unrechts und damit den Begriff, um den es Hobbes in seiner Vertragslehre vorrangig geht, miteinschließt. Der Begriff der Ungerechtigkeit fasst unter sich die Ungerechtigkeit von Personen und die Ungerechtigkeit von Handlungen, und der Begriff des Unrechts, der die Verletzung gültiger Verträge kennzeichnet, fällt für Hobbes vollständig mit dem Begriff ‚injustice of actions‘ zusammen. In De Cive wird der Begriff der Ungerechtigkeit dagegen letztlich in einem doppelten Sinne verwendet. Er wird einmal nach wie vor als Oberbegriff gebraucht, der die synonymen Begriffe ‚Unrecht‘ und ‚Ungerechtigkeit von Handlungen‘ miteinschließt, wird aber auf der anderen Seite auch zur Kennzeichnung der Nichtbefolgung der natürlichen Gesetze und damit als Gegenbegriff zum Unrechtsbegriff benutzt. Im englischen Leviathan droht dieser Doppelcharakter insofern zu noch schwerwiegenderen Spannungen zu führen, als die oben beschriebene scheinbar vollständig synonyme Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘, welche Begriffe ja nun gleichermaßen die Verletzung gültiger Verträge bezeichnen, weder mit der bisherigen Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen noch mit der in De Cive neu hinzugefügten Entgegensetzung von Ungerechtigkeit und Unrecht ohne Weiteres vereinbar erscheint. Wie im Zuge unserer obigen Untersuchung gezeigt werden konnte, gelingt es Hobbes jedoch, diese Spannungen dadurch weitgehend zu vermeiden, dass er die frühere Entgegensetzung von Ungerechtigkeit und Unrecht zum Teil in seine Unterscheidung der Gerechtigkeit von Personen und der Gerechtigkeit von Handlungen integriert. Während die Verletzung von Verträgen und die damit verbundene Verletzung der Rechte bestimmter anderer Personen im englischen Leviathan mit den Begriffen Unrecht und ‚injustice of

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7. Die Hobbes’sche Vertragstheorie

actions‘ zusammenfällt, soll der Begriff ‚injustice of manners‘ nun gleichermaßen die Ungerechtigkeit von Personen wie auch die Verletzung solcher Verpflichtungen kennzeichnen, die nicht durch Verträge generiert worden sind und sich daher auch nicht auf bestimmte andere Personen beziehen. Wenn die damit etablierte neue und eingeschränktere Entgegensetzung der Begriffe Ungerechtigkeit und Unrecht Hobbes aber auch erlaubt, die drohende terminologische Inkonsistenz zu vermeiden, so ist sie doch mit zwei Problemen verbunden. Das kleinere Problem besteht darin, dass die scheinbar synonyme Verwendung der Begriffe Unrecht und Ungerechtigkeit, die einige zentrale Passagen des englischen Leviathan kennzeichnet, irreführend ist, weil der Begriff ‚injury‘ nicht, wie dies der Hobbes’sche Text nahelegt, vollständig mit dem Begriff ‚injustice‘ zusammenfällt, sondern nach wie vor lediglich mit dem Teilbegriff ‚injustice of actions‘. Im Sinne seiner eigenen Unterscheidung von ‚injustice of manners‘ und ‚injustice of actions‘ hätte Hobbes folglich an all denjenigen Stellen, an denen er im englischen Leviathan das Gerechtigkeitskonzept zusätzlich in seine Argumentation integriert und an denen er die Begriffe ‚injury‘ und ‚injustice‘ entweder in einem Atemzug verwendet oder die Verletzung gültiger Verträge sogar ausschließlich mit dem Begriff ‚injustice‘ kennzeichnet, auf den spezifischeren Begriff ‚injustice of actions‘ zurückgreifen müssen. Das zweite und schwerwiegendere Problem besteht darin, dass der Begriff ‚injustice of manners‘ nicht geeignet ist, um – wie von Hobbes suggeriert – all diejenigen Pflichtverletzungen zu kennzeichnen, die sich nicht direkt auf bestimmte andere Menschen beziehen. Da die natürlichen Gesetze nicht nur durch den Besitz bestimmter Charaktereigenschaften, sondern auch durch konkrete Handlungen verletzt werden können, kann es innerhalb des Hobbes’schen Systems sehr wohl Pflichtverletzungen geben, die durch den Begriff ‚injustice of manners‘ nicht abgedeckt sind, bei denen es sich aber andererseits auch nicht um Verletzungen vertraglicher Vereinbarungen handelt. Die eingehende Untersuchung der beiden Fassungen des Leviathan hat deutlich gemacht, dass Hobbes diesem zweiten Problem bereits im englischen Leviathan dadurch zu begegnen versucht, dass er den Begriff der Unbilligkeit einführt und diesen an einigen Stellen zur Kennzeichnung aktiver Verletzungen der natürlichen Gesetze benutzt. Im lateinischen Leviathan wird der diesbezügliche Gebrauch des Begriffes ‚iniquitas‘ dann nicht nur konsequenter umgesetzt, sondern der Text wird auch um eine ausdrückliche Definition erweitert, derzufolge der Begriff ‚iniquitas‘ und nicht der Begriff ‚injustitia‘ die Verletzung der natürlichen Gesetze bezeichnet. Mit Blick auf den lateinischen Leviathan kann daher von einer bewussten begrifflichen Dreiteilung gesprochen werden kann, in der a) die Begriffe ‚injustice of manners‘ (bzw. ‚injustitia hominis‘) die bloße Neigung zum Unrechttun bezeichnen; b) die Begriffe ‚iniquity‘ (bzw. ‚iniquitas‘) die aktive Verletzung der natürlichen Gesetze; und

7.6 Zusammenfassung

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c) die Begriffe ‚injury‘ und ‚injustice of actions‘ (bzw. ‚injuria‘ und ‚injustitia actionis‘) die aktive Verletzung solcher Verpflichtungen, die aus einem gültigen Vertrag entspringen und sich anders als die Verpflichtung zur Befolgung der natürlichen Gesetze direkt auf bestimmte andere Personen beziehen. Die verstärkte Einbeziehung des Gerechtigkeitskonzepts im englischen Leviathan trägt folglich nicht nur insgesamt weitaus komplexere Züge, als es in Foisneaus Studie den Anschein hat. Sie setzt sich auch im lateinischen Leviathan weiter fort, in dem darüber hinaus die terminologischen Umgestaltungen, die durch die Einbeziehung des Gerechtigkeitskonzeptes notwendig werden, mit deutlich größerer Konsequenz umgesetzt werden.

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand 8.1 Einleitung Wie im Rahmen der vorliegenden Arbeit mehrfach angemerkt worden ist und wie innerhalb der internationalen Hobbes-Forschung einhellig anerkannt wird, besteht das übergeordnete Ziel der Hobbes’schen Naturzustandstheorie darin, den natürlichen Zustand als einen unhaltbaren Zustand auszuweisen, d.h. als einen Zustand, in dem zu leben kein vernünftiger Mensch wollen kann, um auf diese Weise die Vernünftigkeit und Notwendigkeit des staatlichen Zustandes zu beweisen. Blickt man vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung auf die bislang analysierten und diskutierten Elemente der Hobbes’schen Naturzustandstheorie zurück, dann zeigt sich, dass Hobbes mit seiner ausführlichen Erörterung der natürlichen Gesetze und der verschiedenen Arten vertraglicher Vereinbarungen sein argumentatives Ziel im Grunde schon verwirklicht hat. Er hat gezeigt, dass der Naturzustand notwendig die Form eines Kriegszustandes annimmt, in dem das Leben des Einzelnen dauerhaft bedroht ist; er hat gezeigt, dass der einzige Weg, sich dauerhaft zu erhalten, darin besteht, den Frieden zu suchen und zu diesem Zweck auf das natürliche ‚Recht auf alles‘ zu verzichten; er hat gezeigt, auf welche Weise, d.h. mit Hilfe welcher vertraglichen Vereinbarungen, der Verzicht auf das natürliche ‚Recht auf alles‘ verwirklicht werden kann; und er hat gezeigt, dass weder die Erkenntnis der natürlichen Gesetze noch der faktische Abschluss von Verträgen ausreicht, um einen Zustand des Friedens und der Sicherheit herbeizuführen, da in der Abwesenheit einer allgemeinen Zwangsgewalt nicht davon ausgegangen werden kann, dass die jeweils anderen Individuen die natürlichen Gesetze konsequent befolgen und die von ihnen geschlossenen Verträge konsequent erfüllen werden, was nichts anderes heißt, als dass in einem solchen Zustand ohne eine allgemeine Zwangsgewalt jedes Individuum gut daran tut, trotz der zuvor eingehend beschriebenen negativen Folgen an seinem natürlichen ‚Recht auf alles‘ festzuhalten. An dem damit erreichten Punkt der Argumentation scheint das von Hobbes angestrebte Fazit auf der Hand zu liegen und ohne weitergehenden Aufwand realisiert werden zu können: Da der Frieden und mit ihm die dauerhafte Erhaltung des eigenen Lebens nur erreicht werden kann, wenn die natürlichen Gesetze allgemein befolgt werden, das natürliche ‚Rechts auf alles‘ aufgegeben wird und geschlossene Ver-

8.1 Einleitung

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träge erfüllt werden, ein entsprechendes Verhalten aber im Naturzustand nicht möglich und vernünftig wäre, sondern nur da möglich und vernünftig sein kann, wo es eine allgemeine Schutz- und Zwangsgewalt gibt, scheint die Einrichtung einer solchen Gewalt – und das heißt, der Ausgang aus dem Naturzustand und die Gründung einer staatlichen Gemeinschaft –, das notwendige Ziel eines jeden vernünftigen Menschen sein zu müssen, da es das einzige Instrument darstellt, mit dem das fundamentale Ziel der Selbsterhaltung dauerhaft realisiert werden kann. Es kann folglich auch nicht überraschen, dass sich praktisch in allen vier Werken schon vor dem abschließenden Naturzustandskapitel, in dem Hobbes sich, wie die jeweiligen Kapitelüberschriften anzeigen, nun direkt mit der Notwendigkeit bzw. den Ursachen des Staates sowie mit den zur Einrichtung des Staates konkret erforderlichen Schritten beschäftigen will, hie und da Hinweise auf die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand und auf die Unverzichtbarkeit einer souveränen Zwangsgewalt finden. Dass Hobbes im abschließenden Naturzustandskapitel das eigentlich schon vorweggenommene Fazit noch einmal eingehender zu begründen versucht, liegt daran, dass die zentrale Voraussetzung, das Leben eines jedes Individuums müsse im Naturzustand dauerhaft bedroht bleiben und das entsprechende Defizit des Naturzustandes lasse sich auch durch den Abschluss von Verträgen nicht überwinden, noch einer etwas weitergehenderen Rechtfertigung bedarf, als sie bisher durch Hobbes geliefert worden ist. Hobbes hat zwar schon im ersten Naturzustandskapitel ausdrücklich gezeigt, dass das Ziel der Selbsterhaltung nicht durch eine Strategie des individuellen Machtstrebens sichergestellt werden kann, da es angesichts der natürlichen Gleichheit der Menschen keinem Individuum gelingen kann, so lange immer mehr Gegner zu unterwerfen und immer mehr Macht anzuhäufen, bis es keiner ernstzunehmenden Bedrohung mehr ausgesetzt ist. Und er hat im Rahmen seiner Erörterung der Geltung der natürlichen Gesetze ebenso deutlich gemacht, dass auch das Streben nach einer umfassenden und dauerhaften innernaturzuständlichen Kooperation zum Scheitern verurteilt ist, da angesichts der menschlichen Leidenschaften keine ausreichende Sicherheit besteht, dass alle Menschen sich in der Tat an ihre Vereinbarungen halten werden und kein Individuum die Kooperationswilligkeit der jeweils anderen ausnutzen wird. Die Frage, die für Hobbes aber noch zu beantworten bleibt, ist die Frage, ob nicht ein Kompromiss zwischen den beiden Strategien möglich ist, der als Alternative zum Ausgang aus dem Naturzustand zu fungieren vermag. So wäre zu fragen, ob ein Individuum sein Ziel der dauerhaften Selbsterhaltung im Naturzustand nicht dadurch realisieren könnte, dass es in begrenztem Umfang mit anderen Individuum kooperiert – indem es sich nämlich mit solchen Individuen, denen es vertraut und von denen es vertragskonformes Verhalten erwartet, zu einer Gruppe oder einem Bündnis zusammenschließt,

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

um dann im Zusammenhalt mit diesen anderen nach immer mehr Macht streben und mehr und mehr einzelne Individuen oder kleinere Gruppen unterwerfen zu können oder sich, einer defensiveren Strategie folgend, als Gruppe zumindest in der erforderlichen Weise gegen Angriffe von außen verteidigen zu können. Es ist diese Frage, die Hobbes im Übrigen in De Cive mit seiner ersten Formulierung des natürlichen Gesetzes am Ende von Kapitel I („Atque euenit ut mutuo metu, è tali statu exeundum & quaerendos socios putemus; ut si bellum habendum sit, non sit tamen contra omnes, nec sine auxiliis.“1) und im englischen und lateinischen Leviathan mit seinem zentralen Argument zur Widerlegung des ‚Narren‘ selbst aufgeworfen hat, die in allen vier Formulierungen der Hobbes’schen Theorie den Hintergrund des letzten und abschließenden Naturzustandskapitels bildet, in dem das Hobbes’sche Naturzustandsargument zu seinem Ende kommt und der Übergang zur theoretischen Erörterung des Staates und der staatlichen Souveränität vollzogen wird. Der Hobbes’schen Diskussion der Frage, warum die Bildung von naturzuständlichen Verteidigungsbündnissen auf lange Sicht keine gangbare Alternative zur Gründung einer staatlichen Gemeinschaft und zur Errichtung einer allgemeinen Zwangsgewalt darstellt, ist von der Hobbes-Forschung in der Vergangenheit nur außerordentlich geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden. Bei den einzigen eingehenderen Analysen, die in den letzten Jahrzehnten vorgelegt worden sind, handelt es sich um spieltheoretische Untersuchungen, die sich – wie etwa die Studie Kavkas2 – vorrangig den Verträgen widmen, die nach Hobbes’ Darstellung einem solchen Verteidigungsbündnis zugrundeliegen, und die Frage zu beantworten suchen, inwiefern die konsequente Erfüllung dieser Verträge, d.h. die konsequente Unterstützung der Bündnispartner im Falle äußerer Angriffe, vorteilhaft ist. Die Ausführungen sind dabei oftmals Teil einer allgemeineren Erörterung zur Rationalität der Vertragserfüllung, in die auch die Analyse des Hobbes’schen ‚reply to the Foole‘ miteinbezogen wird. Dass die Art und Weise, in der Hobbes sein Argument für das notwendige Scheitern naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse entwickelt und damit seinem Naturzustandsargument den noch fehlenden letzten Baustein hinzufügt, bislang kaum eingehender untersucht worden ist, dürfte vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen sein, nämlich zum einen auf die Tatsache, dass die diesbezüglichen Passagen des abschließenden Naturzustandskapitels relativ eindeutig sind und keine schwerwiegenden Probleme aufwerfen, und zum anderen auf die Tatsache, dass sich – wie im Detail noch zu zeigen sein wird – keine wirklich bedeutenden Unterschiede zwischen den vier Fassungen der _____________ 1 2

DC: 97. Vgl. Kavka 1983: 299ff.; und Kavka 1986: 127ff.

8.1 Einleitung

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Naturzustandstheorie aufzeigen lassen. Der einzige Aspekt, der eine eingehendere Betrachtung verdienen würde, ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits ausgiebig diskutiert worden. Es handelt sich dabei um die Tatsache, dass Hobbes zu Beginn des letzten Naturzustandskapitels in allen vier Schriften in ungefähr der gleichen Weise auf die menschlichen Leidenschaften und auf menschliche Irrationalität Bezug nimmt, um noch einmal die zuvor bereits konstatierte Unwahrscheinlichkeit einer allgemeinen Befolgung der Naturgesetze zu bekräftigen und zugleich ein Fundament für die nun folgende Behauptung des notwendigen Scheiterns naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse zu schaffen. Die diesbezügliche Übereinstimmung der vier Schriften muss insofern als überraschend erscheinen, als Hobbes seine Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ schon im Anschlusss an die Elements zunehmend von der Voraussetzung menschlicher Irrationalität und der Voraussetzung starker kontingenter Leidenschaften loszulösen versucht. Die vordergründige Spannung, die sich spätestens im englischen Leviathan aus der Umgestaltung der Herleitung des allgemeinen Kriegszustandes und der gleichzeitigen Nicht-Umgestaltung der Begründung der Gefährlichkeit einer einseitigen Befolgung der natürlichen Gesetze ergibt, ist jedoch im Rahmen unserer Diskussion des ‚Krieges aller gegen alle‘ schon ausführlich erörtert und bewertet worden. Es muss daher an dieser Stelle auf die hierfür relevanten Ausführungen der vier Werke nicht mehr eigens eingegangen werden, wie das abschließende Naturzustandskapitel im Folgenden auch insgesamt in relativ kurzer Form abgehandelt werden kann. Die Aufmerksamkeit, die die betreffenden Kapitel der vier Schriften in der Hobbes-Forschung in der Vergangenheit erregt haben, hat sich in den allermeisten Fällen auf die zweite Hälfte der Kapitel bezogen, in der Hobbes beschreibt, wie der als notwendig ausgewiesene Ausgang aus dem Naturzustand konkret umgesetzt und die zu diesem Zweck erforderliche Einrichtung einer souveränen Zwangsgewalt vollzogen werden kann. Die Beachtung, die den entsprechenden Ausführungen zuteil geworden ist, hat ihren Grund vor allem in der Tatsache, dass die Ausführungen von Hobbes im Anschluss an die Veröffentlichung von De Cive nachhaltig überarbeitet werden. So sind die Ausführungen des englischen Leviathan durch die in der Einleitung zur vorliegenden Arbeit bereits angesprochene explizite Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und der Repräsentation gekennzeichnet, bei der es sich um eine derjenigen Umarbeitungen von Hobbes’ politischer Theorie handelt, die als erste das Interesse der Hobbes-Forschung geweckt und Anlass zu vergleichenden Studien gegeben haben. Wie oben schon angemerkt, verweist bereits Hood im Rahmen seiner Monographie aus dem Jahr 1964 darauf, dass im englischen Leviathan mit dem Konzept der Autorisierung ein neues Element

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

in die Hobbes’sche Theorie eingefügt wird.3 Hanna Pitkin, Maurice Goldsmith und David Gauthier haben den diesbezüglichen Umbau der Hobbes’schen Argumentation einer eingehenderen Prüfung unterzogen und dabei die Bedeutung des Konzeptes der Autorisierung und des eng verbundenen Konzeptes der Repräsentation für die Hobbes’sche Argumentation noch einmal nachdrücklich bekräftigt.4 Die jüngste umfassendere Studie zum Thema5 stammt von Quentin Skinner, der sich in seinem Aufsatz „Hobbes on representation“ aus dem Jahr 2005 in zweierlei Hinsicht von seinen Vorgängern abgrenzt.6 Auf der einen Seite weist Skinner Hanna Pitkins Behauptung, in Hobbes’ Leviathan finde sich die erste ausführliche und systematische Diskussion des Begriffes der politischen Repräsentation in der englischen Sprache,7 als historisch unzutreffend zurück.8 Skinner verweist auf eine Reihe politischer Theoretiker des englischen Bürgerkrieges, die bereits Jahre vor der Veröffentlichung des englischen Leviathan eine Theorie repräsentativer Herrschaft entwickelt und mit Nachdruck vertreten haben, so vor allem Henry Parker in seinen Schriften „Some few Obersvations“ (1642), „Observations upon some of his Majesties late Answers and Expresses“ (1642), „The Contra-Replicant“ (1643) und „Jus Populi“ (1644), daneben aber auch andere Vertreter der Sache des englischen Parlamentes wie William Prynne, William Bridge, Charles Herle, John Goodwin und Philip Hunton.9 Auf der anderen Seite distanziert Skinner sich von Gauthiers Neigung, den Umbau der Hobbes’schen Theorie mit Schwächen und Widersprüchen der Hobbes’schen Argumentation erklären zu wollen, die Hobbes mit zunehmender Deutlichkeit erkannt und durch die Einbeziehung der Begriffe der Autorisierung und der Repräsentation zu überwinden versucht habe.10 Skinner bemüht sich, stattdessen eine historisch-politische Erklärung für den expliziten Rückgriff auf die beiden Konzepte zu entwickeln. Dieser Erklärung zufolge besteht die eigentliche Absicht hinter der diesbezüglichen Erweiterung der Theorie darin, eine Art kritischen Kommentar zu den Positionen der Theoretiker des Parlaments zu liefern und zu zeigen, dass sich aus der mit den Begriffen der Autorisierung und der Repräsentation verbundenen Deutung des Ursprungs der souveränen Gewalt keineswegs die politi_____________ 3 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. Hood 1964: 149ff. Vgl. Pitkin 1967: 14f.; Goldsmith 1969: XVff.; und Gauthier 1969: VI und 120f. Vgl. daneben auch die 2004 erschienenen Studien von Martinich, Rogers und Wright. Zum Folgenden vgl. auch Skinners 2007 erschienenen Aufsatz „Hobbes on Persons, Authors and Representatives“, der weitgehend mit dem früheren Text übereinstimmt. Vgl. Pitkin 1967: 14. Vgl. Skinner 2005: 155f. Vgl. Goodwin 1642; Bridge 1643a; Bridge 1643b; Prynne 1643; [Herle] 1642; [Herle] 1643a; [Herle] 1643b; [Hunton] 1643; und [Hunton] 1644. Vgl. Skinner 2005: 168f.

8.2 The Elements of Law

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schen Konsequenzen ergeben, die von den Theoretikern des Parlaments vertreten werden. Nach Skinner bestehen diese politischen Konsequenzen in der Überzeugung, dass das Volk bzw. die Gesamtheit der Untertanen als eigentlicher Sitz der souveränen Gewalt zu begreifen ist, dass es sich bei der Macht des staatlichen Herrschers immer nur um eine beschränkte und bedingte Macht handeln kann und dass das Parlament in einem engeren und konkreteren Sinne als der Monarch als Repräsentant des Volkes zu gelten hat.11 Angesichts der unleugbaren Bedeutung, die den Hobbes’schen Ausführungen zum Abschluss des Gesellschaftsvertrages und zur Schaffung der souveränen Gewalt im Hinblick auf die historische Entwicklung seiner politischen Theorie zukommen, sollen die Ausführungen im Folgenden ebensowenig vollständig übergangen werden wie der damit verbundene Umbau der Hobbes’schen Argumentation, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Ausführungen denjenigen Teil der Hobbes’schen Theorie darstellen, in den die Naturzustandstheorie formal wie inhaltlich mündet. Es muss aber noch einmal ausdrücklich betont werden, dass die Ausführungen selbst nicht als Teil des eigentlichen Naturzustandsargumentes zu werten sind. Dieses ist bereits dort abgeschlossen, wo Hobbes aus dem notwendigen Scheitern naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse und der letztlichen Unhaltbarkeit des Naturzustandes die Notwendigkeit einer allgemeinen Zwangsgewalt gefolgert hat. Die Darstellung des Weges, auf dem sich der Ausgang aus dem Naturzustand konkret vollzieht, stellt demgegenüber einen Teil der politischen Lehre im engeren Sinne dar, und als solcher muss er im Rahmen einer Untersuchung der Hobbes’schen Naturzustandstheorie auch nur in eingeschränkter Form berücksichtigt werden. Aus diesem Grund soll im Folgenden vor allem auf die kritische Erörterung der Hobbes’schen Deutung des Gesellschaftsvertrages weitgehend verzichtet werden.

8.2 The Elements of Law 8.2.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse Die Erörterung der Frage, ob und inwieweit die Bildung von Verteidigungsbündnissen ein wirksames Mittel darstellt, um im naturzuständlichen ‚Krieg aller gegen alle‘ die eigene Erhaltung dauerhaft sicherzustellen, beginnt in den Elements streng genommen bereits im ersten Paragraphen des neunzehnten Kapitels, in jener Passage also, in der Hobbes noch einmal nachdrücklich _____________ 11

Vgl. hierzu beispielsweise [Parker] 1642b: 1, 2, 8, 15 und 37; [Parker] 1643: 16; [Parker] 1644: 1, 2 und 18; Goodwin 1642: 17f. und 28; und [Hunton] 1643: 3, 4 und 5.

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

klarstellt, dass die Einsicht in die natürlichen Gesetze für sich genommen nicht ausreicht, um den allgemeinen Kriegszustand zu überwinden, da jedes Individuum, das zu einer Befolgung der natürlichen Gesetze bereit ist, Gefahr läuft, zur Beute derer zu werden, die die natürlichen Gesetze ignorieren. Hobbes folgert angesichts dieser Gefahr nicht nur, dass der Einzelne unter Umständen gut daran tut, an seinem natürlichen ‚Recht auf alles‘ festzuhalten. Er verweist auch bereits darauf, dass die Chancen auf die Erhaltung des Lebens dadurch erhöht werden können, dass man sich der Unterstützung und Hilfe anderer Individuen versichert. And for this cause, every man’s right (howsoever he be inclined to peace) of doing whatsoever seemeth good in his own eyes, remaineth with him still, as the necessary means of his preservation. And therefore till there be security amongst men for the keeping of the law of nature one towards another, men are still in the estate of war, and nothing is unlawful to any man that tendeth to his own safety or commodity; and this safety and commodity consisteth in the mutual aid and help of one another, whereby also followeth the mutual fear of one another.12

Nachdem Hobbes im folgenden zweiten Paragraphen zunächst auf die Regeln eingeht, die innerhalb des allgemeinen Kriegszustandes gelten, und dabei – wie gesehen – die Behauptung aufstellt, dass bestimmte Handlungsweisen zu jeder Zeit einen Verstoß gegen das natürliche Gesetz darstellen, kommt er im dritten Paragraphen auf das zuvor angedeutete Hilfsmittel der gegenseitigen Unterstützung zurück. Das Ziel dieses und der folgenden drei Paragraphen liegt darin zu beweisen, dass auch die Vereinigung mit anderen Menschen das eigene Leben nicht auf Dauer zu schützen vermag, und der erste Schritt dieses Beweises besteht in dem Hinweis, dass ein Verteidigungsbündnis seinen Zweck überhaupt nur dann zu erfüllen vermag, wenn die Anzahl der sich Zusammenschließenden so groß ist, dass das Bündnis auf etwaige Feinde abschreckend zu wirken vermag. And seeing mutual aid is necessary for defence, as mutual fear is necessary for peace; we are to consider how great aids are required for such defence, and for the causing of such mutual fear, as men may not easily adventure on one another. And first it is evident: that the mutual aid of two or three men is of very little security; for the odds on the other side, of a man or two, giveth sufficient encouragement to an assault. And therefore before men have sufficient security in the help of one another, their number must be so great, that the odds of a few which the enemy may have, be no certain and sensible advantage.13

Das Problem der damit umrissenen ersten Bedingung für die Effektivität eines Verteidigungsbündnisses besteht jedoch darin, dass sie mit der direkt im _____________ 12 13

E: 100. E: 101.

8.2 The Elements of Law

521

Anschluss formulierten zweiten Bedingung nicht vereinbar ist. Wie Hobbes betont, kann ein Verteidigungsbündnis nur dann Bestand haben und seinen Zweck dauerhaft erfüllen, wenn die darin verbundenen Individuen ihre Ziele gemeinschaftlich verfolgen und mit Blick auf die konkret auszuführenden Handlungen und die zu befolgenden Strategien Einmütigkeit herrscht. Hat ein Verteidigungsbündnis nun aber, wie zu Beginn von Hobbes gefordert, eine solch beträchtliche Größe, wie sie zur Abschreckung und Abwehr äußerer Feinde notwendig ist, dann wird sich nach Hobbes’ Einschätzung eine derartige Übereinstimmung kaum auf lange Sicht herstellen lassen. Hobbes gesteht zwar zu, dass eine große drohende Gefahr oder die Aussicht auf einen großen Zugewinn an Macht die Individuen für kurze Zeit zu einer wirklichen Einheit zusammenschweißen kann. Er vertritt aber angesichts der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften und Urteile die feste Überzeugung, dass die Meinungen darüber, wie im Sinne des Schutzes und der Verteidigung agiert werden soll, immer wieder auseinandergehen werden und dass dies nicht nur generell die Handlungsfähigkeit des Bündnisses einschränken wird, sondern sogar in letzter Konsequenz zu gewaltsamen Konflikten innerhalb des Bündnisses führen wird. And supposing how great a number soever of men assembled together for their mutual defence, yet shall not the effect follow, unless they all direct their actions to one and the same end; which direction to one and the end is that which, chap. 12, sect. 7, is called consent. This consent (or concord) amongst so many men, though it may be made by the fear of a present invader, or by the hope of a present conquest, or booty; and endure as long as that action endureth; nevertheless, by the diversity of judgments and passions in so many men contending naturally for honour and advantage one above another: it is impossible, not only that their consent to aid each other against an enemy, but also that the peace should last between themselves, without some mutual and common fear to rule them.14

Es ist diese abschließende starke Behauptung, nach der sich ohne eine übergeordnete Gewalt der Frieden selbst innerhalb eines Verteidigungsbündnisses nicht dauerhaft aufrechterhalten lässt, die Hobbes zum Anlass nimmt, um sich mit Hilfe des in Kapitel 3.5 und Kapitel 4.2.2 bereits kurz angesprochenen kontrastierenden Vergleiches zwischen den menschlichen Gemeinschaften und den Gemeinschaften der Bienen von der aristotelischen Lehre des zoon politikon zu distanzieren und einen möglichen Einwand gegen seine Argumentation ausdrücklich zu entkräften. But contrary hereunto may be objected, the experience we have of certain living creatures irrational, that nevertheless continually live in such good order and government, for their common benefit, and are so free from sedition and war among themselves, that for peace, profit, and defence, nothing more can be imaginable. And the experi-

_____________ 14

E: 101f.

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

ence we have in this, is in that little creature the bee, which is therefore reckoned amongst animalia politica. Why therefore may not men, that foresee the benefit of concord, continually maintain the same without compulsion, as well as they? To which I answer, that amongst other living creatures, there is no question of precedence in their own species, nor strife about honour or acknowledgment of one another’s wisdom, as there is amongst men; from whence arise envy and hatred of one towards another, and from thence sedition and war. Secondly, those living creatures aim every one at peace and food common to them all; men aim at dominion, superiority, and private wealth, which are distinct in every man, and breed contention. Thirdly, those living creatures that are without reason, have not learning enough to espy, or to think they espy, any defect in the government; and therefore are contented therewith; but in a multitude of men, there are always some that think themselves wiser than the rest, and strive to alter what they think amiss; and divers of them strive to alter divers ways; and that causeth war. Fourthly, they want speech, and are therefore unable to instigate one another to faction, which men want not. Fifthly, they have no conception of right and wrong, but only of pleasure and pain, and therefore also no censure of one another, nor of their commander, as they are themselves at ease; whereas men that make themselves judges of right and wrong, are then at least at quiet, when they are most at ease. Lastly, natural concord, such as is amongst those creatures, is the work of God by the way of nature; but concord amongst men is artificial, and by way of covenant. And therefore no wonder if such irrational creatures, as govern themselves in multitude, do it much more firmly than mankind, that do it by arbitrary institution.15

Die sechs Punkte, die Hobbes anführt, um deutlich zu machen, dass sich Menschen und Bienen im Hinblick auf ihre Eignung zu einem friedlichen Zusammenleben in fundamentaler Hinsicht unterscheiden, werden von ihm relativ unmissverständlich entwickelt und bedürfen daher keiner detaillierten Erörterung. Erwähnenswert ist allerdings die ausgeprägte Verbindung, die zwischen den an dieser Stelle bemühten Aspekten und der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ in Kapitel XIV sowie der Beschreibung der Hauptursachen für das Entstehen von Bürgerkriegen in Kapitel XIII des Zweiten Buches besteht. So werden die meisten der genannten und vorausgesetzten menschlichen Eigenschaften, wie etwa das Streben der Menschen nach Ruhm und Ehre, ihre Neigung, sich mit den jeweils anderen zu vergleichen, und das Bedürfnis, diesen anderen an Ruhm und Ehre überlegen zu sein, von Hobbes auch als Ursachen des ‚Krieges aller gegen alle‘ ins Feld geführt. Und sowohl der allgemeine Wettstreit um Ruhm und Ehre als auch die Neigung, die Rechtmäßigkeit der gegebenen Verhältnisse in Frage zu stellen und unter dem Begriff des Rechts weitergehende individuelle Vorteile zu fordern, zählen zu den Gründen, aus denen sich nach Hobbes die Bürger eines Staates oftmals

_____________ 15

E: 102f.

8.2 The Elements of Law

523

zu bürgerlichem Ungehorsam und zur Vernachlässigung ihrer Gehorsamspflichten verleiten lassen.16 Interessant ist Hobbes’ Entgegensetzung von Menschen und Bienen darüber hinaus auch insofern, als sie zum Teil in deutlich polemischer Absicht gerade auf diejenigen Eigenschaften Bezug nimmt, um die Nicht-Eignung des Menschen zum friedlichen Zusammenleben mit Seinesgleichen zu beweisen, auf die Aristoteles im Ersten Buch seiner „Politik“ zurückgreift, um gerade die gegenteilige Position zu begründen und zu zeigen, dass die Menschen mehr noch als Bienen oder andere staatenbildende Tiere für ein Leben in der Gemeinschaft bestimmt sind.17 Schon dass Hobbes die Vernunftbegabung des Menschen lediglich als Ursache von Streit und Zwietracht anführt und ihr an dieser Stelle damit eine eher negative Bewertung zukommen lässt, lässt sich als Anspielung auf die aristotelische Argumentation lesen, und noch greifbarer wird die Polemik gegen Aristoteles dort, wo Hobbes die von Aristoteles als Hauptargument ins Feld geführte Sprachbegabung des Menschen zu einer reinen Konfliktursache umdeutet und den von Aristoteles behaupteten Sinn der Menschen für das Gerechte und das Ungerechte ausschließlich als Ursache für das unbegründete Gejammer solcher Bürger präsentiert, denen es eigentlich gut geht. Mit der Zurückweisung der Annahme, Menschen seien wie die Bienen von Natur für ein friedliches Zusammenleben bestimmt, ist das Hobbes’sche Nahziel, die Effektivität naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse in Zweifel zu ziehen, erreicht. Zugleich ist damit nun aber auch die Grundlage geschaffen, um endgültig die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand zu konstatieren. Hobbes formuliert das entsprechende Fazit in indirekter Form, indem er nämlich bekräftigt, dass nur dann eine dauerhafte Übereinstimmung zwischen den Willen und Meinungen einer großen Anzahl von Menschen hergestellt werden kann, wenn es eine allgemeine Gewalt gibt, die über diesen Menschen steht und mit Hilfe ihrer Macht in der Lage ist, die Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu zwingen. Da die Einrichtung einer solchen Gewalt für Hobbes mit dem Übergang in den staatlichen Zustand zusammenfällt, ist mit dem Eingeständnis der Notwendigkeit einer allgemeinen Zwangsgewalt das abschließende Urteil über den Naturzustand endgültig gefällt. It remaineth therefore still that consent (by which I understand the concurrence of many men’s wills to one action) is not sufficient security for their common peace, without the erection of some common power, by the fear of whereof they may be compelled both to keep the peace amongst themselves, and to join their strengths together, against a common enemy. And that this may be done, there is no way imagin-

_____________ 16 17

Vgl. E: 169-171. Vgl. Pol.: 1253a

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

able, but only union; which is defined chap. 12, sect. 8 to be the involving or including the wills of many in the will of one man, or in the will of the greatest part of any one number of men, that is to say, in the will of one man, or of one COUNCIL; for a council is nothing else but an assembly of men deliberating concerning something common to them all.18

8.2.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand Wie oben bereits angemerkt, beginnt mit dem Fazit exeundum esse e statu naturali Hobbes’ politische Theorie im engeren Sinn, die sich mit der Einrichtung und dem Wesen des Staates und der souveränen Gewalt befasst und die nicht mehr in den eigentlichen Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit fällt. Zu denjenigen Teilen dieser Theorie, auf die im Folgenden dennoch noch kurz eingegangen werden soll, gehört die Hobbes’sche Beschreibung des Gesellschaftsvertrages, die sich direkt an die zuletzt zitierte Passage anschließt. Nachdem Hobbes mit der Einheit des Willens aller Individuen die entscheidende Bedingung für ein friedliches Zusammenleben einer größeren Anzahl von Menschen herausgearbeitet und bereits vorweggenommen hat, dass der einzige Weg zu einer solchen Einheit in der Schaffung einer politischen Instanz besteht, in der die Einzelwillen der Individuen gleichsam zu einem Willen zusammengeführt werden, bestimmt er den Akt der Schaffung dieser übergeordneten Instanz, die er wenig später mit dem Begriff „SOVEREIGN“19 belegen wird, als einen Vertragsakt, im Zuge dessen sich jedes Individuum verpflichtet, den Anweisungen der geschaffenen Instanz Folge zu leisten. The making of union consisteth in this, that every man by covenant oblige himself to some one and the same man, or to some one and the same council, by them all named and determined, to do those actions, which the said man or council shall command them to do; and to do no action which he or they shall forbid, or command them not to do. And farther: in case it be a council whose commands they covenant to obey, that then also they covenant, that every man shall hold that for the command of the whole council, which is the command of the greater part of those men, whereof such council consisteth.20

Die auf diese Weise entstandene Vertragsgemeinschaft kennzeichnet Hobbes nun auch explizit mit dem Ausdruck ‚civil society‘, d.h. mit dem terminologischen wie theoretischen Gegenbegriff zum Begriff des Naturzustandes. Dabei greift er auch zumindest in Ansätzen schon auf diejenige Begrifflichkeit zu_____________ 18 19 20

E: 103. E: 104. E: 103.

8.2 The Elements of Law

525

rück, die später die Argumentation des englischen Leviathan prägen wird, indem er nämlich den Staat ausdrücklich mit dem Terminus der ‚(Rechts)Person‘ belegt. This union so made, is that which men call now-a-days a BODY POLITIC or civil society; and the Greeks call it SROL[, that is to say, a city; which may be defined to be a multitude of men, united as one person by a common power, for their common peace, defence, and benefit.21

Dass Hobbes’ Definition, nach der es sich bei der staatlichen Gemeinschaft um eine Menschenmenge handelt, die durch eine allgemeine und übergeordnete Gewalt geeint und in eine juristische Person verwandelt wird, eine weitergehende Bedeutung zukommt, zeigt sich im anschließenden ersten Kapitel des Zweiten Buches der Elements. Hobbes hebt dort noch einmal ausdrücklich hervor, dass es sich bei den Individuen, die sich zusammenfinden, um durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrages dem Naturzustand ein Ende zu setzen, zunächst um eine bloße Menschenmenge handelt und keineswegs um eine Gemeinschaft oder ein Volk im Sinne einer juristischen Person.22 Eine solche Person entsteht laut Hobbes erst dann, wenn sich die Individuen per Vertrag darauf geeinigt haben, dass der Wille eines bestimmten Menschen bzw. der Mehrheitswille einer bestimmten Versammlung fortan als Wille der Gesamtheit gelten soll. Die nachdrückliche Hervorhebung des Unterschieds zwischen einer bloßen Menschenmenge und einer politischen Körperschaft, auf deren Bedeutung bereits Laird verweist,23 ist – wie in Kapitel 3.7 bereits angedeutet – von Quentin Skinner als Reaktion auf die Sichtweise parlamentarischer Theoretiker gedeutet worden, nach der die Naturzustandsindividuen bereits vor dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages und der Inthronisierung eines politischen Herrschers eine Gemeinschaft oder ein Volk bilden, das als ursprünglicher und eigentlicher Träger der staatlichen Souveränität anzusehen sei. Skinner, der sich bei seiner Darstellung der von den betreffenden Theoretikern verfassten Schriften ausschließlich auf Schriften konzentriert, die in den 1640er Jahren und damit nach der Veröffentlichung der Elements entstanden sind, schenkt dabei allerdings der von ihm durchaus anerkannten Tatsache, dass sich die Hobbes’sche Unterscheidung in allen vier Werken, und keineswegs nur im Leviathan findet,24 insgesamt zu wenig Aufmerksamkeit und geht zu wenig auf die Frage ein, welche konkreten Debatten und Veröffentlichungen zur ursprünglichen Aufnahme der Unterscheidung in die Hobbes’sche Darstellung geführt haben könnten. _____________ 21 22 23 24

E: 104. Vgl. E: 108f. Vgl. Laird 1968: 198. Vgl. Skinner 2005: 169f. Vgl. auch bereits Tuck 1993: 312.

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Ein entscheidender Unterschied zwischen der Argumentation der Elements und der Argumentation des englischen Leviathan besteht freilich darin, dass die Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚multitude‘ und ‚people‘ in der ersten Fassung der Hobbes’schen Theorie die oben beschriebene argumentative Funktion nicht in der eigentlich beabsichtigten Weise zu erfüllen vermag, weil sie wenig später durch Hobbes’ Erörterung der verschiedenen Staatsformen konterkariert wird. Nachdem Hobbes in den weiteren Paragraphen des ersten Kapitels des Zweiten Buches ausführlich die Rechte der souveränen Gewalt beschrieben und dabei zu beweisen versucht hat, dass der Herrscher eines Staates die ihm zugewiesene Aufgabe, die Bürger zu schützen und den Rückfall in den ‚Krieg aller gegen alle‘ zu verhindern, nur dann zu erfüllen vermag, wenn die ihm übertragene Macht unbegrenzt ist, geht Hobbes zum Vergleich der drei Staatsformen Demokratie, Aristokratie und Monarchie über und trifft dabei gleich zu Beginn die Aussage, die Demokratie gehe den beiden anderen Staatsformen logisch wie zeitlich voraus. Having spoken in general concerning instituted policy in the former chapter, I come in this to speak of the sorts thereof in special, how every one of them is instituted. The first in order of time of these three sorts is democracy, and it must be so of necessity, because an aristocracy and a monarchy, require nomination of persons agreed upon; which agreement in a great multitude of men must consist in the consent of the major part; and where the votes of the major part involve the votes of the rest, there is actually a democracy.25

Das etwas beiläufig wirkende Zugeständnis der logischen und zeitlichen Priorität der Demokratie erweist sich im Hinblick auf die angestrebte Zurückweisung der Theoretiker des Parlaments als äußerst problematisch. Zwar lässt sich das Zugeständnis mit der Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚multitude‘ und ‚people‘ als solcher durchaus vereinbaren. Die eigentliche Funktion dieser Unterscheidung jedoch, nämlich die Zurückweisung der Auffassung, die Gesamtheit der Untertanen sei als eigentlicher Träger der souveränen Gewalt anzusehen und könne das Herrschaftsrecht von einem etwaigen aristokratischen oder monarchischen Herrscher legitimerweise zurückfordern, wird durch dieses Zugeständnis praktisch unmöglich gemacht. Das Zugeständnis der logischen und zeitlichen Priorität der Demokratie lädt geradezu zu dem Schluss ein, die sich zunächst als demokratische Gemeinschaft konstituierende Menschenmenge, die im Zuge dieser Konstituierung zum ersten Träger der souveränen Gewalt wird, bleibe auch nach der Ernennung eines etwaigen aristokratischen oder monarchischen Herrschers eigentlicher Träger der Souveränität, und von diesem Schluss ist es nur ein kleiner Schritt zu der Folgerung, das Herrschaftsrecht könne dem Herrscher legitimerweise wieder entzogen werden. Die diesbezügliche Schwächung der Hobbes’schen Argu_____________ 25

E: 118.

8.2 The Elements of Law

527

mentation vermag auch die Behauptung, die souveräne Gewalt eines Staates müsse unbegrenzt und unbedingt sein, weil nur so die mit der Einrichtung des Staates verbundenen Ziele erreicht werden könnten, nicht vollständig aufzuheben. Ein weiteres Problem der Darstellung der Elements besteht darin, dass der genaue Charakter des Gesellschaftsvertrages und der durch diesen Vertrag generierten Verpflichtung nicht hinreichend deutlich wird. Die anfängliche Beschreibung des Gesellschaftsvertrages in Kapitel XIX legt mit der Wendung „that every man by covenant oblige himself to some one and the same man, or to some one and the same council, [...] to do those actions, which the said man or council shall command them to do“26 nahe, dass jedes Individuum einen Vertrag mit dem späteren Inhaber der souveränen Gewalt schließt, mit dem es sich für die Zukunft dessen Willen unterwirft.27 Dieser Eindruck wird durch die Hobbes’sche Definition der souveränen Gewalt noch verstärkt, in dem die Macht des Souveräns mit dem Satz beschrieben wird „which consisteth in the power and the strength that every of the members have transferred to him from themselves, by covenant“28. Dieses Verständnis des Gesellschaftsvertrages steht aber in direktem Widerspruch zu Hobbes’ häufiger Betonung der Tatsache, dass der Inhaber der souveränen Gewalt selbst nicht Teil des Gesellschaftsvertrages und seinen Untertanen gegenüber durch kein vertragliches Versprechen gebunden ist. In Kapitel II des zweiten Buches der Elements charakterisiert Hobbes den Gesellschaftsvertrag daher auch folgerichtig als einen Vertrag, den jedes Individuum mit dem jeweils anderen schließt („every man with every man“29), wobei Hobbes sich allerdings zunächst ausdrücklich nur auf den Vertrag bezieht, durch den die ursprüngliche demokratische Gemeinschaft konstituiert wird. Offen bleibt damit einerseits, welchen rechtlichen Status die anschließende Ernennung einer souveränen Versammlung oder eines Königs hat. Hobbes beschreibt die Ernennung einer souveränen Versammlung als Wahl („election“) und die damit verbundene Zuweisung der souveränen Gewalt als Übertragung („transfer“30), und er beschreibt die Ernennung eines königlichen Herrschers mit Hilfe des Ausdrucks „decree“31 und die damit verbundene Übertragung der souveränen Gewalt auf einen Einzelnen mit Hilfe des relativ unspezifischen Verbs ‚to pass to‘. Im siebten Paragraphen des zweiten Kapitels begründet Hobbes die Tatsache, dass die souveräne Versammlung einer Aristokratie den einzelnen Untertanen kein Unrecht tun kann, mit dem _____________ 26 27 28 29 30 31

E: 103. Vgl. auch Pitkin 1993b: 471f.; und Gauthier 1969: 102f. E: 104. E: 119. Beides: E: 121. E: 122.

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Hinweis, die Versammlung habe keinen Vertrag mit den Einzelnen geschlossen und es liege auch auf kein gültiger und verbindlicher Vertrag mit dem Volk als Ganzem vor, weil sich dieses im Zuge der Einrichtung der Aristokratie und des Verzichtes auf die souveräne Gewalt wieder in einzelne Untertanen aufgelöst habe und folglich gar nicht mehr im Sinne einer juristischen Person existiere.32 Das Argument legt indirekt nahe, dass es sich bei der Ernennung einer souveränen Versammlung – wie auch bei der Ernennung eines Königs – für Hobbes im Grunde sehr wohl um einen Vertragsakt handeln könnte, nur eben um einen, dessen eine Partei sich im Zuge des Vertrages auflöst und der für die verbleibende Partei folglich keine wirklichen Verpflichtungen zu generieren vermag. Hobbes äußert sich aber nicht explizit in dieser Weise, und eine derartige Deutung hätte auch das Problem, dass der Vertrag, der im Zuge der Ernennung der souveränen Versammlung vollzogen wird, dann der gleichen Logik zufolge auch keine Verpflichtungen für die Untertanen zu generieren imstande wäre, da die Untertanen als Einzelne nicht Teil des Vertrages sind und sie als Volk nach Abschluss des Vertrages nicht mehr existieren. Diese Schwierigkeit verweist bereits auf das zweite Problem der Hobbes’schen Ausführungen zum Gesellschaftsvertrag. So bleibt ebenfalls offen, auf wen sich die Verpflichtung der Untertanen zum Gehorsam gegenüber den staatlichen Gesetzen eigentlich bezieht. Handelt es sich beim Gesellschaftsvertrag um einen Vertrag jedes Individuums mit dem jeweils anderen und findet kein Vertrag zwischen den Individuen und dem Souverän statt, dann kann es sich bei der Verpflichtung zur Befolgung der positiven Gesetze eigentlich nur um eine Verpflichtung der Bürger gegenüber einander handeln. Hobbes’ frühere Aussage „The making of union consisteth in this, that every man by covenant oblige himself to some and the same man, or to some and the same council“33 lässt aber wenig Zweifel, dass Hobbes die aus dem Gesellschaftsvertrag erwachsende Verpflichtung zumindest auch als eine Verpflichtung begreifen will, die die Untertanen gegenüber der souveränen Gewalt haben. Die Frage, die im Zuge der folgenden Analyse zu beantworten sein wird, lautet daher nicht nur, auf welche Weise sich die oben angesprochene Umarbeitung der Hobbes’schen Argumentation und die explizite Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und der Repräsentation vollzieht, sondern auch, inwiefern die Umarbeitung die hier skizzierten Unklarheiten der Hobbes’schen Argumentation zu beheben vermag.

_____________ 32 33

Vgl. E: 121. E: 103.

8.3 De Cive

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8.3 De Cive 8.3.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse Die Erörterung naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse wird von Hobbes in De Cive in nahezu der gleichen Weise durchgeführt wie zuvor in den Elements und mündet auch in die gleiche Schlussfolgerung, nämlich in das Fazit, dass nur die Gründung einer politischen Gemeinschaft und die Schaffung einer allgemeinen Zwangsgewalt das Problem der ständigen Bedrohung des eigenen Lebens wirksam zu lösen vermag. Anders als in den Elements findet sich in De Cive ein erster Hinweis auf die mögliche Bildung von Verteidigungsbündnissen zwar schon am Ende der Erörterung des allgemeinen Kriegszustandes. Die eigentliche Diskussion dieser Möglichkeit beginnt aber auch in De Cive erst im abschließenden Naturzustandskapitel. Der Aufbau des Kapitels folgt dabei insofern dem Text der Elements, als sich im ersten Paragraphen des Kapitels zunächst wie im entsprechenden Paragraphen der Elements die nochmalige Bekräftigung der Tatsache findet, dass im Naturzustand nicht auf eine allgemeine Befolgung der natürlichen Gesetze gehofft werden kann, sowie die daran anschließende Folgerung der Notwendigkeit präventiver Gewalt. Anders als in den Elements verweist Hobbes in De Cive hierbei allerdings noch nicht umgehend auf die zusätzliche Möglichkeit, sich um die Hilfe anderer Individuen zu bemühen und auf diesem Wege die Chancen aufs Überleben zu erhöhen. Der diesbezügliche Hinweis von Kapitel I von De Cive wird erst im dritten Paragraphen wieder aufgenommen, im Anschluss an die Erörterung des Sprichwortes inter arma silere leges. Hobbes rückt dabei etwas stärker als in den Elements den Aspekt der Sicherheit in den Mittelpunkt, der bereits im Zuge der Erörterung der Wahrscheinlichkeit einer allgemeinen Befolgung der Naturgesetze eine zentrale Stellung eingenommen hatte, und er verwendet diesen Aspekt auch als Anknüpfungspunkt für die nun zu beantwortende Frage, unter welchen Bedingungen der Zusammenschluss mit anderen Menschen das Ziel der Erhaltung des eigenen Lebens überhaupt faktisch zu befördern vermag. Die anschließende Argumentation folgt insofern konsequent den Ausführungen der Elements, als Hobbes einmal mehr die Größe des Bündnisses als eine der beiden entscheidenden Bedingungen für dessen Effektivität präsentiert. Cum ergo ad pacem conseruandam, necessarium sit legis naturalis exercitium; & ad legis naturalis exercitium necessaria sit securitas, considerandum est quid sit quod talem securitatem praestare possit. Ad hanc rem excogitari aliud non potest, praeterquam vt vnusquisque auxilia idonea sibi comparet, quibus inuasio alterius in alterum adeò periculosa reddatur, vt satius sibi esse vterque putet manus cohibere quam conserere. Primum autem manifestum est, quòd duorum vel trium consensio securitatem talem minimè praestare possit; propterea quòd additio ex altera vnius, vel paucorum homi-

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

num, sufficit ad certam & indubitatem victoriam, datque animum aduersario ad aggrediendum. Necessarium itaque est ad securitatem quam quaerimus obtinendam, vt numerus eorum qui in mutuam opem conspirant tantus sit, vt paucorum hominum ad hostes accessio non sit ipsis conspicui momenti ad victoriam.34

Die zweite Bedingung, nämlich die Einigkeit innerhalb des Verteidigungsbündnisses, wird von Hobbes ebenfalls in nahezu der gleichen Form ins Spiel gebracht und erörtert wie zuvor in den Elements. Der entsprechende Paragraph hat allerdings eine deutliche Erweiterung erfahren. Diese geht vor allem darauf zurück, dass Hobbes sein Fazit, nach dem die Mitglieder eines Bündnisses nur dann dauerhaft in Eintracht entscheiden und handeln werden, wenn sie durch die gemeinsame Furcht vor einer übermächtigen Gewalt dazu gezwungen werden, etwas ausführlicher bekräftigt und dabei noch einmal auf den Aspekt der Sicherheit und seine zuvor formulierte Ausgangsfrage Bezug nimmt. Deinde, quantuscunque sit numerus eorum qui ad se defendendum coeunt, si tamen non consentiant inter se de optimâ ratione quâ id fieri debeat, sed vnusquisque suo modo suis viribus vtatur, nihil efficietur; propterea quod distracti sententiis impedimento inuicem erunt, aut si in vnam actionem spe victoriae, vel praedae, vel vindictae, satis consentiant, postea tamen diuersitate ingeniorum consiliorumque, vel aemulatione & inuidiâ, quibus naturaliter homines inter se contendunt, ita diuellentur, vt neque mutuam opem conferre, neque pacem inter se habere velint, nisi communi aliquo metu coerceantur. Ex quo sequitur consensionem plurium, (quae consistit in eo tantum, vt praecedente sectione definitum est, quod actiones suas, omnes ad eundem finem, & bonum commune dirigant) hoc est, societatem mutui tantùm auxilij, non praestare consentientibus, siue sociis, securitatem quam quaerimus exercendi inter se ipsos leges naturae supra dictas; sed oportere amplius quiddam fieri, vt qui semel ad pacem, & mutuum auxilium, causâ communis boni consenserint, ne posteà, cum bonum suum aliquod priuatum à communi discrepauerit, iterùm dissentiant, metu prohibeantur.35

Die anschließende Entgegensetzung der Menschen und der von Natur aus staatenbildenden Lebewesen beginnt in De Cive mit einem ausdrücklichen Verweis auf Aristoteles und beinhaltet neben dem Hinweis auf die Bienen nun auch einen Hinweis auf die Ameisen. Neu ist an der Passage auch, dass Hobbes bereits an dieser Stelle auf den Aspekt der Einheit des Willens zu sprechen kommt und dass er diesen Aspekt nutzt, um Bienen und Ameisen ihren Status als politische Lebewesen abzusprechen. Hobbes gesteht zwar zu, dass die Willen der Bienen und Ameisen einer Gemeinschaft insofern durch eine dauerhafte Übereinstimmung gekennzeichnet sind, als sie sich auf einund dasselbe Ziel richten. Die Tatsache, dass die Tiere nicht im strengeren Sinne über ein- und denselben Willen verfügen, sondern über viele Willen, die _____________ 34 35

DC: 131. DC: 131f.

8.3 De Cive

531

lediglich faktisch zusammenstimmen, nimmt Hobbes aber zum Anlass, um den Gemeinschaften der Bienen und Ameisen den Status politischer Gemeinschaften zu verweigern, wodurch zum Teil die spätere Definition des Staates als einer durch einen einigenden Willen konstituierten juristischen Person vorweggenommen wird. Numerat Aristoteles inter animalia, quae Politica appellat, non modo Hominem, sed etiam multa alia, vt Formicam, Apem, &c. quae, quamquam ratione destituantur, per quam pacta facere, & submittere se regimini possint, nihilominùs, consentiendo, id est, eadem cupiendo, & eadem fugiendo, ita actiones suas dirigunt ad finem communem, vt coetus eorum nullis seditionibus sint obnoxij. Non sunt tamen coetus eorum ciuitates, neque ideò ipsa animalia politica dicenda sunt; quippe quorum regimen consensio tantum est, siue multae voluntates ad vnum obiectum; non (vt in ciuitate opus est) vna voluntas.36

Der Hobbes’sche Vergleich zwischen Mensch und Tier bleibt in inhaltlicher Hinsicht ansonsten weitgehend unverändert. So führt Hobbes im Anschluss dieselben sechs Punkte an, um die Verschiedenheit von Mensch und Tier herauszustellen und zu belegen, auf die er auch in den Elements Bezug genommen hatte. Die Aufzählung der relevanten Unterschiede weicht lediglich dadurch von der früheren Fassung ab, dass Hobbes die negativen Folgen der menschlichen Sprachbegabung noch nachdrücklicher hervorhebt als schon in den Elements und dabei auf das antike Griechenland verweist, in dem Perikles durch seine Volksreden große Verwirrung gestiftet habe („hominis autem lingua tuba quaedam belli est & seditionis; diciturque Pericles suis quondam orationibus, tonuisse, fulgurasse, & confudisse totam Graeciam“37). Diese zusätzliche und ihrerseits von großer rhetorischer Kraft gekennzeichnete Betonung der Gefahren, die aus der menschlichen Sprache erwachsen, verstärkt einerseits die oben bereits beschriebene polemische Distanzierung von der aristotelischen Position, derzufolge die Sprachfähigkeit als herausragendes Indiz für die Eignung des Menschen zum Leben in der Gemeinschaft zu werten ist. Auf der anderen Seite bereitet sie gerade durch den Hinweis auf die Volksreden des Perikles in gewissem Sinne Hobbes’ spätere kritische Erörterung der Demokratie vor, in der er die Auffassung vertreten wird, dass Demokratien Gefahr laufen, durch den Einfluss gewandter Redner an Stabilität zu verlieren, weil diese oftmals die Entscheidungen des souveränen Volkes in Richtung ihrer privaten Interessen steuern werden.38 Ein zweiter Unterschied zwischen den beiden Texten besteht darin, dass Hobbes im Anschluss an seine Aufzählung noch einmal wiederholt, dass zu einem friedlichen Zusammenleben der Menschen mehr vonnöten ist, als der _____________ 36 37 38

DC: 132. DC: 133. Vgl. dazu DC: 174f.

532

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

bloße Zusammenschluss der Einzelnen zu einer Gemeinschaft, nämlich die Schaffung einer Macht, die die Individuen dauerhaft in Furcht zu halten vermag („non igitur mirandum est, si hominibus ad viuendum in pace, aliquid amplius opus sit. Consensio itaque, siue societas contracta, sine potestate aliquâ communi, per quam metu poenae singuli regantur, non sufficit ad securitatem quae requiritur ad exercitium iustitiae naturalis.“39). Da damit der Inhalt des auf den Vergleich von Mensch und Tier folgenden Paragraphen zum Teil schon vorweggenommen ist, beschränkt sich Hobbes in De Cive in dem betreffenden Abschnitt darauf, die Notwendigkeit eines einheitlichen Willens herauszustellen und zu beschreiben, auf welchem Wege diese Einheit des Willens erreicht werden kann. Wie in den Elements vertritt Hobbes die Auffassung, dass die notwendige Einheit des Willens nur dadurch hergestellt werden kann, dass der Wille einer bestimmten Person bzw. der Mehrheitswille einer bestimmten Versammlung an die Stelle der Einzelwillen tritt. Hatte Hobbes den Akt der Schaffung eines solchen Willens dabei in den Elements noch relativ unspezifisch und gleichsam metaphorisch mit den Worten „involving or including the wills of many in the will of one man“40 beschrieben, so kennzeichnet er den Akt in De Cive explizit als einen Akt der Unterwerfung unter einen fremden Willen. Quoniam igitur conspiratio plurium voluntatum ad eundem finem non sufficit ad conseruationem pacis, & defensionem stabilem, requiritur vt circa ea quae ad pacem & defensionem sunt necessaria, una omnium sit voluntas. Hoc autem fieri non potest, nisi vnusquisque voluntatem suam, alterius unius, nimirum, vnius Hominis, vel vnius Concilij, voluntati, ita subiicat, vt pro voluntate omnium & singulorum, habendum sit, quicquid de iis rebus quae necessariae sunt ad pacem communem, ille voluerit.41

Spätestens mit der Behauptung, dass eine größere Gruppe von Menschen nur dann dauerhaft in Frieden zusammenleben könne, wenn die Individuen sich dem Willen eines einzelnen Menschen oder dem Mehrheitswillen einer Versammlung unterwürfen, um auf diese Weise mit den jeweils anderen Individuen zu einem einheitlichen Willen zu finden, ist die Folgerung der Notwendigkeit des staatlichen Zustands und die damit verbundene Folgerung der Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand endgültig vollzogen. Aufgrund der oben beschriebenen neuen Passagen, in denen die Notwendigkeit einer allgemeinen Zwangsgewalt bereits direkt und indirekt angesprochen wird, scheint das diesbezügliche Fazit in De Cive freilich noch stärker als in den Elements auch schon durch diejenigen Ausführungen, die dem zuletzt zitierten Paragraphen vorangehen. _____________ 39 40 41

DC: 133. E: 103. DC: 133.

8.3 De Cive

533

8.3.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand Die eingehendere Beschreibung des Weges, auf dem der Ausgang aus dem Naturzustand wirksam vollzogen wird, beginnt in De Cive wie in den Elements mit einer ausführlicheren Beschreibung des Gesellschaftsvertrages, durch den der zum Frieden benötigte einheitliche Wille geschaffen bzw. möglich gemacht wird. Die Beschreibung unterscheidet sich allerdings in dreierlei Hinsicht von den diesbezüglichen Aussagen des früheren Textes. Auf der einen Seite macht Hobbes noch ein weiteres Mal deutlich, dass er den Akt der Schaffung eines übergeordneten Willens als einen Akt der Unterwerfung begreift. Zweitens vermeidet Hobbes nun den in den Elements entstandenen Eindruck, der Gesellschaftsvertrag werde von den Individuen mit dem späteren Inhaber der souveränen Gewalt geschlossen, und beschreibt den Vertrag stattdessen bereits an dieser Stelle eindeutig als einen Vertrag, den jedes Individuum mit dem jeweils anderen schließt und im Zuge dessen sich die Individuen wechselseitig darauf verständigen, dem Willen des Inhabers der souveränen Gewalt keinen Widerstand entgegenzusetzen. Drittens versieht Hobbes das entsprechende Gehorsamsversprechen anders als in den Elements mit einer expliziten Einschränkung, derzufolge sich die Individuen das Recht der Selbstverteidigung gegen Gewalt vorbehalten, eine Einschränkung, die in inhaltlicher Übereinstimmung sowohl mit Hobbes’ vertragstheoretischen Ausführungen in Kapitel II als auch mit seinen Aussagen zu den Grenzen der bürgerlichen Gehorsamspflicht in Kapitel VI steht.42 Voluntatem haec submissio omnium illorum, unius hominis voluntati, vel unius Concilij, tunc fit; quando vnusquisque eorum vnicuique caeterorum se Pacto obligat, ad non resistendum voluntati illius hominis, vel illius Concilij cui se submiserit, id est, ne usum opum & virium suarum (quoniam jus seipsum contra vim defendendi retinere intelligitur) contra alios quoscumque illi deneget. Vocatur VNIO.43

Auch die wenig später folgende Definition der Begriffe ‚civitas‘ bzw. ‚societas civilis‘, mit denen Hobbes die durch den Unterwerfungsvertrag entstandene Union näher kennzeichnet, weist gegenüber der korrespondierenden Passage der Elements einige Überarbeitungen auf. So macht Hobbes in der deutlich erweiterten Passage einen ausgiebigeren Gebrauch vom Begriff der Person und hebt noch etwas nachdrücklicher hervor, dass die Gesamtheit der Untertanen für sich genommen keine Körperschaft und keine staatliche Gemeinschaft darstellt und erst mit dem und durch den einigenden Willen des Souveräns in den entsprechenden Status überführt wird. _____________ 42 43

Vgl. dazu DC: 105f. und 141ff. DC: 133.

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Vnio autem sic facta, apellatur ciuitas, siue societas ciuilis, atque etiam persona ciuilis; nam cum una sit omnium voluntas, pro unâ personâ habenda est; & nomine uno ab omnibus hominibus particularibus distinguenda & dignoscenda, habens iura sua, & res sibi proprias. Ita vt neque ciuis aliquis, neque omnes simul (si excipiamus eum cuius voluntas sit pro voluntate omnium) pro ciuitate censenda sit. CIVITAS ergo (vt eam definiamus) est persona una, cuius voluntas, ex pactis plurium hominum, pro voluntate habenda est ipsorum omnium; vt singulorum viribus & facultatibus vti possit, ad pacem & defensionem communem.44

Zu dieser Überarbeitung des neunten Paragraphen von Kapitel V passt, dass Hobbes auch zu Beginn des anschließenden sechsten Kapitels seine Unterscheidung zwischen einer bloßen Menschenmenge und einem Volk als einer juristischen Person mit noch größerem Nachdruck vorbringt, als er dies bereits in den Elements getan hat. In der zweiten Auflage von 1647 ergänzt er den betreffenden Paragraphen zusätzlich noch um eine ausführliche Fußnote, in der er zunächst die Aussage trifft, der Wert der Lehre von der Gewalt eines Staates über seine Bürger hänge fast vollständig davon ab, ob der Unterschied zwischen einer regierenden und einer regierten Menschenmenge angemessen erfasst werde, um dann seine eigene Behandlung des Themas mit Hilfe einer eingehenden Erörterung der Begriffe ‚multitudo‘ noch einmal eigens zu erläutern.45 Gerade die Hinzufügung dieser Fußnote, in der Hobbes betont, dass es sich bei einer Menschenmenge nicht um eine natürliche Person handle („persona naturalis“46), und in der er den Begriff des Volkes praktisch mit dem Begriff des staatlichen Herrschers gleichsetzt, stützt die oben skizzierte Behauptung Skinners, nach der die Hobbes’sche Entgegensetzung von bloßer Menschenmenge und Volk von den politischen Auseinandersetzungen der 1640er Jahre wenn auch nicht initiiert, so doch nachhaltig geprägt wird und dabei in ihrer argumentativen Bedeutung eine deutliche Aufwertung erfährt. Die Betonung, dass eine bloße Menschenmenge erst durch den einigenden Willen eines staatlichen Herrschers zu einem Volk im Sinne einer juristischen Person wird, vermag in De Cive allerdings nach wie vor die Position nicht wirksam abzuwehren, nach der die Untertanen in ihrer Gesamtheit den eigentlichen Träger der staatlichen Souveränität darstellen und als solcher über die Möglichkeit und das Recht verfügen, die politische Macht aristokratischer oder monarchischer Regierungen von vornherein zu beschränken oder die Macht im Nachhinein zurückzufordern. Der Grund hierfür liegt darin, dass Hobbes der Demokratie wie schon in den Elements eine Art logischer und zeitlicher Priorität gegenüber den beiden anderen Staatsformen zugesteht. Hobbes äußert sich in den betreffenden Passagen zwar bereits deutlich vorsichtiger als in den Elements und spricht den Individuen, die sich mit der _____________ 44 45 46

DC: 134. Vgl. DC: 136f. DC: 137.

8.3 De Cive

535

Absicht der Errichtung eines Staates zusammenfinden, nur in eingeschränkter Weise den Status einer demokratischen Gemeinschaft zu („Qui coierunt ad ciuitatem erigendam, pene eo ipso quod coierunt, Democratica sunt“47). Die Hobbes’sche Darstellung lädt insgesamt aber nach wie vor zu denjenigen Schlussfolgerungen ein, die Hobbes’ nachdrückliche Entgegensetzung von Menschenmenge und Volk eigentlich vereiteln soll. Eine eindeutige Verbesserung gegenüber dem Text der Elements stellt jedoch die bereits angedeutete konsistentere Beschreibung des Gesellschaftsvertrages dar. Hobbes kennzeichnet den gesellschaftskonstituierenden Vertrag nun nicht nur schon in Kapitel V unmissverständlich als einen Vertrag jedes Individuums mit dem jeweils anderen, sondern hält auch im Folgenden konsequent an dieser Deutung des Gesellschaftsvertrages fest. So erscheint der Gesellschaftsvertrag sowohl dort als wechselseitiger Vertrag der späteren Bürger, wo Hobbes in ähnlichen Worten wie in den Elements die Errichtung einer Demokratie beschreibt,48 als auch an weiteren Stellen, die so nicht im früheren Text enthalten sind.49 Umgekehrt werden die Passagen, in denen Hobbes zuvor den Eindruck erweckt hatte, die Individuen nähmen per Vertrag eine Verpflichtung gegenüber dem späteren Souverän auf sich, deutlich überarbeitet. So wird neben dem bereits diskutierten siebten Paragraphen des fünften Kapitels auch die Definition des Begriffs der souveränen Gewalt im elften Paragraph einer wichtigen Änderung unterzogen, indem nämlich die frühere irreführende Aussage („which consisteth in the power and strength that every of the members have transferred to him from themselves, by covenant“50) mit der Streichung des Vertragsbegriffes eine entscheidende Abmilderung erfährt („Quae Potestas & Ius imperandi in eo constitit, quod vnusquisque ciuium omnem suam vim & potentiam, in illud hominem, vel Concilium transtulit.“51). Dadurch, dass Hobbes den Gesellschaftsvertrag nun konsequent als einen Vertrag präsentiert, den die späteren Bürger miteinander schließen, und nicht mehr nahelegt, die Bürger schlössen den Vertrag mit dem Inhaber der souveränen Gewalt, ist freilich noch nicht vollständig die Möglichkeit ausgeschlossen, dass Hobbes den Bürgern neben der aus dem Gesellschaftsvertrag resultierenden Verpflichtung gegenüber dem jeweils anderen auch eine zusätzliche direkte Gehorsamspflicht gegenüber dem staatlichen Herrscher zusprechen will. Eine solche Pflicht kann zwar nicht durch den Gesellschaftsvertrag begründet werden; sie könnte aber unter Umständen aus dem Akt der Ernennung des Herrschers abgeleitet werden. Abschließend bleibt daher zu _____________ 47 48 49 50 51

DC: 152. (Hervorh. v. mir). Vgl. hierzu auch bereits Hood 1964: 161; und Pitkin 1993b: 472f. Vgl. DC: 153. Vgl. etwa DC: 148. E: 104. DC: 134.

536

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

untersuchen, ob Hobbes in De Cive eine direkte Pflicht der Bürger gegenüber dem staatlichen Herrscher behauptet und welchen Status er der Ernennung und Ermächtigung des Herrschers zuschreibt. Die entscheidenden Indizien zur Beantwortung dieser Fragen finden sich im sechsten Kapitel, in dem Hobbes in ausgiebiger Weise die Rechte des Inhabers der souveränen Gewalt erörtert. Der dreizehnte Paragraph enthält dabei zunächst nicht nur den wichtigen Hinweis, die souveräne Gewalt eines Staates habe als absolut zu gelten, sondern auch den Hinweis, aus dem Gesellschaftsvertrag erwachse eine mittelbare Verpflichtung der Bürger zum Gehorsam gegenüber dem staatlichen Herrscher. Cum jure absoluto summi Imperantis, tanta connectitur civium obedientia, quanta ad civitatis regimen necessario requiritur, id est, tanta ut jus illud frustra non sit concessum. [...] Nascitur autem ad eam praestandam obligatio non immediatè ex eo pacto, in quo jus nostrum omne ad civitatem transtulimus, sed mediatè, nempe ex eo quod sine obedientia jus Imperii frustra esset, & per consequens omnino constituta civitas non fuisset.52

Hobbes’ Ausführungen scheinen keinen Zweifel daran zu lassen, dass es für ihn keine direkte Verpflichtung der Bürger gegen den staatlichen Souverän gibt. Die Pflicht zur Befolgung der staatlichen Gesetze erwächst seiner Darstellung zufolge aus dem Gesellschaftsvertrag, und da sie dies tut, kann es sich bei ihr lediglich um eine indirekte Pflicht gegenüber dem Herrscher handeln, da dieser selbst nicht Teil des Gesellschaftsvertrages ist. Entsprechend begründet Hobbes die indirekte Pflicht gegenüber dem staatlichen Souverän nicht so sehr mit dem Akt des Vertragsschlusses und spezifisch juristischen Erwägungen, sondern mit dem praktischen Argument, dass der Gesellschaftsvertrag nutzlos wäre und seinen eigentlichen Zweck nicht erfüllen könnte, wenn darin nicht der strikte Gehorsam gegenüber den Befehlen des staatlichen Souveräns vereinbart und gefordert würde. Die Pflicht der Bürger gegenüber dem staatlichen Souverän folgt danach nicht daraus, dass der Souverän Partei des Vertrages wäre und sich die Bürger ihm gegenüber verpflichten würden, sondern daraus, dass die Verständigung auf den Gehorsam gegenüber dem staatlichen Herrscher inhaltlicher Gegenstand des Gesellschaftsvertrages ist. Die aus dem Gesellschaftsvertrag erwachsende Gehorsamspflicht der Bürger bezieht sich also lediglich in inhaltlicher Sicht auf den souveränen Herrscher, sie bezieht sich auf ihn aber nicht in der Rolle des eigentlich Verpflichtenden. Diese Rolle kommt allein den jeweils anderen Bürgern zu, denen der bürgerliche Gehorsam folglich auch im strengen Sinne geschuldet wird. _____________ 52

DC: 142.

8.3 De Cive

537

Dass diese Deutung der bürgerlichen Gehorsamspflicht jedoch einer gewissen Korrektur bedarf, zeigt sich im zwanzigsten Paragraphen des sechsten Kapitels, in dem Hobbes die Unterwerfung unter den Willen des Souveräns als einen zweistufigen Prozess schildert, der einerseits aus dem Gesellschaftsvertrag besteht, d.h. aus dem Vertrag jedes Individuums mit dem jeweils anderen, andererseits aber auch aus einer Schenkung zugunsten des Inhabers der souveränen Gewalt, und in dem er neben der Verpflichtung, die aus dem Gesellschaftsvertrag erwächst, auch eine aus der Schenkung erwachsende direkte Verpflichtung der Bürger gegenüber dem staatlichen Herrscher behauptet. Sed quamquam imperium, per pacta singulorum cum singulis constituatur, non tamen ab ea sola obligatione dependet imperij ius. Accedit obligatio erga habentem imperium. Ciuis enim vnusquisque cum vnoquoque paciscens, sic dicit, ego ius meum transfero in hunc, ut tu tuum transferas in eundem. Vnde ius quod vnusquisque habebat vtendi viribus suis ad proprium beneficium, totum translatum est in aliquem hominem vel concilium ad beneficium commune. Itaque intercedentibus pactis quibus singulis singuli obligantur, & iuris donatione quam ratam habere obligantur imperanti, duplici obligatione ciuium munitur imperium, ea quae est ad conciues, & ea quae est ad imperantem. Non ergo ciues quotcunque fuerint sine consensu etiam ipsius imperantis, eum spoliare imperio iure possunt.53

Es kann nun kaum geleugnet werden, dass die obige Darstellung in einer gewissen Spannung zu den Ausführungen im dreizehnten Paragraphen steht. Es würde aber deutlich zu weit führen, Hobbes eines logischen Widerspruches zu bezichtigen. Dass Hobbes die Gehorsamspflicht der Bürger gegenüber dem staatlichen Souverän zunächst als eine lediglich indirekte Pflicht beschreibt, die allein aus dem Gesellschaftsvertrag erwächst, mag zwar nahelegen, dass es für ihn neben dieser indirekten Pflicht keine weitergehende Pflicht gibt. Insofern wirft der spätere Hinweis auf die aus der Ernennung des souveränen Herrschers als einer Schenkung hervorgehende direkte Verpflichtung die Frage auf, warum Hobbes dieselbe nicht schon im dreizehnten Paragraphen erwähnt hat. Wenn Hobbes’ Darstellung aber auch einer etwas merkwürdigen Ordnung folgen und von nicht ganz einsichtigen Motiven geleitet sein mag, so stehen die beiden hier zitierten Passagen doch in inhaltlicher Hinsicht in keinem wirklichen Widerspruch zueinander. Nichts spricht dagegen, dass die Bürger eines Staates sowohl über eine indirekte Verpflichtung gegenüber dem staatlichen Souverän verfügen, die aus dem Gesellschaftsvertrag hervorgeht, als auch über eine direkte Verpflichtung, die ihren Grund in einer zweiten Vereinbarung hat, an der der Souverän selbst beteiligt ist. _____________ 53

DC: 149.

538

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Das eigentliche Problem der Hobbes’schen Darstellung besteht darin, dass Hobbes die im zwanzigsten Paragraphen genannte Schenkung der souveränen Gewalt nicht eingehender beschreibt und nicht im Detail belegt, dass diese Schenkung überhaupt eine Verpflichtung nach sich zu ziehen vermag. Im Rahmen seiner vertragstheoretischen Ausführungen im zweiten Kapitel hatte Hobbes zwar betont, dass prinzipiell auch Schenkungen verbindlich sind. Er hatte dies aber ausdrücklich auf solche Schenkungen beschränkt, die sich auf die Gegenwart oder die Vergangenheit beziehen. Ob nun aber die Ernennung des souveränen Herrschers als eine Schenkung zu begreifen ist, die im Moment der Ernennung bereits vollständig vollzogen wird, oder ob sie zumindest zum Teil in einem Versprechen für die Zukunft besteht, in dem Versprechen nämlich, den souveränen Status des zukünftigen Herrschers dauerhaft anzuerkennen und seine Befehle dauerhaft zu befolgen, ist vor dem Hintergrund der Hobbes’schen Darstellung nicht eindeutig zu beantworten, so dass auch aus diesem Grund die Weiterentwicklung der Argumentation im englischen Leviathan von einigem Interesse ist.

8.4 Die englische Fassung des Leviathan 8.4.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse Das Kapitel „Of the Causes, Generation, and Definition of a COMMONWEALTH“ des englischen Leviathan unterscheidet sich insofern von den abschließenden Naturzustandskapiteln der beiden früheren Werke, als der Erörterung der Gefahren, die mit der einseitigen Befolgung der natürlichen Gesetze verbunden sind, ein Abschnitt vorangestellt wird, in dem bereits in einer etwas allgemeineren Weise der Zweck der staatlichen Gemeinschaft und der damit einhergehenden Einschränkung des Einzelnen beschrieben wird. Hobbes geht an dieser Stelle zunächst weder auf die Möglichkeit ein, zum Schutz des eigenen Lebens Verteidigungsbündnisse zu gründen, noch deutet er an, dass eine derartige Strategie zum Scheitern verurteilt ist. Indem er die Einführung solcher Freiheitseinschränkungen, wie sie in staatlichen Gemeinschaften gegeben sind, aber als dasjenige Mittel präsentiert, mit dem die Menschen letztlich ihre Selbsterhaltung sicherzustellen versuchen, und indem er den ‚Krieg aller gegen alle‘ als einen Zustand bezeichnet, der so lange notwendig aus den menschlichen Leidenschaften erwächst, wie es keine allgemeine Zwangsgewalt gibt, die die Menschen zur Erfüllung ihrer Verträge und zur Befolgung der natürlichen Gesetze anzuhalten vermag, nimmt er das Ergebnis der anschließenden Erörterungen in gewisser Weise vorweg.

8.4 Die englische Fassung des Leviathan

539

The finall Cause, End, or Designe of men, (who naturally love Liberty, and Dominion over others,) in the introduction of that restraint upon themselves, (in which wee see them live in Common-wealths,) is the foresight of their own preservation, and of a more contented life thereby; that is to say, of getting themselves out from that miserable condition of Warre, which is necessarily consequent (as hath been shewn) to the naturall Passions of men, when there is no visible Power to keep them in awe, and tye them by feare of punishment to the performance of their Covenants, and observation of those Lawes of Nature set down in the fourteenth and fifteenth Chapters.54

Der Aufbau des Kapitels folgt im Anschluss an diese einleitende Passage relativ konsequent dem Aufbau der Kapitel der früheren Werke. Hobbes betont zunächst, dass die natürlichen Gesetze im Naturzustand nicht allgemein befolgt werden werden; er folgert daraus, dass jedes Individuum sich gegen die daraus resultierenden Gefahren wappnen sollte und dies auch legitimerweise tun kann; und er geht von der eingehenderen Erörterung und Legitimierung präventiver Gewaltmaßnahmen zu der Erörterung der Möglichkeit eines Zusammenschlusses zu Verteidigungsbündnissen über, wobei wie in De Cive der Aspekt der Sicherheit als Anknüpfungspunkt fungiert und zunächst einmal mehr die Bedeutung der Größe einer derartigen Vereinigung in den Mittelpunkt gerückt wird. Nor is it the joyning together of a small number of men, that gives them this security; because in small numbers, small additions on the one side or the other, make the advantage of strength so great, as is sufficient to carry the Victory; and therefore gives encouragement to an Invasion. The Multitude sufficient to confide in for our Security, is not determined by any certain number, but by comparison with the Enemy we feare; and is then sufficient, when the odds of the Enemy is not of so visible and conspicuous moment, to determine the event of warre, as to move him to attempt.55

Die Bedeutung der inneren Einigkeit eines Bündnisses wird im englischen Leviathan dadurch etwas stärker an den zuvor erörterten Punkt angebunden, dass Hobbes nun ausdrücklich darauf hinweist, dass ein innerlich uneiniges Bündnis selbst dann, wenn es eine beträchtliche Größe besitzt, von einer kleinen Gruppe von Gegnern leicht überwunden werden kann. Wie in De Cive verweist Hobbes aber ebenso darauf, dass die Uneinigkeit auch innerhalb des Bündnisses selbst zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen kann. Auf das in De Cive neu hinzugefügte vorgezogene Fazit, dass zu der bloßen Vereinigung mehrerer Menschen noch etwas weiteres hinzutreten muss, nämlich die gemeinsame Furcht vor einer übergeordneten Macht, damit die notwendige Sicherheit zur Befolgung der natürlichen Gesetze gewährleistet ist, verzichtet Hobbes an dieser Stelle. Stattdessen nutzt er seine anfängliche Betonung der Unwahrscheinlichkeit einer allgemeinen Befolgung der natürlichen Geset_____________ 54 55

EL: 85. EL: 85f.

540

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

ze, aus der die Notwendigkeit des Zusammenschlusses mit anderen Menschen ja überhaupt erst gefolgert worden war, um seine Behauptung zu stützen, innerhalb eines Bündnisses werde es zwangsläufig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen. So weist er mögliche Zweifel an seiner Darstellung der Binnenverhältnisse eines Verteidigungsbündnisses mit dem generellen Hinweis zurück, dass eine so große Menge von Menschen, wie sie zur Bildung eines wirklich mächtigen Bündnisses notwendig sei, nur dann ohne äußeren Zwang dauerhaft zusammenstimmen könne, wenn – anders als zuvor konstatiert – auch die gesamte Menschheit dazu in der Lage wäre. And be there never so great a Multitude; yet if their actions be directed according to their particular judgements, and particular appetites, they can expect thereby no defence, nor protection, neither against a Common enemy, nor against the injuries of one another. For being distracted in opinions concerning the best use and application of their strength, they do not help, but hinder one another; and reduce their strength by mutuall opposition to nothing: whereby they are easily, not only subdued by a very few that agree together; but also when there is no common enemy, they make warre upon each other, for their particular interests. For if we could suppose a great Multitude of men to consent in the observation of Justice, and other Lawes of Nature, without a common Power to keep them all in awe; we might as well suppose all Mankind to do the same; and then there neither would be, nor need to be any Civill Government, or Common-wealth at all; because there would be Peace without subjection.56

Ein weiterer Unterschied, der aber wie der zuletzt genannte als marginal zu bezeichnen ist, besteht darin, dass Hobbes im Anschluss an das obige Zitat in deutlich ausführlicherer Weise als in den früheren Schriften klar stellt, dass es zum Zweck der Sicherheit nicht ausreicht, wenn die Mitglieder eines Bündnisses für eine lediglich begrenzte Zeit über ein- und denselben Willen verfügen. Nor is it enough for the security, which men desire should last all the time of their life, that they be governed, and directed by one judgement, for a limited time; as in one Battell, or one Warre. For though they obtain a Victory by their unanimous endeavour against a forraign enemy; yet afterwards, when either they have no common enemy, or he that by one part is held for an enemy, is by another part held for a friend, they must needs by the difference of their interests dissolve, and fall again into a Warre amongst themselves.57

Die anschließende Entgegensetzung von Menschen und Bienen und Ameisen enthält wie in De Cive einen ausdrücklichen Verweis auf Aristoteles. Die etwas umfangreichere Einleitung, in der den sogenannten staatenbildenden Tieren der Status politischer Wesen ausdrücklich abgesprochen worden war, ist dagegen wieder gestrichen worden. Hobbes begnügt sich jetzt damit, die Entge_____________ 56 57

EL: 86. EL: 86.

8.4 Die englische Fassung des Leviathan

541

gensetzung von Mensch und Tier als Begründung der Tatsache anzukündigen, warum die Menschen anders als die nicht einmal mit der Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung begabten Tiere nicht von Natur aus in der Lage sind, dauerhaft in gegenseitiger Kooperation zu leben. Die sechs Punkte, die Hobbes zu diesem Zweck anführt, entsprechen den Punkten, auf die Hobbes schon in den Elements und in De Cive Bezug genommen hat. Der Hinweis auf Perikles und das antike Griechenland fällt allerdings ebenfalls einer Streichung zum Opfer. Eine Abweichung zum Text von De Cive liegt daneben auch insofern vor, als die in De Cive stark im Vordergrund stehenden Begriffe des Willens und der Einheit des Willens in der gesamten Passage keine besondere Rolle spielen und Hobbes stattdessen die Entgegensetzung von ‚private good‘ und ‚common good‘ etwas stärker in den Mittelpunkt rückt. Diese bildet auch den Kern des nun folgenden, den Vergleich von Mensch und Tier beendenden Fazits, nach welchem zur dauerhaften Einigkeit vieler Menschen mehr vonnöten ist als ihr bloßer vertraglicher Zusammenschluss zu einem Bündnis, nämlich eine allgemeine Macht, die die Einzelnen in Furcht und Schrecken zu halten vermag. [...] and therefore it is no wonder if there be somwhat else required (besides Covenant) to make their Agreement constant and lasting; which is a Common Power, to keep them in awe, and to direct their actions to the Common Benefit.58

Wie in De Cive ist auch im englischen Leviathan mit dieser Aussage das abschließende Fazit über den Naturzustand eigentlich gefällt. Die letzte Klarheit darüber, dass nur die Gründung einer umfassenden politischen Gemeinschaft diejenige Sicherheit gewähren kann, die zum Frieden und zur dauerhaften Erhaltung des eigenen Lebens notwendig ist, bringt der nun folgende Abschnitt, in dem Hobbes die Errichtung der zuvor als notwendig beschriebenen allgemeinen Macht als Mittel zur Herstellung eines einheitlichen Willens kennzeichnet und dabei bereits umfassenden Gebrauch von den Konzepten der Autorisierung und der Repräsentation macht, die er im Zuge des vorangegangenen sechzehnten Kapitels eigens eingeführt hat. The only way to erect such a Common Power, as may be able to defend them from the invasion of Forraigners, and the injuries of one another, and thereby to secure them in such sort, as that by their owne industrie, and by the fruites of the Earth, they may nourish themselves and live contentedly; is, to conferre all their power and strength upon one Man, or upon one Assembly of men, that may reduce all their Wills, by plurality of voices, unto one Will: which is as much as to say, to appoint one Man, or Assembly of men, to beare their Person; and every one to owne, and acknowledge himselfe to be Author of whatsoever he that so beareth their Person, shall Act, or cause to be Acted, in those things which concerne the Common Peace and

_____________ 58

EL: 87.

542

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Safetie; and therein to submit their Wills, every one to his Will, and their Judgements, to his Judgment.59

8.4.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand Wie oben bereits angemerkt, dient das sechzehnte Kapitel des englischen Leviathan, zu dem es in keinem der beiden früheren Werke ein Pendant gibt, dem Zweck, die schon in der zuletzt zitierten Passage, erst recht aber in den nun folgenden Passagen greifbare Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und der Repräsentation inhaltlich und terminologisch vorzubereiten. Das Kapitel ist gekennzeichnet von einer ganzen Reihe definitorischer Aussagen, in denen die Begriffe ‚person‘, ‚representer‘ und ‚representative‘, ‚actor‘, ‚author‘ und ‚authority‘ eine eingehende Erläuterung erfahren. Hobbes nutzt den damit geschaffenen Kontext aber auch, um nun schon an dieser Stelle die wichtige Unterscheidung zwischen einer bloßen Menschenmenge und einer juristischen Person vorzunehmen und sie mit Hilfe des neu gewonnenen Vokabulars umzugestalten. Hatte Hobbes in De Cive die Umwandlung der bloßen Menschenmenge in eine Körperschaft auf einen einigenden Willen zurückgeführt, dem sich alle Individuen gleichermaßen unterwerfen, so sieht er die Menge nun dadurch zu einer Person geeint, dass die Individuen durch einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Person repräsentiert werden. A Multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one Person, Represented; so that it be done with the consent of every one of that Multitude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One. And it is the Representer that beareth the Person, and but one Person: And Unity, cannot otherwise be understood in Multitude.60

Die damit einhergehende Neugestaltung der Hobbes’schen Argumentation prägt nun auch die eingehendere Beschreibung des Gesellschaftsvertrages in Kapitel XVII. Der Abschnitt, in dem Hobbes beschreibt, auf welche Weise die notwendige allgemeine Zwangsgewalt eingerichtet wird, und die bereits im letzten Kapitel wiedergegeben worden ist, bringt die Konzepte der Repräsentation und der Autorisierung zunächst dadurch ins Spiel, dass die erforderliche Herstellung eines einheitlichen Willens mit dem Auftrag an einen Menschen oder eine Versammlung gleichgesetzt wird, die Einzelnen zu repräsentieren („to beare their Person“), sowie mit dem damit einhergehenden Zugeständnis der Einzelnen, fortan als Autor der Handlungen des betref_____________ 59 60

EL: 87. EL: 82.

8.4 Die englische Fassung des Leviathan

543

fenden Menschen oder der betreffenden Versammlung zu fungieren und diese Handlungen als seine eigenen Handlungen anzuerkennen („and every one to owne, and acknowledge himselfe to be the Author of whatsoever he that so beareth their person, shall Act, or cause to be Acted“). Dass diese Autorisierung des künftigen Inhabers der souveränen Gewalt aber nach wie vor einen Vertrag voraussetzt, nämlich einen Vertrag, den jedes Individuum mit dem jeweils anderen schließt, zeigt der daran anschließende Abschnitt, in dem Hobbes die Autorisierung des Herrschers zum inhaltlichen Gegenstand des Gesellschaftsvertrages macht und damit Gesellschaftsvertrag und Autorisierung als zwei Seiten ein- und desselben Aktes präsentiert. This is more than Consent, or Concord; it is a reall Unitie of them all, in one and the same Person, made by Covenant of every man with every man, in such manner, as if every man should say to every man, I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy right to him, and Authorise all his Actions in like manner.61

In Übereinstimmung mit dieser Neugestaltung des Gesellschaftsvertrages räumt Hobbes auch in der folgenden Definition des Begriffes ‚commonwealth‘ neben dem bereits früher verwendeten Begriff der Person den Begriffen der Autorität und des Autors einen besonderen Stellenwert ein. This done, the Multitude so united in one Person, is called a COMMON-WEALTH, in latine CIVITAS. This is the Generation of that great LEVIATHAN, or rather (to speake more reverently) of that Mortall God, to which wee owe under the Immortall God, our peace and defence. For by this Authoritie, given him by every particular man in the Common-Wealth, he hath use of so much Power and Strength conferred on him, that by terror thereof, he is inabled to conforme the wills of them all, to Peace at home, and mutuall ayd against their enemies abroad. And in him consisteth the Essence of the Commonwealth; which (to define it,) is One Person, of whose Acts a great Multitude, by mutuall Covenants one with another, have made themselves every one the Author, to the end he may use the strength and means of them all, as he shall think expedient, for their Peace and Common Defence.62

Die damit vollzogene Verschränkung des Vertragskonzeptes mit den Konzepten der Autorisierung und der Repräsentation prägt fortan die Hobbes’sche Erörterung der staatlichen Gemeinschaft und der souveränen Gewalt. Im direkt anschließenden achtzehnten Kapitel, dass sich wie das sechste Kapitel von De Cive mit den Rechten des Inhabers der souveränen Gewalt befasst, beschreibt Hobbes die Gründung einer politischen Gemeinschaft noch einmal rückblickend in einer Weise, die die Verschränkung der verschiedenen Konzepte besonders pointiert hervortreten lässt. _____________ 61 62

EL: 87. EL: 87f.

544

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

A Common-wealth is said to be Instituted, when a Multitude of men do Agree, and Covenant, every one, with every one, that to whatsoever Man, or Assembly of Men, shall be given by the major part, the Right to Present the Person of them all, (that is to say, to be their Representative;) every one, as well he that Voted for it, as he that Voted against it, shall Authorise all the Actions and Judgements, of that Man, or Assembly of men, in the same manner, as if they were his own, to the end, to live peaceably amongst themselves, and be protected against other men.63

Auch die Ausführungen des neunzehnten Kapitels sind insgesamt von dem Bemühen gekennzeichnet, den Akt der vertraglichen Verbindung der Individuen und den Akt der Autorisierung als ein- und denselben Akt zu charakterisieren. So verzichtet Hobbes, anders als von Hood behauptet,64 im englischen Leviathan konsequent darauf, den Akt der Ernennung und Autorisierung des Souveräns wie in De Cive als Schenkung zu bezeichnen, und präsentiert ihn stattdessen als einen Akt, der im Gesellschaftsvertrag enthalten ist und dennoch selbst keinen Vertrag darstellt. Die konsequente und unmissverständliche Deutung der Ernennung der Souveräns als einen Autorisierungsakt, der den Inhalt des wechselseitigen Vertrages der Individuen ausmacht, erlaubt Hobbes nun nicht nur, seiner häufig wiederholten Behauptung leichter Plausibilität zu verleihen, nach der der staatliche Souverän seine Macht nicht durch einen Vertrag erhält, den er selbst mit seinen Untertanen geschlossen hat.65 Mit dem Begriff der Autorisierung erhält Hobbes auch eine Möglichkeit, die Folgerung, um die es ihm eigentlich geht, nämlich die Folgerung, dass der Souverän den Bürgern kein Unrecht tun kann, positiv zu stützen, indem er ihm nämlich die Möglichkeit gibt, die Bürger selbst als Urheber aller Handlungen des staatlichen Souveräns auszuweisen. Fourthly, because every Subject is by this Institution Author of all the Actions, and Judgments of the Soveraigne Instituted; it followes, that whatsoever he doth, it can be no injury to any of his Subjects; nor ought he to be by any of them accused of Injustice. For he that doth any thing by authority from another, doth therein no injury to him by whose authority he acteth: But by this Institution of a Common-wealth, every particular man is Author of all the Soveraigne doth; and consequently he that complaineth of injury from his Soveraigne, complaineth of that whereof he himselfe is Author; and therefore ought not to accuse any man but himselfe; no nor himselfe of injury; because to do injury to ones selfe, is impossible.66

Hinzu kommt, dass durch die Verschränkung von Gesellschaftsvertrag und Autorisierung die Hobbes’sche Position nicht mehr in der gleichen Weise wie zuvor nahelegt, die Einrichtung der verschiedenen Staatsformen sei als we_____________ 63 64 65 66

EL: 88. Vgl. Hood 1964: 160. Vgl. EL: 89. EL: 90. Vgl. auch EL: 109.

8.4 Die englische Fassung des Leviathan

545

senhaft voneinander verschieden zu betrachten und der Errichtung einer Aristokratie oder Monarchie müsse in jedem Fall die Gründung einer Demokratie vorausgegangen sein. Wenn der Gesellschaftsvertrag mit der Ernennung des souveränen Herrschers zusammenfällt, diese selbst aber nicht den Charakter eines Vertrages hat, sondern als Autorisierung eine bloße inhaltliche Bestimmung des Gesellschaftsvertrages ist, dann gibt es weder eine Grundlage für die Behauptung, der Souverän sei den Bürgern gegenüber vertraglich zu bestimmten Handlungsweisen verpflichtet, noch eine Grundlage für die Deutung, der Demokratie komme eine logische oder zeitliche Priorität gegenüber den beiden anderen Staatsformen zu. Entsprechend werden die diesbezüglichen Hinweise von Hobbes konsequent gestrichen, und die Erörterung der Staatsformen in Kapitel XIX wird auf den Vergleich der Vorund Nachteile der drei Formen beschränkt. Indem sie die Streichung des früheren Eingeständnisses, nach dem die Demokratie den beiden anderen Staatsformen logisch und zeitlich vorausgeht, nicht nur erleichtert, sondern fast schon fordert, trägt die enge Verschränkung von Gesellschaftsvertrag und Autorisierung indirekt dazu bei, die Hobbes’sche Argumentation gegen die Folgerung in Schutz zu nehmen, die Untertanen seien als eigentlicher Träger der staatlichen Souveränität anzusehen. Hobbes nutzt die Konzepte im englischen Leviathan aber auch, um die betreffende Deutung der staatlichen Souveränität in noch direkterer Form zurückzuweisen. Wie Skinner in seinem Aufsatz deutlich macht, ist die Position der Theoretiker des Parlamentes neben der grundsätzlichen Voraussetzung eines ‚body of the people‘ als dem eigentlichen Träger der staatlichen Souveränität vor allem durch die daraus abgeleitete Behauptung gekennzeichnet, die Autorität des staatlichen Herrschers habe, obwohl der Herrscher individuell mächtiger als jeder seiner Untertanen sei, einen geringeren Umfang als die Autorität der Untertanen in ihrer Gesamtheit, von denen der staatliche Souverän seine Macht ja überhaupt erst erhalten habe. Diese Behauptung findet ihren prägnanten Ausdruck in der Wendung singulis major, universis minor, die sich zuerst bei Henry Parker nachweisen lässt,67 der sie Skinners Einschätzung nach vermutlich aus dem 1579 anonym erschienenen monarchomachischen Traktat „Vindiciae contra tyrannos“ entlehnt,68 die sich im Anschluss daran aber auch bei vielen anderen parlamentarischen Theoretikern findet.69 Der Einfluss dieser Theoretiker und der von ihnen geführten Debatten auf die Hobbes’sche Theorie zeigt sich nun nicht zuletzt daran, dass Hobbes die Wendung singulis major, universis minor im englischen Leviathan ausdrücklich zu widerlegen versucht, wobei er auf die Konzepte der Autorisierung und der _____________ 67 68 69

Vgl. [Parker] 1642b: 2. Vgl. auch [Parker] 1644: 26. Vgl. Skinner 2005: 159. Vgl. etwa [Herle] 1643a: 18; [Anonym] 1643: 26; und [Hunton] 1943: 42f.

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8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Repräsentation Bezug nimmt. Hobbes stützt sich dabei insofern auf seine zuvor entwickelte Deutung der Autorisierung des staatlichen Herrschers, als er sich die Tatsache zunutze macht, dass der Akt der vertraglichen Einigung der Individuen, durch den diese Individuen überhaupt erst zu einer Einheit und Gesamtheit im Sinne des Hobbes’schen Personenbegriffs werden, mit dem Akt der Autorisierung untrennbar zusammenfällt. This great Authority being Indivisible, and inseparably annexed to the Soveraignty, there is little ground for the opinion of them, that say of Soveraign Kings, though they be singulis majores, of greater Power than every one of their Subjects, yet they be Universis minores, of lesse power than them all together. For if by all together, they mean not the collective body as one person, then all together, and every one, signifie the same; and the speech is absurd. But if by all together, they understand them as one Person (which person the Soveraign bears,) then the power of all together, is the same with the Soveraigns power; and so again the speech is absurd: which absurdity they see well enough, when the Soveraignty is in an Assembly of the people; but in a Monarch they see it not; and yet the power of the Soveraignty is the same in whomsoever it be placed.70

Wenn die spezifische Verschränkung des Gesellschaftsvertrages mit dem Akt der Autorisierung des staatlichen Herrschers und die Bindung des personalen Status der Untertanen mit der Existenz eines gemeinsamen Repräsentanten aber auch einiges zur Zurückweisung des Satzes singulis major, universis minor beitragen mag, so ist die mit dem Satz verbundene Position doch dadurch noch nicht vollständig in Frage gestellt. So ließe sich auch dann, wenn man den Gesellschaftsvertrag in der von Hobbes vorgeschlagenen Weise deutet, immer noch im Sinne der parlamentarischen Theoretiker die Behauptung aufstellen, dass die im wechselseitigen Vertrag der Individuen beschlossene Autorisierung eine lediglich begrenzte Autorisierung sei und sich die Individuen gewisse Rechte von vornherein zurückbehielten. Die Gefahr, die sich im Hinblick auf die Hobbes’sche Folgerung der absoluten Souveränität mit dieser Behauptung verbindet, erscheint nicht zuletzt deshalb als sehr real, weil Hobbes im Rahmen seiner allgemeinen Ausführungen des sechzehnten Kapitels selbst zugesteht, dass die Befugnisse eines Repräsentanten von den ihn autorisierenden Individuen durchaus in diesem Sinne beschränkt werden können. And because the Multitude naturally is not One, but Many; they cannot be understood for one; but many Authors, of every thing their Representative saith, or doth in their name; Every man giving their common Representer, Authority from himselfe in particular; and owning all the actions the Representer doth, in case they give him Author-

_____________ 70

EL: 93.

8.4 Die englische Fassung des Leviathan

547

ity without stint: Otherwise, when they limit him in what, and how farre he shall represent them, none of them owneth more, than they gave him commission to Act.71

Zur Begründung der Notwendigkeit absoluter Souveränität und zur Zurückweisung der Lehren der parlamentarischen Theoretiker ist daher neben der oben beschriebenen Deutung des Gesellschaftsvertrages, in dem die vertragliche Einigung der Menschen, ihre Umwandlung in eine juristische Person und die Autorisierung des staatlichen Herrschers in einem Akt gebündelt werden, eine zweite Strategie nötig. Diese Strategie, die freilich auch in den beiden früheren Werken anzutreffen ist, besteht in dem Versuch zu beweisen, dass die Autorisierung des staatlichen Herrschers aus sachlichen Gründen eine unbedingte und zeitlich unbegrenzte sein muss, da nur so der Zweck, der sich mit der Einrichtung einer souveränen Macht verbindet, nämlich die dauerhafte Aufrechterhaltung des Friedens und die dauerhafte Sicherung des Lebens der Untertanen, faktisch erreicht werden kann. Auf die entsprechenden Ausführungen, die sowohl das achtzehnte als auch das neunzehnte Kapitel durchziehen, muss an der vorliegenden Stelle aber nicht weiter eingegangen werden, da sie die Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und der Repräsentation nicht weiter zu erhellen vermögen. Blickt man auf die obigen Ausführungen zurück, dann lässt sich abschließend festhalten, dass die Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und der Repräsentation der Hobbes’schen Darstellung zu größerer Konsistenz verhilft und dass sie darüber hinaus die Zurückweisung der Position, nach der die späteren Untertanen schon vor der Ernennung eines aristokratischen oder monarchischen Herrschers eine Körperschaft bilden, die als eigentlicher Träger der Souveränität anzusehen ist, spürbar erleichtert. Dies liegt vor allem an der Art und Weise, in der Hobbes die Konzepte mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrages verschränkt, um aus den Akten der Gründung einer politischen Gemeinschaft und der Ermächtigung eines staatlichen Herrschers, die in den Elements und zum Teil auch noch in De Cive als voneinander getrennt und aufeinander aufbauend beschrieben worden waren, einen einzigen Akt zu machen. Problematisch ist an der Hobbes’schen Darstellung allerdings, dass der Begriff der Autorisierung weitgehend auf der metaphorischen Ebene verbleibt und sein genauer rechtlicher Status nicht weiter bestimmt wird. Dies führt unter anderem dazu, dass im englischen Leviathan nicht deutlich wird, ob die Autorisierung des staatlichen Herrschers neben der vertraglichen Pflicht gegenüber allen anderen Bürgern als Vertragspartnern auch eine direkte Pflicht der Bürger gegenüber dem sie repräsentierenden Herrscher generiert.

_____________ 71

EL: 82.

548

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

8.5 Die lateinische Fassung des Leviathan 8.5.1 Zu den Problemen naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse Die Argumentation des lateinischen Leviathan kann abschließend in besonderer Kürze abgehandelt werden, da sie kaum in bedeutsamer Weise von der englischen Fassung abweicht. Schon die Ausführungen zu den naturzuständlichen Verteidigungsbündnissen folgen konsequent dem englischen Text, und Ähnliches trifft auch auf die anschließende Beschreibung des Gesellschaftsvertrages und des Aktes der Ermächtigung des staatlichen Herrschers zu. Wie im englischen Leviathan stellt Hobbes an den Anfang des siebzehnten Kapitels zunächst eine allgemeinere Zusammenfassung der Gründe und Motive, die die Menschen zur Gründung staatlicher Gemeinschaften und zur Übernahme der damit verbundenen Freiheitsbeschränkungen bewegen,72 um dann das damit vorweggenommene Fazit, dass der Naturzustand verlassen werden muss, mit seiner Erörterung der Probleme naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse noch einmal eingehender zu entwickeln. Die betreffende Erörterung geht dabei einmal mehr von der Tatsache aus, dass im Naturzustand keine allgemeine Befolgung der natürlichen Gesetze erwartet werden kann und jedes Individuum sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gegen Feindseligkeiten verteidigen muss, zu welchen Möglichkeiten neben der individuellen Anwendung präventiver Gewalt prinzipiell auch der Zusammenschluss mit anderen gehört. Dass die zuletzt genannte Möglichkeit jedoch zum Scheitern verurteilt ist und dauerhafte Sicherheit nur durch die Schaffung einer übergeordneten Macht erlangt werden kann, zeigt Hobbes mit Hilfe der gleichen argumentativen Schritte, auf die er auch im englischen Leviathan zurückgegriffen hat, wobei er auch sprachlich kaum von seinen früheren Ausführungen abweicht. So betont er zunächst, dass ein Verteidigungsbündnis seine Funktion nur zu erfüllen vermöge, wenn es eine beträchtliche Größe besitze („Neque securitatem quam quaerunt praestare potest paucorum hominum inter se conspiratio, quia in parvis numeris parva Sociorum accessio ad certam victoriam, animosque addit aggressoribus.“); so fügt er hinzu, dass auch ein großes Bündnis nur dann von Erfolg gekrönt sein werde, wenn die darin verbundenen Individuen sich einig seien („Sit autem multitudo quantacunque, si tamen actiones eorum Iudiciis & Arbitriis multorum gubernentur, nullam inde expectare possunt securitatem“), wobei er wie in der englischen Fassung sowohl auf die Schwächung verweist, die eine entsprechende Uneinigkeit im Hinblick auf einen äußeren Feind darstellt, als auch auf die gewaltsamen Streitigkeiten, in denen die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Bündnisses resultieren können _____________ 72

Vgl. LL: 83.

8.5 Die lateinische Fassung des Leviathan

549

(„Vnde non modo à communi hoste facile superantur, sed etiam de commodis propriis inter se Bello certaturi sunt.“); und so setzt er sich drittens noch einmal ausführlicher mit der Frage auseinander, ob nicht auch eine bloß zeitweilige Übereinstimmung der Meinungen und Willen der Bündnispartner für den Zweck der Sicherheit ausreichend sein könnte („Neque ad securitatem (quam perpetuam esse volunt) sufficit, ut gubernentur pro certo tantùm & determinato tempore, ut in uno praelio, vel Bello uno.“73). Im Anschluss an die eingehende Entgegensetzung von Menschen und staatenbildenden Tieren, die ebenfalls durch keine nennenswerten Überarbeitungen des englischen Textes gekennzeichnet ist, folgert Hobbes daher erneut, dass eine allgemeine Macht, die von allen Individuen gleichermaßen gefürchtet wird, vonnöten ist, um in einer großen Gruppe von Menschen Einigkeit zu stiften und die Handlungen der Einzelnen dauerhaft auf das allgemeine Wohl auszurichten.74 Der Akt, mit dem eine solche allgemeine Macht errichtet wird, wird schließlich wie in der englischen Fassung als ein Akt der Autorisierung präsentiert, im Zuge dessen einem Menschen oder einer Versammlung das Recht und die Aufgabe übertragen werden, jedes einzelne Individuum zu repräsentieren, und mit dem die verschiedenen Willen der Individuen in der Person des Herrschers zu einem Willen zusammengeführt werden. Communem autem Potentiam constituendi, [...] unica via haec est, ut Potentiam & Vim suam omnem in hominem vel hominum Coetum unum unusquisque transferat, unde voluntates omnium ad unicam reducantur, id est, ut unus homo vel coetus unus Personam gerat uniuscujusque hominis singularis; utque unusquisque authorem se esse fateatur actionum omnium quas egerit Persona illa, eiusque voluntati & judicio voluntatem suam submittat.75

8.5.2 Der Ausgang aus dem Naturzustand Wie oben vorweggenommen, ist neben der Erörterung der Probleme naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse und der Folgerung der Notwendigkeit einer allgemeinen Zwangsgewalt auch die eingehendere Beschreibung des Gesellschaftsvertrages und des Aktes der Autorisierung von lediglich unwesentlichen Abweichungen gegenüber dem englischen Text gekennzeichnet. Die Aussagen in Kapitel XVI, die die betreffenden Ausführungen vorbereiten, weisen zwar einige Änderungen auf, was beispielsweise auf die anfängliche Definition des Begriffs der Person (‚persona‘) und die später folgende _____________ 73 74 75

Alles: LL: 84. Vgl. LL: 85. LL: 85.

550

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

Erörterung des Begriffes ‚multitudo‘ zutrifft.76 Die Überarbeitungen sind aber zumeist rein sprachlicher Natur, und dies trifft auch auf diejenigen Änderungen zu, die Hobbes an den relevanten Ausführungen der Kapitel XVIII und XIX vornimmt. Hinzu kommt, dass die eigentlich entscheidende Passage, nämlich die auf den zuletzt zitierten Abschnitt des siebzehnten Kapitels folgende Passage, die die Deutung des Gesellschaftsvertrages und des Aktes der Ermächtigung des staatlichen Herrschers enthält und direkt in die Definition des Begriffes ‚civitas‘ übergeht, nicht einmal in sprachlicher Hinsicht eine wirkliche Überarbeitung erfahren hat, sieht man einmal von der unerheblichen Tatsache ab, dass Hobbes an zwei Stellen das englische Verb ‚to authorise‘ durch das lateinische Substantiv ‚authoritas‘ ersetzt. Est autem hoc aliquid amplius quam consensio aut concordia. Est enim in Personam unam vera omnium Unio; quod fit per pactum uniuscuiusque cum unoquoque; tanquam si unicuique unusquisque diceret, Ego huic homini (vel huic coetui) Authoritatem & Ius meum regendi meipsum concedo, ea conditione, ut tu quoque tuam Authoritatem & Ius tuum tui regendi in eundem transferas. Quo facto, Multitudo illa una Persona est, & vocatur Civitas et Respublica. Atque haec est Generatio magni illius Leviathan, vel (ut digniùs loquar) Mortalis Dei; cui Pacem & Protectionem sub Deo Immortali debemus omnem. Authoritate enim tanta ab omnibus & singulis collata, tantam Potentiam & tantarum Virium usum habet, ut terrore earum voluntas omnium ad Pacem inter se, & ad conjunctionem contra hostes conformare possit. In quo constitit essentia Civitatis, quae sic Definitur. Civitas Persona una est, cujus Actionum, homines magno numero, per Pacta mutua uniuscujusque cum unoquoque fecerunt se Authores; eo fine, ut Potentia omnium arbitrio suo ad Pacem & Communem Defensionem uteretur.77

Im Hinblick auf die Frage, auf welche Weise der Ausgang aus dem Naturzustand letztlich vollzogen wird, stimmt die Position des lateinischen Leviathan daher in allen wesentlichen Punkten mit der Position des englischen Leviathan überein. Hobbes macht nicht nur in gleichem Umfang von den neuen Konzepten der Autorisierung und der Repräsentation Gebrauch, sondern er setzt sie auch in der gleichen Weise ein, indem er nämlich den Gesellschaftsvertrag als Vertrag eines jeden Individuums mit dem jeweils anderen begreift und das Konzept der Autorisierung und Repräsentation dadurch mit dem Vertragskonzept verschränkt, dass er die Ermächtigung des staatlichen Herrschers zur zentralen inhaltlichen Bestimmung des Gesellschaftsvertrages macht. Wie im englischen Leviathan, und anders als in den Elements und in De Cive, fallen damit die beiden Akte des vertraglichen Zusammenschlusses der Individuen zu einer Körperschaft und der Ermächtigung des politischen Herrschers im lateinischen Leviathan in ein- und denselben Akt zusammen. Entsprechend gibt es für Hobbes auch im lateinischen Leviathan keinen Grund, eine logische _____________ 76 77

Vgl. dazu LL: 79 und 81. LL: 85f.

8.6 Zusammenfassung

551

oder zeitliche Priorität der Demokratie anzuerkennen, und auch die oben beschriebenen Versuche, die Position der parlamentarischen Theoretiker in etwas direkterer Form zurückweisen, finden sich in nahezu unveränderter Form im lateinischen Text, wenn auch die Kritik der Wendung singulis major, universis minor von Hobbes sprachlich etwas anders gefasst wird.78

8.6 Zusammenfassung Die eingehende Untersuchung der abschließenden Naturzustandskapitel der vier Hobbes’schen Schriften hat die in der Einleitung vorweggenommene Einschätzung bestätigt, nach der die Erörterung naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse, mit der das Hobbes’sche Naturzustandsargument seinen Abschluss findet, zwischen 1640 und 1668 keine nennenswerte Entwicklung erfährt und auch für sich genommen durch keine nennenswerten Unklarheiten gekennzeichnet ist. Um die Strategie des vertraglichen Zusammenschlusses zu einem Verteidigungsbündnis zurückzuweisen bzw. sie als ungenügend auszuweisen, wendet Hobbes in allen vier Werken dasselbe dreischrittige Argument an. So betont er zunächst, dass ein Verteidigungsbündnis, um seinen Zweck zu erfüllen, eine gewisse Größe besitzen muss und dass die Absichten und Handlungen der Mitglieder dauerhaft in Einklang miteinander stehen müssen, um dann in einem dritten Schritt zu zeigen, dass beide Bedingungen praktisch nicht miteinander vereinbar sind, weil gerade in einer zahlenmäßig großen Vereinigung die Chancen auf eine dauerhafte Einigkeit zwischen den Mitgliedern sinken und die Gefahr eines Entstehens gewaltsamer Streitigkeiten innerhalb des Bündnisses steigen werden. Zudem liefert dieses Argument in allen vier Werken in gleicher Weise die Basis für die Folgerung der Notwendigkeit einer allgemeinen Zwangsgewalt, die mit der Folgerung der Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand als dem Zustand ohne eine solche Gewalt und ohne eine politische Ordnung inhaltlich zusammenfällt. Die eigentliche Entwicklung, die sich am abschließenden Naturzustandskapitel nachweisen lässt, vollzieht sich demgegenüber in der zweiten Hälfte des Kapitels, in dem die Einrichtung der souveränen Zwangsgewalt unter Rückgriff auf die Figur des Vertrages eingehender beschrieben wird. Diese Entwicklung geht zu weiten Teilen auf die explizite Einbeziehung der Begriffe der Autorisierung und der Repräsentation zurück, die die Argumentation sowohl des englischen wie auch des lateinischen Leviathan nachhaltig prägt. Unsere eingehende Betrachtung der Hobbes’schen Ausführungen bestätigt neben der fundamentalen Bedeutung der entsprechenden Konzepte für den _____________ 78

Vgl. dazu LL: 91.

552

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

englischen und den lateinischen Text des Leviathan allerdings auch die von Hood, Pitkin und Skinner einhellig vorgenommene Einschätzung, nach der beide Konzepte in den beiden früheren Werken nicht vollständig fehlen, sondern sich hie und da bereits Anklänge an die später präsentierte Deutung der Ermächtigung des politischen Herrschers finden.79 So kann von derjenigen Passage des neunzehnten Kapitels der Elements, in der die Herstellung der notwendigen Einheit der Individuen mit Hilfe der Wendung „involving or including the wills of many in the will of one man“80 beschrieben wird, sicherlich gesagt werden, dass sie in gewisser Weise bereits vom Gedanken der Repräsentation geformt ist,81 und auch die verstärkte Einbeziehung des Personenbegriffs in De Cive lässt sich als Vorbote der dann im englischen Leviathan umgesetzten Einbeziehung des diesbezüglichen Konzeptes lesen.82 Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass sich erst in und mit der Darstellung des englischen Leviathan der entscheidende Umbau der Hobbes’schen Argumentation vollzieht, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Konzepte der Repräsentation und der Autorisierung hier erstmals sichtbar in den Mittelpunkt gerückt und terminologisch expliziert werden. Die Gründe, die Hobbes zu dem diesbezüglichen Umbau seiner Argumentation veranlasst haben dürften, sind meines Erachtens zweierlei Natur. Auf der einen Seite finden sich eine Reihe von Indizien, die die Lesart Skinners stützen und die Einarbeitung der Konzepte der Autorisierung und Repräsentation als eine Folge der politischen Debatten der 1640er erscheinen lassen. Schon die Fußnote im sechsten Kapitel von De Cive, in der Hobbes seiner Unterscheidung zwischen einer bloßen Menschenmenge und einem Volk zusätzlichen Nachdruck verleiht und die sich erst in der zweiten Auflage des Textes von 1647 findet, spricht für einen derartigen Einfluss der Positionen parlamentarischer Theoretiker. Im englischen Leviathan lassen sich dann sowohl der explizite Rückgriff auf die Begriffe der Autorisierung und der Repräsentation selbst als auch die Art und Weise, in der die Begriffe genutzt werden, um das Hobbes’sche Argument in eine bestimmte Richtung zu ent_____________ 79 80 81

82

Vgl. Hood 1964: 150f.; Pitkin 1993b: 469f.; und Skinner 2005: 181. E: 103. Vgl. auch E: 124f.; und 179. Vgl. zudem die in Kapitel 6.2.3 zitierte Gleichsetzung von ‚conscience‘ und ‚judgement‘, im Zuge derer Hobbes den Unterwerfungsvertrag zum Anlass nimmt, um das Urteil des staatlichen Souveräns als Urteil des Untertans zu präsentieren, und damit seinem späteren Rückgriff auf die Konzepte der Autorisierung und Repräsentation inhaltlich ausgesprochen nahe kommt („For the conscience being nothing else but a man’s settled judgment and opinion, and when he hath once transferred his right of judging to another, that which shall be commanded, is no less his judgment, than the judgment of that other; so that in obedience to laws, a man doth still according to his conscience, but not his private conscience.“, E: 157). Vgl. vor allem DC: 134. Vgl. daneben auch DC: 190, wo Hobbes die Aussage trifft, der Herrscher eines monarchischen Staates ‚sei‘ das Volk („Et in Monarchia, subditi sunt multitudo, & (quamquam paradoxum sit) Rex est populus.“)

8.6 Zusammenfassung

553

wickeln und zu stärken, als auch die ausdrückliche Zurückweisung des Satzes singulis major, universis minor als Belege dafür lesen, dass hinter den Formulierungen des siebzehnten Kapitels eine verstärkte Auseinandersetzung mit den von Parker und anderen Autoren entwickelten Argumenten steht. Auf der anderen Seite finden sich aber auch Indizien, die die Lesart Gauthiers, nach der die Konzepte der Autorisierung und Repräsentation die Funktion erfüllen, interne Probleme der Hobbes’schen Theorie aufzulösen, nicht ganz so spekulativ erscheinen lassen, wie Skinner sie darstellt. Die Analyse der Texte der Elements und von De Cive zeigt, dass Hobbes in beiden Schriften noch keine wirklich konsistente und klare Position bezüglich des Gesellschaftsvertrages, der damit generierten Pflichten und des Verhältnisses von Staatsgründung einerseits und Ermächtigung von Herrschaft andererseits hat. Diese Klarheit erlangt die Hobbes’sche Darstellung im Zuge der expliziten Einbeziehung der Konzepte der Repräsentation und Autorisierung im englischen Leviathan, wenn dabei auch die Konzepte nicht allein für die betreffende Stärkung der Hobbes’schen Position verantwortlich sein mögen, sondern es letztlich die spezifische Verschränkung der Konzepte mit dem Vertragskonzept ist, die es Hobbes erlaubt, einige der Schwächen seiner früheren Argumentation zu beseitigen. Es liegt daher durchaus nahe, in diesen innertheoretischen Problemen einen zweiten, nicht historisch-politischen Grund für Hobbes verstärkten Rückgriff auf die Konzepte der Repräsentation und Autorisierung zu sehen, und diese innertheoretischen Schwierigkeiten werden im englischen Leviathan auch insofern gelöst, als die Konzepte der Repräsentation und Autorisierung den theoretischen Hintergrund bilden, vor dem das Zugeständnis der logischen und zeitlichen Priorität der Demokratie, das Hobbes in den Elements keineswegs vollkommen zufällig macht, sondern das von seiner dortigen Position durchaus nahegelegt wird, leicht aufgegeben bzw. verweigert werden kann. Die Frage, die nach der Einbeziehung der beiden Konzepte und dem damit verbundenen Umbau der Hobbes’schen Argumentation noch offen bleibt, ist die Frage nach dem genauen rechtlichen Status des Autorisierungsaktes und nach dem dadurch generierten rechtlichen Verhältnis von Autor und Repräsentant. Hobbes setzt sich mit dieser Frage insgesamt zu wenig auseinander, und sein diesbezügliches Schweigen stellt einen der Schwachpunkte der Darstellung des englischen und des lateinischen Leviathan dar. Andere mögliche Schwachpunkte sind etwa in der Behauptung zu sehen, dass die souveräne Gewalt absolut sein muss, damit das Ziel der dauerhaften Sicherheit erreicht werden kann, sowie in der fehlenden Trennung zwischen der natürlichen Person und der künstlichen Person des Herrschers. Diese möglichen Schwächen der Hobbes’schen Deutung des Gesellschaftsvertrages und seiner Beschreibung der durch diesen Vertrag generierten Herrschaftsrechte können an dieser Stelle nicht eingehender diskutiert werden. Es sind aber

554

8. Die Notwendigkeit des Ausgangs aus dem Naturzustand

nicht zuletzt diese Punkte, die neben der Hobbes’schen Charakterisierung des Naturzustandes als eines ‚Krieges aller gegen alle‘ in der Vergangenheit die Anknüpfungspunkte der Hobbes-Kritik gebildet haben.

9. Schlussbetrachtung Die vergleichende Analyse der Schriften The Elements of Law und De Cive sowie der englischen und der lateinischen Fassung des Leviathan hat die Sichtweise, dass die verschiedenen Versionen der politischen Theorie des Thomas Hobbes in signifikanter Weise voneinander abweichen, eindrucksvoll bestätigt. Sie hat aufgezeigt, dass Hobbes neben den von anderen Autoren bereits hinlänglich untersuchten Elementen seiner politischen Theorie auch das zentrale Element dieser Theorie, nämlich die Darstellung des menschlichen Naturzustandes, zwischen 1640 und 1668 vielfältigen Überarbeitungen unterzieht, die eine beträchtliche Auswirkung auf die von Hobbes vertretenen Positionen und auf den Gang des übergeordneten philosophischen Argumentes haben. Darüber hinaus hat unsere Untersuchung auch eine Bestätigung der anfangs geäußerten Hoffnung erbracht, dass der eingehende Vergleich der vier Schriften eine differenzierte Betrachtung der zentralen Debatten der HobbesForschung ermöglichen und in einzelnen Fällen sogar einen wichtigen Beitrag zur Lösung der betreffenden Debatten liefern kann. Zu den Fragestellungen, die im Lichte unserer Ergebnisse einer differenzierten Beantwortung zugeführt werden können, gehört die stark diskutierte Frage, auf welche Konfliktursachen Hobbes den naturzuständlichen ‚Krieg aller gegen alle‘ zurückführt und von welchen eingestandenen und uneingestandenen Voraussetzung seine diesbezügliche Argumentation abhängig ist. Der eingehende Vergleich der vier Schriften zeigt – in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der schon von McNeilly und Wolf entwickelten Deutung und in Widerspruch zu der kürzlich noch von Esfeld vertretenen und auch von Slomp angedeuteten Gegenposition –, dass die Frage, ob Hobbes den naturzuständlichen Kriegszustand auf menschliche Irrationalität und kontingente menschliche Leidenschaften zurückführt oder lediglich auf das rationale Streben der Individuen nach Selbsterhaltung, mit Blick auf die verschiedenen Fassungen der Naturzustandstheorie unterschiedliche Antworten erfordert. Während die Herleitung des Kriegszustandes in den beiden früheren Werken, also in den Elements of Law und in De Cive, logisch von der Tatsache abhängig ist, dass zumindest einige Individuen in unvernünftiger Weise agieren und in ihren Handlungen über die Anforderungen der Selbsterhaltung hinausgehen werden, ist die Argumentation sowohl des englischen als auch des lateinischen Leviathan von dem starken Bemühen geprägt, die Begründung des ‚Krieges aller gegen alle‘ von der Voraussetzung menschlicher Irrationalität zu lösen

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9. Schlussbetrachtung

und den allgemeinen Kriegszustand schon aus dem natürlichen und notwendigen Streben der Menschen nach Selbsterhaltung zu entwickeln. Die detaillierte Bestätigung und Beschreibung dieser Akzentverschiebung innerhalb der Hobbes’schen Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ ermöglicht gleichzeitig eine fundierte und differenzierte Antwort auf die Frage, inwiefern die Hobbes’sche Argumentation von der Voraussetzung der Güterknappheit abhängig ist, eine Frage, die im Rahmen der Debatte um den Hobbes’schen Naturzustand immer wieder aufgeworfen worden ist, auf die aber weder McNeilly und Wolf gesondert eingehen noch die Autoren, die sich in der Vergangenheit der von Mc Neilly und Wolf vertretenen Deutung der naturzuständlichen Konfliktursachen angeschlossen haben. Die beiden früheren Werke liefern keine ausreichende Grundlage für die Behauptung, die Hobbes’sche Beschreibung des ‚Krieges aller gegen alle‘ setze eine allgemeine Knappheit der Güter voraus. Der naturzuständliche Konflikt wird in beiden Werken in einem beträchtlichen Maße auf das Streben ‚eitler‘ Individuen nach Vorrang vor anderen sowie auf die menschliche Neigung, sich mit dem jeweils anderen zu vergleichen, zurückgeführt, also auf Ursachen, die in keiner Weise auf die Voraussetzung der Güterknappheit angewiesen sind. Wirft aber bereits Hobbes’ Zugeständnis in De Cive, die Konkurrenz um Güter stelle insgesamt die häufigste Konfliktursache dar, die Frage auf, ob die angestrebten Güter überhaupt prinzipiell in einer ausreichenden Anzahl vorhanden wären, so kommt dieser Frage mit Blick auf die Argumentation des englischen wie des lateinischen Leviathan eine absolut zwingende Bedeutung zu, und mit Blick auf beide Texte erfordert die Hobbes’sche Position letztlich die Verneinung der Frage. Indem Hobbes in beiden Fassungen des Leviathan die Konkurrenz um Güter nicht nur als diejenige Konfliktursache präsentiert, die faktisch am häufigsten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen wird, sondern sie sogar als ein Ereignis vorstellt, das sowohl notwendigerweise eintreten wird als auch die Individuen notwendigerweise in gewaltsame Auseinandersetzungen treiben wird – und zwar rationale wie irrationale Individuen gleichermaßen –, weist er der Konkurrenz um Güter nicht nur eine veränderte und entscheidendere Rolle zu, sondern macht in der Tat die Annahme der Güterknappheit zu einer wichtigen Voraussetzung seiner Argumentation. Im Rahmen unserer eingehenden Diskussion des englischen Leviathan ist aber auch gezeigt worden, dass es für Hobbes’ Argument ausreicht, wenn es im Naturzustand nur eine moderate oder partielle Güterknappheit geben wird, und dass sich die betreffende Annahme mit guten Gründen rechtfertigen lässt, vor allem, wenn man den Zeitaspekt in die Analyse mitein- und die Konsequenzen in Betracht zieht, die sich im Hinblick auf Produktion und Sicherung von Gütern aus der Unsicherheit des Naturzustandes nach und nach ergeben müssen.

9. Schlussbetrachtung

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Die eingehende Untersuchung des englischen Leviathan erlaubt auch, eine zweite Kritik zu entkräften, die in der Vergangenheit an Hobbes’ dortiger Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ geübt worden ist, nämlich die Behauptung Hamptons, Hobbes entwickle im englischen Leviathan zwei voneinander unabhängige Begründungen des allgemeinen Kriegszustandes, die aber weder für sich betrachtet zu überzeugen vermöchten noch miteinander vereinbar wären. Zwar kann Hampton insofern Recht gegeben werden, als Hobbes im Leviathan in der Tat, nachdem er den ‚Krieg aller gegen alle‘ zunächst aus dem rationalen Selbsterhaltungsstreben abgeleitet hat, die Nichtbefolgung des natürlichen Gesetze und das daraus resultierende Fortdauern des Krieges wie in den früheren Werken mit den menschlichen Leidenschaften, den divergierenden Urteilen der Individuen und dem ‚eitlen‘ Streben nach Vorrang erklärt. Wenn vor diesem Hintergrund aber zugestanden werden kann, dass Hobbes auch im englischen Leviathan keine direkte und ausschließliche Rückführung der Notwendigkeit des Staates auf das rationale Selbsterhaltungsstreben des Einzelnen gelingt, sondern dass er seinen ‚rationality account of conflict‘ durch einen ‚passions account of conflict‘ ergänzt, so gibt es doch letztlich keine Grundlage für die Behauptung, die beiden argumentativen Strategien stünden in logischem Widerspruch zueinander und die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ als Ganze sei folglich als gescheitert anzusehen. Der Zurückweisung bzw. Relativierung der beiden genannten Kritiken an Hobbes’ Darstellung kommt eine wichtige Bedeutung im Hinblick auf die übergeordnete Frage zu, ob es Hobbes im Zuge des hier beschriebenen Umbaus seiner Herleitung des Kriegszustandes gelingt, seine Argumentation zu stärken und eine insgesamt überzeugende Position zu entwickeln. Die kritische Auseinandersetzung mit der Hobbes’schen Argumentation musste zwar im Rahmen der vorliegenden Arbeit insgesamt gegenüber den Zielen der Interpretation und Rekonstruktion sowie dem Bemühen um einen eingehenden Vergleich der verschiedenen Darstellungen deutlich zurückstehen. Auch so konnte mit Blick auf die Herleitung des Kriegszustandes aber einerseits deutlich gemacht werden, dass die Hobbes’sche Argumentation im Zuge der eingehend beschriebenen Überarbeitungen nachhaltig an Klarheit und Konsistenz gewinnt und dass der überwiegende Teil der Doppeldeutigkeiten und Widersprüche, die den Text der Elements, zum Teil aber auch noch den Text von De Cive prägen, im englischen Leviathan bereinigt ist. Auf der anderen Seite lassen sich auf Grundlage unserer Ergebnisse die beiden zuvor beschriebenen schwerwiegenden Einwände gegen die Kriegsherleitung des Leviathan, nämlich der Vorwurf der Inkonsistenz von ‚passions account‘ und rationality account’ sowie der Vorwurf der unzulässigen Voraussetzung der Güterknappheit, deutlich schwächen. Es gibt daher aus meiner Sicht eine ausreichende Basis, um mit Blick auf die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ die Auffassung zu vertreten, dass der Leviathan insgesamt die reifste Dar-

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9. Schlussbetrachtung

stellung der Hobbes’schen Werke liefert, wobei es keine hinreichenden Indizien gibt, um zwischen der englischen und der lateinischen Fassung weiter zu differenzieren. Die Ergebnisse unserer Analyse der Hobbes’schen Theorie des natürlichen Rechts in Kapitel 5 liefern insofern ebenfalls einen Beitrag zur Lösung der zentralen Streitpunkte der Hobbes-Forschung, als der eingehende Vergleich der Hobbes’schen Werke eine differenzierte Antwort auf die vieldiskutierte Frage nach dem genauen Umfang des ‚Rechts auf alles‘ möglich macht. Die Untersuchung der Hobbes’schen Begründung und Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ zeigt zunächst, dass Hobbes bezüglich der Frage, ob das ‚Recht auf alles‘ faktisch unbegrenzt ist, weder in den Elements noch in De Cive eine eindeutige Position entwickelt, dass aber in beiden Schriften eine Reihe von Äußerungen nahelegen, bestimmte Handlungen seien auch im Naturzustand zu jeder Zeit untersagt. Die Untersuchung des englischen und des lateinischen Leviathan offenbart, dass Hobbes in beiden späteren Schriften jedoch zu einer solchen eindeutigen Position gelangt. Das ‚Recht auf alles‘ des englischen und des lateinischen Leviathan umfasst anders als das ‚Recht auf alles‘ der beiden früheren Schriften eindeutig jede nur denkbare Handlung, die ein vernunftbegabtes Individuum im Naturzustand ausführen wird, und so kann der von einer Reihe von Autoren vertretenen Auffassung, das Hobbes’sche ‚Recht auf alles‘ sei unbegrenzt und als Recht auf alles im Wortsinne anzusehen, die mit Blick auf den Text der Elements und von De Cive als ausgesprochen problematisch erscheinen muss, mit Blick auf die beiden Fassungen des Leviathan durchaus zugestimmt werden. Dass neben der Frage nach den Ursachen des naturzuständlichen ‚Krieges aller gegen alle‘ auch die Frage nach dem Umfang des natürlichen Rechts mit Blick auf die früheren und die späteren Fassungen der Hobbes’schen Theorie eine jeweils unterschiedliche Antwort erfordert, ist darauf zurückzuführen, dass Hobbes in der Zeit nach De Cive seine Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ einer entscheidenden Überarbeitung unterzieht und in den beiden späteren Werken eine deutlich veränderte Begründung dafür liefert, dass das ursprüngliche Recht auf Selbsterhaltung im Naturzustand überhaupt die Form eines ‚Rechts auf alles‘ annimmt. In den Elements und in De Cive rechtfertigt Hobbes das ‚Recht auf alles‘ mit dem Hinweis auf das prinzipielle Recht des Einzelnen, über die Notwendigkeit oder Nützlichkeit etwaiger Mittel der Selbsterhaltung selbst zu urteilen, sowie mit der zusätzlichen Aussage, es könne von keinem Gegenstand ausgeschlossen werden, das ein Individuum ihn subjektiv als in diesem Sinne notwendig oder nützlich erachten werde. In beiden Fassungen des Leviathan begründet Hobbes das ‚Recht auf alles‘ dagegen mit Hilfe der neuen und nicht ganz unproblematischen Behauptung, jedes Gut, das ein Individuum im Naturzustand faktisch begehren werde, vermöge einen objektiven Beitrag zur Erhaltung dieses Individuums zu leisten.

9. Schlussbetrachtung

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Die Tatsache, dass die Unterschiede in Hobbes’ Haltung zur Frage nach dem Umfang des natürlichen ‚Recht auf alles‘ bislang nicht hinreichend gewürdigt worden sind, ist darauf zurückzuführen, dass diese deutliche Akzentverschiebung in Hobbes’ Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ innerhalb der Hobbes-Forschung nicht gesehen worden ist. Das Versäumnis, die unterschiedliche Rechtfertigung des ‚Rechts auf alles‘ als solche zu erkennen und sie angemessen herauszustellen, muss umso mehr erstaunen, als sich der diesbezügliche Umbau der Hobbes’schen Argumentation ausgesprochen sinnvoll zu dem schon von McNeilly und Wolf identifizierten Umbau der Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ in Beziehung setzen lässt. Die beiden Überarbeitungen stehen einerseits in einer gleichsam strategischen Verwandtschaft zueinander, insofern nämlich, als sie beide die Bedeutung falscher individueller Vernunfturteile und daraus resultierender unvernünftiger Handlungsweisen deutlich gegenüber den objektiven Notwendigkeiten des Selbsterhaltungsstrebens zurücktreten lassen und die Hobbes’sche Argumentation zunehmend von der Voraussetzung menschlicher Irrationalität lösen. Auf der anderen Seite stehen die beiden Überarbeitungen aber auch in einem direkten inhaltlichen Zusammenhang, insofern nämlich, als gerade die oben beschriebene Umgestaltung der Herleitung des Kriegszustandes und die fundamentale Behauptung einer unausweichlichen gewaltsamen Konkurrenz um lebenswichtige Güter die Basis liefert, um überhaupt einigermaßen sinnvoll behaupten zu können, jedes Gut, das ein Naturzustandsindividuum faktisch begehre, leiste – in seiner Eigenschaft als gegenwärtiges oder zukünftiges Machtmittel – einen objektiven Beitrag zur Selbsterhaltung. Die eingehende Erörterung der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen, der der insgesamt umfangreichste Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet ist, erweist sich im Hinblick auf die Bewertung der in der Vergangenheit vorgebrachten Hobbes-Deutungen insofern als hilfreich, als sie ein entwicklungsgeschichtliches Argument zur Zurückweisung der ‚TaylorWarrender-These‘ generiert. Unsere Untersuchung zeigt deutlich, dass Hobbes in der Zeit zwischen der Veröffentlichung von De Cive und der Veröffentlichung des englischen Leviathan damit beginnt, die religiösen und theologischen Bezugnahmen, die seine Lehre von den natürlichen Gesetzen in De Cive und zum Teil auch schon in den Elements aufweist, zunehmend zu streichen oder sie zumindest aus dem Bereich der eigentlichen Naturgesetzlehre zu verbannen, und dass er seinen Text um eine Reihe von Passagen ergänzt, die der Deutung, die natürlichen Gesetze seien primär als göttliche Gesetze zu begreifen und leiteten ihre eigentliche Kraft aus dem Ziel der Erlangung des ewigen Lebens her, einen Riegel vorschieben. Der Vergleich der beiden Fassungen des Leviathan offenbart zudem, dass sich diese Tendenz nach der Veröffentlichung des englischen Leviathan weiter fortsetzt. Die bislang nicht in dieser Weise wahrgenommene Tatsache, dass Hobbes die eigentliche Natur-

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9. Schlussbetrachtung

gesetzlehre im lateinischen Leviathan peinlich genau von allen noch im Text verbliebenen direkten religiösen und theologischen Bezugnahmen befreit und auf die Möglichkeit, die natürlichen Gesetze könnten als Befehle Gottes verstanden werden, überhaupt nicht mehr verweist, bestätigt, dass den angedeuteten Unterschieden zwischen der Naturgesetzlehre von De Cive und der des englischen Leviathan ein bewusstes Darstellungsinteresse zugrundeliegt und dass dieses Interesse mit der Fertigstellung des englischen Textes noch nicht vollständig befriedigt war. Die bloße Tatsache, dass Hobbes seine Lehre von den natürlichen Gesetzen nach der Veröffentlichung von De Cive einer bis ins Jahr 1668 reichenden kontinuierlichen Überarbeitung unterzieht, reicht für sich genommen bereits aus, um starke Zweifel an der von Taylor geäußerten Einschätzung aufkommen zu lassen, die Naturgesetzlehre von De Cive zeige den ‚eigentlichen‘, den ‚wahren‘ Hobbes. Hinzu kommt, dass Taylors Behauptung, die Darstellung des Leviathan sei vorrangig von politisch-rhetorischen Erwägungen geprägt, gerade mit Blick auf die hier relevanten Aspekte auf schwachen Füßen steht. Da nicht angezweifelt werden kann, dass die lateinische Edition des Leviathan insgesamt von dem Bestreben beeinflusst ist, die darin entwickelte Theorie als eine Theorie auszuweisen, die mit den Glaubensinhalten des Christentums vereinbar ist und in religiöser Hinsicht als unbedenklich gelten kann, lässt sich die Tatsache, dass Hobbes seine Naturgesetzlehre im lateinischen Leviathan mit keinerlei religiösen und theologischen Bezugnahmen versieht und sich deutlich weniger Mühe als in den früheren Schriften gibt, die natürlichen Gesetze als Gesetze Gottes auszuweisen, kaum mit konkreten politischrhetorischen Erwägungen erklären. Ganz im Gegenteil muss die Tatsache, dass Hobbes sich trotz des drohenden Vorwurfs der Ketzerei weiter darum bemüht, seine Naturgesetzlehre eindeutiger als eine säkulare Lehre zu präsentieren, als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass das Ziel einer säkularen Begründung der Lehre von den natürlichen Gesetzen zu Hobbes’ genuin philosophischen Anliegen zählt. Ein vergleichbares entwicklungsgeschichtliches Argument lässt sich auf der Basis unserer Untersuchung der Hobbes’schen Vertragslehre gegen die zunehmend geäußerte Auffassung formulieren, Hobbes verstehe alle durch vertragliche Vereinbarungen generierten Verpflichtungen als strikt moralische Verpflichtungen, die in ihrer Geltung vom naturgesetzlichen Gebot pacta sunt servanda unabhängig seien. Während sich im Text der Elements noch einige Hinweise für das Interesse finden, eine von der Naturgesetzlehre unabhängige Erläuterung oder Begründung vertraglicher Pflichten zu liefern, die die Verpflichtung zur Vertragserfüllung aus den Begriffen der Überlegung, der Freiheit und des Willens erklärt, treten die diesbezüglichen Aussagen doch schon in De Cive etwas zurück und machen im englischen Leviathan endgültig Platz für solche Ausführungen, in denen die Pflicht zur Vertragserfüllung als eben

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jene prudenzielle Verpflichtung erscheint, die im dritten Naturgesetz ihren Ausdruck findet. Die kürzlich von Harrison geäußerte Einschätzung, der Hobbes’sche Versuch zu einer nicht-prudenziellen Begründung der Verpflichtung zur Vertragserfüllung finde sich in den Elements, in De Cive und im englischen Leviathan in nahezu unveränderter Weise,1 muss vor diesem Hintergrund nachdrücklich zurückgewiesen werden. Dass die mit der unleugbaren geschichtlichen Entwicklung begründete Zurückweisung der deontologischen Deutung der Hobbes’schen Vertragspflichten allerdings mit gewissen Einschränkungen versehen werden muss, liegt daran, dass sich die hier beschriebene Tendenz im lateinischen Leviathan nicht spürbar fortsetzt und dass weder der lateinische noch zuvor der englische Leviathan von deontologischen Anklängen gänzlich frei ist. Zu den bereits von anderen Autoren identifizierten Entwicklungen der Hobbes’schen Naturzustandstheorie, die im Rahmen unserer Analyse eine Bestätigung erfahren haben, zählen die von Hood, Pitkin, Goldsmith, Gauthier und Skinner beschriebene explizite Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und Repräsentation im englischen Leviathan und die sich im selben Werk vollziehende und kürzlich von Foisneau herausgestellte Hinwendung zum Begriff der Gerechtigkeit. Während die Hobbes’sche Erörterung naturzuständlicher Verteidigungsbündnisse, mit der in allen vier Werken das abschließende Naturzustandskapitel einsetzt und in der das eigentliche Naturzustandsargument zu seinem Ende kommt, zwischen 1640 und 1668 keinerlei nennenswerte Entwicklung aufweist, erfährt die anschließende Beschreibung der Einrichtung des Staates und der Einsetzung eines souveränen Herrschers eine signifikante Neugestaltung, die vor allem darin zu Ausdruck kommt, dass Hobbes den Akt der Ermächtigung des souveränen Herrschers im englischen Leviathan als einen Akt der Autorisierung beschreibt und ihn mit dem gesellschaftskonstituierenden Abschluss des Gesellschaftsvertrages untrennbar verknüpft. Da die betreffenden Erörterungen aber nicht mehr im strengen Sinne als Teil der Naturzustandstheorie gelten können, wurde die Bedeutung, die Hobbes den Konzepten der Repräsentation und Autorisierung in seinen späteren Werken zuweist, sowie die Auswirkungen, die sich aus der Einbeziehung der beiden Konzepte insgesamt ergeben, im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur ansatzweise untersucht. Auch so konnte aber gezeigt werden, dass die Hobbes’sche Position im Zuge der Einbeziehung der beiden Konzepte deutlich an Klarheit gewinnt und dass Hobbes’ Entscheidung, den Konzepten im englischen sowie dann auch im lateinischen Leviathan eine wichtige Stellung einzuräumen, sowohl auf historisch-politische Ursachen als auch auf innertheoretische Schwierigkeiten der früheren Darstellungen zurückzuführen sein dürfte. _____________ 1

Vgl. Harrison 2003: 114.

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Die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung Foisneaus erfährt insofern eine prinzipielle Bestätigung, als unsere Erörterung der Hobbes’schen Vertragslehre zeigt, dass Hobbes im englischen Leviathan dem Begriff der Gerechtigkeit (‚injustice‘) und der scholastischen Gerechtigkeitsdefinition suum cuique tribuere in der Tat einen deutlich größeren Stellenwert einräumt als in den beiden früheren Fassungen seiner Theorie, in denen er die Verletzung gültiger Verträge nicht mit den Begriffen ‚injustice‘ bzw. ‚injustitia‘, sondern ausschließlich mit den Begriffen ‚injury‘ bzw. ‚injuria‘ bezeichnet und in denen er gänzlich darauf verzichtet, einen Bezug zwischen der Pflicht zur Vertragserfüllung und der scholastischen Gerechtigkeitsdefinition herzustellen. Die eingehende Analyse der Hobbes’schen Ausführungen zu Unrecht und Ungerechtigkeit offenbart aber auch, dass Foisneaus Darstellung um einige Hinweise ergänzt zu werden verdient, und zwar keineswegs nur um die Anmerkung, dass die von Foisneau beschriebene terminologische Umgestaltung der Hobbes’schen Argumentation im lateinischen Leviathan noch konsequenter umgesetzt wird. So zeigt die Untersuchung des Textes von De Cive, dass Hobbes’ dortiger Gebrauch des Begriffes ‚injustitia‘ wichtige Differenzen zu der von Foisneau zugrundegelegten Begriffsverwendung des englischen Leviathan aufweist und dass er darüber hinaus in einer gewissen Spannung zur Hobbes’schen Unterscheidung zwischen der Ungerechtigkeit von Handlungen und der Ungerechtigkeit von Personen steht; so zeigt die Untersuchung des englischen Leviathan, dass Hobbes neben dem Begriff der Gerechtigkeit auch die zuletzt genannte Unterscheidung einer inhaltlichen Überarbeitung unterzieht, durch die die Spannungen zwischen den jeweiligen Ausführungen weitgehend vermieden werden, durch die aber zugleich die Frage aufgeworfen wird, mit welchem Begriff der aktive Verstoß gegen die natürlichen Gesetze bezeichnet werden kann; und so zeigt die Untersuchung des lateinischen Leviathan, dass Hobbes diese Rolle endgültig dem schon in einigen Passagen des englischen Textes verwendeten Begriff ‚iniquity‘ bzw. ‚iniquitas‘ zuweist, den er erstmals explizit definiert und von den Begriffen ‚injury‘ und ‚injustice‘ bzw. ‚injuria‘ und ‚injustitia‘ abgrenzt. Wenn unsere Analyse der vier Schriften aber auch eine Vielzahl signifikanter Überarbeitungen der Hobbes’schen Argumentation offenbart hat und dabei einige der in der Vergangenheit vorgebrachten entwicklungsgeschichtlichen Deutungen der Hobbes’schen Theorie eine gewisse Bestätigung erfahren haben, so besteht ein ebenso wichtiges Ergebnis unserer Untersuchung doch in der Einsicht, dass die Hobbes’sche Argumentation in vielerlei Hinsicht konstant bleibt und viele der von anderen Autoren vorgebrachten oder oftmals auch nur angedeuteten entwicklungsgeschichtlichen Interpretationen nicht zu überzeugen vermögen. Die erste diesbezügliche Interpretation, die vor dem Hintergrund unserer Analyse als irreführend zurückgewiesen werden muss, ist die von Tricaud vertretene Auffassung, das theoretische Konzept

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des Naturzustandes erfahre zwischen 1642 und 1651 eine neue Ausrichtung, sowie die von uns selbst provisorisch geäußerte Vermutung, der Wechsel in der terminologischen Beschreibung des natürlichen Zustandes, nämlich der relativ konsequente Wechsel von den Begriffen ‚estate‘, ‚state‘ und ‚status‘ zu den Begriffen ‚condition‘ und ‚conditio‘, könne gegebenenfalls mit einer solchen inhaltlichen Neugestaltung des Naturzustandskonzepts in Zusammenhang stehen. Zwar bleibt die Frage nach den konstitutiven Merkmalen des Hobbes’schen Naturzustandes auch nach dem eingehenden Vergleich der Schriften insofern schwierig zu beantworten, als die Existenz sozialer und vertraglicher Gemeinschaften von Hobbes einerseits für den Naturzustand zugestanden wird, sie seinem Konzept des Naturzustandes aber andererseits zu widersprechen scheint. Es kann aber kein Zweifel bestehen, dass das grundlegende Konzept des Naturzustandes als eines Zustandes ohne eine allgemeine politische Zwangsgewalt, ohne positive Gesetze und ohne unabhängige Richter zwischen 1640 und 1668 unverändert bleibt und dass sich die angesprochenen Probleme, da sie eng mit dem in allen vier Schriften behaupteten natürlichen ‚Recht aller auf alles‘ verbunden sind, mit Blick auf alle vier Werke in gleicher Weise stellen. Die einzige nennenswerte Akzentverschiebung in Hobbes’ Handhabung des Naturzustandskonzeptes besteht darin, dass Hobbes die Tatsache, dass der Naturzustand auch historische Realität abbildet, im Anschluss an die Veröffentlichung der Elements of Law zunehmend stärker hervorhebt. Die diesbezüglichen Ausführungen liefern aber keinen ausreichenden Grund für die Annahme, Hobbes habe zur Zeit der späteren Schriften den theoretischen Status des Naturzustandes prinzipiell anders begriffen, sondern können lediglich als Indiz dafür gelten, dass Hobbes der Frage nach der Historizität des Naturzustandes sowie der übergeordneten Frage nach dem Status dieses Zustandes mehr Beachtung geschenkt hat. Der Wechsel in der terminologischen Beschreibung des Naturzustandes hängt folglich nicht mit einer inhaltlichen Neugestaltung des Naturzustandskonzeptes zusammen, sondern dürfte auf historisch-politische bzw. rhetorische Absichten zurückzuführen sein, so etwa auf Hobbes’ unleugbares Anliegen, die Naturzustandsindividuen als bloße Menschenmenge und nicht als eine Art Volksgemeinschaft und juristische Körperschaft zu präsentieren, um auf diese Weise der Folgerung, die Gemeinschaft der Naturzustandsindividuen sei als ursprünglicher und eigentlicher Inhaber der staatlichen Souveränität anzusehen, einen Riegel vorzuschieben. Dass einige der in der Vergangenheit entwickelten evolutionären Deutungen nicht in den Hobbes’schen Texten fundiert sind, zeigt sich auch an unserer Erörterung des Hobbes’schen Naturrechts. Die Analyse der Begründung des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung und der Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ sowie des Hobbes’schen Freiheitsbegriffes und der Begriffe der Vernunft und der Überlegung macht deutlich, dass es sich beim natürlichen

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Recht auf Selbsterhaltung in allen vier Schriften grundsätzlich um ein Freiheitsrecht im Sinne einer Freiheit von moralisch-rechtlicher Verpflichtung handelt, das aus der Vernünftigkeit und Notwendigkeit des natürlichen Strebens nach Erhaltung des eigenen Lebens und des eigenen Körpers abgeleitet wird; das das Recht auf die zur Erlangung des betreffenden Zweckes erforderlichen Mittel sowie das Recht impliziert, diese erforderlichen Mittel selbst zu bestimmen; und das im Naturzustand unweigerlich die Form eines ‚Recht auf alles‘ annimmt. Die vier Schriften weichen zwar insofern voneinander ab, als Hobbes das ursprüngliche Recht auf Selbsterhaltung in den beiden Fassungen des Leviathan nicht so dezidiert rechtfertigt wie noch in den Elements und in De Cive und – wie gesehen – eine deutlich andere Begründung dafür liefert, dass das Recht auf Selbsterhaltung zu einem ‚Recht auf alles‘ wird. Die Hobbes’sche Argumentation ist auch insofern von gewissen Überarbeitungen gekennzeichnet, als Hobbes einige wichtige Änderungen an seiner Erörterung des Freiheitsbegriffes vornimmt. Die Veränderungen innerhalb der Freiheitsdiskussion sind im Hinblick auf die Naturrechtslehre aber deshalb nicht von Belang, weil sie nicht den moralisch-rechtlichen Begriff von Freiheit betreffen, an dem Hobbes in allen Schriften prinzipiell festhält und der auch in allen vier Schriften den Hintergrund für die Gleichsetzung der Begriffe ‚natural right‘ und ‚natural liberty‘ liefert. Dass Hobbes in beiden Fassungen des Leviathan darauf verzichtet, das natürliche Recht auf Selbsterhaltung eingehend zu begründen, zieht zudem deshalb keine signifikante Veränderung der Naturrechtstheorie nach sich, weil Hobbes an den Begriffen und Positionen, die der Begründung des Rechts auf Selbsterhaltung in den Elements und in De Cive zugrundeliegen, im englischen und lateinischen Leviathan festhält, so dass die fehlende Begründung des natürlichen Rechts in einer Weise rekonstruiert werden kann, die mit der früheren expliziten Darstellung inhaltlich übereinstimmt. Die verschiedentlich geäußerte Sichtweise, dem natürlichen Recht des Leviathan komme prinzipiell ein anderer Status zu als dem natürlichen Recht der beiden früheren Werke, muss daher zurückgewiesen werden, und an dieser Tatsache ändert auch die veränderte Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ nichts. Dass der genaue Umfang des ‚Recht auf alles‘ von Hobbes im Leviathan anders bestimmt wird als in den Elements und in De Cive liegt nicht daran, dass, wie etwa von Ludwig behauptet, im Leviathan die grundsätzliche Bindung des natürlichen Rechts an die Vernunft und an den Zweck der Selbsterhaltung aufgegeben würde. Wie unsere Analyse zeigt, handelt es sich auch beim ‚Recht auf alles‘ des Leviathan um ein Recht, das von Randbedingungen abhängig ist und zunächst nur ein Recht auf Selbsterhaltung bezeichnet. Dass es, anders als das ‚Recht auf alles‘ der beiden früheren Schriften, letztlich alle Handlungen legitimiert, die die Naturzustandsindividuen ausführen, hat sei-

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nen Grund allein darin, dass Hobbes im Rahmen seiner Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ diese Randbedingungen anders bestimmt. Eine zweite Interpretation der Hobbes’schen Naturrechtslehre, in der eine entwicklungsgeschichtliche These zumindest angedeutet wird, stellt die rechtstheoretische Lesart Geismanns, Herbs und Hünings dar, nach der der Hobbes’sche Naturzustand primär nicht deswegen verlassen werden muss, weil in ihm die Erhaltung des jeweils eigenen Lebens einer ständigen Bedrohung ausgesetzt ist, sondern weil er von einem durchgängigen rechtlichen Widerspruch gekennzeichnet ist, der sich aus der Tatsache ergibt, dass alle Individuen gleichermaßen über ein natürliches ‚Recht auf alles‘ verfügen. Wie die drei genannten Autoren übereinstimmend vertreten, sei dieser eigentliche Charakter des Hobbes’schen Naturzustandsarguments in De Cive wesentlich deutlicher greifbar als im englischen Leviathan, so dass auch in dieser Hinsicht, wenn auch vielleicht nicht von einer Entwicklung der eigentlichen Position, so doch zumindest von einer signifikanten Verschiebung in der Hobbes’schen Darstellung zu sprechen wäre. Im Zuge unserer Analyse der Naturrechtstheorie und des Verhältnisses zwischen dem natürlichen ‚Recht aller auf alles‘ und dem ‚Krieg aller gegen alle‘ konnte aber generell gezeigt werden, dass die geringere Rolle, die dem ‚Recht auf alles‘ in beiden Fassungen des Leviathan im Rahmen der Herleitung des Kriegszustandes vordergründig zugewiesen wird und bei der es sich um eine der augenfälligsten strukturellen Umgestaltungen der Hobbes’schen Naturzustandsbeschreibung handelt, keinerlei Auswirkungen auf Hobbes’ logisches Argument hat. Auch in den früheren Schriften konstituiert das ‚Recht auf alles‘ den Kriegszustand nicht allein, sondern nur im Verbund mit den anderen eingehend beschriebenen Konfliktursachen, und eine vergleichbare Relevanz kann dem natürlichen Recht auch noch im Leviathan zugesprochen werden. Es konnte darüber hinaus jedoch auch gezeigt werden, dass die Versuche, den Hobbes’schen Naturzustand als einen rechtlich widersprüchlichen Zustand auszuweisen, mit Blick auf keines der Hobbes’schen Werke zu überzeugen vermögen. Da das natürliche ‚Recht auf alles‘ als ein bloß permissives Recht ohne jeden Widerspruch allen Individuen gleichermaßen zugesprochen werden kann, handelt es sich bei Hobbes’ Naturzustand nicht um einen Zustand der Rechtsläsion oder der Rechtsantinomie, sondern lediglich um einen rechtlosen Zustand, und dies trifft nicht nur auf den Text des Leviathan zu, sondern in eben dergleichen Weise auch auf den Text der Elements sowie auf den von Geismann, Herb und Hüning zur Grundlage ihrer Deutung gemachten Text von De Cive. Der Vergleich der vier Schriften offenbart daher, dass die Beschreibung der konkreten naturzuständlichen Bedrohung für Leib und Leben in allen vier Schriften die eigentliche Grundlage des Naturzustandsargumentes bildet – wenn ihr im englischen oder im lateinischen Leviathan auch insgesamt ein größerer Raum zugestanden werden mag als in De Cive –, und

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dass der Naturrechtserörterung in keiner der vier Schriften die Aufgabe zukommt, dieses Argument selbstständig zu generieren. Ein vielleicht noch wichtigeres Ergebnis unserer Analyse besteht in der Erkenntnis, dass sich die Hobbes’sche Naturzustandstheorie auch im Hinblick auf die am stärksten diskutierte Frage der Hobbes-Forschung als wesentlich konstant erweist, im Hinblick auf die Frage nämlich, ob es im Hobbes’schen System eine moralische Verpflichtung im strengen Sinne des Wortes gibt. So erfordert schon die Frage nach der Berechtigung der ‚TaylorWarrender-These‘ mit Blick auf die verschiedenen Fassungen der Hobbes’schen Theorie insgesamt keine unterschiedlichen Antworten. Zwar zeigt sich, dass die Texte des englischen und des lateinischen Leviathan durch eine Reihe von Überarbeitungen geprägt sind, die die Zurückweisung der TaylorWarrender-These’ erleichtern und die Basis zu einem zusätzlichen entwicklungsgeschichtlichen Argument gegen die Interpretationen Taylors und Warrenders liefern. Wenn sich die ‚Taylor-Warrender-These‘ aber mit Blick auf die beiden Fassungen des Leviathan auch insgesamt größeren Problemen gegenübersieht, so heißt dies doch keineswegs, dass die These mit Blick auf die beiden früheren Werke eine wirkliche Berechtigung beanspruchen könnte. Die eingehende Untersuchung der Hobbes’schen Naturgesetzlehre zeigt, dass selbst der Text von De Cive, der den Interpretationen Taylors und Warrenders am ehesten entgegenkommt und auf den sich Taylor auch ausdrücklich stützt, keine ausreichende Grundlage liefert, um die ‚Taylor-Warrender-These‘ zu akzeptieren. Dass die Interpretationen Taylors und Warrenders folglich mit Blick auf keine der vier Fassungen der Hobbes’schen Theorie überzeugen kann, liegt einerseits daran, dass sich in den Texten kaum positive Indizien finden, die die ‚Taylor-Warrender-These‘ stützen, aber jeweils eine Vielzahl von Ausführungen, die deutlich in eine andere Richtung weisen. Dies gilt sowohl für die Behauptung, dass die natürlichen Gesetze ihrem primären Status nach Befehle Gottes darstellen, als auch – und vor allem – für die Behauptung, dass es sich bei der Pflicht zu ihrer Befolgung um eine moralische Pflicht im strengen Sinne des Wortes handelt. Auf der anderen Seite muss die ‚Taylor-WarrenderThese‘ deshalb mit Blick auf alle vier Fassungen gleichermaßen zurückgewiesen werden, weil sie in deutlichem Widerspruch zur Hobbes’schen Lehre vom Menschen steht, deren Grundkoordinaten in den vier Werken unverändert bleiben und die der Annahme einer strikt moralischen Pflicht zur Befolgung der natürlichen Gesetze unüberwindbare Hindernisse entgegensetzt Ein vergleichbares Resultat ergibt sich zudem für die Bewertung der deontologischen Deutung der Hobbes’schen Vertragslehre. Auf der einen Seite ergibt sich das zuletzt beschriebene Problem der Unvereinbarkeit mit der Hobbes’schen Psychologie und Anthropologie in nahezu der gleichen Weise für eine Interpretation, die zwar nicht den natürlichen Gesetzen, aber

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immerhin allen freiwillig geschlossenen Verträgen eine strikt moralische Verbindlichkeit zuschreiben will. Auf der anderen Seite liefern selbst die beiden früheren Fassungen der Hobbes’schen Vertragslehre, obwohl sie gewisse Indizien für Hobbes’ Interesse liefern, eine von der Naturgesetzlehre unabhängige und vom Begriff ‚freedom as deliberation‘ ausgehende Begründung der Vertragspflichten zu entwickeln, keineswegs eine wirkliche Rechtfertigung der Deutungen Barrys, Raphaels und Ludwigs. So gelangt Hobbes im Zuge der betreffenden Bemühungen keineswegs zu einer konsistenten und klaren Position und so handelt es sich bei der mit Hilfe des Begriffs ‚freedom as deliberation‘ zu gewinnenden Verpflichtung zur Erfüllung vertraglicher Vereinbarungen überhaupt nicht im Sinne der deontologischen Lesart um eine strikt moralische Verpflichtung, sondern lediglich um eine deskriptive Verpflichtung im Sinne einer faktischen Notwendigkeit. Nimmt man noch die Tatsache hinzu, dass Hobbes den Versuch zur naturgesetzunabhängigen Begründung vertraglicher Pflichten nach Veröffentlichung der Elements mehr und mehr aufgibt und den Zusammenhang von naturgesetzlicher und vertraglich generierter Verpflichtung zunehmend stärker herausstellt, dann muss die entwicklungsgeschichtliche Komponente der deontologischen Deutung, die vor allem von Ludwig, ansatzweise aber auch schon von Barry vertreten wird, und nach der Hobbes ausgerechnet im englischen Leviathan zu einem strikt moralischen Begriff vertraglicher Verpflichtung und zu einer konsequenten Trennung von Naturgesetzlehre und Vertragslehre gelangt, mit allem Nachdruck zurückgewiesen werden. Eine letzte entwicklungsgeschichtliche Deutung, an der vor dem Hintergrund unserer Untersuchung gewisse Zweifel anzumelden sind, ist die von Miner im Rahmen seiner kritischen Erörterung der tugendethischen Lesart der Hobbes’schen Naturgesetzlehre suggerierte Sichtweise, dass Hobbes der Tatsache, dass sich die von den natürlichen Gesetzen vorgeschriebenen Handlungsweisen mit dem Begriff der Tugend beschreiben lassen, in den Elements eine größere Bedeutung zuschreibe als dann in De Cive und im englischen Leviathan. Der Vergleich der Hobbes’schen Schriften zeigt, dass sich die entsprechende Charakterisierung der natürlichen Gesetze in allen vier Schriften in ungefähr der gleichen Häufigkeit nachweisen lässt, dass die betreffenden Ausführungen aber in keiner der vier Schriften eine sinnvolle Basis für die von Autoren wie Gert, Ewin und Berkowitz vertretene Auffassung liefern, es handle sich bei der Hobbes’schen Lehre von den natürlichen Gesetzen um eine tugendethische Theorie. Es ist bereits zu Beginn unserer Schlusszusammenfassung darauf hingewiesen worden, dass im Rahmen dieser Arbeit keine umfassende Kritik der Hobbes’schen Naturzustandstheorie geleistet werden konnte. Wenn mit dem Ziel der Evaluation der Hobbes’schen Naturzustandstheorie aber mitunter auch das Ziel der vergleichenden Bewertung der vier verschiedenen Fassun-

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gen ein wenig in den Hintergrund getreten sein mag, so liefert unsere kritische Analyse der Unterschiede zwischen den vier Werken doch insgesamt eine Grundlage, um die verbreitete Meinung, dass es sich beim Leviathan um Hobbes’ Meisterwerk handelt, zu rechtfertigen und sie zugleich ein wenig zu korrigieren. Gerade angesichts oben beschriebenen Tatsache, dass sowohl die ‚Taylor-Warrender-These‘ als auch die deontologische Lesart der Hobbes’schen Vertragslehre schon mit Blick auf die beiden ersten Fassungen der Hobbes’schen Theorie als unangemessen zurückgewiesen werden müssen, liefern die Überarbeitungen, denen Hobbes die Naturgesetzlehre und die Vertragslehre im englischen Leviathan unterzieht und durch die der eigentliche Charakter der Hobbes’schen Argumentation und die Unangemessenheit der beiden genannten Interpretationsansätze wesentlich klarer hervortreten, einen Grund, um die Darstellung des Leviathan trotz der oftmals rhetorisch motivierten Ausgestaltungen als Verbesserung gegenüber den früheren Darstellungen zu begreifen. Hinzu kommt, dass Hobbes im Leviathan nicht nur den Charakter von naturgesetzlicher und vertraglicher Verpflichtung eindeutiger und konsequenter beschreibt als zuvor und an vielen Stellen Unklarheiten und innertheoretische Widersprüche beseitigt, sondern dass er auch die Herleitung des ‚Krieges aller gegen alle‘ unzweideutiger entwickelt als noch in den Elements und in De Cive und sie dabei zunehmend von der Voraussetzung menschlicher Irrationalität löst; dass er die Frage der Historizität des Naturzustandes deutlicher anspricht als zuvor und sein Naturzustandskonzept auch ansonsten mit Hilfe zusätzlicher Hinweise erläutert und klarstellt; und dass er im Zuge der Einbeziehung der Konzepte der Autorisierung und Repräsentation seine Beschreibung der Institution des staatlichen Herrschers terminologisch präziser fasst und sie zu neuer Eindeutigkeit führt. Zwar muss grundsätzlich betont werden, dass auch die Argumentation des Leviathan für sich genommen keineswegs frei von Schwächen und Mehrdeutigkeiten ist. Im Sinne einer vergleichenden Bewertung der vier Schriften kann aber die Auffassung vertreten werden, dass der einzige Aspekt der Naturzustandsanalyse des Leviathan, der gegenüber den beiden früheren Fassungen eine Verschlechterung darstellt, in der Behandlung des Naturrechts besteht. Problematisch ist an der Naturrechtserörterung des Leviathan dabei weniger die von Gert monierte Tatsache, dass die Begründung des ursprünglichen Rechts auf Selbsterhaltung und die Ableitung des ‚Rechts auf alles‘ nicht so explizit und eingehend durchgeführt werden wie in den Elements und in De Cive, wenn diese Tatsache auch durchaus als Schwachpunkt der Darstellung des Leviathan gelten kann. Die spezifische Schwäche der Naturrechtsdiskussion des Leviathan besteht eher in der bislang nicht beachteten Tatsache, dass das ‚Rechts auf alles‘ inhaltlich anders begründet wird, und zwar in einer Weise, die selbst vor dem Hintergrund der korrespondierenden und letztlich

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durchaus akzeptablen Umgestaltung der Herleitung des Kriegszustandes als überzogen erscheinen muss. Die diesbezügliche Schwäche der Hobbes’schen Argumentation liefert angesichts der oben beschriebenen Vorteile der Darstellung des Leviathan aber keinen Grund, um eine Überlegenheit oder auch nur eine Gleichrangigkeit der beiden früheren Darstellungen zu behaupten, erst recht nicht, wenn man in Betracht zieht, dass die Begründung des ‚Rechts auf alles‘ in den beiden früheren Schriften aufgrund der Vermischung von Innen- und Außenperspektive selbst nicht frei von Problemen ist und insgesamt nur unwesentlich stärker erscheint als die von uns kritisierte Begründung des Leviathan. Einer gewissen Korrektur bedarf die verbreitete Einschätzung, dass es sich beim Leviathan um Hobbes’ Meisterwerk und um die definitive Formulierung seiner politischen Theorie handelt, aber insofern, als der eingehende Vergleich der englischen und der lateinischen Fassung gute Gründe liefert, um zumindest mit Blick auf die Naturzustandstheorie als das zentrale Element der Hobbes’schen Theorie eine Überlegenheit des lateinischen Leviathan gegenüber dem englischen Leviathan zu behaupten. Wie schon zu Beginn der vorliegenden Arbeit hervorgehoben worden ist, wird die Einordnung des lateinischen Leviathan durch die ungeklärten Fragen, ob es einen lateinischen ‚Proto-Leviathan‘ gegeben hat und ob dieser bei der Vorbereitung der Fassung von 1668 eine wichtige Funktion gespielt hat, grundsätzlich erschwert. Es scheint, als müsse vor dem Hintergrund dieser Probleme die Behauptung, der lateinische Leviathan sei gegenüber dem englischen Text als bessere oder endgültigere Fassung der Hobbes’schen Theorie anzusehen, mit entscheidenden Schwierigkeiten behaftet sein. Dies ist aber nur solange der Fall, wie die Behauptung der Überlegenheit der lateinischen Fassung allein mit dem späteren Erscheinungsdatum begründet wird und die beiden oben formulierten Fragen ohne jegliche Antwort bleiben. Wenn die Existenz des ‚Proto-Leviathan‘ im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch nicht eigens zum Untersuchungsgegenstand gemacht worden ist, so tragen unsere Ergebnisse aber doch durchaus einiges zur Einschätzung des Problems bei, insofern als sie nämlich deutliche Indizien dafür liefern, dass dem ‚Proto-Leviathan‘, wenn es ihn denn überhaupt gegeben hat, bei der Vorbereitung des lateinischen Leviathan von 1668 keine wirklich entscheidende Rolle zugekommen sein kann, eine Einschätzung, die freilich auf die in dieser Arbeit eingehend besprochenen Abschnitte der Hobbes’schen Argumentation beschränkt werden muss. Der eingehende Vergleich der beiden Fassungen des Leviathan zeigt eindrucksvoll, dass der lateinische Text, vor allem im Rahmen der Naturgesetzlehre und der Vertragslehre, eben jene Entwicklungstendenzen weiter fortführt, die der englische Text von 1651 gegenüber den Texten der Elements und von De Cive aufweist. Diese Tatsache spricht nun aber deutlich gegen die Annahme, dass umfangreiche Passagen des lateinischen Textes aus der Zeit

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zwischen 1642 und 1651 stammen und nach 1651 keiner eingehenden Überarbeitung mehr unterzogen worden sein könnten. Schließlich dürften in einem solchen Fall die Entwicklungen, die im englischen Text von 1651 aufzuzeigen sind, im lateinischen Text höchstens im gleichen Umfang nachweisbar sein. Dass der lateinische Text aber über die Überarbeitungen des englischen Leviathan noch hinausgeht, und dies im Sinne einer sinnvollen inhaltlichen Weiterführung, kann nur durch die Annahme plausibel gemacht werden, dass die betreffenden Überarbeitungen nach 1651 und in bewusster Absicht vorgenommen worden sind. Die Frage, ob Hobbes bei der Vorbereitung des lateinischen Leviathan auf einen etwaigen ‚Proto-Leviathan‘ zurückgegriffen hat, verliert dann aber deutlich an Brisanz und an Bedeutung, weil die Nutzung des ‚Proto-Leviathan‘ in keinem Fall in einer schlichten und unreflektierten Übernahme früherer Textpassagen bestanden haben kann und die spezifische Argumentation des lateinischen Leviathan in jedem Fall als ein genuines Produkt der 1650er und 1660er Jahre gelten kann. Die konsequente Fortführung, die einige der Tendenzen des englischen Leviathan in der lateinischen Fassung finden, liefert aber nicht nur eine Grundlage, um sich bei dem Versuch der Einordnung des lateinischen Leviathan nicht allzu sehr vom Problem des ‚Proto-Leviathan‘ abschrecken zu lassen. Sie liefert auch das entscheidende Argument dafür, die lateinische Fassung zumindest mit Blick auf die Naturzustandstheorie als endgültige Fassung der Hobbes’schen Theorie zu begreifen und sie dem englischen Text gegenüber als leicht überlegen anzusehen. Dass Hobbes den schon im englischen Text zu beobachtenden Versuch, den säkularen Charakter der Naturgesetzlehre deutlicher hervortreten zu lassen, im lateinischen Leviathan mit einigen gezielten Überarbeitungen der Kapitel XIV und XV weiter vorantreibt; dass er die Hinwendung zum Gerechtigkeitsbegriff weiter fortsetzt; und dass er den Problemen, die sich aus seiner Verwendung der Begriffe ‚injustice‘ und ‚injury‘ ergeben, mit der konsequenteren Etablierung des Begriffes ‚iniquity‘ begegnet, mag für sich genommen einen lediglich marginalen Einfluss auf den Charakter der Hobbes’schen Naturzustandstheorie haben und nur zu einer leichten Stärkung der Hobbes’schen Darstellung beitragen. Die Überarbeitungen reichen aber aus, um die Position, der englische Leviathan von 1651 liefere die endgültige und beste Version der Hobbes’schen Theorie, als historisch und inhaltlich unangemessen erscheinen zu lassen und nach einer deutlichen Aufwertung des lateinischen Textes von 1668 zu verlangen. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil die Überarbeitung der Naturgesetzlehre im lateinischen Leviathan eindrucksvoll Zeugnis dafür ablegt, dass bei allen unleugbaren Einflüssen der historisch-politischen Umstände und allem unleugbaren rhetorischen Anliegen, das hinter den Ausführungen des Leviathan spürbar ist, die Entwicklung der Hobbes’schen Theorie zwischen 1640 und 1668 zu einem beträchtlichen Teil von dem philosophischem Interesse ge-

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prägt ist, den stärkstmöglichen wissenschaftlichen Nachweis für die Notwendigkeit des Staates zu führen.

10. Literaturverzeichnis 10.1 Primärliteratur 10.1.1 Werke von Hobbes Hobbes, Thomas (1651):

Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-wealth Ecclesiasticall and Civill. London.

Hobbes, Thomas (1654):

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Hobbes, Thomas (1656):

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[Anonym] (1643):

Maxims Unfolded. London.

Aristoteles (1958):

Politik. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen und Registern versehen von Eugen Rolfes. Hamburg.

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Bramhall, John (1658):

Castigations of Mr. Hobbes His Last Animadversions, in the Case concerning Liberty and Universal Necessity, wherein all his Exceptions about that controversie are fully satisfied. London.

Bridge, William (1643a):

The Wounded Conscience Cured, the Weak One strengthened and the doubting satisfied. London.

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Kant, Immanuel (1923):

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11. Personenregister

Abel 35, 111f. Adam 353 Anscombe, Elisabeth 277 Aristoteles 1, 79, 175, 195, 228, 235, 246, 251, 253, 278, 283, 293, 317, 332, 521, 523, 530f., 540 Aubrey, John 11f., 14, 18 Barry, Brian 199, 220-22, 397, 400f., 41113, 418, 486-88, 504, 507, 567 Bayertz, Kurt 277f. Bennet, Henry (First Earl of Arlington) 18f. Berkowitz, Peter 54 (FN), 230, 232-34, 282, 395, 567 Bittner, Rüdiger 125 Boonin-Vail 122, 200, 230-34, 282, 395 Bramhall, John 427 Brett, Annabel 58 (FN), 127, 137, 425f. Bridge, William 57, 518 Brown, S. M. 199, 218 Carmichael, D. J. C. 124, 177 Cavendish, Charles 11 Cavendish, William (Second Earl of Devonshire) 9, 11 Cavendish, William (Earl of Newcastle) 11, 15 Charles I. 11-13, 16, 248, 407 Charles II. 11, 18f. Coady, C. A. J. 125f. Coke, Edward 463f., 472, 494 Cotton, Charles 14 Curley, Edwin 54 (FN), 200, 215 Curran, Eleanor 401 Curthoys, Jean 200f., 226, 228, 253 David 340, 477f. Dix, Bruno 125 Dodds, Graham 100

Ebbinghaus, Julius 129 Esfeld, Michael 64, 100, 117, 122, 218, 220, 234, 400, 555 Ewin, R. E. 123, 230, 282, 395, 400, 567 Farrell, Daniel 100 Feldman, Karen 275 (FN) Filmer, Robert 48., 100, 122 (FN) Foisneau, Luc 401f.,437 (FN), 459, 462, 464 (FN), 475, 501, 510f., 513, 561f. Foot, Philippa 277 Forsberg, Ralph 200 Forster, Greg 200, 216 Gauthier, David 19, 48, 50, 63, 65, 100, 122, 126f., 166, 172, 200, 214, 217, 400, 465, 504, 553, 561 Gawlick, Günter 285, 443f. Gehrmann, Siegfried 121, 123 Geismann, Georg 128-31, 160, 162, 196f., 228f., 565 Gerson, Jean 25 Gert, Bernard 127, 173, 226-28, 230, 238, 242-45, 261-64, 277, 282, 318, 333, 337f., 385, 393, 395, 567f. Gierke, Otto von 121 Goldsmith, M. M. 1, 4, 28, 40 (FN), 60f., 66, 122, 127, 164 (FN), 199f., 214-16, 248, 518, 561 Goodwin, John 57, 518 Greenleaf, W. H. 200 Grotius, Hugo 24 Haji, Ishtiyaque 56 Hampton, Jean 63-66, 100, 104, 106f., 111, 118, 124, 234, 400f., 557 Harrison, Ross 392 (FN), 561 Harvey, Martin 223-26, 253f., 258, 261, 337f., 393, 400f., 409, 413

11. Personenregister

595

Herb, Karlfriedrich 128, 130f., 160, 162, 164, 196f., 228f., 565 Herbert, Gary 122, 125f. Herle, Charles 57, 518 Hilton, John 9 Höffe, Otfried 101 Hoekstra, Kinch 470-72, 496f. Hood, F. C. 31 (FN), 40 (FN), 127f., 200, 208-11, 264f., 381f., 427, 517, 544, 552, 561 Hüning, Dieter 128, 130f., 160, 162, 164, 196f., 228f., 565 Hunton, Philip 518 Hyde, Edward (First Earl of Clarendon) 18

Maynwaring, Roger 13 McNeilly, F. S. 4f., 61f., 64, 66f., 93f., 100, 108, 113, 117, 123, 214, 423, 555f., 559 Mersenne, Marin 14 Miner, Robert 233, 335, 567 Mintz, Samuel 125f., 217 Molina, Luis de 24 Moore, S. 214 Münkler, Herfried 37, 100

Ilting, Karl-Heinz 215

Oakeshott, Michael 200, 202, 205, 208. 214, 216f., 400

Kain 35, 111f. Kant, Immanuel 1, 129f., 164, 204, 208, 215, 220f., 224, 229, 235f., 409, 425, 442 Kavka, Gregory 63f., 92, 120f., 125f., 216, 234, 400, 516 Kersting, Wolfgang 30 (FN), 40 (FN), 100, 125, 214, 400 Kleemeier, Ulrike 38, 65, 90, 100, 256 Kodalle, Klaus-Michael 31, 63, 200, 20811, 256 Kramer, Matthew 127 Laird, John 4 (FN), 60, 62, 201f., 525 Landesman, Charles 100, 108 LeBuffe, Michael 401, 410, 421 Leyden, Wolfgang von 137, 401, 423f. Lips, Julius 12 (FN), 19 (FN) Littleton 463, 494 Lloyd, S. A. 1 (FN), 28 (FN), 225f., 253, 256, 258, 338 Locke, John 1, 24, 122 (FN) Loukola, Olli 177, 220, 400 Lubienski, Zbigniew 17 Ludwig, Bernd 5f., 15, 58f., 122, 126f., 166, 171, 192f., 200, 220-22, 233, 335-38, 364, 394f., 397-402, 411-13, 418, 421, 423, 444, 449, 481, 486-89, 504, 507-09, 564, 567 MacIntyre, Alasdair 277 Macpherson, C. B. 60 Malcolm, Noel 9f., 11 (FN), 14, 17 (FN), 122f., 130f., 160, 196 Martinich, A. P. 6, 14, 19, 50, 100, 117, 200, 208, 211-13, 216

Nagel, Thomas 199, 214, 400 Nida-Rümelin, Julian 1, 100 Nonnenmacher, Günther 31, 100

Parker, Henry 57, 518, 545, 553 Pasquino, Pasquale 19, 495f. Payne, Robert 11 Pennock, J. Roland 127 Peters, Richard 60-63, 123, 126, 201f., 220 Plamenatz, John 199 Platon 235, 464 Prynne, William 518 Pufendorf, Samuel 24, 124 Raphael, D. D. 63, 127, 199, 214, 220-22, 397f., 400f., 409, 411-13, 418, 427f., 504, 567 Rawls, John 24, 425 Reynolds, Noel 9 Rhodes, Rosamond 401, 424f. Robertson, George Croom 60, 201 Röd, Wolfgang 125f., 215, 218, 312, 386 Rousseau, Jean-Jacques 24, 41, 54 Ryan, Alan 100 Schilling, Kurt 3 (FN), 198f. Schmitt, Carl 62 Schuhmann, Karl 17 Siep, Ludwig 62, 64 Shoemaker, David 103 Silverthorne, Michael 81, 443f. Skinner, Quentin 19, 24, 57, 127, 195, 218f., 233, 258, 518f., 525, 534, 545, 552f., 561 Slomp, Gabriella 64, 90, 555 Sommerville, Johann 24, 200 Sorell, Tom 64, 117, 233

596

11. Personenregister

Soto, Domingo de 24 Spinoza, Baruch de 24 Spragens, Thomas 200, 218, 312, 387 Sprute, Jürgen 6, 200, 215 Stephen, Leslie 60, 201 Strauss, Leo 9, 61f., 117f., 124, 201f., 205, 208 Tarlton, Charles 198-200 Taylor, Alfred 122, 198-201, 203-26, 258, 261, 263, 265, 269, 272, 276, 309, 313f., 331, 339, 341, 343, 350, 371, 373, 378, 381, 385f., 389-91, 393, 397f., 400, 409, 413, 560, 566 Taylor, Michael 63 Tönnies, Ferdinand 4, 10 (FN), 25 (FN), 48, 50f. Tricaud, Francois 4f., 19, 43-47, 50, 64, 72, 83f., 117, 562 Tuck, Richard 11 (FN), 17 (FN), 24f., 30, 38, 66, 70f., 78, 81, 101, 112, 192, 443f.

Ullmann-Margalit, Edna 63 Uria 340, 477f., 500 Vitoria, Francisco de 24 Waller, Edmund 14 Warner, Walter 11 Warrender, Howard 15 (FN), 42f., 61, 12225, 139, 184, 198-201, 205-09, 211-26, 239, 258, 260-65, 269, 272, 276, 309, 313f., 331, 339, 341, 343, 349f., 371, 373f., 378, 38185, 389-93, 397f., 400, 405f., 566 Watkins, John 60f., 63, 199, 215, 217 Weiß, Ulrich 100, 215 Wentworth, Thomas (First Earl of Strafford) 13 Wernham, A. G. 127, 137, 217, 266 William the Conqueror 196, 406 Willms, Bernard 200 Wolf, Friedrich 4f., 62, 64, 117, 555f., 559

12. Sachregister

Absurdität (absurde Schlussfolgerung) 341, 408-10, 418, 435, 440, 447-49, 482, 490f., 506, 546 Anthropologie 1f., 30-34, 49-52, 56f., 108, 118, 120, 164, 203, 208, 212f., 218, 226, 228, 238, 258, 265, 349, 385, 388, 426, 438, 446, 460, 463, 504f., 507, 564 Aristokratie 195, 526-28, 534, 545, 547 Atheismus 1, 18, 112, 209, 217, 312-14, 352, 356f. Atomismus 39-42, 51f. Autorisierung 333, 477, 485, 517-19, 528, 541-53, 561, 568 Bescheidenheit (Unbescheidenheit) 293, 317f., 360, 324, 379 (s. auch Individuen, bescheidene) Bibel (Heilige Schrift, Offenbarung) 22, 35, 209f., 251, 263f., 266, 269, 271, 288, 303f., 307, 333, 339, 343-45, 353, 368, 372, 381, 390 Billigkeit (Unbilligkeit) 116, 230, 246, 251, 293, 318, 331, 353f., 360f., 379, 477-79, 500f., 510, 512, 562, 570 Bündnis (Verteidigungsbündnis) 40-44, 49, 51, 54, 77f., 86, 100, 104, 110, 466-71, 496, 515-17, 519-24, 529-32, 538-42, 548f., 551, 561 Bürgerkrieg s. Krieg Christentum (Christ) 1, 111, 198, 208-11, 217, 219, 264f., 268f., 271f., 305, 307, 310, 313, 392, 394, 560 Dankbarkeit 230, 244, 251,291, 298, 326, 331, 353, 360, 379 Demokratie 195, 526, 531, 534f., 545, 551, 553

Ehre 61, 77f., 106, 110, 115f., 522 Eid 368f., 392, 407f., 433-35, 443, 446, 45659, 482f., 493f., 501-03, 506f. Eigentum 47, 49, 52f., 274, 414-16, 441, 462, 478, 489, 508 Eitelkeit 61, 65, 70, 73, 81, 84, 113, 117f. Eroberung 98, 196, 257, 406 Exil 5, 15, 17 Familie 39-44, 47-49, 52-54 Freiheit 5, 11, 80, 82, 105, 127f., 137f., 153f., 174f., 186, 190, 194-96, 315, 480, 509, 560f., 564 freedom as deliberation 137f., 152, 169f., 175, 185f., 401, 404, 418, 422, 426, 431f., 438-40, 442, 479, 506, 560f., 567 freedom from obligation 123-25, 127, 136, 138, 152f., 163, 173f., 176f., 179, 186f., 481, 564 liberty in the proper signification 174f., 177-79, 195, 236, 319 liberty of subjects 485, 487 natural liberty 5, 74, 76, 128, 132, 152, 179, 196, 324, 485, 564 Furcht 43, 65, 72, 79, 82, 92, 101, 105, 114, 154, 174f., 195f., 210, 349, 385, 406f., 413, 434, 440, 456f., 459, 474, 480, 493, 499, 530, 532, 539, 541 Gehorsam gegenüber dem staatlichen Souverän 14, 196, 203, 206, 209, 217, 220f., 256f., 269, 282, 313, 39799, 406f., 422, 523, 528, 533, 53537 gegenüber Gott 308, 315, 477 gegenüber den natürlichen Gesetzen 76-79, 86f., 104-11, 115f.

598

12. Sachregister

Gerechtigkeit (injury/injustice) 47, 99, 241f., 250f., 291, 316, 325f., 401f.,415, 43537, 441, 447, 459-63, 476-78, 489-91, 498501, 510-13, 561f., 570 (s. auch Absurdität, Billigkeit, Narr) Gerechtigkeit von Handlungen/Personen 359, 411, 436f., 443, 446, 461, 470, 473-76, 482, 493f., 498f., 501, 506, 511-13, 562 distributive/kommutative Gerechtigkeit 316, 326, 359, 413, 436, 438, 473, 494 Gesellschaft allgemein s. Atomismus bürgerliche Gesellschaft (bürgerliche Gemeinschaft, bürgerlicher Zustand) 27-30, 39-41, 44, 49, 56, 80, 99, 130, 184, 207, 229, 248, 256, 270, 466, 495f., 500 Gesellschaftsvertrag s. Vertrag Gesetz natürliches Gesetz 198-396, 559f., 565f. (s. auch Gehorsam, Gott, Imperativ, Verpflichtung) positives Gesetz (bürgerliches Gesetz, staatliches Gesetz) 10, 28, 34, 49, 98, 130, 150, 154, 176f., 187, 205, 207, 219f., 224, 254, 269, 300, 310, 313, 321, 354, 361, 398, 400, 414, 416, 442, 445f., 456, 476, 500, 511, 528, 563 positives Gesetz Gottes 263, 306, 381f. Gewissen 146, 206f., 250, 270, 272, 274-76, 296-98, 305, 330-32, 339-43, 355, 357, 365, 368, 371, 376-78, 390f., 477, 550 Glaube 209f., 259, 261, 263f., 268f., 277, 303, 307, 344, 351f., 372, 381, 384, 387f., 560 Gleichheit 53, 69, 71, 76, 80, 87-90, 246, 248f., 255f., 293, 324, 338f., 371, 380, 487, 515 Goldene Regel 224-26, 248, 255, 294-96, 324, 329, 338f., 350, 365, 369, 371, 380

Gott als Gesetzgeber 363, 367f., 380, 387, 392 als Richter 271f. als Vater, König und Herr 309f., 345f., 351, 355f., 375f., 386f. Herrschaftsrecht Gottes 349, 358, 372f., 384 Wille Gottes 207, 240, 258, 260f., 263, 306-08, 310f., 313, 344 Grausamkeit 146, 156-58, 183, 189, 192, 230 Güterknappheit 100-04, 108f., 117, 119f., 193, 556f. Handeln aus Pflicht 224f., 231, 261-63, 385, 411-13, 417, 437, 474, 482, 498, 504 Hass 78, 84, 86, 95, 106, 246, 291 Herrschaft 4, 29-34, 44-49, 65, 196, 271, 406f., 444, 469, 518, 526, 553 Herrschaftsrecht Gottes s. Gott Imperativ

kategorischer Imperativ 215, 220f., 224, 229, 236, 409, 510 hypothetischer Imperativ 215, 220f., 223, 226-29, 233, 236, 252, 260, 265, 273, 302, 315, 368, 379f., 383, 510 Indianer 34, 48, 86 Individuen bescheidene Individuen (moderates) 69-72, 75, 79-84, 87-89, 92f., 103, 112-14, 119, 146 eitle Individuen (dominators) 7075, 78-85, 87f., 90, 92f., 102, 104, 106, 112-14, 117, 119, 246, 556f. Jesus Christus 268f., 304 Ketzerei 18f., 112, 392, 560 Kind 44f., 48, 52f., 285, 311, 340, 351 König 196, 527f. natürliches Königreich Christi 268 natürliches Königreich Gottes 308, 310-15, 339, 344f., 347, 34952, 355-58, 372-75, 386-92

12. Sachregister

Konflikt (Konfliktursache) 35, 51, 53f., 60f., 64f., 67f., 69-76, 78f., 79-86, 87-100, 102, 106f., 110, 111-15, 116-20, 129f., 132, 150f., 160-63, 165, 192, 243, 245-47, 289, 323f., 521, 523, 555f., 565 Konkurrenz (Konkurrenz um Güter) 62, 73, 83-85, 87, 89, 91-96, 101f., 104, 107f., 110, 112-14, 117, 119, 145, 160, 163, 193, 247, 294, 556, 559 Krieg aller gegen alle (allgemeiner Kriegszustand) 60-120, 555-59, 565, 568f. Bürgerkrieg 15, 34-39, 58, 257, 518, 522 Staatenkrieg 38, 157 Macht 45f., 61f., 67, 70f., 76, 79, 81f., 89f., 94, 96, 101f., 117-19, 159, 180, 196, 256f., 454f., 469, 502, 507, 515f. Macht des staatlichen Herrschers 109, 256, 271, 282, 422, 519, 523, 526f., 534, 544f., Macht Gottes 210, 259, 261, 308, 310f., 314, 349, 358, 373 Menschenmenge 525f., 534f., 542, 552, 563 Monarchie 13, 195f., 519f., 534, 545-47, 552 (FN) Narr (reply to the Foole) 325, 459, 462-72, 483f., 493-99, 516 Naturzustand zum Konzept des Naturzustandes 24-59, 562f. zum Status des Naturzustandes 29-39, 50f., 57f., 563 der Naturzustand als Kriegszustand s. Krieg Person 44, 333f., 525f., 528, 531, 533f., 541-44, 546f., 549f., 552f. Prävention (präventive Gewalt) 62, 65, 72, 75, 77, 79, 82, 86f., 91-98, 107, 113-18, 180, 529, 539, 548 Proto-Leviathan 17, 19f., 113, 569f. Psychologie 4, 62, 203, 207, 349, 385, 412f., 425f., 438, 505, 566

599

Rache 105, 245 Recht natürliches Recht 121-197, 558f., 563-66 Rechtskonflikt (Widersprüchlichkeit des Rechts auf alles) 68, 74f., 97, 128-31, 158-64, 196f., 565f. Repräsentation 4, 333, 517-19, 528, 541-43, 546f., 550-53, 561, 568 Richter 28, 141, 247, 294f., 327f., 456, 563 Richter in eigener Sache (ipseiudex-Prinzip) 28, 77, 129f., 14043, 155f., 165, 170, 173, 179f., 182, 187f., 194, 247, 366, 405 Gott als Richter s. Gott Rhetorik 3, 27, 29, 42, 98, 146, 200, 203, 271, 275f. (FN), 298, 355, 357, 531, 560, 563, 568, 570f. Ruhm 61, 64, 107f., 522 Sanktionen 282, 412, 446, 457-59, 474, 499 göttliche Sanktionen 207. 209, 216, 260-64, 269-71, 277, 302, 311, 314, 346-52, 356, 358f., 37173, 375, 382-87, 391, 408, 435, 458, 473 staatliche Sanktionen 220, 354, 414, 416, 422, 439, 495f. Schenkung 244f., 403f., 419f., 429-33, 439, 451-54, 479, 482, 492, 516, 537f., 544 Souverän (staatlicher Herrscher) 35, 57, 109, 148, 196, 203f., 206f., 209, 220f., 233, 244f., 247, 249, 254, 257, 270-72, 274f., 282, 300, 302, 307, 333, 335, 340, 353-57, 370f., 375, 378, 397, 400, 413f., 416, 421f., 439, 442, 475-77, 485, 487, 496, 500, 519, 525-28, 533-39, 544-50, 552f., 561, 568 Spieltheorie 54, 63f., 68, 118, 258 (FN), 465, 495, 516 Stolz 61f., 64, 86, 105, 230, 246 Strafe 245, 291, 372 göttliche Strafen s. Sanktionen staatliche Strafen s. Sanktionen Sünde 98, 183, 275, 305, 312, 340, 342, 351, 366-68, 371, 379, 392, 477

600

12. Sachregister

Taylor-Warrender-These (TaylorWarrender-Debatte) s. Verpflichtung Tugend 230-34, 277-83, 315-18, 358-62, 378f., 395f. Überlegung (Überlegungsprozess) s. Freiheit, freedom as deliberation Verachtung 78, 82, 246, 291 Vernunft 52-56, 65-68, 133-35, 139, 141f., 148-51, 166-69, 172f., 185f., 226-28, 253, 304, 320, 332, 338, 363, 371, 380 natürliche Vernunft 209-11, 227, 251, 266f., 270f., 288, 295, 304, 307-11, 344-47, 372, 375f., 38287, 391 rechte Vernunft 126f., 133, 141, 147-52, 155, 166, 168, 172f., 186, 213, 283, 287f., 300-02, 337f., 394 Verpflichtung gegenüber den natürlichen Gesetzen 198-230, 251-77, 299-315,

334-58, 369-78, 379-95, 559f., 566 gegenüber vertraglichen Vereinbarungen 219-22, 397-402, 41529, 438-47, 478-90, 500-04, 50410, 560f., 566f. Vertrag (vertragliche Vereinbarungen) 4252, 219-22, 397-513, 560f., 566f. Gesellschaftsvertrag 517-19, 52428, 533-38, 542-47, 549-51, 55154 Verbindlichkeit von Verträgen s. Verpflichtung Volk 57, 519, 525, 528, 531, 534f., 552, 563 Wille 133-35, 137, 170f., 174, 262f., 265, 272f., 342, 385, 401, 403f., 410, 413, 41832, 438-42, 448-52, 479f., 484, 491f., 498f., 504-10 Wissen (Wissenschaft) 29, 94, 235, 259f., 263f., 303, 307, 311, 318, 344, 359, 372, 376, 381-83