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German Pages 112 [120] Year 1986
Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs
Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts von
Dr. Hans Welzel Professor in Bonn
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1958 Walter de G r u y t e r · Berlin · N e w Y o r k
Nachdruck 1986
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Welzel, Hans: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs: e. Beitr. zur Ideengeschichte d. 17. u. 18. Jh. / von Hans Welzel. — Nachdr. d. Ausg. Berlin, New York, de Gruyter, 1958. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-003096-9
© Copyright 1958 by Walter de Gruyter & Co, Berlin, New York Satz und Druck: Otto v. Holten, Kunst- und Buchdruckerei GmbH, Berlin W 35 Alle Rechte, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten.
INHALTSVERZEICHNIS Seite Einleitung
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Erstes Kapitel: Geschichtliche und methodische Grundlagen . . .
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Zweites Kapitel: Die Lehre von den entia moralia
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Drittes Kapitel: Das oberste Prinzip des Naturrechts
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Viertes Kapitel: Naturrecht, Moral und positives Recht . . . .
51
Fünftes Kapitel: Die Staatslehre
58
Sechstes Kapitel: Das Strafrecht
84
Siebentes Kapitel: Naturrecht und Religion, Staat und Kirche . Namenverzeichnis
.
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EINLEITUNG Was ich auf den folgenden Seiten vorlege, ist - teilweise überarbeitet und ergänzt - meine Dissertation, die ich im Jahre 1928 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena eingereicht hatte. Wenn ich die naheliegenden Bedenken eines Autors gegen den Neudruck seiner Erstlingsschrift überwunden habe, so waren dafür verschiedene Gründe maßgebend. Zunächst fehlt noch immer eine umfassende Darstellung der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, die meine Arbeit überholt hätte. Ferner war meine Dissertation bisher nur zur Hälfte veröffentlicht worden. Das erste und zweite Kapitel (mit der Darstellung der entia moralia) erschienen unter dem Titel „Die kulturphilosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs und ihre kulturhistorische Bedeutung" in der „Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte", Band 9 S. 585 ff; das dritte und vierte Kapitel bildeten unter dem Sondertitel: „Die Socialitas als oberstes Prinzip der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs" den Teildruck der Dissertation ( 1 9 3 0 ) ; die drei letzten Kapitel waren bisher nur in dem maschinenschriftlichen Exemplar der Universitäts-Bibliothek in Jena zugänglich. Da nun auch die veröffentlichten Teile heute nur noch mit Schwierigkeiten erreichbar sind, dürfte der Neudruck der ganzen Schrift von einigem Nutzen sein. Als ich vor dreißig Jahren an meiner Dissertation arbeitete, war die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs fast ganz in Vergessenheit geraten, vor allem war die für sie grundlegende Lehre von den entia moralia völlig verschollen 1 ). Das hat sich seitdem erfreulich geändert. Ein äußeres Zeichen dafür mag man darin erblicken, daß Pufendorf zu den wenigen Juristen zählt, die der Aufnahme in das Sammelwerk „Die großen Deutschen" für würdig befunden wurden. Und doch ist seine geistesgeschichtliche Stellung, gerade in Deutschland, noch immer weit davon entfernt, in ihrer wirklichen Bedeutung anerkannt zu sein. So glaubte ζ. B. Erik Wolf noch 1 9 5 1 feststellen 1
) Bezeichnend hierfür ist das Urteil Landsbergs über die entia moralia als eine „Reihe terminologischer Absonderlichkeiten" (Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III, i , S. 14). Erik Wolf erwähnt sie in seiner 1927 erschienenen Schrift (Grotius, Pufendorf, Thomasius) überhaupt nicht. I Welzcl, Pufendorf
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Einleitung
zu können, daß es um Pufendorf bald nach seinem Tode still geworden sei; wenig Nachruhm sei ihm g e f o l g t 2 ) . Nichts ist irriger als das und leichter zu widerlegen! Das zeigt sich schon äußerlich am Erfolg der Werke Pufendorfs im 18. Jahrhundert. Walter Simons zählt in seiner Einleitung zu der in den Classics of International Law erschienenen Ausgabe von Pufendorfs „ D e jure naturae et gentium" (1934) bis zum Jahre 1759 nicht weniger als dreizehn Auflagen dieses dickleibigen Hauptwerkes Pufendorfs auf; dazu kommt noch eine vierzehnte, die in Neapel 1773 erschienen war. Dieses Werk ist im 17. und 18. Jahrhundert ins Französische, Englische, Deutsche, Italienische undRussische 2 a) übersetzt worden. Die berühmte französische Übersetzung von Barbeyrac hat bis 1771 elf Auflagen erlebt. Bis 1763 erschienen sechs verschiedene englische Übersetzungen. Die Auflagen des Auszugs aus diesem Werk, den Pufendorf unter dem Titel „ D e officio hominis et civis" 1673 veröffentlichte, können heute wohl überhaupt nicht mehr vollständig ermittelt werden. Allein Barbeyracs französische Übersetzung dieses Auszugs erschien in mindestens dreizehn Auflagen; die drei letzten in Paris 1820, 1822 und 183013) Dem äußeren Erfolg seiner Werke entsprach der Ruhm seines Autors. Er galt im 18. Jahrhundert neben und zusammen mit Hugo Grotius schlechthin als der Klassiker des Naturrechts, wobei bald der eine, bald der andere vorangestellt wurde*). ]ohn Locke schätzte ihn noch höher als Grotius und empfahl in seiner Schrift „Some Thoughts concerning Education", die auf die englische Pädagogik starken Einfluß hatte, die Lektüre Pufendorfs und Grotius' für die staatspolitische Erziehung der Jugend Englands ( § i 8 6 ) 4 a ) . D e n gleichen Rat gdbRousseau in seinem „Project pour l'edu2)
Erik Wolf, Große deutsche Rechtsdenker, 3. Aufl., 1951, S. 361. Die Instruktionen Katharina II. über ein zu schaffendes Gesetzbuch (aus dem Jahre 1765) enthalten bedeutende Anleihen aus Pufendorfs Hauptwerk. - Peter der Große, ein Verehrer Pufendorfs, hatte die Übersetzung von Pufendorfs „de officio" durch Buzinskij (1726) veranlaßt und persönlich überwacht.Vgl. Valentin Gittermann, Geschichte Rußlands, Hamburg 1949, S. 208; Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert, Berlin 1953, S. 139 f. 3 ) In Paris lehrte man noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Naturredit nach Pufendorfs de officio - als sidi das deutsche Geistesleben schon längst in einer Sonderentwidclung aus der Einheit des europäischen Geistes herausgelöst hatte, der Pufendorf noch angehörte! V g l . Warnkönig, Rechtsphilosophie als Naturlehre des Rechts, 1839, S. 54. 4 ) S. hierüber ζ. B. den Vergleich zwischen Grotius und Pufendorf bei Martin Hübner, „Essai sur l'Histoire du Droit Naturel", 1758, Bd. 2, S. 290 ff. 4 a) So waren die Werke Pufendorfs und Grotius' im 18. Jahrhundert als Textbücher für die Vorlesungen über Moral und politische Philosophie an den schottischen Universitäten eingeführt. V g l . Greig, The Letters of David Hume, 1932, Bd. 1, S. 33. 2 a)
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Einleitung
cation de St. Marie" (1740). Vor allem konnte jüngst Robert Derathe5) die hervorragende Bedeutung nachweisen, die im Staatsdenken Rousseaus der Auseinandersetzung mit Pufendorfs Lehren zukommt. Trotz aller Polemik zeigt Rousseau eine offensichtliche Vorliebe für Pufendorfs»). Derathe bringt weitere Belege für die Hochschätzung und den Binfluß Pufendorfs im 18. Jahrhundert, ζ. B. bei Diderot (Encyclopädie), dem französischen Kanzler Daguesseau u. a. m. Man dürfte schwerlich einen zweiten deutschen Juristen finden, der jemals eine annähernd gleich große europäische Geltung gehabt hätte wie Pufendorf. Dabei beschränkte sich sein Einfluß keineswegs auf Europa. So konnte ich zeigen, daß Samuel Pufendorf in der damals noch englischen Kolonie Nordamerika einen begeisterten Anhänger in John Wise (1652 bis 1725) gefunden hatte, der durch seine in engster Anlehnung an Pufendorf verfaßten Teile seiner kirchenpolitischen Schriften nicht nur für die Demokratisierung der kirchenrechtlichen Verhältnisse, sondern auch für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Erklärung der Menschenrechte von erheblichem Einfluß war6). Wie konnte es kommen, daß das gefeierte und vielgelesene Werk Pufendorfs in fast völlige Vergessenheit geriet? Nun, Pufendorf teilt hierin nur das Schicksal der neueren Naturrechtslehre überhaupt. In Deutschland zerstörte der Kritizismus Kants und die historische Schule den Glauben an ewige materiale Rechtsgrundsätze; in Westeuropa ließ der Positivismus eines Comte, Mill, Spencer die Metaphysik des Naturrechts verblassen. Doch liegen die Gründe wohl noch tiefer: Die Ideen der Menschen- und Bürgerrechte, für die die Männer des 17. und 18. Jahrhunderts gekämpft hatten, waren in der amerikanischen und französischen Revolution und in den liberalen Rechtssystemen des 19. Jahrhunderts Wirklichkeit geworden. Die besitzenden Enkel vergaßen die Mühen der Vorväter um den Erwerb ihres Besitzes. Dabei mußte sich das Vergessen stärker über Pufendorf senken, da seine Leistung ausschließlich auf naturrechtlichem Felde lag, während das gleiche Schicksal dem Völkerrechtler Grotius darum erspart blieb, weil die von ihm vertretenen B
) „ J . J. Rousseau et la science politique de son temps"; 1950. ) Hierzu Derath6 (S. 84): II nous parait toutefois plus simple d'admettre que Rousseau a eu conscience de tout ce qu'il devait ä Pufendorf, et qu'il a conserve a son 6gard les sentiments d'un έΐένε pour son premier maitre. e ) Welzel, „Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte" in „Rechtsprobleme in Staat und Kirche"; Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen 1952; ferner mein „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit", 2. Aufl. 1955, S. 158 ff.; ferner unten S. 49 Anm. 62a). 61
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Einleitung
völkerrechtlichen Grundsätze noch nicht zum selbstverständlichen Besitz geworden waren. Zur Unterschätzung Pufendorfs hat im Bewußtsein der Enkel nicht zuletzt das Urteil von Leibniz über den „vir parum jurisconsultus et minime philosophus" 7 ) beigetragen; noch bis zum heutigen Tage meint man, Pufendorfs Leben oder Werk nicht darstellen zu können, ohne das Zitat zu erwähnen (während die Urteile Lockes und Rousseaus verschollen sind). Nun hat dieses Leibniz-Zitat ein merkwürdiges Schicksal gehabt: Während es im 19. und 20. Jahrhundert wesentlich zur Mißachtung der Leistung Pufendorfs beigetragen hat, hat es im 18. Jahrhundert umgekehrt das Ansehen Leibniz' beträchtlich getrübt. Ein sicher unverdächtiger Zeuge, Leibniz' Biograph Jakob Brucker, dessen „Vita Leibnitii" in der von Dutens 1768 herausgegebenen Gesamtausgabe der Leibnizschen Werke abgedruckt ist, schreibt, daß neben dem unerfreulichen Prioritätsstreit Leibniz' mit Newton um die Infinitesimalrechnung und seine mißgünstigen Äußerungen über Descartes und Locke vor allem seine Stellungnahme zu Pufendorf seinem Ansehen abträglich war: „Besonders aber vermuteten die meisten, daß das, was Leibniz gegen Pufendorf gesagt hatte, aus einem Geiste stammt, der nur mit Mißgunst das Ansehen und den Erfolg des von Pufendorf ans Licht gebrachten Naturrechtssystems ertrug." 8 ) Nun war Leibniz' Einstellung zu Pufendorf keineswegs immer die gleiche gewesen. Er war verhältnismäßig spät, erst 1690-1693, dann aber sichtlich erfreut, mit ihm in Briefwechsel gekommene). Seine Briefe sind mit großer Hochachtung gegenüber Pufendorf geschrieben. Auf Leibniz' Bitte hatte Pufendorf ihm Hinweise für seine Arbeiten am „Codex juris gentium diplomaticus" (1693) gegeben, wofür Leibniz ihn in der Vorrede dankbar als „vir egregius in his studiis" erwähntio) ; Pufendorf erscheint in dieser Vorrede ein zweites Mal als „autor doctissimus Monzambani, a quo plurimum illustrata est haec disciplina". Leibniz' Worte sind sicher keine bloßen Höflichkeitsfloskeln. Denn noch nach Pufendorfs Tode (1694) schreibt er (1696), daß er den Namen Pufendorf stets hochgeachtet habe 1 !). Er bedauert, daß er Samuel Pufendorf niemals persönlich kennengelernt habe; „doch haben wir T
) Brief an Kästner vom 21. 8. 1709; Outens, Leibnitii opera omnia IV, 3, S. 261. ) Dutens I, S. C X X I V . e ) Vgl. dazu Varrentrapp, Historische Zeitschrift 70, S. 1 ff., 6 - 7 , 51, 223 ff.; Leibniz, Akademie-Gesamtausgabe I, 5 S. 610, 625, 655. 10 ) Varrentrapp a. a. O. 1:L ) Wobei er beide Brüder Pufendorf, Esaias und Samuel, meinte. 8
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Einleitung alle das ausdrucksvolle Bild seines Geistes in seinen berühmten Schriften vor u n s . " 1 2 ) . Erst vom alten Leibniz stammen jene abfälligen Urteile über Pufendorf. Seine Ansicht hat er in einem Brief vom 2 2 . 4 . τη06 an den A b t von Loccum, Molanus,
begründet.
Dieser Brief wurde 1 7 0 9 mit Zustimmung Leibniz'
anonym veröffentlicht^). Barbeyrac antwortete 1 7 1 6 in einer ausführlichen Gegenkritik, die zusammen mit Leibniz' Monita im Anhang der zahlreichen Auflagen von Pufendorfs „ D e officio hominis et civis" erschien. So konnte sich die gelehrte Welt des 1 8 . Jahrhunderts selbst ein Urteil über die Kontroverse bilden.
Es fiel keineswegs zuungunsten Pufendorfs aus, wie Jakob
Brucker bezeugt: Man habe die klare und lichtvolle Darstellung Pufendorfs der dunklen und scholastischen Leibniz' gegenübergestellt!·*). Auch heute würde die Argumentation Leibniz' kaum größere Überzeugungskraft bes i t z e n ^ ) . Darum sollte man künftig davon absehen, zwei bedeutende Män12
) ) 14 ) 15 ) 13
Grua, Leibniz, Textes inedits, Paris, 1948, I, S. 376. Monita quaedam ad S. Pufendorfii Principium, Dutens IV, 3, S. 279 ff. Dutens I, S. C X X I V . Leibniz macht Pufendorf besonders folgende Vorwürfe: 1 . Er habe das Naturrecht auf den Bereich des irdischen Lebens beschränkt, weil er der (irrigen) Ansicht gewesen sei, daß die Unsterblichkeit der Seele und die Strafe im Jenseits uns nur durch Offenbarung, aber nicht durch die Vernunft erkennbar sei. - Nach Leibniz ist die Strafe, die dem Menschen im Jenseits droht, der sicherste Grund, aus dem jedermann erkennen kann, daß er recht handeln muß, wenn er für sich selbst sorgen will. (Dutens, a. a. O., S. 276). Vgl. darüber mein „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit", 2. Aufl. 1 9 5 1 , S. 140. 2. Nach Pufendorf beziehe sich das Naturrecht nur auf das äußere Verhalten, nicht auch auf die innere Gesinnung der Menschen (Dutens, a.a.O., S. 2 7 7 ) . Leibniz hat hier, worauf Barbeyrac sofort hinweist, Pufendorf unvollständig zitiert und einen wesentlichen Satzteil weggelassen, nämlich daß sich das Naturrecht großenteils (aber nicht ausschließlich) mit den äußeren Handlungen befaßt. (Schon Pufendorf hatte sich gegen den gleichen Vorwurf mit der gleichen Richtigstellung gewehrt! E. s. 210). - Nach Pufendorf läßt das Naturrecht die innere Gesinnungsseite insoweit unberücksichtigt, als diese keine Wirkungen nach außen besitzt. Damit gelingt Pufendorf ein großer Schritt vorwärts auf dem Weg zur Unterscheidung (nicht Trennung) von Sittlichkeit und Recht und zum Begriff der Legalität (siehe unten S. 54). 3. Pufendorf gründe die Verpflichtungskraft des Naturrechts nicht auf die Natur der Dinge, sondern auf den Befehl Gottes. (Dutens, a. a. O., S. 279.) Hier berührt Leibniz in der Tat einen inneren Widerspruch in der Naturrechtslehre Pufendorfs, nämlich das ungeklärte Verhältnis zwischen der „Natur" des Menschen (der socialitas) als dem „Fundament" des Naturrechts und der Verpflichtungskraft des Naturrechts (siehe unten Kap. I V ) . Doch ist diese Schwierigkeit nicht der Naturrechtslehre Pufendorfs allein
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Einleitung
net unserer Geistesgeschichte gegeneinander auszuspielen. Weder dem Andenken Pufendorfs noch dem Leibniz' erweist man damit einen Dienst. Paul Hazard16) hat mit Recht auf die geistesgeschichtlich grundlegende Bedeutung der letzten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts hingewiesen: „Nahezu alle Ideen, die 1760 und sogar noch 1789 revolutionär erschienen, waren bereits 1680 ausgesprochen." Zu Pufendorfs Buch „de officio hominis et civis" bemerkt er: „,Die Pflicht des Menschen und Bürgers': wie überrascht uns dieser Titel zu jener Zeit! Er scheint um mindestens ein Jahrhundert verfrüht zu sein; hätte man uns gefragt, welcher Epoche er angehört, wir hätten ihn ohne Zweifel dem Vokabular der französischen Revolution zugerechnet. Tatsächlich enthält das Buch eine Reihe von Ergebnissen, die sich forterbten und schließlich das Denken des folgenden Jahrhunderts beherrschen sollten."") Was ist nun in wenigen Worten der wesentliche Beitrag Pufendorfs für die Ideen der Folgezeit? Es ist: (1.) die auf der sittlichen Freiheit des Menschen gegründete Idee der Menschenwürde (dignitas naturae humanae), (2.) die aus ihr abgeleitete Idee der naturrechtlichen Gleichheit und Freiheit aller Menschen, (3.) der Gedanke, daß rechtmäßige Herrschaftsverhältnisse nur durch freie, vertragsmäßige Zustimmung der Beherrschten begründet werden können, (4.) die Idee der Toleranz, die auf dem Boden eigener Glaubenseigen, sondern beruht auf der der gesamten Naturrechtslehre immanenten Antinomie zwischen göttlicher Vernunft und göttlichem Willen (siehe unten S. 35 ff.). Dabei interpretiert Leibniz Pufendorfs Ansicht insofern falsch, als er das göttliche decretum, das der socialitas die Verpfliditungskraft verleiht, als ein reines decretum arbitrarium deutet (vgl. dazu mein „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit", S. 137). Für Leibniz sind die Naturgesetze „in der Natur der Dinge und in den Ideen des göttlichen Verstandes begründet wie die Prinzipien der Mathematik und Geometrie". Über Pufendorfs Argumente hiergegen s. u. S. 36 ff. D a die Gesichtspunkte, die der alte Leibniz gegen Pufendorf ins Feld führte, seine scharfen Urteile über Pufendorf in den Augen der Zeitgenossen nicht rechtfertigen konnten, hat man persönliche Gründe bei Leibniz vermutet (Barbeyrac: „esprit de singularite et d'envoi"). Einen Hinweis darauf könnte Leibniz' Brief an Bierling vom 28. 10. 1710 (Dutens V S. 358) enthalten: Er habe einmal Pufendorf um einen Dienst in Schweden gebeten, doch habe er hinterher von Freunden erfahren, daß Pufendorf genau das Gegenteil getan habe. Über die Verschiedenheit der Charaktere Leibniz' und Pufendorfs s. Treitschke, Samuel Pufendorf, Preuß. Jahrb. 35, S. 651 ff. le
) „ D i e Krise des europäischen Geistes", 1939, S. 24. a. a. O. S. 319.
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Einleitung
gewißheit die gegenseitige Achtung fremden Glaubens fordert^). Diese Ideen bilden bei Pufendorf Teile von gedanklichen Zusammenhängen, deren Nachwirkung zur damaligen Zeit zwar begrenzt war, die aber heute fast modern anmuten: ( i . ) der Lehre von den entia moralia und ihrer Wesensverschiedenheit gegenüber den entia physica, in der Pufendorf nicht nur den Begriff der Kultur in dem heute gebräuchlichen Sinne eingeführt, sondern auch wichtige Kategorien der neueren Kulturphilosophie vorweggenommen hat; (2.) seiner Anthropologie, in der die „imbecillitas", d.h. die Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit (naturalis indigentia) der biologischen Lebensausstattung des Menschen als eine der wesentlichen Differenzen zur tierischen Existenz erscheint, wie Pufendorf überhaupt die Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier als methodischen Gesichtspunkt seiner naturrechtlichen Argumentationen wiederholt verwendet. Endlich dadurch, daß er die rechtlichen Einzelheiten aus diesen Ideen und Gedankenkomplexen im Rahmen eines umfassenden Systems ableitete oder in sie eingliederte, bestimmte er die in der europäischen Rechtswissenschaft und Gesetzgebung bis zur Gegenwart wirksame und für sie charakteristische Tendenz zur Systematik!™) Pufendorf hat seine naturrechtlichen Lehren in folgenden Werken entwickelt : Elementorum jurisprudence universalis libri duo. Den Haag, 1660. (Unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano:) De statu imperii Germanici, Genf, 1667. De jure naturae et gentium, I. Aufl. Lund, 1672; II. Aufl. Frankfurt, 1684. De officio hominis et civis, Lund 1673. Dissertationes academicae selectiores, Upsala, 1677. Eris scandica, Frankfurt, 1686. (Unter dem Pseudonym Basilius Hypereta:) Historisch-politische Beschreibung der geistlichen Monarchie des Stuhls zu Rom, Hamburg, 1679. De habitu religionis Christianae ad vitam civilem, Bremen, 1687. 18
) In der Sozialethik sind fruchtbar und gestaltungsmächtig stets nur die „mittleren" Prinzipien, nicht der meist formale oberste Grundsatz. Nicht aus der „socialitas" hat Pufendorf sein Naturrecht abgeleitet (obwohl er es selbst glaubte), sondern aus den genannten „mittleren" Prinzipien. 18 ) Vgl. dazu Wieacker, Privatreditsgesdiichte der Neuzeit, 1952, S. 183; Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatreditsgesdiichte, 1947.
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Einleitung
Jus feciale divinum, Lübeck, 1695. Epistola ad fratremEsaiamPufendorfium super Theologia in formam demontrationis redigenda. (In: Pfäff, Chr. M., Introductio in historiam Theologiae litterariam I. S. 398). Das Hauptwerk Pufendorfs: De jure naturae et gentium ist ohne nähere Angabe zitiert und zwar (aufeinanderfolgend): das Buch in deutscher, das Kapitel in römischer und der Paragraph wieder in deutscher Ziffer; ζ. B. de jure naturae 1. Buch, 5. Kapitel, § 6 = i.V. 6. Die Elementa jurisprudence universalis sind zitiert als El. jur. (Buch, Observation oder Axiom und Paragraph ebenso wie oben). Die Eris scandica (E. s.) ist zitiert nach der Seite der Mascovschen Ausgabe des de jure naturae et gentium, Frankfurt 1744, in der sie im 2. Band enthalten ist.
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Erstes Kapitel GESCHICHTLICHE U N D METHODISCHE GRUNDLAGEN Das Problem des natürlichen Rechts ist eine uralte Frage des menschlichen Geistes. Bei Heraklit und in den άγραφοι νόμοι der griechischen Tragiker taucht es auf; sein Weg führt über die großen Systeme der Glanzzeit griechischer Philosophie zur Stoa, wo es der zentrale Begriff einer auf dem Hintergrunde einer umfassenden Metaphysik konstruierten Rechts- und Gesellschaftsphilosophie wurde. Die Welt bildet nach der stoischen Lehre einen einheitlichen Organismus. Der Mensch ist Mitglied eines großen Staates, der aus Göttern und Menschen besteht, gehört aber zugleich auch einem der kleineren irdischen Staaten an, die Nachahmungen des Weltstaates sind. Das Recht dieses Universalstaates ist einheitlich und unveränderlich und gründet sich auf der einheitlichen Weltvernunft, dem Logos. Weil nun die menschliche Vernunft nur ein Teil jener Allvernunft ist, hat sie, um das allgemeingültige Naturrecht des Universalstaates zu erkennen, nur nötig, auf ihre eigene Natur zu reflektieren. Dann wird sich der Mensch als Teil eines zusammengehörigen Ganzen, als verwandt mit allen vernünftigen Wesen erkennen. Kraft unmittelbaren Triebes wie kraft rationaler Einsicht ist der Mensch zur Gemeinschaft mit allen Vernunftwesen gewiesen. Von der Stoa wanderte das Problem des natürlichen Rechtes weiter ins Christentum, wo es in die Schicksale mittelalterlicher Philosophie hineingerissen wurde und sich in der katholischen und protestantischen Spätscholastik in einen bunten Kranz der verschiedenartigsten Theorien auflöste. Das moderne profane Naturrecht, wie es sich in den Systemen eines Grotius, Hobbes und Pujendorf darstellte, entstand in unmittelbarem Anschluß und was kein Widerspruch hierzu ist - in mehr oder minder starkem Gegensatz zu dieser scholastischen Uberlieferung und ist darum keineswegs ein neuartiges, vom Humanismus unmittelbar der Antike entnommenes Gedankengut. Die vom Humanismus vermittelte genauere Kenntnis der Stoa konnte nur den sich schon im Mittelalter andeutenden Säkularisationsprozeß der theologisch umkleideten Lehren beschleunigen helfen, wenn auch hierfür der Einfluß der dogmatisch-metaphysischen Lehren der Stoa nicht ausschlaggebend 9
Erstes Kapitel
gewesen isti). Die neuartige wissenschaftliche Fundierung des Naturrechts fand vielmehr im Anschluß an die Methodik der aufblühenden mathematischen Naturwissenschaft statt. Diese Entwicklung vollzog sich in einer zum Teil erbitterten Auseinandersetzung mit der sich zähe wehrenden scholastischen Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts, ohne daß dabei irgendwie in entscheidender Weise auf antike Gedanken zurückgegriffen wurde. Noch bei Grotius war der Einschlag des herkömmlichen Naturrechts so stark, daß man auf scholastischer Seite (vom Leipziger Theologen Valentin Alberti) vorschlagen konnte, seine Schriften unter Ausmerzung der Fehler in ein orthodoxes Kompendium zusammenzufassen, worauf Pufendorf bemerkte, daß Grotius so zu einem neuen Magister Sententiarum
würde2).
Selbst Hobbes ist ohne Wilhelm von Occam und den Nominalismus nicht denkbar; eben dieser Nominalismus drängte ihn sogar dazu, das Naturrecht durch Auflösung in das positive Recht zu zerstören. Jedoch konnte er wegen seiner radikalen Anschauungen, seiner extrem mechanistischen Rechts- und Staatsphilosophie, ebenso wie Spinoza zunächst nur abschrecken und darum die Scholastik unmittelbar nicht gefährden. Erst als Pufendorf seine dem mechanistischen Naturalismus direkt entgegengesetzte Naturrechtslehre mit dem
gleichen
rücksichtslos-vorurteilsfreien
Wahrheitsmute,
der
gleichen
souveränen Verachtung jeglicher Autorität wie Hobbes und nicht zum wenigsten durch dessen Beispiel angeregt darzulegen unternahm, stellte sich ihm die herrschende scholastische Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts zum entscheidenden Kampf entgegen. Aus diesem gegen eine überwältigende Mehrheit und auf beiden Seiten mit äußerster Erbitterung geführten Kampf ging Pufendorf schließlich als Sieger hervor und befreite damit das Naturrecht endgültig von der Theologie, wodurch er die Ausbildung des natürlichen Systems der Geisteswissenschaften in der Folgezeit wesentlich gefördert hat. Spätere Jahrhunderte haben diese Leistung Pufendorfs fast völlig vergessen. Die ihm unmittelbar nachfolgende Generation aber hat sie dankbar anerkannt: „ W e n n ich zur selben Zeit, da Herr von Pufendorf zu schreiben Dilthey überschätzt hier den Einfluß der Stoa. Die Tatsadie von stoischen Zitaten bei den meisten Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts beweist nicht soviel, wie Dilthey glaubt. Zum Teil sind derartige Zitate recht äußerlich gewesen; so heißt es von Pufendorf, daß er Zitate alter Schriftsteller, die in den Elementa jurisprudentiae völlig fehlen, nur darum in sein größeres Werk D e jure naturae et gentium hineingebracht habe, weil man ihm vorgeworfen hatte, er kenne die Alten nicht. Gegen Diltheys These: Delekat, Pestalozzi, S. 10 ff. 2 ) E. s. 200 f. 10
Geschichtliche und methodische Grundlagen
anfing, meine Institutiones verfertigt hätte
, ich glaube gänzlich, man
würde mich nicht anders als den ärgsten Ketzer traktiert haben, so gar war damals die gelehrte W e l t in den Präjudiziis der alten Lehren ersoffen", schreibt Christian
Thomasius3).
Die Scholastik hat ja viel länger geherrscht, als man nach den neueren Lehrbüchern über die Geschichte der Philosophie, die nach der Renaissance vorzugsweise die Entfaltung des neuzeitlichen Denkens behandeln, annehmen könnte. Neben der im 16. Jahrhundert sich ausbreitenden spanischen Spätscholastik und vielfältig von ihr beeinflußt entstand auf protestantischem Boden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine aristotelische Scholastik, die als protestantische Schulphilosophie in der Mitte des 17. Jahrhunderts ihre größte Blüte erreichte^. Die protestantische Scholastik bildete die Grandlage für die damalige lutherische Orthodoxie. Luthers Kampf gegen Aristoteles war längst vergessen, so daß jetzt Gutke, einer der berühmtesten protestantischen Aristoteliker jener Zeit4a), ausrufen konnte, die Logik des Aristoteles sei Gottes eigene Logik! Besonders aber im Naturrecht blieb der Protestantismus völlig unproduktiv, so daß er die herkömmlichen, ihrem innersten Kern nach antireformatorischen Lehren ganz unbefangen aufgriff. Nicht nur Thomas und Scotus, sondern auch Suarez, Molina, Gabriel Vasquez u. a. zählten zu den höchsten Autoritäten des protestantischen Naturrechts5). Die Philosophie, die zur Zeit der Hochscholastik auf bewunderungswürdiger Höhe gestanden hatte, war jetzt in eine völlige Stagnation geraten. In dieser Form lernte Pufendorf sie kennen und hat in kräftigen Worten seiner Verachtung über sie Luft gemacht. Er dankt seinem Geschick, das ihn nicht zu tief in die Seichtigkeiten der Metaphysik kommen, sondern ihn bald erkennen ließ, daß sie nur ein Schwall von Fachwörtern ist, die teils ganz unnütz sind, teils dazu dienen, das gute Latein zu verderben^). Die aristotelische Philosophie, wie ihre Erneuerer sie zurechtgestutzt haben, paßt aus3 ) Thomasius in einem Programm zu einer Vorlesung über seine Institutiones in der Ausgabe seiner Institutiones jurisprudentiae divinae, Halle, 1730. 4 ) Über sie unterrichtet jetzt das 1939 erschienene Buch von Max Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. 4 a) Über ihn M. Wundt, a. a. O . S. 113, 242 ff. B ) Besonders der Jenenser (protestantische) Theologe Valentin Veltheim konnte sich nicht genug tun im Rühmen der Scholastiker; er hielt gegen Pufendorf eine Rede de laudibus scholasticorum, in der er Thomas als Princeps moralistarum und Suarez als Papa metaphysicorum preist! s. E. s. 86, 174.
0) E.s.351. II
Erstes Kapitel
gezeichnet zu den lauten Disputationen, endlosen Objektionen und Responsionen, die die scholastische Staubwolke aufwirbeln. Diese Art marktschreierischen Debattierens, die man die „vage Methode" nennen sollte, wird mitsamt ihrer strahlenden Gloriole, die sie umgibt, vergehen, wenn sich erst die neue philosophische Methode durchsetzt, mit der aus sicheren Prinzipien und Hypothesen alles auf mathematische Art abgeleitet wird 7 ). Diese neue Methode, die mit dem Namen Descartes verknüpft ist, bedeutet nicht die Einführung hemmungsloser Zügellosigkeiten, wie ihre Gegner ihr vorwerfen; wohl aber fordert sie für sich absolute Freiheit von jeder Überlieferung und aller Autorität. Für den Philosophen müssen Religion und Nation ebenso gleichgültig sein, wie es für den Musiker irrelevant ist, ob er einen Bart trägt oder nichte). Archimedes war deshalb kein schlechterer Mathematiker, weil er kein Christ war. Nicht die Offenbarung, sondern allein die Vernunft ist die Quelle philosophischer Wahrheiten. „Von Zügellosigkeit ist die wahre philosophische Freiheit, der die göttliche Offenbarung und die staatlichen Gesetze unantastbar sind, himmelweit entfernt. Im übrigen aber hat kein Schriftsteller ein besonderes Anrecht auf Beifall; sondern das, was mit der Vernunft in Einklang steht, wird angenommen, gleichgültig von wem es überliefert sein mag. Auch wird es nicht für schimpflich angesehen, das früher Geglaubte aufzugeben, wenn etwas Besseres gefunden wird. Weiter gibt man sich Mühe, durch sorgfältige Überlegung und Untersuchung in die Geheimnisse der Wissenschaft und der Natur der Dinge tiefer einzudringen. Auf diesem Wege haben die Mediziner ihre Wissenschaft in diesem Jahrhundert hervorragend weitergeführt und tun es noch heute 9 ). So begann auch die Physik bewunderungswürdig aufzuleuchten, mit der verglichen die Weisheit derer, deren höchster Beweisgrund ist: habemus expressum textum in Aristotele, keinen Dreierling wert ist. Und wenn nicht einige tüchtige Geister jene pendantische Fessel zerrissen hätten, so würden die Philosophen bis ans Ende der Welt die aristotelischen Beeren nach Art des Skarabäus im Kreise herumgewälzt, die Naturwissenschaft aber um keinen Schritt weitergebracht haben"io). Damit wird die Autonomie der theoretischen Vernunft proklamiert, zwar noch mit einer leichten Verbeugung vor der Offenbarung, die jedoch keine ) E. s. 344. ) E. s. 2 0 4 ff. ®) Pufendorf spielt hier in erster Linie auf die Entdeckung des Blutkreislaufes durch William Harvey an. T
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) E. s. 343-
Geschichtliche und methodische Grundlagen
theoretischen Wahrheiten mehr enthält, sondern allein auf die Offenbarung des ewigen Heilsweges beschränkt w i r d i i ) . Mit dem Mute zur Wahrheit ergreift den Denker auch das feste Vertrauen in die Kraft der Vernunft, für die bei harter Arbeit kein Irrtum unbesieglich sein k a n n 1 2 ) . Ein starker Hauch von rationalem Optimismus durchweht das damalige Denken, ein unerschütterlicher Glaube an die Vernunft, der auf die Dauer kein Geheimnis der Welt ungelöst standhalten kann. Stolz und Zuversicht waren für diese Denker die mächtig emporstrebenden mathematischen Naturwissenschaften. Hier waren ganz neue Kräfte am Werke, die mit dem Wiederkäuen einer unantastbaren Autorität aufgehört hatten und an die Dinge selbst herangegangen waren. Ihre Methoden, mit denen bereits so glänzende Erfolge errungen waren, galt es klarzulegen und sie, wenn möglich, auf andere Wissenschaften zu übertragen. Die Zeit war darum erfüllt von dem Problem der Methode, Zwei Richtungen schied hier das neuzeitliche Denken, die bald in schroffer Trennung nebeneinander herliefen, bald innig verschlungen gerade in den Leistungen der genialsten Naturwissenschaftler, Galilei und Newton, ihre größten Erfolge hatten. Die eine - empiristische - Richtung ging von der Erfahrung aus und versuchte durch Induktion neue Erkenntnisse zu gewinnen, der andere - rationalistische Zweig wollte aus obersten, unmittelbar evidenten Prinzipien die Besonderheiten der Erscheinungen deduzieren. Die eine Richtung verfocht das Recht der Beobachtung, des Experiments, die andere das Recht der mathematisch strengen Deduktion; beide vereinigten sich in der resolutiven und kompositiven Methode Galileis und in der Analysis und Synthesis Descartes'. Dieser Dualismus tritt auch bei Pufendorf zutage. Er kennt zwei Arten von Prinzipien, rationale und erfahrungsmäßige; die ersteren nennt er Axiome, die letzteren Observationen. Wahrheit, Gewißheit und Notwendigkeit von Axiomen fließen aus der Vernunft selbst ohne Wahrnehmung oder diskursives Erfassen von singulären Erscheinungen, allein durch geistige Schau. Die Gewißheit von Observationen ergibt sich aus dem Vergleich und der Wahrnehmung konstant sich entsprechender singulärer Erscheinungen^). «)
E . s. 3 3 8 .
12
)
E . s. 38.
13
) D u p l i c i a deprehenduntur huius disciplinae principia propria rationalia scilicet et
experimentalia. Illorum Veritas, certitudo atque necessitas ex ipsa ratione fluit absque singularium perceptione aut instituto discursu, nudo duntaxat mentis intuitu. H o r u m vero certitudo ex singulorum constanter sibi respondentium collatione ac perceptione intelligitur. Quae observationes nobis dicentur, uti illa axiomata. E l . jur. 2. I. 1 .
Erstes Kapitel
Gemäß der Forderung Descartes', aus einem einzigen obersten Prinzip die Besonderheiten einer Wissenschaft abzuleiten, will auch Pufendorf für das Naturrecht einen höchsten Satz finden, aus dem sich alle besonderen Erkenntnisse, alle besonderen natürlichen Vorschriften klar und deutlich ergeben 14 ) . Ein kraftvoller Wille zur Systematik unternimmt es hier, das ganze Naturrecht zu einem logisch klaren, auf einem einzigen Prinzip aufgebauten System zusammenzupressen. Dieses oberste Prinzip des Naturrechts ist nach Pufendorf kein unmittelbar einsichtiges Axiom, sondern eine die Erfahrung und Beobachtung voraussetzende Observation. Die Lehre vom Naturrecht hat sich also methodisch nicht an die deduktiv verfahrende Mathematik, sondern in erster Linie an die an der Erfahrung orientierte Naturwissenschaft anzuschließen. Dabei knüpft Pufendorf deutlich an die analytisch-synthetische Methode Galileis und des von ihm hochgeschätzten Descartes 15 ) an: „Die Naturforscher begnügen sich nicht damit, das äußere Aussehen der Körper und was zuerst in die Augen fällt, zu betrachten, sondern sind bestrebt, sie innerlich zu untersuchen und in die Teile, aus denen sie bestehen, zu zerlegen. Letztlich führen sie alle Körper auf eine erste Materie zurück, die als von allen besonderen Formen abstrahiert betrachtet wird*®). Damit findet ihreReduktion ein Ende. Denselben Weg nehmen sich auch die vor, die das Wesen des vornehmsten moralischen Körpers, des Staates, erforschen wollen. Ihnen genügt es nicht, die äußere Leitung, die Verschiedenheit der Obrigkeiten, die Namen und Klassen des Volkes darzulegen, vielmehr wollen sie die innere Beschaffenheit des Staates, die aus der Macht und Berechtigung der Herrscher und den Pflichten der Bürger resultiert, kennenlernen und darum die Teile, aus denen jener große Körper besteht, trennen. Zur Vollkommenheit dieser Disziplin gehört besonders, alle Gesellschaften gleichsam zu transzendieren 14
) E. s. 187 und 356. ) Descartes wurde in der protestantischen Scholastik ebenso gehaßt, wie Aristoteles in den Himmel gehoben. „Ich will lieber ein christlicher als cartesianischer Philosoph sein", sagt Valentin Alberti, worauf Pufendorf antwortet: gleich als ob Descartes kein Christ sei, Aristoteles aber unter den Aposteln die erste Stelle eingenommen hätte. E. s. 37 T 1 ''/ Was Pufendorf hier unter prima materia und forma versteht, bleibt unklar, wie überhaupt dieses aus der Scholastik stammende Begriffspaar in der damaligen Philosophie vieldeutig und verschwommen war. Möglicherweise liegt hier bei Pufendorf ein Einfluß Gassendis vor, den Pufendorf kannte (E. s. 168) und der an einer Stelle seiner Physik eine Zerlegung der Körper in ihre Teile bis zur ersten Materie, die für ihn die Atome sind, durchführt, s. Gassendi op. omn. I. pag. 230 und K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik II. 144. 15
Μ
Geschichtliche und methodische Grundlagen
und im Geiste die Beschaffenheit und Lage des Menschen zu fingieren, wie sie außerhalb der Gesellschaft und ohne alle menschlichen Künste und Einrichtungen gedacht werden können. Hieraus kann man dann leicht erkennen, welcher Grund bestand, die Staaten zu errichten, welche Rechtsmacht und welche Pflichten aus ihrer Natur sich ergeben und welche Annehmlichkeiten und eigentümlichen Verhältnisse zwischen den Menschen sie zur Folge haben."i7) Es ist das resolutive oder analytische Verfahren, das Pufendorf hier beschreibt: diie Erscheinungen in ihre Teile zerlegen und aus der Einsicht in das notwendige Verhältnis dieser Teile ein für alle gleichartigen Erscheinungen gültiges Prinzip finden, aus dem sich deren Besonderheiten leicht und deutlich ableiten lassen. Mit Auffindung des allgemeinsten Prinzips beginnt der kompositive oder synthetische Teil, der die Besonderheiten der Phaenomene, die besonderen Erkenntnisse einer Disziplin, aus dem obersten Prinzip heraus systematisch aufbaut oder ableitet. Das Zusammenwirken beider Methoden macht Pufendorf unter besonderer Berücksichtigung der naturwissenschaftlichen Hypothesen deutlich: „Die meisten Disziplinen haben das an sich, daß sie letztlich bis zu einem ersten Satz aufgelöst werden, der entweder vollständig und klar bewiesen werden kann und als wahr und bewiesen anerkannt ist oder noch nicht deutlich genug beweisbar ist, aber trotzdem vorläufig als wahr angenommen wird. In beiden Fällen werden auf jenem ersten Satz alle übrigen Sätze gleichsam wie auf einer Basis errichtet; solange jener feststeht, sind auch diese unerschüttert; fällt er, so stürzen auch 1T ) Qui circa corporum naturalium constitutionem investigandam soliciti fuerunt, non satis habuere, faciem eorum exteriorem et quae primo statim obtutu in oculos incurrunt, adspexisse; sed et eadem penitius rimari, et in partes, ex quibus componuntur, resolvere praecipuus labor fuit. Quin et demum quicquid est corporum ad primam quandam materiam reducere visum, quae ab omnibus particularibus formis abstracta conciperetur; ad quam ubi perventum fuit, ulterius quo progrederentur non habuerunt. Eandem viam institere, queis indolem nobilissimi corporis moralis, civitatis nimirum, curatius perscrutari cordi fuit; quibus non externam tantum eiusdem administrationem ac magistratuum varietatem ac vocabula classesque populi evolvere suffecit; sed et intrinseca velut ipsius dispositio, ex potestate ac jure imperantium et obligatione civium resultans, perspecta; nec minus partes, ex quibus vastum illud corpus componitur, accurate discretae. Quin ad disciplinae illius perfectionem insigniter facere judicatum, omnes societates velut transcendere et mente concipere conditionem atque statum hominum, qualis ille extra societatem et ab omnibus artibus et institutis humanis vacuus intelligi potest. Inde enim liquido demum cernere licet, quae necessitas ac ratio fuerit societatum civilium combinandarum, quid potestatis aut obligationis ex earundem natura promanet, quid commoditatis denique ac peculiaris habitudinis inter homines ex iisdem proveniat. - Diss, de statu hominum naturali.
15
Erstes Kapitel
die übrigen zusammen. Hypothesen im eigentlichen Sinne sind nur die zweite Art des obersten Satzes. Daraus folgt, daß die auf eigentlichen Hypothesen errichteten Sätze nicht für absolut wahr gelten können, sondern nur soweit jene Hypothesen wahr sind. So ist es in der Astronomie eine Hypothese, daß die Sonne in der Mitte steht und die Erde sich um sie in doppelter Drehung bewegt. Aus dieser Hypothese beweist man die Phänomene, welche Beweise aber hinfällig sind, wenn die Hypothese falsch ist."i8) Schon aus den angeführten Worten wird deutlich, daß der Begriff der Hypothese nicht im Sinne der platonischen Hypothesis, der apriorischen Möglichkeitsbedingung, sondern schlicht als ein für wahr angenommenes Erklärungsprinzip, das des Beweises durch die Erfahrung durchaus bedürftig ist, gefaßt wird. Analog dasselbe gilt auch für den durch das analytische Verfahren aufgefundenen obersten Satz oder die Observation, für die ja der Beweis durch die Erfahrung bereits gelungen ist; auch sie ist keine apriorische Möglichkeitsbedingung, sondern eine durch zerlegende Beobachtung der Erscheinungen gewonnene grundsätzliche Erkenntnis. Überhaupt hat sich Pufendorf mit der Frage nach dem Verhältnis des allgemeinen Prinzips zum besonderen Gegenstand sehr intensiv beschäftigt. Nichts wäre verkehrter, als Pufendorf idealistisch zu deuten. Er war vielmehr Gegner einer Lehre,die in irgendeiner Weise an sich bestehende oder geltende rationale Wesenheiten oder Formen behauptet, denen die Wirklichkeit als ein logisch Zweites untergeordnet wäre; darum wendet er sich auch ausdrücklich gegen die platonische Ideenlehreis). Allerdings können an einem Gegenstand Wesen und Dasein unterschieden, d. h. das, was allgemein und dauernd in ihm ist, im Gegensatz zu dem betrachtet werden, was nur bei bestimmten Individuen oder nicht dauernd vorhanden ist. Die Wahrheiten, 18
)
Pleraeque disciplinae id habent, ut ad extremum in primariam aliquam propo-
sitionem resolvantur; ita ejusmodi propositio vel plane et perspicue demonstrari potest ac pro vera ac demonstrata admittitur; vel nondum sat liquido demonstrari potuit, nec eo minus tantisper pro vera habetur atque supponitur. Utraque id habet, ut eidem reliquae propositiones velut basi superstruantur, eaque adeo ürma persistente et ipsae firmae
stent; eadem convulsa et ruente et ipsae corruant
genus propositionis
hypotheseos nomine venit. E x
proprie alterum
quo consequitur, ut
quaecunque
eiusmodi hypothesi proprie dictae inaedificantur, propositiones non absolute pro veris haberi possint, sed quatenus ilia hypothesis vera est. Sic in astronomicis hypothesis est, solem in medio vorticis consistere ac terram duplici motu moveri. E x hac hypothesi, qui earn sequntur, phaenomena demonstrantur, sed quae demonstrationes inanes sunt, si hypothesis ilia falsa sit. Ε. s. 3 5 6 . 19
)
Ε . s. 2 6 8 , vgl. zum ganzen Problem E . s. 2 6 4 ff., 2 6 7 ff., 3 0 4 ff., 3 2 4 ff. Hier
zeigen sich deutlich nominalistische Einflüsse!
16
Geschichtliche und methodische G r u n d l a g e n
die über das Wesen gefunden werden, stehen und fallen nicht mit dem der Veränderung unterworfenen Dingindividuum. Trotzdem darf man den Wesenheiten kein von der Existenz abgelöstes Sein geben; vielmehr ist die wahre Essenz nur die mit der Existenz verbundene, während das von dieser abgelöste Wesen ein inadäquater Begriff ist, der allein im Gehirn von Sophisten Bestand (substantia) h a t 2 0 ) . Die Unterscheidung von allgemeinem Prinzip und Existierendem ist eine rein erkenntnismäßige, nur in der und durch die Erkenntnis gesetzt, aber kein ontologischer von idealem Sein oder Gelten und realer Existenz. In Wahrheit ist die Existenz logisch früher als die Essenz, welche nur einen Teil dessen ausdrückt, was e x i s t i e r t 2 i ) . So sind jene allgemeinen Prinzipien für sich genommen nur begriffliche Abstraktionen, die Kraft und Leben allein in den individuellen Erscheinungen haben, von denen sie ein Moment, eine Seite, ausmachen. Haben aber die Naturwissenschaften und damit auch die Naturrechtslehre von der Wirklichkeit und der Erfahrung auszugehen, so rücken mit dem Begriff der Erfahrung erkenntnistheoretische Probleme in den Vordergrund. Hier bekämpft Pufendorf die Lehre von den angeborenen Ideen, die nach ihm bereits durch die tägliche Erfahrung mit Kindern widerlegt werde 2 2 ). Ebenso heftig wendet er sich gegen den Sensualismus, der behauptet, daß nichts im Geiste sei, was nicht vorher in den Sinnen war; gleich als ob unser ganzes Wissen allein mit Hilfe der Sinne in den Geist käme. Vielmehr hat der Geist des Menschen nicht nur die Fähigkeit, die Dinge zu apprehendieren, sondern auch sie untereinander zu vergleichen und zu trennen, worin sie übereinstimmen und worin sie verschieden sind, und aus dieser Übereinkunft oder Verschiedenheit neue Begriffe zu bilden, von denen man nicht sagen kann, sie seien zuvor in den Sinnen gewesen. So kann der menschliche Geist über Ursachen und Folgen der Dinge urteilen, was man nicht zu den Sinnesobjekten rechnen kann 2 3). Im Begriff der Erfahrung sind darum sinnliche wie rationale Faktoren mitgesetzt. 20
)
E . s. 2 6 4 .
2 1
)
C u m igitur existentia revera p r i o r sit essentia et haec non nisi partem e x p r i m a t
(s. auch 3 0 4 ) .
e j u s , q u o d exsistit
E . s. 3 2 4 .
22
)
E . s. 4 0 f., 2 1 3 f . , 2 8 2 .
23
)
S i c et de causis et consequentiis r e r u m judicare potest a n i m u s h u m a n u s ; id q u o d
inter objecta sensuum referri non posse videtur. D i e s e B e m e r k u n g , d i e das K a u s a l problem
anschneidet,
ist nur
rhapsodisch
hingeworfen
und
nicht näher
ausgeführt.
Ü b r i g e n s e r w ä h n t P u f e n d o r f sie als philosophische L e h r m e i n u n g seiner Z e i t , mit d e r er sich jedoch, w i e aus d e m Z u s a m m e n h a n g u n d aus sonstigen B e m e r k u n g e n
hervor-
geht, identifiziert. E . s. 2 1 4 .
2 W e l z e ] , Pufendorf
17
Erstes Kapitel
Aber trotz der methodischen Angleichung der Naturrechtslehre an die Naturwissenschaften scheint jene die strenge Beweisbarkeit dieser entbehren zu müssen. Die Naturwissenschaft hat ihre Exaktheit in erster Linie aus der engen Verknüpfung mit der Mathematik erhalten; sie hatte gelernt, die ihr unterliegenden Erscheinungen zu messen und ihr gegenseitiges Verhältnis in mathematischen Formeln auszudrücken. Diese mathematische Fundierung ist aber in der Naturrechtslehre unmöglich. Schon früher hatte darum Grotius im Anschluß an Aristoteles die Behauptung aufgestellt, daß in der Naturrechtslehre nicht dieselbe Gewißheit herrschen könne wie in der Mathematik. Dagegen bemerkt Pufendorf, daß die moralischen Qualitäten, d. h. die Frage, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, ob ein Mensch ein bestimmtes Recht oder eine bestimmte Pflicht hat oder nicht u. s. f., mit mathematischer Exaktheit aus einem obersten Prinzip abgeleitet werden können. Aber wieviel das eine gegenüber einem anderen besser oder schlechter ist — eine Relation, die Pufendorf moralische Quantität nennt, - ist nicht mathematisch genau festzulegen. Das beruht auf der Verschiedenheit der raumzeitlichen und der moralischen Quantitäten; jene werden in der sinnlich wahrnehmbaren Materie repräsentiert und können in Teile zerlegt, miteinander verglichen und gemessen werden und stellen so etwas Unveränderliches und Ewiges dar. Die moralischen Quantitäten dagegen verdanken ihr Dasein der Wertung (aestimatio) und Beilegung (impositio) intelligenter und freier Wesen; und wie deren Urteil unter kein dem physikalischen ähnliches Maß fällt, so behalten auch die Quantitäten die Freiheit und Laxheit ihres Ursprungs an sich 2 4 ). Unvermittelt wird hier das Problem subjektivistisch gelöst. Wenn zugegeben wird, daß die moralischen Qualitäten, ζ. B. die Güte verschiedener Handlungen, objektiv bestimmt und sogar einsichtig beweisbar sind, so muß auch ein objektiv festliegendes, freilich nicht in mathematischen Größen ausdrückbares Verhältnis zwischen ihnen bestehen, das vom Werturteil des Subjekts getroffen oder verfehlt werden kann, aber von ihm nicht erst hervorgebracht wird. Dieser Subjektivismus Pufendorfs hängt mit einer uns noch später begegnenden prinzipiellen Unklarheit zusammen, über die Pufendorf niemals hinweggelangt ist 2 5). ι . II. io. ) Es ist die unten zu besprechende Vieldeutigkeit des Begriffes der impositio und der damit zusammenhängenden Unklarheit über das Verhältnis des obersten Prinzips des Naturredits zum göttlichen Willen. 2B
18
Die Lehre von den entia moralia
Zweites Kapitel DIE LEHRE V O N D E N ENTIA MORALIA Es ist leicht verständlich, daß die Anlehnung der neuzeitlichen Naturrechtslehre an die exakten Naturwissenschaften nicht bei der Herübernahme der methodischen Grundlagen stehen blieb. Was viele Naturrechtler in den Naturwissenschaften suchten, war weit substantieller und massiver als deren bloße Methodik. Nicht nur in Methodengleichheit, sondern in erster Linie in Objektgleichheit glaubten sie mit den Naturwissenschaften zu stehen: die „Natur" war das gemeinsame Tätigkeitsfeld beider Wissenschaften, hier die menschliche, dort die außermenschliche. Hobbes und Spinoza gaben dieser Form des Naturrechts ihren schärfsten und konsequentesten Ausdruck. „Est namque natura semper eadem et ubique una eademque ejus virtus et agendi potentia; hoc est naturae leges et regulae sunt ubique et semper eaedem", sagt Spinoza über das Verhältnis des sittlich-sozialen Lebens zu dem kausalen Naturgescheheni). So tritt neben die mechanischen Naturwissenschaften die Mechanik des sittlichen und staatlichen Lebens. Ihre Gesetze sind nichts anderes als kausale Gesetze der einen einheitlichen Natur. Inhaltlich bauen sie sich auf dem Prinzip der Selbsterhaltung auf, sei es der unbeschränkten im Naturzustand oder der beschränkten im Staat. Das hervorstechendste Merkmal dieser Naturrechtslehren ist darum ein konsequenter und radikaler Naturalismus. Da war es eine geniale Leistung, als Pufendorf seine auf der Grundüberzeugung von der menschlichen Freiheit beruhende Lehre von den entia moralia schuf, die scharf geschieden von den entia physica ihre eigenen Strukturgesetze und ihren eigenen Endzweck haben. Damit wird Pufendorf zum ersten Kulturphilosophen, welcher die prinzipiellen Grundlagen einer Kulturphilosophie in einer erstaunlich modern anmutenden und teilweise noch heute gültigen Weise gelegt hat, der insbesondere zum ersten Male die besondere Wesensart der Kulturwelt und ihrer Sinngebilde zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht und sie so aus dem Zustand naiver Hinnahme herausgerissen und ins wissenschaftlicheBewußtsein erhoben hat2). x
) Spinoza, Ethica III. ) Sogar der Terminus „Kultur" im heute geläufigen Sinne, der während des 1 8 . Jahrhunderts eine immer stärkere Bedeutung erlangen sollte (besonders bei Herder und Kant), stammt von Pufendorf (ζ. B. als cultura animi, hominis, socialitatis). V g l . besonders 2. I V . und E. s. 2 3 9 . 2
Zweites Kapitel
Freilich hatte man seit den ersten Anfängen der Philosophie über ethische und rechtliche Fragen nachgedacht; aber wie es ja stets erst spät und schwer gelingt, gerade das Vertrauteste und scheinbar so Selbstverständliche ausdrücklich zum Problem 2u machen, so hatte man mit den Gegenständen des sittlichen und rechtlichen Lebens operiert, ohne deren besondere Wesensart selbst erforscht zu haben. Pufendorf gelang die Entdeckung einer neuen Welt, der W e l t der Kultur neben dem natürlichen Universum; er überwand dadurch jenen schweren Einbruch des Naturalismus in das Naturrecht bei Hobbes und Spinoza. Das Nalurrecht wird in seiner Hand unversehens zum Kultunecht,
zum Inbegriff der Normen, welche den Menschen zur Kulti-
vierung seiner biologischen Natur verpflichten: „homini cultura sui est necessaria."3) Diese Kulturwelt ist die W e l t der „entia moralia", die auf der Unterlage der Welt der entia physica, aber wesensverschieden von dieser, den freien Handlungen des Menschen Richtung und Ziel gibt und so das menschliche Leben zu einer sinn- und wertbestimmten Wirklichkeit gestaltet. Darum ist ihr Endzweck nicht wie der der entia physica die Vollkommenheit des natürlichen Universums, sondern die Vollkommenheit des menschlichen Lebens: „hinc finis eorundem patescit, qui non est, uti entium physicorum, perfectio hujus universi, sed peculiariter perfectio vitae humanae, quatenus prae brutorum vita decori cujusdam ordinis capax erat, utque in re maxime vaga, qualis est motus animi humani, concinna aliqua harmonia inveniretur." 4 ) V o n hier aus lassen sich aufschlußreiche Verbindungslinien zu früheren Weltbildern ziehen. Das metaphysische Denken der Antike lebte in erster Linie in der Vorstellung, daß der Mensch ein Glied des großen natürlichen Kosmos ist und seine Vollkommenheit darin besteht, als Mikrokosmos die Harmonie des Makrokosmos zu wiederholen. Für das Mittelalter dagegen stand der Mensch, sowohl der Einzelmensch wie das Menschengeschlecht, im Hinblick auf die Heilslehre im Vordergrund; die Natur mit ihrer Schöpfung und ihrem Untergang bildete nur den Schauplatz dieser Heilsgeschichte. Hier, bei Pufendorf, treten zum erstenmal in dieser prinzipiellen Schärfe beide 3 ) 3. IV. 1. - Nachdrücklich warnt Pufendorf vor der Vieldeutigkeit der Begriffe natura und naturalis. Der Physiker faßt sie anders als der Mediziner, der Theologe anders als diese und wieder anders der Jurist auf. Wer sie gebraucht, muß darum vorher genau definieren, in welchem Sinne er sie verstanden haben will; s. besonders E. s. 177.
4)
20
i l· 3·
Die Lehre von den entia moralia
Welten, die natürliche und die kulturelle, in voller Selbständigkeit und mit unabhängigen Entwicklungszielen einander gegenüber. Bei der Durchführung seiner Lehre von den entia moralia geht Pufendorf davon aus, daß sich an allem Seienden Substanz und Modi unterscheiden lassen. Grundsätzlich sind diese Modi natürlicher oder „physischer" Art (naturale seu physicum), wobei unter „physisch" auch das Psychische zu verstehen ist. Ihr Wesen zeigt sich darin, daß sie die physische Substanz vollenden, ändern oder anderswie affizieren und gleichsam in sie hineindringen 5 ). An einem bestimmten Teil des Seienden aber finden sich auch andere Modi, die die Substanzen nicht in dieser „physischen" Weise affizieren, sondern den physisch vollendeten Substanzen ganz neuartige Seinsweisen beilegen, die im Gegensatz zu den physischen Modi sinnhaft oder wertbestimmt sind. Diese sind die entia moralia. Ihre Entstehung, die Pufendorf im Gegensatz zur Erschaffung (creatio) der entia physica Beilegung nennt (impositio) 6 ), ist an ein bestimmt geartetes Sein geknüpft, und zwar - sehen wir dabei von Gott ab - allein durch freies menschliches Handeln möglich. Die Freiheit des menschlichen Handelns ist die Grundvoraussetzung für das Dasein einer „moralischen" Welt. Pufendorf gibt darum eine genaue Analyse der moralischen Handlung, die zugleich die Wesenszüge und das Verhältnis der entia moralia zu den entia physica aufzeigt. Hierbei müssen wir zunächst allein die „physische" Seite der freien Handlung unter Absehen von ihren „moralischen" Beschaffenheiten betrachten; wir bleiben also - das ist streng zu beachten - durchaus im Bereich der physischen (bzw. psychischen) Welt und haben innerhalb ihrer zwei verschiedenartige Determinationstypen festzustellen. Das gesamte außermenschliche und zum Teil auch menschliche Geschehen erfolgt nach einem gleichmäßigen unabänderlichen Modus der Ursache-Folgeverknüpfung, nach dem Gesetz der Kausalität. Allein die menschliche Handlung, und auch diese nur, sofern sie aus Verstand und Willen ihren Ursprung nimmt, hat einen anderen Determinationstypus, nämlich den Typ der Determination durch Freiheit. Die vornehmste Eigenschaft des Willens ist seine Freiheit, die sich in Indifferenz und freier Selbstbestimmung äußert. Die Indifferenz bezeichnet das Verhältnis des Willens zu möglichen Handlungen, vermöge dessen er irgendeine von ihnen ohne jede Nötigung auswählt; die freie Selbstbestimmung bedeutet, daß der Entschluß zur Handlung allein vom Willen, B
) E. s. 29. Im übrigen zum Ganzen 1. I.
β
) I.I.4. 21
Zweites Kapitel
und zwar aus dessen innerem Antriebe ausgeht. Beide Momente sind also Seiten derselben Sache: die Indifferenz zeigt die Unabhängigkeit von jeder Fremddetermination, die freie Selbstbestimmung den Ursprung der Handlung aus Eigendetermination an?). Zur Freiheit des Handelns gehört weiterhin auch das Wissen dessen, was man will, gehört der Verstand. Dieser stellt die Gegenstände gleichsam wie in einem Spiegel vor den Willen hin und gibt ein Urteil darüber ab, was, wann, wie und mit welchen Mitteln gehandelt werden muß 8 ). Eine freie Handlung, die so aus dem Zusammenwirken von Wille und Verstand entsteht, hat die Eigenschaft, dem Täter als ihrer moralischen Ursache zugerechnet zu werden, eben weil sie vom Willen des Menschen als von einer freien Ursache so abhängt, daß sie ohne dessen freie, nach vorgängiger Erkenntnis erfolgende Determination nicht geschehen wäre. In dieser Hinsicht kann an einer freien Handlung - immer noch abgesehen von ihrem Wert oder Unwert — ein materiales und ein formales Moment unterschieden werden. Die Materie ist die Gesamtheit des „physischen" Geschehens an der Handlung; dazu gehören nicht nur die Körperbewegung und das durch sie bewirkte weitere kausale Geschehen, soweit es durch den Willen lenkbar ist, sondern auch alle Verstandes- und Willensakte, sofern sie abstrakt in ihrem natürlichen Sein (in esse suo naturali) betrachtet werden. Die Form besteht in der Zurechenbarkeit der Handlung (imputativitas), durch die die Wirkung einer freien Handlung dem Handelnden als ihm gehörig zugerechnet werden kann, mag er sie physisch unmittelbar oder nur mittelbar bewirkt haben. Auch diese Zurechenbarkeit ist zunächst in unserer abstrahierenden Betrachtung völlig wertindifferentö); sie soll nichts über Schuld oder Verdienst aussagen, sondern nur die wesensmäßig zur Determination 7
) ι . I V . bs. § 2. ) ι . III. ® ) In ι . V . führt Pufendorf für die Form der Handlung diese abstrahierende Betrachtung nicht klar durch; erst in den Streitschriften tritt sie deutlich hervor. Überhaupt hat Pufendorf in diesem Punkt eine Entwicklung durchgemacht. Noch in den El. jur. unterscheidet er außer dem materiale und formale nodi ein fundamentale der Handlung, worunter er die ratio proaeretica, qua motus ille physicus ut a decreto voluntatis productus intelligitur, verstand (El. jur. ι . I. 3 ) . Dieses fundamentale fehlt in dem größeren Werk, eben weil es zu den materialen, psychischen Momenten der Handlung gehört. Aber auch in dem größeren Werk sind die Erörterungen über die seelischen Elemente der Handlung (Verstand und W i l l e ) , ferner über die Zurechenbarkeit stets mit sinn- und werthaften Bestimmungen durchzogen. Erst in den Streitschriften tritt die Trennung von Nur-Psychischem und Werthaftem geradezu radikal heraus. (E. s. 29 f., 1 8 4 f., 2 1 8 ) . 8
22
Die Lehre von den entia moralia
durch Freiheit gehörige logische Folgerung bezeichnen, daß der freien Selbstbestimmung eine Handlung nicht als bloße Wirkung, sondern als frei gewollte Wirkung und darum als ihr in besonderem Sinne angehörend zugeordnet werden kannio). Dieser Gesamtkomplex mit seinen beiden übereinandergreifenden Determinationstypen stellt den „physischen" Teil der moralischen Handlung dar und ist als solcher für sich allein nie wirklich, sondern so, wie er dargestellt ist, eine bloße methodische Abstraktionii). Um diese Abstraktion aufzuheben und zur vollen moralischen Handlung zu gelangen, muß man bedenken, daß auch die Freiheit so, wie sie bisher dargestellt wurde, eine bloße Abstraktion ist. Die wahre menschliche Freiheit, die keine Abstraktion ist, ist nie so absolut ungebunden, sondern stets in bestimmter Weise an ein Gesetz g e b u n d e n i 2 ) . Besteht nun die menschliche Freiheit im Zusammenwirken von Verstand und Wille, so muß auch das Gesetz auf beide in irgendeiner Weise einwirken. Der Verstand stellt dem Willen die Handlungen nicht bloß in ihrem wertindifferenten Sein vor, sondern urteilt auch über „Richtig" und „Verkehrt", „Gut" und „Böse", „Recht" und „Unrecht" (rectum aut pravum, bonum aut malum, justum aut injustam). Um aber hierüber ein Urteil fällen zu können, bedarf er der Kenntnis des Gesetzes als der Handlungsnorm. Das Urteil des Intellekts über die Werthaftigkeit (Moralität) der Handlungen auf Grund des Gesetzes ist das Gewissen 13 ). Dem Willen tritt das Gesetz als Forderung (obligatio) gegenüber und schränkt seine Freiheit in bestimmter Weise ein. Diese Einschränkung zerstört die Freiheit nicht; vielmehr kann sich der Wille ebensosehr negativ wie positiv dem Gesetz gegenüber entscheiden. Die Einschränkung stellt vielmehr nur eine „moralische" Bindung dar, eine Forderung zum richtigen, guten, gerechten Verhalten, für das sich der Wille frei entscheiden soll. Die wahre Freiheit garantiert so die freie Selbstdetermination der Person auch gegenüber dem Gesetz; das Gesetz kann den Willen nicht zu einer Handlung zwingen; aber es verleiht ihm eine besondere Erkenntnisart (peculiaris quasi sensus), die ihn dazu nötigt, über 10
) i . V . ; E . s. 2 1 8 . ) s. 2. Β. E. s. 34, 76, 2 1 8 . 12 ) E x quibus Omnibus apparet, libertatem hominis naturalem quae quidem revera ipsi competit, et non per abstractionem concipitur, semper cum vinculo aliquo, sanae rationis nimirum et legis naturalis esse intelligendam 2. I. 8. 13 ) 1. III. 4. 11
23
Zweites Kapitel
seine Handlungen selbst zu urteilen und sich eines Übels für wert zu befinden, wenn er sich der vorgeschriebenen Norm nicht gemäß verhälti4). Vermöge des Gesetzes wird eine Handlung zu einer vollen moralischen, und zwar einmal deshalb, weil es als Maßstab die sachliche
Voraussetzung^)
dafür ist, daß der physischen Bewegung eine moralische Beschaffenheit hinzukommt, und zweitens darum, weil es als Forderung
an den Handelnden
herantritt, seine freie Entschließung ihm gemäß zu treffenie). Zugleich zeigt 14)
ι . V I . 5. In diesem Zusammenhang faßt Pufendorf das Gesetz als konstitutive allgemeine Möglichkeitsbedingung des konkret Werthaften auf. Nach seinen methodischen Grundlagen und den weiteren Ausführungen über das oberste Prinzip des Naturrechts ist dies eine Inkonsequenz, über die Pufendorf jedoch nicht hinweggelangt ist. In W a h r heit ist f ü r ihn das Gesetz gegenüber dem konkret Werthaften nicht ein konstitutives Prius, sondern ein Posterius, das die Werthaftigkeit eines Tatbestandes bereits voraussetzt. 16)
M i t dieser Inkonsequenz hängt weiterhin ein verwirrender Doppelsinn im Begriffe der impositio zusammen: einmal (grundsätzlich) bedeutet sie die reale Hervorbringung eines ens morale durch menschliche Handlungen, zweitens aber auch die rein logische Konstituierung des ens morale durch den übergeordneten Maßstab, das Gesetz, (ζ. B. χ. II. 6.: moralitas per legem imposita). So imponiert das Gesetz einer Handlung die moralische Beschaffenheit, d. h. es bestimmt objektiv, welche entia moralia durch die reale Beilegung hervorgebracht sind. D i e mangelnde Unterscheidung dieser beiden Bedeutungen hatte zur Folge, daß die Gegner Pufendorfs auch der letzteren impositio das Moment des Willkürlichen anhefteten, das in der ersteren, die ja völlig vom freien Entschluß des Handelnden abhängt, enthalten ist. Pufendorf verwahrt sich dagegen, indem er betont, daß das Gesetz nicht willkürlich sei, sondern ein sachliches Fundament (fundamentum in re) habe (s. bs. E. s. 224). Damit weist er auf ein vor dem Gesetz liegendes Prinzip hin, aus dem heraus es erst seine Objektivität erhält. Dieses ist die Natur des Menschen, d. h. die Gesamtheit der werthaften Seins- und Verhaltensweisen des Menschen. D a diese aber nichts anderes als die wertvollen entia moralia sind, so ergibt sich, daß das Gesetz eben nicht eine Möglichkeitsbedingung für die entia moralia ist, sondern daß diese ihren W e r t (oder U n w e r t ) in sich tragen, ohne ihn erst durch ein übergeordnetes Prinzip z u erhalten. Hierzu s. bs. unten K a p . III, A n m . 1. 1 6 ) A m schärfsten und konzentriertesten ist diese Analyse in E. s. 218 durchgeführt: actionem moralem penitius introspicienti patet, aliquid in illis esse naturale seu physicum, aliquid morale, quod ab impositione, determinatione et definitione entium intelligentium promanat. Physicum est, quodcunque a potentiis hominis congenitis ut talibus procedit; uti non est solum motus membrorum et artuum humanorum una cum effectu, quem motus iste per naturalem habitudinem in objecto producit; sed etiam actus animae, per quem iste motus praevia cognitione et ex decreto voluntatis prodire intelligitur et ex quo consequitur, ut ejusmodi actus homini imputari seu suus dici et ipse ejusdem auctor haberi queat. Sed ut plena actio moralis fiat, huic motui physico supervenit et accedit qualitas quaepiam seu affectio moralis, juxta quam actio illa bona et mala in genere morum dicitur. Q u a e affectio resultat ex congruentia aut disconvenientia ejus actionis cum norma morali seu lege, et quidem ut ea convenientia aut
24
Die Lehre von den entia moralia
sich damit auch der Grand, weshalb die Freiheit des Willens die erste Voraussetzung alles moralisch differenten Handelns bildet. A n der Willensfreiheit ist darum um so gewisser festzuhalten, als sonst jede Moralität menschlicher Handlungen dahinfällti?). A n Hand dieser Analyse der moralischen Handlung lassen sich die Wesenszüge der entia moralia, wie Pufendorf sie im Gegensatz zu denen der entia physica aufstellt, leicht darlegen. Zunächst ergeben sich die methodische Bedingtheit und Vorläufigkeit der Betrachtung, die an einem Gesamttatbestand „physische" und „moralische" Elemente völlig isoliert. Diese isolierende Betrachtungsweise kann nur ein methodischer Durchgangspunkt des zerlegenden Denkens zu einer neuen Einheit sein. Das wahre Verhältnis der entia physica und entia moralia ist nicht so, daß die letzteren an den ersteren nur angeheftet sind, daß im übrigen aber die Geschicke beider völlig unabhängig voneinander verliefen. Vielmehr greifen die entia moralia so auf die entia physica über, daß sie zwar ihre physische Struktur unangetastet lassen, ihnen aber eine neuartige „moralische" Seinsweise beilegen. N u r mit oder an Physischem als dessen sinnhaften Beschaffenheiten oder Seinsweisen (modi) existieren die entia moralia; hierin offenbart sich ihre modale Struktur. So ist es ζ. B. auch nur eine einheitliche moralische Handlung, in der Moralisches und Physisches zugleich gesetzt sind. Die isolierende Trennung der entia physica von den entia moralia kann darum nur eine methodische Abstraktion seinis). Hier
ist
es
nun
höchst
bedeutsam,
daß
Pufendorf
zu
den
entia
physica nicht nur die spezifisch räumlich-körperlichen, sondern auch die psychischen Erscheinungen zählt. Man darf also die entia moralia nicht psychologistisch mißdeuten; sie sind ebensowenig physisch wie psychisch, wohl aber können sie als sinnhafte Seinsweisen sowohl an Psychischem wie an Physischem auftreten, natürlich ohne darum selbst zu einer physischen oder psychischen Qualität zu werden. Beilegung oder Verlust eines ens morale ändern ja an den physischen oder psychischen Qualitäten als solchen nichts; sondern disconvenientia non temere et quasi fortuito, sed per ultroneam adplicationem et directionem hominis provenit, id est, ut homo sciens volensque actionem suam ad normam istam adplicuerit aut applicare noluerit. 1 T ) Idque eo firmius est tenendum, quod ista sublata actionum humanarum moralitas funditus simul tollatur. ι . IV. 3. Aus diesem Grunde bekämpft Pufendorf auch die Lehre von der Praedestination und der göttlichen Vorsehung, aus der ein Zwang für menschliche Handlungen folgen solle. 1 8 ) s. E. s. 76.
25
Zweites Kapitel
was entsteht oder vergeht, das existiert nur intra sphaeram merum moralium, d. h. ist lediglich eine sinnhafte Beschaffenheit der „natürlichen" Erscheinung^). Als solche nimmt das ens morale an der Realität seines „Trägers" teil: die entia moralia sind keine irrealen Sinngebilde, sondern ebenso wirklich wie die entia physica, an denen sie sich befinden. Die Wirklichkeit ist nicht mit der psycho-physischen Realität identisch, die großenteils eine bloße Abstraktion ist, sondern besteht aus sinnindifferenten, physischen oder psychischen, und aus sinnhaften, moralischen Elementen. Nur muß man sich hüten, Wesenszüge der psychophysischen Realität auf die der entia moralia zu übertragen. Menschliche Handlung kann keine entia physica, wohl aber entia moralia aus dem Nichts hervorbringen; darin besteht ja alles kulturelle Leben, das natürliche Dasein sinnhaft zu gestalten. Wer diese Unterschiede nicht beachtet, der kommt dazu, die entia moralia zu irgendwelchen materiellen, getrennt von ihren physischen Trägern irgendwo in der Welt herumirrenden Dingen zu hypostasieren, denen der Mensch lediglich Platz und Ruhe an den physischen Gegenständen anwiese20). Die spezifische Eigenart der entia moralia, überhaupt ihr fundamentaler Gegensatz zu den entia physica, liegt in ihrer Sinnhaftigkeit und Wertbestimmtheit. Alle physischen (und psychischen) Erscheinungen als solche, abstrahiert von den entia moralia sind wertindifferent, d. h. weder gut noch s c h l e c h t 2 i ) . Darum können die physischen Elemente mehrerer moralisch le ) s. ι . I. 1 4 und 23. Seinen Gegnern macht das Pufendorf an zwei humoristischironischen Beispielen klar: im Plauderton erzählt er den Werdegang eines Studenten bis zum Doktor. A n Hand der Promotion erläutert er dann das Wesen der entia moralia. Durch die Ernennung zum Doktor ändert sich an der physischen Substanz des Ernannten nichts; Körper und Geist, Augen und Ohren, Hände und Füße bleiben w i e sie waren. Er wird nicht größer oder dicker, nicht besser oder gelehrter, er tanzt nicht eleganter u. s. f. Dagegen erhält er eine moralische Qualität, den Doktortitel; er kommt in einen neuen Stand, eine neue Person wird ihm beigelegt u. s. f. E. s. 29. Ebensowenig verändert die Relegation eines Professors seine physische Substanz; es bleiben ihm die alte Gestalt, Bildung etc. Aber er verliert den bisherigen Stand, seinen Titel, die Pflicht, Vorlesungen zu halten u. s. f. E. s. 3 3 . 20
) 7- III. 4) s. 1. II. 6. und E. s. 34, 768., 2 1 8 ff. u. a. Diese Indifferenz besteht nur in genere morum, in sittlich-rechtlicher Hinsicht, nicht im Hinblick auf Schaden und Nutzen. - Z u dieser Lehre ist Pufendorf offenbar durch eine theologische Theorie angeregt worden, die innerhalb der Sünde zwischen dem motus physicus und der Gesetzwidrigkeit unterschied und lehrte, daß Gott als Erhalter der Natur bei dem motus physicus mitwirke. E. s. 7 7 , 1 1 3 . Das hinderte jedoch nichts daran, daß gerade die Theologen Pufendorf am heftigsten als „Indifferentesten" bekämpften. 21
26
Die Lehre von den entia moralia
ganz verschiedenartiger Handlungen gleich sein; so ζ. B. die Tötungshandlung eines Mörders, Henkers, Soldaten oder eines in Notwehr Handelnden. Sinnhaftigkeit und Wertbestimmtheit erhalten sie erst durch die entia moralia, eben weil diese ihre sinnhaften und wertbestimmten Seinsweisen sind. Hiermit hängt eine bestimmtgeartete Gleichförmigkeit der physischen gegenüber der Vielgestaltigkeit der moralischen Welt zusammen. Dieser Unterschied zeigt sich bereits an den beiden Determinationstypen des Geschehens. Die Kausalität, der spezifisch physische Determinationsmodus, kennt nur ein ewig gleichförmiges Geschehen; dagegen ist die Determination durch Freiheit, durch die ein kulturelles Leben erst möglich ist, grade nicht an einen uniformen Modus gebunden, sondern kann sich frei nach verschiedenen Richtungen hin w e n d e n 2 2 ) . Dazu kommt eine Buntheit der geistigen Anlagen im Menschen, wie sie in der Tierwelt nicht vorhanden ist. Die einzelnen Tierarten haben fast gleiche Instinkte, Neigungen, Triebe; wer ein Exemplar kennt, kennt alle. Aber von den Menschen heißt es: wieviel Köpfe, soviel Sinne und Ziele. Daraus resultiert auch eine durchgängige Verschiedenheit der Pflichten gegenüber den verschiedenen Menschen. Diese bunte Mannigfaltigkeit hat, harmonisch geordnet, eine „wundervolle Schönheit" zur Folge, die bei durchgängiger Gleichheit nicht möglich w ä r e 2 3 ) . Im einzelnen unterscheidet Pufendorf vier Klassen von entia moralia: Stand, Person, Qualität und Quantität. Obwohl alle entia moralia nicht für sich bestehen, keine Substanzen, sondern Modi sind, können doch einige von ihnen, die moralischen Personen, nach Analogie der Substanzen betrachtet werden, insofern andere entia moralia ihnen in ähnlicher Weise inhärieren wie den physischen Substanzen physische Qualitäten. Und wie die physischen Substanzen Raum und Zeit als Grundlagen der Existenz voraussetzen, so stehen auch die personae morales in einem jenen physikalischen Größen analogen, sinnhaften Ordnungssystem ihres Daseins, dem status. Während aber Raum und Zeit objektive Realität haben, bildet der status nur ein Bezugssystem, das ohne die in ihm befindlichen Personen keine an sich bestehende, reale Existenz besitzt24). Den Status teilt Pufendorf in vielfache Unterabteilungen ein; zu oberst in den räumlichen und zeitlichen; den räumlichen wieder in einen allgemeinen und einen besonderen; schließlich den allgemeinen in den natürlichen und den 22 2S
) i.VI.8. ) 2.I.7. I.I.6. 27
Zweites Kapitel
erworbenen25). Den in der gesamten Naturrechtslehre zu größter Bedeutung gelangenden status naturalis kennt Pufendorf in drei scharf geschiedenen Bedeutungen26) : getreu seinem Vorsatz, die Vieldeutigkeit des Wortes Natur zu eliminieren, definiert er genau, in welchem Sinne er es gebraucht: 1. In der ersten Bedeutung ist der status naturalis der Stand des idealen Menschentums (status humanitatis), zu dessen Verwirklichung der Mensch von Gott verpflichtet ist. Als Stand des höchsten Kulturideals, der Humanität, steht er im Gegensatz zum kulturlosen Dasein der Tierwelt. Er ist der Stand, in dem das Gesetz der Geselligkeit, brüderlichen Nächstenliebe und reinen Menschlichkeit vollkommen verwirklicht ist. „Natürlich" heißt er darum, weil er nicht auf subjektiv menschlicher Willkür und Erfindung, sondern auf göttlichem Gebot, den natürlichen Gesetzen, beruht und zu seiner Erkenntnis die bloße Vernunft ausreicht. 2. Als status naturalis in se ist der Naturstand eine methodische Abstraktion, d. h. er sieht von aller Kultur ab, die der Mensch durch eigene oder fremde Kraft erlangt hat. Dabei wird die Natur des Menschen so genommen, wie sie jetzt ist, mit ihren vernünftigen und verkehrten Anlagen und Neigungen. Er ist der Endpunkt des analytischen Methodenweges, in dem die menschliche Natur bis auf einige Grundanlagen und Grundstrukturen aufgelöst wird, aus deren gegenseitigem Verhältnis dann die wertvollste Gestaltung des menschlichen Lebens und deren oberstes Prinzip aufgefunden werden soll. Dem leichteren Verständnis dieses Standes dient die Fiktion vom einsamen, „auf die Erde geworfenen"
Menschen27).
„Natürlich" heißt er darum, weil nach gewöhn-
lichem Sprachgebrauch das „Natürliche", d.h. das, was durch Geburt vorhanden ist, dem gegenübergestellt wird, was später durch eigene oder fremde Tat hinzukommt. 3. Der status naturalis in ordine ad alios homines ist grundsätzlich ein wirkliches rechtliches Phänomen: diejenigen Personen leben in ihm, die keine gemeinsame souveräne Gewalt über sich haben. Er steht darum im Gegensatz zum status civilis. Auch dieser Naturstand ist, absolut betrachtet, nur eine Fiktion; das gesamte Menschengeschlecht ist niemals 25)
1.1.7 ff.
2β)
χ. I. 7 ; bs. E. s. 1 7 7 f . ; s. auch P u f e n d o r f s Dissertation de statu hominis naturali.
27) D i e s e Fiktion ist keine T h e o r i e über den wirklichen U r s p r u n g des Menschengeschlechts, sondern eben eine reine Fiktion. D a r u m sind d i e F o l g e r u n g e n aus ihr w a h r , gleichgültig, welchen tatsächlichen U r s p r u n g der Menschheit man annehmen w i l l . E. s. 26, 207, 357 u. a.
28
D i e Lehre von den entia moralia
gleichzeitig in diesem Stande gewesen, sondern hat stets Gemeinschaften (besonders Sippen) gebildet. N u r eingeschränkt und teilweise hat darum dieser Stand Wirklichkeit, insofern Teile der Menschheit in Gemeinschaften leben, die sich ihrerseits untereinander im status naturalis befindete). Der besondere räumliche Status ist derjenige Stand, der mit höherem oder geringerem Ansehen f ü r die in ihm befindlichen Personen verbunden ist29). Der zeitliche Status zerfällt in Jugend und Alter und in Minderjährigkeit und Volljährigkeit30). In diesem spezifisch sinnhaften, „moralischen" raumzeitlichen Bezugssystem befinden sich die moralischen Personen31).
Diese sind entweder die
Einzelmenschen oder die durch ein moralisches Band zur Einheit verknüpften menschlichen Vereinigungen, sofern sie als in einem solchen Stand befindlich betrachtet werden 3 2 ). Sie zerfallen also in einfache (simplices) und zusammengesetzte (compositae) moralische Personen; beide Arten teilen sich wieder in öffentliche und private, in politische und kirchliche u. s. f. Stets sind die moralischen Personen logisch scharf von den Menschen als ihren psychophysischen „Trägern" zu trennen; darum kann ein Mensch zugleich mehrere moralische Personen führen, wie in verschiedenen status sein. Die moralischen Qualitäten zerfallen in formale und wirkende 3 3 ); zu den ersteren gehören besonders die Titel, zu den letzteren die Rechtsmacht (potestas), das subjektive Recht (jus) und die Verpflichtung (obligatio). Die moralischen Quantitäten kennzeichnen den Wert von Personen, Sachen oder Handlungen 3 ·*). Hinsichtlich der Personen heißen sie Achtung (existimatio), hinsichtlich der Sachen Preis (pretium) ; für den Wert von Handlungen fehlt ein besonderes Wort. Diese Lehre von den entia moralia traf bei den Zeitgenossen Pufen28
)
28
)
1.1.9.
30
)
1.1.10.
31
)
1 . 1 . 12.
32
) „Persona moralis" ist bei Pufendorf also nicht etwa nur die Personenvereinigung,
2. II. 4.
sondern auch der Einzelmensch in einer bestimmten sozialen Hinsicht (in einem status)! 33
)
1 . 1 . 1 7 ff.
34
)
1 . 1 . 22.
29
Zweites Kapitel
dorfs auf fast völlige Verständnislosigkeit. Am bequemsten war gegen sie der Vorwurf des Atheismus und der wissenschaftlichen Neuerung (novitas). Eine der wildesten Schriften gegen Pufendorf gestand, daß Pufendorf seine entia moralia so obskur behandle, daß er wohl selbst kaum wisse, was er mit seinen haltlosen Neuerungen w o l l e 3 5 ) . In ihrer tiefsten Bedeutung als Sinngebilde der sozialen Welt hat sie wohl nur Pufendorfs einstiger Lehrer Erbard Weigel in Jena erfaßt. Dieser selbst hatte sie in einer deutschen Schrift mit dem Titel: „Arithmetische Beschreibung der Moralweisheit" darzustellen versucht, auf die Pufendorf im Kampf mit seinen Gegnern hinweisen konnte. Sie ist im Jahre 1674, d. h. zwei Jahre nach Veröffentlichung des: „De jure naturae et gentium" erschienen; eine Beeinflussung Pufendorfs durch sie ist also ausgeschlossen. Sicherlich aber hat Pufendorf die erste Anregung zu der späteren selbständigen Fortbildung der Lehre von den entia moralia im Weigelschen Hause erhalten. Schon seinen Elementen der allgemeinen Jurisprudenz lag die prinzipielle Unterscheidung der natürlichen und moralischen Welt implicite zugrunde; auch sind in ihnen bereits alle entia moralia des späteren größeren Werkes enthalten. Weigel selbst unterschied in seiner Schrift aus dem Jahre 166986) quanta ncituralia, moralia und notionalia und zählte einige dieser quanta moralia auf. Aber die entscheidende Tat, die explicite Darlegung der Unterschiede zwischen natürlicher und moralischer Welt und die Aufzeigung der Wesenszüge der entia moralia, hat als erster Pufendorf im Jahre 1672 mit einer Klarheit und Schärfe vollbracht, wie sie auch Weigel in seiner Schrift von 1674 nicht erreicht hat. Nach dem Siege Pufendorfs über seine Gegner nach langem, erbittertem Kampfe nahm man zwar den Begriff des ens morale auf, ohne aber sein eigentliches Wesen erfaßt zu haben 3 7). In der Folgezeit verschwanden auch diese Namen 3 ^), nur die persona moralis fristete als Wort - ihre wahre Bedeutung war längst tot - ein kümmerliches Dasein. 3B
) E. s. 30. Pufendorf gibt selbst die Schwierigkeit seiner Lehre zu, die aber, w i e
er sagt, hauptsächlich an ihrer Neuheit liegt. Et quid asinis satis d a r u m esse possit? 36
) Weigel,
Idea matheseos universae. Cap. III
§ 4. Seine quanta moralia sind:
1. pretium, 2. dignitas, potestas, 3. meritum, demeritum. 37
)
seines
Vgl.
hierzu die eine völlige Verständnislosigkeit verratenden
früheren Anhängers
Chr. Thomasius
in dessen
Fundamenta
Ausführungen juris
naturae,
1. I. 5 8 ff. 38
) Immerhin benützte noch
Derathe,
30
Rousseau
bisweilen den Begriff des etre morale. V g l . dazu
J . J . Rousseau et la science politique de son temps, 1 9 5 0 , S. 3 9 7 ff.
Das oberste Prinzip des Naturrechts
Drittes Kapitel D A S OBERSTE P R I N Z I P DES N A T U R R E C H T S Die Verständnislosigkeit, auf die die Lehre von den entia moralia infolge ihrer genialen Neuheit stieß, hatte zur Folge, daß gegen sie zunächst sachlich verhältnismäßig wenig Einwände erhoben wurden. Als aber Pufendorf das oberste Prinzip seines Naturrechts zu entwickeln unternahm, traf er auf eine Fülle ausgebildeter Theorien hauptsächlich scholastischer Herkunft, zu denen er in Gegensatz trat, und darum wogte hier der erbittertste Kampf mit seinen Gegnern. Fast zwei Jahrzehnte seines Lebens verzehrten sich in einem der schwersten Gelehrtenkämpfe der Barockzeit. Als Pufendorf aus ihnen schließlich siegreich hervorging, hatte er die Macht der scholastischen Schulphilosophie im Bereich des Naturrechts endgültig gebrochen (und damit allerdings auch jene Zäsur herbeigeführt, die im Bewußtsein der nachfolgenden Generationen bis zur Gegenwart hin zwischen dem scholastischen und dem modernen profanen Naturrecht klafft). Die Betrachtung der gegnerischen Lehren ist für das Verständnis der Doktrin Pufendorfs, die aus dem Gegensatz zu ihnen hervorgegangen ist, ganz unerläßlich. Auch zeigt sich erst hier der Reichtum des naturrechtlichen Denkens, dessen verschiedenartige Motive sich bald kreuzen und ineinander übergehen, bald aber in schroffer Feindschaft einander gegenüberstehen 1 ). Die spezifisch christlich-biblischen Naturrechtslehren knüpfen in ihrer, anspruchslosesten Ausgestaltung an die Schöpfungsgeschichte an. „Die Quelle, aus der die Christen die reine Kenntnis des Naturrechts schöpfen können und sollen, ist die orthodoxe Lehre vom Stande der Unschuld. Hier hatte der Mensch das Bild Gottes, zu dessen Resten das Naturrecht gehört"2). Der *) Weggelassen sind hier zwei Lehren, die bereits zur Zeit Pufendorfs überholt waren und auf die er nur kurz hinwies: 1. Die Definition der römischen Juristen, wonach Naturrecht das ist, was die Natur alle Lebewesen gelehrt habe. Pufendorf widerlegt sie in erster Linie durch den Hinweis, daß die Handlungen der Menschen aus Freiheit, die der Tiere aus kausalem Zwang erfolgen. S. bs. E. s. 188. 2. Die Lehre, daß Naturrecht das sei, was alle Menschen oder wenigstens die fortgeschrittensten Völker als Recht anerkennen. Hobbes hatte dies entscheidend widerlegt, (De cive, cap. II, § ι ) , und Pufendorf konnte darauf verweisen. 2 ) Fons, e quo a diristianis pura juris naturae notitia hauriri potest et debet, est orthodoxa doctrina de statu integritatis. In hoc habuit homo imaginem dei, inter cujus reliquias est jus naturae. So Valentin Alberti in der Protheoria seiner Annotata super H. Grotium (E. s. 202) und im Specimen vindiciarum (1678) I, 1. - V. Alberti, ein
31
Drittes Kapitel
Stand der Unschuld, in welchem der Mensch zugleich mit dem Bilde Gottes eine vollkommene Kenntnis des Naturrechts besaß, bildet nach dieser Lehre die Norm des Standes nach dem Falle, mit dem das Ebenbild Gottes bis auf einige Reste, darunter das Naturrecht, verloren wurde. Dieser Verlust hatte zur Folge, daß die einst vollständige Kenntnis des Naturrechts sich trübte und verdunkelte 3 ). - Diese Lehre geht auf uralte Anschauungen der Stoa zurück. Danach hatte im Anfang der Geschichte ein goldenes Zeitalter bestanden, in welchem die Menschheit eine Gemeinschaft freier und gleicher, nur dem ewigen Vernunftsgesetz unterworfener Personen bildete. Dieser vollkommene Zustand war später durch die hervorbrechenden Leidenschaften, durch Herrschsucht und Willkür verlorengegangen. Das Christentum, das sich überhaupt in vielen Beziehungen der Stoa verwandt fühlen konnte, eignete sich diese Lehre an, wobei es das goldene Zeitalter im Paradies und die spätere Verderbnis im Zustande nach dem Falle verwirklicht sah 4 ). Diese Theorie bemühte sich nicht um eine kritische Besinnung über das oberste Wertprinzip des Naturrechts, sondern erhob dogmatisch einen vermeintlich historischen Zustand zu einer objektiv gültigen Norm. Auf diesen Punkt legte Pufendorf sofort den Finger: der Ursprung des Menschengeschlechts muß in einer rationalen Disziplin wie dem Naturrecht als quaestio facti et historica völlig unentschieden und außer acht bleiben, weil er durch die bloße Vernunft und vernünftige Beobachtung der jetzigen menschlichen Natur nicht aufgefunden werden kannS). Da sich überdies nach dem Falle die Natur des Menschen geändert hat und an die Stelle der ehemaligen Unschuld die Verderbtheit getreten ist, ergibt sich notwendig eine ganz andere Struktur des Naturrechts, als sie im Stande der Unschuld gewesen wäre®). Die Philosophie hat die Aufgabe, das Naturrecht für die Menschen, wie sie jetzt sind, aufzufinden, aber nicht für die, die im Paradiese waren; hierzu kann die Betrachtung des Standes der Unschuld nichts beitragen?). Außerdem ist rationaler Betrachtung die menschliche Natur nur so zugänglich, wie sie jetzt ist; dem Philosophen muß es darum gleichgültig bleiben, Leipziger Theologe, der später an der Vertreibung des Thomasius aus Leipzig hervorragend beteiligt war, war der hauptsächlichste Vertreter dieser Lehre. 3 ) E. s. 203, 209. 4 ) S. hierzu Troeltsch, Das stoisch-christliche und das moderne profane Naturrecht. Hist. Zeitschr. 106, S. 247 ff. 5 ) E. s. 207, 297. β ) E. s. 358. 7 ) E. s. 3 1 4 .
32
D a s oberste Prinzip des Naturrechts
ob sie, wie es die Bibel berichtet, früher anders war 8 ). Da ferner der Stand der Unschuld nur zwischen zwei Menschen und nur kurze Zeit bestanden hat, muß unerfindlich bleiben, wie das Wenige, das wir davon wissen, eine Norm für die Beziehungen des vermehrten Menschengeschlechts abgeben kann. Alle Behauptungen darüber können sich nicht auf sichere Beweise stützen, sondern bilden vage Vermutungen, denen jeder nach Belieben Glauben schenken mag oder nichts), übrigens steht der Satz, daß das Naturrecht zu den Resten des göttlichen Ebenbildes gehöre, nirgends in der Bibel, sondern ist ein willkürliches Dogma der Theologen. Ebenso hätten sie auch sagen können, daß Arithmetik, Geometrie, Physik und andere Wissenschaften zu den Resten des göttlichen Bildes gehören und darum nur aus der orthodoxen Lehre vom Stande der Unschuld geschöpft werden können und sollen; denn niemand wird leugnen, daß auch die ersten Menschen rechnen und messen konnten 1 0 ). Soll überhaupt die Geltung des Naturrechts universal sein, so muß es aus einem Prinzip abgeleitet werden, das alle Menschen qua Menschen, aber nicht qua Christen anerkennen. Dazu wäre die Hypothese vom Stande der Unschuld ganz ungeeignet, da sie den Menschen als solchen unbekannt ist. Absurd ist es, anzunehmen, daß es für Christen ein besonderes Prinzip desjenigen Rechts gäbe, das allen Menschen, auch den Heiden, gemeinsam ist. Es gibt kein spezifisch christliches Naturrecht als rationale Disziplin, wie es keine spezifisch christliche Philosophie, Logik, Mathematik, Physik geben kann 1 1 ). Die Philosophie muß die ganze Lehre vom Stande der Unschuld 8
) E . s. 2 0 8 .
9
)
E . s. 2 0 3 , 2 9 2 f.
Alberti solle doch einmal den Grundsatz, daß M ü n d e l nicht zu
übervorteilen sind, der Nachlaß nach dem G r a d e der Verwandtschaft zu teilen ist, oder den paradiesischen Staat, seine Form u. s. f. aus dem status integritatis ableiten. 10
) E. s. 2 0 3 .
1 1
)
Tatsächlich wollte Alberti selbst Wissenschaften w i e L o g i k und Physik durch
d i e Offenbarungstheologie „bereichern" und so eine spezifisch christliche Logik
und
Physik schaffen. Seine Methode ging dahin, daß der Philosoph die geoffenbarten W a h r heiten als Thesen des heiligen Geistes, an die er in foro divino glaubt, in foro humano zu Grundlagen
(hypotheses)
sicherster Erkenntnisse macht. D a f ü r führt er mehrere
Beispiele an: f ü r die christliche L o g i k bieten die Sätze des heiligen Geistes über den Gott-Menschen
oder Mensch-Gott die Grundlage
zu ungewöhnlichen
Propositionen.
„ N a c h d e m nämlich ein W e s e n zweier Substanzen in die W e l t kam, w i e es die E r d e zuvor nicht gesehen hatte, konnte man eine neue A r t des Prädizierens anwenden, in d e r die W a h r h e i t dieses Mysteriums ausgedrückt w u r d e . " (Paraenesis, 1 6 . ) A l s Gegenstand einer spezifisch christlichen Physik führt er u. a. die aquae supracoelestes an, die nur die gläubigen Christen kennen. Ihrer Vollkommenheit nach ist darum die Philosophie der T h e o l o g i e unterworfen, weil sie von dieser neue Erkenntnisse erhält. In
3 Welzel, Pufendorf
33
Drittes Kapitel
der Theologie überlassen. Vernunft und vernünftige Beobachtung sind ihre einzigen Erkenntnisquelleni2). Eine feinere Ausbildung derselben Lehre knüpft zwar auch an die Bibel an, sieht aber von dem historischen Faktum des Paradieses ab. Aus den Worten der Genesis: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde", schloß sie, daß die essentielle Gerechtigkeit Gottes das Urbild des menschlichen Naturrechts sei. Diese Lehre vom Ur- und Abbildverhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit war eins der geläufigsten Dogmen der damaligen Theologiel 3 ). Pufendorf bestreitet die essentielle Gerechtigkeit Gottes nicht, wenn er auch darauf hinweist, daß sie nicht relationslos für sich besteht, sondern eine Beziehung auf seine Geschöpfe involviert, d. h. die Art und Weise darstellt, wie Gott sich zu seinen Geschöpfen verhält. Einmal ist der bloßen Vernunft, abgesehen von der Offenbarung, nicht einsichtig, warum Gott die menschliche Gerechtigkeit seiner eigenen essentiellen notwendig nachbilden mußte. Zweitens ist dem Gange der Erkenntnis nach die menschliche Gerechtigkeit früher als die göttliche. Die Vernunft sammelt die Attribute Gottes aus Vollkommenheiten, die sie in seinen Geschöpfen erblickt unter Weglassen der Mängel, die sich aus der endlichen Natur und Körperlichkeit ergeben. Drittens unterscheidet die Vernunft genügend zwischen der göttlichen und der menschlichen Gerechtigkeit: Erstere ist essentiell, letztere setzt ein Gesetz und einen Oberherrn voraus. Was Gott selbst aus Versprechen tut, das tut er nur aus Gnade, und niemand kann von ihm etwas fordern. Was dagegen ein Mensch einem anderen verspricht, das kann von ihm auch gefordert werden. Die Regeln der göttlichen Strafgerechtigkeit können wir nicht begreifen; jedenfalls verfährt sie nicht überall nach der Art der menschlichen. Viele Teile der menschlichen Gerechtigkeit passen nicht auf Gott, ζ. B. der Gehorsam gegenüber dem Herrscher, Ehrfurcht vor beißender Ironie setzt Pufendorf der spezifisch christlichen Logik eine spezifisch mohammedanische Logik entgegen und nennt als bestes Beispiel für sie den Satz: Mohammed ist ein großer Prophet. (E. s. 3 7 0 f . ) . Völlig unverständlich aber sind ihm die aquae supracoelestes. In ähnlicher Weise glaubte Alberti ein spezifisch christliches Naturrecht erhalten zu können. Die Heiden haben eine unvollkommene Kenntnis des Naturrechts, die aus den angeborenen Resten des göttlichen Bildes entspringt; das genügt für sie im praktischen Leben. D i e Christen aber haben ein besonderes Prinzip des Naturrechts, nämlich die Offenbarung des Standes der Unschuld, auf dem ihre vollkommenere Kenntnis des Naturrechts beruht. 12 13
34
) E. s. 202 ff. ) Hierzu und für das Folgende vgl. E. s. 1 8 8 ff.
Das oberste Prinzip des Naturrechts
den Eltern, Dankbarkeit gegenüber Wohltätern u. s. f., überhaupt alle Pflichten, die eine Unterworfenheit und körperliche Natur voraussetzen. Wollte man also die göttliche Gerechtigkeit zum Maßstab der menschlichen machen, so wäre dieses Prinzip nicht nur oft uneinsichtig, sondern auch unzureichend. Daß wir für die göttliche und menschliche Gerechtigkeit dasselbe Wort gebrauchen, geschieht nicht wegen ihrer inhaltlichen Gleichheit, sondern darum, weil wir keinen Begriff von göttlichen Attributen bilden können, wenn wir nicht solche Worte auf sie anwenden, deren Bedeutung uns schon bekannt ist. Wie die menschliche Gerechtigkeit das wertvolle Verhalten der Menschen zueinander bedeutet, so kennzeichnet die Gerechtigkeit in Gott die Art, in der Gott seinen Geschöpfen gegenüber handelt. Weiter ist bei dieser Gleichsetzung nicht zu gehen; das Naturrecht in Gott mögen die Atlasse der Weisheit untersuchen, die ihr Haupt in den Wolken verbergen**). Ungleich bedeutsamer als diese an die Bibel anknüpfenden Theorien sind zwei gegensätzliche Lehren der Scholastik, die ihrerseits nur die Ausstrahlung eines der schwersten metaphysischen Probleme des Mittelalters darstellen. Durch das gesamte mittelalterliche Denken hindurch zieht sich die Antinomie zwischen göttlicher Vernunft und göttlichem Willen: Besteht in der Welt ein unveränderlicher, notwendiger und rationaler Zusammenhang, der auf den unwandelbaren ideellen Inhalten oder Wahrheiten der göttlichen Vernunft beruht: wie kann dann ein freies, absolut schöpferisches Eingreifen des göttlichen Willens in die Welt möglich sein? Entweder ist der Wille Gottes nicht an die Inhalte seines Intellekts gebunden, oder er ist ihnen unterworfen und so lediglich Baumeister der Welt. Die Thesis führte zum Nominalismus Wilhelms von Occam, die Antithesis zum antiken Platonismus. Zwischen beiden Extremen schwankte das mittelalterliche Denken, mehr oder minder vermittelnd, hin und her. Auch weiterhin beherrschte diese Antinomie das Denken bis in die Neuzeit hineini5). Auf naturrechtlichem Felde vertrat am klarsten Hugo Grotius das rationalistische Extrem, und die protestantische Theologie und Schulphilosophie folgten ihm darin. Was ein Teil der Scholastiker als Unterschied des natürlichen und positiven Rechts aufgestellt und Grotius scharf formuliert hatte, das verflachte in der protestantischen Schulphilosophie zum populären Dogmaie). Dem Rationalismus entsprach im Naturrecht die Lehre des von 14
) E. s. 84.
15
) V g l . dazu mein „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit", 2. A u f l . 1 9 5 5 .
16
) E. s. 33.
J*
35
Drittes Kapitel
Gott unabhängig, an sich bestehenden Guten (die Lehre von der Perseitas.) Das Naturrecht befiehlt oder verbietet das, was an sich und seiner Natur nach gut oder schiecht ist. Was das positive Recht befiehlt oder verbietet, ist gut oder schlecht nur auf Grund des gesetzgeberischen Willens. Die Vorschriften des Naturrechts sind ewige Wahrheiten wie die mathematischen Gebilde und können auch von Gott nicht geändert werden 1 7 ). Gut und Böse rücken damit als ideale Inhalte in eine an sich bestehende, d. h. sowohl von Gott wie von realer Existenz unabhängige, idealseiende Sphäre reiner, rationaler Formen und Wesenheiten, die die durchgängige Rationalität des Weltinhalts garantieren. Gottes Wille, der so von jeder Einwirkungsmöglichkeit auf die ideale Sphäre ausgeschlossen wird, hat lediglich die Freiheit und Macht, die Formen in der Realität zu verwirklichen. Nur die Existenz, nicht die Essenz der Dinge hängt von Gottes Willen ab. Wenn auch die Scholastik nach dem Vorbild Augustins die Wesenheiten der Dinge in den göttlichen Verstand verlegte, so erkannte doch Pufendorf klar, daß sie damit im Grunde ein Gott äußeres, ihm gleich ewiges Prinzip aufstellte, dem Gott weder zuwiderhandeln darf noch k a n n * 8 ) . Diese Ansicht beruht eigentlich auf den Glauben, daß Gesetzmäßigkeit und Ordnung in der Welt nur dann bestehen können, wenn Gott sie entweder überhaupt nicht geschaffen hätte oder möglichst rasch wieder aus ihr entfernt w ü r d e t ) . An die Stelle der personalen Gottheit treten letztlich impersonelle, logische Prinzipien und Gesetzlichkeiten2«^). Pufendorf bekämpft sowohl das ideale Ansichsein wie den absoluten Notwendigkeitscharakter jener Wesenheiten. Wie schon im ersten Kapitel ausgeführt, ist nach ihm die wahre Essenz stets mit der Existenz verbunden und macht nur ein Moment, eine Seite, des Existierenden aus; abgelöst von diesem ist sie ein inadaequater Begriff, der keinerlei an sich bestehendes, ideales Sein hat. Die Trennung von Essenz und Existenz besteht einzig und 1T
) Vgl. H. Grotius, de jure belli ac pacis, ι., I. § 10, 5 und Prooemium 1 1 . Auch heute noch wird oft behauptet, daß Grotius mit dieser Erkenntnis das moderne Naturrecht begründet habe. In Wahrheit sind jene Sätze altes scholastisches Gedankengut, das Grotius für das Naturrecht lediglich präzise formuliert hat. Selbst der Satz, daß das Naturrecht gelten würde, audi wenn es keinen Gott gäbe, stammt aus der Scholastik. Der damaligen Zeit war die Herkunft dieser Gedanken aus der Scholastik wohl bekannt. E. s. 33, 265; Thomasius, Programma zu seinen Institutionen (s. oben S. 1 1 , Anm. 3), S. 56; dazu jetzt mein „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit", S. 93 ff. 18 ) E. s. 34. 19 ) E.s.80. 20 ) E. s. 241.
36
Das oberste Prinzip des Naturrechts
allein in der Betrachtung, in der bestimmte Gegenstandsseiten so erkannt werden, daß die über sie gefundenen Wahrheiten nicht von der Existenz der Gegenstände abhängen, an denen sie gefunden s i n d s i ) . Die Lehre vom idealen Sein der Essenzen hatte den Unterschied von Essenz und Existenz zu einem an sich, d. h. außerhalb der Erkenntnis bestehenden, ontologischen Gegensatz hypostasiert und zugleich die Essenz aus ihrem notwendigen Zusammenhang mit der Existenz herausgebrochen, wodurch jene ein außerhalb des Erkennens und unabhängig von der Existenz bestehendes ideales Sein erhielt. Darum bemerkt Pufendorf dagegen:
i.
daß der Unterschied zwischen
Essenz und Existenz nur in der und durch die Erkenntnis besteht, und daß 2. die Essenz mit der Existenz wesensmäßig verbunden ist. Damit fällt der ontologische Gegensatz zwischen idealem und realem Sein, und es bleibt lediglich ein Erkenntnisunterschied, so daß es Pufendorf für absurd erklären konnte, jene „Ewigkeit" der Essenzen vor dem ersten Ursprung der Dinge zurückzuziehen und zu fingieren, daß die Essenzen vom Willen Gottes, der ihnen Existenz gab, nicht
abhingen22).
Zugleich fällt auch das rationalistische Dogma, daß die Essenzen absolut notwendig seien. Notwendig sind sie nur relativ zur Existenz; für sich betrachtet aber sind sie ebenso zufällig wie
diese23).
Der letzte Grund des Da-
seins und des Soseins ist der irrationale Wille Gottes. Folgerichtig führt Pufendorf auch sein höchstes rationales Prinzip des Naturrechts, die „Natur" des Menschen (d. h. den Inbegriff seiner objektiv sittlichen Werte), auf den irrational-zufälligen Willen Gottes zurück: Warum sie so ist, wie sie ist, beruht letztlich auf dem unerkennbaren göttlichen Willen. So schließt Pufendorf auch seine höchsten rationalen Prinzipien nach oben in irrationale Grenzen e i n 2 4 ) . Die Lehre vom an-sich-Guten („Perseitas") enthielt einen weiteren von Pufendorf scharf bekämpften Dogmatismus. Sie statuierte die Güte oder Schlechtigkeit von Handlungen „an sich", ohne Rücksicht darauf, daß nur 41
) S. E. s. 264 ff., 267 ff., 304 ff., 320 ff., 324 f f . ) E.s.305. 23 ) Vgl. hierzu die These Descartes', wonach selbst das Widerspruchsgesetz der Allmacht Gottes untersteht! Dazu mein Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 1 1 2 . 24 ) Diese Rückführung des Guten auf den Willen Gottes erfolgt am klarsten in E. s. 2 5 1 . Auch sonst betont Pufendorf die bloß hypothetische und relative, nicht absolute Notwendigkeit der Naturgesetze: die Notwendigkeit besteht nur cum relatione ad naturam hominis et consequenter - da die Notwendigkeit grade dieser menschlichen Natur unerfindlich ist - cum relatione ad voluntatem dei. E. s. 34. 22
37
Drittes Kapitel
Handlungen gewisser Subjekte in Frage kommen können. Bestimmte Handlungen sollen „an sich und ihrer Natur nach" (in se et sua natura oder per se) gut oder schlecht sein, ganz gleichgültig, von welchem Wesen (Mensch, Tier, supranaturalem Geist) sie vorgenommen werden. Demgegenüber weist Pufendorf darauf hin, daß Gut und Böse wesensmäßig bestimmtgeartete Subjekte voraussetzen, grade deren Handlungen gut oder böse sind. Keine Handlung als solche ist „an sich und ihrer Natur nach" gut oder schlecht, sondern kann diese Eigenschaften nur als Handlung eines bestimmten Subjekts haben. Jene Wertqualitäten von Handlungen bestehen nicht an sich und abgelöst vom Subjekt, sondern stets relativ auf ein geeignetes Subjekt^). Und zwar setzen Gut und Böse in ihrem spezifischen Sinne ein freies und vernünftiges Wesen, d. h. den Menschen, voraus. Jedenfalls will Pufendorf die Wertqualitäten grade menschlicher Handlungen untersuchen ; das Naturrecht der Engel und Teufel zu erforschen, überläßt er den subtilen Männern, die mit den seraphischen Gelehrten näher bekannt sind und die über die Natur der Geister mit derselben Selbstverständlichkeit reden wie die Ärzte über die Teile des menschlichen Körpers26). Vor allem aber ist die Lehre von dem an sich Guten oder Schlechten völlig steril: sie arbeitet mit bloßen Tautologien wie: „Das Gute ist zu tun, das Böse zu unterlassen"; ihre Vertreter glauben schon dann, wenn sie etwas als an sich und seiner Natur nach gut bezeichnen, jeglichen sachlichen Beweises dafür enthoben zu sein27). Das andere Extrem jener metaphysischen Antinomie, das besonders Hobbes vertrat, gelangte zu Lehren, die das Naturrecht als solches im Grunde aufhoben. Hängt die Welt existentiell und essentiell von Gottes Willen ab und beruhen demnach auch die Praktikate Gut und Schlecht auf willkürlicher göttlicher Bestimmung, so schloß Hobbes, daß Gott jederzeit willkürlich seine Gebote aufheben, verändern und ins Gegenteil verkehren könne. Pufendorf bestritt die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung. Auch er hatte ja Essenz und Existenz zuhöchst auf das irrationale Prinzip des göttlichen Willens 25
) Absurdum quoque est, hisce actibus intrinsecam aliquam habitudinem tribuere citra suppositionem idonei subjecti, abs quo isti actus exerceri debeant habitudo illorum non ex intrinseca et abstracta a subjecto, sed relativa ad subjectum idoneum. E. s. 2 5 3 ; vgl. auch E. s. 79, 3 0 3 . - D a ß diese Relativität keinen Relativismus einschließt, dürfte in der Gegenwart wieder selbstverständlich sein. Sie bedeutet ja nur, daß die Werte Qualitäten eines bestimmt gearteten Seins sind, als solche sind sie aber völlig absolut. S. hierzu N . Hartmann, Ethik, S. 1 3 1 . 2e ) E . s . 252. 27 ) E. s. 88, 2 1 7 , 237, 240, 2 5 1 .
38
Das oberste Prinzip des Naturrechts
zurückgeführt; dies geschah aber nur aus der logischen Besinnung, daß auch das rational Notwendige in einem irrational Zufälligen wurzelt und von ihm umgrenzt wird; aber innerhalb dieser Grenzen, relativ zum Besonderen ist ein rational Notwendiges durchaus möglich. Warum Gott grade den Menschen geschaffen hat, d. h. ein freies und vernunftbegabtes Wesen mit dieser bestimmten „Natur", ist völlig irrational-zufällig, aber nachdem er den Menschen geschaffen hat, können sich, solange der Mensch eben Mensch bleibt, auch die Gebote des Naturrechts nicht ändern, da sie ja die „Natur", d. h. die objektiv sittlichen Werte des Menschen zu ihrem Inhalt haben. Die Naturgesetze setzen die Natur des Menschen als ihren Möglichkeitsgrund voraus und sind darum in deren Objektivität verankert2^). Daß man die Natur des Menschen zum Ausgangspunkt des Naturrechts machen müsse, war ebenfalls eine uralte Anschauung der Naturrechtslehre. Während man sich nun darum stritt, was im einzelnen als Natur des Menschen anzusehen sei, herrschte über das methodische Vorgehen bei diesen Untersuchungen eine unbewußte Einmütigkeit. Trotz aller Verschiedenheit im einzelnen war die „Natur" des Menschen als methodischer Ausgangspunkt überall prinzipiell die gleiche, nämlich diejenigen vitalen oder psychischen Kräfte, die der einzelne Naturrechtler für allgemein-menschlich und für das soziale Handeln für ausschlaggebend hielt. So untersuchte man „angeborene" Seelenvermögen, Neigungen und Triebe, wählte als „Natur" des Menschen irgendwelche dieser biologisch-psychologischen Faktoren aus und machte ihren Inhalt zu Gesetzen des Naturrechts. Damit erhielt man eine Gesetzmäßigkeit des subjektiven vitalen und psychischen Lebens, die an sich völlig diesseits von Wert und Unwert steht, eine Sozialpsychologie oder Soziologie des Rechts. Nun sollen aber die Gebote des Naturrechts als solche keine bloßen Aussagen über Seinszusammenhänge vitaler oder psychischer Akte sein, sondern Sollensnormen für menschliches Verhalten abgeben. Damit kommt erstens zum Ausdruck, daß jene Gesetzmäßigkeit des vitalen und psychischen Lebens nur eine Regelhaftigkeit, aber keine echte unverbrüchliche Naturgesetzlichkeit ist, und es wird zweitens eine wertindifferente Seinsgesetzlichkeit unvermerkt in eine wertbestimmte Sollensgesetzlichkeit verwandelt.
Unvermittelt
erhalten
jene
biologischen
und
psychologischen
Faktoren allein darum, weil sie die „Natur" des Menschen ausmachen, d. h. allgemein-menschlich und handlungsbestimmend sein sollen, einen 28
) 2. III. 5. S. auch E. s. 2 5 1 : cur lex naturalis id lege naturali praecipit: quia id congruit cum natura et conditione hominis in universum.
39
Drittes Kapitel
positiven Wertakzent: die Werthaftigkeit wird an die (völlig wertindifferente) Tatsache der Allgemeinmenschlichkeit bestimmter vitaler oder psychischer Faktoren geknüpft. Hierin liegt der Grundfehler aller dieser Theorien. Werden so auf der einen Seite diejenigen biologischen und psychologischen Faktoren, die als allgemein-menschlich das soziale Handeln bestimmen, festgestellt und auf der anderen Seite Inhalt und Richtung dieser Faktoren wegen ihrer Allgemeinmenschlichkeit zu Werten und Inhalten von Sollensnormen erhoben, so muß die Naturrechtslehre notwendig in eine unheilvolle Zwitterstellung zwischen Sozialpsychologie (Soziologie) und objektiver Wertlehre des Rechts (Rechtsphilosophie) geraten. Die einfachste dieser Theorien machte das Naturrecht zu einem angeborenen Seelenvermögen. Die Gebote des Naturrechts sind angeborene Ideen, wobei noch strittig war, ob sie aktuell oder nur potentiell angeboren sind. Um den Inhalt dieser Ideen kümmerte man sich wenig, sondern begnügte sich mit der Angabe, die dictamina rectae rationis seien die leges naturae ein Satz, der übrigens, abgesehen von dem besonderen Sinn, den ihm diese Theorie gab, weiteste Verbreitung gefunden h a t t e t ) , 30). Die protestantische Scholastik schloß sich dieser Lehre auf Grund des paulinischen Wortes an, daß das Gebot des Gesetzes den Heiden ins Herz geschrieben istsi). Im Gegensatz hierzu stehen zwei Theorien, die das Naturrecht aus gewissen, näher bezeichneten Vitalfaktoren des Menschen abzuleiten unternahmen. Grotius und Hobbes sind in der Neuzeit ihre hervorragendsten Vertreter. Während Grotius gemäß stoischer Tradition einen unmittelbaren biologischen Trieb des Menschen zur Gesellschaft, den appetitus socialis, annahm und auf ihn das Naturrecht gründete, ging Hobbes von einem Trieb zur Erhaltung und Steigerung des individuellen Lebens aus. Auf diesem Selbsterhaltungsund Machttrieb beruht nach ihm das Recht (jus) eines jeden, sich nach Kräften zu erhalten und alle Mittel zu gebrauchen und alle Handlungen zu tun, mit denen er sich erhalten kann. Die Natur gab jedem ein Recht auf alles. Dieses natürliche Recht aller auf alles muß notwendig zu einem Kampf aller gegen alle führen, aus dem wiederum eine allgemeine Furcht der Menschen 2e
) Historisch geht er auf die stoische Lehre vom όρ$όξ λόγος (s. hierzu Bonhöffer, Epiktet und die Stoa I, S. 223 ff.) und der recta ratio (2. B. Cicero, Tusc. IV., 15,34) zurück. 30 ) E. s. 87, 229. Als Vertreter dieser Ansicht ist 2. B. der Gegner Putendorfs Gesenius, ein Superintendent in Gardelegen, zu nennen. 31 ) Vgl. hier 2. III. 13. und E. s. 215.
40
Das oberste Prinzip des Naturrechts v o r e i n a n d e r entsteht. A u s dieser Furcht aller vor allen ergibt sich das F u n d a m e n t a l n a t u r ^ w i / z 3 2 ) ; d a ß m a n d e n F r i e d e n suchen solle, w o er zu h a b e n i s t ; a n d e r n f a l l s soll m a n sich nach H i l f e f ü r d e n K r i e g u m s e h e n . P u f e n d o r f h a t t e sich in d e n E l e m e n t e n d e r a l l g e m e i n e n J u r i s p r u d e n z d i e s e n b e i d e n L e h r e n angeschlossen u n d sie zu v e r e i n i g e n g e s u c h t ^ ) . D e r M e n s c h h a t zwei „ N e i g u n g e n " ( i n c l i n a t i o n e s ) : d e n Selbsterhaltungstrieb u n d d e n T r i e b zur Gesellschaft. B e i d e m ü s s e n nach d e r Absicht d e r N a t u r so e i n a n d e r a n g e p a ß t w e r d e n , d a ß k e i n e die a n d e r e stört. D a n n e r g e b e n sich zwei f u n d a m e n t a l e N a t u r g e s e t z e : i . J e d e r soll Leib u n d Leben soviel w i e m ö g l i c h schützen u n d sich u n d das Seine zu e r h a l t e n trachten. 2. N i e m a n d darf die menschliche Gesellschaft stören. B e i d e sind in d e m G e b o t v e r e i n t : jeder soll sich so zu e r h a l t e n trachten, d a ß er nicht die menschliche
Gesellschaft
stört34).
Während Pufendorf mit Hobbes den Selbsterhaltungstrieb als unmittelbar wirksamen Vitaltrieb auffaßte, hielt er die Gesellschaftsneigung im Unterschied zu Grotius mehr für eine nur potentiell angeborene Anlage, die erst durch Zucht aktualisiert werden muß. E i n m ü t i g w a r e n alle drei A u t o r e n darin, d a ß die N a t u r g e s e t z e A u s s p r ü c h e d e r rechten V e r n u n f t ( d i c t a m i n a rectae r a t i o n i s ) sind, in d e n e n die V e r n u n f t Inhalt
und
Richtung
jener
biologischen
o d e r psychologischen
Faktoren
(Sozialtrieb, Selbsterhaltungstrieb, F u r c h t ) in V e r n u n f t g e b o t e n f o r m u l i e r t . I n b e m e r k e n s w e r t e m G e g e n s a t z h i e r z u tritt i n P u f e n d o r f s H a u p t w e r k u n d noch stärker in seinen Streitschriften diese Psychologisierung u n d Biologis i e r u n g des N a t u r r e c h t s völlig in d e n H i n t e r g r u n d . V o n g r o ß e r B e d e u t u n g w a r h i e r b e i die Einsicht, d a ß die V e r n u n f t f ü r G e l t u n g u n d I n h a l t der N a t u r gesetze keinerlei konstitutive K r a f t h a t . A n g e b o r e n e V o r s t e l l u n g e n bestreitet j a P u f e n d o r f ü b e r h a u p t . D i e V e r n u n f t ist lediglich ein Mittel
zur E r k e n n t n i s
3
der N a t u r g e s e t z e , aber b r i n g t sie nicht h e r v o r 5 ) . N i c h t die dictamina rectae rationis g e h e n d e n leges naturae, s o n d e r n diese g e h e n j e n e n logisch v o r a u s 3 6 ) . 32
) Das Fundamentalnaturgesetz ist die sollensmäßige Formulierung dieser Furdit als der Hauptursache des sozialen Handelns: ita evenit, ut mutuo metu e tali statu exeundum et quaerendos socios putemus. Hobbes de cive I. § 13. 33 ) El. jur. 2, III-IV. M ) El. jur. 2, IV, 4. 36 ) Recta ratio non facit, ut aliqua actio sit honesta vel turpis, sed mediante recta, ratione investigare et cognoscere potest, quae per legem naturalem honesta aut turpia. declarentur. E. s. 229 und 87 f. 3e ) Sane ponenda est lex naturalis tanquam norma justi, antequam intellectus human! dictamina practica possint existere. E. s. 88.
41
Drittes Kapitel
Dictamina rationis darf man die Naturgesetze nur darum nennen, weil sie von der ratio aufgefunden werden; aber sie sind nicht von psychischen Akten abhängig. Ebensowenig ist die socialitas, das oberste Prinzip des Naturrechts Pufendorfs, ein Geselligkeits/«V& oder Geselligkeits£W»r/«/j·, wie man sie (bis zur Gegenwart hin) mißverstanden hat, sondern der allgemeinste Begriff der objektiv-sittlichen Wertgestalt des menschlichen Lebens. Allerdings war zur damaligen Zeit der Begriff der socialitas mit der cupido oder dem appetitus socialis synonym; auch Pufendorf gebrauchte ihn bisweilen noch in diesem Sinne37), 38). Der Grund, weshalb er den alten Namen für einen neuen Begriff beibehielt, liegt hauptsächlich darin, daß er im Gegensatz zu einer individualistischen Richtung der Naturrechtslehre gemäß der stoischen Tradition den sozialen Charakter des Naturrechts betonen wollte. Aber ausdrücklich und mit gesperrt gedruckten Worten weist er gegenüber den Mißverständnissen seiner Zeitgenossen darauf hin, daß er die Geselligkeit, aber nicht den Geselligkeits/r/Vi zum Fundament des Naturrechts genommen habe: socialitatem (non adpetitum socialitatisPufendorf stellt nicht irgendeine allgemeinmenschliche Art des Vitalstrebens fest und erhebt dessen Inhalt zur Sollensnorm; vielmehr ist seine „Natur" des Menschen der Inbegriff der sittlich-sozialen Verhaltensweisen des Menschen. „Fundament" oder Prinzip des Naturrechts sind diese Wertgehalte deshalb, weil die Naturgesetze ihnen gegenüber insofern ein logisches Posterius sind, als Gott durch die Naturgesetze die sittlichen Wertgehalte des menschlichen Lebens in Rechtsgeboten den Menschen vorgeschrieben hat. 3T
) 2. B. de off. hom. 2. V . 2.
38
) Für Pufendorf sind socialitas und societas nicht identisch wie in der damaligen Literatur. Pufendorf verwahrt sich selbst gegen solche Mißverständnisse. (E. s. 240, 279, 308). Societas ist die einzelne menschliche Gesellschaft wie Ehe, Familie, Staat; über socialitas s. oben im Text. 39 ) E. s. 74, gegen Friedrich Gesen'tus, der Pufendorf unter dem Pseudonym Christian Vigil angegriffen und den Begriff der socialitas bei Pufendorf in dem üblichen Sinne gefaßt, d. h. mit lubido sociandi, appetitus societatis oder socialis u. ä. gleichgesetzt hatte. Dabei verstand er unter cupido socialis etc. sowohl den unmittelbaren Geselligkeitstrieb, wie den mittelbaren, aus dem metus periculi oder der imbecillitas hergeleiteten. - Schon hieraus ergibt sich, daß Pufendorf die imbecillitas in seiner Beweisführung nidit als reales Agens auffaßt, das im Menschen ein bestimmtes vitales oder psychisches Streben nach der Geselligkeit erzeugt. (Chr. Vigil, S. Pufendorfii contra jus naturae iniquitas, 1 6 7 4 ) .
42
Das oberste Prinzip des Naturrechts D i e Naturgesetze als Rechtsbefehle setzen die Wertgehalte des sittlichen Lebens als ihren logischen Grund v o r a u s 4 0 ) . D e r Begriff des obersten Prinzips des Naturredits ist bei Pufendorf, wie schon erwähnt, an dem Begriff des Prinzips oder der Hypothese der Naturwissenschaften orientiert, weil die Naturrechtslehre, ebenso wie die Naturwissenschaft, keine erfahrungsfreie Wissenschaft ist, sondern das menschliche Dasein als Erfahrungsobjekt voraussetzt. Das „Fundament" des Naturrechts ist darum keine unmittelbar einsichtige, die Erfahrung und ihre Gegenstände erst ermöglichende Grundhypothesis, sondern ein aus Erfahrung und Beobachtung zu gewinnender allgemeinster B e g r i f f t ) . Pufendorf versucht, das oberste Prinzip des Naturrechts nach der Methode der Naturwissenschaft, das heißt also nach der analytischen Methode, aufzufinden. Dabei geht er so vor, daß er die menschliche N a t u r in drei Grundkomponenten zerlegt, um daraus das Gesetz ihres Seins zu ermitteln 4 2 ). Diese Grundkomponenten sind x. der „amor sui", die Selbstliebe oder der Selbsterhaltungstrieb, 2. die „imbecillitas" und die „naturalis indigentia", 3. die „pravitas animi", die den Menschen immer wieder dazu anreizt, dem Mitmenschen zu s c h a d e n ^ ) . V o n diesen drei Grundkomponenten besitzt die zweite, die „imbecillitas", eine besonders wichtige Funktion im Naturrechtsdenken
Pufendorfs.
In
40 ) Vgl. hierzu ζ. B. 2. III. 5. und E. s. 250 ff. - Bei diesen Gedanken zieht sich der schon bemerkte Riß durch das Pufendorfsche System. Auf der einen Seite faßt Pufendorf die Naturgesetze nur als sekundäre „Mittel" auf, die Gott gemäß der von ihm geschaffenen „Natur" des Menschen aufgestellt hat, damit nach ihnen die Menschen ihre Handlungen ihrer „Natur" anpassen können (E. s. 250). Hierauf basieren auch Pufendorfs Argumente gegen den Nominalismus, daß die Naturgesetze die sittlichen Werte, die Natur des Menschen, voraussetzen und in der Objektivität der letzteren gegründet sind (2. III. 5.). Auf der anderen Seite aber behauptet er, der „formale" Grund der moralischen Güte bestimmter Handlungen bestehe nicht darin, daß sie mit der „Natur" des Menschen übereinstimmen, sondern darin, daß Gott sie durch die Naturgesetze vorgeschrieben habe. Einmal (E. s. 248) sogar versichert er, daß solche Handlungen, obwohl sie mit der menschlichen Natur übereinstimmen, nicht gut oder böse, sondern lediglich nützlich oder schädlich genannt werden könnten, wenn Gott sie nicht durch Naturgesetze sanktioniert hätte! Damit verliert die „Natur" des Menschen ihre methodische Stellung als Fundament des Naturrechts, und Pufendorf gerät in die bedenklichste Nähe des von ihm selbst bekämpften Nominalismus Occams, nach welchem der bloße, jederzeit veränderliche Wille Gottes erst bestimmt, was gut und böse sein soll. (E. s. 246-250). 41
) E. s. 187, 356. ) 2. III. 14, 1 5 . 43 ) Vgl. auch 2 . 1 . 6. 42
43
Drittes Kapitel
seinen vielfach modern anmutenden Darlegungen 4 4) weist er darauf hin, daß das Tier nur kurzer Zeit bedarf, um voll erwachsen zu sein und für seine eigene Nahrung zu sorgen; für die Nahrungssuche ist es dann meist nicht mehr auf die Gesellschaft mit Artgenossen angewiesen^). Den Menschen dagegen begleitet von Anbeginn an die „imbecillitas". Wie viele Jahre, welch sorgfältige Ausbildung sind erforderlich, bis der Mensch fähig ist, mit eigener Kraft für sich zu sorgen! Man stelle sich einen Menschen vor, der ohne Anleitung und Kommunikation, ohne Hilfe und Geselligkeit mit anderen lebt,um zu erkennen, wie elend solches Leben wäre. „Steht so fest, daß der Mensch am meisten auf Selbsterhaltung bedacht, für sich allein aber bedürftig und ohne Hilfe von seinesgleichen lebensunfähig ist, daß am besten er das gegenseitige Wohl befördern könnte, dennoch oft böswillig, streitlustig und reizbar, zugleich bereit und fähig ist, anderen zu schaden. So folgt, daß ein solches Wesen gesellig sein muß, um heil und wohlbehalten zu sein und das Gute seiner Lage genießen zu können. D. h., er muß sich mit seinesgleichen vereinigen und sich gegen sie so verhalten, daß sie keinen Anlaß haben, ihn zu verletzen, sondern eher Ursache finden, seine Wohlfahrt zu erhalten und zu fördern." 4 6 ). Zum selben Ergebnis gelangt man mit der Fiktion vom einsamen Menschen 4 7 ). Zum Verständnis dieses „Beweises" ist zunächst darauf hinzuweisen, daß Pufendorf die sittliche Notwendigkeit der Geselligkeit nicht an die Tatsache eines allgemein-menschlichen Vitalstrebens zur Gesellschaft knüpft. Jene drei Grundkomponenten bilden nur die Faktoren einer wissenschaftlichen Betrachtung, die aus ihrem Verhältnis zueinander die Einsicht in die beste Gestaltung des menschlichen Lebens gewinnen will. In diesem Beweis fungieren sie nicht als wirkende Ursachen, die im Menschen ein Vitalstreben 44
) 2. I. 8 ; E l . jur. 2. III. 2.
45
) D i e Betonung einer Sonderstellung des Menschen gegenüber dem T i e r ist charak-
teristisch f ü r sehr viele Argumentationen Pufendorfs; in ihnen setzt seine Kulturphilosophie die Abgrenzung zur N a t u r konsequent fort. 4β
) Scilicet manifesto adparet, hominem esse animal sui conservandi studiosissimum,
per se egenum, sine sui similium auxilio servari ineptum, ad mutua commoda promovenda maxime idoneum, idem tarnen saepe malitiosum, petulans et facile irritabile ac ad noxam inferendam promptum ac validum. Ejusmodi animali, ut salvum sit bonisque fruatur, quae in ipsius conditionem heic cadunt, necessarium est, ut sit sociabile, id est, ut conjungi cum sui similibus velit et adversus illos ita se gerat, ut ne isti ansam accipiant eum laedendi, sed potius rationem habeant ejusdem commoda servandi aut promovendi. 2. III. 1 5 . 4T
44
) 2. II. 2 u. oben S
Das oberste Prinzip des Naturrechts
zur Gesellschaft hervorriefen, das dann Pufendorf unter Vermengung von Soziologie und objektiver Wertlehre zu einer Norm erhöbe 4 8 ). So war etwa Hobbes vorgegangen, der vom Selbsterhaltungstrieb zur allgemeinen Furcht kam, die dann das Fundamentalnaturgesetz vorschrieb. Pufendorfs Beweis dagegen ist unabhängig davon, ob der Selbsterhaltungstrieb, verbunden mit der Schwachheit (imbecillitas), ein Streben zur Gemeinschaft im Menschen verursacht oder nicht; er bleibt auch gültig, wenn dies nicht der Fall w ä r e * 9 ) sofern er überhaupt Bestand hat. Das aber bleibt fraglich. Denn es ist unmöglich, mit der analytischen Methode, wie sie Pufendorf gebraucht, einen objektiven Wert aufzufinden. Pufendorf geht naturwissenschaftlich, wertabstrahierend von vier Grundkomponenten des menschlichen Lebens aus, so wie Galilei vorgegangen war, als er die Fallgesetze fand. Galilei zerlegte dabei das Fallphänomen unter Absehung des Unwesentlichen (ζ. B. des Luftwiderstandes) in drei Grundkomponenten, den durchlaufenen Raum (s), die durchlaufene Zeit (t), und die Erdanziehung (g) und stellte ihr gegenseitiges Verhältnis fest. Wäre aber Pufendorf wirklich in derselben Weise verfahren, so hätte er ein Gesetz des tatsächlichen sozialen Lebens, eine Soziologie des Rechts, finden müssen. Er aber fragt nicht danach, zu welchem tatsächlichen sozialen Verhalten jene drei Komponenten wirklich führen, sondern zu welchem sozialen Verhalten sie führen sollen (necessum est, ut sit sociabile). Während die wahre analytische Methode auch das Verhältnis der Komponenten so analysiert und feststellt, wie es wirklich ist, sucht Pufendorf es so zu erkennen, wie es am besten sein soll. Das aber kann keine Analyse, kein theoretisches Zergliedern des wertindifferent Gegebenen erreichen. Pufendorf muß sich darum die Werterkenntnis der socialitas erschleichen; das tut er auf die Weise, daß er die Worte einschiebt „ut salvum sit". Nur dadurch, daß er die Selbsterhaltung als obersten Wert voraussetzt, kann er aus jenen drei Komponenten die socialitas als Wert sozialen Verhaltens auffinden. Dabei wird die Gesellig48
) S. hierzu auch oben S. 42 A n m . 39.
4B
) Einen
appetitus
societatis nimmt Pufendorf
nur f ü r die kleineren
Gemein-
schaften, wie Freundschaft, Ehe und Familie, nicht aber für den Staat an. ( 7 . I. 3 . ) Das die
Verhältnis socialitas
von ist
der
socialitas objektive
und
appetitus
Wertbegriff
socialis
stellt
sittlich-sozialen
sich
so
Handelns,
dar: sie
bildet den Inhalt der natürlichen Gesetze. D i e vitalen oder psychologischen Ursachen (causae impulsivae 7. I.) zu ihrer Verwirklichung sind 1 . ganz allgemein die Einsicht in ihre Werthaftigkeit und die Ehrfurcht vor Gott ( 1 . V I . und 7. I. 8 u. n ) , 2. f ü r die kleineren Gemeinschaften der appetitus societatis, 3. für den Staat die Furcht vor anderen Menschen.
45
Drittes Kapitel
keit unversehens zum bloßen Mittelwert für die Selbsterhaltung, ein reiner Nützlichkeitswert. Woher aber die Werthaftigkeit der Selbsterhaltung folgen soll, bleibt in jenem Beweis offen. Vielmehr statuiert Pufendorf explicit die Selbsterhaltung nicht nur nicht als obersten Wert, sondern deduziert später gerade umgekehrt die (etwaige) Werthaftigkeit der Selbsterhaltung aus dem Sozialitätsprinzip heraus 5 0 ). Nach ihm ist eben nicht die Selbsterhaltung, sondern die Sozialität das oberste Wertprinzip. So ist nach dem eigenen System Pufendorfs jener analytische „Beweis" des obersten Prinzips des Naturrechts mißglückt. Doch hat Pufendorf die Grenzen seiner „analytisch-synthetischen" Beweisführung offenbar selbst erkannt, da er unmittelbar nach Aufstellung jenes Beweises sagt: „Selbst wenn man von jemandem weder Gutes noch Böses erwarten könnte, von ihm weder etwas zu befürchten noch zu erhoffen hätte, so will ihn doch die Natur als Verwandten und Unseresgleichen behandelt wissen. Dieser Grund allein genügt, selbst wenn alle anderen fehlen, daß das Menschengeschlecht eine friedliche Gemeinschaft pflegen soll5i). „Zur allgemeinen Menschenliebe ist kein anderer Grund erforderlich als der, daß auch der andere ein Mensch ist. Obgleich durch die Weisheit Gottes das natürliche Gesetz so der menschlichen Natur angepaßt ist, daß seine Beobachtung immer mit Nutzen und Vorteil verbunden ist und also jene allgemeine Liebe den Menschen stets zum Besten ausschlägt, so ist dennoch ihr eigentlicher Grund nicht der Nutzen, sondern die gemeinsame Natur; so pflegt man, wenn ζ. B. der Grund dafür aufzusuchen ist, warum der Mensch dem Menschen nicht schaden soll, nicht zu sagen, weil es nützlich (wenn es auch tatsächlich sehr nützlich ist), sondern weil der andere auch ein Mensch ist, d. h. ein von Natur verwandtes Wesen, dem zu schaden unrecht ist."52). B0
) 2. IV. 16/17. ) Si vel maxime ab aliquo neque boni quid neque mali in me proficisci possit, nihilque in se is habeat, quod vel metuam vel desiderem, tamen et hunc tanquam cognatum et aequalem haberi natura vult. Quae etiam sola ratio, si ceterae deficerent, ad amicam societatem colendam humano generi sufficit. 2. III. 16. 62 ) Nam revera ad communem istum amorem nulla alia requiritur ratio, quam quod quis homo s i t . . . Quamquam autem per Creatoris sapientiam lex naturalis ita humanae naturae sit adapta, ut ejus observatio semper cum utilitate et commodo hominum sit conjuncta, eoque et communis ille amor hominibus maximo bono cedat, tamen in assignanda hujus ratione non ad commodum inde proveniens, sed ad communem naturam solet provocari, verbi gratia, si ratio reddenda sit, quare homo homini nocere non debeat, non solet dici, quia id utile est, etsi revera id sit quam utilissimum, sed quia et alter homo, id est a natura cognatum animal est, cui nocere nefas. 2. III. 18. 61
46
Das oberste Prinzip des Naturrechts
Die Erweisung wahrer Menschlichkeit gegen alle und jeden Menschen, die „Achtung vor der Menschheit in jeder Person", das ist der tiefste Sinn der socialitas. In der Liebe zum Mitmenschen, eben weil er Mitmensch ist, liegt das echte Menschentum, die „Natur" des Menschen. Zugleich enthüllt der Begriff der menschlichen Natur seinen wahren Sinn. Er ist als das „fundamentum aestimationis" des Menschen ein Wertbegriff, wie schon der bloße Name „Mensch" die Zuerkennung einer Würde enthält53). Darum sieht Pufendorf in der Würde der menschlichen Natur den wichtigsten Beweisgrund für die sittliche Gebundenheit des Menschen: Gott steht über dem Gesetz, weil er sich selbst Gesetz ist. Die beschränkte Freiheit der Tiere steht außerhalb des Gesetzes und wird von den Naturtrieben gelenkt. Eine solche gesetzlose, nur von den Trieben beherrschte „Freiheit" ist aber mit der menschlichen Natur, wie Gott sie geschaffen hat, unvereinbar. „OieWürde der menschlichen Natur, ihr Vorrang vor den übrigen Lebewesen, erforderte, daß die menschlichen Handlungen nach einer festen Norm vorgenommen werden, ohne welche Ordnung, Gesittung und Schönheit nicht möglich wären."54). Bei Pufendorf erscheint zum ersten Male der für die Folgezeit (bis einschließlich Kant) so wichtige Begriff der Alenschenwürde54a) an zentraler Stelle des naturrechtlichen Begründungszusammenhanges, während z.B. noch Grotius von dignitas humana nur innerhalb des Bestattungsrechts im Hinblick auf den entseelten menschlichen Körpers 5) spricht. Da nun Pufendorf diese in der Menschenwürde begründete oberste Norm des Handelns im Gebot der Sozialität ausgesprochen fand, mußte sich für ihn eine eminent soziale Struktur des Naturrechts ergeben. Der Einzelne hat sittlichen Wert und die Möglichkeit sittlichen Handelns nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Daran hält Pufendorf mit aller Konsequenz fest56). Selbst der 63 ) In ipso hominis vocabulo iudicatur inesse aliqua dignatio. 3. II. 1. und El. jur 2. III. 2. 64 ) Requirebat humanae naturae dignitas et praestantia, qua caeteras animantes eminet, ut certam ad normam ipsius actiones exigerentur, quippe citra quam ordo, decor, aut pulcritudo intelligi nequit. 2. I. 5. 64 a)und zwar als Korrelatbegriff zur sittlichen Gebundenheit menschlicher Freiheit. 66 ) Grotius, de jure belli ac pacis, 2. Buch, Kap. 19, 2 (5 und 6); vgl. auch mein Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 156. 56 ) Darum wendet sich Pufendorf scharf gegen Mevius, der als Vertreter der individualistischen Richtung der Naturreditslehre ein Naturrecht auch außerhalb jedes menschlichen Gemeinschaftslebens behauptete: Quaenam autem sit ilia „Morum honestas et innocentia ubique et extra societatem servanda", seu citra reflexionem ad alios
47
Drittes Kapitel
Dienst des Menschen an sich selbst ist nur gerechtfertigt als Teil der allgemeineren Aufgabe. „Es ist nicht um den Menschen allein zu tun, wenn er sich um seine eigene Vervollkommnung Mühe gibt; vielmehr erstrecken sich die Früchte seiner Anstrengungen über das ganze Menschengeschlecht. Je vortrefflicher jemand für sich selbst ist, desto größer ist sein Ansehen als ein edler und pflichttreuer Bürger dieser Welt. Deshalb muß der Mensch, wenn er die Gesetze der Sozialität erfüllen will, notwendig zuerst um seine eigene Ausbildung besorgt sein; denn je vortrefflicher er an seiner eigenen Vervollkommnung arbeitet, um so glücklicher wird er die Pflichten gegen die Mitmenschen erfüllen."57) ) 58). homines, nondum dispicere potui. Vorrede an den Leser zur ersten Auflage des: de jure naturae et gentium. 67 ) Inde quod operae circa se ipsum excolendum sumit homo, non in ipso solo terminatur; sed fructum suum quam maxime in genus humanum diffundit; et quo praestantior quis sibi ipsi fuerit, eo nobilior hujus universi civis et munificentior habetur. Eoque homo leges socialitatis . . . . implere studens merito primam circa se ipsum operam collocare debet, eo felicius officiis adversus alios satisfacturus, quo curatius circa sui perfectionem laboraverit. 2. IV. 1. B8 ) Von hier aus entwirft Pufendorf das Idealbild eines harmonisch ausgebildeten Menschen, mit aufrechtem, beständigem Charakter, dessen Wollen nicht über das Maß seines Könnens hinausgeht; dessen Wille und Streben nicht dem Urteil voraneilt, sondern nachfolgt (2. IV. 6/7); der, nachdem er seine Pflicht getan hat, sich mit dem Lose zufriedengibt, das ihm zugefallen, und das, was ihm nicht gegeben -wurde, in völliger Gelassenheit ansieht, als etwas, was ihn nicht im geringsten angeht (2. IV. 9.). Tür den Menschen gibt es in dieser Welt kein anderes Glück als das, welches aus der vernünftigen Leitung seiner Fähigkeiten und der Hilfe entspringt, die uns Gott bei seiner Herrschaft über die Welt angedeihen läßt (2. IV. 8.). Das Leben hat uns Gott geschenkt gleichsam als Kampfbahn, auf der wir unsere Kräfte nach den Vorschriften der Vernunft ausüben sollen. Arbeit an der menschlichen Gemeinschaft soll sein Inhalt sein, damit man nicht ein έ τ ώ σ ι ο υ &χ&θζ σροΰρη;, eine unnütze Last der Erde, werde, sich selbst überflüssig und den anderen beschwerlich. (2. IV. 1 5 . ) . Doch soll man sich nicht sinnlichen Genüssen und Annehmlichkeiten entziehen, sofern man in ihnen Maß hält (2. IV 1 1 . ) . Wenn der Mensch nur um seiner selbst willen geboren wäre, so könnte er über sich nach Belieben verfügen; aber da ihn Gott zur Ausbreitung seiner Ehre und zur Sozialität geschaffen hat, diese aber nur bestehen kann, wenn ein jeder sich zu erhalten trachtet, so folgt, daß der Mensch, wenn er sein eigenes Wohl völlig vernachlässigt, zwar nicht sich selbst, wohl aber Gott und der Menschheit gegenüber ein Unrecht begeht. W o aber die Ehre Gottes und das Wohl menschlicher Gemeinschaft den Einsatz unseres Lebens erfordert, da sind wir hierzu verpflichtet (2. IV. 1 6 / 1 7 . ) . Da der Mensch mehr des Handelns als der Kontemplation wegen auf der Welt ist (El. jur. 2. I. 1 . ) , ist diejenige Geisteskultur, die nicht unbedingt zur Erfüllung der Sozialitätspflichten erforderlich ist, wie Kunst und Wissenschaft, erst in zweiter Linie zu pflegen; denn durch das Wissen werden die Boshaften nicht besser, sondern im Gegenteil schlechter und raffinierter. Unter den Wissenschaften stehen als nützliche obenan: die Moral (im weitesten
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D a s oberste P r i n z i p des Naturrechts
Da aber die Menschenwürde allen Menschen in gleichem Maße zukommt und niemand mit einem anderen ein geselliges Leben führen kann, wenn er nicht auch von ihm als Mensch geachtet wird, so ergibt sich das Naturgesetz, daß jeder seinen Mitmenschen als einen ihm von Natur Gleichen achten und behandeln s o l l 5 9 ) . Aus dieser naturrechtlichen Gleichheit
folgt die natur-
rechtliche Freiheit aller Menschen; denn da die Natur alle Menschen gleich geschaffen hat, müssen sie auch alle als von Natur frei angesehen werden 6 0 ). Sklaven von Natur, wie es die antike, bis ins späte Mittelalter wirkende Lehre des Aristoteles behauptet hatte, gibt es nichtei). Rechtmäßige Herrschaftsverhältnisse können nur auf Grund freier, vertragsmäßiger Unterwerfung begründet werden62). - Es sind dies die folgenschwersten Sätze, die Pufendorf geschrieben
hat!62a)
Ist nun der Einzelne als sittliche Person notwendig in einen sozialen Zusammenhang eingeordnet, so kann sich der Wert sittlichen Handelns nicht auf den Wert der Gesinnung beschränken, sondern muß den Wert der Tat in sich einbeziehen: sittlich vollkommen ist nur die Handlung, die sowohl in der Gesinnung, mit der sie unternommen wurde, wie im Ziel, das sie verfolgt und S i n n e ) , d i e M e d i z i n u n d (technische) M a t h e m a t i k . P h i l o l o g i e , M e t a p h y s i k , Geschichte, Poesie, Rhetorik u n d höhere Mathematik sind elegante Wissenschaften, die durchaus an sich vortrefflich und l o b w ü r d i g sind u n d gleichsam die W ü r z e und Zierrat der menschlichen K u l t u r (cultura h o m i n i s ) ausmachen. 2. I V . 1 3 . 5S> )
3. II. 1, 2.
β0)
3.II.8.
)
3- II· 8.
61
e2)
7. II. 6.; 7. III. 1. A b e r auch die rechtmäßig begründete bürgerliche Ungleich-
heit verkürzt nicht die naturrechtlichen G e b o t e , die sich aus der naturrechtlichen Gleichheit ergeben. - 2. III. 9. 6 2 a ) W i e tief u n d nachhaltig ihr Eindruck auf Mit- und N a c h w e l t w a r , läßt sich nirgends klarer ermessen als an ihrem W i d e r h a l l im fernen N o r d a m e r i k a : Im Jahre 1 7 1 7 begann John
Wise
das naturrechtliche K a p i t e l seiner K a m p f s c h r i f t f ü r eine demo-
kratische (kongregationalistische) Kirchenverfassung ( A V i n d i c a t i o n of the G o v e r n m e n t o f N e w England Churches) - zugleich mit dem Bekenntnis zu P u f e n d o r f als seinem „chief g u i d e and s p o k e s m a n " - mit den W o r t e n :
Ich w e r d e den Menschen in seinem
natürlichen Z u s t a n d schildern als ein frei geborenes W e s e n unter der K r o n e des H i m mels, niemandem Untertan als allein G o t t " . D a n n f o l g e n in langen Perioden fast wörtlich all die Sätze P u f e n d o r f s über die Menschenwürde, die naturrechtliche Gleichheit u n d Freiheit aller Menschen u. s. f. - Sollten nicht auch die berühmten Eingangsworte des Contrat Social: „ L ' h o m m e est ne libre . . ." ein später Nachhall der Sätze P u f e n d o r f s v o n der auf der Menschenwürde gegründeten natürlichen Freiheit aller Menschen sein ? Jedenfalls erscheint es mir am wahrscheinlichsten, d a ß gerade in diesem Herzstück der Naturrechtslehre P u f e n d o r f s der von D e r ä t h e gesuchte G r u n d f ü r Rousseaus g e h e i m e V o r l i e b e f ü r P u f e n d o r f liegt. ( V g l . oben S. 3 A n m e r k u n g 6 ) .
4 W e l z e l , Pufendorf
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Drittes Kapitel
vollbracht hat, wertvoll ist. So ist in der Sozialität der Wert der Gesinnung mit dem Wert der Tat zur Wesenseinheit verschlungen, und so entsprechen der Nächstenliebe, der Hilfsbereitschaft, dem Gerechtigkeitssinn u.s.f. die Achtung und die humane Behandlung aller Menschen, die Hilfeleistung mit Rat und Tat, die Unterlassung von Schadenszufügungen, die Erfüllung vertraglicher oder sonstiger (seziiisch rechtlicher) Pflichten, überhaupt alle Handlungen zur Aufrechterhaltung und Förderung menschlicher Gemeinschaft. Ihrem Ausgangspunkt und teilweise ihrem Inhalt nach ist die Sozialität identisch mit derjenigen Idee, in der die stärksten Gefühlswerte jener Epoche lagen, der Idee der Humanität. Wohlwollen, Friedfertigkeit und Liebe gegen alle und jeden Menschen sind die Substanz der Sozialität wie der Humanität. Alte stoische und christliche Gedanken wirken in beiden lebendig fort: die Stoa mit ihrem Gebot der allgemeinen Menschenliebe und das Christentum mit seinem Gebot der brüderlichen Nächstenliebe 63 ). Die starken sozialen Elemente dieser Geistesmächte verschmelzen zu einer Idee, in der die Arbeit für die menschliche Gemeinschaft zum obersten Wert für das irdische Leben erhoben ist. Nun umschließt zwar die Sozialität alle Humanitäts- und Liebespflichten, beschränkt sich aber nicht auf sie, sondern reicht auf ein Gebiet hinaus, das vor ihnen liegt und die Voraussetzung für sie bildet. Ein Handeln aus selbstloser Liebe ist erst möglich, wenn überhaupt der Bestand menschlichen Zusammenlebens garantiert ist. Das geschieht durch Pflichten, deren Erfüllung im Gegensatz zu den Humanitätspflichten erzwingbar ist®*). Diese spezifisch rechtlichen Pflichten (officia, quae justitia stricte dicta dirigit) gehen auf das bloße Dasein eines geordneten menschlichen Zusammenlebens, während die Humanitätspflichten (officia humanitatis seu charitatis) die Vollkommenheit menschlicher Gemeinschaft anstreben. Alle Menschen sind nicht so edel, aus bloßer Liebe und ohne Hoffnung auf Entgelt anderen beizuspringen; auch sind die Kräfte zu beschränkt, als daß man allen Notleidene3 ) Pufendorf selbst beruft sich gegenüber Angriffen auf sein Sozialitätsprinzip auf die Stoa und das Evangelium. 2. III. 1 6 ; E. s. 74, 279. 64 ) Für den Naturzustand äußert sich dieser Unterschied-unbeschadet der Tatsache, daß die Gebote der Sozialität erst durch den göttlichen Befehl zu natürlichen Gesetzen werden darin, daß zwar beide, die Humanitäts- wie die spezifischen Rechtspflichten, eine obligatio naturalis auferlegen, aber die ersteren nur ein unerzwingbares jus imperfectum, letztere aber ein durch Selbsthilfe eintreibbares jus perfectum geben. Im Staat entscheidet darüber, ob eine Pflicht erzwingbar ist (d. h. eine obligatio civilis auferlegt und ein jus perfectum gibt), die Sanktion des Herrschers, der sich dabei allerdings meist an die Wesensunterschiede dieser Gebote anschließen wird.
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Naturrecht, Moral und positives Redit
den helfen könnte; darum muß man das, was man aus bloßer Liebe nicht von anderen hoffen kann, durch Verträge sichern. So entspringen die meisten erzwingbaren Pflichten aus Verträgen (daneben aus unerlaubten Handlungen). Damit hängt zusammen, daß man bei Verträgen mehr auf den eigenen, als auf den Vorteil des anderen sieht, während die Erfüllung der Liebespflichten allein im Interesse des anderen zu erfolgen hat - soll ihr Wesen gewahrt bleiben. So müssen sich die Pflichten der Liebe und Humanität und die aus Verträgen entspringenden Verbindlichkeiten gegenseitig ergänzen: Was man aus Liebe nicht leisten kann oder will, das muß man durch Verträge sichern; wo aber diese nicht zureichen, da muß die Liebe eintreten 65 ) 66). Beide aber, Liebespflichten und spezifische Rechtspflichten, werden vom Prinzip der Sozialität umschlossen, das die Gesamtheit alles sittlich wertvollen sozialen Verhaltens umfaßt.
Viertes
Kapitel
NATURRECHT, MORAL UND POSITIVES RECHT Auf dem Sozialitätsprinzip gründet sich das Fundamentalnaturgesetz, das Pufendorf folgendermaßen formuliert: „Jeder Mensch soll nach Kräften eine friedliche Sozialität gegen andere pflegen und bewahren, die dem Wesen und Ziel des Menschengeschlechts in seiner Gesamtheit angemessen ist"i). Dieses höchste und allgemeinste Naturgesetz schließt nach Meinung Pufendorfs alle besonderen Naturgesetze so in sich ein, daß sie aus ihm leicht und klar deduziert und umgekehrt wieder in es reduziert werden können. Bei der Ausführung dieses Gedankens entwickelt Pufendorf sein ganzes System des Naturrechts aus dem einzigen Prinzip der Sozialität. Sein ungewöhnlich starker Systemwille faßt die Rechtsgrundsätze des bürgerlichen, Straf-, Staats- und e5 ) Sic igitur lex humanitatis sive caritatis et pacta hominum inter se officia et praestationes mutuo velut supplent, dum quae ex caritate non solent aut possunt proficisci, per pacta procurantur; ubi haec locum non habuerunt, Caritas subit. 3. IV. 1. ββ ) Die Erfüllung der Humanitätspflichten rechnet Pufendorf zur allgemeinen Gerechtigkeit, die der Vertragspfliditen zur besonderen. 1. VII. 8. x ) Cuilibet homini, quantum in se, colendam et conservandam esse pacificam adversus alios socialitatem, indoli et scopo generis humani in universum congruentem. 2. III. 15.
4*
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Viertes Kapitel
Völkerrechts in der Weise zu einer Einheit zusammen, daß er vom Einzelmenschen, seinen Eigenschaften und Fähigkeiten, seinen Rechten und Pflicht e t ) ausgehend über die Rechte der engeren GemeinschaftenS) (Ehe, Familie, Haus) zum Staat 4 ) und zum Völkerrechts) aufsteigt. Die Naturgesetze sind echte Rechtsnormen; diesen Grundfehler der Naturrechtslehre übernimmt auch Pufendorf. Das Verhältnis der menschlichen „Natur" zu den natürlichen Gesetzen und die Rechtsnatur der letzteren bilden die Klippen des Pufendorfschen Denkens. Um es kurz vorweg zu sagen: er gibt der „Natur" des Menschen, dem Inbegriff der objektiv sittlichen Werte, zu wenig und den Naturgesetzen zu viel; er entkleidet die Sozialität der Verpflichtungskraft, des Sollens, um den Naturgesetzen nicht nur den wesensmäßig mit der Werthaftigkeit verknüpften Sollenscharakter, sondern auch eine rechtliche Geltung zu verleihen^). Werte haben aus ihrem Wesen heraus Sollenscharakter. Um ihrer Werthaftigkeit willen sollen sie sein; das Subjekt, an das sie sich wenden, soll sie verwirklichen; dazu legen sie ihm eine verbindliche oder „sittliche" Pflicht auf. In diesem Sinne hat auch die „Natur" des Menschen als Wertbegriff wesensmäßig Sollenscharakter. Pufendorf jedoch spricht ihr diesen darum ab, weil der menschliche Wille von seinen eigenen Vorsätzen nicht gebunden werden könne 7 ). Er gleitet damit in Subjektivismus ab, indem er das in der Objektivität der Werte begründete Sollen in die subjektiven Akte des „SichVornehmens" auflöst. Er muß deshalb die Verpflichtungskraft dessen, was sich als „Natur" des Menschen herausgestellt hat, jenseits dieser Natur suchen: „Nachdem festgestellt ist, was der menschlichen Natur geziemt, ist zu erforschen, woher für den Menschen als freiem Wesen eine Verpflichtung entsteht, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen."») 2
) Darunter die allgemeinen Regeln des Vertragsrechts (Buch 3 ) , des Eigentumsund Testamentsrechts (Buch 4) und des besonderen Vertragsredits (Buch 5). Hierzu vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 186 ff. 3 ) Buch 6. 4 ) Buch 7 - 8 . 5 ) Buch 8, Kap. 6-9. 6 ) Hierauf beruht in erster Linie der oben S. 43, Anm. 40 bemerkte „Riss" im Pufendorfschen System. Da das Gute wesensmäßig Sollenscharakter hat, Pufendorf aber der „Natur" des Menschen diesen Sollenscharakter raubt, konnte es leicht dazu kommen, daß die „Natur" des Menschen den sittlichen Wertcharakter verliert und zum Inbegriff des bloß Nützlichen wird. Dann muß allein der Befehl Gottes bestimmen, was Gut und Böse sein soll. 7 ) 2. III. 20. 8 ) E. s. 216.
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Naturrecht, Moral und positives Recht
Pufendorf findet den Verpflichtungsgrund hierzu in den natürlichen Gesetzen, welche drei Momente enthalten, die er zur Konstituierung einer Verpflichtung (obligatio) f ü r erforderlich hält, und zwar i . die Werthaftigkeit ihres Inhalts, 2. den Charakter als göttliche Befehle und 3. die Durchsetzbarkeit. Während das erste dieser Merkmale den Naturgesetzen den „idealen" Sollenscharakter des Wertes verleiht, machen die letzten beiden das Naturrecht zu einem dem positiven menschlichen Recht analogen göttlichen Recht, so daß ein typisch naturrechtliches Zwittergebilde zwischen reinem Wertbegriff und echtem Recht entsteht. Grade in dem Sollenscharakter des Wertes, den Pufendorf der menschlichen Natur abgesprochen hatte und nun den Naturgesetzen verleiht, findet er das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen echter Verpflichtung, wie sie von den Naturgesetzen ausgeht, und bloßem Zwang: während der Zwang von außen her allein durch natürliche Kräfte wirkt, „setzt die Verpflichtung solche Gründe voraus, die innerlich das Gewissen so affizieren, daß der Mensch durch eigene Überlegung urteilt, nicht richtig und somit auch nicht rechtmäßig zu widerstehen."9) Die Werthaftigkeit des Norminhalts fungiert also als wesentlicher Verpflichtungsgrund der Naturgesetze, aber nicht als einziger. Vielmehr haben die Naturgesetze nur darum verpflichtende Kraft, weil sie, abgesehen von der Werthaftigkeit ihres Inhalts, Befehle Gottes darstellen und weil dessen Macht die Menschen zur Befolgung der Befehle anhalten und bei Zuwiderhandlung bestrafen kann. Damit gelangt ein positiv-rechtlicher Einschlag in die Naturgesetze. W i e alles positive Recht willensmäßig (durch Einzel- oder Gesamtheitswillen) gesetzt ist, sei es nun ausdrücklich (durch Gesetz) oder durch ein sonstiges Verhalten (wie ζ. B. beim sogenannten Gewohnheitsrecht), so sind auch die Naturgesetze keine bloßen objektiven Werte, sondern durch göttlichen Befehl gesetzte RechtsgeboteiO). 9 ) Diversa sunt cogere et obligare. Illud solis viribus naturalibus potest effici, hoc vero nequaquam . . . Obligatio enim praesupponit tales causas, quae intrinsece hominis conscientiam ita afliciant, ut ex propriae rationis dictamine judicet non recte, alioque non jure sese resistere. 1. V I . 1 0 ; s. auch 1, V I . 5 ff. Darum definiert er auch die Verpflichtungskraft der Naturgesetze als vis obligandi, id est conscientiis intrinsecam aliquam necessitatem iniciendi. 8. I. 6. Obligatio vero moraliter voluntatem afficit. 1. V I . 5. 10 ) So definiert Pufendorf das Gesetz als Gebot, durch das ein Höherer die Untergebenen verpflichtet, ihre Handlungen nach seinen Vorschriften auszuführen. Gebot heißt es darum, weil es nicht innerhalb des Geistes und Willens des Gebietenden bleibt, sondern den Untergebenen auf irgendeine Weise kund wird. Ob die Kenntnisnahme mittels W o r t oder Schrift, oder durch innere Eingebung der Vernunft erfolgt, ist gleichgültig. 1. V I . 4 u. 2. III. 20.
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Viertes Kapitel
Und wie alles positive Recht ein solches nur ist, wenn es wirksam ist, d. h. die Kraft hat, sich durchzusetzen, so erfüllen die Naturgesetze ihr Wesen nur, weil ihre Durchführung durch die Allmacht Gottes, durch seine Strafgewalt und durch die Furcht und die Gewissensangst der Menschen vor ihr garantiert istn). So erweist sich das Naturrecht als echtes, dem positiven menschlichen Recht analoges Recht, das diesen Rechtscharakter besonders im Naturzustand, wo es das einzige „positiv" geltende Recht ist, erweist. Mit diesem Recht hat sich jedoch die Lehre vom Naturrecht nicht in vollem Umfange zu beschäftigen. Pufendorf geht davon aus, daß die Naturrechtslehre das Naturrecht nur insoweit zu untersuchen hat, als es imstande ist, innerhalb des irdischen Daseins die Grundlagen eines geselligen Lebens zu ermöglichen. Darum scheiden einerseits die spezifischen Humanitäts- und Liebespflichten aus, andererseits genügt gegenüber den Rechtspflichten ein bloß legales Verhalten der Menschen. Aus welchen Motiven heraus sie befolgt werden, ist den irdischen Richtern ebenso gleichgültig wie das, was in der Brust verborgen bleibt und keine Wirkung in der Außenwelt hervorbringt. Nur bei gesetzwidrigen Handlungen muß auch der irdische Richter die Gesinnung des Täters berücksichtigen. Da nun die Lehre vom Naturrecht dem irdischen Forum angepaßt werden soll, hat sie sich größtenteils nur um die äußeren Handlungen zu kümmern und muß die Untersuchung der Herzensreinheit einer andern Disziplin, der Moraltheologie, überlassen. Diese überschreitet die Grenzen des irdischen Lebens und betrachtet den Christenmenschen, dessen Aufgabe es ist, nicht nur dieses Leben edel zu verbringen, sondern der die Früchte seiner Frömmigkeit nach diesem Leben erwartet, der so sein Bürgerrecht im Himmel hat, hier aber gleichsam nur Wanderer und Fremdling ist 1 2 ). So erforscht die Moraltheologie, ob die inneren Seelenregungen dem Willen Gottes gemäß sind und tadelt darum auch die Handlungen, die äußerlich rechtmäßig zu sein scheinen, aber aus " ) 12
r. V I . 8 u. 9 ; 2. III. 2 1 .
) Den Begriff der Moraltheologie übernimmt Pufendorf aus der damaligen Theologie; ob er damit auch die Kennzeichnung ihres Inhalts nur aus der damaligen Lehre übernimmt oder seine eigene Ansicht darlegt, ist nicht ganz klar. Jedenfalls stehen seine Ausführungen in gewissem Gegensatz zu seiner sonstigen Lehre. Nach obigen Sätzen würde die Ethik die Grenzen des irdischen Daseins überschreiten, d. h. die Sphäre der Kultur transzendieren und ins Reich des Göttlidien gehören. Nach seiner sonstigen Lehre dagegen ist audi die Ethik oder Moralphilosophie, wie sie sich in der natürlichen Theologie darstellt, streng begrenzt auf die kulturelle Sphäre. S. unten Kap. V I I . - Auf die Unterscheidung von inneren und äußeren Handlungen hat diese Frage jedoch keinen Einfluß.
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Naturrecht, Moral und positives Recht
unreinem Herzen hervorgegangen sind; für sie ist wahrhaft gut nur eine solche Handlung, die in allen Stücken dem Gesetz Genüge tut und die der Handelnde einzig und allein aus dem Bestreben heraus vollbringt, dem Gesetzgeber seinen Gehorsam zu bezeugen 1 3 ). Mit überraschender Klarheit gelingt es hier Pufendorf, die Legalität von der Moralität zu trennen und damit das Recht im spezifischen Sinne von der Moral zu unterscheiden, weit schärfer und sachlich richtiger als später der wegen dieser Tat so gelobte Thomasius 1 4 ). Zwar dringt er noch nicht zur vollen Autonomie der Person vor - er hält an der Notwendigkeit eines Gesetzgebers und dessen Zwangsgewalt fest, so daß die natürlichen Gesetze in dieser Hinsicht durchaus Rechtsnormen sind, - aber er unterscheidet wohl nicht dem Wortlaut, doch dem Sinne nach ein moralisches und ein legales Verhalten gegenüber diesen Gesetzen; und da er als Gegenstand der Naturrechtslehre nur das legale Verhalten anerkennt, gelangt er zu einem spezifischen Rechtsbegriff, der darauf beruht, daß für das Recht im eigentlichen Sinne der sittliche Wert oder Unwert der Gesinnung bei gesetzmäßigem Verhalten latent und irrelevant bleibt und nur bei gesetzwidrigen Handlungen hervortritt. Die Gesamthandlung und in ihr besonders den Wert der Gesinnung zu untersuchen, überläßt er darum größtenteils der Moraltheorie. Dem natürlichen Recht tritt nun das positive oder bürgerliche Recht gegen13)
De off. hom. praefatio; vgl. auch E. s. 210. Thomasius löst Moral und Recht völlig voneinander ab, indem er dem Recht die „innerlich" oder sittlich verpflichtende Geltung des Wertes nimmt und ihm nur eine obligatio externa zugesteht, die auf der Furcht vor Zwang beruht (at vero obligatio juri correspondens semper externa est, metuens coactionem aliorum hominum, - Fundamenta juris naturae 1. V . 21). Eine derartige völlige Isolierung von Recht und Ethik ist übrigens bereits bei Grotius angedeutet. (De jure belli ac pacis 3. VII. 6, X . 5 und IX. 1 1 ) . Pufendorf dagegen geht von der inneren Zusammengehörigkeit von Redit und Moral aus. Alle Rechtsgebote haben, sofern sie überhaupt gelten oder verpflichten, die sittlich verpflichtende Kraft des Wertes; dadurch grade unterscheidet sich die obligatio von der coactio. Aber im Gegensatz zur Moral bleibt für das Recht die Gesinnung einer rechtmäßigen Handlung gleichgültig. 14)
Umgekehrt beschränkt Pufendorf die Ethik nidit auf das Moment der „Innerlichkeit", der bloßen Gesinnung, vielmehr ist nach ihm wie schon oben S. 49 gezeigt wurde, erst die Handlung sittlich vollkommen, die nicht nur in der Gesinnung, sondern auch in ihrem vollbrachten Werk wertvoll ist. Die Einengung des Ethischen auf die Gesinnung, den „guten Willen", die in der Gegenwart allgemein üblich geworden ist, war früheren Jahrhunderten unbekannt ( - die Tugenden des Aristoteles enthalten nicht nur den Gesinnungs-, sondern in erster Linie den Sachverhaltswert - ) und hat sich hauptsächlich im Anschluß an Kant herausgebildet. Daß die Gesinnung allein die Totalität der Ethik nicht erschöpft, zeigt sich bereits in dem „irrenden Gewissen", bei welchem die Gesinnung, der Wille, gut, aber der verfolgte und ausgeführte Sachverhalt wertwidrig ist.
55
Viertes Kapitel
über. Der Gegensatz beider Rechtsarten ist verschieden je nach der Betrachtung ihres Geltungsumfanges oder ihrer Geltungskraft. Im Hinblick auf den Geltungsumfang sind die Naturgesetze für alle Menschen gültig, eben weil sie auf der Natur des Menschen, den allen und jeden Menschen in gleicher Weise zukommenden Werten des sozialen Lebens, beruhen. Hierin zeigt sich das ahistorische und naturwissenschaftlich-generalisierende Dogma des Naturrechts, nach dem es inhaltlich für alle Völker und Zeiten gültige Rechtsnormen gäbe. Streng hat die Naturrechtslehre dieses Dogma nur für den räumlichen Geltungsumfang der Naturgesetze festgehalten. Für die (zeitliche) Geltungsdauer erfand sie den Unterschied des absoluten und hypothetischen (oder relativen) Naturrechts. Das absolute Naturrecht gilt für alle Zeiten und für alle Menschen; das hypothetische zwar auch für alle Menschen, aber nur zu bestimmten Zeiten, in denen die realen Umstände es erfordern, so daß dadurch ein gewisses historisches Moment in das starre Naturrecht hineingelangt. Die positiven Gesetze gelten nur für bestimmte Staaten, für welche sie brauchbar und erforderlich sind. Inhaltlich lassen sie sich vornehmlich in zwei Hauptklassen teilen: i . in Vorschriften über bestimmte Formen, die bei Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäften innezuhalten sind, damit diese Geschäfte vor Gericht Gültigkeit haben, 2. in prozessuale Vorschriften über die Art und Weise, in der jemand vor Gericht sein Recht verfolgen solliS). So bleibt für das positive Recht nur wenig übrig. Für den Gegensatz des natürlichen und positiven Rechts hinsichtlich der Geltungs^«// ist die tatsächliche, positive Geltung im Staat (Gesetztheit und Durchsetzbarkeit durch staatliche Gewalten) von der sittlich verpflichtenden Geltung zu scheiden. Im Hinblick auf die tatsächliche Geltung im Staat 1 6 ) sind positiv alle Ge15
) V e l enim praescribuntur certae formulae certique modi, qui observari debeant in negotiis, quibus jus in alterum confertur aut obligatio in aliquo nascitur, ut illa firmitatem in foro civili obtineant; vel traditur modus, quo quisque jus suum in foro debeat persequi. 8. I. 1. le ) Den Gegensatz zwischen natürlichem und positivem Recht im Hinblick auf die tatsächliche Geltung im Staat macht Pufendorf auch von der Verpflichtungsseite her klar, indem er die obligatio naturalis (des Naturrechts) und die obligatio civilis (des staatlichen Rechts) unterscheidet. Im Naturzustand, wo allein das Naturrecht „gilt", besteht nur eine obligatio naturalis zur Erfüllung der Pflichten, wobei der Berechtigte die Vertragspflichten mit Gewalt erzwingen kann, die reinen Liebespflichten dagegen nicht. Im staatlichen Zustand sind diejenigen obligationes naturales, die durch staatliche Gesetze positive Geltung im Staat erlangt haben, obligationes civiles und können darum vor Gericht eingeklagt und durch staatliche Gewalt erzwungen werden; diejenigen obligationes naturales, die keine gesetz-
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Naturrecht, Moral und positives Recht
setze, die vom bürgerlichen Gewalthaber erlassen sind und nach denen darum vor staatlichen Gerichten Recht gesprochen wird. Ihrem Inhalt nach können diese Gesetze natürliche oder positive sein. Wegen Verletzung derjenigen, ihrem Inhalt nach natürlichen Gesetze, die nicht durch obrigkeitlichen Befehl positive Geltung erhalten haben, kann vor Gericht niemand belangt oder mit eigentlichen Strafen belegt werden 17). Doch wird dieser Satz dadurch fast ganz wieder aufgehoben, daß das natürliche Recht in allen Staaten die Lücken des positiven Rechts ausfüllt und in dieser Beziehung ein ungeschriebenes positives Recht ist*»). Der tiefste Gegensatz zwischen natürlichem und positivem Recht besteht hinsichtlich der sittlich verpflichtenden Geltung. Alles positive Recht besitzt verpflichtende Kraft nur auf Grund des natürlichen Rechts; und zwar das positive Recht, welches vom staatlichen Gewalthaber sanktioniertes natürliches Recht ist, wegen seiner Identität mit dem natürlichen Recht; das seinem Geltungsumfang nach (rein) positive Recht auf Grund eines hypothetischen Naturgesetzes ( : Gehorsam gegenüber dem rechtmäßigen Gewalthaber) 19). Darum fehlt den positiven Gesetzen und Befehlen, die dem natürlichen Recht widersprechen, jegliche verpflichtende K r a f t 2 " ) . Bestehen Zweifel, ob ein Widerspruch zwischen positivem und natürlichem Recht vorhanden ist, so hat der Untertan zu gehorchen, da dieGefahr sich zu verfehlen größer ist, wenn man wegen bloßer Zweifel die ausdrücklich versprochene Treue bricht. Ist der Widerspruch offensichtlich, so ist der Untertan zwar nicht verpflichtet zu gehorchen. Doch ist es möglich, daß er ohne Verstoß gegen das natürliche Recht gehorchen kann. Dazu wird gefordert, daß er sich nicht mit dem Befehl solidarisch erklärt, ihn nicht entschuldigt und sich nur als äußeres Werkzeug hergibt, ferner, daß er die Ausführung verabscheut und durch Bitten abzuwenden trachtet, schließlich, daß er im Weigerungsfälle in schwere Gefahr gerät. Unter diesen Voraussetzungen trifft den Verstoß gegen das natürliche Recht nur den Gewalthaber. Allerdings gibt es auch Fälle, in denen liehe Sanktion erhalten haben, können nicht durch Gewalt erzwungen werden, sondern müssen dem bloßen Ehrgefühl und der Gottesfurcht des Schuldners überlassen bleiben. Welchen obligationes naturales der Gesetzgeber die gesetzliche Sanktion erteilen soll, muß er aus ihrer Fähigkeit abnehmen, den inneren Frieden des Staates zu befördern. 3. IV. 6.
" ) 8. I. 1.
18
) Das gilt auch für das Strafrecht! 8. III. 16. ) 2. III. 24: adeoque leges civiles positivae . . . . ex praeeepto hypothetico vim obligandi in foro humano mutuantur. 20 ) 8 . 1 . 6: Dissertatio de obligatione erga patriam, § 17. le
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Fünftes Kapitel
selbst auf die Gefahr seines Todes hin niemand den ungerechten Befehl ausführen darf2i).
Fünftes
Kapitel
DIE S T A A T S L E H R E Pufendorfs Gesellschaftslehre basiert auf seiner Lehre von der persona moralis. W i e alle entia moralia im Verhältnis zu den physischen und psychischen Erscheinungen, so ist auch die persona moralis gegenüber dem Menschen, sofern man ihn abstrakt als psycho-physisches Wesen betrachtet, etwas Neuartiges. Sie ändert nicht dessen physische und psychische Struktur, sondern legt ihm eine unphysische, sinnhafte Beschaffenheit oder Modus bei. Darum ist sie weder mit der bloßen psycho-physischen Realität identisch - mag diese nun mechanistisch oder organologisch gefaßt werden - noch eine bloße Fiktion, sondern ein reales Bestandstück der Kulturwirklichkeit. Mit dieser Grundthesis stellte sich Pufendorf zugleich prinzipiell jenseits aller naturalistischen oder fiktionalistischen Theorien über das Wesen menschlicher Verbände; denn die Frage nach den psycho-physischen „Trägern" ist für die allgemeinsten Wesenszüge der persona moralis erst von sekundärer Bedeutung. Nach ihr unterscheiden sich innerhalb der persona moralis zwei Unterarten, die persona moralis simplex, deren Träger der Einzelmensch, und die persona moralis composita, deren Träger eine Vielheit von Menschen ist: logisch (in genere morum) betrachtet, sind Einzel- und Gesamtperson gleichwertig. Die Gesamtperson hat darum ein von den Einzelpersonen als solchen getrenntes Eigenleben. Hierin unterscheidet sie sich von der bloßen Menge. „Menge" bezeichnet nur eine Vielheit von Dingen, von denen abstrahiert ist, ob sie gleich- oder andersartig, beisammen oder zerstreut sind. Wenn darum eine Menschenmenge
handelt oder Verpflichtungen eingeht, so han-
deln und verpflichten sich so viele Einzelne und entstehen so viele Handlungen und Verpflichtungen, wie es physische Personen sind 1 ). Dagegen be2 1 ) 2. B. einen Unschuldigen zu töten, um das eigene Leben zu retten; denn das hieße, fremdes Leben als Preis für das eigene anbieten. 8. I. 6. (Hier würde also Pufendorf im Unterschied zu unten S. 89 ff. keine Notstandsentsdiuldigung zulassen.)
*) 7. Π. 6.
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Die Staatslehre
sitzt die Gesamtperson ihren eigenen Willen und ihre eigenen Handlungen, die von denen der Einzelpersonen als solchen prinzipiell getrennt sind und bei welchen die wollenden und handelnden Einzelpersonen nur als Werkzeuge der Gesamtperson erscheinen2). Darum hat die Gesamtperson ihre eigenen Rechte, die die Einzelnen dieser Körperschaft als solche nicht für sich in Anspruch nehmen können. Wie der physische Körper derselbe bleibt, obgleich im Laufe der Zeit vieles hinzukommt und wegfällt, so hört auch die Gesamtperson nicht auf, dieselbe zu bleiben, selbst wenn die Individuen wechseln, sofern nur keine solche Veränderung eintritt, die das ganze Wesen der Körperschaft aufhebt3). Ihr Dasein verdankt die Gesamtperson einem oder mehreren Willensakten der Einzelpersonen, durch die die einheitliche Willensmacht geschaffen wird, in der das einheitsstiftende Band der persona moralis composita besteht4). Diese für die Gesamtperson konstitutive „unio voIuntatum"5) geschieht durch die (freiwillige) Unterwerfung der vielen Einzelwillen unter den Willen eines einzigen Menschen oder eines Rates, indem sie dessen Beschlüsse oder Befehle, die sich auf die Gesamtperson als solche beziehen und mit ihrem Zweck übereinstimmen, für den Willen aller ansehen und angesehen wissen wollene). Die Akte (Verträge), die hierzu erforderlich sind, sind von den durch sie erzeugten entia moralia streng zu trennen: alle jene Verträge, die zur Errichtung einer Gesamtperson geschlossen werden müssen, lösen diese nicht in ein Kontraktsystem?) auf, sondern bedeuten lediglich die Art und Weise, in der die Erzeugung oder impositio eines ens morale vor sich geht 8 ). Ohne Verträge ist eine Vereinigung vieler von Natur aus Gleicher nicht möglich, da jede Vereinigung zu einer moralischen Person 2
) S. vel per 7. II. 8. 3 ) 1. 4 ) 1. 6 ) 7· β ) ι.
ζ. B. 7. II. 14: voluntas civitatis exserit sese vel per unam personam simplicem unum concilium, prout in illam aut hoc summa rerum fuit collata; s. auch I. 1 3 u. 7· II- 6. I. 1 3 ; 7. II. 8. II- 8. II. 1 3 ; 7. II. 5-
7
) Über den Unterschied zwischen pactum und corpus morale s. 7. IV. 9. ) Das legt Pufendorf besonders für die Erzeugung der Souveränität fest. Gegen Horn, der behauptete, daß, weil weder die einzelnen noch die Menge als soldie die Souveränität besäßen, sie sie audi nicht auf den Herrscher übertragen könnten, bemerkt er: atqui et fieri potest et solet, ut qualitas moralis, qua classe Imperium censetur, in alio producatur conspiratione illorum, qui illud antea formaliter in se non habebant; sic ut hi istius qualitatis causa produetiva recte censeantur. 7. III. 4. Hier hat die impositio die Form des Vertrages. 8
59
Fünftes Kapitel
nur durch die freiwillige Unterwerfung der Einzelnen unter den Willen der Gesamtperson vor sich gehen kann: Das ist die auf der Lehre von der ursprünglichen rechtlichen Gleichheit aller Menschen beruhende Grundüberzeugung Pufendorfs, daß eine rechtmäßige Herrschaft über Menschen nur möglich ist auf Grund einer freiwilligen, vertragsmäßigen U n t e r w e r f u n g 9 ) . Mit dieser Lehre von der vertragsmäßigen Erzeugung der persona moralis composita (oder des corpus morale) gelingt Pufendorf eine in der gesamten Naturrechtslehre einzigartige Verknüpfung zweier stark gegensätzlicher Gedankenkreise, nämlich daß alle menschlichen Gemeinschaften zwar durch individuelle Willensakte geschaffen und getragen werden, daß sie aber dennoch in ihrem Gehalt mehr sind als das, was jeder einzelne zu ihnen beiträgt: sie sind objektive, überindividuelle Einheiten (Institutionen), die ein eigenes Leben, eigene Funktionen und eigene Aufgaben haben. Allerdings bleibt dieser Gedanke bei Pufendorf vielfach nur eine großartige Konzeption, die er in der Einzelausführung wieder zerstört, und zwar vor allem dadurch, daß er die überindividuelle Persönlichkeit des Staates mit der des Herrschaftsorganes vertauscht: so wird in der Demokratie der populus (sive civitas) mit dem concilium populiio), in der Monarchie der Staat mit dem König identifiziert!!) 1 2 ) . Unter den personae morales compositae (oder corpora moralia bzw. societates) unterscheidet Pufendorf zwei Arten: primae oder simplices, die nicht aus noch kleineren Gemeinschaften bestehen, und compositae, die aus den simplices zusammengesetzt sind. Einfache Gemeinschaften sind Ehe, Familie, Hausgemeinschaft (societas maritalis, paterna, herilis), zusammengesetzte der Staat 1 3 ). Dieser ist die weitaus wichtigste und vollkommenste von ihnen und bildet darum den Hauptgegenstand der Gesellschaftslehre Pufendorfs. Wie die übrige Naturrechtslehre geht auch Pufendorf hierbei von dem Ge®) S. o. S. 49. ) 7.II.8. " ) Rex est populus. 7. II. 14. All dies hängt aufs engste mit der Identifizierung der Staatssouveränität mit der Organsouveränität zusammen; s. u. S. 69 ff. 12 ) Zum Ganzen vgl. auch W. Zuber, Die Staatsperson Pufendorfs im Lichte der neuen Rechtslehre. Archiv d. öff. Rechts 30 (1939) S. 33 ff. Z. macht zutreffend darauf aufmerksam, daß Pufendorf vermöge seiner Lehre von der Staatsperson ζ. B. das Staatsvermögen vom Privatvermögen des Herrschers weit besser als Grotius unterscheiden konnte. (Vgl. 8. V . 8.; de officio 2. X V . 5. gegenüber Grotius, de jure belli ac pacis 2. VI. 1 1 . ) 13 ) 6. I. 1.; über Pufendorfs Eherecht s. Manfred Erle, Die Ehe im Naturrecht des 17. Jahrhunderts, Göttinger jur. Diss. 1952. 10
60
Die Staatslehre gensatz des status naturalis und civilis aus. W i e erinnerlich, hatte Pufendorf den Naturzustand in drei verschiedenen Bedeutungen entwickelt: i . als Idealzustand, als Ziel
alles menschlichen Zusammenlebens, 2. als methodische
Abstraktion (nach der Fiktion vom einsamen Menschen) und 3. als vor- und zwischengesellschaftlichen Zustand. N u r in der letzteren Bedeutung kommt er hier in Betracht. Dieser Naturzustand besteht zwischen allen Einzelpersonen, die keinen gemeinsamen (menschlichen) Herrscher über sich haben. Absolut wäre er dann, wenn überhaupt keine irdische Herrschaft bestünde und sämtliche Menschen unabhängig voneinander lebten. In dieser absoluten Form hat er niemals existiert, sondern stets nur eingeschränkt, indem Teile der Menschheit zu Gesellschaften zusammengeschlossen waren, von denen jede gegenüber der übrigen Menschheit im Naturzustand lebte. Das Individuum stammt also stets aus einer Gemeinschaft. J e kleiner die Gesellschaften waren, in die das Menschengeschlecht zerfiel, desto näher kam es dem absoluten Naturzustand, ohne ihn je völlig erreicht zu haben. D e r absolute Naturzustand ist nur das virtuelle Anfangsglied der menschlichen Gemeinschaftsbildungen 1 4 ). D e r wirkliche, partielle Naturzustand ist nicht, wie ihn Hobbes
beschreibt,
14 ) All dies ist der Grundabsicht nach keine historische Betrachtung. Pufendorf will ja von der tatsächlichen Entstehung der Menschheit als quaestio facti et historica völlig absehen. Er geht vom gegenwärtigen Menschen aus, der sich stets, schon durch Geburt, in Gesellschaften befindet. Zwar entstehen juristisch alle Gesellschaften durch Verträge der Individuen, die in dieser Hinsicht vor jenen die logische Priorität haben. Zeitlich aber besteht dieses Prioritätsverhältnis nicht bei allen Gesellschaften, da jeder Mensch schon durch Geburt auf Grund stillschweigenden Vertrages mit den Eltern in Familiengemeinschaft steht und damit notwendig in Kulturtradition eingespannt ist (6. II. 4). Die Frage nach den ersten Menschen, die den ersten Gesellschaftsvertrag abschlössen, ohne selbst zuvor in irgendeiner Gesellschaft gewesen Zu sein, schneidet Pufendorf bewußt als quaestio facti ab; denn sie bedeutet die Frage nach der Entstehung der Kultur aus einem traditionslosen, vorkulturellen Zustand, die rational nicht lösbar ist. Wollte man aber - sagt Pufendorf - mit der Bibel ein erstes Mensdienpaar annehmen, mit dem die Kulturentwicklung ihren ersten Anfang genommen hat, so kann man sich dies nicht anders vorstellen, als daß Gott selbst ihm geholfen hat, bis es gelernt hatte, sich allein durch Gewohnheit und Übung fortzuhelfen. (E. s. 27.) Was bedeutet das anderes als die Unmöglichkeit, die Kulturentwicklung aus dem traditionslosen Individuum ableiten zu können? Mag also hinsichtlich der juristischen Konstruktion das Individuum vor der Gesellschaft die Priorität haben, als Kulturwesen setzt es stets schon bestehende Gemeinschaften voraus. Man darf darum bei Pufendorf dem dem Gesellschaftsvertrag immanenten Individualismus keine außerjuristischen, weltanschaulichen Motive unterlegen.
61
Fünftes Kapitel
ein bellum omnium contra omnes, sondern an sich ein Friedenszustand 1 5) 16). Da im Naturzustand die natürlichen Gesetze herrschen, der Mensch ihnen als göttlichen Befehlen unterworfen ist und da der aus ihrer Beobachtung entspringende Friede vorteilhaft ist, folgt, daß der Naturzustand an sich friedlich ist. Allerdings ist zuzugeben, daß der Friede äußerst schwach und labil ist, da er allein vom guten Willen der Menschen abhängt 1 7 ). Die bloße Scheu vor dem Naturgesetz garantiert nicht ausreichend die Sicherheit der Menschen; dazu kommt, daß uns die Naturgesetze nur durch Vermittlung der Vernunft einsichtig werden, die dem Irrtum und der Täuschung unterworfen ist. W o darum jeder in natürlicher Freiheit lebt und selbst zu bestimmen hat, was er tun soll, kann leicht aus der Ungleichheit der Meinungen Verwirrung und Streit entstehen^). Die größte Aussicht auf Durchsetzung der Naturgesetze und damit die größte Sicherheit vor fremden Angriffen besteht im Staat; durch ihn wird der Naturzustand für die Gesellschaften, die vor ihm bestanden haben und aus denen er sich zusammensetzt, aufgehoben und in den status civilis umgewandelt. Die treibende Ursache zur Staatengründung ist nicht ein appetitus societatis. Selbst wenn man einen solchen annehmen wollte, würde aus ihm wohl ein Trieb zur Gesellschaft, aber nicht grade zum Staat folgen; denn dieser Trieb kann durch die bereits bestehenden einfachen Gesellschaften vollkommen befriedigt werden. Wenn Aristoteles den Menschen ein ζώου πολιτικό ν nennt, so bedeutet das nicht, daß der Mensch die angeborene Fähigkeit zu einem guten Bürger habe, so wie der Fisch zum Schwimmen oder der Vogel zum Fliegen, sondern nur, daß er durch Erziehung hierzu gebracht werden kann und daß Heil und Erhaltung bei vermehrtem Menschengeschlecht nur im Staate möglich sind. Von Natur wird der Mensch vielmehr dazu getrieben, niemandem unterworfen zu sein und alles nach eigenem Belieben zu tun. Freiheit ist die Grundbefindlichkeit des Menschen. Wer aber in den Staat eintritt, verliert diese natürliche Freiheit, unterwirft sich einer fremden 15 ) Überhaupt gibt es keinen allgemeinen Krieg zwischen allen Menschen, sondern nur besondere Kriege zwischen bestimmten Menschen. le ) Hobbes hat das bellum omnium contra omnes in erster Linie als bloße Fiktion oder Hypothese aufgestellt. Pufendorf erkennt dies auch ganz richtig (2. II. 7 ) ; aber er wendet treffend gegen Hobbes ein,daß, da nach ihm dieser Naturzustand auch zwischen den Staaten fortbestehen soll, er mehr als eine bloße Fiktion, nämlich reale Wirklichkeit sein müsse. - Anzunehmen, daß zwischen befreundeten Staaten latenter Kriegszustand herrsche, sei absurd. 1T ) 2. II. 4 - 1 2 . 18 ) 7. I. 8 - 1 1 .
62
D i e Staatslehre
Herrschaft, die das Recht über Leben und Tod einschließt, muß auf fremden Befehl vieles tun, was er verabscheut, und vieles lassen, was er wünscht, und muß viele Handlungen um des Gemeinwohls willen ausführen, das vom eigenen Wohl gar oft abzuweichen scheint. Es müssen darum sehr schwerwiegende Gründe sein, die die Freiheitsliebe des Menschen überwinden und ihn zur Errichtung des Staates antreiben. Kein direkter natürlicher Trieb hat die Menschen zum Staat gebracht, sondern die Absicht, durch ihn noch schwerere Übel zu vermeiden^). Dies Übel ist nicht die menschliche Bedürftigkeit (indigentia), wie viele meinen. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß seit Errichtung der Staaten sich die Lebenshaltung bis zum Luxus gesteigert hat. Trotzdem ist die Bedürftigkeit nicht die einzige, geschweige denn die Hauptursache der Staatsgründung; denn schon vorher, als die Menschen noch in Familien zerstreut lebten, war für die Notwendigkeiten des Lebens genügend gesorgt20). Dennoch darf man nicht, wie Johann Friedrich H o r n ^ ) , ein zum Staat treibendes Motiv im Menschen ganz leugnen und behaupten, der Staat sei ,,organisch"22) aus der Ehe entstanden: in der Ehe seien Kinder geboren, so sei die Familie entstanden; die Familien hätten sich vermehrt, bis sie zum Staat ausgereicht hätten. - Natürlich ist es ein Märchen, daß eine größere Menschenmenge ursprünglich zusammengewesen wäre, dann in Wäldern und Einöden zerstreut, schließlich wieder im Staat vereinigt worden wäre. Das bedeutet aber nicht, daß aus den Stammeltern organisch, ohne weitere treibende Kräfte und ohne Verträge, ein Staat entstanden sei. Vielmehr sind die erwachsenen Söhne aus den Familien ausgezogen und haben unabhängig voneinander Familien gegründet. Dann haben die Klügeren gemerkt, daß die Schwierigkeiten, mit denen die zerstreuten Familien zu kämpfen hatten, behoben werden könnten, wenn viele in einer Gemeinschaft zusammenträten. Darum wurden nicht nur Verträge abgeschlossen und eine souveräne Gewalt errichtet, sondern die vorher durch Wald und Feld zerstreuten Wohnsitze der größeren Sicherheit halber in gemeinsame Ortschaften zusammengelegt23). Der eigentliche und wichtigste Grund, weshalb die Familienväter ihre natürliche Freiheit verließen und Staaten gründeten, war die Furcht vor anderen Menschen und damit das Bestreben, sich gegen die Übel zu schützen, die den 19
) 7- I. 3/4.
20
) 7. I. 6. ) de Civitate (Utrecht, 1 6 6 4 ) , I. c. 4 § 6. 22 ) naturali ordine et consecutione, wie der Baum aus dem Samen wächst. 7. I. 5.
21
23
) 7- I. 5-
63
Fünftes Kapitel
Menschen von anderen d r o h e n 2 4 ) . Der beste Schutz und die größte Hilfe gegen die von Menschen drohenden Gefahren sind andere Menschen, wenn sie ihre Kräfte vereinen und die Gefahren gemeinsam a b w e h r e n 2 5 ) . W e r den menschlichen Charakter etwas genauer betrachtet, der wird rasch erkennen, wodurch die Einigkeit vieler auf lange Zeit erhalten werden kann. Hauptsächlich sind es zwei Fehler, die eine dauernde Vereinigung vieler verhindern. Einmal ist es die Verschiedenheit der Neigungen und Urteile über das, was dem gemeinsamen Ziele dient, weil die meisten nicht scharfsinnig genug sind, das Rechte zu erkennen, und doch mit verbissener Hartnäckigkeit das verteidigen, was ihnen einmal eingefallen ist. Zweitens sind es Faulheit und Widerwillen, das Nützliche von selbst zu tun, wenn der Zwang fehlt. Zur Beseitigung des ersten Übels müssen die Willen aller f ü r immer vereinigt werden, so daß nur ein Wille hinsichtlich dessen besteht, was f ü r die Gemeinschaft getan werden soll. Das zweite Übel wird dadurch beseitigt, daß eine Macht errichtet wird, die dem Widerstrebenden ein Übel vor Augen hält und ihm auferlegen kann. Selbstverständlich kann die Willenseinigung nicht in natürlicher Weise, durch reale Verschmelzung oder ähnlich, vor sich gehen. Vielmehr können nur dann viele Willen als vereinigt angesehen werden, wenn jeder einzelne seinen Willen dem Willen eines Einzelmenschen oder einer Versammlung unterwirft, so daß das, was jener oder jene hinsichtlich des gemeinen Wohles will, f ü r den Willen aller und jedes einzelnen gilt. Ebenso kann die höchste Gewalt nicht durch reale Übertragung der Kräfte errichtet werden. Vielmehr besitzt jemand die Kräfte aller dann, wenn diese sich verpflichtet haben, ihre Kräfte nach dem Willen des einen anzuwenden. W o eine solche Einigung von Willen und Kräften vollzogen ist, da ist ein Staat, die stärkste persona moralis, entstanden 2 6 ). Da nun über die Art und Weise, wie einst die Staaten entstanden sind, keine Schrifturkunde überliefert ist, muß man das Fehlende durch vernünftige Überlegung zu rekonstruieren versuchen. Eine solche Betrachtung kann natürlich nur den Idealtyp der Staatenentstehung nachzeichnen 2 ?) ; vieles mag in der Wirklichkeit ganz anders vor sich gegangen sein. Fest steht nur, daß alle Staaten irgendwann einmal ihren Ursprung gehabt haben müssen, daß die Bürger vor Errichtung des Staates nicht durch ein solches Band verbunden 24
) )
7. I. 7. 7. II. 1 .
26
)
7- II. 5-
2T
)
Isthunc modum generandi civitatum esse maxime naturalem. 7. II. 8.
25
64
D i e Staatslehre
waren wie jetzt und daß sie nicht jenen unterworfen waren, denen sie es jetzt sind. Daraus folgt, daß bei Errichtung der Staaten bestimmte Verträge mindestens stillschweigend geschlossen sein müssen, da Vereinigung und Unterwerfung ohne Verträge nicht denkbar s i n d 2 8 ) . So zeichnet Pufendorf folgenden Idealtyp der Staatsentstehung, der bis zu Rousseaus eingliedrigem Gesellscbaftsvetttzg vorbildlich blieb. Wir stellen uns im Geist eine Menge von in natürlicher Freiheit und Gleichheit lebenden Menschen vor, die einen neuen Staat gründen wollen. Um diesen Zweck zu erreichen, müssen die künftigen B ü r g e r 2 9 ) 3 0 ) zunächst alle unter sich, jeder einzelne mit jedem anderen einen Vertrag schließen, daß sie in eine dauernde Gemeinschaft zusammentreten wollen. Dieser Vertrag wird entweder rein oder bedingt abgeschlossen; ersteres dann, wenn jemand sich verpflichtet, dem Staat angehören zu wollen, gleichgültig welche Staatsform von der Mehrheit beschlossen wird; letzteres dann, wenn er seinen Eintritt in den Staat von der Einführung einer bestimmten Staatsform abhängig macht. Danach muß ein (Mehrheits-)Beschluß darüber gefaßt werden, welche Regierungsform eingeführt werden soll. Nach der hierauf durch Wahl erfolgenden Bestimmung des Herrschaftsorgans muß ein neuer Vertrag abgeschlossen werden, durch den sich dieses zur Sorge für das allgemeine Wohl und die Sicherheit, die übrigen zum Gehorsam verpflichten. Hierin liegt die Unterwerfung und Willenseinigung, durch die der Staat zu einer einheitlichen Person wird 3 1 ). Erst mit diesem Vertrag, der die sou28
)
2e
) D a alle diese A k t e von den Hausvätern zugleich für ihre Untergebenen vor-
7.Π.8.
genommen werden, sind Bürger in erster Linie nur sie; später auch deren Nachfolger, die Haussöhne. Frauen, Kinder und Gesinde, deren W i l l e n von dem des Hausherrn repräsentiert wurde, sind nur mittelbar Bürger, insofern sie den gemeinsamen Schutz des Staates und einige Rechte genießen; in der Demokratie sind sie darum nicht stimmberechtigt. 7. II. 20. Übrigens ergibt sich hieraus, daß der Staat nicht durch das isolierte Individuum, sondern durch die einfachen Gesellschaften gegründet ist, die allerdings durch ihr Oberhaupt, den Hausvater, repräsentiert werden. so
)
Schwierigkeiten f ü r die Vertragstheorie macht die Frage nach dem Weiterbestand
des Staates über den T o d der Gründer hinaus. Streng genommen
müßten alle Nach-
kömmlinge für ihre Person sich der souveränen Gewalt unterwerfen. Pufendorf fingiert diese Unterwerfung aus dem Grunde, weil die Gründer den Staat auch f ü r ihre Nachkommen errichtet hätten. 7. II. 20. 31
)
Es sind also, wenigstens zur Errichtung der Monarchie und Aristokratie, vier
A k t e nötig (nicht, wie man bisher allgemein unter Weglassen der W a h l der Herrschaftspersonen annahm, nur drei):
1 . der Gesellschaftsvertrag, 2. der Verfassungs-
beschluß, 3. die W a h l des Herrschers oder der Optimaten, 4. der Unterwerfungsvertrag. 5 Welzel
.Pufendorf
65
Fünftes Kapitel veräne G e w a l t zur Entstehung bringt, ist der Staat vollständig g e s c h a f f e n 3 2 ) . Schwierigkeiten macht der Unterwerfungsvertrag bei der demokratischen Staatsform:
ein Vertrag erfordert zwei verschiedene Personen; hier aber
scheinen Herrscher und Beherrschte nur in der Hinsicht verschieden, an sich aber dieselben Personen zu sein. Jedoch sind auch in der Demokratie die einzelnen Bürger und das souveräne Organ, die Volksversammlung, nicht in der bloßen Hinsicht, sondern wirklich
verschiedene Personen verschiedener
A r t , denen ein verschiedener W i l l e , verschiedene Handlungen und Rechte zukommen. W a s die einzelnen Bürger wollen, das will nicht zugleich auch das V o l k . A u c h haben die einzelnen nicht die Souveränität oder irgendeinen T e i l von ihr, sondern das V o l k hat s i e 3 3 ) . Einen T e i l der Souveränität haben ist etwas anderes als berechtigt sein, in der souveränen Versammlung abzustimmen^) . Pufendorf lehrt nirgends, daß zum Inhalt des zweiten Vertrages die Bestellung der Herrschaftsorgane gehöre, wie es Rehm, Gesch. d. Staatsrechtswiss. S. 249 f. behauptet hat, selbst nicht nach der „allgemeinen Formulierung" in 7. II. 8. (Das quando constituuntur ille vel illi gehört nicht mit zum Vertragsinhalt, der erst mit quo hi beginnt!). Ebensowenig enthält der Beschluß über die Verfassungsform eine Designation der Herrschaftsorgane; vielmehr erfolgt diese durch Wahl nach dem Gesellschaftsvertrag und nach dem Verfassungsbeschluß! S. z . B . 7. V I I . 7: post primum pactum et decretum super forma reipublicae introducenda ad electionem proceditur ab universis vel per universos deputatis. Qua peracta et accepta, insecutoque inter electum et populum pacto perfecta civitas monarchica exsistit (dasselbe f ü r die Aristokratie in 7. V . 8.). Daß der Staat schon vor dem zweiten Vertrag „organisiert und damit fertig" sei, bestreitet Pufendorf, weil nach ihm eine moralische Gesamtperson erst durch die Willensunterwerfung geschaffen wird, und die Souveränität das Wesensmerkmal des Staates ist. 32 ) 7. II. 7/8. - Er definiert den Staat als persona moralis composita, cujus voluntas, ex plurimum pactis implicita et unita, pro voluntate omnium habetur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatem communem uti possit. 7. II. 1 3 . 33 ) Dem halte man Rousseau gegenüber, der ausrechnet, daß in einem Staat von 1 0 0 0 0 Bürgern jeder la dix-millieme partie de l'autorite souveraine habe! Contrat social III. 1 . - S. auch 7. V . 5. 34 ) Enimvero sciendum est, in republica populari singulos cives et concilium, penes quod est summa rerum, non nudo duntaxat respectu differre, sed esse revera diversas personas, etsi diversi generis, quibus distincta voluntas, distinctae actiones et jura competant. Quod enim singuli cives volunt, id non statim vult populus. Et quod singuli cives agunt, non statim habetur pro actione populi, et vice versa. Neque singuli habent summum Imperium aut aliquam ejus partem, sed populus illud habet. Aliud quippe est, habere partem imperii, aliud habere jus ferendi suffragium in concilio, penes quod summum imperium est. 7. II. 8. So bedeutsam einerseits diese Stelle dafür ist, daß der Wille der Einzel- und der der Gesamtperson prinzipiell getrennt sind und die einzelnen nur als Werkzeuge für die Willensbildung der Gesamtperson fungieren (s. hierzu auch 7. V . 5.), so ist sie andererseits ein typisches Beispiel dafür, wie die Persönlichkeit des Staates unvermerkt auf-
66
Die Staatslehre
Trotzdem kann, so hatte Hobbes 3 5 ) hiergegen eingewendet, kein Vertrag zwischen dem Volk und den Einzelnen geschlossen werden; denn vor Errichtung des Staates existiert das Volk als persona moralis noch nicht, sondern es besteht eine bloße Menge; nach Errichtung ist ein solcher Vertrag nutzlos, weil das Volk, dessen Wille den Willen jedes Einzelnen umschließt, sich nach Belieben von dem Vertrag freimachen kann. Pufendorf 3 6 ) gibt zu, daß weder vor noch nach Errichtung des Staates zwischen dem Einzelnen und dem Staat ein Vertrag möglich ist; aber das schließe nicht aus, daß bei und während der Errichtung des Staates dieser Vertrag abgeschlossen werden kann 3 ?). Für Hobbes diente dieser Einwand zur Befestigung seiner eigenen Lehre, die nur einen einheitlichen Vertrag kennt, in welchem jeder einzelne jedem der übrigen verspricht, seine Gewalt und sein Recht, sich selbst zu regieren, einem bestimmten Menschen zu übertragen, unter der Bedingung, daß der andere dasselbe tut 3 8). Der spezifische Unterwerfungsvertrag zwischen Herrscher und Untertan fiel so weg. Hobbes hatte dies aus dem politischen Grunde getan, die königliche Gewalt zu befestigen und von vertraglichen Schranken frei zu halten. Die Untertanen können gegenüber dem Herrscher keine Rechte aus dem Urvertrag herleiten, weil sie diesen ja nicht mit dem Fürsten, sondern allein untereinander geschlossen hatten. Pufendorf wendet hiergegen ein, daß ein derartiger Vertrag noch viel weniger die Unverbrüchlichkeit der souveränen Gewalt gewährleiste; denn jeder Untertan würde damit seinen Gehorsam von dem Gehorsam der übrigen abhängig machen, und so würden, wenn einer den Gehorsam versagte, folgerichtig alle übrigen frei werden. gehoben und in die eines seiner Organe, der souveränen Volksversammlung, aufgelöst wird. Der Begriff des populus ist, wie auch in der übrigen Naturrechtslehre, von einem schweren Doppelsinn belastet: bald ist er mit civitas gleichbedeutend (s. 7. II. 1 4 : populus sive civitas oder 7. II. 1 2 : populus = universitas civium), bald nur mit der Versammlung der stimmberechtigten Bürger (populus = concilium, 2. Β. η. II. 2 0 ) . Der Terminologie nach wahrt die angezogene Stelle den Anschluß an die Grundposition, nach der der Staat eine von den Einzelpersonen getrennte Gesamtperson ist, in Wahrheit aber ist diese Gesamtperson nicht der Staat, sondern das souveräne Organ des Staates. So verschwindet der Staat als Gesamtperson, und es treten an seine Stelle die Volksversammlung, in der Monarchie vollends nur der Herrscher. 35
) de cive, V I I . 7. ) 7. II. 1 2 . 3T ) Damit wird die Schwierigkeit nur verdeckt, nicht behoben; sie taucht übrigens bei allen Staatsformen auf, wie das Hobbes richtig bemerkt hat, weil sie der Vertragstheorie immanent ist. 7. II. 1 2 . 38 ) I authorise and give up my right of governing myself to this man or to this assembly of men, on this condition, that thou give up thy right to him and authorize all his actions in like manner. Leviathan X V I I . 3e
5
67
Fünftes Kapitel
Darum muß sich jeder einzelne Bürger für sich und ohne Bedingung fremden Gehorsams der souveränen Gewalt unterwerfen, damit der Herrscher die Kräfte der übrigen in Anspruch nehmen kann, wenn der eine oder der andere sich widerspenstig zeigt 39 ). Alle souveräne Gewalt entsteht aus freiwilliger Unterwerfung und Einverständnis der Bürger, nie aus bloßer Gewalt. Die freie Unterwerfung ist die unmittelbare Ursache der souveränen Gewalt: sobald sich jemand unterwirft und der andere es annimmt, entsteht bei diesem die Herrschaftsgewalt^o). Da überdies ein hypothetisches Naturgesetz besteht, Staaten und souveräne Gewalten zu errichten, weil bei Vermehrung des Menschengeschlechts Ordnung, Friede und Sicherheit nur im Staate möglich sind, kann auch Gott, der die Naturgesetze erlassen hat, als Ursache der Staaten und der Souveränität gelten4i). Weiter darf man aber hier nicht gehen; die souveräne Gewalt als unmittelbar durch Gottes Gnade verliehen anzusehen, wäre verfehl). In diesen Fehler verfiel Horn*3) mit seiner Lehre, daß die Staaten zwar durch Vertrag entstanden seien, die souveräne Gewalt aber den Fürsten unmittelbar von Gott beigelegt werde; das Volk könne wohl den König wählen, ihm aber nicht die Souveränität verleihen; es bestimme nur die Person, der dann Gott jene Gewalt erteilt; denn weder die einzelnen für sich noch die Menge als solche hätten die Souveränität und könnten sie darum nicht dem König übertragen*"*). - Aber es ist nicht nur möglich, sondern auch wirklich so, entgegnet Pufendorf, daß eine moralische Qualität, zu der die Souveränität gehört, bei einem anderen durch gemeinsames Einverständnis derjenigen hervorgebracht wird, die sie selbst vorher nicht besaßen. So bringen auch viele geordnete Stimmen eine Harmonie hervor, die doch in keiner einzelnen steckt. Es ist sehr ungereimt, den menschlichen Ursprung der Souveränität 7. II- 9/11. ) Sed et illud ipsum pactum luculentum praebet titulum, quo imperium istud non violentia, sed ultronea civium subiectione et consensu legitime constitutum intelligitur. 7. III. 1. 41 ) 7. III. 2. 42 ) In heftigen Worten bekämpft Pufendorf die Lehre vom Gottesgnadentum, mit der die Schmarotzer die königliche Hoheit unter Beschimpfung Gottes zu erheben pflegen. Mit beißendem Hohn überschüttet er seine Gegner, wenn er u. a. sagt: die Kraft gewisser Könige, die gleichsam Wunder zu wirken pflegt, sollten doch am besten die Ärzte untersuchen. 7. III. 3/4. 43 ) S. hierzu auch Gierke, Althusius, S. 70 f. 44 ) S. oben S. 5 9 , Anm. 8. 39
40
68
D i e Staatslehre
deshalb zu leugnen, weil sie unter den natürlichen Eigenschaften des Menschen nicht aufzufinden ist, gleich als ob es sich um eine physische Qualität handle oder außer den physischen keine moralischen Qualitäten gäbe. W e n n man schärfer hinsieht, so bemerkt man, daß sich jene Leute die Souveränität als irgendein ens physicum vorstellen, das Gott geschaffen hat und das nun ohne bestimmten Sitz und tragendes Subjekt durch die W e l t herumirrt, bis es in einem vom Volk gewählten König seinen Platz findet und ihn mit seinem herrlichen Glanz übergießt. Es ist einfältig, zu glauben, daß ein Recht oder moralische Qualität, die ein anderer erhalten soll, vorher irgendwo getrennt existiert haben müßte; vielmehr ist klar, daß sie bei gegenseitiger Willensübereinstimmung durch Verträge entstehen. D i e gegenteilige
Auffassung
überträgt
moralischen
sinnwidrig
Wesenszüge
der
natürlichen
auf
die
Dinge45). Entsteht so nach Pufendorf die Souveränität durch den Unterwerfungsvertrag, und macht erst dieser einen Staat zum Staate, so muß jeder Staat aus seinem Wesen heraus souverän sein oder ist eben kein Staat. D i e Souveränität wird damit zum Zentralproblem der Staatslehre. D i e Urverträge bilden als Modus des Entstehens der Souveränität das Vorspiel; die eigentliche Staatslehre entrollt sich dann an der begrifflichen Entwicklung der Souveränität. Das summum imperium ist „gleichsam die Seele des Staates, durch die er lebt und im Gleichgewicht gehalten w i r d . " 4 6 ) Er ist jene einheitliche voluntas civitatis, durch die eine Mehrheit von Menschen überhaupt erst zur Einheit, zu unum corpus morale, integriert wird. Obwohl nun dieser Staatswille realiter von physischen Personen erzeugt wird, so ist er doch als Wille Staates
des
von dem Privatwillen dieser Personen sorgfältig zu unterscheiden.
W i l l e des Staates und damit Prinzip staatlicher Akte ist der W i l l e jener Personen nur, soweit er staatliche Zwecke betrifft47). Diesem Staatswillen als solchem kommt das Merkmal der Souveränität zu: „Das Kriterium der Souveränität in einem Staate liegt darin, daß er nach eigenem, völlig unabhängigen Ermessen darüber bestimmen kann, was seinem Vorteil und Heil dienlich zu sein scheint. Daraus folgt, daß, weil diese Gewalt die höchste, d. h. von keinem höheren Mensdien auf Erden abhängig ist, ihre Handlungen 4B
) 7- III. 4-
4e
) 7. II. i.
4T
) 7. II. 14; de officio 2. VI. i x .
69
Fünftes Kapitel
nicht durch das Belieben eines anderen menschlichen Willens ungültig gemacht werden können."48) In diesen Sätzen kommt Pufendorfs Lehre von der persona moralis composita als einer überindividuellen, eigenständigen Einheit besonders klar zum Ausdruck. Vor allem gilt die angeführte Definition der Souveränität sowohl ihrem Sinne wie ihrem Wortlaut nach nur für die Staatssouveränität. Sobald sie im Sinne der Organsony erim^it, also zur Kennzeichnung der Stellung des obersten Organes im Staate, aufgefaßt würde, würde sie sofort falsch werden; denn dann paßt sie nicht zu Pufendorfs Lehre von der Beschränkbarkeit der Souveränität: in der konstitutionellen Monarchie ist die potestas des Königs eben nicht völlig unabhängig, sondern an bestimmte Bedingungen geknüpft·^). Leider aber fällt Pufendorf immer wieder in den Fehler der übrigen Naturrechtslehre zurück, den Staatswillen mit dem Willen des obersten Organes und damit die Staatssouveränität mit der Organsouveränität zu identifizieren ; denn unmittelbar nach der wiedergegebenen Definition verknüpft er die Souveränität mit dem Souverän und folgert für ihn, daß er weder politisch noch strafrechtlich zur Verfolgung gezogen werden könne. Die souveräne Gewalt, d. i. hier also der Souverän, ist von allen positiven menschlichen Gesetzen entbundenSO), da diese nichts anderes sind, als Gebote der souveränen Gewalt hinsichtlich dessen, was die Untertanen zum Wohle des Staates beachten müssenSi). Trotz mancher sehr mißverständlicher WendungenS 2) liegt der sachliche Unterschied zwischen der Staatssouveränität und der Organsouveränität Pufendorfs Unterscheidung zwischen einem „subjectum commune" und einem „subjectum proprium" der Souveränität zugrunde, die er von Grotius übernimmt. Subjectum commune der Souveränität ist der Staat, subjectum pro48
) In coetu aliquo summa libertas inde sit metienda, quod iste proprio et aliunde non dependente judicio possit decernere de illis, quae ad commodum et salutem ipsius facere videbuntur. Ex quo et illud consequitur, quia id imperium est summum seu a superiore homine in his terris non dependens, ideo non posse ipsius actus alterius voluntatis humanae arbitrio irritos reddi. 7. V I . 1 . 49 ) Barbeyrac, der die obige Definition irrig im Sinne der Organsouveränität faßte, glaubte darum einen Widerspruch zu Pufendorfs Lehre von der limitierten Souveränität finden zu können. B0 ) Dagegen wäre es sinnlos, die gleiche Frage hinsichtlich der natürlichen oder göttlichen Gesetze aufzuwerfen; 7. V I . 3. 51 ) 7. V I . 2, 3; wohl aber sollen sich die Gesetzgeber aus natürlicher Billigkeit und aus Rücksichtnahme auf die Öffentlidikeit selbst an ihre Gesetze halten. B2 ) Besonders bedenklich ist 7. V I . 4.
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D i e Staatslehre
prium das höchste Staatsorgane). Allein im Hinblick auf das subjectum proprium trennt Pufendorf die „absolute" Souveränität von einer „limitiert e n " 5 4 ) ; hier steht also allein dieOr£