Die Münchner Moderne : Die literarische Szene in der "Kunststadt" um die Jahrhundertwende 3150285577

München um die Jahrhundertwende, das bedeutet: ein kultureller Mittelpunkt Deutschlands, dessen literarische Szene weit

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Die Münchner Moderne : Die literarische Szene in der "Kunststadt" um die Jahrhundertwende
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Die Münchner Moderne Die literarische Szene in der >Kunststadt< um die Jahrhundertwende

Mit 48 Abbildungen Herausgegeben von Walter Schmitz

PHILIPP RECLAM JUN. STUTTGART

Die vorliegende Dokumentation wurde unter Mitarbeit von Hans-Peter Bergmann, Elisabeth Günther, Bettina Kranz­ bühler und Jörg Platiel erstellt.

Universal-Bibliothek Nr. 8557 [8]

Alle Rechte vorbehalten

© 1990 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart

Umschlagabbildung der kartonierten Ausgabe unter Verwendung eines Plakatentwurfs für den Simplicissimm von Thomas Theodor Heine (1896) - © VG Bild-Kunst, Bonn, 1989

Kartenzeichnung: Theodor Schwarz, Urbach

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 1990 RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Warenzeichen der Philipp Reclam jun. GmbH 8c Co., Stuttgart ISBN 3-15-008557-8 (kart.)

ISBN 3-15-028557-7 (geb.)

Inhalt Einleitung München in der Moderne. Zur Literatur in der >KunststadtKunststadt
Kunststadtsüßer Anarchie< dezentralisierten Kultur,1 noch immer regional geprägt. »Was ist das Einzigartige an den Städten Deutschlands? Jede«, so erklärt Gerhart Hauptmann 1932 in seinem Lob­ preis Münchens, »hat ihr eigenes Gesicht, manche ein Ant­ litz mit seiner nur ihm zukommenden Schönheit.«2 Berlin, München und Wien gelten bereits den Zeitgenossen als die Hauptorte der Moderne. Nach der - mit dem Ausschluß Österreichs erkauften - Einigung des deutschen Reiches 1871 gewinnen die deutschen Regionen neuerlich an kultu­ rellem Profil; das alte Wechselspiel zwischen (Einzel-)Staat­ 1 Dies Lob des Regionalismus in Deutschlands Kultur geht auf Madame de Staels De l’Allemagne (1810) zurück. 2 Gerhart Hauptmann, Sämtliche Werke, Centenar-Ausgabe, hrsg. von HansEgon Hass [u.a.], Bd. 11, Berlin 1970, S. 1129.

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lichkeit und deutscher Kultumation verwandelt sich jetzt in die Abgrenzung von Kulturregionen eigenen Rechtes gegen das Hohenzollernreich. Freilich beruht die Kulturkonkur­ renz der regionalen Zentren längst nicht mehr auf ihrer Autonomie; vielmehr profilieren sie sich vor der Folie des Kulturausgleichs durch die moderne Massenkommunika­ tion, welche räumliche Besonderheiten und die Ungleichzei­ tigkeit im »Fortschritt« allmählich ausmerzt und nivelliert. Die radikale Verweigerung dieser Massenkommunikation etwa im Wirken des George-Kreises - ist einer der Wider­ sprüche kultureller Modernität gegen ihre moderne Um­ welt. So wird nun auch wieder die »Physiognomie« der großen Kulturstädte - der Reichshauptstadt Berlin, der alten Kaiser­ stadt Wien, dann Münchens, später tritt noch Prag hinzu zum Gegenstand der Reflexion, der literarischen Program­ matik und öffentlichen Selbstbestimmung. Einige der ste­ reotypen Ansichten, wie sie Münchens »Stadtpersonalität * 3 zeigt, werden daher im ersten Kapitel unseres Bandes vorge­ stellt. Auch wenn sie zumeist schon zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts geprägt wurden, gehören sie zu den festen Formeln im »Zeitgespräch« der literarischen Moderne, die deshalb bereits in ihrer naturalistischen Gründungsphase in eine Berliner und eine Münchner Variante zerfällt. Keineswegs ist diese Münchner Moderne auf Münchner Autoren beschränkt. Der herkömmliche »Kulturdualismus« in dieser Stadt, die Trennung zwischen einer - oft von auswärts berufenen - Bildungsschicht und dem »Volk« wirkt weiter. »Die miinchner Modernen der Litteratur«, so be­ merkte Emst von Wolzogen schon 1893, »sind hier Fremd­ linge, auch wenn sie eingeborene Baiern sind«4 - doch wä­ ren als »eingeborene Baiern« in der Epoche insgesamt nur Josef Ruederer und Ludwig Thoma zu nennen; Stefan 3 Wilhelm Hausenstein, München. Gestern - Heute - Morgen, München 1947, S. 7. 4 Emst von Wolzogen, Münchner Kunst und Theater, in: Das Magazin für Litteratur, Nr. 34, 26. August 1893, S. 538.

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George, Heinrich und Thomas Mann, Erich Mühsam, Fran­ ziska zu Reventlow, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind sind «zugereist«. Auch die Wortführer des eigenständigen Münchner «Naturalismus«, Michael Georg Conrad und Oskar Panizza, ziehen im Bewußtsein ihrer Mission als «Protestanten«, «Liberale«, «Moderne« aus Franken in die Residenzstadt - und führen gerade damit eine Tradition fort, wie sie dem bayerischen Kulturstaat seit seiner Gründungs­ phase um 1800 eigentümlich ist. Aus der Kulturtradition, die sich während der - eben erst verlorenen - Eigenstaatlich­ keit Bayerns ausgebildet hatte, speist sich denn auch das Selbstbewußtsein der Münchner Modernen. In der preußischen Metropole, der exemplarisch «modernen« Großstadt, waren die jungen Autoren zunächst von ihrer national-kulturellen Aufgabe erfüllt; wie es der französi­ schen Moderne gelungen sei, so sollte auch in Deutschland eine hauptstädtische Kultur entstehen: »An Stelle der ehe­ maligen Kleinstaaterei«, verkündet einer der rührigsten Wortführer der »Jüngstdeutschen«, Julius Hart, »ist ein gros­ ser, der zur Zeit mächtigste Einheitsstaat getreten, und Berlin schiebt in kurzer Spanne seine Grenzen stundenweit hinaus. Die Poesie kann gar nicht anders, als solche Bewe­ gungen mitmachen: sie treibt stets im Strome der allgemei­ nen Kultur-Entwicklungen.«5 Dagegen wird in München - zunächst im Kreis um die einflußreiche Zeitschrift Die Gesellschaft - der Gedanke der Kulturkonkurrenz gesetzt. Die traditionsreiche »Kunststadt« München soll - als »Deutschlands heimliche Hauptstadt« (Bosl) - gleichberechtigt neben das Machtzentrum Berlin treten. Der »Repräsentant * der »Kunststadt * München soll gleichsam als Herrscher der deutschen Kultumation amten; in dieser Rolle eines »Dichterfürsten« gipfelt das Rollenre­ pertoire der Autoren der Münchner Moderne von Josef Ruederer über Stefan George bis zu Thomas Mann. Im »Märtyrer« hingegen erkennen sie gleichsam den Dichterfür­ 5 Jahrhundertwende, S. 7.

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sten im Exil. Denn ihre kulturelle Sendung im Deutschen Reich bezahlen die Modernen vorerst mit ihrer Isolation in München-, die berühmten Zensurprozesse sind ein Indiz dafür. Zu den politischen Rahmenbedingungen der Münch­ ner Moderne gehört in ihrer ersten Phase der Liberalismus und damit der Kampf gegen den bayerischen Patriotismus und den übermächtigen Katholizismus. Ihr eigenständiges Profil gewinnt die Münchner Moderne freilich erst mit der Überwindung des Naturalismus. Die >KunststadtVolkVolk< dient in der Münchner Moderne als - notwendi­ ge - Staffage des »Repräsentanten« und »Künstlerfürsten«. Das 8 Gotthart Wunberg, österreichische LiterMur und allgemeiner zeitgenössischer Monismus um die Jahrhundertwende, in: Wien um 1900, S. 104-111, hier S. 104. 9 So kennzeichnet Thomas Manns Fiorenza (GW VIII, S. 1065) die Stadt Florenz, gleichsam München in den Rang eines Mythos erhoben; die Novelle Gladius Dei hatte vorweg die Parodie dieses Mythos geliefert. 10 Vgl. Fritz sowie den Katalog Atelier Elvira. 11 Frühwald, Zwischen Arkadien und Babylon, S. 261.

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Distanzbewußtsein gegenüber der einheimischen Bevölke­ rung hat die Erfindung eines echten >Volkes< seit den achtzi­ ger Jahren - bei Conrad, bei Panizza, bei Ruederer, bei Thoma - immer wieder inspiriert. »Die Münchener Bevöl­ kerung ist wohl die naivste in Deutschland», begeistert sich Frank Wedekind, »sie ist beinahe so naiv wie die Bevölke­ rung von Paris. Das ist auch der Grund dafür, daß sich die Kunst in München so wohlfühlt und so üppig gedeiht. Die Naivität ist der Nährboden der Kunst [...]. Ohne ein urwüchsiges Leben ist keine Kunst denkbar«12 - und gerade um die Spannung zwischen naiv-sinnlichem Leben und hochgetrieben asketischem Geist kreisen Wedekinds moderne Dramen insgesamt. Als Partner der Modernen also - von einer Legitimationsfunktion her - wird das Volk hier wie sonst konstruiert und wahrgenommen; und gewiß erwächst die Gesellschaftskritik der Münchner Moderne auch aus ihrer Gesellschaftsferne. Denn innehalten konnte der totale Anspruch des Lebens ja vor den Nonnen des sozialen Lebens keineswegs. Die Angriffe gegen >Ultramontane< und »Sittlichkeitspredigers der Kampf um die Befreiung des öffentlichen Lebens von der Zensur werden fongesetzt. Überdies jedoch sammelt sich in der Münchner Moderne, nachdem die Hoffnungen auf den »jungen Kaisen Wilhelm II. bald enttäuscht waren, die Opposition gegen das Hohenzollemreich; die Repräsen­ tanten des demokratischen Südens verfechten weiterhin jenen Liberalismus, der in der Revolution von 1848 das Reich vorbereitet und es im Bündnis mit Bismarck 1871 gegen regionale Sonderinteressen durchgesetzt hatte. Frei­ lich reicht das Spektrum der Gesellschaftsmodelle von sol­ chem - bürgerlich akzeptierten - Liberalismus in der satiri­ schen Zeitschrift und dem erfolgreich witzigen Kabarett bis hin zu den Spielarten der Boheme-Radikalität in Schwabing, der anarchistischen Provokation bei Erich Mühsam oder 12 Zit. nach Arens, S. 276.

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eben der »aristokratischen Attitüde«13 des George-Kreises, vom »Freistaat Schwabing« bis zur Künstlerdiktatur. Niemals aber läßt sich die Münchner moderne Bewegung von den nationalen Grenzen beschränken. Vor allem be­ kennt sich die internationale süddeutsche Kulturstadt Mün­ chen zur Verständigung mit Frankreich, dem Gegner des jüngsten Krieges von 1870/71. Der Simplicissimus bringt ein Titelbild - von Wilhelm Schulz -, das zum »Frieden« zwi­ schen den Völkern aufruft;1415an französischen Vorbildern schult sich dieses satirische Blatt insgesamt; für französi­ sche Literatur setzt sich sein. Verleger Alben Langen ein, und Frank Wedekind - mit Langen seit ihren Lehrjahren in der Pariser Boheme bekannt - beteiligt sich am Simplicissi­ mus wie bei den »Elf Scharfrichtern«, einem Kabarett gleich denen auf Montmanre. Dessen künstlerischer Leiter, der Franzose Marc Henry, gab in München eine Revue francoallemande heraus und veranstaltete gelegentlich eine große Umfrage, Die Annäherung Frankreichs an Deutschland;13 Otto Falckenberg - damals Mitglied des »Scharfrichter«Ensembles - stufte sich zwar als »unpolitischen Menschen« ein, meint aber: »Welcher Deutsche, dem an dem wirthschaftlichen und kulturellen Wohle seines Vaterlandes ernst­ lich gelegen ist, könnte darüber im Zweifel sein, dass eine Annäherung an Frankreich, je eher, desto lieber zu wün­ schen ist!«16 Und Emst von Wolzogen brandmarkte die »sträfliche Frivolität der beiderseitigen Machthaber, in den Schulen noch fort und fort den Samen des Hasses ausstreuen zu lassen.«17 Zumindest für einige Jahre blühten in einem Klima der Liberalität die verschiedenen, oft verbündeten, oft verfein­ deten Richtungen und Gruppen der Moderne in München. Zeugnisse dieser Vielfalt werden in unserem Band ausgebrei­ 13 14 15 16 17

Müller-Seidel, S. 185. Vgl. Simplicissimus 10 (1906/07) Titelbild von Nr. 44. Revue franco-allemande 1 (1899) S. 49. Ebd., S. 119. Ebd., S. 139.

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tet. Wie perfekt bereits um 1900 das Wechselspiel von freier Formulierung eines München-Büdes und dessen Verwertung am Kunstmarkt und in der Tourismusbranche funktionierte, ließ sich jedoch nicht umfassend dokumentieren. Immerhin suchten Gäste aus aller Welt die süddeutsche Hauptstadt der Boheme und »Pflegestätte heiter freien Lebensgenusses« auf;18 und die berühmte Kunststadt-Debatte wurde erst durch die geminderten Marktchancen Münchner Künstler in der Konkurrenz zu Berlin so recht brisant. Diese Debatte wird indessen schon von den Zeitgenossen als Symptom des Niedergangs der Münchner Moderne begrif­ fen. Tatsächlich spaltete diese sich in den Jahren vor dem Weltkrieg in zwei feindliche Richtungen auf. Seit der Jahrhundertwende mußte sich die Moderne ver­ schärft den Vorwurf gefallen lassen, nicht volkstümlich zu sein. Die Avantgarde hebt sich ab von einer breiten Gegen­ strömung, die sich um den Anschluß an Traditionen, den Erfolg beim breiten Publikum bemüht, von völkischen Res­ sentiments und deutschem Großmachtehrgeiz nicht frei ist. Sie will die eigenständigen Kulturregionen vor der Nivellie­ rung retten und sie in einer »großnationalen Volkskultur« bündeln.19 In München finden derart »bodenständige Dichtung« und Heimatkunst eines ihrer Zentren. Hier wird das breite Un­ behagen am beschleunigten Wandel überkommener Lebens­ formen, an der wachsenden gesellschaftlichen Mobilität, die auch gesteigerte Unsicherheit mit sich bringt, kurzum - an den Folgen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Modernisierungsprozesses artikuliert. Berlin wird zum Symbol allen modernen Kultur- und Sittenzer­ falls. Freilich resultierte solche Liebe zur Heimat erst aus dem Sieg der Großstadt, der man den Untergang wünscht. An die Fortschritte der Moderne ist die konservative Hei­ matkunstbewegung deshalb eng gebunden. 18 Bierbaum, Prinz Kuckuck, S. 293. 19 Rossbacher, S. 27.

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Geht doch »der Widerstand gegen die Modernität« schon mit der Absage an das naturalistische Programm in den »Prozeß der Modernität« ein20 - »als Moment dieses Prozes­ ses«; der Kulturphilosoph Georg Simmel hat denn auch früh in einem Essay über Die Großstädte und das Geistesleben diesen »Widerstand des Subjekts« gewürdigt, »in einem ge­ sellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und ver­ braucht zu werden.«21 München, die »ländliche Großstadt«, bot sich zur Formierung dieses Widerstandes geradezu an. In der »Kunststadt« München, die auch als Stadt ein Kunst­ werk ist, wurde das »schöne Leben« als rückwärtsgewandte Sozialutopie entworfen. Von der Diktatur des Geistes und der Kunst erwartete sich eine junge, radikale Boheme-Gene­ ration die Wandlung einer schalen Gegenwan, den Durch­ gang durch anarchisches Chaos zum verlorenen Paradies von Kunst und Volk. Daß aber München die »Kunststadt« blieb und sich als vorindustrielle Metropole präsentierte, kann nur als Erfolg der Heimatkunstbewegung und ihrer Verbündeten in Politik und Winschaft gebucht werden. Ironisch genug fügte es sich, daß Kandinsky, der jenen diktatorischen Gestus der Avantgarde extrem ausbildete, seinen Durchbruch zur Revolution der Malerei ausgerechnet den Bemühungen um eine Inszenierung von »Heimat« ver­ dankt. Auf die Volkstradition wird sich dann sein Almanach Der Blaue Reiter berufen. Das kunstrevolutionäre Evange­ lium der Farbe war Kandinsky nun im ländlichen Mumau gleichsam offenbart worden - und tatsächlich ist dieser Marktflecken damals unter den Fremdenverkehrsorten im Münchner Umland besonders attraktiv durch seine Farbig­ keit, die einer »denkmalpflegerischen Aktion« Emanuel von Seidls zu danken war: Der Akademieprofessor hatte es »sich 20 Hermann Rudolph, Kulturkritik und konservative Revolution, Tübingen 1971, S. 1. 21 Georg Simmel, Brücke und Tor, hrsg. von Margarete Susmann und Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 227; vgl. Roy Pascal, Georg Simmels »Die Großstädte und das Geistesleben». Zur Frage der Moderne, in: Gestaltungsge­ schichte und Gesellschaftsgeschichte, hrsg. von Käte Hamburger und Helmut Kreuzer, Stuttgart 1969, S. 450-460.

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zur Aufgabe gemacht, sämtliche Häuser der Marktstraße, ja des ganzen Marktes, mit originellen Hausmalereien oder doch gediegenem Hausanstrich zu versehen und durch ein­ fache geschmackvolle Renovation einheitlich dem Gesamt­ bilde einzufügen.«22 Oft genug teilte die Avantgarde mit jener konservativen Heimatkunst die Argumente; die Extreme einer überwunde­ nen und einer verweigerten Modernität begegnen sich - und finden sich nicht selten sogar als Stufen desselben Lebenslau­ fes; gerade in München treffen wir auf die Renegaten der Moderne, die dennnoch ihren Anfängen treu zu sein glau­ ben - von Michael Georg Conrad, Georg Fuchs bis zu Ludwig Thoma. Es geht dennoch nicht an, die Politik der totalitären völkischen Bewegung in den zwanziger Jahren aus der Totalitäts-Ideologie der Avantgarde vor 1914 abzu­ leiten,23 - so wenig wie sich die Münchner Räterepublik als Verschwörung Schwabings abtun läßt. Äußerlich mögen sich Ideologiepanikei beim Übergang aus dem kulturellen Freiraum der Vorkriegszeit in die politisiene Öffentlichkeit der Nachkriegs-Republik gleich bleiben; ihr Stellenwen aber ist völlig verändert. Unwiderruflich endet 1914 eine Epoche. »Heute sind es sechs Jahre«, notierte Josef Hofmiller am 13. Dezember 1918 in seinem Revolutionstagebuch, »daß wir in die Allerheiligen-Hofkirche gegangen sind, um den toten Prinzregenten zum letztenmal zu sehen. [...] Wir hatten alle das Gefühl, mit dem alten Regenten liege das alte Bayern im Sarg. Es war doch die schönste Zeit unserer Geschichte, diese Jahre von 1886 bis 1912«.24

22 Fäthke, S. 106 f. 23 Hartmut Zelinsky, Der >Weg< der »Blauen Reiter* t und Peter-Klaus Schu­ ster, München - Das Verhängnis einer Kunststadt, haben die Tabuisierung dieses Themas durchbrochen, freilich auch die soziale Verbindlichkeit der Aggressions- und Herrschaftssprache der Modernen überschätzt. 24 S. 110.

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Bilder von München

WASSILY KANDINSKY

München - die Märchenstadt Es war ein scheckiger Schimmel (mit Ockergelb im Körper und hellgelber Mähne) in einem Pferderennspiel, den ich und meine Tante ganz besonders liebten. Hier wurde strenge Reihenfolge gewahrt: einmal durfte ich diesen Schimmel unter meinen Jockeys haben, einmal die Tante. Die Liebe zu solchen Pferden hat mich bis heute nicht verlassen. Es ist mir eine Freude, solch einen Schimmel in den Straßen Münchens zu sehen: er kommt jeden Sommer zum Vorschein, wenn die Straßen gesprengt werden. Er weckt die in mir lebende Sonne. Er ist unsterblich, da er in den fünfzehn Jahren, die ich ihn kenne, gar nicht gealtert ist. Es.war einer meiner ersten Eindrücke, als ich vor dieser Zeit nach München übersiedelte - und der stärkste. Ich blieb stehen und verfolgte ihn lange mit den Augen. Und ein halb unbewußtes, aber sonniges Versprechen rührte sich im Her­ zen. Er macht den kleinen Bleischimmel in mir lebendig und knüpfte München an meine Kinderjahre. Dieser scheckige Schimmel machte mich plötzlich in München heimisch. Als Kind sprach ich sehr viel Deutsch (meine Großmutter müt­ terlicherseits war eine Baltin). Die deutschen Märchen, die ich als Kind so oft hörte, wurden lebendig. Die jetzt ver­ schwundenen hohen, schmalen Dächer am Promenadeplatz und am Maximiliansplatz, das alte Schwabing, und ganz besonders die Au, die ich einmal zufällig entdeckte, verwan­ delten diese Märchen in Wirklichkeit. Die blaue Trambahn zog durch die Straßen wie verkörperte Märchenluft, die das 25

Atmen leicht und freudig machte. Die gelben Briefkästen sangen von den Ecken ihr kanarienvogellautes Lied. Ich begrüßte die Aufschrift »Aanstmühle« und fühlte mich in einer Kunststadt, was für mich dasselbe war wie Märchen­ stadt. Aus diesen Eindrücken stammen die mittelalterlichen Bilder, die ich später machte.

WASSILY KANDINSKY

München - im Dornröschenschlaf Von Wällen und tiefen Gräben umringt, schlummert das künstlerische München dahin. Die Augen des unbeteiligten Zuschauers oder des Zufallstouristen treffen immer noch dieselbe Eisen-Glas-Festung des Glaspalastes, dasselbe au­ genlose Gebäude der Sezession, dasselbe Künstlerhaus mit seiner erdrückenden, finsteren Pracht. Und es ist, als ob der Glaspalast und die Sezession für alle Zeiten mit denselben tausend Bildern angefüllt wäre und das Künstlerhaus ebenso chronisch leer. Als ich vor einem Jahr nach München zurückkehrte, fand auch ich alles an seinem Ort. Und mich deuchte, das sei das wirkliche Dornröschenreich, wo die Bilder an den Wänden schlafen, die Aufseher in den Ecken der Säle, das Publikum mit den Katalogen in der Hand, die Künstler mit ihrem breiten Münchner Pinsel, die Kritiker mit der Feder zwi­ schen den Zähnen. Was aber den Käufer betrifft, so geht er nicht mehr zum Sekretariat, wohin er früher unermüdlich Geld trug, und zwar deshalb, weil auch ihn der Schlaf, wie im Märchen, unterwegs überrascht und auf der Stelle fest­ genagelt hat. mittelalterlichen Bilder: Nach Abschluß des Akademiestudiums zwischen 1901 und 1903 schuf Kandinsky einige Bilder mit mittelalterlicher Thematik, z. B. Spaziergang, Brautzug, Festzug.

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MARCEL MONTANDON

Das »andere Deutschland« - München Synthetische und abgegrenzte Vision von allem, was Mün­ chen anziehend macht, das München, dessen Name eng verbunden mit der regierenden Dynastie erscheint, diese Vision habe ich nie klarer erfaßt, als an einem der letzten Tage des vergangenen Herbstes, da ich gegen vier Uhr den leuchtenden, schimmernden Zauber der fließenden Bäche im Englischen Garten verlassen hatte. Durch die Arkaden der Galeriestraße betrat ich den Hofgarten. Die Blätter, welche vom ersten Reife gebrochen schwer zur Erde gefallen waren, bildeten unter jedem Baume einen Purpurteppich. An der braunen Fassade im gleichen herbstlichen Tone, der Resi­ denz, war alles fest verschlossen, die Fenster wie erblindet durch die weißen inneren Läden. Die Säulenreihen der Einfahrt erschienen wie der sichere Verschluß einer steiner­ nen Festungsmauer; die großen Kastanienbäume mit ihrem letzten spärlichen gelben Laub legten sich wie ein schwarzer Schleier mit Goldpunkten über das schlafende Antlitz dieser Architektur. Die weiche Melancholie dieses Anblicks wurde noch gesteigert durch den schwermütigen, trüb lächelnden Himmel, der darüber lag. [...] Das Ganze war ein Bild des Friedens und der Ruhe, der Ruhe aller Dinge in der Verklä­ rung glorreicher Vergangenheit, die wie in Lebensmüdigkeit zusammengesunken war. Die Symphonie von Gold, der Dämmerung Verkünderin, war auf einen melodisch tiefen Ton wie den des Cellos gestimmt. [...] Ich zeigte einem jungen Slaven München und sagte: »Hier hast du den genauen Begriff von dem, was man früher als Süddeutsch­ land bezeichnete. Der Gedanke an Berlin wird dir den ganzen Gegensatz geben, der diesen Begriff dir bis ins äußerste klar machen kann. Dort im Norden ist alles inten­ sivstes Leben, unbegrenzter Ehrgeiz, Kraft, die Berge ver­ setzen möchte, unbändige Eroberungssucht. Kann man dort noch ein kleines Plätzchen in einem Park finden, wo andere

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Träume erstehen können, als die von Stolz und Herrschbe­ gier? Von dem, was der Aufwand des Sonnenkönigs in Versailles im 17. Jahrhundert gewesen war, gibt Berlin heute eine trockenere und rauhere Nachbildung. Ein mächtiger, militärischer Apparat, eine Verwaltung, ebenfalls in militäri­ scher Art organisiert - der Schlußstein im gigantischen Aufbau eines eisernen Reiches -, alles dies eine moderne Vervollkommnung des komplizierten Gehwerkes der Mini­ sterien und Administrationen eines Ludwig XIV. Es erman­ gelt nicht einer wirklichen, aber einer drohenden Größe ... Dagegen was du hier siehst, ist Deutschland, wie es vor der Errichtung des Reiches gewesen; es ist das letzte kleine Fleckchen, wohin sich friedliches und beschauliches Leben zurückgezogen hat. Auch in Frankreich wirst du heute nichts ähnliches mehr finden können. Dort herrscht fast Bürgerkrieg, Parteienhaß, Glaubenszwist und Vergewalti­ gung der Gewissen. Es birgt die Kleinlichkeit und das Gift eines in Zersetzung begriffenen Organismus, dessen eigene Elemente zerfallen und winzige zerstörende Kräfte erzeu­ gen, welche sich zuletzt gegenseitig aufzehren werden. Frankreichs Vergangenheit ist in Verwesung übergegangen und die Hefe der Zukunft wimmelt noch von ekelerregen­ den Mikroben. In Berlin steht das moderne Leben auf seiner Höhe, automatisch, tadellos und blitzend wie ein vervoll­ kommnetes Geschütz. Dazu etwas Fieberhaftes, Stoßweises und Amerikanisches darin, erinnert es an das zitternde Verdeck eines Schiffes, das mit überheiztem Dampfkessel die Fluten schneidet. Welch neuem Leben gehen wir entge­ gen? ... Hier steht das reine Bild des ehemaligen einfachen und gesunden Lebens vor dir. Du siehst ähnliches, wie einst der junge Mozart in Salzburg. Sieh, das königliche Schloß ist verschlossen, und dennoch fühlt man, daß es nicht ausge­ storben ist. Siehst du die Gärtner? Die Fürsten haben sich zum edlen Waidwerk in die Berge begeben. Die königliche Majestät und Güte jedoch sind mit ihnen nicht verschwun­ den, und zusammengenommen bilden diese Gebäude, deren

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keines sich rühmen kann, ein Meisterwerk zu sein, ein harmonisches Ganzes, das zu dieser Stunde und in dieser Atmosphäre zu einem Meisterwerke in deinen Gedanken wird. Und weißt du, welche Lehre es dir geben will? Die von der höchsten Stufe der Zivilisation. Wir sind an einer düstren Stunde der Geschichte angelangt. Man weiß nicht, was morgen geschehen wird, und wir wüßten auch nicht, was gestern war, wenn dieser kleine Winkel von Deutsch­ land uns nicht geblieben wäre. Atme mit vollen Lungen die abendländische Vergangenheit, mein kleiner Slave; präge dir den Begriff des Wortes ehemals gut ein. Laß dich durchdringen von der Schönheit alles Vergangenen, das der Unsterblichkeit würdig ist und das der gewöhnliche Fluß des Lebens verletzt. Sieh die Blätter, die die heutige Nacht getötet hat, wie ihr Sterben diese Schönheit noch erhöht. Aber alles wird sich ändern, und vielleicht kehrst du später einmal in ein so modernes, sezessionistisches und kosmo­ politisches München zurück, daß der ganze herbstliche Reiz des alten Deutschlands, der uns heute so zart er­ scheint, auch verschwunden sein wird. Aber ich weiß, daß du München stets danken wirst, ihn dir einmal gegönnt zu haben. Ich durchsättige mich damit, um ihn überall mit mir zu tragen.« [...] Ich wandte mich gegen das Schloß, dessen alter Teil zwischen dem neuen in greifbarer Gestalt das Band zwi­ schen dem kurfürstlichen und dem königlichen Bayern ver­ sinnbildlicht. Und etwas Trostvolles und Mächtiges über­ kommt mich so jedes Mal, wenn mir das Fortbestehen der Vergangenheit in der Gegenwan und die Ehrfurcht für die Vergangenheit durch diese Gegenwan vor Augen steht, eine Tradition von Ehrenhaftigkeit und Einfachheit, von patriar­ chalischem Leben und Schönheit, von Liebe zur Kunst und Liebe zum Volke. Und immer klarer wurde mir die Mission der Wittelsbacher in der modernen Welt: in den Falten der blauweißen Fahne - des Himmels und der Berge Farben - all diesen heiligen Begriffen ein letztes Asyl zu bieten. 29

So hat das königliche Geschlecht, welches inmitten des 19. Jahrhunderts seinem Volke die Religion der Schönheit einverleibt hat, Anspruch auf die Dankbarkeit der ganzen Menschheit.

ROBERT WALSER

München Vor zwanzig Jahren reiste ich nach München und lernte Dauthendeys kennen, die mich sehr herzlich aufnahmen. Ich las ihnen ein Manuskript vor; es waren »Die Knaben«, ein Dialogstück, das nun mit drei andern Dichtungen aus jenen Tagen in Buchform bei Bruno Cassirer in Berlin herauskommt. Sie baten mich, ihnen etwas ins Album zu schreiben. Das tat ich, und es fiel kolossal stilvoll aus, wie ich mich ja damals phantastisch genug betrug. Mit einem Stöckchen in der Hand und einer Mütze auf dem Kopf spazierte ich im Englischen Garten und besuchte Wedekind, den mein karierter Anzug interessierte. Derselbe kostete dreißig Franken. Heute sind Kleidungsstücke wesentlich teurer. Ich lobte meinerseits Wedekinds grünen Schreibtisch. Der Dichter von »Frühlings Erwachen * bot mir mit feinem Lächeln Zigaretten an. Ein Literat lud mich zu einer Abendgesellschaft ein. Unter andern war eine Frauenrechtlerin anwesend, die durch kur­ zes Haar hervorragte und mir unsäglich klug vorkam. Sie erzählte, daß ihr ein Professor beinahe die Hand geküßt hätte. Ich trug sechs kleine Geschichten vor. Otto Julius Dauthendeys: Maximilian Dauthendey und seine Frau Annie waren zwar seit 1898 in Würzburg ansässig, schränkten jedoch ihr Wanderleben zwischen München, Berlin, Paris und Skandinavien kaum ein.

Cassirer: Bruno C. (1872-1941), seit 1901 einer der führenden Verleger der Modernen.

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Bierbaum nickte beifällig; andere aber fanden, daß ich mir die Sache etwas leicht mache. Eine Dame lag auf dem Sofa wie die »Maja« von Franzisco Goya. Ich gab mir Mü­ he, ihr zu gefallen; das Manöver erwies sich als ziemlich schwierig. Damals erschien »Die Insel«, deren Redaktion in einem Palaste wohnte, wo Bediente umherstanden und sicher hie und da Baronessen verkehrten, was für mich fabelhaft war. Alfred Walter Heymel schien mir das Muster der Eleganz. Rudolf Alexander Schröder war erstens sehr liebenswürdig und spielte zweitens denkbar vornehm Piano. Ich lief aufs Land und erinnere mich, Dörfer gesehen zu haben, die mich in ihrer Spielzeughaften Kleinheit, mit dem Kirchturm in der Mitte und Hecke rund herum wie die tausendjährige Unverändertheit anmuteten. - Auch macht ich allerlei Bekanntschaften, kam hier mit Kubin, dort mit Markus Behmer zusammen. Einmal gab’s ein Atelierfest. Man aß und trank und trieb Kurzweil. Dieser trat als jodelnder Tiroler, jener als degen­ tragender Venetianer auf. Später wurden die Lichter ge­ löscht und im Dunkel Märchen erzählt. Ich selbst befaßte mich weniger mit Erzählungskunst als damit, daß ich mich auf dem Nacken einer Künstlerin im Küssen übte, was sie sich ruhig gefallen ließ. Was sie für einen lieben Blick hatte! Wie das alles hübsch war! Ich anerkenn es fröhlich!

Bierbaum: B. lebte von 1889 bis 1894 in München, dann in Berlin und Wien, kehrte aber immer nach München zurück.

* »Maja von Franzisco Goya: Die beiden Gemälde Die nackte Maja und Die bekleidete Maja von Francisco de Goya entstanden um 1797. Behmer: Markus B. (1879-1958), Zeichner und Graphiker. Der Autodidakt Behmer schuf seit 1898 Jugendstil-Zeichnungen für die Münchner Vereinigten Werkstätten, den Simplicissimus und die Insel.

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Arpad Schmidhammer. Umschlagentwurf

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THOMAS MANN

München leuchtete München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Ba­ rockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gar­ tenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnen­ dunst eines ersten, schönen Junitages. Vogelgeschwätz und heimlicher Jubel über allen Gassen ... Und auf Plätzen und Zeilen rollt, wallt und summt das unüberstürzte und amüsante Treiben der schönen und gemächlichen Stadt. Reisende aller Nationen kutschieren in den kleinen, langsamen Droschken umher, indem sie rechts und links in wahlloser Neugier an den Wänden der Häuser hinaufschauen, und steigen die Freitreppen der Museen hinan ... Viele Fenster stehen geöffnet, und aus vielen klingt Musik auf die Straßen hinaus, Übungen auf dem Klavier, der Geige oder dem Violoncell, redliche und wohlgemeinte dilettanti­ sche Bemühungen. Im »Odeon« aber wird, wie man ver­ nimmt, an mehreren Flügeln ernstlich studiert. Junge Leute, die das Nothung-Motiv pfeifen und abends die Hintergründe des modernen Schauspielhauses füllen, wan­ dern, literarische Zeitschriften in den Seitentaschen ihrer Jacketts, in der Universität und der Staatsbibliothek aus und ein. Vor der Akademie der bildenden Künste, die ihre weißen Arme zwischen der Türkenstraße und dem Siegestor ausbreitet, hält eine Hofkarosse. Und auf der Höhe der Odeon: ehemalige Musikhochschule, von Leo von Klenze 1826-28 im Auftrag Ludwigs 1. erbaut (heute Innenministerium). Im 1. und 2. Stockwerk befand sich der ebenfalls »Odeon« genannte Konzertsaal. Nothung-Motiv: Das Leitmotiv für Siegmunds Schwert in Richard Wagners Walküre (1856); den Namen »Nothung« hatte erst Wagner in den NibelungenMythos eingefügt.

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Rampe stehen, sitzen und lagern in farbigen Gruppen die Modelle, pittoreske Greise, Kinder und Frauen in der Tracht der Albaner Berge. Lässigkeit und hastloses Schlendern in all den langen Stra­ ßenzügen des Nordens ... Man ist von Erwerbsgier nicht gerade gehetzt und verzehrt dortselbst, sondern lebt ange­ nehmen Zwecken. Junge Künstler, runde Hütchen auf den Hinterköpfen, mit lockeren Krawatten und ohne Stock, unbesorgte Gesellen, die ihren Mietzins mit Farbenskizzen bezahlen, gehen spazieren, um diesen hellblauen Vormittag auf ihre Stimmung wirken zu lassen, und sehen den kleinen Mädchen nach, diesem hübschen, untersetzten Typus mit den brünetten Haarbandeaus, den etwas zu großen Füßen und den unbedenklichen Sitten ... Jedes fünfte Haus läßt Atelierfensterscheiben in der Sonne blinken. Manchmal tritt ein Kunstbau aus der Reihe der bürgerlichen hervor, das Werk eines phantasievollen jungen Architekten, breit und flachbogig, mit bizarrer Ornamentik, voll Witz und Stil. Und plötzlich ist irgendwo die Tür an einer allzu langweili­ gen Fassade von einer kecken Improvisation umrahmt, von fließenden Linien und sonnigen Farben, Bacchanten, Nixen, rosigen Nacktheiten ... Es ist stets aufs neue ergötzlich, vor den Auslagen der Kunstschreinereien und der Bazare für moderne Luxusarti­ kel zu verweilen. Wie viel phantasievoller Komfort, wie viel linearer Humor in der Gestalt aller Dinge! Überall sind die kleinen Skulptur-, Rahmen- und Antiquitätenhandlungen verstreut, aus deren Schaufenstern dir die Büsten der florentinischen Quattrocento-Frauen voll einer edlen Pikante­ rie entgegenschauen. Und der Besitzer des kleinsten und billigsten dieser Läden spricht dir von Donatello und Mino da Fiesoie, als habe er das Vervielfältigungsrecht von ihnen persönlich empfangen ... Aber dort oben am Odeonsplatz, angesichts der gewaltigen Loggia, vor der sich die geräumige Mosaikfläche ausbreitet, und schräg gegenüber dem Palast des Regenten, drängen 34

sich die Leute um die breiten Fenster und Schaukästen des großen Kunstmagazins, des weitläufigen Schönheitsgeschäf­ tes von M. Blüthenzweig. Welche freudige Pracht der Aus­ lage! Reproduktionen von Meisterwerken aus allen Galerien der Erde, eingefaßt in kostbare, raffiniert getönte und orna­ mentierte Rahmen in einem Geschmack von preziöser Ein­ fachheit; Abbildungen moderner Gemälde, sinnenfroher Phantasien, in denen die Antike auf eine humorvolle und realistische Weise wiedergeboren zu sein scheint; die Plastik der Renaissance in vollendeten Abgüssen; nackte Bronze­ leiber und zerbrechliche Ziergläser; irdene Vasen von stei­ lem Stil, die aus Bädern von Metalldämpfen in einem schil­ lernden Farbenmantel hervorgegangen sind; Prachtbände, Triumphe der neuen Ausstattungskunst, Werke modischer Lyriker, gehüllt in einen dekorativen und vornehmen Prunk; dazwischen die Portraits von Künstlern, Musikern, Philosophen, Schauspielern, Dichtern, der Volksneugier nach Persönlichem ausgehängt ... In dem ersten Fenster, der anstoßenden Buchhandlung zunächst, steht auf einer Staffelei ein großes Bild, vor dem die Menge sich staut: eine wertvolle, in rotbraunem Tone ausgeführte Photographie in breitem, altgoldenem Rahmen, ein Aufsehen erregendes Stück, eine Nachbildung des Clou der großen internationa­ len Ausstellung des Jahres, zu deren Besuch an den Litfaß­ säulen, zwischen Konzertprospekten und künstlerisch aus­ gestatteten Empfehlungen von Toilettenmitteln, archaisie­ rende und wirksame Plakate einladen. Blick um dich, sieh in die Fenster der Buchläden. Deinen Augen begegnen Titel wie »Die Wohnungskunst seit der Renaissance«, »Die Erziehung des Farbensinnes«, »Die Re­ naissance im modernen Kunstgewerbe«, »Das Buch als Kunstwerk«, »Die dekorative Kunst«, »Der Hunger nach Kunst« - und du mußt wissen, daß diese Weckschriften tausendfach gekauft und gelesen werden, und daß abends über ebendieselben Gegenstände vor vollen Sälen geredet wird ...

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Hast du Glück, so begegnet dir eine der berühmten Frauen in Person, die man durch das Medium der Kunst zu schauen gewohnt ist, eine jener reichen und schönen Damen von künstlich hergestelltem tizianischen Blond und im Brillan­ tenschmuck, deren betörenden Zügen durch die Hand eines genialen Portraitisten die Ewigkeit zuteil geworden ist, und von deren Liebesleben die Stadt spricht - Königinnen der Künstlerfeste im Karneval, ein wenig geschminkt, ein wenig gemalt, voll einer edlen Pikanterie, gefallsüchtig und anbe­ tungswürdig. Und sieh, dort fährt ein großer Maler mit seiner Geliebten in einem Wagen die Ludwigstraße hinauf. Man zeigt sich das Gefährt, man bleibt stehen und blickt den beiden nach. Viele Leute grüßen. Und es fehlt nicht viel, daß die Schutzleute Front machen. Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft, die Kunst streckt ihr rosenumwundenes Scepter über die Stadt hin und lächelt. Eine allseitige respektvolle Anteilnahme an ihrem Gedeihen, eine allseitige, fleißige und hingebungsvolle Übung und Propaganda in ihrem Dienste, ein treuherziger Kultus der Linie, des Schmuckes, der Form, der Sinne, der Schönheit obwaltet... München leuchtete.

THEODOR LESSING

Das bukolische München In der Morgenfrüh trieb der bukolische Hirt seine Herde über die Ludwigstraße und ihre Glocken läuteten das Lob der Isarauen hinein in die Schlafsäle des bischöflichen Kon­ viktes, die Hörsäle der Universität und die Audienzsäle der Residenz. Zwischen den Pflasterquadraten vor der Feldherrnhalle wucherten Kuhblumen und unter den Arkaden 36

des Hofgartens, welche Ludwig Rottmann mit Fresken be­ malt und Majestät höchstselbst bedichtet hatten, tranken Hofdamen und Bürgerfräulein den köstlichen Kaffee Zambonis. Auch die Frauen und Mädchen von Sendling erschie­ nen im Geschnür voll Ketten und blanken Patentalem und die Burschen schweiften wie Auerhähne daher, stolz auf ihre gamsledeme Wichs und das Edelweiß. Schon brannten in den großen Straßen abends die Gaslaternen, aber in den Gäßchen leuchteten noch rote öl- oder Petroleumfunzen vor Heiligenbildern. Das Pferdebähnchen bimmelte brav bis zum neuerrichteten Siegestor. Hinterm Siegestor begann Schwabing, die Welt der spinnerten Leut, unsre Welt. Wir lebten in erfreulicher Gottnähe. Die schwarzgrüne Isar rauschte das bayrische Jahr entlang, ewige Sterne regelten des Jahres Kreislauf. Aufs Oktoberfest kam die Weihnachts­ dult drunt in der Au; auf Christmetten und Krippenfest folgte der Fasching mit Bauemball und Aschermittwoch. Nach Karneval erschien der Salvatorfrühling auf dem Nock­ herberge und dann kamen die heißen grünen Sommer auf den Kellern: Augustiner, Franziskaner, Pschorr, Löwen­ bräu, Thomas, Paulaner, Hofbräu, Kapuziner, Bavaria. Und Madeln, Madeln: Nannerl, Roserl, Reserl, Waberl, Mid, Gustl, Lonerl, Vrenerl, Katerl. Poesie und Liebe in Nymphenburg; auf dem »Greanen Markt«, Bleamerl und Milli. [...] Uns norddeutschen Studenten, Saupreußen benannt, gefiel die sinnenfrohe Schlamperei einer Bevölkerung, so bären­ haft dumpf im Gehirn, wie hochgewachsen in den Hüften. Dieses Volk wusch sich nicht und badete nicht und war doch kunstnäher als die gewaschene Menschheit des Nordens, wo der Spießbürger die erste Geige spielt. Deutschlands gewa­ schene Bevölkerung ist nicht deutsch; sie zerfällt in feindli­ che Klassen, Pöbel und Bourgeoisie, aber in Baiern lebte das Ludwig Rottmann: richtig: Carl R. (1797-1850), bayerischer Hofmaler. Er schuf mit seinen Italien-Fresken zu Distichen Ludwigs I. den ersten monu­ mentalen Landschaftszyklus.

Zambonis: richtig: Tambosis.

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einige drekete Volk, von Herzen auch nicht schöner als unsre norddeutschen Proleten, aber welch schöne Namen hatten sie: Aloysius, Genoveva, Bartholomäus und Vero­ nika, und trugen keine Jacken sondern Janker und die waren nicht grau sondern violett und grün, und dazu gelbe Wadenstrümpf und blaue Hüterl mit Gamsbart, mit Adlerflaum. Katholischer Himmel goß Süßigkeit über die Grobiane. Himmelblaue Madönnchen am Wiesenrain, Zwiebeltürme, Kapellen und die Marterln, die Heiligen, die Fahnen der Prozession erzogen die Lackeln und damischen Schlampen zu Grazie und zarterem Gefühl, und es war rührend zu schaun, wenn so ein Rohling, den Schlagring am dicken Daumen und barbarische Blechringe im Ohrläppchen, vor seinem Namenspatron a Glockenbleamerl niederlegt und ein derbes Marktweib zwischen zwei Halunkereien schnell in Sankt Peter einen Rosenkranz betet »für die armen Seelen im Fegfeuer«. Die Isar und ihr Auenwald, die beschneiten Alpen am Horizont, die rauhe Hochebene und das Moor, dann die Anmut der Geschirre, Gläser, irdenen Krüge, die verwinkelten Bögen und Erker, die Kirchen, Leuchter und Altäre, aber auch der Rubenssaal, dieser rasende Urwald, die Ägineten, dieser erste hellenische Frühling, die Medusa Rondanini - o Schauder der Wissenden - alles berauschte uns. Denn wir waren jung. In unserm geliebten Bier-Kultur­ dorf brauste Jugend: Schüler, Studenten, Akademiker.

Ägineten: Giebelfiguren des Aphaiatempels auf Ägina, 1812 von Ludwig I.

erworben.

Medusa Rondanini: eine von sechs erhaltenen römischen Kopien nach dem Medusenhaupt auf dem Schild der Athenastatue im Parthenon von Phidias (um 440 v. Chr.); sie wurde 1811 von Ludwig I. erworben.

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LUDWIG THOMA

Agricola Frei nach Tacitus »Germania«

Vor beinahe 1800 Jahren hat der berühmteste aller Ge­ schichtschreiber mit vielem Wohlwollen und ehrlicher Be­ wunderung unsere Vorfahren geschildert. Da es eine schöne und für die Nachwelt so wertvolle Aufgabe ist, situs gen­ tium describere, Land und Leute zu beschreiben, so will ich versuchen, Sitten und Gebräuche der Nachkommen zu zeichnen. Aber nicht derer, welche untreu germanischer Sitte Städte bewohnen, sondern derer, welche ferne von ihnen die Felder bebauen. Daher auch der Titel der Schrift. Die Ebene Germaniens vom Donaustrome bis zu den Alpen bewohnen die Bajuwaren. Ich halte sie für Ureinwohner dieses Landes, für »selbstgezügelte«, wie sie in ihrer Sprache sich heißen. Fremden Einwanderern ist es schwer, sich mit ihnen zu vermischen. Gewiß ist, daß sie nie mit den Auto­ chthonen verwechselt werden können. Da sich dieses germanische Volk nicht durch Eheverbindun­ gen mit fremden Nationen vermischt, bildet es einen eige­ nen, sich selbst gleichen Stamm. Daher auch der nämliche Körperbau bei dieser zahlreichen Menschenmasse, dieselben ungewöhnlich ausgebildeten Hände und Füße, dieselbe harte, widerstandsfähige Kopfbildung. Wie die Vorfahren Agricola: Thomas erste Buchveröffentlichung entstand 1895/96 während seiner Janre als Rechtsanwalt in Dachau. Die Illustrationen schuf Bruno Paul, der Thoma 1897 in den geselligen Kreis der Simp/»cwrirnM$-Mitarbeiter einführte. Der Titel spielt auf Tacitus * Biographie seines Schwiegervaters, des vorbildli­ chen Römers Agricola (lat. »Bauer«) an; das schriftstellerische Verfahren hingegen parodiert Tacitus’ Germania, eine Beschreibung des Landes, seiner Bewohner und ihrer primitiven, aber edlen Sitten. situs gentium describere: Mit dieser Formel (»die Lage der Stämme beschrei­ ben«) variiert Thoma den vollständigen Titel der Germania'. De origine et situ Germanorum (»über Ursprung und Wohnsitz der Germanen«).

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Bruno Paul. Illustration zu Ludwig Thoma, • Agrícola"

sind sie zu stürmischem Angriff tauglich und gerne bereit. Für Strapazen und Mühseligkeiten haben sie große Aus­ dauer, nur Durst können sie nicht ertragen. Das Land ist verschieden gestaltet. Wälder wechseln mit Ge­ treidefeldern, Höhenzüge mit großen Ebenen. In der Nähe der größten Ansiedlung erstreckt sich ein großes Moos; hier hat sich der Stamm am reinsten erhalten. Die Bajuwaren haben viel Getreide und Vieh; doch herrscht über den Wert dieser Dinge jetzt großer Streit. Das Geld haben sie schätzen gelernt. Sie lieben nicht nur die alten, längst bekannten Sorten, sondern auch sämtliche neue. Das Hausgeräte ist einfach. Besonders an den Gefäßen schätzen sie den Umfang höher, als kunstfertige Arbeit. Waffen. Kriegswesen. Waffen hat dieses Volk vielerlei; doch wird auch hierin mehr auf Tauglichkeit als Schönheit gese­ hen. Sehr verbreitet ist die kurze Stoßwaffe, welche jeder

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Mannbare in einer Falte der Kleidung trägt; ihr Gebrauch ist aber nicht freigegeben, vielmehr sucht die herrschende Obrigkeit in den Besitz derselben zu gelangen. In diesem Falle ersetzt sie der Volksgenosse stets durch eine neue. Als Wurfgeschoß dient ein irdener Krug mit Henkel, der ihn auch zum Hiebe tauglich erscheinen läßt. An ihren Zusam­ menkunftsorten sucht bei ausbrechendem Kampfe jeder möglichst viele dieser Gefäße zu ergreifen und schleudert sie dann ungemein weit. Die meisten Bajuwaren führen eine An Speere oder in ihrer Sprache Heimtreiber aus dem heimi­ schen Haselnußholze, ohne Spitze, biegsam und für den Gebrauch sehr handlich. Wo diese Waffen fehlen, sucht jeder solche, die ihm der Zufall bietet. Ja, es werden zu diesem Zwecke sogar die Hausgeräte, wie Tische und Bänke, ihrer Stützen beraubt. Beliebt sind auch die Bestand­ teile der Gartenumfriedung. Vor dem Beginne des Kampfes wird der Schlachtgesang erhoben. Es ist nicht als ob Men­ schenkehlen, sondern der Kriegsgeist also sänge. Sie suchen hauptsächlich wilde Töne zu erzielen und schließen die Augen, als ob sie dadurch den Schall verstärken könnten. Sie kämpfen ohne überlegten Schlachtenplan; jeder an dem Platze, welchen er einnimmt. Der Schilde bedienen sie sich nicht, Als natürlicher Schutz gilt das Haupt, welches dem Angriffe des Feindes widersteht und den übrigen Körper schirmt. Manche bedienen sich desselben sogar zum An­ griffe, wenn die übrigen Waffen versagen. Der vornehmste Sporn zur Tapferkeit ist häufig die Anwe­ senheit der Familien und Sippschaften. Diese weilen in nächster Nähe ihrer Teuem und feuern sie mit ermuntern­ dem Zurufe an. Die Schlacht beendet meist der Besitzer des Kampfplatzes, der hierzu eine auserlesene Schar befeh­ ligtLebensweise im Frieden. Wenn sie nicht in den Krieg ziehen, kommen sie zu geselligen Trinkgelagen zusammen. Auch hier pflegen sie des Gesanges, der sich aber von dem Schlachtgeschrei wenig unterscheidet. Tag und Nacht durchzuzechen, gilt keinem als Schande. Versöhnung von 41

Feinden, Abschluß von Eheverbindungen, der beliebte Tauschhandel mit Vieh und sogar die Wahl der Häuptlinge wird meist beim Becher beraten. Selten spricht einer allein, häufig alle zusammen. Jeder legt ohne Rückhalt seine Meinung dar und hält daran fest. Bei Verschiedenheit der Meinungen obsiegt der mäch­ tige Schall der Stimme, nicht die Kraft der Gründe. Am meisten liebt dieses einfache Volk die unbefangenen Scherze. Auch den anderen ist es nicht abgeneigt. Der männlichen Jugend gilt als das höchste Fest die Wehrhaftmachung. Diese findet in den größeren Ansiedlungen statt, wo die Jünglinge in die Liste der Krieger eingetragen werden. Zu diesem Feste schmückt jeder die Kopfbedekkung mit wildem Gefieder. Die Gefolgschaft eines jeden Dorfes zieht dann mit furchterregendem Geschrei in die Stadt ein. Eine eigenartige Musik begleitet sie. Das Fest endet mit größeren Kämpfen. Denn ein stilles Leben liebt diese Nation nicht. Das Getränke der Bajuwaren ist ein brauner Saft aus Gerste und Hopfen. Häufig beklagen sie den schlechten Geschmack, niemals enthalten sie sich des Genusses. Ihre Kost ist einfach. Aus Mehl zubereitete Spei­ sen nehmen sie in runder Form zu sich; die geringe Nähr­ kraft ersetzen sie durch die große Menge. An einigen Tagen des Jahres essen sie geräuchertes Fleisch von Schweinen und beweisen hiebei geringe Mäßigkeit. Prunkvolle Kleider tragen sie nicht. Auch sehen sie nicht darauf, daß diese die Formen schöner erscheinen lassen. Das Oberkleid des Mannes ist kurz und mit Münzen geziert. Das Unterkleid dagegen ist sehr lang, eng anliegend und reicht bis an die Mitte der Brust. Meist ist es aus Leder gefertigt, schützt gegen Hitze und Kälte und ist dem Luftzuge unzu­ gänglich. Das Kleid des Weibes besteht in übereinanderge­ legten Säcken und läßt über die Schönheit der Körperbil­ dung im unklaren. So wenig wie auf die äußere Schmückung legt dieses Volk auf die sonstige Pflege des Körpers über­ großes Gewicht. Bäder werden als weichlich verachtet. 42

Die Seife ist selten. Der Gebrauch der Zahnbürste unbe­ kannt. Das Weib. Unähnlich hierin den Vorfahren, achtet dieses Volk den Rat der Weiber nicht und glaubt nicht an deren göttliches Wesen. Ihren Aussprüchen horchen sie nur un­ gern. Doch fehlt nicht alle Verehrung des Weibes. Zu den geselligen Zusammenkünften haben die Weiber Zutritt; ja sie dürfen sogar mit den Männern aus einem Gefäße trinken. In dieser Gastfreundschaft herrscht eifriger Wettstreit. Auch tanzen die Jünglinge, welchen dies eine Lustbarkeit ist, mit ihnen umher. Bei dieser Übung beweisen sie mehr Fertigkeit als Anmut. Eigentümlich ist die Art, wie sie sich zum Tanze paaren, sie beweist die Oberherrschaft des Mannes. Der Jüngling, wel­ cher eine Stammesjungfrau gewählt hat, stößt einen grellen Pfiff aus und winkt ihr befehlend mit der Hand. Häufig hört man auch bei diesen Lustbarkeiten plötzlich den Kriegsruf ertönen. Den Weibern gilt es als ehrenvoll, wenn um ihret­ willen der Kampf entbrennt. So ist auch die Werbung um sie oft mit Gefahren verknüpft. Haß der anderen, nächtlicher Überfall und Heimscheitelung bedrohen den Jüngling, wel­ cher einer Volksgenossin zu Liebe die Gehöfte aufsucht und Mauern erklettert. Das ist’s, was ich im allgemeinen von dieses Germanenvol­ kes Sitten erfahren habe.

MICHAEL GEORG CONRAD

Die Bierstadt München München ist die erste Bierfestung der Welt. Ganz im Mittel­ punkt ragt die klassische Gambrinus-Zitadelle aus urbaju­ warischer Zeit: das königliche Hofbräuhaus. Rings um die Stadt legt sich wie ein undurchbrechbarer Ring der Wall der

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Bierkellerbauten mit vielen trotzigen Vorwerken und Sperr­ forts nach allen Himmelsgegenden. Auf welchen Straßen, Land-, Wasser- und Schienenwegen der Fremdling auch nahen möge, er muß durch den Gürtel der Kellerburgen; überall knallen ihm die Spundpfropfen entgegen, kriegeri­ sche Biergesänge mit Banzenschlag und Deckelgeknatter umbrausen und betäuben ihn. Die Trommeln wirbeln, die Zinken schmettern, von uniformierten Militärkapellen wird der Sieg des alles bezwingenden Nationalgebräus von den hohen Kellerbasteien in die Welt hinausgeblasen. Gleich bei der Einfahrt in den Zentralbahnhof ragen rechts auf zyklopi­ schem Gemäuer die mächtigen Kellerburgen der Spaten-, Pschorr- und Hackerbrauerei, flankiert von unzähligen, Tag und Nacht fürchterlich qualmenden, hohen, runden Feuer­ türmen, während links auf natürlichem Hügel, gar traulich bewaldet, der Augustiner- und Kandierkeiler sich recken in der anspruchsloseren Form antiker Bierstadel. Naht der Fremdling auf der Nymphenburger Straße, so stößt er auf die wuchtigen Fortifikationen des Arzberger- und Löwen­ bräukellers, ausgeführt im reichsten Renaissancestil; kommt er von der Rosenheimer Landstraße, so ist erst recht kein Entrinnen: da liegen links und rechts hart am Wege, der sich isartalwärts zu einem förmlichen Engpässe gestaltet, der umfangreiche Zengerkeller (jetzt bürgerliches Bräuhaus genannt, im Biedermannsstil), der Kuppelhallenbau des Münchener Kindls, der Eberl- und Stemeckerkeller, der alte Franziskaner- und Stubenvollkeller, an der abzweigenden Preysing- und Wienerstraße der Dürnbräu- und Metzger­ keller und gegenüber der Leistbräu- und der neue riesige Hofbräuhauskeller. Wer aber vorsichtig die großen Heer­ straßen umgehen und sich zum Beispiel vom Bavariapark und der Theresienhöhe her in die Stadt schleichen wollte, der würde plötzlich von einer ganzen Kellerflanke aufs Korn genommen: Bavaria-, Pollinger-, Hirschbräu- und andere Keller - wer nennt die Namen alle? - kämpfen hier Schulter an Schulter. Nicht weniger kellerbefestigt ist der Flußlauf der Isar, die nicht müde wird, die Wunder und Siege des

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Postkarte um 1900

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berühmten Salvatorkellers zum Zacherl am Nockherberge, wo die mörderischsten Bockschlachten zur Zeit der Früh­ lings-Tagundnachtgleiche geschlagen werden, den Schwer­ hörigsten in die Ohren zu rauschen. Damit in früheren Zeiten der weniger biergelehrte Fremdling wußte, wessen er sich von der Eigentümlichkeit der guten Stadt München zu versehen habe, erbauten die Ureinwohner die bis in die Wolken ragenden Doppeltürme der Frauenkirche in Gestalt von zwei kolossalen Maßkrügen, so da weithin über die bayerische Hochebene sichtbar das fromme Wahrzeichen von München geblieben sind bis auf den heutigen Tag. Wessen Gehimzentren aber nicht von der bierologischen Wissenschaft erleuchtet, wessen Augen und Ohren nicht durch den ungeheuren, auf ein Ziel zuwogenden, von Ge­ sang und Musik und Anzapfungslärm empfangenen Men­ schenstrom der rechten Erkenntnisvermittlung fähig wä­ ren, der vermöchte schon durch sein Riechorgan die Nähe der verborgensten Keller und Bierkasematten erraten; denn eine ungeheure Duftwolke von Malz und Hopfen, Rettig und Käse, Schinken und Knoblauchwurst, Kalbsbraten und Dünngeselchten mit Sauerkraut und Senf umhüllt in nie geahnter Stärke diese biergesegneten Orte. Hat sich aber ein Fremdling in den entlegeneren Gassen verirrt und strebt er sehnsüchtig ins Freie zu einer klassischen Gambrinuskultstätte, so darf er sich nur dem ersten besten Pilgerchor anschließen und sich vertrauensvoll fortziehen und drängen und treiben und stoßen lassen, schließlich wird er ganz unfehlbar an der rechten Stelle angeschwemmt. In Sälen, Hallen, Gärten, die oft über zweitausend Biergläubige fas­ sen, wird auch er noch einen Platz und einen Maßkrug, etwas Schweinernes oder Kälbernes finden, um sich für alle Fährlichkeit und Drangsal des Weges zu entschädigen und seines wahren Münchener Lebens und Strebens froh zu werden. Amen.

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OSKAR PANIZZA

Das »schwarze« München Wo fang ich nun an? Traun, eure Vergangenheit ist groß und gewaltig. Und ihr habt Ursache, euch deshalb in die Brust zu werfen. Einer Salzstätte mit Brückenzoll über die Isar verdankt ihr eure Entstehung? Nun, attisches Salz habt ihr damals gewiß nicht gehandelt. Und wenn man euch betrach­ tet, muß man jenen recht geben, die sagen, es sei Viehsalz gewesen. Doch das macht nichts. Es ist euch wohl bekom­ men. Noch heute besteht eure Stadt aus zwei Drittel Metz­ gern. Die Fleischerinnung ist bei euch die vornehmste. Den halben Süden Deutschlands nebst der Schweiz verseht ihr mit euren vortrefflichen Rostbeefs. Und eure Schlachthäuser sind mustergültig. Aber wehe, wer euch und euren Fleischermessern mit andern Dingen, als mit Rostbeefs und Kuttelfleck in die Quere kommt! Wehe, wer euch zumutet, Gedanken zu verdauen! Ihr zerhackt und zermetzgert ihn in der entsetz­ lichsten Weise. Schon eure Schimpfnamen »Dünng’selchter«, »Dickg’selchter Hanswurst!« u. a. sind alle der Metz­ gerinnung entnommen. Bluttriefend muß derjenige von euch sich zurückziehen, der die frevelhafte Zumutung an eure Gehirnchen gestellt hatte. Und eure Rache ist kom­ plett. [•••] »Aber man nennt uns doch >Isar-Athen