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German Pages 376 [377] Year 2006
MAREK CZAJA
Die USA und ihr Aufstieg zur Weltmacht um die Jahrhundertwende: Die Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich
Historische Forschungen Band 82
Die USA und ihr Aufstieg zur Weltmacht um die Jahrhundertwende: Die Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich
Von Marek Czaja
Duncker & Humblot • Berlin
Die Philosophische Fakultät I der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 29 Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-11814-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Diese Arbeit widme ich in Dankbarkeit Gabriele Czaja
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Das Zustandekommen dieser Arbeit verdanke ich der Hilfe zahlreicher Menschen, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Mein besonderer Dank und Respekt gelten meinem Doktorvater Prof. Frank-Lothar Kroll, der durch seine fachliche und praktische Kompetenz die Entstehung der Arbeit überhaupt erst ermöglichte und darüber hinaus mit seinem menschlichen Zuspruch und seinem Verständnis die Jahre mit Geduld und Humor begleitete. Auch Prof. Reinhard Doerries, meinem Zweitkorrektor, der mich durch zahlreiche Gespräche und Begegnungen von manchen Irrtümern und Fehlschlüssen bewahrte, gebühren mein Dank und meine Anerkennung. Kornelia Serwotka, die die Prüfungsfassung in mühevoller Kleinarbeit las, fachmännisch korrigierte und mich somit vor manchen Peinlichkeiten bewahrte, und Carolin Lange, die das Endmanuskript einer gründlichen Korrektur unterzog, schulde ich großen Dank. Meine besondere persönliche Verbundenheit möchte ich an dieser Stelle Karin Lagger aussprechen, die die Entstehung der Arbeit mit viel Geduld und Nachsicht begleitete, ihr sei meine besondere Wertschätzung ausgesprochen. Schließlich ist eine Reihe von Freunden zu nennen, die mir über die Jahre hinweg zur Seite standen und die Entstehung der Arbeit mit wertvollen Hinweisen unterstützten: Stellenvertretend seien Stefan Hangs und Wanda Wuttke genannt. Abschließend möchte ich erwähnen, dass diese Arbeit ohne die finanzielle Unterstützung, die aufmunternden Worte und den moralischen Zuspruch meiner engsten Familie nicht hätte zu Stande kommen können: Ihr gilt meine größte Dankbarkeit und Verbundenheit. Erlangen, April, 2005
Marek Czaja
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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1. Fragestellung und Methode
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2. Forschungsstand und Quellen
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I. Gesellschaft und Kultur
40
1. Politik und Parteien 2. Katholizismus a) Die Schulfrage und das „Deutschtum" b) Die katholische Kirche und der „Amerikanismus"
40 50 56 65
3. Sozialismus a) Aussichten für den Sozialismus b) Hindernisse und Schwierigkeiten c) Die „Bourgeoisie-Republik"
72 79 84 89
II. Der amerikanische Protektionismus 1890-1897 1. Der McKinley-Tarif a) Die kapitalistische Bedrohung b) Die „panamerikanischen Bestrebungen" c) Amerika als Garantie der Lebensverhältnisse in Deutschland 2. Der Wilson-Tarif a) Das Saratoga-Abkommen b) Angriff auf die deutsche Landwirtschaft 3. Der Dingley-Tarif a) Meistbegünstigung und die südamerikanischen Märkte b) Die „republikanischen Raubritter" c) McKinley - „Ein Schüler Bismarcks"?
III. Die amerikanische Gefahr 1. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas a) Der amerikanische Erfolg b) Amerika als Vorbild für Deutschland 2. Das Problem der Trusts a) Die Standard Oil Company b) Unterwanderung der deutschen Wirtschaft 3. „Panamerika" contra „Mitteleuropa" a) Mitteleuropadiskussionen der 1890er Jahre b) Mitteleuropa als Abwehrmaßnahme c) Das Neue Weltreich „Amerika"
95 95 99 109 112 119 120 124 135 139 148 150
158 158 161 172 181 184 191 199 201 206 213
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Inhaltsverzeichnis
IV. Der spanisch-amerikanische Krieg
226
1. Gründe und Ursachen a) Der „Raubkrieg" b) Der amerikanische „Chauvinismus" 2. Der Krieg und das Völkerrecht
226 230 236 241
3. Lehren aus dem Krieg a) Amerikas neue Weltstellung b) Sieg einer Republik
247 248 258
V. Amerikas Weltpolitik
268
1. Der amerikanische Imperialismus a) Anfänge des amerikanischen Imperialismus b) Verrat an amerikanischen Idealen c) Wesen des amerikanischen Imperialismus 2. Die Monroe-Doktrin a) Das amerikanische „Faustrecht" b) Gefahren für Deutschland c) Die Samoaangelegenheit
268 270 272 276 282 285 295 300
3. Die Venezuela-Krise 1902/03 a) Eine „deutsch-amerikanische entente cordiale" b) Rettung der „deutschen Ehre" c) Anerkennung der Monroe-Doktrin
303 307 314 320
Schlussbemerkungen
325
Bibliographie
333
Quellen Protokolle, Kundgebungen, Parteiveröffentlichungen Zeitungen und Zeitschriften Zeitgenössisches Schrifttum Amerikastudien und Reisebücher Sonstige Schriften Memoiren und Briefsammlungen
333 333 334 335 335 342 346
Darstellungen
347
Personenregister
368
Sachwortregister
371
Einleitung 1. Fragestellung und Methode „Die Welt bleibt zum Glück nicht stehen, eine Macht von der man vor zwanzig Jahren noch nicht als von einer Weltmacht sprach, schiebt sich jetzt ganz leise, aber mit unwiderstehlicher Kraft in den Vordergrund; ich meine die große amerikanische Republik, die bisher in der Weltpolitik neutral war, ein Staat, stärker als alle Staaten Europas und, nach Abzug Englands, stärker als alle Staaten Europas zusammen genommen in bezug auf seine Ressourcen, auf die Kraftentfaltung, deren es auf die Dauer fähig ist." 1
Zu Anfang der 1890er Jahre, als Wilhelm Liebknecht diese Worte sprach, befanden sich die Vereinigten Staaten von Amerika in einem wirtschaftlichen und außenpolitischen Aufbruch. Die amerikanische Wirtschaftskraft nahm von Jahr zu Jahr zu. Amerika hatte bereits seine politischen und wirtschaftlichen Absichten auf Lateinamerika erklärt und diesbezüglich erste Schritte unternommen, auch wenn es sich noch nicht in einer imperialen Manier auf der Weltbühne engagierte. Gewiss waren Liebknechts Worte auch der Ausdruck seiner besonderen Beziehung zu Amerika. Sie reflektieren aber auch ein Wahrnehmungsmuster einer politischen Partei im Deutschen Kaiserreich um die Jahrhundertwende, die dem Auftreten Amerikas auf der Weltbühne mit Hoffnung und Erwartung entgegenblickte. Nach dem spanischamerikanischen Krieg schrieb die Kölnische Volkszeitung, das Zentralorgan der rheinischen Zentrumspartei, dass Amerika jetzt bei der Verteilung der Welt mitwirken wolle und zugleich einen wirtschaftlichen Kampf gegen „unseren Kontinent, den alten" eröffnet hätte.2 Liebknechts Voraussagen schienen, sich aus dem Blickwinkel des Zentrumsorgans, in einem für Deutschland und Europa ungünstigen Sinne zu bestätigen. Amerika hatte den Krieg scheinbar ohne große Mühe gewonnen, es rang in kurzer Zeit eine alte europäische Monarchie nieder und schaffte es endgültig, sich als Großmacht auf der Weltbühne zu etablieren. Die Sorge der Kölnischen Volkszeitung ging jedoch weiter als nur um die außenpolitische Stellung der Vereinigten Staaten. Seit den ausgehenden 1880er Jahren spürte Deutschland, zunächst nur auf dem Agrarsektor und in der Folgezeit auch zunehmend auf dem Industriesektor, den wachsenden Konkurrenzdruck Amerikas. Um die Jahrhundertwende war den Beobachtern aller politischen Richtungen in Deutschland klar, dass das Amerika der Jahrhundertwende mit dem Amerika der Gründerzeit und des Büiger-
1
Liebknecht im Reichstag, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 3. Sess. 12.12.1894, Bd. 1 S.76. 2 Kölnische Volkszeitung, Nr. 670, 5.8.1898.
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Einleitung
krieges nur noch wenig gemein hatte. Es war zu einer Großmacht geworden und zu einem erst zu nehmenden Konkurrenten für Deutschland und Europa. Nach 1890 setzte eine völlig neue Qualität der Beschäftigung der deutschen Parteien bzw. der politischen Bewegungen mit dem Phänomen „Amerika" ein. Sicherlich existierte seit der Gründung der Vereinigten Staaten eine Vorstellung in Deutschland von dem, was weit von Europa jenseits des Ozeans lag; die Wandlungen und Ergänzungen des deutschen Amerikabildes des 19. Jahrhunderts beweisen die rege Präsenz Amerikas in Deutschland. Amerika als Gegenstand der Auseinandersetzung und als Interessenobjekt einer organisierten politischen Bewegung blieb jedoch eine Ausnahme. Zweifelsohne gehörte dazu der außergewöhnlich hohe Stellenwert Amerikas für die liberalen Kräfte des Vormärz' und für ihre konstitutionellen Bemühungen der Jahre 1848/49. Im Vormärz bot Amerika vielen Liberalen in ihrem Streben nach Einheit und konstitutioneller Verfasstheit des Reiches eine Projektionsfläche der eigenen Ideale und politischen Vorstellungen. Viele Liberale lobten den politischen Vorbildcharakter Amerikas und wiesen dem Land die Funktion einer erfüllten politischen Utopie zu.3 Noch deutlicher kam das Interesse der Liberalen an Amerika in der Paulskirche zum Ausdruck, als viele von ihnen die „amerikanischen Ideale" der Gründungszeit, die Republik, den Parlamentarismus und die Demokratie in der Paulskirche zu verwirklichen glaubten.4 In dieser Auseinandersetzung mit Amerika sind Konturen einer parteipolitischen Herangehensweise erkennbar, sie unterscheiden sich aber fundamental von der Si3 Zum prägenden Einfluss der amerikanischen Verfassung auf das liberale Verfassungsdenken im Vormärz vgl. Moltmann , Günter, Atlantische Blockbildung im 19. Jahrhundert. Die Vereinigten Staaten und der deutsche Liberalismus während der Revolution von 1848/1849, Düsseldorf, 1973, S.40 und S.208. Angermann , Erich, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild, in: Historische Zeitschrift, 219 (1974), S.21. Boldt, Hans, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen von 1849 und 1871, in: Wellenreuther, Hermann/ Schnurmann, Claudia (Hrsg.), Krefelder Historische Symposien. Deutschland und Amerika, Oxford/New York, 1991, S. 297-333. Wellenreuther , Hermann, Die USA. Ein politisches Vorbild der bürgerlich-liberalen Kräfte des Vormärz, in: Elvert, Jürgen/Salevski Michael (Hrsg.), Deutschland und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert. Transatlantische Beziehungen, Stuttgart, 1993, S. 23-41. Franz Lieber, ein nach Amerika ausgewanderter deutscher Liberaler fasste die Eindrücke seiner ersten Jahre in Amerika in seinem 1834 veröffentlichten Buch „Letters to a Gentleman in Germany" zusammen. Für Lieber lag die große Bedeutung der Vereinigten Staaten in ihren Institutionen, die diejenigen „Lebensprinzipien" verwirklicht hätten, die im Grunde jeder politischen Gesellschaft lägen. Die Vereinigten Staaten waren für ihn damit eine funktionierende Gesellschaft, die sich im Gegensatz zu den aristokratischen Gesellschaften Europas eine neue Gesellschaftsordnung, frei von privilegierten Klassen, gegeben habe. Vgl. Schäfer , Peter, Facetten des europäischen Amerikabildes um 1830, in: Schäfer, Peter (Hrsg.), Franz Lieber und die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, Böhlau, 1993, S. 155-156 und Lenel, Edith, Das Amerikabild von vier Deutschen im frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 20 (1969), S.411-414. 4 Vgl. Moltmann , Günter, Die USA und die deutsche Einheit 1848/49 und 1870/71, in: Wolfgang, Friedrich (Hrsg.), Die USA und die deutsche Frage 1945-1990, Frankfurt, 1991, S. 43-57 und ders., The American Constitutional Model and German Constitutional Politics, in: The United States Constitution. The First 200 Years, Manchester, 1989, S. 57-73.
1. Fragestellung und Methode
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tuation nach 1890. Gewiss spielten bereits im Vormärz die ideologische Ausrichtung des Beobachters und seine machtpolitischen Interessen eine wichtige Rolle bei der Bewertung Amerikas, doch weder waren die Strukturen der Parteien als politische Machtträger ausgebildet noch stand das wirtschaftliche Wachstum der Vereinigten Staaten oder ihre außenpolitische Bedeutung zur Debatte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich die Sachlage. Amerika etablierte sich zusehends als Großmacht und berührte durch sein politisches Auftreten und seine wirtschaftliche Stärke in immer größerem Maße die Interessen der deutschen Parteien, sodass es um 1900 nicht mehr nur eine Projektionsfläche für Amerikabewunderer oder den Sammelbegriff für Amerikaverächter darstellte, sondern zunehmend als eine wirtschaftliche, politische und militärische Macht gesehen wurde. Noch bevor Amerika als politische Größe wahrgenommen wurde, erhielt das wirtschaftliche Wachstum in Amerika große Aufmerksamkeit von den Zeitgenossen. Es waren nicht nur die Daten und Zahlen der wirtschaftlichen Entwicklung Amerikas seit dem Bürgerkrieg, die die deutschen Beobachter beeindruckten, sondern auch das beginnende wirtschaftliche Hinausgreifen der Vereinigten Staaten über die eigenen Grenzen und die wachsende Konkurrenz gegenüber Deutschland.5 In den späten 1880er Jahren erhielt die Außenwirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten, so zumindest in den Augen der Zeitgenossen in Deutschland, eine aggressive Stoßrichtung. Eine Kehrtwende zum Protektionismus und eine unter dem Stichwort des „Panamerikanismus" auf Vergrößerung des Einflussgebietes in Latein- und Südamerika gerichtete Politik sorgten für zunehmende Konflikte, zunächst wirtschaftlicher Natur, zwischen Deutschland und Amerika. 6 Viel beunruhigender für die Beobachter in Deutschland waren jedoch die tatsächlichen wirtschaftspolitischen Schritte der Vereinigten Staaten. In den Jahren von 1890 bis 1897 erließ Amerika drei neue, für ausländische Einfuhren geltende Tarife, die die deutsche Konkurrenz besonders scharf trafen. Die darin enthaltenen Reziprozitätsklauseln tangierten das nach wie vor geltende Meistbegünstigungsverhältnis zwischen Deutschland und Amerika und schufen eine rechtlich anfechtbare und 5 Die Zahl der Arbeitskräfte stieg von 6 Millionen im Jahre 1870 bis auf 30 Millionen um 1900. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zeigten alle volkswirtschaftlichen Indikatoren steil noch oben. Der Wert produzierter Güter stieg von ungefähr 3 Mrd. Dollar 1870 auf über 13 Mrd. Dollar im Jahr 1900, das Bruttosozialprodukt verdreifachte sich zwischen 1869 und 1896, das Nationalvermögen wuchs von 1860 bis 1900 um 550 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen von 1860 bis 1890 um 150 Prozent, das Nettoeinkommen der Industriearbeiter in selben Zeitraum um 50 Prozent. Vgl. Wright, ehester W., Economic History of the United States, New York, 1989, S. 519 ff. und S. 627 ff. Lipsey, Robert E., U. S. Foreign Trade and the Business of Payments, in: Engermann, Stanley L./Gallmann, Robert E. (Ed.), The Cambridge Economic History of the United States. Cambridge, 2000, Vol. 2 S. 685-732 und Faulkner, Harold U., The Decline of Laissez Faire, New York/London, 1989, S. 135ff. und S.220ff. 6 Vgl. Fiebig-von Hase, Ragnhild, Lateinamerika als Konfliktherd der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1890-1903. Vom Beginn der Panamerikapolitik bis zur Venezuelakrise von 1902/03, Göttingen, 1986, S. 272ff. und Jonas, Manfred, The United States and Germany. A Diplomatie History, Ithaca/London, 1975, S.37ff.
14
Einleitung
für Deutschland ungünstige Handelslage.7 Dennoch entwickelte sich Amerika in den neunziger Jahren zum zweitwichtigsten Handelspartner des Deutschen Reiches nach Großbritannien, die amerikanischen Einfuhren nach Deutschland stiegen von 1890 bis 1903 um 86 Millionen Reichsmark auf 194 Millionen, umgekehrt stieg der deutsche Export nach Amerika von 99 Millionen im Jahr 1890 auf 120 im Jahre 1903.8 In Deutschland mehrte sich der Eindruck, Amerika entwickle sich zu einem gefährlichen Konkurrenten. Die Sorge, die Wettbewerbsfähigkeit Amerika gegenüber zu verlieren, die Kontrolle über den heimischen Markt aufgeben zu müssen und auf dem Weltmarkt ins Hintertreffen zu geraten, wuchs zunehmend im Verlauf der 1890er Jahre, bis sie um die Jahrhundertwende unter dem Schlagwort der „amerikanischen Gefahr" die politische Landschaft in Deutschland gänzlich erfasste. Amerika erschien umso gefährlicher, als es sich in einem rasanten Tempo an die Spitze der Industrienationen zu setzen und durch technische Entwicklungen, Kapitalkraft und moderne Arbeitsweisen die Länder Europas abzuhängen drohte.9 Hand in Hand mit den wirtschaftspolitischen Maßnahmen und der neuen wirtschaftlichen Stärke ging ein außenpolitisches Engagement Amerikas, das sich zusehends in der westlichen Hemisphäre manifestierte. Der Anspruch der Vereinigten Staaten, unter dem Begriff der Monroe-Doktrin einen Teil der Welt für sich zu reklamieren, trug wesentlich zur Abrundung der Wahrnehmung des amerikanischen Aufstiegs zur Weltmacht in Deutschland bei. Den entscheidenden Punkt in der politischen Entwicklung der Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht machten die Zeitgenossen im spanisch-amerikanischen Krieg und der darauf folgenden Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik aus. Dieser Krieg führte ihnen vor Augen, dass Amerika willens und in der Lage war, eigene Interessen notfalls mit Gewalt und gegen eine europäische Macht zur Geltung zu bringen. Der spanisch-amerikanische Krieg markierte für viele in Deutschland den Beginn einer „imperialistischen Außenpolitik" der Vereinigten Staaten. Das Engagement Amerikas auf den Philippinen und auf Samoa, die Beanspruchung Lateinamerikas, die Politik der „offenen Tür" in China und die Neuinterpretation der MonroeDoktrin durch Theodore Roosevelt schienen diese Befürchtungen zu bestätigen.10 7
Preußen schloss bereits 1785 einen Freundschafts- und Handelsvertrag mit den USA ab. 1828 wurde der Vertrag modifiziert, er garantierte den Vereinigten Staaten die Meistbegünstigung, seine letzte Form blieb die Handelsgrundlage bis 1907. Vgl. Doerries , Reinhard, Kaiserreich und Republik. Deutsch-amerikanische Beziehungen vor 1917, in: Trommler, Frank (Hrsg.), Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer dreihundertjährigen Geschichte, Opladen, 1986, S. 354. 8 Vgl. Fiebig-von Hase, Ragnhild, Die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen 1890-1914, im Zeichen von Protektionismus und internationaler Integration, in: Amerikastudien, 33 (1988), S.331 und Schröder , Hans-Christoph, Ökonomische Aspekte der amerikanischen Außenpolitik, in: Neue Politische Literatur, 17 (1972), S.301. 9 Zum beginnenden „Taylorrism" und „Fordism" Vgl. Hughes , Thomas R, Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg in den USA seit 1870, München, 1991, S. 193-211. 10 Vgl. McCormick , Thomas J., China Market. America's Quest for Informal Empire, 1893-1901, Chicago, 1967 und ders., Inselimperialismus und »Offene Tür'. Der chinesische
1. Fragestellung und Methode
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Die neue weltpolitische und wirtschaftliche Rolle Amerikas ließ die Beschäftigung mit Amerika um die Jahrhundertwende in eine neue Dimension steigen. Zahllose Äußerungen, wissenschaftliche Kommentare und politische Bewertungen zu allen Aspekten des sozialen, politischen und ökonomischen Lebens der Vereinigten Staaten begleiteten ihr Auftreten und Gebaren, auch seitens der Parteien. Zu Beginn der 1890er Jahre waren die deutschen Parteien organisatorisch und strukturell voll funktionsfähig und vertraten klare interessenpolitische, zum Teil ideologische Standpunkte und standen sich als innenpolitische Gegner gegenüber. Die konservativen und die liberalen Parteien, die Sozialdemokratie und das Zentrum waren alle seit 1890 im Reichstag vertreten und gestalteten die innenpolitischen Verhältnisse im Deutschen Reich mit. Als politisch handlungsfähige Akteure und organisatorisch in festen Strukturen agierten die politischen Parteien als voneinander unterscheidbare Subjekte. Dennoch bedeutet diese Tatsache alleine noch nicht automatisch eine intensive Wahrnehmung eines fremden Gegenstandes. Dieser muss die Interessen der Parteien tangieren, er muss eine Rolle für ihre politische Entfaltung spielen und sie mit positiven oder negativen Folgen konfrontieren. Dieser Logik folgend entstand eine sehr partielle, dem ersten Anschein nach unvollständige Wahrnehmung Amerikas durch die Parteien. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Parteien, wenn sie von Amerika oder der amerikanischen Politik sprachen, oft meinten, was Amerika für die eigene Interessenlage oder politische Betätigung bedeutete. Die deutschen Parteien wurden mit einem Phänomen konfrontiert, das sie sowohl in ihrem Selbstverständnis herausforderte als auch von ihnen konkrete Antworten auf konkrete politische Ereignisse verlangte. Durch ihre politische Wirkung und politischen Aktivitäten wurden die Vereinigten Staaten von den deutschen Parteien als eine Machtgröße, aber auch als ein soziales und politisches Gebilde bewertet. Fragen nach der Staats- und Regierungsform der Vereinigten Staaten und ihrer sozialen Beschaffenheitflössen in die Bewertung der amerikanischen Politik ein. Alle Parteien des Kaiserreichs gingen dabei von einem vorgeprägten, gar vorgegebenen ideologischen Hintergrund aus und versuchten mit ihren Denkstrukturen und ihren weltanschaulichen Mustern dem Phänomen „Amerika" zu begegnen. Viel stärker jedoch als die ideologische Vorprägung bestimmten die Interessen und die politische Ausrichtung der Mitglieder, Wähler und der führenden Parteipolitiker die Perzeption Amerikas. So fanden Teilbereiche des amerikanischen Lebens, die die deutschen Eliten der Jahrhundertwende sehr beschäftigten, wie Bildung, Religion oder die Rolle der Frau, nur wenig Anklang bei den politischen Parteien, umso mehr aber wirtschaftliche und politische Themen, die die politische Ausrichtung der Parteien unmittelbar berührten. 11
Markt und der spanisch-amerikanische Krieg, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.), Imperialismus, Köln, 1970, S. 400-414. 11 Fragen nach Bildung, Religion oder der Stellung der Frau fanden dagegen beachtlichen Eingang in die zeitgenössische Publizistik, z. B. Voechting, Fritz, Über den amerikanischen Frauenkult, Jena, 1913. Lessing, Otto E., Eine amerikanische Frauenhochschule, in: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 98 (1905), S.709-716. Müller, Wilhelm, Amerikanisches Volksbildungswesen, Jena, 1910. Bosse, Georg, Die kirchlichen Verhältnisse in den Ver-
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Einleitung
Bei der Bewertung der Politik der Vereinigten Staaten hatten die Parteien stets die eigene Klientel und die eigene Parteibasis im Hinterkopf. Vor diesem Hintergrund überrascht die sehr unterschiedliche Bewertung der amerikanischen Politik nicht, gingen doch die Parteien von sehr unterschiedlichen Standpunkten aus. Es überrascht ebenso wenig, dass ausgesuchte Teile amerikanischer Politik und Amerikas besonders intensiv in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten. Die ideologischen Vorprägungen, die politischen Positionierungen der Parteien im Kaiserreich und die von ihnen vertretenen Positionen bildeten den Rahmen, vor dem sie die amerikanische Politik und Amerika wahrnahmen und bewerteten. Nicht immer trat eine Partei als Ganzes in Erscheinung, oft erhoben nur diejenigen Elemente ihre Stimme, die sich von Amerika besonders herausgefordert fühlten. Aus diesem Grund fällt die Gewichtung der ausgewählten Themen unterschiedlich aus. Gewiss gab es politische Schritte und Entscheidungen der Vereinigten Staaten, die alle politischen Parteien betrafen. Wenn es um die amerikanische Außenwirtschaftspolitik ging, mussten sie alle Stellung beziehen, schon alleine aus der Tatsache heraus, dass sie nach der Reichsverfassung und nach dem ihnen darin zugestandenen Budgetrecht Wirtschaftsverträgen zustimmen mussten. Selbst an dieser Stelle jedoch variierte die Intensität ihrer Auseinandersetzung mit der amerikanischen Politik entsprechend der eigenen Einschätzung der amerikanischen Politik als relevant für die eigene Position. Besonders zum Tragen kommen an dieser Stelle die Interessen und die politischen Standpunkte der Parteien. Sie alle vertraten bestimmte gruppen- oder klientelspezifische Belange, die durch die amerikanische Politik tangiert wurden. Die Deutschkonservative Partei, als die entschiedenste Vertreterin agrarischer Interessen im Kaiserreich, mit dem Bund der Landwirte an der Seite, spürte die amerikanische Konkurrenz am deutlichsten.12 Bei der Wahrnehmung der amerikanischen Politik kam die agrarische Ausrichtung der Partei besonders deutlich zum Ausdruck. Führende Parteipolitiker wie Kanitz, Wangenheim oder Roesicke waren ebenfalls Mitglieder des Bundes der Landwirte, sie bestimmten weitgehend die Diskussion zu Amerika und der amerikanischen Politik. 13 Neben der agrarischen Inteeinigten Staaten von Amerika, Stuttgart, 1905 und Haupt, Hans, Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Gießen, 1909. 12 Zum Bund der Landwirte vgl. die ältere Arbeit von Puhle aber auch neuere Veröffentlichungen. Puhle, Hans-Jürgen, Agrarische Interessen und preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich 1893-1914. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover, 1967, S. 175 ff. Eley, Geoff, Antisemitismus, agrarische Mobilisierung und die Krise der Deutschkonservativen Partei. Radikalismus und seine Eindämmung bei der Gründung des Bundes der Landwirte, 1892-1993, in: Eley, Geoff (Hrsg.), Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, München, 1991, S. 174-208 und Altenhoff, Rita. Agrarbewegung und Agrarpolitik in Preußen 1890-1894, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 43 (1995), S. 799ff. 13 Die Deutschkonservative Partei konnte zwar nach wie vor Vertreter der Schwerindustrie in ihren Reihen beheimaten, Beuchelt von Grünberg, ein schlesischer Industrieller, oder Graf von
1. Fragestellung und Methode
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ressenlage wirkte aber auch die antiliberale und antikapitalistische Ideologie des Bundes, welche Teile der Deutschkonservativen Partei ergriffen hatte, bei der Wahrnehmung Amerikas mit. Eine Ablehnung des Liberalismus, der Bürgerlichkeit und des Kapitalismus vermischte sich mit einem diffusen Hass auf alles als bedrohlich empfundene Fremde, das in die ländliche Lebensweise einzudringen versuchte.14 Die zweite konservative Partei, die Frei- bzw. Reichskonservative Partei fällt in der Stärke ihrer Perzeption der amerikanischen Politik im Vergleich zu den Deutschkonservativen deutlich ab. Sie bekam zwar nach den Wahlen von 1893 ein durchaus agrarisches Gesicht, das Thema Amerika beherrschte die Partei in ihrer sehr heterogenen, lockeren Zusammensetzung und der personellen als auch organisatorischen Unzulänglichkeit aber nur punktuell.15 Auch wenn einer ihrer Wortführer, Wilhelm von Kardorff, zu einem lautstarken Kommentator und Kritiker der amerikanischen Politik wurde, fehlten den meisten Äußerungen aus den Reihen der Freikonservativen Partei zu Amerika der ideologische Impetus und die Aggressivität der Agrarier der Deutschkonservativen Partei. Durch die amerikanische Außen- bzw. Außenhandelspolitik waren auch die Interessen des Zentrums und der Nationalliberalen Partei berührt. Das Zentrum hatte in seiner sehr heterogenen Ausrichtung ebenfalls eine agrarische Flanke, in der Nationalliberalen Partei dominierten die Belange der Industrie bzw. Schwerindustrie. Unter dem Dach des Katholizismus vereinte die Zentrumspartei sehr divergierende Interessen, kleinere Bauern aus Schlesien, Westfalen und Bayern gehörten ebenso zu ihren Mitgliedern wie Unternehmer, Intellektuelle und katholische Arbeiter. 16 Die heterogene Zusammensetzung des Zentrums und seine divergierende Haltung zu Wirtschaftsfragen lässt die Wahrnehmung Amerikas etwas unklar und verworren erCarmer waren gar Mitglieder des Central Verbandes Deutscher Industrieller, diese waren jedoch für die Positionierung der Partei in Bezug auf die amerikanische Politik bedeutungslos. Vgl. Stegmann, Dirk, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Späthphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln, 1970, S.64. 14 Vgl. Blackbourn, David, Peasants and Politics in Germany, 1871-1914, in: European History Quarterly, 14 (1984), S.53ff. Puhle, Interessenpolitik, S.83ff. undRetallack, James N., Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918, Boston, 1988, S. 102. 15 Die Freikonservativen begnügten sich mit Wahlaufrufen und öffentlichen Aussagen zu Sachthemen, aber auch eine prinzipielle Abneigung gegen ein Programm spielte eine Rolle. Freikonservative verstanden sich als Gegner jedes theoretischen Weltzugangs, eine Pflicht zur Programmatik widerstrebte dem. Der Prozentanteil der Partei sank von 9,8 im Jahr 1887 auf 6,7 im Jahr 1890 und kontinuierlich weiter auf 3,5 im Jahr 1903. Vgl. Alexander, Matthias, Die Freikonservative Partei 1890-1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf, 2000, S.32 und S.216 und Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland 1789-1945, in: Fricke, Dieter (Hrsg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd.4 Leipzig, 1983-86, S.561. 16 Vgl. Loth, Wilfried, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf, 1984, S.72 und Morsey, Rudolf, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch, 90 (1970), S. 34 ff. 2 Czaja
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scheinen. Teile der Zentrumspartei aus dem Rheinland und Westfalen, die sich von der amerikanischen Konkurrenz besonders betroffen fühlten, reagierten aber in ähnlich scharfer Weise auf die Politik der Vereinigten Staaten wie die Agrarier der konservativen Parteien. 17 Agrarische und industrielle Interessen diktierten auch zu einem großen Teil die Amerikaperzeption der Nationalliberalen. Die Nationalliberale Partei setzte sich zwar gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus unterschiedlichen protestantischen und bürgerlich-bäuerlichen Milieus zusammen, wurde aber immer stärker von großindustriellen und teils großagrarischen Interessen dominiert. Diese sichtbaren Stoßrichtungen ihrer Politik verdeckten jedoch nicht die regionale Vielfalt und Heterogenität der Interessen der Partei. Sie trat aber in ihrer Erscheinungsform als eine protektionistische, großindustrielle und teils großagrarische Partei mit einer unbedingten Unterstützung der deutschen Großmachtpolitik, des Imperialismus und der Flotte auf. Die personelle Zusammensetzung der Führungsriege entsprach ihrer Nähe zu Großindustrie und Landwirtschaft. Friedrich Hammacher, Vorsitzender der Partei von 1898 bis 1904, war ein Schwerindustrieller aus dem Rheinland, Heyl zu Herrnsheim und Graf Oriola, zwei gewichtige Stimmen in der Bewertung der amerikanischen Politik, waren Großagrarier. 18 Gehörten die Mitte-Rechts-Parteien aufgrund ihrer Interessenlage zu den Gegnern der amerikanischen Außenwirtschafts- und Außenpolitik, sahen Sozialdemo17 Zur Haltung des Zentrums in Wirtschaftsfragen vgl. Stegmann, Die Erben Bismarcks, S. 29. Blackboum, David, The Problem of Démocratisation. German Catholics and the Role of the Center Party, in: Evans, Richard J. (Ed.), Society and Politics in Wilhemine Germany, London, 1978, S. 161 ff. Mittman, Ursula, Fraktion und Partei. Ein Vergleich von Zentrum und Sozialdemokratie im Kaiserreich, Düsseldorf, 1976, S.95ff. Müller, Klaus, Zentrumspartei und agrarische Bewegung im Rheinland 1882-1905, in: Repgen, Konrad (Hrsg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach von 10. April 1964, Münster, 1964, S. 834 und S. 841 und H enden, David, The Center Party and the Agrarian Interest in Germany, 1890-1914, Diss. Emory University, 1976, S.37 und 102. 18 Von den Zeitgenossen wurde die Nationalliberale Partei eher mit einer konservativen als einer liberalen Partei in Verbindung gebracht. Hammacher löste 1898 Arthur Nobrecht an der Parteispitze ab, in der Reichstagsfraktion führte Bennigsen die Nationalliberalen von 1887 bis 1898, gefolgt von Emst Bassermann bis 1903. Führende Nationalliberale waren Mitbegründer oder prominente Mitglieder zahlreicher, die Weltmachtpolitik unterstützender Verbände wie dem Alldeutschen Verband, dem Flottenverband oder dem Deutschen Kolonialverband. Der Centraiverband Deutscher Industrieller stand der Nationalliberalen sehr nah, auch der Bund der Landwirt versuchte seinen Einfluss in der Partei zu stärken. Vgl. Pohl, Karl, Die Nationalliberalen - eine unbekannte Partei, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 3 (1991), S. 103. Langewiesche, Dieter, Liberalismus in Deutschland, Franfurt, 1988, S. 193. Zur sozialen Zusammensetzung der Partei ebd., S. 129. Best, Heinrich, Elite Structure and Regime. Continuity in Germany 1867-1933. The Case of Parliamentary Leadership Groups, in: German History, (1990), S. 1-18. White, Dan S., The Splintered Party. National Liberalism in Hessen and the Reich, 1867-1918, Cambridge, Mass., 1976, S. 118 und Padtberg, Beate-Carola, Liberalismus zwischen Programmen und Koalitionen. Parteigründungen und Spaltungen im deutschen Liberalismus, in: Dülffer, Jost/Martin, Bernd/Wallstein, Günter (Hrsg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Berlin/Frankfurt, 1990, S.338.
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kraten und Linksliberale keine Gefahr für das deutsche Wirtschaftsleben durch eine „aggressive44 Handelspolitik der Vereinigten Staaten. Gewiss spielten sowohl bei den Linksliberalen als auch bei den Sozialdemokraten grundsätzliche Überlegungen zum Freihandel eine wichtige Rolle, aber nicht minder wichtig waren interessenbedingte Überlegungen.19 Prominente Linksliberale wie Theodor Barth oder Georg von Siemens waren im Außenhandel oder im Bankgeschäft tätig und profitierten von freiem Handel mit dem Ausland, gerade mit Amerika. Insgesamt stammte die Mehrheit der Mitglieder der linksliberalen Parteien aus Kreisen der Juristen, Kaufleute und Unternehmer aber auch Lehrer, Professoren und Staatsbeamten, viele von ihnen waren im exportabhängigen Gewerbe oder Banken tätig. 20 Als Vertreterin der Arbeiterklasse auf der anderen Seite gehörte es zu den grundlegenden politischen Anliegen der Sozialdemokratie, für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter zu kämpfen. Ein von Zollbestimmungen ungehinderter Warenaustausch mit den Vereinigten Staaten erleichterte ihrer Ansicht nach die Versorgung der Arbeiter mit billigeren Lebensmitteln, somit sahen die Sozialdemokraten auch in der amerikanischen Wirtschaftsstärke keine Konkurrenz, sondern eine Garantie für bezahlbare Versorgung der Arbeiter mit Grundnahrungsmitteln. Unter dieser Prämisse waren handelspolitische Streitigkeiten zwischen Deutschland und Amerika stets ein Hindernis eines gut funktionierenden Wirtschaftsverhältnisses zu Amerika, die es möglichst zu bereinigen galt, sollten die deutschen Arbeiter weiterhin in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt „bezahlbar44 zu gestalten.21 Neben dem Eintreten für einen ungehinderten Warenaustausch mit Amerika als Garantie für die Versorgung der Arbeiter mit billigen Lebensmitteln hatte die Sozialdemokratie ein besonderes Verhältnis zu Amerika. Das Ideal vom „Land der Freiheit" und die utopische Vorstellung von Amerika als einem Gegenentwurf zu den europäischen Monarchien diktierten um die Jahrhundertwende immer noch die Amerika19 Vgl. Blackbourn , David Evans (Ed.), The German Bourgeoisie. Essays in the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth Century to the Early Twentieth Century, London, 1991, S. 296-298 und Müller-Plantenberg, Urs, Der Freisinn nach Bismarcks Sturz. Ein Versuch über die Schwierigkeiten des liberalen Bürgertums, im wilhelminischen Deutschland zur Macht und politischem Einfluss zu gelangen, Berlin, 1971, S.68. 20 In den Augen der Zeitgenossen war der Freisinn die „Partei der Manchesterkapitalisten", ihnen wurde oft den Vorwurf gemacht, der „Diener des Kapitals" oder die „Judenschutztruppe" zu sein. Vgl. Thompson , Alastair, Left Liberais, the State, and Populär Politics in Wilhelmine Germany, Oxford, 2000, S. 30 und Müller-Plantenberg , Der Freisinn nach Bismarcks Sturz, S. 66. Ein Überblick über die Spaltungswirren der Linksliberalen findet sich u. a. bei Fenske , Hans, Deutsche Parteiengeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn, 1994, S. 119-128 und Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland, Lexikon zur Parteiengeschichte, S. 69-89 und S. 355-363. 21 Die Literatur zu dieser Fragestellung ist äußerst umfangreich. Vgl. u. a. Ritter, Gerhard, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn, 1992. Ders., Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München, 1990. Nonn, Christoph, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf, 1996, S.25 und Steinberg , Hans Josef, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin/Bonn, 1979, S. 109.
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Wahrnehmung vieler Sozialdemokraten. Die Ideale der früheren Sozialisten, die sozialistische bzw. sozialdemokratische Auswanderung nach Amerika und die Republikbegeisterung einiger Sozialdemokraten ließen Amerika immer wieder in einem besonderem Licht erscheinen.22 Unabhängig davon, aus welcher Interessenlage heraus eine Partei sich zu Amerika äußerte, ihre Bewertungen Amerikas und der amerikanischen Politik bewegten sich nicht in einem gesellschaftlich und weltanschaulich neutralen Raum. Es blitzte immer wieder die ideologische Ausrichtung der Partei in den Amerikadebatten auf: der Antikapitalismus der Deutschkonservativen oder des Zentrums, die weltanschauliche Nähe der Linksliberalen zu den Gründungsidealen der Vereinigten Staaten oder der von der Zukunftserwartung gekennzeichnete Zugang der Sozialisten zu Amerika. In einem vielleicht noch stärkerem Maße aber wirkte das zeitgenössische Amerikabild in die Reihen der Parteien hinein. Die im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert dominierende Vorstellung von Amerika als einem „Eldorado", einem Land des Überflusses, das mit „edlen Wilden" bevölkert war, ist im Amerikabild der Jahrhundertwende nicht mehr zu finden.23 Die im Vormärz und nach der Revolution von 1848 entstandenen Stereotypen vom Land der „Freiheit und Gleichheit" ohne Geschichtsballast, gleichzeitig aber auch von einem „bigotten, heuchlerischen und materialistischen" Wesen der Amerikaner und einem „kultur- und geschichtslosen" Land des „Pragmatismus und Materialismus" wirkten allerdings im ausgehenden 19. Jahrhundert weiter nach.24 22 Vgl. Moore , Lawrence R., European Socialists and the American Promised Land, New York, 1970, S.60. Kremp , Werner, In Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfängen bis zur Weimarer Republik, Münster, 1993, S. 413-443 und Hoerder, Dirk /Hartmut Keil, The American Case and the German Social Democracy at the Turn of the Twentieth Century, 1878-1907, in: Heffner, Jean/Rovet, Jeanine (Ed.), Why is there no Socialism in the United States?, Paris, 1998, S. 141-165. 23 Zur Verwendung des Topos vom „Edlen Wilden" in der Literatur wie z. B. in Shakespears „The Tempest". Vgl. Beneke , Jürgen, Amerika als mythischer Ort, in: ders., (Hrgs.), Aspekte amerikanischer Kultur, Zürich/New York, 1989, S.7-14. Zum Bild der Indianer und Schwarzen in Deutschland im 19. Jahrhundert. Vgl. Mauch, Christof, Zwischen Edelmut und Rohheit. Indianer und Schwarze aus deutscher Perspektive. Sichtweisen des 19. Jahrhunderts, in: Amerikastudien, 40 (1995), S. 619-636 ferner Dippel , Horst, Faszination und Wandel im europäischen Amerikabild. Vom Eldorado zum Paradigma, in: König, Hans-Joachim/Reinhard, Wolfgang/Wendt, Reinhardt (Hrsg.), Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der WirklichkeitsWahrnehmung, Berlin, 1989, S.87. 24 Noch im 18. Jahrhundert veröffentlichte Dietrich von Bülow sein Buch „Der Freistaat der Vereinigten Staaten in seinem neuesten Zustand". Bülow war verbittert, weil eine wirtschaftliche Spekulation in Amerika nicht aufging und er sein in Glaswaren angelegtes Kapital verlor, zudem konnte der Aristokrat der Einbeziehung der unteren Schichten durch das politische System in den Vereinigten Staaten nichts abgewinnen. Wichtiger jedoch ist seine Analyse der „Amerikaner". Er beschrieb sie als „bigott, heuchlerisch und materialistisch" und hielt damit vielleicht als erster in Deutschland das Stereotyp vom „materialistischen Amerikaner" fest. Bülow. , Dietrich, Der Freistaat von Nordamerika in seinem neuesten Zustand, Berlin, 1797 bei Grabbe , Hans-Jürgen, Die Amerikamüden und die Deutschlandmüden. Deutsche Amerikaperzeptionen im 19. Jahrhundert, in: Schäfer, Peter (Hrsg.), Franz Lieber, S. 186. Zum Amerika-
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Auch die Ambivalenz des Amerikabildes, die positiven Elemente in der Form des demokratischen Leitgedankens und die Ablehnung der „amerikanischen Ideale" blieben als Konstanten des Amerikabildes erhalten. 25 Es rückten aber gleichzeitig neue Komponenten, die das deutsche Amerikabild prägten, in den Mittelpunkt der Amerikabetrachtung. Das Anwachsen der wirtschaftlichen und politischen Stärke der Vereinigten Staaten, ihr Auftreten auf der Weltbühne und das Schlagwort der „Amerikanisierung" verlangten eine neue Bewertung Amerikas in Deutschland. Die Berührungspunkte beider Länder beschränkten sich nicht mehr nur auf theoretische Diskussionen über das amerikanische Verfassungsmodell oder auf die Bedeutung der Auswanderung, sondern nahmen konkrete Formen in der Wirtschaftspolitik und dem ökonomischen Einwirken der Vereinigten Staaten auf Deutschland an. 2 6 bild der deutschen Dichter der Romantik. Vgl. Fraenkel, Ernst, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens. Äußerungen deutscher Staatsmänner und Staatsdenker über Staat und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika, Köln, 1959, S. 107 und Diner, Dan, Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Eichborn, 1993, S.39 und S. 47. 25 Traditionell verurteilten konservative Kräfte die amerikanischen Ideale. Der konservative Göttinger Professor Johann Georg Ritter von Hülsemann, ein Anhänger Metternichs, machte es sich zur Aufgabe, die in Amerika herrschenden politischen Prinzipien zu bekämpfen. Die amerikanische Verfassung sei eine aus Vernunftsätzen abgeleitete Ordnung und widerspreche der feudalen Gesellschaftsordnung. Hülsemann rief ebenfalls dazu auf, die monarchischen Institutionen in Lateinamerika dem US-amerikanischen Einfluss zu entziehen, also indirekt zur Bekämpfung der späteren Monroe-Doktrin. Ludwig Gall verbreitete in seinem 1822 erschienenen Werk „Meine Auswanderung nach den Vereinigten Staaten" seine Amerikaenttäuschung. Neben den Reisebeschreibungen äußerte Gall eine scharfe Kritik an der amerikanischen Regierung und dem öffentlichen Leben. Die Regierung sei nichts anderes als eine „Krämerregierung", den Menschen sei das zentrale Anliegen das Geld, der Wert eines Menschen werde in Geld bemessen. Gall ging so weit zu vermuten, die amerikanische Revolution sei einzig aus finanziellen Erwägungen geführt worden. Hülsemann, Johann Georg, Geschichte der Demokratie in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Göttingen, 1823 und Gall, Ludwig, Meine Auswanderung nach den Vereinigten Staaten in Nordamerika im Frühjahr 1819 und meine Rückkehr nach der Heimat im Winter 1820, Trier, 1820. Vgl. dazu Grabbe, Die Amerikamüden, S. 187-188 und Ott, Ulrich, Amerika ist anders. Studien zum Amerikabild in deutschen Reiseberichten des 20. Jahrhunderts, Frankfurt, 1991, S. 79-88. 26 Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein spielte die Auswanderung eine wichtige Rolle in Amerikabüchern. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien eine ganze Reihe Reiseliteratur, die die Vorzüge Amerikas lobte oder vor einer Ausreise warnte. Zu den bekanntesten Werken zählten: Willkomm, Emst, Die Europamüden. Modernes Lebensbild, Leipzig, 1838. Kürnberger, Ferdinand, Der Amerika-Müde. Frankfurt, 1855 oder Gerstäcker, Friedrich, Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas von 1844, 5. Aufl. Berlin, 1903. Auch nach 1890 spielte das Thema „Auswanderung" nach wie vor eine Rolle in der Amerikaliteratur, allerdings häuften sich die Warnungen vor der Ausreise in das „gelobte Land". Mehrere Titel warnten vor der Täuschung, ein Paradies in Amerika zu finden. Die harte Arbeit, der amerikanische „Räuberstaat", Schwindler und Habsucht würden das Leben der Einwanderer erschweren. Z. B. Kanzleiter, Paul, Der Auswanderer und die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Nürting, 1895 oder der Ratgeber für Auswanderer nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Hrsg. von F. Cuntz, Bremen, 1889. Vgl. dazu Heibich, Wolf-
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Immer häufiger wurde ein Gegensatz zwischen dem „materialistischen Yankee" und einem europäischen „Kulturvolk" aufgestellt, das von einem amerikanischen, vor Kraft strotzenden Emporkömmling herausgefordert werde. In weiten Teilen des Bürgertums des Kaiserreichs herrschte die Überzeugung der eigenen kulturellen Überlegenheit gegenüber dem amerikanischen Kapitalismus. Der „Amerikaner" wurde auf den „Geschäftsmann" reduziert, der sein ganzes Leben, seinen Glauben und seine politische Tätigkeit dem Geschäftssinn opfert. Es ist auffällig, dass mit der zunehmenden Konkurrenz beider Länder in wirtschaftlicher Hinsicht und seit der Gründung des Kaiserreichs, der klaren konstitutionellen Divergenz, Amerikabilder eine betont starke Kontrastierung zum Inhalt haben. Immer häufiger erhielt das Amerikabild eine Komponente, die ein deutsches Äquivalent auszuschließen schien: Materialismus versus Kultur, Kirche versus Sekte, Idealismus versus Utilitarismus. 27 Unter diesen allgemeinen Voraussetzungen kann man dennoch nicht von einem einheitlich negativen Amerikabild der Kaiserzeit sprechen. Die vielen Träger des Amerikabildes, wie Reiseliteratur, fiktionale Texte, Auswanderer- und Fachliteratur und in immer größerem Maße die Presse, transportierten ein durchaus differenziertes Amerikabild. Reflexionen über das soziale und politische Leben in Amerika, über Geographie und Landeskunde, Nationalcharakter und die Stellung der Frau waren die inhaltlichen Themen. Presseberichte und das wissenschaftliche Schrifttum offenbarten die Bandbreite der Amerikaurteile im Kaiserreich. 28 Parallel zur Zunahme der wirtschaftlichen und weltpolitischen Bedeutung Amerikas wuchs das Interesse an wirtschaftlichen und politischen Vorgängen in Amerika und an ihren Auswirkungen für Europa und Deutschland. Die Zahl der wissenschaftlichen und politisch motivierten Veröffentlichungen zur amerikanischen Wirtschaftspolitik nahm von 1890 an stetig zu; sie erreichte um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt und blieb auf hohem Niveau bis zur Weimarer Zeit. Nationalökonomen wie Schmoller, Rathgen, Ernst von Halle oder Historiker wie Georg Fisk unterzogen seit ungefähr 1890 Amerika einer kritischen, zum Teil durchaus ausgewogenen Analyse. Die vielen Facetten dieser Erörterungen kreisten um die zentrale Frage der Bedeugang, Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das Amerikabild der deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert, in: Elvert/Salevski (Hrsg.), Deutschland und der Westen, S. 295-321. ders „Different, but not out of this world." German Images of the United States between two Wars 1981-1914, in: Barcley, David E. (Ed.), Transatlantic Images and Perceptions. Germany and America since 1776, Cambridge, 1997, S. 114ff. sowie Moltmann , Günter, Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, in: Trommler (Hrsg.), Amerika und die Deutschen, S.42ff. 27 Vgl. Engelsing , Michael, Deutschland und die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Eine Periodisierung, in: Die Welt als Geschichte, 2/3 (1958), S. 150 und Kamphausen , Georg, Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890, Göttingen, 2002, S.31. 28 Zur Reiseliteratur vgl. vor allem. Brenner , Peter J., Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Amerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen, 1991 zuletzt Schmidt, Alexander, Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin, 1997.
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tung der Vereinigten Staaten für Deutschland. Diese Diskussionen gipfelten in der Debatte der Jahrhundertwende über die „amerikanische Gefahr" und die Abwehrmöglichkeiten Deutschlands und Europas. Die Autoren grasten alle erdenklichen Aspekte des wirtschaftlichen Lebens Amerikas ab. Schwerpunktmäßig beschäftigten sie sich mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Vereinigten Staaten, behandelten aber auch Einzelfragen der verschiedenen Industriezweige und Wirtschaftsformen und widmeten sich in großem Maße den politischen und sozialen Themen in Amerika, wie der amerikanischen Verfassung oder dem Wesen der Parteien. Fragen nach der Demokratie, dem „Fortschritt" und der „Zukunft", Industrie, Kapitalismus und der „Dollarjagd" wurden zu festen Topoi der Amerikabeschreibungen um die Jahrhundertwende. 29 Einige auf Reisen entstandene Berichte fanden große Verbreitung und setzten über die Kaiserzeit hinaus amerikatypische Charakterisierungen fest. Max Goldberger etablierte mit seinem Titel „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten" einen bis heute gängigen Topos der Amerikawahrnehmung. 30 Als Goldberger sein Buch verfasste, hatte die Beschäftigung mit Amerika bereits eine neue Qualität in der deutschen Öffentlichkeit erreicht. Sicherlich trug die neue politische und wirtschaftliche Bedeutung der Vereinigten Staaten zu diesem Umstand entscheidend bei, aber auch der immer größer werdende Informationsfluss zwischen Amerika und Deutschland schärfte die Konturen des Amerikabildes. Verließ sich die Öffentlichkeit bis dahin weitgehend auf Informationen aus zweiter Hand, gewann nun die direkte Erfahrung mit Amerika an Bedeutung. Eine wachsende Zahl von Reisenden fasste ihre Erlebnisse und Beobachtungen in Buchform zusammen, der Professorenaustausch kurbelte die wissenschaftliche Auseinanderset29
Vgl. Becker, Winfried, Historische Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen, in: Archiv für Kulturgeschichte, 71 (19,89), S. 186. Schmoller oder Ernst von Halle haben sich besonders in der amerikakritischen Publizistik hervorgetan. Beide veröffentlichten regelmäßig im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich und in den Preußischen Jahrbüchern Abhandlungen zu amerikanischen Themen und Rezensionen zu Amerikabüchem. Unter den vielen Titeln seien an dieser Stelle einige Beispiele genannt z. B. Halle, Ernst, Baumwollproduktion und Pflanzungswirtschaft in den nordamerikanischen Südstaaten, Berlin, 1897 oder ders., (Hrsg.), Amerika. Seine Bedeutung für die Weltwirtschaft und seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland insbesondere zu Hamburg, Hamburg, 1905. Eine ausführliche Bibliographie zu amerikabezogenen Titeln aller Art bietet Eberhard, Fritz, Amerikaliteratur. Die wichtigsten seit 1900 in deutscher Sprache erschienenen Werke über Amerika, Leipzig, 1926. 30 Goldberger beschrieb Amerika als einen Hort der wirtschaftlichen Freiheit, in dem sich der „unternehmerische Geist" völlig frei entfalten könne. Er verhehlte nicht seine Begeisterung für die „gigantische Stärke" der Vereinigten Staaten und deren bevorstehende neue Stellung in der Welt. Goldberger, Max, Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Beobachtungen über das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin/Leipzig, 1903, S.2. Weitere viel gelesene Bücher waren Münsterbergers „Die Amerikaner" und Polenz' „Das Land der Zukunft". Münsterberger widmet sich in distanzierter Form allen für ihn relevanten Themen wie Wirtschaft, Arbeit, dem politischen System und der Gesellschaft. Polenz geht eher dem amerikanischen Nationalcharakter nach, aber auch gesellschaftlichen und politischen Themen wie Familie, Bildung oder den Parteien. Polenz, Wilhelm, Das Land der Zukunft, Berlin, 1903 und Münsterberger, Hugo, Die Amerikaner, Berlin, 1904.
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zung mit Amerika an, manche Zeitungen unterhielten einen Korrespondenten direkt in Amerika oder bezogen ihre Informationen von einem in Amerika lebenden Emigranten. Max Weber, Werner Sombart und Hermann Oncken bereisten Amerika oder hielten sich dort zu Studienzwecken auf, Publizisten wie Georg Skal berichteten regelmäßig für eine deutsche Zeitung, wie für die Vossische Zeitung oder die Magdeburger Zeitung. Es konnte jedoch bei weitem noch nicht von einer breiten Berichterstattung gesprochen werden, nach wie vor war der Informationsfluss gemessen an späteren Standards sehr schmal und die Kenntnis der Vereinigten Staaten begrenzt. 31 Das transportierte Amerikabild ging nun von einem eigenständigen Amerika aus, das eine von Europa politisch und kulturell unabhängige Entwicklung genommen hat und sich als Weltereignis eigener Art etablieren konnte. 3 2 In immer größerem Maße wurde das Einwirken Amerikas auf das Leben in Deutschland thematisiert und die Vereinnahmung sozialer und kultureller Lebensweisen durch Amerika beklagt, sodass ab der Jahrhundertwende i m Zusammenhang mit Amerika immer häufiger von „Amerikanisierung", „Amerikanismus" und „Modernisierung" gesprochen wurde. Die Palette der Zuordnungen und Definitionen, die diese Begriffe füllten, war außerordentlich groß, sie drehte sich um kulturelle und in viel größe31 Max Weber trug neben Karl Lambrecht, Ferdinand Tönnie und Ernst Troeltsch am Gelehrtenkongress in St. Louis 1904 vor. Hermann Oncken war in Chicago als Austauschprofessor tätig. Vgl. Rollman , Hans, Meet me in St. Louis. Troeltsch und Weber in Amerika, in: Lehmann, Hartmut/Roth, Günther (Hrsg.), Weber's Protestant Ethic: Origins, Evidence, Context, Cambridge, 1993, S. 357-383 und Brocke, Bernhard, Internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Der Professorenaustausch mit Nordamerika, in: Brocke, Bernhard (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das System „Althoff" in historischer Perspektive, Hildesheim, 1991, S. 204-210. 32 Sombart z. B. diagnostizierte in seinem Werk „Warum gibt es keinen Sozialismus in den Vereinigten Staaten" am deutlichsten die getrennten Wege, die Deutschland und die Vereinigten Staaten politisch und kulturell gingen. Den großen Widerspruch Amerikas sah Sombart in der Spannung zwischen der „kapitalistischen Hochkultur" und der „sozialistischen Unterentwicklung". Auch Max Weber attestierte Amerika eine selbständige Entwicklung. Die eigentliche revolutionäre Antriebskraft der Vereinigten Staaten sah Weber im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Er stellte die starke Aktivität der protestantischen Volksteile der Vereinigten Staaten in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In den puritanischen Sekten sah er eine „methodisch-rationale" Lebensführung im Dienste außerweltlicher Ideale, die Hand in Hand mit politischem und ökonomischem Idealismus, das gesamte Land zur wirtschaftlichen Suprematie führen würden. Vgl. Sombart , Werner, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus, Tübingen, 1906. Lenger , Friedrich, „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus". Werner Sombart, die deutsche Sozialwissenschaft und Amerika, in: Fiebigvon Hase, Ranghild/Heideking, Jürgen (Hrsg.), Zwei Wege in die Moderne. Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1900-1918, Trier, 1998, S. 105-115. Laslett, John H.M., Sombart and After. American Social Scientists Address the Question of Socialism in the United States, in: Heffner/Rovet (Ed.), Why is there no Socialism in the United States?, S. 37-54. Mommsen, Wolfgang, Die Vereinigten Staaten von Amerika im politischen Denken Max Webers, in: Historische Zeitschrift, 213 (1971), S. 358-381 und ders., Max Weber und die Vereinigten Staaten von Amerika, in: Fiebig-von Hase/Heideking (Hrsg.), Zwei Wege in die Moderne, S. 91-103.
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rem Maße um ökonomische Aspekte. Den Begriff „Amerikanisierung" machte wohl als erster der englische Schriftsteller William Stead einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Stead argumentierte kulturpolitisch, für ihn war die Amerikanisierung eine kulturelle Praxis, in der die soziale und ethnische Vielfalt in den Vereinigten Staaten zu einer einheitlichen Nation geformt wurde. Er definierte sie aber auch als Sammelbegriff für die in Amerika vorherrschende industrielle Moderne, die wiederum von einer Massengesellschaft nicht zu trennen sei, die von einer entmenschlichten Rationalisierung und trivialen Massenkultur dominiert werde. Die Diskussion über den amerikanischen Einfluss und das Wesen des „Amerikanismus" wurde immer stärker auch i m Zusammenhang mit der beginnenden „Modernisierung" bzw. „Globalisierung" geführt. Sie kreiste um einen möglichen fremden Einfluss auf traditionelle Gesellschafts- und Produktionsformen sowie Lebensverhältnisse, also auch um eine mögliche Auflösung nationaler Strukturen. 33 Der Begriff „Amerikanisierung" war jedoch in der Kaiserzeit nicht durchgehend negativ besetzt, manche zeitgenössischen Beobachter sahen in amerikanischen Produktionsweisen und Wirtschaftsformen durchaus ein Vorbild für Deutschland. Es überwog aber die Skepsis gegenüber einer durch Amerika verursachten Auflösung traditioneller Lebensweisen und des wachsenden amerikanischen Einflusses auf Deutschland und Europa. 3 4
33 Stead, William Th., The Américanisation of the World or the Trend of the Twentieth Century, London, 1901. Pells glaubt den Begriff Amerikanisierung bereits in den 1830er Jahren in Großbritannien und in den 1850er Jahren in ganz Europa ausgemacht zu machen. Vgl. Pells, Richard, European Images of America, in: Pells, Richard (Ed.), In Search of America. Transatlantic Essays, New York, 1991, S. 323. In den USA wurde der Begriff nach 1890 im Zusammenhang mit zunehmender Einwanderung als Schlachtruf nativistischer Gruppen für eine rasche Eingliederung neuer Einwanderer in die amerikanische Gesellschaft verwendet. Einen Höhepunkt erreichte die Amerikanisierungsbewegung im Ersten Weltkrieg, als im Jahr 1915 ein Americanization Day gefeiert und nach dem Kriegseintritt 1917 „Amerikanisierung" zum Staatsziel erhoben wurde. Eine weitere Bedeutung erlangte er in Amerika in den Auseinandersetzungen der katholischen Kirche um die Rolle der deutschen Elemente in der katholischen Kirche Amerikas im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Vgl. Gassert, Phillip, Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Europa, in: Archiv für Sozialgeschichte, 39 (1999), S. 532-538 und ders., Was meint Amerikanisierung? Über den Begriff des Jahrhunderts, in: Merkur, 54 (2000), S. 785-796. 34 Beispiele für eine negative Besetzung der Begriffe „Amerikanismus" und „Amerikanisierung" sind unter anderem die Technisierung der Gesellschaft, Wahlkorruption und Terminismus in Kulturfragen. Im historischen Schlagwörterbuch von 1906 von Otto Ladensdorf besagt die Definition von „Amerikanisierung", diese sei gleichzusetzen mit „Verjudung". Vgl. Brie, Friedrich, Die Anfänge des Amerikanismus, in: Historisches Jahrbuch, 59 (1938), S.352ff. Gassert, Amerikanismus, S. 331 ff. Liidtke, AlfIMarßolete, Ingt/Saldern, Adelheid. (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum oder Alptraum in Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart, 1996, Einleitung S. 9. Trommler, Frank, Aufstieg und Fall des Amerikanismus, in: ders., (Hrsg.), Amerika und die Deutschen, S.666. Diner, Antiamerikanismus in Deutschland, S.23. Lüdtke, Alf, Amerikanisierung - Sehnsucht und Schreckensvision im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Erfurter Beiträge zur Nordamerikanischen Geschichte, 3 (2001), (Online Ausgabe)
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Die relevanten Interessenlagen der Parteien, das Amerikabild der Kaiserzeit und der wahrgenommene Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht dienen als Koordinaten für die vorliegende Studie. Dennoch bleiben noch einige Felder bei der Festlegung der Fragestellung und der Methode abzustecken. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einer Perzeptionsgeschichte der Wahrnehmende einen viel größeren Raum einnimmt als das Wahrzunehmende; demzufolge kann der Schwerpunkt nur auf den Betrachter und seinen politischen, sozialen und ideologischen Hintergrund gelegt werden. Bei einer Arbeit zur Amerikaperzeption drängt sich als erster Befund bei den zu berücksichtigenden Parteien, ihr individueller und selektiver Zugang zu Amerika auf. Die sehr unterschiedlichen Interessen und die ideologische Ausrichtung der jeweiligen Partei machen diese sehr selektive Wahrnehmung Amerikas unumgänglich. Die Eigenheiten der Parteien spielen dabei die entscheidende Rolle, sodass zwei Parteien ein besonderes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten hatten, die Sozialdemokratie und das Zentrum. Beide Parteien zeichneten klare weltanschauliche Grundstrukturen aus, der katholische Glaube beim Zentrum und die sozialdemokratische bzw. sozialistische Weltanschauung der Sozialdemokratie. Diese Voraussetzungen zwangen sie, dem Sozialismus bzw. dem katholischen Glauben und der Stellung der katholischen Kirche in Amerika besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zusätzlich wurde das Interesse durch eine Vielzahl personeller Bindungen und Kontakte aufgrund katholischer und sozialdemokratischer Auswanderer nach Amerika genährt. Auch wenn die Themen „Sozialismus" und „Katholizismus" in Amerika nicht zum Sachverhalt des amerikanischen Aufstiegs zur Weltmacht gehören, lohnt es sich, einen gesonderten Blick auf diese zwei inneramerikanische Themen zu richten, der These folgend, dass bei einer Perzeptionsgeschichte der Betrachter die Themen diktiert, nicht das Objekt. 35 Auch wenn jede Partei einen spezifischen Zugang zu Amerika hatte, lassen sich dennoch zwei verbindende Themen feststellen. Der spanisch-amerikanische Krieg und die damit einhergehende Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik wurden von allen Seiten als ein Ereignis von „weltgeschichtlicher" Bedeutung betrachtet. Schließlich betrat Amerika in den Augen europäischer Beobachter damit neues außenpolitisches Terrain. Das zweite, für alle Parteien geltende Charakteristikum ihrer Amerikaperzeption war die Dominanz des Ökonomischen bei fast allen amerikabezogenen Themen. Die rasche Transformation Amerikas von einem Agrar- zu einem Industriestaat und der offensichtlich enorme wirtschaftliche und und Schumacher, Frank, Europäischer Amerikadiskurs zwischen kultureller und ökonomischer Amerikanisierungsangst - Ein Kommentar, in: ebd. 35 Vgl. Doerries, Reinhard, Iren und Deutsche in der Neuen Welt. Akkulturationsprozesse in der amerikanischen Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1986, S. 229ff. und Hoerder, Dirk/Hartmut, Keil, Deutsche Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Amerika-Wanderung und das Verhältnis zu den USA, in: Migration, Ausländerbeschäftigung und Gewerkschaften. Materialien des neunten Rostocker Migrationskolloquiums, Rostock, 1988, S. 19-37.
1. Fragestellung und Methode
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technologische Aufstieg warfen eine Fülle von Fragen auf, die die Parteien zu beantworten hatten. Es ging dabei nicht nur um die handelspolitischen Entscheidungen der Vereinigten Staaten, sondern auch um die Frage, inwieweit Amerika mit seiner Art des „Wirtschaftens", mit seiner Technologie und Kapitalkraft Deutschland bzw. Europa vereinnahmen könnte, in der Konsequenz also: „Wird Amerika Deutschland bzw. die Welt amerikanisieren". Um die Jahrhundertwende brach in Deutschland und Europa eine Diskussion über die „amerikanischen Gefahr" aus. Auf den ersten Blick sorgten sich Beobachter in Deutschland um die deutsche Konkurrenzfähigkeit auf den Drittmärkten und dem heimischen Markt; dieser Sorge lag aber der Gedanke zugrunde, ob Amerika Deutschland und Europa in ihrer Gesamtheit bedrohe. In dieser Diskussion fällt auf, dass der empfundene und immer stärker aufgebaute Gegensatz nicht alleine zwischen Deutschland und Amerika, sondern auch zwischen Amerika und Europa gezogen wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass im Rahmen der Diskussion um die „amerikanische Gefahr" die Mahner des Verlustes der deutschen Eigenständigkeit die Einheit Europas als eine mögliche Antwort auf die amerikanische Bedrohung beschworen. Der spanisch-amerikanische Krieg markierte eine für die Zeitgenossen noch schärfere Zäsur in der amerikanischen Außenpolitik. War Amerika bis dahin auf das Festland zentriert, schickte es sich nun an, so die Befürchtung, ein gewichtiges Wort in der Weltpolitik mitzureden. Auch wenn beide Themenbereiche Widerhall in allen Parteien fanden, fiel die Intensität der Perzeption dennoch unterschiedlich aus. Die Parteien nahmen eine Haltung entsprechend ihren politischen Interessen und weltanschaulichen Prämissen ein und untermauerten sie mit existierenden oder neu entstehenden Amerikabildern. Als weiteres Kriterium der Amerikaperzeption ist die Verwendung der amerikanischen Politik oder Amerikas als Argument und Modellcharakter im innenpolitischen Kampf festzuhalten. Auch wenn Amerika selektiv und interessenbedingt wahrgenommen wurde, so fiel es doch häufig in die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Parteien hinein, sei es als Folge einer politischen Entscheidung der amerikanischen Regierung oder in der Wirkung als ein staatliches und soziales Gebilde. Entsprechend der Haltung der Parteien zur amerikanischen Politik oder zu Amerika insgesamt und in noch größerem Maße zur deutschen Innen- und Außenpolitik wurde Amerika, bzw. ein Aspekt dessen, was der jeweilige Akteur mit Amerika in Verbindung brachte, entweder als Grund für Zustimmung oder Ablehnung der deutschen Politik angeführt. Ein Teil Amerikas wurde aus dem Bezugskontext losgelöst und autonom als ein innenpolitischer Kampfbegriff verwendet. So hatten es Sozialdemokraten sehr eilig, die Monroe-Doktrin und den amerikanischen Anspruch in der westlichen Sphäre anzuerkennen, nicht weil sie von der imperialistischen Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik überzeugt waren, sondern weil dies ihnen ein Argument lieferte, gegen die deutschen Absichten in Lateinamerika Front zu machen.
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Einleitung
Mit der Verwendung Amerikas als innenpolitischem Kampfbegriff ging sein Modellcharakter für die eigenen politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen einher. Schmidt hat in seiner Arbeit zum Amerikabild des deutschen Bürgertums im Kaiserreich erneut die „Modellfunktion fremder Gesellschaften" und der Funktion Amerikas als „Projektionsfläche" der Befindlichkeiten und Wünsche des Betrachters festgestellt. 36 Dieser Befund trifft ebenfalls, wenn auch nur in begrenztem Maße, auf die Parteien zu. Es steht außer Frage, dass ein Perzeptionsmuster einer Partei nur vor ihrem sozialen, ideologischen und politischen Hintergrund zu verstehen ist, ein automatischer Rückschluss auf einen Vorbildcharakter des betrachteten Objekts ist nicht immer zulässig. Im Falle der politischen Parteien wird dieser Sachverhalt an mehreren Beispielen sichtbar: Existierte eine langjährige weltanschauliche Nähe oder eine Erwartungshaltung hinsichtlich „Amerika", so wirkten diese weit in die Bewertung der amerikanischen Politik hinein. Einzelne Aspekte Amerikas und des amerikanischen Lebens fanden immer wieder Zustimmung und Anerkennung in der Öffentlichkeit und in den Parteien des Kaiserreichs und nahmen die Funktion eines „Modells" an. Aus den Reihen der politischen Parteien in Deutschland wiesen die linksliberalen Parteien und die Sozialdemokraten deutliche Merkmale der Aneignung Amerikas als „Modellfunktion" auf. Die weltanschauliche Nähe der Linksliberalen hatte eine Tradition seit dem Vormärz, die Kongruenz in Fragen der Staats- und Regierungsform, der wirtschaftlichen und persönlichen Freiheit hatten zwar um die Jahrhundertwende längst an Aktualität verloren, dennoch wirkte die „weltanschauliche Nähe" weiter nach. Für die Sozialdemokraten war das Diktum früherer Marxisten und Sozialisten von der „Zukunftsfähigkeit" Amerikas als erstem möglichen Kandidaten für eine sozialistische Revolution trotz der Rückschläge und Schwierigkeiten der amerikanischen Arbeiterbewegung und der Mythos vom „Land der Freiheit" um die Jahrhundertwende nach wie vor lebendig. Sicherlich war dies nur ein Element der sozialdemokratischen Wahrnehmung Amerikas, schließlich war Amerika ein erzkapitalistischen Land mit imperialen Tendenzen und verkörperte vieles von dem, was die Sozialdemokraten bekämpft haben; das „Warten auf die Zukunft" und die Hoffnung der republikanisch gesinnten Sozialdemokraten, in Amerika das Land der Freiheit zu finden, bildeten jedoch an vielen Stellen den Unterton der sozialdemokratischen Wahrnehmung der amerikanischen Politik. 37 Die selektive Wahrnehmung Amerikas, die Aneignung Amerikas für die eigenen politischen Ziele und die Wirkung Amerikas als Vorbildfunktion bildeten den Grundstock der Wahrnehmung Amerikas durch die politischen Parteien. 36 Vgl. Krakau , Knud, Einführende Überlegungen zur Entstehung und Wirkung von Bildern, die sich Nationen von sich und anderen machen, in: Adams, Willi P./Krakau, Knud (Hrsg.), Deutschland und Amerika. Perzeptionen und historische Realität, Berlin, 1985, S. 9-19. Brenner , Reisen in die Neue Welt. S. 258 ff. und Schmidt , Reisen in die Moderne, S. 27. 37 Einleitend vgl. Moore , European Socialists, S. 60. Henningsen , Manfred, Der Fall Amerika. Zur Sozial- und Bewusstseinsgeschichte einer Verdrängung. Das Amerikabild der Europäer, München, 1974, S.97 und Angermann, Erich, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild, in: Historische Zeitschrift, 219 (1974), S.21.
1. Fragestellung und Methode
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Hat man diese Felder abgesteckt, ergibt sich bei einer Perzeptionsgeschichte eine weitere Schwierigkeit. Amerika berührte die Interessen der Parteien, es forderte sie heraus und stellte sie vor die Aufgabe, auf die amerikanische Politik eine Antwort zu geben. Die Parteien mussten also konkrete politische Vorstellungen präsentieren, wie sie Amerika und der amerikanischen Politik zu begegnen gedachten. Sie mussten aber auch Amerika und seine Politik charakterisieren, Sprache und Bilder finden, um das Phänomen „Amerika" beschreiben zu können. Die zwei Handlungsebenen bedingen einander. Immer, wenn eine Partei ein Konzept zum Umgang mit einem bestimmten Feld der amerikanischen Politik vorstellte, untermauerte sie es mit gängigen, neuen oder von ihr modifizierten Amerikabildern. Es existierte jedoch kein Automatismus zwischen der Formulierung eines politischen Konzepts einer Partei hinsichtlich Amerikas und einem bestimmten Stereotyp oder Wahrnehmungsmuster. Dominierten die eigenen Interessen, bedienten sich Vertreter der Parteien eines als hilfreich empfundenen Amerikabildes, oder sie sahen umgekehrt in einer politischen Entscheidung Amerikas ein bereits existierendes Urteil bestätigt. Die Intention einer Äußerung zu Amerika oder des Gebrauchs eines Amerikabildes darf daher bei einer Perzeptionsgeschichte nicht aus dem Blickwinkel geraten. Bei einer Arbeit zur Perzeptionsgeschichte der Parteien muss die Aufgabe darin bestehen, diese beiden Aspekte, das Konglomerat aus parteipolitischen Interessen und Perzeptionsmustern, zu berücksichtigen und die verwendeten Bilder und Stereotypen anhand klar abgrenzbarer Interessenkonflikte plausibel zu machen. Dabei fällt es leichter, parteipolitisches Interesse zu benennen als ein Bild in all seinen Facetten und möglichen Verwendungen nachzuzeichnen. Dazu wäre eine Analyse der mentalen und Denkstrukturen aller Akteure nötig, eine Beschränkung auf ein Gesamterscheinungsbild einer Partei wäre ebenso wenig ausreichend, denn jede Äußerung eines einzelnen Parteipolitikers ist nicht nur im Zusammenhang mit seiner Partei zu verstehen, sondern ebenfalls vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrung und politischer Positionierung. Zudem wäre eine ausgereifte Analyse des sozialen, politischen und ideologischen Hintergrunds aller Beteiligten unumgänglich. Schließlich kann das gewonnene Bild nur bedingt an der Realität überprüft werden, es wäre ein zu umfangreiches Unterfangen, neben der Perzeptionsgeschichte in die Details der Diplomatie- bzw. Wirtschaftsgeschichte oder der Geschichte der inneramerikanischen Verhältnisse einzusteigen. Boris Barth weist in seiner kurzen Kritik der Perzeptionsforschung zu Recht darauf hin, dass eine solche „histoire totale" einen einzelnen Autor leicht überfordern könnte.38
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Vgl. Barth, Boris, Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die USA im Blick deutscher liberaler Finanzexperten vor 1914, in: König, Hans-Joachim/Rinke, Stefan (Hrsg.), Transatlantische Perzeptionen. Lateinamerika - USA - Europa in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart, 1998, S. 190 undRaeithel, Gerhard, Europäische Amerikaurteile im 20. Jahrhundert, in: Sprache im Technischen Zeitalter, 56 (1975), S. 333-341.
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Einleitung
Es muss aber dennoch die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, nach einer einführenden kurzen Darstellung der jeweiligen amerikanischen Politikfelder sich sowohl dem verwendeten „Bild" als auch dem Akteur zuzuwenden. Natürlich darf nicht vergessen werden, dass das gewonnene Bild stets ein Konstrukt war, ein konstruiertes und erdachtes Bild, ein Produkt einer Geistes-, einer persönlichen oder ideologischen Haltung.39 Das Herausarbeiten der verwendeten Bilder, Stereotypen und des Wahrnehmungsmusters und das Herausfiltern der Abgrenzungen zwischen den Parteien in ihrer Amerikaperzeption stellt eine der Hauptaufgaben dieser Arbeit dar. Sicherlich ist das jeweils verwendete Bild nicht von der politischen Positionierung einer Partei zu trennen, sodass sich die vorliegende Arbeit auch die Aufgabe stellen muss, der politischen Haltung einer Partei zu amerikanischen Themen nachzugehen. Dieser Schritt wäre jedoch unvollständig, wenn nicht eine Klärung der Träger des Amerikabildes erfolgen würde. Es lohnt sich insofern, einen genaueren Blick auf die interessenpolitische, ideologische Ausgangslage des Akteurs zu werfen und die Besonderheiten der jeweiligen Partei in ihrer Amerikawahrnehmung und ihrer Beziehung zu Amerika mitzubedenken. Eine Unterscheidung innerhalb einer Partei zwischen den Parteiflügeln oder Einzelpersonen erscheint an einigen Stellen ebenso sinnvoll, da eine kongruente Einstellung zu Amerika auch innerhalb einer Partei nicht immer vorhanden war. Am Ende eines Findungsprozesses präsentierte eine Partei in der Regel eine Antwort, wie sie der amerikanischen Politik zu begegnen beabsichtige, und wie sie Amerika einschätze. Sie stellte klare Forderungen und bewertete die amerikanische Politik entsprechend ihrer Interessenlage. Unter dieser Ebene wirkten aber verschiedene Zentrifugalkräfte, die oft die Gesamtwahrnehmung einer Partei zu prägen schienen. Einzelpersonen, ein Parteiorgan oder ein Parteiflügel bestimmten in vielen Fällen die Rhetorik der Wahrnehmung Amerikas. So trat z. B. die Kölnische Volkszeitung, ein Organ des rheinischen Zentrums, mit ihrer Amerikakritik als Vertreterin der agrarischen Interessen besonders hervor, obwohl das Zentrum als Ganzes ein durchaus differenziertes Verhältnis zur amerikanischen Wirtschaftspolitik hatte. Noch komplizierter gestaltete sich die Sachlage bei Einzelpersonen. An dieser Stelle spielten die persönliche Erfahrung und der persönliche Hintergrund manchmal eine wichtigere Rolle als die Parteizugehörigkeit. Diese Stimmen schienen das Gesamterscheinungsbild einer Partei zu konterkarieren, sie dürfen aber nicht ignoriert werden, auch auf die Gefahr hin, dass damit die Amerikaperzeption einer Partei heterogen und unschlüssig erscheint. Es soll dennoch der Versuch unternommen werden, aus dem Gemisch der vielen Stimmen einer Partei eine Struktur herauszufinden und die Haupttendenzen innerhalb einer Partei herauszufiltern. 39 Diese Kritik hat zuletzt Barth dargelegt. Vgl. Barth , Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, S. 188.
2. Forschungsstand und Quellen
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Schließlich bietet es sich als Nebenaufgabe an, das jeweilige Amerikabild einer Partei der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung Amerikas gegenüberzustellen. Die politischen Parteien und ihre Vertreter schöpften ihre Amerikabilder aus dem Gesamtfundus der Amerikawahrnehmung der Kaiserzeit, sie setzten neue Akzente oder interagierten mit den bereits existierenden und neu entstehenden Wahrnehmungsmustern. Ein Blick über Grenzen der Parteien erweist sich oft als gewinnbringend, da er die Möglichkeit bietet, ein Wahrnehmungsmuster einer Partei in den gesellschaftlichen Rahmen zu setzen und aufgrund parteifremder Stimmen zur Abrundung ihrer Amerikaperzeption beizutragen. Die vorliegende Studie muss sich aber auch gleichzeitig gegen eine Diplomatiegeschichte, eine Sozial- oder eine Parteiengeschichte abgrenzen, es handelt sich um eine Perzeptionsgeschichte, die ein politisches Konzept, das Bild und den Bildträger in den Mittelpunkt der Untersuchung stellt. Die Gliederung folgt der Intensität der Wahrnehmung der Parteien. Ihr Interesse an Amerika und das Ausmaß der Wahrnehmung diktiert die einzelnen Unterpunkte der Gliederung. Fragen nach der Außenwirtschaft, der wirtschaftlichen Stärke Amerikas und der Außenpolitik, bzw. der Rolle Amerikas in der Welt stehen im Mittelpunkt. Die „amerikanische Gefahr", der spanisch-amerikanische Krieg und die amerikanische Beanspruchung der westlichen Hemisphäre in der Form der MonroeDoktrin bilden die Hauptpunkte der Untersuchung. Ein gesonderter Blick auf die Wahrnehmung inneramerikanischer Verhältnisse zu Beginn der Arbeit drängt sich aufgrund des parteipolitischen Interesses in Deutschland auf.
2. Forschungsstand und Quellen In der geschichtlichen Forschung ragen bis heute drei Arbeiten hervor, die das Thema „Deutsche Parteien und Amerika" im Titel tragen. Thorsten Oppelland geht in seiner Dissertation der Haltung des Reichstags zur Politik der USA zwischen den Jahren 1914 und 1918 nach, und Hans-Jürgen Grabbe widmet sich dem Verhältnis der Unionsparteien und der Sozialdemokratie zu den Vereinigten Staaten zwischen 1945 und 1966. Beides anregende Arbeiten, jedoch schon allein von der zeitlichen Einordnung nur am Rande für die vorliegende Studie von Interesse.40 Von größerem Interesse für das Thema „Amerikaperzeption der Parteien im Kaiserreich" ist die Habilitationsschrift von Werner Kremp zum sozialdemokratischen Amerikabild. 41 Kremp stellt chronologisch und nach Parteiorganen bzw. Personen das jeweilige Amerikabild dar. Die Fülle des präsentierten Materials ist außerordentlich groß, die klare Unterscheidung nach Organen bzw. Personen innerhalb der 40 Oppelland, Thorsten, Reichstag und Außenpolitik im Ersten Weltkrieg. Die deutschen Parteien und die Politik der USA 1914-1918, Düsseldorf, 1995 und Grabbe, Hans-Jürgen, Unionsparteien, Sozialdemokratie und die Vereinigten Staaten von Amerika 1945-1966, Düsseldorf, 1983. 41 Kremp, Werner, In Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfängen bis zur Weimarer Republik, Münster, 1993.
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Einleitung
Sozialdemokratie lässt jedoch nur ein isoliertes Amerikabild entstehen und den parteiinternen als auch den außerparteilichen Diskurs vermissen. Kremp fragt in erster Linie nicht nach der Haltung der Sozialdemokraten zur amerikanischen Politik, sondern arbeitet die jeweiligen sozialdemokratischen Amerikabilder heraus. Auf der anderen Seite streifen einige andere Arbeiten für die Zeit des Kaiserreichs durchaus die Haltung der einzelnen Parteien zur amerikanischen Außenpolitik oder zu wesensverwandten Themen. Die umfangreiche Dissertation von Fiebig-von Hase widmet sich zwar in erster Linie den deutsch-amerikanischen Beziehungen, lässt aber den innenpolitischen Hintergrund nicht völlig außer Acht. Zwar konzentriert sich Fiebigs Arbeit nicht auf die politischen Parteien in Deutschland und berührt sie nur am Rande, dennoch liefert sie durch deren Einbeziehung als Faktoren der innenpolitischen Prozesse wertvolle Hinweise.42 Daneben existieren bereits einige Arbeiten, die sich dem Themenkomplex „deutsch-amerikanischer" Beziehungen des Kaiserreichs widmen und als Nebeneffekt punktuell die Haltung der Parteien berühren. 43 Von weitaus größerem Gewinn erwies sich die Habilitationsschrift von Sönke Neitzel zur „Dreiweltenlehre im Zeitalter des Imperialismus". Neitzel widmet sich der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Idee der Aufteilung der Welt in Weltreiche, die die Debatten über den ökonomischen und politischen Aufstieg der Vereinigten Staaten begleitete. Er geht der in der deutschen Öffentlichkeit verbreiteten Überzeugung nach, mit der Zunahme an weltpolitischer Bedeutung der Vereinigten Staaten werde die europäische Pentarchie durch ein Weltstaatensystem mit Amerika und eventuell Russland abgelöst. Auch wenn Neitzel sich nicht explizit den deutschen Parteien widmet und ein Thema bearbeitet, das nur einen Teilbereich der vorliegenden Studie betrifft, liefert seine Analyse der Debatte in Deutschland und anderen europäischen Ländern wertvolle Anregungen. 44 Eine Arbeit allerdings, die den Anspruch erhebt, der Haltung der Parteien zur amerikanischen Politik nachzugehen und die einhergehenden Amerikabilder herauszuarbeiten, ist in den großen Themenkomplex der Perzeptionsforschung Amerikas einzubetten. Die Beschäftigung mit dem Fragenkomplex Amerikabild, Perzeption Amerikas, Amerikanismus oder Antiamerikanismus kann inzwischen auf eine längere Tradition in der Geschichtswissenschaft mit reichlich angewachsener 42 Fiebig-von Hase, Ragnhild, Lateinamerika als Konfliktherd der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1890-1903. Vom Beginn der Panamapolitik bis zur Venezuelakrise 1890-1903, Göttingen, 1986. Auch das schon ältere Werk von Vagts greift gelegentlich auf die innerdeutschen Verhältnisse zur Klärung der deutsch-amerikanischen Beziehungen zurück. Vagts, Alfred, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, Bd. 2 New York, 1935. 43 Dazu zählen: Kaikkonen , Olli, Deutschland und die Expansionspolitik der USA in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung der Einstellung Deutschlands zur spanisch-amerikanischen Krise, Jyväskylän, 1980. Kennedy , Paul M., The Samoan Tangle. A Study in Anglo-German-American Relations, 1879-1900, New York, 1979 oder Pommerin , Rainer, Kaiser und Amerika. Die USA in der Politik der Reichsleitung 1890-1917, Köln/Wien, 1986. 44 Neitzel , Sönke, Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn, 2000.
2. Forschungsstand und Quellen
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Literatur zurückblicken. Besonderer Aufmerksamkeit erfreuen sich nach wie vor die Zeit der Weimarer Republik und die Jahre nach 1945. Einen Schwerpunkt vor allem für die Zeit nach 1918 bildet die Frage nach „Amerikanismus", „ A m e r i k a n i s i e rung" bzw. „Antiamerikanismus" sowie die Breite der Deutungsmöglichkeiten dieser Begriffe von einer synonymhaften Verwendung vor dem Ersten Weltkrieg für eine beginnende Internationalisierung und Globalisierung bis ihrer Auslegung i m Sinne des Transfers amerikanischer Ideale sowie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Eigenarten. 45 Ebenso großer Resonanz erfreut sich die Beschäftigung mit dem Amerikabild des 19. Jahrhunderts, wobei es nicht überrascht, dass die Fragestellungen kaum dem Phänomen der „Amerikanisierung" nachgehen, da diese Debatte erst gegen Ende des Jahrhunderts beginnt, sondern um die Herausstellung von Stereotypen, K l i schees und Wahrnehmungsmustern kreisen. Derartige Arbeiten haben zumeist Reiseberichte und Reisebücher, fiktionale und nichtfiktionale Texte sowie die Bandbreite der Presse als Quellengrundlage. Arbeiten älteren Datums beschränken sich oft auf die Zusammenstellung eines bunten Gemisches deutscher Amerikabilder ohne eine tiefgreifende Analyse des sozialen, politischen und ideologischen Hintergrunds der Träger des Amerikabildes oder ihre Einbettung in die jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten. 46 Allerdings entstanden in den letzten Jahren sehr gelunge45 Aus der Fülle der Veröffentlichungen sei an dieser Stelle nur auf wenige Titel hingewiesen. Für die Weimarer Zeit Nolan, Mary, Imaging America. Modernising Germany, in: Kniesche, Thomas/Brockmann, Stephen (Ed.), Dancing on the Volcano. Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia, 1994. Ders., Visions of Modernity. American Business and the Modemisation of Germany, New York, 1994. Berg, Peter, Deutschland und Amerika 1918-1929. Über das deutsche Amerikabild der zwanziger Jahre, Lübeck/Hamburg 1963. Lüdtge, Alf/Marloßek, Inge/Saldern, Adelheid (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart, 1996. Für das Dritte Reich und die Zeit nach 1945 vor allem Gassert, Phillip, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, Stuttgart, 1997 und Schildt, Axel, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist" in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg, 1995. Auch das Thema der Stellung Amerikas im politischen Denken des Vormärz und der Wechselwirkung zwischen liberalen Ideen, der Paulskirche und der amerikanischen Verfassung bzw. „amerikanischer Ideale" ist nach wie vor präsent. Zu den neueren Arbeiten zählen Brancaforte, Charlotte L., The German Forty-Eighters in the United States, New York/Frankfurt, 1989. Hochbruck, Wolfgang/Bachteler, Ulrich/Zimmermann, Henning (Hrsg.), Achtundvierziger, Forty-Eighters. Die deutsche Revolution von 1848, die Vereinigten Staaten und der Bürgerkrieg, Münster, 2000. Schäfer, Peter (Hrsg.), Franz Lieber und die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, Böhlau, 1993. Boldt, Hans, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen von 1849 und 1871, in: Wellenreuther Hermann/Schnurmann, Claudia (Hrsg.), Krefelder Historische Symposien. Deutschland und Amerika, Oxford/New York, 1991, S. 297-333 und Wellenreuther, Hermann, Die USA. Ein politisches Vorbild der bürgerlich-liberalen Kräfte des Vormärz', in: Elvert/Salevski (Hrsg.), Deutschland und der Westen, S. 23-41. 46 In dieser Reihe stehen Titel wie Hammerstein, Notker, Deutschland und die Vereinigten Staaten im Spiegel der führenden politischen Presse 1898-1906, Frankfurt, 1956. Deicke, Gertrud, Das Amerikabild der deutschen öffentlichen Meinung 1898-1914, Diss. Hamburg, 1956. Gerhards, Josef W., Theodore Roosevelt im Urteil der deutschen öffentlichen Meinung 1989-1914, Mainz, 1962 oder Thaler, Manfred, Studien zum europäischen Amerikabild. Dar-
3 Czaja
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Einleitung
ne Arbeiten, die nicht nur das jeweils vorherrschende Amerikabild darstellen, sondern Amerika ebenfalls in den zeitgenössischen Diskurs einordnen und einer tiefer gehenden Analyse der Wirkung des Amerikabildes nachgehen.47 Die in letzter Zeit erschienenen Arbeiten über die Zeit zwischen 1890 und 1914 stellen zunehmend Fragen nach der beginnenden „Amerikanisierung" bzw. „Modernisierung" oder der Erfahrung und kulturellen Interaktion mit Amerika. Sie eröffneten neue Perspektiven und regten die Diskussion um die Wirkung und Wahrnehmung Amerikas zusätzlich an. Auch wenn diese Arbeiten sich nicht mit den deutschen Parteien beschäftigen, so berühren sie doch Teilaspekte der Amerikaperzeption im Kaiserreich, die für die politischen Parteien von Bedeutung sind. Fragen nach der Fremdund Selbstwahrnehmung durch Interaktion mit einer fremden Gesellschaftsform und nach der Deutung des gesellschaftlichen Wandels der Jahrhundertwende betrafen nicht nur bürgerliche und gebildete Schichten, sondern tangierten ebenfalls die Parteien in ihrer Funktion als politische Akteure und soziale Organisationen.48 Aus der Fülle dieser Titel soll im folgenden auf drei Arbeiten, die inhaltlich und thematisch der vorliegenden Studie am nächsten liegen, etwas näher eingegangen werden. Mit dem Phänomen der „Amerikanisierung" beschäftigt sich eine vor kurzem erschienene Dissertation von Egbert Klautke: Amerika im Widerstreit. Vergleichende Untersuchungen zur Auseinadersetzung mit den Vereinigten Staaten in Deutschland und Frankreich während der „Klassischen Moderne". Klautke greift auf die von Detlev Peukert gelieferte Definition der „klassischen Moderne" für die Jahrzehnte von 1890 bis etwas 1930 zurück. Laut Peukert bildeten sich um die Jahrhundertwende gesellschaftliche, politische und ökonomische Grundstrukturen und -konflikte, die die Industriegesellschaften weit in das 20. Jahrhundert hinein prägten. Demnach hätte der „soziokulturelle Durchbruch der Moderne" in gleicher Weise die materielle Wirklichkeit und die sozialen Strukturen der Industriegesellschaften verändert Stellung und Beurteilung der Politik und inneren Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika in Großbritannien, Deutschland und Österreich im Vergleich zwischen 1840 und 1941, Diss. Graz, 1975. Gewinnbringend immer noch die Materialiensammlung von Fraenkel. Fraenkel, Ernst, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens. Äußerungen deutscher Staatsmänner und Staatsdenker über Staat und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika, Köln, 1959. 47 So z.B. Depkat, Volker, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789-1830. Hrsg. von Reinhart Koselleck und Karlheinz Stierle, Stuttgart, 1998 oder Brenner, Peter, Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen, 1991. 48 U. a. König, Hans-Joachim/Rmfe, Stefan (Hrsg.), Transatlantische Perzeptionen. Lateinamerika- USA - Europa in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart, 1998. Fiebig-von Hase, Ranghild/Heideking, Jürgen (Hrsg.), Zwei Wege in die Moderne. Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1900-1918, Trier, 1998. Wala, Michael¡Lehmkuhl Ursula (Hrsg.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Köln, 2000. Hilton, Sylvia L./Ickringill, Steve J. S. (Ed.), European Perceptions of the Spanish-American War of 1898, Bern, 1999 und Rohkrämer, Thomas, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880-1933, Paderborn, 1999.
2. Forschungsstand und Quellen
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wie ihre Deutungsmuster.49 Klautke sieht in den Begriffen „Amerikanisierung" und „Amerikanismus" die Möglichkeit der Zeitgenossen, den soziokulturellen Wandel zu erfassen und zu deuten, da beide Begriffe eine „moderne" Entwicklung charakterisierten und „dehnbar" und „suggestiv" genug für zahlreiche individuelle Interpretationen waren. Laut Klaukte dienten beide „Schlagworte" den Zeitgenossen als „Äquivalente" für Modernisierung. 50 Klautke geht in seiner Studie dem Aufkommen und der Verbreitung dieser Begriffe in Deutschland und Frankreich nach. Mit den Begriffen „amerikanische Gefahr", „amerikanischer Imperialismus" und den einsetzenden „Taylorismus", wählt er drei in der Kaiserzeit kursierende Beschreibungsmuster Amerikas als Folie zur Untersuchung der „Amerikanisierung" aus. Während eine breite Diskussion um eine „Amerikanisierung" der Arbeitsmethoden in Deutschland erst in der Weimarer Zeit ausbrach, wie Klautke feststellt, assoziierten bereits in der Zeit des Kaiserreichs bürgerliche Schichten und Eliten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Amerika bzw. „Amerikanisierung" mit der Auflösung traditioneller Lebensverhältnisse in Deutschland und der beginnenden Moderne. Klautke schließt die politischen Parteien in seine Untersuchung nicht mit ein, lässt vielmehr Autoren mit einem großen Bekanntheitsgrad und Wirkungsfeld zu Wort kommen und geht einer gesellschaftlich möglichst breiten Wahrnehmung der „Amerikanisierung" nach.51 Eine Arbeit, die den Begriff der „Moderne" im Titel trägt und nach der Selbstbestimmung durch Fremdwahrnehmung fragt, ist die 1997 erschienene Dissertation von Alexander Schmidt. Schmidt versucht in seiner Mentalitätsgeschichte, den deutschen Amerikadiskurs in den gesellschaftlichen Rahmen einzubinden und durch das Nachspüren der Amerikawahrnehmung auf das bürgerliche Selbstverständnis rückzuschließen. Laut Schmidt war Amerika das „Leitbild der Moderne", weil es den Europäern ermöglichte, die „Zukunft" anhand konkreter Beispiele vorwegzudiskutieren. In mehreren Kapiteln schlüsselt Schmidt die Verwendung von „Fremdbildern" auf: Amerika als Sinnbild für „Freiheit", „Gleichheit", „Arbeit". Er geht aber auch der Frage nach der Wahrnehmung von Geschlechterrollen, Bildung, Religiosität und von amerikanischem Kapitalismus nach. Zwar überwogen ablehnende Urteile des deutschen Bürgertums wie etwa gegenüber der amerikanischen Großstadt oder auch tendenziell gegenüber der „demokratischen Staatsform" und dem amerikanischen Kapitalismus, es existierte aber auch vielerlei Zustimmung zu Amerika, wie etwa zur „amerikanischen Arbeitsmoral" oder dem offenen Bildungssystem. Interessanterweise berührt Schmidt ebenfalls den Themenkomplex „ameri49
Peukert, Detlev, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt, 1987, S . l l f f . 50 Klautke, Egbert, Amerika im Widerstreit. Vergleichende Untersuchungen zur Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten in Deutschland und Frankreich während der „Klassischen Moderne", 1900-1933, Heidelberg, 2003, S. 8. 51 Z. B. Lenschau, Thomas. Die amerikanische Gefahr, Berlin, 1902. Prager, Max, Die amerikanische Gefahr. Vortrag gehalten in der Münchener Volkswirtschaftlichen Gesellschaft am 16. Jan. 1902, Berlin, 1902 oder Goldberger, Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. 3*
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Einleitung
kanische Gefahr" und spricht an, wie weit die Vorstellung eines europäischen Entwurfs als Abwehrmaßnahme gegen das amerikanische Übergewicht und die eines aufkommenden Gegensatzes zwischen beiden Kontinenten im deutschen Bürgertum verankert war. 52 Der Frage, inwieweit Amerika und Amerikas Wirken das europäische Selbstverständnis prägten, geht Hartmut Kaelble nach. Kaelbles ehrgeiziges Vorhaben, die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses der letzten zweihundert Jahre als „eine Stanzform des amerikanischen" darzustellen, rief in den Rezensionen ein unterschiedliches Echo hervor. Für die Zeit zwischen 1890 und 1914 unternimmt er den Versuch, aus zeitgenössischen Amerikareiseberichten und Amerikabüchern den immer wiederkehrenden Gedanken der Gegensätzlichkeit zwischen Europa und Amerika herauszuarbeiten. 53 Eine Arbeit zur Perzeptionsgeschichte, die die politischen Parteien zur Grundlage ihrer Untersuchung macht, kann sich nicht ausschließlich auf die existierenden Forschungsergebnisse zur Perzeptionsgeschichte beziehen. Die Parteien als Träger des Amerikabildes und als politische Akteure stehen im Mittelpunkt solch einer Studie, ein Rückgriff auf vorhandene Literatur zur Klärung des politischen, sozialen und ideologischen Hintergrunds der jeweiligen Partei ist unumgänglich. Ein flüchtiger Blick auf die Literaturlage zur Parteiengeschichte des Kaiserreichs verrät die Fülle der existierenden Forschungsergebnisse und der zahlreichen Arbeiten. Vor allem für das Zentrum bzw. den politischen Katholizismus, die Sozialdemokratie und den Liberalismus im 19. Jahrhundert steht der Autor vor der Entscheidung, aus dem großen Fundus der Literatur die geeigneten Studien auszuwählen. In erster Linie die Erforschung des Zentrums und der Sozialdemokratie kann inzwischen auf eine sehr lange Tradition zurückblicken. Stellvertretend für die Literatur für den politischen Katholizismus und die Sozialdemokratie seien an dieser Stelle 52
Schmidt , Reisen in die Moderne. Eine knappe Rezension bei Gassert, Amerikanismus, S.538-540. 53 Kaelble , Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York, 2001. Kritik brachte unter anderen Michael Salevski vor, das europäische Selbstverständnis könne nicht aus europäischen Äußerungen über Amerika „destilliert" werden. Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 2.7.2001. Vgl. auch die Rezensionen von Bublies-Godau , Birgit E., in: Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaft. (Online-Ausgabe) www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen. Kamphausen vertritt die These, dass eine „ideelle Konstruktion des Amerikabildes" in der europäischen Zivilisationskritik der Jahrhundertwende als „Chiffre" für die Modernisierung stand und spricht von der „Entdeckung Amerikas". Allerdings konzentriert sich Kamphausens Studie hauptsächlich auf Max Weber und wenige andere Soziologen wie Sombart oder Troeltsch. Es kann daher von einem repräsentativen Bild der kulturkritischen Auseinandersetzung mit Amerika für die Zeit um 1900 nicht gesprochen werden. Zudem sieht Kamphausen die „Entdeckung Amerikas" vor allem in der Religionssoziologie Max Webers und lässt die zeitgenössischen Debatten um die amerikanische Wirtschaft, Kultur und die Rolle Amerikas in der Weltpolitik außer Acht. Vgl. Kamphausen , Die Erfindung Amerikas, S.21 und S. 181.
2. Forschungsstand und Quellen
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nur die Arbeiten von Rudolf Morsey, Wilfried Loth oder Gerhard Ritter erwähnt. 54 Auch die Literatur für den Liberalismus im 19. Jahrhundert erreicht inzwischen große Ausmaße. Forscher der angelsächsischen Welt haben kürzlich wertvolle Beiträge zur Erforschung der Nationalliberalen und linksliberalen Parteien im Kaiserreich geliefert. Zuletzt präsentierte ein englischer Historiker eine fundierte Monographie zum Linksliberalismus im Kaiserreich. 55 Die konservativen Parteien wurden bis vor kurzem in der Forschungsarbeit zumindest in Deutschland vernachlässigt, das Standardwerk zur Deutschnationalen Partei stammt aus der Feder des amerikanischen Historikers James Retallack.56 Erfreulicherweise wurde diese Lücke für die Reichsbzw. Freikonservative Partei vor kurzem mit zwei Arbeiten aus Düsseldorf geschlossen.57 Bei einer Studie, bei der es um die Perzeption eines fremden Staates bei den politischen Parteien geht, unterliegt die Auswahl der Quellen mehreren Kriterien. Da die politischen Parteien im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind sie natürlich die ersten Adressaten bei einer Quellenauswahl, wobei bedacht werden muss, welches Quellenmaterial am deutlichsten das Amerikabild der Parteien transportiert. Die erste Wahl fällt auf das Material, das die politischen Absichten und die politische Haltung der Parteien zum Tragen bringt: Wahlaufrufe, Flugschriften, programmatische Kundgebungen und Berichte von Parteitagen. Es stellt sich jedoch heraus, dass diese nur in einem sehr begrenzten Maße das Thema „Amerika" zum Inhalt haben, innenpolitische Themen und der hohe Stellenwert des innenpolitischen Kampfes überwiegen bei weitem. Der Informationsgewinn erreicht aber eine völlig andere Dimension, wird ein Blick auf die Tätigkeit der Parteien im Reichstag geworfen. Dies war das Gremium, in dem sie ihre politischen Entwürfe präsentierten und mit Eifer ihre Standpunkte 54
Ritter, Gerhard, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen, 1976. Ders., (Hrsg.), Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München, 1990. Loth, Wilfried, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf, 1984 und Morsey, Rudolf, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch, 70 (1970), S. 31-64. 55 Zuletzt. Thompson, Alastair. Left Liberais, the State, and Populär Politics in Wilhelmine Germany, Oxford/New York, 2000 und die schon etwas älteren Arbeiten Köhne, Renate, Nationalliberale und Koalitionsrecht. Struktur und Verhalten der Nationalliberalen Reichstagsfraktion 1890-1914, Frankfurt, 1977. Pohl, Karl Heinrich, Die Nationalliberalen. Eine unbekannte Partei, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 3 (1991), S. 82-112 und Mundle, Frederick G., The German National Liberal Party, 1900-1914. Political Revival and Resistance to Change, Illinois, 1975. 56 Retallack, James N., Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918, Boston, 1988. 57 Stalmann, Völker, Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866-1890, Düsseldorf, 2000 und Alexander, Matthias, Die Freikonservative Partei 18901918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie, Düsseldorf, 2000.
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Einleitung
verteidigten. Das Budgetrecht der Parteien im Kaiserreich ermöglichte ihnen ein Mitspracherecht bei Wirtschaftsverträgen, und sie nutzten diese Möglichkeit ausgiebig, gerade hinsichtlich der amerikanischen Wirtschaftspolitik. Ein Heranziehen der Reichstagsprotokolle für die Quellenauswahl ermöglicht aber nicht nur die präzise Nachzeichnung einer parteipolitischen Haltung zu Amerika, sondern erleichtert auch den Blick auf den Gebrauch „Amerikas" in der direkten Auseinandersetzung der Parteien untereinander. Daneben erschließt sich durch die sprachliche Abgrenzung von der Emotionalität der Tagespresse und parteipolitischen Kampfschriften eine weitere Facette der Amerikawahrnehmung. Im Reichstag wurde in der Regel eine andere Sprache gewählt, die Aussprachen richteten sich nicht an eine breite Öffentlichkeit und auch in geringerem Maße an die eigene Klientel, die Konzepte der Parteien erhielten dort aber feste Konturen. Bei einer Perzeptionsgeschichte zu politischen Parteien ist jedoch die öffentliche Wirkung einer Äußerung und die hinter dem transportierten Bild stehende Intention von ebenso großer Bedeutung wie die politische Auseinandersetzung in einem Gremium. Ein Schwerpunkt bei der Quellenauswahl muss also auf öffentliche Quellen gelegt werden; dieses Kriterium umfasst mehrere Aspekte. An erster Stelle wird die Tagespresse herangezogen, dabei soll das Augenmerk auf möglichst überregionale Organe gelegt werden, die das Thema „Amerika" möglichst häufig zum Inhalt haben, wobei bedacht werden muss, dass die enorme Zahl der Tageszeitungen im Deutschen Kaiserreich zu einer Auswahl zwingt. 58 Sicherlich darf nicht vergessen werden, welche Stellung und Rolle eine Zeitung in einer Partei gespielt hat. Unabhängig davon, ob sie die Gesamtpartei oder einen Parteiflügel repräsentierte oder auch nur die Stimme einer einflussreichen Persönlichkeit war, konnte sie entscheidende Schwerpunkte in der Wahrnehmung Amerikas in einer Partei setzen. So stand z. B. die Kreuzzeitung der Deutschkonservativen Partei unter der Leitung von Hammerstein für einen Großteil der Partei und kommentierte die amerikanische Politik besonders eifrig; die Kölnische Volkszeitung auf der andern Seite riss oft die Hoheit der Deutung Amerikas und amerikanischer Politik an sich, obwohl sie bei weitem nicht stellvertretend für die gesamte Zentrumspartei stand. Die Tagespresse transportierte ein zum Teil zugespitztes Amerikabild und machte zuweilen die unterschiedlichen politischen Richtungen einer Partei klar. Einen beinahe größeren Fundus liefern jedoch die Zeitschriften. Dort fand im Gegensatz zur Tagespresse tendenziell ein weitaus differenzierterer und breiter angelegter Diskurs zu Amerika statt, der sich unabhängig vom Tagesgeschehen viel grundsätzlicheren Anliegen widmen und weitgehend auf Effekthascherei verzichten konnte. Diese Diskussionen 58
Um die Jahrhundertwende war das Pressewesen in Deutschland bereits sehr stark verzweigt und ausgeprägt, die Deutsche Reichspost zählte im Jahre 1897 8197 Zeitungen und Zeitschriften deutscher Sprache, 7245 erschienen in Deutschland und ein Großteil davon befand sich in den Händen von Parteien oder stand ihnen nah. Vgl. Pross , Harry, Zeitungsreport. Deutsche Presse im 20. Jahrhundert. Weimar, 2000, S. 3. Allgemein zur deutschen Presse im ausgehenden 19. Jahrhundert. Koszyk , Kurt, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse, Berlin, 1966, S. 138-152.
2. Forschungsstand und Quellen
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konnten parteiübergreifend und -überschneidend erfolgen. Parteivertreter veröffentlichten in parteifernen Organen, und nicht parteipolitisch gebundene Kommentatoren fanden eine Plattform in einem Parteiorgan. Auf diese Weise aber konnten Amerikavorstellungen viel präziser dargestellt und in den breiten öffentlichen Diskurs gerückt werden. Zeitschriften wie die Nation, die Neue Zeit oder die Nationalliberalen Blätter waren Parteiorgane, in den Preußischen Jahrbüchern, der Deutschen Monatsschrift oder dem Deutschen Wochenblatt äußerten sich aber ebenso viele Vertreter der Parteien. Schließlich erweist sich das zeitgenössische Schrifttum zu Amerika als ein wichtiger Grundstock des Quellenmaterials, natürlich muss bei einer derartig großen Zahl der Veröffentlichungen eine gezielte Auswahl getroffen werden. Amerikastudien und Reisebücher von Parteivertretern stehen an erster Stelle der Auswahl. Sie reflektierten am deutlichsten die persönliche Einstellung eines Parteipolitikers zu Amerika, dürfen aber nicht isoliert betrachtet, sondern in den jeweiligen politischen Hintergrund eingebettet werden. Die noch größere Zahl der zeitgenössischen Veröffentlichungen zu Amerika dient dagegen dem Zweck, die Perspektive einer Partei leichter in der gesellschaftlichen Amerikawahrnehmung zu platzieren und zu ihr in Bezug zu setzen.
I. Gesellschaft und Kultur 1. Politik und Parteien „Das einzige, worin die Vereinigten Staaten alle anderen fraglos übertreffen, ist die Korruption." 1 Der konservative Professor Friedrich Luckwaldt, und regelmäßiger Autor der Mitteilungen aus dem Wahlverein der Reichs- und Freikonservativen Partei, zitierte eine Aussage aus „amerikanischen Munde", um die politischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika zu beschreiben. Luckwaldt warf einen Blick auf die Präsidentenwahlen im Jahr 1912 und erwartete wie bei jeder vorherigen Wahl einen erneuten Höhepunkt an Bestechungen, Belohnungen, Gefälligkeiten und Betrug auf dem Weg des Kandidaten zum höchsten amerikanischen Amt. Es ist zu bezweifeln, ob der besagte Professor tatsächlich eine Befragung amerikanischer Zeitzeugen durchgeführte hatte, um die politischen Verhältnisse in Amerika einer Analyse zu unterziehen. Unabhängig davon aber griff er auf ein Beschreibungsmuster im Deutschen Kaiserreich zurück, das nicht nur die politischen Verhältnisse, sondern auch alle gesellschaftlichen Vorgänge in Amerika charakterisierte. Die von ihm getätigte Aussage über den Zustand der inneren Verhältnisse in Amerika hätte genauso aus jeder anderen beliebigen Partei des Kaiserreichs oder jeder erdenklichen gesellschaftlichen Richtung stammen können. In der Öffentlichkeit, der Publizistik und zum Teil der wissenschaftlichen Welt im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts setzte sich weitgehend die Bewertung der politischen Vorgänge in Amerika als „korrupt" und des politischen Geschehens in Amerika als Teil eines „big business" durch, in dem alles, von Stimmenkauf, über Ämtervergabe bis hin zu Käuflichkeit von Gesetzen den Regeln eines unsauberen Wettbewerbs und einer „unfairen" Geschäftspraxis folgte. Die Bewertung Amerikas des späten 19. Jahrhunderts als ein Land, in dem die Korruption alles politische, gesellschaftliche wie auch kulturelle Leben bestimmte, war nicht völlig neu. Die ersten Anklänge einer Charakterisierung Amerikas als ein Land ohne Kultur und Geschichte, in dem das tägliche Leben den Grundsätzen des Rationalismus und Materialismus folgt, lassen sich bereits im deutschen Amerikabild des Vormärz' finden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitete sich die Kritik am amerikanischen „Materialismus" auf das politische System aus und schien durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Amerika, die Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen durch zweifelhafte Methoden und die Entstehung von Trusts bestätigt 1
Luckwaldt , Friedrich, Die Präsidenentenwahl in den Vereinigten Staaten, in: Das Neue Deutschland. Mitteilungen aus dem Wahlverein der Reichs- und Freikonservativen Partei. Wochenschrift für konservativen Fortschritt, Gotha, hrsg. von Adolf Grabowsky, 1 (1912), S. 82.
1. Politik und Parteien
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zu werden. Aus der Überzeugung der eigenen kulturellen Überlegenheit und der Ablehnung und Verachtung dessen, was Amerika groß zu machen schien, des „Materialismus und Kapitalismus", wurde die Korruption als umso verheerender wahrgenommen, als sie alle politischen Bereiche und die politische Praxis zu dominieren drohte. Die Parteienherrschaft mit einem „Boss" an der Spitze, die Partei als „Maschine" zur Durchsetzung politischer Ziele und das „spoilt system", wonach der Sieger nach einer Wahl die ganze Beute einstreicht, wurde als Ergebnis und Quelle der allgemeinen Korruption in Amerika gesehen.2 Für Autoren aus verschieden gesellschaftlichen Schichten und verschiedener politischer Orientierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts war der Befund, Amerika sei ein Land des „Materialismus", in dem die „Dollarjagd" im Gegensatz zu dem in Deutschland vorherrschenden „Idealismus" um sich greife, weit verbreitet. Die „Geldgier" der Amerikaner und die „Jagd nach dem Dollar" als im besonderen Maße charakteristische Merkmale des amerikanischen Volkslebens, gehörten zu den gängigen Urteilsmustern in Amerikastudien und Reisebüchern.3 Auf der anderen Seite widmeten die politischen Parteien im Kaiserreich dem politischen System in Amerika, der Funktionsweise von Politik und der Stellung von Parteien und Verfassungsorganen nur wenig Aufmerksamkeit. Ausführliche Analysen, gar theoretische Abhandlungen diesbezüglich sind in den Reihen der Parteien kaum zu finden, die Auswirkungen der realen Politik der Vereinigten Staaten und die Bedeutung Amerikas für Deutschland spielten für sie eine viel entscheidendere Rolle. Dennoch tauchen bei der Bewertung Amerikas und der amerikanischen Politik immer wieder die gängigen Beschreibungsmuster von Amerika als einem „korrupten" Land auf. Klare Trennlinien zwischen den Parteien sind nicht auszumachen, Korruption, auch wenn sie unterschiedlich akzentuiert wurde, galt bei allen Parteien als das Grundübel der Gesellschaft und des politischen Systems in Amerika. Als eine Republik, in der der Dollar herrsche und in der die Korruption in alle Lebensbereiche eindringe, charakterisierte sie Johannes Hoffman, Mitarbeiter der Kreuzzeitung und zuvor in Amerika für eine Zeitung in Pittsburgh als Journalist tätig.4 Für sein Organ in Deutschland stand es gar außer Frage, dass es in Amerika jemals ge2
Vgl. Engelsing, Deutschland und die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert, S. 150. Fraenkel, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, S. 103 und Barth, Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, S. 191. 3 So z.B. Neve, Ludwig, Charakterzüge des amerikanischen Volkes, Leipzig, 1902, S. 13 oder Baron Korff y Korffs Weltreise, Bd. 1 Amerika, Berlin, 1893, S.82. Auch differenziertere Darstellungen existierten in Deutschland. So schrieb der Kulturhistoriker Diercks, dass die gesamte europäische Kultur von Materialismus und Hedonismus geprägt sei und dass die amerikanische nur eine extreme Form dieser darstelle. Sie entspringe nicht einer „reinen Habgier", sondern sei eher eine Art Sport, was teilweise an den Wohltätigkeitsanstrengungen der amerikanischen Millionäre sichtbar werde. Vgl. Diercks, Gustav, Kulturbilder aus den Vereinigten Staaten, Berlin, 1893, S.74. Zur Wahrnehmung Amerikas als „Land der Korruption" in Reisebüchern vgl. Schmidt, Reisen in die Moderne, S. 154-163. 4 Hoffmann, Johannes, Amerikanische Bilder. Eindrücke eines Deutschen in Nord-Amerika, Berlin, 1893. S.33 und S.46.
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I. Gesellschaft und Kultur
lingen könnte, der kapitalistischen Korruption auf republikanischem Boden und der „Tyrannei des Geldsacks" Herr zu werden.5 Aber auch von anderer politischer Seite wurde dieses Urteil regelmäßig wiederholt, vor allem dann, wenn einzelne politische Schritte der amerikanischen Regierung gegen Deutschland gerichtet schienen. In den Debatten zur amerikanischen Außenhandels- oder Außenpolitik tauchte immer wieder der Vorwurf auf, Amerika betreibe eine gezielte Politik gegen Deutschland oder Europa, weil „Korruption, Habgier und das Spekulantentum" dort das politische Geschehen bestimmten.6 Noch viel deutlicher als in der Außenhandelspolitik sahen Zeitgenossen die Korruption und ihre schrecklichsten Erscheinungsformen in der amerikanischen Innenpolitik. Dort erkannten sie die gesamte politische Praxis dieser Malaise erliegen und von ihr gelähmt. Dabei bedingten und begünstigten sich die politische Praxis und die Neigung des amerikanischen Volkes zur Korruption gegenseitig. Das Entstehen von Parteibossen und einer Partei als „Maschine" war eben nur möglich, weil eine allgemeine Korruption existent war. Auf der anderen Seite führte das politische System in Amerika zu noch größerer Korruption. Besonderen Anstoß erregte bei den deutschen Beobachtern die „Eigenart" des politischen Systems in Amerika ein Parteiwesen hervorzubringen, in dem die Partei als „Maschine" und an ihrer Spitze der „Boss" Politik nach den Grundsätzen eines korrumpierten Geschäftslebens gestalteten und den Staat nach dem Prinzip des „spoilt system" wie eine Beute unter sich aufteilten. Die Vorwürfe zielten auf die amerikanischen Parteien, die in ihrer spezifischen Organisation von Patronage und Korruption Politik scheinbar „gesinnungslos" wie Ware behandelten und zuweilen die politische Funktionsfähigkeit des Staates lähmten.7 Kommentatoren der Presse, Beobachtungen in Reiseberichten und Amerikastudien wiesen auf die andauernde Jagd nach Ämtern, die damit einhergehende Korruption und das polypenartige Eindringen des politischen Geschäfts in alle Lebensbereiche hin. Die Vorstellung von Politik als ein „gigantisches Geschäft", das durch ständige Wahlen und den erbitterten Kampf um die Beute am Laufen gehalten würde und bei dem Verdorbenheit und Be5
Neue Preußische Zeitung. Kreuzzeitung, Nr. 577, 9.12.1896. Z. B. Kreuzzeitung, Nr. 5, 5.1.1898 oder Kölnische Volkszeitung, Nr. 898, 9.10.1902. 7 Zur Wahrnehmung der amerikanischen Parteien in der deutschen Öffentlichkeit vgl. zuletzt Mergel, Thomas, Gegenbild, Vorbild und Schreckbild. Die amerikanischen Parteien in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit 1890-1920, in: Dove, Dieter/Kocka, Jürgen/Winkler, Heinrich August (Hrsg.), Parteien im Wandel. Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, München, 1999, S. 363-395. Allerdings taucht der Begriff des „Bosses" bereits vor, nicht wie Mergel behauptet, erst ab 1900 in Deutschland auf. Es trifft zwar zu, dass er einer breiten Öffentlichkeit erst ab dieser Zeit zugänglich gemacht wurde, ausgewiesene Kenner der Vereinigten Staaten wie Theodor Barth oder andere Kommentatoren der Zeitschrift Die Nation verwendeten ihn jedoch schon zuvor. Vgl. Mergel, Gegenbild, Vorbild und Schreckbild, S. 385 und Barth, Theodor, Prätorianerherrschaft unter dem allgemeinen Wahlrecht, in: Die Nation, Wochenschrift für Politik, Volkswissenschaft und Literatur, hrsg. von Theodor Barth, Berlin, Nr. 48, 28.8.1897, Bd. 14 S.726. 6
1. Politik und Parteien
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stechungen an der Tagesordnung seien, bestimmte weitgehend die Wahrnehmung der amerikanischen Politik. 8 Innerhalb der deutschen Parteien wurde der Zustand des politischen Systems in Amerika von allen Seiten gleichermaßen kritisiert. Der Kampf der Parteien untereinander um die „Beute" und die augenscheinliche Herabsetzung des Allgemeinwohls zugunsten von Partikularinteressen konnten die Vertreter aller Parteien in Deutschland nicht mit ihrem Verständnis von „staatstragenden Parteien" und einer parteiunabhängigen Verwaltung vereinbaren. Es blieb für die deutschen Beobachter unverständlich, dass eine Partei nach einem Wahlsieg die wichtigsten Stellen im Staat nach dem Grundsatz „alles dem Sieger" für ihre Gefolgsleute zur Verfügung stelle. Kommentatoren der konservativen Parteien und des Zentrums berichteten, zu welcher „rücksichtslosen Ausbeutung" das Beutesystem geführt hätte und welche Auswüchse besonders in Wahlkampfzeiten inzwischen der Kampf um die politische Vorherrschaft in Amerika angenommen habe. Die Kölnische Volkszeitung charakterisierte den amerikanischen Wahlkampf als ein „Theater", das dem alten römischen Wort von „Brot und Spielen" alle Ehre mache, die Wahlhelfer und „Stellenjäger" würden keine sittlichen Gesetze kennen und vor nichts zurückschrecken, weder vor Bestechungen noch vor Schmeicheleien, um ihre „Bosse" an die Spitze des Staates zu bringen. Sie wunderte sich, dass sogar das „weibliche Element" auf allen Ebenen in dieser „Hetze um die Beute" vertreten sei. Aus der Sicht der konservativen und der Zentrumskommentatoren war solch eine „Entartung" des politischen Systems nur unter dem allgemeinen Wahlrecht möglich, da es in seiner Art als ein „großes Geschäft" um Stimmen geradezu zur Korruption einlade.9 Der katholische Schriftsteller Philipp Wedell unterzog in den Historisch-politischen Blättern den amerikanischen Wahlkampf einer ausführlichen Kritik. Wedell setzte die Wahlkampfpraxis in Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung in Amerika. Die ökonomische Entwicklung habe das gesamte Leben in Amerika „vergeschäftlicht". Das Leben in Amerika sei eine ständige Station, ein fortwährendes Reisen, ein ewiger Kampf, und das Eigentum gehe von Hand zu Hand mit einer 8 Aus dem großen Fundus der Beschreibungen seien an dieser Stelle nur einige Beispiele genannt z. B. die des preußischen Offiziers Barnekow, des in Amerika lebenden Auslandskorrespondenten deutscher Zeitungen Skal und des Kolonialbeamten Hintrager. Vgl. Barnekow, Freiherr Hans, Was ich in Amerika fand. Nach zwanzigjährigem Aufenthalt, Berlin, 1911, S. 145. Skal, Georg, Das amerikanische Volk, Berlin, 1908, S. 123 und S. 138 und Hintrager, Oskar, Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten. Nordamerikanische Reiseskizzen, Berlin, 1904, 179. Der konservative Historiker Graf Wartenburg schrieb von dem gänzlich ungehinderten Wettbewerb, der Unzählige materiell und, noch schlimmer, moralisch verdorben hätte. Als Folge dessen konstatierte er eine „ungemein tiefe" Korruption, die sich in alle staatlichen Verhältnisse „eingefressen" hätte, und die verhindert hätte, dass in Amerika „Großes auf geistigem Gebiete" geleistet worden wäre. Wartenburg, Graf Yorck, Weltgeschichte in Umrissen. Federzeichnung eines Deutschen. Ein Rückblick am Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin, 1901, S. 500. 9 Kölnische Volkszeitung, Nr. 218, 11.8.1891 und Nr. 335,19.6.1892 oder auch die Germania, Nr. 279, 3.12.1890.
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I. Gesellschaft und Kultur
Leichtigkeit und Schnelligkeit, die allen Besitz beweglich machte. Wedell gestand dieser Entwicklung zwar zu, dass sie zur wirtschaftlichen Expansion und zur heutigen Größe Amerikas beigetragen habe, dass sie aber auch das alltägliche Leben in den Sog der Korruption hineingezogen und die Politik zu einem Spekulationsobjekt gemacht habe.10 Auch der Zentrumsabgeordnete und katholische Priester Georg Ratzinger widmete der „schädlichen" Wirkung des allgemeinen Wahlrechts eine Abhandlung. Wie Wedell sah er im allgemeinen Wahlrecht eine Einladung an „politische Schwindler", die Bestechlichkeit von Richtern, finanzielle Unredlichkeit und die Käuflichkeit von Ämtern und Presse auf die Spitze zu treiben. Die allgemeine Korruption im politischen Leben hatte für Ratzinger in Amerika inzwischen „alle Schranken durchbrochen" und sei soweit gediehen, dass sie eine Bedrohung für die moralischen Zustände in den Vereinigten Staaten darstelle. 11 Auch auf konservativer Seite erregte der Wahlkampf in Amerika als Ausdruck des Kampfes um die Beute Anstoß. Die konservative Presse griff die Praxis der Kandidatenaufstellung und der Wahlkampfführung auf, um die Ineffizienz des politischen Systems in Amerika und seine Korrumpiertheit anzuprangern. Die von der Parteispitze vorgegebenen Kandidaten, die Verblendung und Vereinnahmung des Volkes durch propagandistische Kampagnen und unhaltbare Versprechungen schienen für konservative Kommentatoren einzig dem Zweck zu dienen, die Parteienherrschaft zu festigen und das Interesse an der Beute vor das Allgemeinwohl zu stellen. 1 2 Sowohl von der konservativen Seite als auch der des Zentrums wurden beide amerikanischen Parteien als „korrupt" klassifiziert, wobei den Demokraten im Allgemeinen die funktionsfähigere „Maschine" und den Republikanern bessere Verbindungen zum Großkapital unterstellt wurden. Die Demokraten galten als die Partei der „kleinen Leute" mit weniger Geldmitteln. Es bedurfte also einer funktions10 Wedell , Philipp, Parlamentarismus und Demokratie, die Nordamerikanische Union insbesondere. Eine kritische Studie, 105 (1890), in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Hrsg. von Jörg, Edmund/Binder, Franz. München, S.441. Wedell räumte jedoch ein, dass auf der anderen Seite das Gemeindewesen und die außerparlamentarischen Organisationen in Amerika blühten. Darin lüge die Größe der amerikanischen Demokratie, ebd. zu Philipp Wedell vgl. Die Mitarbeiter der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland 1838-1923. Ein Verzeichnis. Bearb. von Albrecht Dieter/Weber, Bernhard München, 1990, S. 123. Wedells Argumentation, die Mobilität und die „Materialisierung" des amerikanischen Lebens sei die Antriebsfeder für den industriellen Aufstieg Amerikas gewesen, hätte aber gleichzeitig den „König Dollar", die Korruption und das Beutesystem hervorgebracht, war durchaus gängig im Deutschen Kaiserreich. Z.B. Dehn, Paul, Wirtschaftliche Umschau, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 2 (1902), S. 131-133 oder Wilhelm Kardorff mit seinem Urteil „Als Kaufmann ist der Amerikaner gut." ebd., 3 (1902/03), S.20. 11 Ratzinger , Georg, Die Vereinigten Staaten von Amerika, in: Historisch-politische Blätter, 112 (1893), S. 933 und S. 935. Ratzinger bezieht sich auf die Abhandlung Kämpfes zu Amerika. Vgl. Kämpfe , Walther. Die Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Institutionen und Ideen seit dem Sezessionskriege, Freiburg, 1893. Zu Ratzinger vgl. Die Mitarbeiter der Historischpolitischen Blätter, S. 109. 12 Kreuzzeitung, Nr. 55, 3.2.1903. Der Artikel trug den Titel „Die Versumpfung der inneramerikanischen Politik".
1. Politik und Parteien
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fähigeren Organisation und schlagkräftigerer Hilfstruppen in Wahlkampfzeiten, um an die „Beute" heranzukommen. Die Republikanische Partei auf der anderen Seite verfügte nach Ansicht der deutschen Beobachter über exzellente Verbindungen zu „Großkapitalisten". Sie musste also in erster Linie nicht ein landesweites Netz aufbauen, um publikumswirksame Wahlkämpfe zu führen, die Geldgeschenke der „Großkapitalisten" garantierten dies ohnehin.13 Unter diesen Vorzeichen erschien das gesamte politische Leben bis weit in die einzelnen Gemeinden hinein als „gekauft" und von einer mafiaähnlichen Organisation beherrscht zu sein. Ein dem Allgemeinwohl verpflichtetes Regieren und ein handlungsfähiger Staat waren unter diesen Umständen aus der Sicht der Konservativen und der Kommentatoren des Zentrums nicht möglich. Der amerikanischen Regierungsform und der politischen Praxis wurde aufgrund des allgegenwärtigen Würgegriffs der Korruption die Fähigkeit abgesprochen, Gesetze erlassen und die Probleme des Landes lösen zu können. Durch die „drastische Korruption des allgemeinen Wahlrechts", wie die Kreuzzeitung es formulierte, sei von allen Staaten des Parlamentarismus die parlamentarische Regierungsform in Amerika auf den tiefsten Stand gesunken. In einem Land, so der Tenor, in dem Politik nach dem Grundsatz „eine Hand wäscht die andere" gestaltet werde, das Parlament eine „erbärmliche Rolle" spiele und das ein System von Gönnern, Günstlingen, Bestechungen und Abhängigkeiten geschaffen habe, würden die Sonderinteressen vor diejenigen der Gesamtheit des Landes gestellt.14 Die Bewertung und Wahrnehmung der Politik und der politischen Praxis in Amerika bei den deutschen Parteien machten nur einen Nebenaspekt der gesamten Wahrnehmung Amerikas aus. Themen aus dem wirtschaftlichen Bereich, die Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik und die Bedeutung und Auswirkung der amerikanischen Außen- und Außenwirtschaftspolitik überwogen bei weitem die Auseinandersetzung der Parteien mit Amerika. Dennoch tauchte bei der Auseinandersetzung mit all diesen Themen die Denkfigur des „korrupten Amerika" immer wieder auf. In viele Kritikpunkte der außen- und außenwirtschaftspolitischen Entscheidungen der Vereinigten Staaten drang die Vorstellung von der „Korrumpiertheit" der inneramerikanischen Verhältnisse ein. So bestand im Verlauf der 1890er Jahre für viele Beobachter in Deutschland ein klarer Zusammenhang zwischen der „aggressiven" Zollpolitik der Vereinigten Staaten und den „korrupten" Verhältnissen in Amerika. Als Erklärung für die Verurteilung der politischen Praxis in Amerika seitens der Konservativen und des Zentrums reicht aber die wirtschaftliche Konkurrenz beider 13 Germania, Nr. 56, 9.3.1893. Nr. 257, 7.11.1890. Kreuzzeitung, Nr. 577, 9.12.1896 und Nr. 55, 3.2.1903. 14 Kreuzzeitung, Nr.33,21.1.1898. Germania, Nr.56.9.3. 1893 und Nr.489,18.10.1902. Einige zeitgenössische Autoren betonten die Korruption als Folge eines „schwachen Staates" z.B. Röder, Adam. Reisebilder aus Amerika, Berlin, 1906. S.28 oder Unruh, C.M., Amerika noch nicht am Ziel. Transgermanische Reisestudien, Franfurt am Main, 1904, S.64.
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I. Gesellschaft und Kultur
Länder nicht aus. Sicherlich litten die Agrarier, vor allem in der Deutschkonservativen Partei, besonders stark unter dem amerikanischen Druck auf die deutschen Märkte, aber auch die Industriellen in der Nationalliberalen Partei spürten die amerikanische Konkurrenz merklich und zeigten nur wenig Interesse an inneramerikanischen Verhältnissen. Auch das Zentrum war keine rein agrarische Partei und legte eine zuweilen durchaus gemäßigte Haltung gegenüber der amerikanischen Handelspolitik an den Tag. Es spielte also bei der Bewertung der politischen Praxis in Amerika neben der tatsächlichen Politik der Vereinigten Staaten auch ein ideologisches Moment eine wichtige Rolle. Die konservativen Parteien und das Zentrum waren in ihrem Denken monarchisch geprägt. Amerika auf der anderen Seite beinhaltete bereits in seinen Gründungsidealen das Recht jedes Einzelnen, Glück und Wohlstand zu finden, natürlich auch materiell. In einer zugespitzten Sichtweise stellte dies die Keimzelle des amerikanischen „Materialismus und Utilitarismus" dar. In einer korrumpierten Politik kam demnach diese amerikanische „Eigenart" auf besonders unangenehme Weise zum Ausdruck. Es fällt auf, dass die Kritik aus beiden Parteien an der „amerikanischen Korruption" mit Angriffen auf die demokratische und liberalkapitalistische Ordnung Amerikas verknüpft wurde. 15 Als Gegner beider Entwürfe sahen sie in der politischen Praxis der Vereinigten Staaten den Beweis, dass diese Ordnung nicht funktionsfähig sei, sondern per se der Korruption und einer auf persönlichen Interessen basierenden Politik Tür und Tor öffne. Das Bild von einer alles umfassenden Korruption in der amerikanischen Politik war keine ausschließliche Angelegenheit der konservativen Parteien und des Zentrums. Auch Sozialdemokraten und Linksliberale, die in Wirtschafts- und außenpolitischen Fragen eine sehr milde Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten an den Tag legten, teilten durchaus die Einschätzung der Korruption in der amerikanischen Politik, sie setzten jedoch andere Akzente in ihrer Kritik. Sozialdemokraten glaubten vielmehr im amerikanischen Kapitalismus, in den Trusts und der kapitalistischen Arbeitswelt als im allgemeinen Wahlrecht oder dem parlamentarischen System die Quelle der ausufernden Korruption erkennen zu können. Selbst Wilhelm Liebknecht, der in Amerika den aufkommenden Zukunftsstaat der Weltgeschichte erblickte, sprach von einem „Augiasstall der Korruption" und von der üblichen Praxis in Amerika, Politik als „Geschäft" zu betreiben, in dem die Bevölkerung als „Stimmvieh" fungiere. Allerdings fügte er die Überzeugung hinzu, dass das ameri15 Vgl. dazu Kennedy , Paul, British and German Reactions to the Rise of American Power, in: Bullen, Roger J./Strandmann, Pogge H. Ideas into History. Aspects of European History 1880-1950, Totowa/New Jersey, 1984, S. 18 und Link, Werner, Demokratische Staatsordnung und außenpolitische Orientierung. Die Einstellung zu den USA als Problem der deutschen Politik im 20. Jahrhundert, in: Albertin, Lothar/Link, Werner (Hrsg.), Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Düsseldorf, 1981, S.63. Von einer „Herausforderung" für das monarchisch geprägte Denken oder gar einer konstitutionellen Gefahr für die Konservativen in Deutschland aufgrund der amerikanischen Ziele, wie dies einige Autoren tun, kann jedoch nicht gesprochen werden, dafür war die Unmittelbarkeit des amerikanischen Verfassungswirkens nicht gegeben. Z. B. Müller , Emil-Peter, Antiamerikanismus in Deutschland. Zwischen Care-Paket und Cruise Missile, Köln, 1986, S. 19 und S. 23.
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1. Politik und Parteien 16
kanischen Volk diese Missstände ausräumen werde. Ebenso tauchten in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit immer wieder Hinweise auf Korruption in der amerikanischen Gesellschaft und Politik auf. 17 Die größte Aufmerksamkeit und die heftigste Kritik erfuhr jedoch die politische Praxis in Amerika seitens der Linksliberalen. Aber auch für Linksliberale waren nicht das allgemeine Wahlrecht und die republikanische Staatsform die Ursache der Korruption, sondern die „Ausartung" des demokratischen Systems. Für viele Linksliberale verkörperte Amerika nach wie vor die Ideale der parlamentarischen Regierungsform, der republikanischen Staatsordnung und des Antimonarchismus. Sie pflegten diese Affinität seit der Revolution von 1848/49 und traten im innenpolitischen Kampf für diese Ideale gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer noch ein. Zudem herrschte zwischen führenden Linksliberalen und amerikanischen Politikern ein reger Austausch an Informationen und persönlichen Bindungen. Theodor Barth oder Georg von Siemens unterhielten politische und geschäftliche Verbindungen zu amerikanischen Unternehmern und Politikern. Barth bereiste die Vereinigten Staaten viermal und unterstützte den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bryan in seinen Wahlkämpfen. Georg von Siemens war mit dem Deutschamerikaner Henry Villard geschäftlich verbunden, beide zählten Carl Schurz zu ihren Freunden. Auf der anderen Seite betätigten sich amerikanische, zumeist demokratische Politiker und Publizisten immer wieder in der von Theodor Barth herausgegebenen Wochenschrift Die Nation und brachten den linksliberalen Lesern die Standpunkte der amerikanischen Liberalen und Demokraten näher.18 Die politische Praxis in Amerika stellte für sie vor diesem Hintergrund eine besonders große Enttäuschung dar und kollidierte mit den eigenen ideellen Vorstellungen von Amerika. Dennoch bemühten sich linksliberale Kommentatoren immer wieder, das von ihnen kritisierte „spoilt system", die „Maschinenpolitiker" und die „Bosse" nicht mit der amerikanischen Politik an sich gleichzusetzen, sondern als eine vorübergehende Erscheinung zu klassifizieren, die früher oder später von den Amerikanern abgeworfen würde. Ferdinand Svendsen, ein Autor der Nation, zeichnete ein polemisches Bild von der „amerikanischen Maschinenpolitik". Für ihn war der beherrschende Einfluss der „Parteimaschinen" und die Herrschaft einer „verhältnismäßig kleinen Bande mit verwegenen Politikern" charakteristisch für eine moderne Demokratie wie die der Vereinigten Staaten. Am Beispiel der Demokratischen Partei in New York und der 16
Liebknecht , Wilhelm, Ein Blick in die Neue Welt, Stuttgart, 1887, S.209. Z. B. Vorwärts, Berliner Volksblatt. Centralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Nr. 271, 19.11.1891 und Nr. 584, 6.11.1912 oder Sorge, Alfred, Aus den Vereinigten Staaten in: Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, Hrsg. von Kautsky, Karl, 12 (1894/95) II, S. 17 und Beer , Max, Die amerikanischen Gesetzte gegen die Trusts, in: ebd., 20 (1902) II, S. 759. 18 Vgl. Wegner , Konstanze, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung. Studien zur Geschichte des Linksliberalismus im Wilhelminischen Deutschland, Tübingen, 1971, S. 8-12. Thompson , Left Liberais, S. 1, und Helfferich , Karl, Georg von Siemens. Ein Lebensbild aus Deutschlands großer Zeit, Bd. 3 Berlin, 1923, Bd. 1 S.246. 17
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I. Gesellschaft und Kultur
Republikanischen in Pennsylvania klassifizierte er ihre Macht als ein System mit einem „Boss" an der Spitze, der seine Macht hinter den Kulissen verberge, und der geschickt die Fäden der Partei in der Hand halte. Svendsen entwarf ein Bild von einem mächtigen Herrscher, der sein Reich durch Belohnungen und Anwerbungen von loyalen „Agitatoren" immer weiter ausbaue. Seine Helfershelfer führten seine Befehle bedingungslos aus, da sie hofften, nach einem Wahlsieg mit einem Amt belohnt zu werden. Die Macht des „Bosses" festige sich nach dem Sieg, da die Verwaltung in die Fänge seiner Partei falle und immer mehr Verbündete sich an ihre Seite gesellten. Der Name der Partei war für Svendsen austauschbar, denn nach einem Sieg einer gegnerischen Partei wiederhole sich dieses Spiel unter anderen parteipolitischen Vorzeichen. Als besonders erschreckend empfand Svendsen die damit verbundene Negierung des Volkswillens und die Machtfülle des „Bosses". Der Boss lasse seine eigenen und die Interessen seiner Partei als „Volkswillen" erscheinen und übe eine grenzenlose „despotische Macht" aus. Für Svendsen war ein amerikanischer Maschinenpolitiker weitaus brutaler und rücksichtsloser als ein absoluter Herrscher, weil er seine Macht nicht als Ausdruck des Einzelwillens, sondern des Volks willens erscheinen ließ. 19 Die Polemik des Autors steht der konservativen Sichtweise in nichts nach, er trifft aber den Kernpunkt der linksliberalen Kritik. Als Anhänger eines republikanischen Systems sahen Linksliberale in der politischen Praxis Amerikas eine Verkehrung des republikanischen Gedankens. Theodor Barth kannte die Vereinigten Staaten aus eigener Erfahrung. Sein Augenmerk galt den republikanischen Institutionen in Amerika, die seiner Ansicht nach durch die „Bosse" und die „Maschinen" zur „Karikatur" verkommen seien und dadurch die Demokratie „entartet" hätten. Barth richtete einen Appell an amerikanische Politiker, sich von den Parteien zu „emanzipieren" und die „Herrschaft der Bosse" abzuschütteln. Trotz seiner Affinität zur demokratischen Partei machte Barth keinen Unterschied zwischen Republikanern und Demokraten. Er benannte ausdrücklich Richard Croker als den Boss der Demokraten und den Herrscher der Tammany Hall. In seinen Beiträgen in der Nation prangerte er regelmäßig den „Boss" als Quelle der Korruption in der amerikanischen Politik an, da dieser die Kandidaten ohne Mitwirkung der Bürger bestimme und sie anschließend für ihre Loyalität mit der Vergabe von Posten belohne.20 Das Überhandnehmen der Postenverteilung und der 19 Svendsen , Ferdinand, Amerikanische Maschinenpolitik, in: Die Nation, Nr. 21,8.10.1898, Bd. 16 S. 21-22. Die Nation war kein Organ der Freisinnigen Vereinigung, stand jedoch den Linksliberalen sehr nahe, zu ihren führenden Mitarbeitern gehörten Theodor Barth, Georg von Siemens, der Ökonom Max Präger und weitere Persönlichkeiten aus dem linksliberalen Spektrum. Vgl. Kaikkonen , Deutschland und die Expansionspolitik des USA, S. 11. 20 Barth in der Nation, Nr.2,24.10.1896, Bd. 14 S.61. Nr.48,28.8.1897, Bd. 14 S.725-726. Vgl. auch Barth , Theodor, Amerikanische Reiseeindrücke. Schilderung amerikanischer Zustände in Briefen, Berlin, 1907, S. lOOff. und Freisinnige Zeitung, Nr. 261, 7.11.1890 und Nr. 262,8.1.1890. Zu den Skandalen des Demokraten, Richard Croker, in der New Yorker Tammany Hall. Vgl. Mergel, Gegenbild, Vorbild und Schreckbild, S.383.
1. Politik und Parteien
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Machtfülle des „Bosses" war für Barth eine Ausnutzung demokratischer Institutionen. Es veranlasste ihn, das politische System in Amerika als eine „Prätorianerherrschaft unter dem allgemeinen Stimmrecht" zu betiteln. Barth kritisierte besonders heftig das „geschickte Spinnen" von Seilschaften und das Intrigieren der Parteiführer, um ihre Macht zu vergrößern und die republikanischen Institutionen zur reinen Karikatur verkommen zu lassen; sie hielten alle Fäden der Partei in der Hand, beschäftigten Demagogen, die die Wahlen zum eigenen Machterhalt missbrauchten.21 So sehr Barth jedoch die „Maschinenpolitiker" und die „Parteityrranen" verabscheute, kämpfe er doch gegen die klischeehafte Darstellung Amerikas und gegen die Unkenntnis dieses Landes in Deutschland. Nach eigenen Aussagen wollte er nicht, dass die Schattenseiten des Landes seine großen Leistungen und seinen Idealismus überdeckten. In der Darstellung Amerikas in Deutschland würde laut Barth das Bild des „Stellenjägers", des „ward politician" als typische Erscheinungsform der amerikanischen Politik dominieren, nicht aber das Engagement der Amerikaner für das Gemeinwesen. Barth nannte die Großzahl von Männern und Frauen als Beispiele, die ihr Vermögen, ihre soziale Stellung, gar ihr Leben einsetzten, um das Gemeinwesen aus schweren moralischen Krisen zu retten. Den deutschen Kritikern warf Barth eine eklatante Unkenntnis der amerikanischen Verhältnisse und eine Verzerrung der amerikanischen Wirklichkeit vor. Sie würden mit der „sprichwörtlichen Gründlichkeit" Amerika lediglich mit „Dollarjagd," politischer Korruption und dem Beutesystem gleichsetzen, den „freudigen Idealismus", die „großen Leistungen" jedoch ignorieren. An welche Adresse Barth seine Vorwürfe der verzerrten Darstellung der amerikanischen Wirklichkeit richtete, wurde klar, als er Beispiele einer Cliquenherrschaft in Deutschland anführte. Wie würde man in Deutschland reagieren, wenn das Ausland beim Verhalten der „wirtschaftlich zurückgebliebenen Junkerclique" von ihrer Herrschaft über ein gesamtes Volk sprechen würde. 22 Theodor Barth und andere Linksliberale prangerten Amerika nicht als Ganzes an. Sie verurteilten die „Maschinenpolitiker" und das „Beutesystem" als der Republik unwürdige Auswüchse, versuchten aber immer wieder zu zeigen, dass die Demokratie und die republikanische Staatsform in Amerika doch funktionierten. Als Gegenbeispiel zum amerikanischen „politician" nannten Barth und andere linksliberale Kommentatoren oft Carl Schurz, den „salus publica", der das Partikularinteresse dem Gemeinwohl unterordnete. 23 21 Barth , Theodor, Prätorianerherrschaft unter dem allgemeinen Stimmrecht, in: Die Nation, Nr. 48, 28.8.1897, Bd. 14 S.726 und Herzfeld , Gustav, Civildienstreform in den Vereinigten Staaten, in: ebd., Nr. 40, 3.7.1897, Bd. 14 S. 608-609. 22 Barth, Theodor, Wie man in Amerika Politik betreibt, in: Die Nation, Nr. 17, 24.1.1897, Bd. 14 S. 261. 23 Rosenhaupt , Sigmund, Ein Tag bei Carl Schurz, in: ebd., Nr.48,30.8.1902, Bd. 19 S.763. In einer Rezension der Memoiren von Carl Schurz würdigt Barth sein Leben und Wirken als Diplomat und Wissenschaftler, vor allem aber als ständiger Kämpfer für eine Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Barth, Gelehrter und Gesandter, in: ebd., Nr. 51,
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I. Gesellschaft und Kultur
Die linksliberale Kritik an der politischen Praxis in Amerika hatte eine andere Nuancierung als die der Konservativen und des Zentrums. Theodor Barth und anderen Linksliberalen ging es nicht um eine Verurteilung Amerikas als das „Land des Geschäfts", sondern um die Anprangerung einer politischen Praxis, die mit ihrem Verständnis von Politik nicht vereinbar war. Wie sehr Barth und andere bewunderungsvoll nach Amerika hinüberblickten, zeigten ihre Versuche, die politische Korruption in Amerika vom Land und dem republikanischen Staatswesen zu trennen, und ihre milde auf Ausgleich ausgerichtete Haltung zur amerikanischen Außen- und Außenhandelspolitik.
2. Katholizismus In der Öffentlichkeit des Kaiserreichs herrschte weitgehend Einigkeit im Urteil über das religiöse Leben in Amerika. Sowohl in der Reiseliteratur als auch in publizistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen hatten sich gängige Urteilsmuster herausgebildet, die Religion, die Stellung der Religionsgemeinschaften und das religiöse Leben in Amerika zu beschreiben. Die Autoren betonten die Trennung von Kirche und Staat und die Vielzahl der nebeneinander existierenden und miteinander konkurrierenden Denominationen. In Reiseberichten und wissenschaftlichen Studien fand die in Amerika beobachtete religiöse Freiheit ein positives Echo und wurde oft als Gegenbeispiel für das Nichtfunktionieren von friedlicher Koexistenz verschiedener Religionen in der blutigen Religionsgeschichte Europas angeführt. 24 Neben der Trennung von Staat und Kirche und der religiösen Freiheit in Amerika fiel den Beobachtern die im Vergleich zu Europa große Frömmigkeit der Amerikaner und ihr pragmatischer Zugang zur Religion auf. Erstaunt wurde zur Kenntnis genommen, dass die praktizierte Frömmigkeit sich nicht nur im Alltag bemerkbar mache und nicht auf eine bestimmte Schicht begrenzt sei, sondern dass sie alle Schichten der amerikanischen Gesellschaft erfasse und, wie die strikte Sonntagsruhe dies zeige, eine sehr dominante Rolle im amerikanischen Leben spiele. Daneben verwunderte die soziale Stellung der Kirchen als Ratgeber fürs Alltägliche und als Ort des sozialen Lebens und nicht so sehr als eine geistliche Stätte einer 16.9.1905, Bd. 22 S. 807-809. Nr. 52, 22.9.1905, Bd. 22 S. 822-824 und Nr. 53, 30.9.1905, Bd. 22 S. 840-842. 24 Z. B. Oetken , Friedrich, Die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika sowie die allgemein-wirtschaftlichen, sozialen und Kultur-Verhältnisse dieses Landes zur Zeit des Eintritts Amerikas in das fünfte Jahrhundert nach seiner Entdeckung, Berlin, 1893. S.565. Münsterberg , Hugo, Die Amerikaner, Berlin, 1904, S. 195. Lamprecht , Karl, Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, Geschichtliche Gesamtansicht, Freiburg, 1906, S.59. Adolf Stöcker lobte nach seiner Reise in die Vereinigten Staaten im Jahre 1893 die „ k i r c h l i c h e Freiheit" und das Nichtvorhandensein von „Staatskircheneigentum" in Amerika. Vgl. Oertzen , Dietrich, Adolf Stöcker. Lebensbild und Zeitgeschichte, Berlin, 1910, S.67 und S.76 und Koch, Grit, Adolf Stöcker 1835-1909. Ein Leben zwischen Politik und Kirche, Erlangen, Jena, 1993. S. 36-78 und S. 104-137. Knapp zur amerikanischen Religion in Reiseberichten. Schmidt , Reisen in die Moderne, S. 170-174.
2. Katholizismus
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Religion. Ein weiteres in Deutschland festgestelltes Charakteristikum war die Wahrnehmung Amerikas als eine protestantische Macht. Max Weber stellte gar die Aktivität des protestantischen Volksteils der Vereinigten Staaten in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur wirtschaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit des amerikanischen Volkes. Besonders deutlich kam dies während des spanisch-amerikanischen Kriegs zum Ausdruck, als weite Teile der deutschen Publizistik den Kern des Krieges als eine Auseinandersetzung zwischen einer protestantischen und einer katholischen Macht sahen.26 Für die politischen Parteien in Deutschland spielten die Religion und die religiöse Praxis in den Vereinigten Staaten eine sehr untergeordnete Rolle. Bei der Wahrnehmung der amerikanischen Politik und Amerikas von einem parteipolitischen Standpunkt aus kam die Frage nach religiösem Leben, den Kirchen und der Stellung der Religion in den Vereinigten Staaten eigentlich nie auf. Die spärlichen Nebenbemerkungen der Parteivertreter, in denen Hinweise auf das religiöse Leben oder die Stellung der Religion in den Vereinigten Staaten auftauchten, dienten oft nur als Erwähnung eines Allgemeinplatzes der im kaiserlichen Deutschland existierenden Vorstellung von den Religionen in Amerika. Dementsprechend existierte auch kein parteipolitischer Standpunkt zur Frage der Religion in Amerika. Ein parteipolitisches oder auch nur ideologisches Interesse an den Religionen in Amerika war nicht vorhanden. Eine große Ausnahme bildete die Zentrumspartei, wobei es nicht überrascht, dass die Perspektive aus dem katholischen Glauben das Urteil und das Interesse an der Religion bzw. am Katholizismus in Amerika diktierte. Als eine Partei, in der der katholische Glaube und die Nähe zur katholischen Kirche das bindende Element der Mitglieder darstellte, verfolgten Zentrumspolitiker und die Zentrumspresse mit großem Eifer die religiöse und kirchliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten.27 Den Schwerpunkt bildete dabei nicht ein allgemeines, aus der 25 Gerstenberger , Liborius, Vom Steinberg zum Felsengebirg. Ein Ausflug in die Neue Welt im Jahr der Weltausstellung 1904, Würzburg, 1905, S. 130. Skal, Georg, Das amerikanische Volk, Berlin, 1908, S. 113. Hintrager , Nordamerikanische Reiseskizzen, S. 109. Hoffmann , Amerikanische Bilder, S. 58. Röder , Adam, Reisebilder aus Amerika, Berlin, 1906, S. 112 und Diercks , Kulturbilder, S. 149. Auch in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Abhandlungen ergibt sich ein fast einheitliches Bild der Religion in Amerika. Hans Haupt z.B. legt die Betonung fast vollständig auf die Trennung von Staat und Kirche und die große Zahl der Sekten in Amerika. Vgl. Haupt , Hans, Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Gießen, 1909, S. 16 und S. 36. Ähnlich bei Bosse, Georg, Die kirchlichen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart, 1905, S. 88 und Clement , Carl, Der Religions- und Moralunterricht in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Gießen, 1909, S.54. 26 Eine umfangreiche Analyse des Amerikabildes von Max Weber findet sich bei Kamphausen. Vgl. Kamphausen , Die Erfindung Amerikas. S. 180-268. Mommsen, Die Vereinigten Staaten von Amerika im politischen Denken Max Webers, S. 358 ff. und Kolko , G, Max Weber on America, in: Theory and Evidence, History and Theory, 2 (1961), S. 243 ff. 27 Die Literatur zum Zentrum als eine „katholische Partei" ist schier grenzenlos. An dieser Stelle seien nur einige Titel stellvertretend zu nennen z.B. Loth, Wilfried, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düs-
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I. Gesellschaft und Kultur
Ferne artikuliertes Interesse an der Entwicklung der kirchlichen Vorgänge und der religiösen Fragen in Amerika, sondern eine rege Anteilnahme mit dem Ziel, den katholischen Glauben in den Vereinigten Staaten zu erhalten und auszuweiten und die Stellung der katholischen Kirche als einer vom Staat separaten, der obersten Instanz in Rom unterstellten, Organisation zu stärken. Nicht das Zentrum als Partei es gab keinen programmatischen Kernsatz oder eine offizielle parteiliche Erklärung zum religiösen Leben in Amerika - sondern viele seiner Mitglieder und die Öffentlichkeit der Partei engagierten sich für die „katholische Sache" in Amerika. Das erste erklärte Ziel bildete der Anspruch, den katholischen Glauben der deutschen Einwanderer in den Vereinigten Staaten zu erhalten. Unter der Vielzahl der existierenden Konfessionen in Amerika und unter der Gefahr der Assimilierung bzw. „Amerikanisierung" des katholischen Glaubens war dies aus der Sicht der Zentrumsvertreter nur möglich, wenn das deutsche katholische Element in Amerika nicht verloren gehe. Um dies zu garantieren, sollten deutsche katholische Einwanderer ihre kirchliche und muttersprachliche Identität bewahren, sie sollten in deutschsprachigen Schulen und deutschsprachigen Kirchen ihre katholische Religion pflegen. Der Wunsch nach Erhaltung des katholischen Glaubens in einem protestantisch dominierten Land knüpfte an die Vorstellung der Einzigartigkeit der katholischen Kirche in einem republikanischen Staatswesen an. In den Debatten um den „Amerikanismus", d. h. um eine Verankerung der katholischen Kirche in der amerikanischen Gesellschaft und um die Anerkennung der republikanischen Staatsform als höchste Autorität in Amerika stellten sich Zentrumsvertreter oft eifriger als die deutschstämmigen Bischöfe in Amerika auf den Standpunkt der Distanz der Kirche zum Staat und ihrer besonderen Rolle. Aus der Sicht der Zentrumspolitiker war die Interessenlage der Kirchen in den Vereinigten Staaten klar, zum einen der Erhalt des katholischen Glaubens der deutschen Einwanderer, und zum anderen die Festigung der Stellung der katholischen Kirche in einem republikanischen Staatswesen. So wurden auch die Ereignisse in der katholischen Kirche und ihre Stellung in Amerika mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, den katholischen Hintergrund und die Nähe der deutschen Zentrumspartei zur katholischen Kirche als alleinige Ursache für das rege Interesse am Katholizismus in Amerika heranzuführen. Persönliche Bindungen einiger Zentrumsvertreter zur katholischen Kirche Amerikas und ihr Engagement für die deutschen katholischen Auswanderer in Amerika spielten eine ebenso große Rolle. Noch stärker wuchs im deutschen Zentrum die Aufmerksamkeit an den Vorgängen in Amerika, als sich in den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die „große Krise" der katholischen Kirche in Amerika voll entfaltete und die Frage nach der Stellung der eingewanderten Katholiken an Schärfe gewann. seldorf, 1984. DersDie deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Ersten Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch, 90 (1970), S. 31-64 oder Morsey , Rudolf (Hrsg.), Von Windthorst bis Adenauer. Ausgewählte Aufsätze zur Politik, Verwaltung und politischem Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn/München, 1997.
2. Katholizismus
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Die Anfänge der katholischen Kirche in Amerika gingen auf die frühe Missionsarbeit französischer und spanischer Geistlicher in frühen spanischen Kolonialunternehmungen zurück, in der Folgezeit jedoch etablierten sich zwei katholische Einwanderungsgruppen in Amerika: eine irische und eine deutsche.28 Diese beiden Einwanderergruppen stellten das Gros der katholischen Kirche in Amerika mit einer irischen Mehrheit und einer deutschen Minderheit dar, sodass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die katholische Kirche in Amerika von Einwanderern bzw. ihren Nachkommen der ersten oder zweiten Generation dominiert wurde. Besonders die deutsche Immigration wurde von intensiver Missionsarbeit der Missionsvereine in Europa unterstützt, der Aufbau der katholischen Kirche erhielt durch den „konstanten Fluss von Verbindungen geistlicher und materieller Art" zusätzlichen Auftrieb. 29 Die Verbindungen zur alten Heimat und der Zustrom weiterer katholischer Einwanderer aus Deutschland, Irland und später aus Süd- und Osteuropa weckte in Amerika Misstrauen und wurde vom Aufflammen antikatholischer Bewegungen begleitet. Im Unterschied zu anderen sich in Amerika ansiedelnden Konfessionen stellten die Katholiken eine gewaltige Einwanderermasse dar und ihre Verbindungen zur alten Heimat waren im Gegensatz zu den ebenfalls aufrechterhaltenen Verbindungen der vielen Sekten und Splittergruppen hierarchischer Art. Zudem nährten die Konflikte und der Findungsprozess der Katholiken in Amerika, als Angehörige einer übernationalen weltweiten römisch-katholischen Kirche, den Verdacht einer Gefahr für die freie Gesellschaftsordnung der amerikanischen Republik und führten zu unterschiedlichsten antikatholischen Eskalationen in Politik und Gesellschaft; eine Erscheinung, die den Einwanderungsprozess der Katholiken lange begleitete.30
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Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs mit zunehmender Einwanderung der Iren deren Einfluss in der katholischen Kirche. Dieser Einfluss trat besonders deutlich in der Ernennung des ersten Bischofs in Amerika im Jahre 1787, des Geistlichen John Caroll, Sohn eines irischen Einwanderers und späteren Gründers der Georgetown University, zutage. Zu den Anfängen des Katholizismus in Amerika. Vgl. Zöller , Michael, Washington und Rom. Der Katholizismus in der amerikanischen Kultur, Berlin, 1995, S. 6-39. MacAvoy , Thomas T., A History of the Catholic Church in the United States, London, 1969, S. 160 ff. und Hennesey , James, American Catholics. A History of the Roman Catholic Church Community in the United States, New York, 1981, S.220ff. 29 Doerries, Iren und Deutsche, S. 229.1829 wurde in Wien nach Berichten des aus Amerika entsandten Generalvikars Frederic Rese die Leopoldinnen-Stiftung zur finanziellen Unterstützung der Missionsarbeit und der deutschstämmigen Katholiken gegründet. 1838 wurde zum selben Zweck der Ludwig-Missionsverein in München gegründet. Ebd., S. 231 und MacAvoy , A History of the Catholic Church, S. 226-263. 30 Publizistischen Ausdruck fand die antikatholische Stimmung in der Propagandawelle gegen eine sich im „Gange befindende Verschwörung" des Vatikans und der Habsburger. Zeitschriften wie The New York Observer oder The Recorder machten es sich zu Eigen, den katholischen Glauben und die Katholiken zu diskreditieren. The New York Observer und The Recorder spezialisierten sich auf Skandalgeschichten über das Leben in einem Kloster. Als
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I. Gesellschaft und Kultur
Die antikatholische Stimmung und die antikatholischen Ausschreitungen waren eine Begleiterscheinung der „großen Krise" oder des „Kampfes um die Bestimmung des eigenen Standortes" der Kirche in der amerikanischen Gesellschaft in den 1880er und 1890er Jahren, eine Auseinandersetzung innerhalb der Kirche um die Stellung der deutschen Einwanderer, um die Definierung der eigenen Stellung in der amerikanischen Gesellschaft. 31 Die Frage für die Mehrheit der irischen Bischöfe lautete, wie die eingewanderten Katholiken amerikanisch werden und katholisch bleiben sollten. Die Kirche befand sich in einer durchaus schwierigen Lage, als eine Einwandererkirche war ihre Stellung nicht gefestigt, sogar von Rom Materialvorlage galt das Buch Rachel McCridells von 1836 „Aweful Disclosures of Maria Monk". Die Verfasserin stellte sich als Opfer von Sexualexzessen der Priester in ihrer Zeit in einem Kloster dar. Nach ihrer ungewollten Schwangerschaft hätten die Priester das neugeborene Kind, wie es im Kloster üblich sei, töten und im Keller vergraben wollen, daraufhin blieb ihr nur die Flucht aus dem Kloster. Das Buch von McCriddel war mit 20 Neuauflagen und insgesamt 300.000 Exemplaren ein Verkaufsschlager. Bei dem ebenfalls in New York mit dem Untertitel „Expositor of Popery" erscheinenden The Protestant ging es um die Aufdeckung angeblicher Anschläge der Katholiken auf amerikanische Freiheiten und Institutionen. Besonders weite Verbreitung fand Samuel F. B. Mörses Buch von 1834 „A Foreign Conspiracy Against the Liberties of the United States". Er gilt als Erfinder der „ausländischen Verschwörungstheorie gegen die amerikanische Demokratie". Neben dem propagandistischen Kampf entstanden zahlreiche protestantische Gesellschaften, um die entsprechende Öffentlichkeitsarbeit zu organisieren und zu unterstützen. 1840 wurde die American Society to Promote the Principles of the Protestant Reformation gegründet, mit dem Ziel, über die Unterschiede zwischen Protestantismus und Papismus zu informieren und die Papisten zum Christentum zu bekehren. Eine explosive Mischung entstand jedoch erst, als sich die antikatholische Stimmung mit der nativistischen auf gleicher Augenhöhe traf. Die führende Vertreterin des Nativismus, die Know-Knothings-Party, erlangte eine durchaus politische Bedeutung und wurde durch eine äußerst erfolgreiche PR-Kampagne wie durch Namensgebung für diverse Artikel des täglichen Lebens recht populär. Auf dem Höhepunkt ihres Einflusses war die Know-Knothings-Party mit 70 Abgeordneten im Kongress vertreten und stellte den Bürgermeister von Louisville. Der Name „Know-Nothing" geht auf eine Geheimhaltungspflicht der Mitglieder, welche nach den Zielen ihrer Organisation gehalten gewesen sein sollen mit „ I know nothing, Sir" zu antworten. Die einflussreichste Organisation unter den Nativisten war die American Protective Association, die sich der Bekämpfung des „päpstlichen Einflusses" in den Vereinigten Staaten verschrieben hatte. Die Vorwürfe an die „unbeliebten Eindringlinge" in ein protestantisches Land zielten darauf, dass katholische Einwanderer zu „Protestant patriotic duty" nicht fähig seien, demnach würden sie die päpstliche Macht und den katholischen Militarismus nach Amerika bringen und durch eine Kirche, die einer fremden Macht untersteht die amerikanischen unterwandern. Neben der APA, gegründet 1887, entstand eine Großzahl von Organistionen, darunter z. B. The Templars of Liberty, The Order of American Freedom oder The Patriotic League of the Revolution. Bezeichnend für die Agitationen der Nativisten waren die Titel ihrer publizistischen Arbeit z.B. Fulton , Justin. „Rome in America" von 1887 oder „Washington in the Lap of Rom" von 1888. Vgl. Wallace , Les, The Rhetoric of Anti-Catholicism. The American Protective Association, 1887-1911, New York/London, 1990, S. 120ff. Zöller, Washington und Rom, S. 80-85 und Hennesey , American Catholics, S. 119 ff. 31 Vgl. Zöller , Washington und Rom. S. 89 und Fogarty , Gerald P, Vatican and the Americanist Crisis. Dennis J O'Connell. American Agent in Rome, 1885-1903, Rome, 1974, S. 121 ff.
2. Katholizismus
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aus war sie bis 1908 nicht als eine eigenständige Kirche anerkannt, bis dahin unterstand sie der Congregatio de Propaganda Fide in Rom, einem für missionarische Aktivitäten zuständigem Amt. 32 Die so genannten Americanists oder Americanist Party um die drei Bischöfe Gibbons, Ireland und O'Connell bemühten sich um eine „Amerikanisierung" der Kirche, also um eine Eingliederung der katholischen Kirche in das amerikanische Leben mit Anerkennung der amerikanischen Institutionen, in der Konsequenz also um ihre Anerkennung als eine nationale Kirche. Bischof Gibbons fasste in einer Predigt von 1893 zusammen, welche Rolle er für die katholische Kirche in Amerika sah. Als eine Einwandererkirche müsse sich die katholische Kirche „to the conditions of the new order" anpassen und zu einem Hort des Wissens und des amerikanischen Patriotismus' werden. Dies bedeutete auch, dass der katholische Glaube nicht den Anspruch auf eine Stellung als „nationale Religion" oder besondere Beziehungen zum Staat haben konnte.33 In der Praxis hatte dies zur Folge, dass die katholische Kirche die Hoheit der öffentlichen Schulen als primäre Bildungsanstalt anerkannte. Die Amerikanisten wollten die Stellung der Kirche durch den Beweis, dass auch sie eine amerikanische Institution sein könnte, festigen. Amerikanisierung bedeute zunächst ein Nachgeben in der Sprachenfrage und eine Akzeptanz des Englischen als Schulsprache. Im Besonderen Bischof Ireland machte sich in zahlreichen öffentlichen Auftritten und Äußerungen für die öffentlichen Schulen stark. Den „amerikanistischen Bischöfen" standen in den großen Auseinandersetzungen der katholischen Kirche die so genannten „Deutschen" gegenüber, eine Gruppe um deutschstämmige Bischöfe, die sich der Seelsorge der aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gekommenen Katholiken verschrieben hatte. Die Auseinadersetzungen spiegelte das Ringen der deutschen Katholiken um Einfluss in der katholischen Kirche und um einen geeigneten Weg, den katholischen Glauben und eine ethnische deutsche Identität mit der nationalen Identität der neuen Heimat in Einklang zu bringen. 34 In der deutschen Zentrumspartei auf der anderen Seite wurde im Bemühen der Amerikanisten ein Angriff auf die Bewahrung der nationalen Identität der deutschen Einwanderer und eine Untermauerung des irischen Führungsanspruchs in der katholischen Kirche gesehen. Obwohl die große Mehrheit der deutschen Einwanderer, nicht nur aus 32 Vgl. Doerries, Reinhard, Vom ethischen Separatismus zum Amerikanismus. Die römisch-katholische Kirche in den Vereinigten Staaten von Amerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Mayer, Martin/Spengemann, Gabriele/Kindermann, Wolf (Hrsg.), Tangenten. Literatur und Geschichte. Hallenser Studien zur Anglistik und Amerikanistik, Münster, 1996, S.228. 33 So Bischof O'Connell 1897, nach MacAvoy, A History of the Catholics Church, S. 312 und S. 327. 34 Ihnen gegenüber standen die so genannten Konservativen um Erzbischof Corrigan aus New York und Bischof McQuaid aus Rochester. Vgl. Zöller, Washington und Rom, S. 110. Curran, Emmett R., Conservative Thought in the School Controversy 1891-1993, in: Review of Politics, S. 19-46. Reprinted in: Perko, Francis (Ed.), Enligheting the Next Generation. Catholics and Their Schools 1830-1930, New York, 1980, S.77ff. und Hennesey , American Catholics, S. 198.
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I. Gesellschaft und Kultur
dem katholischen Milieu, sich meist schneller als andere Einwanderungsgruppen „akkulturierte", focht die Zentrumspartei mit besonderem Eifer für den Erhalt der deutschen Identität in Amerika. 35
a) Die Schulfrage und das „Deutschtum" Die Auseinandersetzungen in der katholischen Kirche Amerikas in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts waren für die Zentrumspartei in Deutschland ein großes Thema. Allen voran in der vielfältigen Parteipresse traten namhafte Kommentatoren für die Angelegenheiten der katholischen Auswanderer in Amerika ein. Der Kampf der deutschen Katholiken um Einfluss in der amerikanischen Kirche und die Behauptung der nationalen Identität stieß auf große Anteilnahme der deutschen Zentrumspartei. Weltanschauliche Prinzipien und die Sorge vor dem Verlust der religiösen und nationalen Identität der katholischen Auswanderer aus Deutschland bewogen weite Teile der Zentrumspartei, demonstrativ und entschlossen für die „deutsch-katholische" Sache in Amerika Partei zu ergreifen. Den deutschen Katholiken in Amerika sollte das Recht garantiert werden, ihre Religion und Nationalität zu bewahren. Dass die Zentrumspartei dem katholischen Glauben und der Kirche auch im amerikanischen Staatswesen eine besondere, allen anderen Religionen überlegene Stellung, zugedacht hat, war selbstverständlich. In ihren Augen würde eine „Amerikanisierung" der deutschen Katholiken zum Bedeutungsverlust der Kirche führen und sie zu einer Religion unter vielen machen. Das prominenteste Beispiel der Anteilnahme am katholischen Leben in Amerika war der Laie Peter Paul Cahensly, ein Kaufmann aus Limburg, der das Zentrum Anfang der 90er Jahre im preußischen Abgeordnetenhaus und von 1898 bis 1903 im Reichstag vertrat. Sein Engagement für die katholischen Auswanderer war innerhalb des Zentrums nicht isoliert, als Freund prominenter Zentrumspolitiker wie der Familie Bachem, Ernst Liebers und Georg von Hertlings, konnte er sich einer breiten Unterstützung sicher sein.36 Cahenslys Engagement war in erster Linie sozialer und religiöser Natur, aber er sah auch die Notwendigkeit der Pflege der deutschen Sprache als Garantie für den Erhalt des katholischen Glaubens in Amerika. An mehreren Stellen verdeutlichte Cahensly, dass es ihm nicht um eine „Denationalisierung" Amerikas oder einen deutschen Einfluss auf die amerikanische Politik ging, wie Senator Kellog Davis es im Senat bezeichnete, sondern um das Bedürfnis der katholischen Kirche, dem Glauben zu dienen und den deutschen Auswanderern 35
Zu „Akkulturationsprozessen" in der amerikanischen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts vgl. vor allem Doerries , Iren und Deutsche, S. 278 ff. 36 Doerries , Reinhard, Zwischen Staat und Kirche. Pater Paul Cahensly und die katholischen deutschen Einwanderer in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Moltmann, Günter/ Schwabe, Klaus (Hrsg.), Russland - Deutschland - Amerika. Wiesbaden, 1978, S.90. Biographie zu Cahensly bei Barry. Barry , Colman J., The Catholic Church and German Americans. Washington D. C., 1953, S. 20-43 und Bachem, Carl, Die Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Köln, 1927, S.237 und S.484.
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materielle und geistliche Hilfe zu leisten. Der Erhalt der Sprache sicherte für ihn das Verbleiben der deutschen Einwanderer in der katholischen Kirche, und eine materielle Unterstützung nach Ankunft in den Vereinigten Staaten verhinderte ein Abrutschen in Elend und Armut. Des Öfteren beschrieb er die praktischen Schwierigkeiten, denen die Auswanderer begegneten und die Risiken einer Ausreise. 37 Cahensly erkannte die Notwendigkeit der geistlichen und materiellen Unterstützung der deutschen Auswanderer. Auf der katholischen Generalversammlung in Mainz 1871 wurde unter Mitwirkung Cahenslys der St. Raphaels-Verein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer gegründet. Cahensly übernahm die Funktion des Sekretärs des Vereins, der erste Präsident wurde Karl Fürst von Isenburg-Birstein. Der Verein richtete sein Engagement prinzipiell an Auswanderer in alle Länder, eine besondere Bedeutung kam jedoch aufgrund ihrer hohen Zahl den deutschen Auswanderern in den Vereinigten Staaten zu. Auf seiner Reise in die Vereinigten Staaten im Jahre 1883 fand Cahensly im Deutschen Römischen Katholischen Central-Verein einen Gesprächspartner, und es gelang ihm, einen amerikanischen St. Raphaels-Verein ins Leben zu rufen. Als Ort der materiellen und geistlichen Unterstützung für die deutschen Auswanderer erwiesen sich der Verein und seine spätere Gründung in Amerika sowohl bei der Betreuung der Ausreise als auch bei den ersten Schritte in der Neuen Welt als großer Vorteil für die Auswanderer. Cahensly gewann die Überzeugung, dass nur diejenigen Einwanderer und ihre Kinder treue Anhänger der katholischen Kirche bleiben würden, die die deutsche Muttersprache bewahren würden, und dass eine große Zahl europäischer Einwanderer ihren Glauben verloren hätte, da ihnen eine geistliche Seelsorge in der Muttersprache fehlen würde. Cahenslys Besuch in den Vereinigten Staaten löste heftige Reaktionen der Americanists aus, der eigentliche Höhepunkt des Skandals wurde aber erst durch das so genannte Lucerne-Memorial erreicht. Cahensly verfasste es 1890 auf einer Konferenz in Lucerne. Im April 1891 übergab er das Dokument an Papst Leo XIII. Kern des Dokuments war die Überlegung, dass aufgrund der Einwanderung in Amerika der katholischen Kirche rund 10 Millionen „Seelen" verloren gegangen seien. Zur Verbesserung der Lage empfahl Cahensly die Ernennung zusätzlicher nationaler Bischöfe, die Erfassung der Einwanderer in nationalen Gemeinden mit Priestern aus den jeweiligen Ländern und eine Trennung der Pfarrschulen nach Nationalitäten, in denen in der Muttersprache unterrichtet werden sollte.38 37 Vgl. Cahensly , Peter Paul, Der St. Raphaels-Verein, Freiburg, 1900, S. 29 und Cahenslys Ausführungen zu den schlechten Umständen bei Ausreise und bei Ankunft der Auswanderer in Amerika. Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2. Sess. 20.2.1903, Bd. 5 S. 8076-77. Bei zahlreichen anderen Gelegenheiten wiederholte Cahensly, dass es ihm tatsächlich um eine unpolitische Hilfestellung gehe. So lehnten er und die Zentrumsfraktion eine von der Kolonialgesellschaft beantragte Reichssubvention für den Raphaelsverein mit der Begründung ab, der Verein habe sich in erster Linie an den katholischen Glauben verpflichtet und könnte nicht „paritätisch" handeln, obwohl der Verein ebenfalls Hilfe an andere Konfessionen leiste. Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2. Sess. 25.3.1902, Bd. 5 S.4597. 38 Zu Cahensly vgl. vor allem Doerries , Reinhard, Peter Paul Cahensly und der St. Raphael-Verein. Die Geschichte eines sozialen Gedankens, in: Menschen Unterwegs, 2 (1981),
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Die Americanists sahen im Cahensly-Memorandum eine ungebetene Einmischung der Europäer in die Entwicklung der katholischen Kirche in Amerika und verbanden mit dem deutschen Vertreter unter dem Begriff „Cahenslyism" eine vermeintliche Verschwörung der römisch-katholischen Kirche gegen Amerika. Unterzeichner des Memorandums waren Ultramontane, darunter Franz von Schorlemer und Graf von Löe, damit erweckte es in Amerika noch mehr den Eindruck, es handle sich um einen Plan den deutschen Einfluss in Amerika zu sichern. Noch heftiger waren die Reaktionen außerhalb der katholischen Kirche. In den amerikanischen Zeitungen kursierte das Schlagwort der Verschwörung und der Einmischung in inneramerikanische Angelegenheiten, und die American Protective Association nahm den Fall gerne auf, um ihre antikatholische Propaganda zu verschärfen. 39 Auf deutscher Seite wurde das Memorandum Cahenslys mit großer Zustimmung aufgenommen. Die Zentrumspresse, allen voran die Germania, machte es sich zur Aufgabe, die Zielsetzung des Memorandums zu propagieren und erklärte sich zum Anwalt der deutschen Katholiken in den Vereinigten Staaten.40 Gleichzeitig zeichnete sich zu Beginn der 90er Jahre eine Tendenz in der Wahrnehmung der Vorkommnisse in Amerika in der Öffentlichkeit des Zentrums ab, die „Große Krise" der katholischen Kirche in Amerika als einen Kampf der Deutschen gegen die Iren zu sehen und Stellung gegen die „Amerikanisierung" der katholischen Kirche in Amerika zu beziehen. Bereits nach dem Bekanntwerden des Aufschreis in Amerika als Reaktion auf das Lucerne-Memorandum schrieb die Kölnische Völkszeitung, dass die Aufregung in Amerika auf Berichte der Iren zurückgehe, die die Deutschen daran hindern wollten, eigene Priester zu haben, um auf diese Weise den irischen Einfluss in der Kirche bewahren. Die Germania wunderte sich, wie es möglich sei, dass Katholiken sich dagegen stellen könnten, gemeint waren die Iren, und dass diese eine „Nationalitätsidee" in der „abstoßendsten Weise" pflegen und betreiben würden.41 In den Reaktionen der Zentrumspresse und der Zentrumsöffentlichkeit zu den S. 3-20. Ders., Zwischen Staat und Kirche, S. 90-97 und ders., Vom ethnischen Separatismus zum Amerikanismus, S. 228ff. Das Memorandum bei Barry. Barry, The Catholic Church, S.312. 39 Doerries, Vom ethischen Separatismus zum Amerikanismus, S.322 und ders., Zwischen Staat und Kirche, S. 96. Vgl. auch die Erinnerungen des Pfarrers Paul Maria Baumgarten. Baumgarten war ein Freund Cahenslys, unterhielt sehr gute Kontakte zum deutschstämmigen Klerus in Amerika und wurde im Jahre 1889 auf die katholische Hochschule in Washington berufen. Baumgarten berichtet von dem Verdacht in Amerika, Cahensly versuche Amerika zu „verdeutschen" und es für den Griff des Kaisers reif zu machen. Baumgarten, Paul Maria, Wanderfahrten. Europäische und amerikanische Erinnerungen, Traunstein, 1928, S.75. 40 Germania, Nr. 281, 4.12.1890. Nr. 117, 24.5.1892 und Kölnische Volkszeitung, Nr. 212, 5.8.1891. 41 Kölnische Volkszeitung, Nr. 201, 31.7.1891 und Germania, Nr. 129, 9.6.1892. Im Besitz der Familie Bachem hatte die Kölnische Volkszeitung eine überragende Bedeutung für den politischen Katholizismus in Deutschland und galt als seine Avantgarde. Zu Ihren Mitarbeitern zählten prominente Zentrumspersönlichkeiten wie Hermann Cardauns, Carl Bachem und namhafte Theologen wie Philipp Hupert und Anton Kirsch. Vgl. Kramer, Rolf, Kölnische Volkszeitung, in: Fischer, Heinz-Dietrich (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts,
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Vorgängen in der katholischen Kirche und zum Katholizismus in Amerika fällt der große Eifer der Kölnischen Volkszeitung auf. Noch viel stärker als die Germania kämpfte sie für ihre Vorstellung von der katholischen Kirche in Amerika, die Belange der deutschen katholischen Einwanderer und machte sich die Forderungen des Memorandums zu Eigen. Ein Grund dafür liegt sicherlich in der Tätigkeit des neben Carl Bachem zweiten Chefredakteurs Hermann Cardauns. Cardauns betonte immer wieder die Priorität der Verteidigung der Kirche und Religion für die Katholiken vor Wirtschaftsfragen. 42 Der aufgebaute Gegensatz zwischen Iren und Deutschen zog sich als Tendenz in das 20. Jahrhundert hinein und nahm im Verlauf des Jahrzehnts vor der Jahrhundertwende an Schärfe zu. Cahensly selbst, als Hauptbeteiligter des Cahensly-Streits, hatte sich nie in scharfer Weise gegen die irische Dominanz in der amerikanischen Kirche oder gegen die Bestrebungen, die Kirche zu „amerikanisieren" ausgesprochen, sondern näherte sich dem Thema von der Bedürftigkeit der deutschen Einwanderer her. Seine Vorschläge aber - auch wenn nicht beabsichtigt - waren charakteristisch für den Selbstfindungsprozess der deutschen katholischen Auswanderer in Amerika. Die im Memorandum von Cahensly aufgeworfene Schulfrage, der damit verbundene Erhalt des Deutschtums waren ebenfalls keine neuen Themen in Amerika. Für die Zentrumspartei in Deutschland allerdings markierte der Cahensly-Streit den Auftakt einer regen Anteilnahme an der Schulfrage und am Erhalt des Deutschtums in Amerika. Der Zusammenhang zwischen nationalen Schulen, der Pflege des Deutschtums und des Erhalts des katholischen Glaubens waren für die Zentrumspartei eine logische Verknüpfung einer Ereigniskette, ohne den Kampf für eine nationale Identität, die eine katholische war, würde auch die Kirche in Amerika langfristig nicht überleben. Der Gedanke der national parishes zur Erhaltung des katholischen Glaubens wurde in Amerika bereits seit Jahrzehnten von deutschstämmiger Seite entwickelt. Seit langem gab es ebenfalls einen Streit um deutschsprachige Priester und die Erhaltung der deutschen Sprache im katholischen Schulwesen und immer wieder Versuche seitens der deutschen Einwanderer, diese Frage auf die Tagesordnung zu bringen und ein deutschsprachiges, katholisches Schulsystem zu etablieren. Vor Cahenslys Initiative machte in den Jahren 1884 und 1886 der Generalvikar aus Milwaukee Peter M. Abbelen, mit Zustimmung des deutschstämmigen Erzbischofs Michael Heiss, eine Eingabe an die Propagande Fide, in der er die Eigenständigkeit der deutschen Katholiken und ihre Betreuung durch deutsche Priester verlangte. Pullach, 1972, S.259 und Rieger, Isolde, Die Wilhelminische Presse im Überblick, 1888-1918, München, 1957, S. 115. 42 Cardauns, ein regelmäßiger Besucher der Katholikentage in Deutschland und im Ausland, erhielt eine Audienz bei Papst Leo XIII im Jahre 1893. Zu Cardauns Redakteurtätigkeit und seinen engen Bindungen zur katholischen Kirche. Vgl. Bierganz , Manfred, Hermann Cardauns, 1847-1925. Politiker, Publizist und Wissenschaftler in den Spannungen des politischen und religiösen Katholizismus seiner Zeit, Aachen, 1977, S. 193 und Cardauns , Hermann, Aus dem Leben eines deutschen Redakteurs, Köln, 1912, S. 90 und S. 235.
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I. Gesellschaft und Kultur
Verschärft wurde die Situation, als zum Zeitpunkt der Cahensly-Initiative im Staat Minnesota die so genannten Bennett-Gesetze erlassen wurden. 43 In Deutschland erklärte die Zentrumspresse lautstark ihre Unterstützung für die konfessionellen Schulen. Die von Cahensly vorgegebenen Argumente, Pfarrschulen dienten zur Erhaltung des katholischen Glaubens, wurden aufgegriffen und weiter ausgebaut. Die Hauptkritik an staatlichen Schulen war religiöser Natur. „Schulen des Staates", so die gängige Argumentation, brächten „Kinder des Staates" hervor und ihre Ausbildung geschähe nach dem Willen des Staates gegen alle Rechte Gottes und der Eltern, auf diese Weise würden Kinder zum Eigentum des Staates werden. Es sei also ein unchristliches Schulsystem, das den Kirchen verbiete eigene Schulen zu unterhalten. 44 Das religiöse Motiv und der Gedanke, staatliche Schulen würden die Kinder ohne Gott und ohne christliche Moral erziehen, zog sich durch alle Kommentare der Zentrumspresse zum amerikanischen Schulstreit. Aber auch rein erzieherische Kritikpunkte wurden geäußert. Die Zentrumspresse bemängelte die fehlende Disziplin und die fehlenden Prüfungen an den Schulen sowie die Teilnahmslosigkeit der Lehrer gegenüber dem Verhalten der Schüler außerhalb der Schule. Besonderes Aufsehen erregte der weltliche Charakter der amerikanischen Schulen, in denen „gefährliche Fächer" wie Astronomie und Philosophie unterrichtet wurden, mit denen leicht Missbrauch und eine religionsfremde Erziehung hätte getrieben werden können. Es war die befürchtete Gleichgültigkeit einer staatlichen Schule religiösen Ansichten gegenüber, also der katholischen Weltanschauung, und die Nichtbevorzu43 Die Benett-Gesetze stellten die Kirchenschule unter Staatsaufsicht und bevollmächtigten sie, die Schulausstattung und die Bezahlung der Lehrer zu bestimmen. Als Ergebnis erhielten die kirchlichen Schulen weitgehende Autonomie in der Selbstverwaltung in der Gestaltung des Unterrichts. Die Gesetze verboten aber auch allen Firmen und Unternehmern, Schulabgänger zu beschäftigen, die nicht mindestens vier Jahre englischen Unterricht genossen hatten. Nach dem Wahlkampf von 1890 wurden sie im Jahre 1891 wieder aufgehoben. Den Kampf gegen die Gesetzte führte die Demokratische Partei, die einen großen Teil der deutschstämmigen Einwanderer zu ihren Anhängern zählte. Auch die deutschen Lutheraner in Wisconsin stellten sich gegen die Gesetze. Trotz der Kontroversen wurde nach offiziellen Angaben in Minnesota Deutsch als Fremd- und Unterrichtssprache bis 1917 in 198 von 221 High Schools benutzt, im privaten Sektor lag die Zahl bei weitem höher. Von heutiger Warte aus betrachtet, erwiesen sich die katholischen Schulen als eine Erfolgsgeschichte. In den Jahren 1965-66 erreichten sie ihren Höchstanteil von 87% der nicht staatlichen Schulen, in absoluten Zahlen 5,6 Millionen Schüler. In den achtziger Jahren, als der katholische Bevölkerungsanteil zurückging, machten katholische Schulen noch 64% der nichtstaatlichen Schulen aus. Vgl. Hunt , Thomas C./Kunkel , Norlene M, Catholic Schools: The Nation's Largest Alternative School System, in: Notre Dame Journal of Education, 7 (1976), S. 44-62. Reprinted in: Perko (Hrsg.), Enlightening the Next Generation, S. 277 und S. 284 und Rippley , Vern La, Archbishop Ireland and the School Language Controversy, in: U.S. Catholic Historian, 1 (1980), S. 1-16. Reprinted in: Perko (Hrsg.), Enlightening the Next Generation, S. 48. Die Kölnische Völkszeitung sprach von Zwangsgesetzen in der Schulfrage im Zusammenhang mit dem Benett-Gesetz und berichtete, dass die Katholiken keinesfalls gewillt seien, sich in ihren heiligen Rechten kränken zu lassen. Kölnische Volkszeitung, Nr. 228, 19.8.1890. 44 Kölnische Volkszeitung, Nr. 161, 21.3.1893.
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gung der katholischen Religion, wenn im Unterricht alle Religionen als gleichwertig dargestellt würden, die die Kommentatoren in Deutschland zu dem Schluss gelangen ließ, dass in Amerika von Erziehung keine Rede sein könne.45 Die Gründe für den Widerstand gegen katholische Pfarrschulen sah die Zentrumspresse zum einen im Charakter des „Amerikaners", und zum anderen im Kampf der Iren und der Nativisten gegen das Deutschtum. Einen Grundzug des „amerikanischen Wesens" glaubte sie im hohen Wert des Geldes und der kapitalistischen Lebensweise in Amerika zu erkennen. Ein Bild, das die Amerikawahrnehmung des 19. Jahrhunderts stetig begleitete. Demnach würden staatliche Schulen zum „Palladium", zum „Popanz" der Amerikaner erhoben, die im „Lande des Dollars" nach ihrem Gewinnwert bemessen würden. Die Amerikaner würden die teuersten Gebäude kaufen, sie mit allen modernen Bequemlichkeiten ausstatten, eine große Zahl von Lehrern anstellen und auf diese Weise das Gefühl gewinnen, die besten Schulen der Welt zu besitzen. In dieser Sichtweise sah die Zentrumsöffentlichkeit einen Widerspruch zum Ideal der katholischen Pfarrschulen, die dem Glauben und der Erziehung huldigten und deshalb zu Feinden Amerikas erklärt würden. Als treibende Kraft hinter dem Kampf gegen alles „unamerikanische" wurden die Nativisten und die Iren ausgemacht, beide hätten die Absicht, alles Fremde aus Amerika zu verbannen, wobei den Iren eine Wesensverwandtschaft mit den „Yankees" nachgesagt wurde. Als besonders verheerend für die Lage der deutschen Katholiken in Amerika wurde der Umstand ausgemacht, dass die Iren Eingang in die Politik gefunden hatten und die Deutschen dem politischen Geschehen in Amerika fernblieben. Freilich gestand die Zentrumspresse den deutschen Katholiken in Amerika zu, ursprünglich mit dem Wunsch, Wohlstand und gemütliche Heimat zufinden, ausgewandert zu sein. Die irischen Einwanderer wurden jedoch als Rivalen der deutschen betrachtet, die sich eine bessere Stellung in der amerikanischen Gesellschaft erobert hätten, bevorzugt behandelt würden und nun fürchten würden, von dem „wohl überlegenden Deutschen" überflügelt zu werden, sobald dieser seine Ideale vertrete. Daher sehe der „Yankee" bzw. Ire in ihm nur einen verkappten Feind amerikanischer Einrichtungen. 46
45 Kölnische Volkszeitung, Nr. 128, 5.3.1893 und Germania, Nr. 3,4.1.1896. Martin Spahn, Professor in Straßburg und von 1910 bis 1912 für das Zentrum im Reichstag, erklärte 20 Jahre später, dass in keinem Land, das Ideal einer nationalen Erziehung mehr verwirklicht worden sei als in Amerika und England, dennoch vermöge auch die Pädagogik nichts am religiösen Gefühl der Masse zu ändern. Gerade in Amerika habe Religion, wie im neuerlichen Wiederaufleben der Moral in der amerikanischen Politik, seinen Ursprung in den Kirchen, dennoch brächten diese Gesellschaften die Schulen nicht mit der allgemeinen Religiosität in Einklang, wie dies in Deutschland getan werde. Vgl. Spahn, Martin, nationale Erziehung und konfessionelle Schule. München, 1912, S.7 und S.53. Spahn selbst jedoch war ein Verfechter der „Entkonfessionalisierung" des Zentrums, um mehr „Reichsfreudigkeit" zu zeigen. Vgl. Ferber , Walter, Der Weg Martin Spahns. Zur Ideengeschichte des politischen Rechtskatholizismus, in: Hochland, 62 (1970), S. 223. 46 Z. B. der Priester und Kirchenhistoriker Baumgarten, Paul Maria, Amerikanisches. Zweierlei Maß für deutsch und irisch, in: Historisch-politische Blätter, 114 (1894), S.948 oder die Kölnische Volkszeitung, Nr. 11,6.1.1891. Obwohl der Erhalt des Deutschtums in Amerika von
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Die Erhaltung deutschsprachiger Pfarrschulen aus religiös-moralischen Gründen war jedoch nur eine Nebenzielsetzung, die die Zentrumspresse in Deutschland mit ihrem Eintreten für deutschsprachige Pfarrschulen in Amerika verfolgte. Der eigentliche Grund für solch ein vehementes Eintreten lag vielmehr in der Überzeugung, durch deutschsprachige Schulen ließe sich nicht nur die katholische Religion erhalten, sondern ebenso das „deutsche Element" in den Vereinigten Staaten. Deutschsprachige Schulen und die katholische Religion wurden als wichtige Voraussetzung gesehen, das „deutsche Element" zu erhalten und auszubauen. Es existierte also eine Verknüpfung zwischen dem Eintreten für den katholischen Glauben in Amerika und der Bewahrung der nationalen Identität der deutschen Einwanderer. Diese Überzeugung wurde über die Grenzen der täglichen Berichterstattung hinaus in der Zentrumspresse an den Tag gelegt. Zentrumspolitiker, Publizisten, Tageszeitungen und Wochenschriften setzten sich dafür ein. Die Debatte um die Bedeutung des „Deutschtums" in den Vereinigten Staaten beschränkte sich jedoch nicht auf Vertreter des Zentrums. In den 1890er Jahren setzte eine Welle von Veröffentlichungen zur Bedeutung und zum Erhalt des Deutschtums in Amerika ein. Sicherlich war der Höhepunkt der Auswanderung in den 80er Jahren und die noch relativ frischen Bindungen der Neuamerikaner zur alten Heimat ein Grund für die rege Anteilnahme am Leben der deutschen Einwanderer in Amerika. Im Laufe der 90er Jahre machte sich jedoch ein nationalistisches Charakteristikum in den Diskussionen um die Auslanddeutschen bemerkbar. Im Gegensatz zur deutschen Auswanderung nach Südamerika, wo deutsche Siedlungen auch deutsch bleiben konnten, waren die deutschen Auswanderer in Amerika dem Assimilisierungsdruck in erheblichem Maße ausgesetzt und mussten sich ihm schließlich auch beugen. In Deutschland jedoch entstand vielfach der Eindruck, ein „deutsches Element" in den Vereinigten Staaten, das zwar loyal zum amerikanischen Staat steht, genauso aber der alten Heimat verpflichtet ist, sei möglich. Ein Gedankengang, der im zunehmenden Maße von Alldeutschen und Kolonialverbänden formuliert wurde, jedoch nie Aussicht auf Erfolg hatte.47 Aber auch der gesamten Zentrumspresse als übergeordnetes Ziel immer klar formuliert wurde, hörte das Interesse an einer nationalen Identität in der Frage der Besetzung der Bischofsstühle in Amerika auf. An dieser Stelle bestand die Germania auf der Kompetenz Roms und verwehrte sich gegen jegliche nationalen Alleingänge, unterstellte aber den „Iren" auch in dieser Hinsicht eine „chauvinistische Ausbildung der Nationalitätsidee". Germania, Nr. 129, 9.6.1892. Innerhalb des deutschen Katholizismus vertraten die Historisch-politische Blätter die kurialistisch strenge Richtung und traten für die Verteidigung der Rechte und die Gleichberechtigung der katholischen Kirche ein, allerdings nur unter der Voraussetzung der „richtigen" politischen Ordnung. Edmund Jörg, der Herausgeber der Historisch-politischen Blätter von 1852 bis 1901, galt als früher Wegbereiter der katholischen Soziallehre. Vgl. Weber , Bernhard. Die „Historischpolitischen Blätter" als Forum für Kirchen und Konfessionsfragen, München, 1983, S.306 und Größer , Max, Die deutschamerikanischen Katholiken im Kampf mit den Nativisten. Ein Kapitel aus der Blütezeit deutschamerikanischer Kultur, in: Gelbe Hefte. Historische und politische Zeitschrift für das katholische Deutschland, 5,1 (1928-1929), S.288. 47 Zur Diskussion bei den Alldeutschen und den Kolonial verbänden vgl. Hase, Lateinamerika, S. 964 ff.
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den Kolonialverbänden fern stehende Autoren plädierten für den Erhalt des Deutschtums in Amerika oder sahen ihn durch den großen Assimilierungsdruck gefährdet. So schrieb der preußische Offizier Barnekow, dass alle Citizen Papers in Amerika gegen die „Gewalt der Liebe für das angestammte Vaterland" nichts ausrichten könnten, und dass in einem möglichen deutsch-amerikanischen Krieg, sich die Deutschamerikaner zumindest neutral verhalten würden. Pessimistischer zeigte sich der konservative Journalist Hoffmann, der den Verlust der nationalen Identität und die Willigkeit zur „Angleichung" der deutschen Einwanderer bedauerte.48 Die Diskussion um das Deutschtum in Amerika in den Reihen des Zentrums griff diesen Gedanken nie explizit auf, es steht jedoch fest, dass auch das Zentrum von der Idee einer „autonomen" deutschen ethnischen Gruppe in den Vereinigten Staaten ausging, immer jedoch unter dem Vorzeichen des katholischen Glaubens. Die Germania aus Berlin nahm ein Buch von Karl Knortz „Das Deutschtum der Vereinigten Staaten" zum Anlass, um gegen die von ihm prophezeite „Verschmelzung der Nationen" in Amerika und Amerikas Weg zu einer der „mächtigsten Nationen" zu Felde zu ziehen. Knortz sah zwar den Fortbestand des „deutschen Elements" in Amerika in der Erhaltung der deutschen Sprache und der Pflege der deutschen Literatur gegeben, sagte aber langfristig ein Aufgehen in der Vielzahl der Nationalitäten voraus. Für die Germania war dieser Gedanke noch mehr als „Selbstmord", denn eine mächtigere amerikanische Nation wäre umso schlimmer für Deutschland, daher dürften sich die ausgewanderten Deutschen nicht mit den Angelsachsen, Kelten und aller Welt „verschmelzen", sondern sich bestmöglich „rein erhalten". 49 Die Reaktionen der Germania auf Knortz' Voraussagen waren besonders heftig und eigentlich untypisch für die Zentrumspresse. Der Grundtenor verlief nicht auf eine explizite Gegenbildung einer deutschen Volksgruppe in Amerika zu den anderen ethnischen Minderheiten, sondern eher auf eine gleichberechtigte Stellung einer katholischen deutschen Volksgruppe neben vielen anderen, auch neben der Hauptgruppe der Angloamerikaner. Der Geistliche, Kirchenhistoriker und Wegbegleiter Cahenslys, Paul Maria Baumgarten, fasste das Interesse des Zentrums am Erhalt des „Deutschtums" in den Vereinigten zusammen, indem er nach seiner Reise nach Amerika schrieb, dass der katholische Glaube nur dann erhalten werden könne, wenn er in der Muttersprache betreut werde. Denn beim Fehlen einer nationalen Seelsorge würden die Einwanderer in dem „Sektenmeere der Union ertrinken"; die seelsorgerische Betreuung in der Muttersprache erhielte die deutsche Kultur und die Heimat in lebhafter Erinnerung, 48 Barnekow , Freiherr Hans, Was ich in Amerika fand. Nach zwanzigjährigem Aufenthalt, Berlin, 1911, S.64. Hoffmann , Amerikanische Bilder, S.22. Auch der sozialistische Schriftsteller Kummer bedauerte, dass das Deutschtum in Amerika so „verwelkt" sei. Kummer , Fritz, Eines Arbeiters Weltreise, Jena, 1913, S.259. 49 Germania, Nr. 289, 14.12.1895. Knortz , Karl, Das Deutschtum der Vereinigten Staaten, Hamburg, 1898, S. 12 und ders., Wie kann das Deutschtum im Auslande erhalten werden, Bamberg, 1895, S. 18.
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könne sich gegen den Untergang im amerikanischen „Volksgemisch" behaupten und schließe die staatsbürgerlichen Pflichten nicht aus.50 Den Schwierigkeiten der Deutschamerikaner, dem Assimilierungsdruck ausgesetzt zu sein, widmete auch die Kölnische Volkszeitung mehrere Artikel. Sie beklagte die hinterlistigen und brutalen Versuche der „Yankees", die Deutschamerikaner in den allgemeinen „Yankee-Schafstall" zu treiben und sie zu amerikanisieren, sie zur Aufgabe der deutschen Sprache und ihrer Beziehungen zum Mutterland zu zwingen. Der Kölnischen Volkszeitung missfiel besonders, dass die deutschen Einwanderer nur aufgrund des Eintretens für eigene Pfarreien und Schulen als „schlechte amerikanische Bürger" behandelt würden, ein dunkler Fleck der „glorreichen Yankee-Demokratie", wie sie titelte. Nach eigenen Angaben lag der Kritik der Kölnischen Volkszeitung das Verständnis von einer unfertigen amerikanischen Nation zugrunde. Eine „amerikanische Nation" gebe es gar nicht, lediglich ein Konglomerat verschiedener Bestandteile, dem man des Scheins der Einheitlichkeit wegen die englische Sprache mit Gewalt aufzwinge. Daher, so ihr Urteil, könnten auch Deutschamerikaner keine „Patentamerikaner" nach dem Motto „my country right or wrong" sein, sondern zu Deutschland und ihrer neuen Heimat loyal stehen.51 Den Eindruck, Amerika sei keine „wirkliche Nation", sondern ein Gemisch aus verschiedenen Volksgruppen mit divergierenden Bindungen zu ihren alten Heimatländern gewann auch der katholische Geistliche und bayerische Zentrumsabgeordnete Liborius Gerstenberger bei seinem Besuch in den Vereinigten Staaten, als er der 49. Generalversammlung des deutschen römisch-katholischen Zentral Vereins in St. Louis beiwohnte. Auch er plädierte für den Erhalt des „Deutschtums" als „Reinkultur" unter den amerikanischen Volksgruppen, um als „Sauerteig" auf andere Nationen einwirken und so in Verbindung mit den guten Eigenschaften jener zu einer größeren Vervollkommnung der Menschheit und des Menschengeschlechts nach dem Willen des vollkommenen Gottes beitragen zu können. Gerade im „Völkergemisch" der USA täte, laut Gerstenberger, der deutsche Sinn für Ordnung und Reinlichkeit, für gewissenhafte und sorgfältige Arbeit, sowie die deutsche Gemütlichkeit, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit gut gegen die Korruption bei Beamten, Richtern, Politikern und die Allmacht des Dollars. 52 Gerstenbergers Beobachtungen und die zahlreichen Kommentare der Zentrumspresse transportieren einen aus der Sicht der Zentrumspartei logischen Gedankengang. Der Erhalt der katholischen Religion der Einwanderer, ihrer Sprache und na50
Baumgarten, Wanderfahrten, S.73. Kölnische Volkszeitung, Nr. 907, 16.10.1898. Nr. 238, 12.3.1899. Nr. 967, 16.10.1899. Nr. 149, 16.2.1903 und Germania, Nr. 7, 31.2.1895. 52 Gerstenberger, Vom Steinberg zum Felsengebirg, S.203. Gerstenberger traf auf der Versammlung auf Lieber. Ebd., S. 204. Zu Gerstenberger vgl. Haunfelder, Bernd (Hrsg.), Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei, 1871-1933. Biographisches Handbuch und historische Photographien, Düsseldorf, 1999, S. 163. 51
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tionalen Identität hingen unmittelbar zusammen, würden Religion und Sprache vernachlässigt werden, würde auch das Deutschtum in dem großen Völkernebeneinander der Vereinigten Staaten verloren gehen.
b) Die katholische Kirche und der „Amerikanismus" Der Erhalt des „Deutschtums" in den Vereinigten Staaten und die Förderung der Sprachschulen dienten aus Sicht des deutschen Zentrums keinem Selbstzweck, die Forderungen des Zentrums wurden auch nicht so sehr, wie seitens der Alldeutschen oder Kolonialverbänden mit einem nationalistischen und machtpolitischen Inhalt gefüllt, sondern wurden unmittelbar mit der Stellung der katholischen Kirche und Religion in Amerika in Zusammenhang gebracht. Die katholischen Einwanderer aus Deutschland sollten in erster Linie nicht ein „Kleindeutschland" in Amerika schaffen, sondern durch die Bewahrung der Muttersprache und der Erinnerung an die alte Heimat den katholischen Glauben aufrecht erhalten, um nicht im „Konkurrenzgetümmel" der vielen Religionen in Amerika unterzugehen. Die Frage nach der Stellung der katholischen Kirche und ihrer Veränderungen in den 1880er und 1890er Jahre bildete somit den Hauptpunkt des Interesses des Zentrums an den kirchlichen Vorgängen in Amerika. In den Äußerungen der Zentrumspolitiker und der Parteipublizistik kristallisierte sich die Frage heraus, ob sich eine katholische Kirche, als eine Religion unter vielen, ohne rechtliche und gesellschaftliche Vorzüge gegenüber anderen Religionsgemeinschaften mit einem religionsneutralen Staatswesen in Einklang bringen lasse. Die Mehrheit verneinte dies, denn aus der Sicht einer kirchentreuen, katholischen Partei konnte sich die katholische Kirche in Amerika nicht mit einer Gleichstellung abfinden. Die Vorwürfe aus der Öffentlichkeit des Zentrums zielten gar daraufhin, dass die katholische Kirche in Amerika nicht einmal gleich behandelt werde, sondern eher schlechter als die übrigen Religionsgemeinschaften. Eine zweite Frage drehte sich um den „Amerikanismus", also um die Stellung der Kirche in einem republikanischen Staatswesen. Aus der Sicht der Zentrumspartei zugespitzt auf die Formel gebracht, wer das Oberhaupt der katholischen Kirche Nordamerikas sein sollte, der „Papst oder der Staat".53 Die gewünschte Sonderstellung der katholischen Kirche in Amerika wurde aus Sicht des Zentrums durch die Vielzahl der Sekten erschwert. Sie seien, so ein Kommentar in den Historisch-politischen Blättern, der „Krebsschaden der Vereinigten Staaten", da sie die katholische Kirche in den Sog der Zersplitterung und der Religionskonkurrenz hineinzögen. Die Sekten in Amerika würden wie rivalisierende Firmen miteinander konkurrieren, sie würden Streit auf dem religiösen Gebiet und in der Auslegung der Bibel führen, ihre Pfarrer dürften in fremden Gemeinden predigen, sich wie Theaterproduzenten benehmen und auf diese Weise neue Anhänger rekrutieren. Die katholischen Pfarrer seien je53
So die Kölnische Volkszeitung, Nr. 835, 17.11.1897.
5 Czaja
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doch an die Gemeinde gebunden und ihr verpflichtet, auf diese Weise könnten sie nicht gleichwertig mit den Sekten konkurrieren. 54 Der Gedanke des Konkurrenzdrucks schien für die Zentrumsöffentlichkeit nicht hinnehmbar zu sein. Zwar fehlte in den Äußerungen zur Kirche in Amerika selten der Hinweis auf die von der Kirche vertretene Freiheit und Toleranz, stets aber mit einer Erklärung versehen, dass dies nichts anderes als eine privilegierte Stellung der katholischen Kirche gegenüber dem Staat bedeute, da sie ja die wahre Religion vertrete. Der Jesuit Johann Pietsch schrieb, dass der amerikanische Staat nur theoretisch religionsneutral sei, und dass die proklamierte Trennung zwischen Religion und Staat in Wirklichkeit eine Abgeneigtheit des Staates gegenüber der katholischen Kirche bedeute. In Amerika, so sein Urteil, würden die Interessen des Protestantismus und des Liberalismus herrschen, die Ehegesetze zum Beispiel seien evangelisch, die Katholiken würden benachteiligt und es gebe nur wenige katholische Militärpfarrer. Der Autor listete weitere Faktoren auf, die dem Glauben, also dem Katholizismus in Amerika schadeten, wie die katholischfeindliche öffentliche Meinung, die zahlreichen Geheimgesellschaften, die konfessionslosen Schulen, die Sittenlosigkeit, der „heidnische Staatsbegriff" und der allgemeine Verfall hin zum Materialismus. Er stellte fest, dass der Geist, der in Amerika herrsche, nicht mehr christlich sei, und dass die meisten nur eine Gottheit verehren würden, den „allmighty Dollar". Der Kern seiner Kritik aber war die Gleichbehandlung der katholischen Kirche mit anderen Religionen, ein Atheismus der schlimmsten Art sei es, denn die katholische Kirche genieße keine Vergünstigung, sie habe denselben Stellenwert wie die Freimaurerei. Pietsch folgerte, dass das ideale Verhältnis zwischen Kirche und Staat nicht nur Toleranz und Freiheit bedeute, sondern auch eine Hinwendung des Staates zur „wahren Kirche", der katholischen.55 Der öffentliche Einsatz der Zentrumspublizisten für eine Sonderstellung der katholischen Kirche in Amerika gewann an Schärfe, als die so genannten „Amerikanisten" in der katholischen Kirche in Amerika gerade durch die Aufgabe einer „Sonderrolle" nach größerer Akzeptanz für die katholische Kirche in Amerika suchten. Zu den Zielen der „Amerikanisten" gehörte, dass die katholische Kirche in einem pluralistischen demokratischen Staat neben anderen Religionsgemeinschaften ihre Rollefinde, sich also mit der pluralistischen Gesellschaft versöhne, und wie in der Schulfrage die Hoheit des amerikanischen Staates anerkenne. Obwohl die Amerikanisten durch den Beweis, dass auch die katholische Kirche eine amerikanische Institution sein sollte, ihre Stellung festigen wollten, sahen die deutschen Bischöfe in Amerika darin eine Schwächung der Religion und einen Angriff auf die Bewahrung ihrer na54
Zimmermann , Athananius, Zur Geschichte des Sektenwesens in den Vereinigten Staaten, in: Historisch-politische Blätter, 123 (1899), S.500. 55 Pietsch , Johann, Zur Lage der Katholiken in den Vereinigten Staaten, in: ebd., 127 (1901), S. 156-175 und S. 256-277, hier S. 159. Zu Pietsch vgl. Die Mitarbeiter der Historisch-politischen Blätter, S. 107.
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tionalen Identität sowie eine Untermauerung des irischen Führungsanspruchs in der Kirche. 56 In der Beurteilung dieser Kontroverse in Deutschland wurden die Motive der Amerikanisten weitgehend ignoriert und als Angriff auf die Grundpfeiler der katholischen Kirche betrachtet. Der Begriff des „Amerikanismus" fand unter dem Vorzeichen eines Kampfes gegen den Katholizismus Eingang in die Zentrumspublizistik. So gewann er die Bedeutung einer Entfernung der katholischen Kirche von der traditionellen Autorität der Kirchenführung und der Vereinbarkeit der katholischen Lehre mit „Demokratie, Fortschritt und Liberalismus", mit Ideen also, die im Verständnis des politischen Katholizismus äußerst umstritten bis verteufelt waren. Die „amerikanistischen Ideen" wie z.B. O'Connells Überlegungen, die christliche Demokratie in amerikanischer Färbung sei diejenige, mit der die katholische Kirche in Zukunft allein sich noch verschwistern könne, widersprächen laut der Kölnischen Zeitung dem Geist der katholischen Kirche. Die von O'Connell geforderte Fusion von „Amerikanischem Genie und dem Geist der Kirche", sei nicht realisierbar, da die amerikanische Verfassung bedenkliche, sogar gefährliche Lehren enthalte, wie die Schulfrage oder die Verwaltung des Kirchenvermögens. Auch Erzbischof Ireland warf die Kölnische Volkszeitung aufgrund ihrer Äußerungen von der Verträglichkeit der amerikanischen Republik und der katholischen Kirche „krankhafte Illusion" und eine grobe Anmaßung vor. 57 Auch wenn die Motive der Amerikanisten nur wenig Raum in der Reaktion zu den kirchlichen Vorgängen in Amerika einnahmen, waren sie nicht unbekannt. Der Würzburger Dompfarrer Carl Braun veröffentlichte im Jahre 1904 ein in Zentrumskreisen viel gelesenes Buch, das sich ausschließlich mit diesem Phänomen auseinandersetzte. Darin lieferte Braun eine Definition des „Amerikanismus". Es handle sich um ein Verfahren, welches von Geistlichen und Laien in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eingehalten und angeraten wurde, um der katholischen Kirche im privaten und öffentlichen Leben leichter und sicherer zu einer größeren Anerkennung, Ausbreitung und Wirksamkeit zu verhelfen. Braun wies weiterhin auf die von den „Amerikanisten" aufgestellte Behauptung hin, die Ideale eines modern fühlenden Menschen wie „Freiheit, Selbständigkeit, Rührigkeit, Unbefangenheit und Gemeinsinn" seien in Amerika auf allen Gebieten verwirklicht, und während man in Europa in der Verwirklichung dieser Ideale eine Gefahr für die Stellung der katholischen Kirche sehe, nehme die katholische Kirche in Amerika dadurch einen ungeahnten Aufschwung. Im einzelnen waren dies laut Brauns Bericht die Unab56
Vgl. Doerries, Iren und Deutsche, S.278 und Ahlstrom, Sydney, A Religious History of the American People, New Haven/London, 1972, S. 830. 57 Kölnische Volkszeitung, Nr. 864, 28.11.1897 und Nr. 189, 26.2.1899. Als besonders unvereinbar mit der katholischen Kirche sah die Kölnische Volkszeitung Irelands Feststellung, die deutschen Katholiken in Amerika seien die eifrigsten Anhänger des Republikanismus. Kölnische Volkszeitung, Nr. 245,14.3.1899. Zu O'Connells und Ireland vgl. Fogarty, The Vatican and the Americanists Crisis, 1974, S. 136ff. 5*
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I. Gesellschaft und Kultur
hängigkeit der Kirche aufgrund der vollständigen Trennung von Staat und Kirche in Amerika, die größere Verantwortung und das Mitspracherecht des Einzelnen in der Kirche, das Akzeptieren seitens der Kirche der höchst unterschiedlichen Entwicklung und Gestaltung der Persönlichkeit und die Anerkennung der katholischen Kirche, dass sie nicht alleine die Wahrheit besitze.58 Brauns Forderungen unterschieden sich jedoch nicht von den in der Zentrumspresse geäußerten Urteilen zum „Amerikanismus". Auch er wollte eine Vermischung demokratischer Denkweisen mit kirchlichen Lehren und Maßnahmen vermeiden. Die katholische Kirche sollte sich nicht zu einer Dienerin einer demokratischen Regierungsform erniedrigen und sich nicht nach den Machthabern richten, um nicht ihre Mitglieder nach Maßregeln der Regierungsform eines Staates erziehen zu müssen. Ferner sah Braun in der Religionsgleichheit Amerikas, also im Schutz und in der Gleichwertigkeit aller Religionsgemeinschaften, eine Herabsetzung der katholischen Kirche auf die Stellung einer Sekte. Für besonders bedenklich hielt Braun, dass die amerikanische Gesetzgebung nicht anschauungsneutral sei, sondern protestantischer Natur mit freigeistigem und freimaurerischem Programm. 59 Brauns Schlussfolgerung, wonach sich die Welt der Kirche unterordnen müsse, spiegelt den Blickwinkel der deutschen Zentrumsöffentlichkeit auf den Amerikanismusstreit in den Vereinigten Staaten wider. Amerikanische Bischöfe deutscher Abstammung und katholische Einwanderer in Amerika machten einen enormen Prozess der Anpassung und Definierung der eigenen Rolle in der katholischen Kirche Amerikas und der amerikanischen Gesellschaft durch. Dass langfristig bei den katholischen Einwanderern aus Deutschland die neue amerikanische Identität die Herkunft dominieren würde, stand außer Frage. Der Wunsch nach der Bewahrung nationaler Identitäten drang jedoch in die kirchlichen Angelegenheiten ein und motivierte amerikanische Bischöfe deutscher Abstammung um ihren Platz zu ringen. Die irischen Einwanderer und die Amerikanisten hatten den ungeheuren Vorteil, dass sie ihrer sprachlichen Herkunft nach leichter in die amerikanische Gesellschaft eingegliedert werden konnten ohne den nationalen Hintergrund, wie in der Schulfrage am deutlichsten sichtbar, schnell aufgeben zu müssen. Zudem kämpfte die katholische Kirche in Amerika insgesamt um Akzeptanz und Anerkennung als eine amerikakonforme Institution, und eine „Unterordnung" der Kirche unter die staatlichen Gegebenheiten war im Denken der Amerikanisten ein erfolgversprechender Weg. Die Stellung der katholischen Neuankömmlinge und der katholischen Kirche wurde in der Glanzzeit der „Anglo-Saxon self-glorification" und dem beginnenden amerikanischen Imperialismus besonders kritisch betrachtet, und diese mussten die Vereinbarkeit ihrer Religion und ih58 Braun, Carl, Amerikanismus, Fortschritt, Reform. Ihr Zusammenhang, Zweck und Verlauf in Amerika, Frankreich, England und Deutschland. Verfasst mit bischöflicher Erlaubnis, Würzburg, 1904, S. 1-4. 59 Braun, Amerikanismus. S. 14, S. 24 und S. 36. Vgl. auch Gisler, Anton, Der Modernismus, Berlin, 1912. Der Amerikanismus neige zur Interkonfessionalität, ebd., S. 185.
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rer Kirche mit dem politischen System in Amerika unter Beweis stellen. Die Reaktionen aus den Reihen des Zentrums in Deutschland offenbarten eine Wahrnehmung der Vorgänge in Amerika, die vom Kampf der „wahren Katholischen Kirche" gegen eine „Verweltlichung" und gegen eine Assimilierung der deutschen Einwanderer geprägt war. In diesem Zusammenhang glaubten Kommentatoren und Vertreter des Zentrums, die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten werde von zwei Seiten angegriffen; von den Nativisten und anderen antikatholischen Gruppierungen von außen, und nun auch von innen durch den Wunsch der Amerikanisten nach Neueingliederung der Kirche in das amerikanische Leben, was im ersten Falle durchaus zutraf, im zweiten aber die Motivation der Amerikanisten und den langfristigen Erfolg nicht berücksichtigte. Dennoch wurden bei den Zentrumsvertretern und der Zentrumsöffentlichkeit die beiden Feindgruppen klar identifiziert. Die führenden Bischöfe der Gruppe der Amerikanisten Ireland, Keane, Gibbons und O'Connell gerieten ins Schussfeuer der Zentrumskritik. Als besonders provokant wurden ihr Eintreten für die Schulfrage und ihre öffentlichen Bekenntnisse zur republikanischen Staatsform der Vereinigten Staaten empfunden. Keane und O'Connell nahmen am Parliament ofReligions am Rande der Chicagoer Weltausstellung im Jahre 1893 teil, das von Reverent Henry Barrows, einem Presbyterianer, geleitet wurde. Das Treffen sollte Vertreter verschiedener Religionen zusammenbringen, um einen freien Gedankenaustausch über religiöse Ansichten zu fördern. Vor allem aber wurde Erzbischof John Ireland von St. Paul aufgrund seiner lautstarken Reden, Interviews und öffentlicher Auftritte zum Symbol des Amerikanismus und der Gegnerschaft einer deutschkatholischen Identität in der amerikanischen Kirche. In seinen Predigten betonte Ireland immer wieder sein Eintreten für die staatlichen Schulen, die Dominanz der englischen Sprache für neue Einwanderer gegenüber ihrer Heimatsprache und die amerikanische Regierungsform als eine „starke moralische Grundlage" für Gewissen und Moral. 61 60
In der Literatur werden die Motive der Amerikanisten weitgehend als solche benannt. So z. B. Hennesey, American Catholics, S. 196 oder Ahlstrom, A Religious History, S. 830. 61 Auf der Versammlung des Zentral Vereins der deutschen Katholiken in Minnesota im Jahre 1888 billigte Ireland den Zuhörern zu, ihre Muttersprache zu pflegen, meinte jedoch, dass die englische Sprache in ihrer neuen Heimat wichtiger sei. Ireland wiederholte seinen Standpunkt in der Jahresansprache von 1890, in der er von den „free schools of America" sprach. 1892 sandte Ireland ein Positionspapier mit seinen Ansichten an den Papst. Irelands Ideen waren nicht neu, bereits in den Jahren 1840 bis 1890 waren ähnliche Pläne in verschieden Teilen der Vereinigten Staaten unter anderem unter dem Namen Poughkeepsie Plan umgesetzt worden. Irelands Erfahrungen als Einwanderer und Katholik - im Alter von sieben ist er aus Irland in die Vereinigten Staaten eingewandert - überzeugten ihn von der Notwendigkeit der Vereinbarkeit der katholischen Kirche mit Amerika. Die staatlichen Schulen stellten für ihn die beste Möglichkeit dar, dies zu erreichen. Vgl. Rippley, Archbishop Ireland and the School Language Controversy, S. 38. S. 40 und S. 45 und Barry , The Catholic Church, S. 220. Zu Irlands Überzeugungen Morrisey , Timothy H., A Controversial Reformer. Archbishop John Ireland and His Educational Belief, in: Notre Dame Journal of Education, 7 (1976), S.63-75. Reprinted in: Perko (Ed.), Enligheting the Next Generation, ebd., S.54 und S.61. Hennesey , American Catholics. S. 201 und Fogarty , The Vatican and the Americanists Crisis, S. 136.
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Seine Stellung als „Feind" der deutschstämmigen Katholiken wurde in den Augen der deutschen Zentrumsöffentlichkeit durch den so genannten Faribault School Plan von 1891-92 untermauert, der den konfessionellen Schulen eine staatliche finanzielle Unterstützung zusichern, zugleich aber auch die Kontrolle über die Ausstattung der Schule und die Bezahlung der Lehrer an staatliche Aufsicht abgeben sollte. Als Folge des Arrangements hätte der Religionsunterricht nur außerhalb des regulären Unterrichts erteilt werden können. Brisant machte den Plan Irelands der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, er fiel in die Cahensly-Kontroverse hinein und verstärke den Eindruck von zwei sich gegenüberstehenden Fronten in der katholischen Kirche Amerikas. Für Ernst Lieber, neben Windthorst der bedeutendste Repräsentanten des Zentrums im Kaiserreich, einen Freund Cahenslys und regelmäßigen Teilnehmer der Generalversammlung des deutschen römisch-katholischen Zentralvereins in St. Louis, war Erzbischof Ireland ein „Freimaurer" und „Darwinist". Auch in der Zentrumspresse wurden Ireland und die irischen Bischöfe des „Freimaurertums" und des „maskierten Protestantismus" bezichtigt und als nur eine Minderheit innerhalb der katholischen Kirche bezeichnet, deren Ansichten nicht von den Katholiken in Amerika geteilt würden. 62 Eine weitaus größere Gefahr für den Fortbestand der katholischen Kirche in Amerika wurde in Deutschland jedoch in der katholischfeindlichen Umgebung der amerikanischen Gesellschaft gesehen. Der katholische Priester, Zentrumsabgeordnete und Mitarbeiter der Historisch-politischen Blätter Georg Ratzinger schrieb, dass das größte Hindernis für die Wirksamkeit des Katholizismus noch immer die „wahrhaft heidnische Atmosphäre" und der Materialismus blieben. Ratzinger stellte eine Liste von Faktoren auf, welche seiner Ansicht nach den Katholizismus in Amerika behinderten, die Zügellosigkeit der Presse, die alles in Frage stelle, die hohe Anzahl von Romanen, welche vom Laster und Verbrechen erzählten, die Rolle der Frau, welche die Familie gefährde und den um sich greifenden Materialismus, vor allem aber die Intoleranz der Protestanten und Freimauer. 63 Viel größere Sorgen bereiteten der Zentrumspresse aber die tatsächlichen antikatholischen Aktivitäten der diversen nativistischen Gruppierungen. In erster Linie wurde die American Protective Assosiation , eine „Schmach für Amerika" wie die Kölnische Volkszeitung sie nannte, für das Organisieren und Durchführen von antikatholischen Aktionen verantwortlich gemacht. Diese Gesellschaft stehe nur an der vordersten Front einer 62 Lieber in seinem Tagebuch am 17.11.1892. Nach Zeender , John K , The German Center Party, 1890-1906, Philadelphia, 1976, S.26. Die gleiche Titulierung mehrmals in der Kölnischen Volkszeitung. Kölnische Volkszeitung, Nr. 864,28.11.1897. Nr. 189,26.2.1899. Nr. 245, 14.3.1899 und Nr. 472,23.5.1900. Lieber besuchte die Katholikentage in Amerika 1888,1890 und 1898. Vgl. Barry , The Catholic Church, S. 177 und S. 182 und Haunfelder , Bernd (Hrsg.), Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871-1933. Biographisches Handbuch, Düsseldorf, 1999, S.206. 63 Ratzinger , Georg, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: Historisch-politische Blätter, 112 (1893), S.935. Ratzinger war seit 1898 im Reichstag und Patriotenpater. Vgl. Haunfelder (Hrsg.), Reichstagsabgeordnete, S.238.
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großangelegten Offensive von Iren, Freimaurern und zahlreichen „religionsfeindlichen" Geheimgesellschaften, die mit Verleumdungen und Lügen gegen die deutschen Katholiken angingen. Sie würden die eingewanderten deutschen Katholiken in jeder Hinsicht behindern, ihnen den Landerwerb erschweren, sie aus dem öffentlichen Leben ausschließen und ihnen ihre Herkunft versagen wollen. Baumgarten berichtete von den von ihnen verübten Morden, der Zerstörung und den Gräueltaten und ihrem Kampf, um die „Macht der katholishen Kirche" zu brechen. Als Erklärung bot er die Furcht der Nativisten und Iren an, ihre Stellung als erste Kolonisten und in Amerika zu verlieren. Auch in der Zentrumspresse wurden die Aktivitäten der APA weitgehend als eine Antwort der irischen Einwanderer auf die deutschen Katholiken interpretiert, welche um ihre ursprüngliche „Macht- und Sonderstellung" in Amerika fürchteten, als Taktik würden sie Unterstellungen und Lügen einsetzen, umso in Amerika die deutschen Katholiken zu diskreditieren und ihnen den Anschein einer fremden Verschwörung anzulasten.64 Die Auseinandersetzungen der deutschen Katholiken in Amerika um die deutschsprachigen Schulen und die damit zusammenhängende Frage nach dem Erhalt des Deutschtums, wie auch der gesamte Streit um den „Amerikanismus", drehten sich freilich um den Kern, ob eine Einwanderergesellschaft eine „partielle Nichtidentität" tolerieren kann und ob dies mit dem amerikanischen Selbstverständnis vereinbar ist. Folgt man der These, dass Amerika ein normatives Konzept ist, in dem Amerikaner zu sein bedeutet, einer Gesinnungsgemeinschaft anzugehören, die sich mit bloßer Befolgung in Loyalitätspflichten nicht zufrieden gibt, sondern erhebliche Konformitätsforderungen stellt und alle jene Denk- und Lebensweisen, die sie als „unamerikanisch" empfinde, immer wieder aggressiv bekämpft, so mussten die Bemühungen der deutschen katholischen Einwanderer auf Gegenwehr stoßen.65 Die Zentrumspolitiker und die Zentrumsöffentlichkeit in Deutschland bewerteten Amerika jedoch aus einem anderen Blickwinkel. Sicherlich wurden die Vereinigten Staaten als Einwanderungsland eingestuft, doch sahen Zentrumsvertreter darin keinen Widerspruch zur Erhaltung einer nationalen katholischen Identität der Einwanderer. Immer wieder wurde in der Zentrumsöffentlichkeit betont, dass ein Einwanderer aus Deutschland „guter Amerikaner" sein und gleichzeitig „guter deutscher Katholik" bleiben könne. Die scharfen Reaktionen und die verhärteten Fronten in Amerika spitzten auch die Rhetorik in Deutschland zu und erhitzten die Gemüter. Die Essenz des Engagements und der Empörung der Zentrumsvertreter und der Zen64 Baumgarten , Paul MariaISwoboda, Heinrich, Die katholische Kirche auf dem Erdenrund. Darstellung der Kirchenverfassung und kirchlichen Einrichtungen in allen fünf Erdteilen. München, 1907, S.484. Auch zahlreiche Berichte in der Zentrumspresse. Als Beispiele der Benachteiligung der Katholiken wurden der zu geringe Anteil an katholischen Pfarrern beim Militär und die Praxis der Errichtung amerikanischer Schulen auf den neuerworbenen Inseln genannt. Kölnische Volkszeitung, Nr. 319,16.5.1895. Nr. 811,8.11.1897 oder Germania, Nr. 255, 6.11.1900. 65 Z. B. Zöller , Washington und Rom, S. 131.
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trumsöffentlichkeit in Deutschland aber bestand nicht darin, dass Amerika sich gegen fremden Einfluss wehre, sondern dass Amerika - präziser gesagt ein Teil davon - als Einwanderungsland den neuen Einwanderern ihre ursprüngliche Identität und, wichtiger, ihren ursprünglichen Glauben nehmen wolle. Es gab kaum direkte Angriffe gegen die Vereinigten Staaten, sondern stets gegen einen Teil der amerikanischen Gesellschaft, die Iren und die Nativisten, die in der Wahrnehmung des Zentrums Amerika für sich vereinnahmen wollten. Es war die Sorge um den Verlust der religiös-ethnischen Identität der deutschen katholischen Einwanderer und um die befürchtete Amerikanisierung der katholischen Kirche, die den „Amerikanismus" bzw. den „irisch-amerikanischen Liberalismus" in der deutschen Zentrumspartei von vorneherein verurteilen ließ. Dahinter stand aber auch ein Bild von Amerika, das, aus der Sicht des Zentrums, Amerika zu einem katholisch-feindlichen Land machte. Was in den Debatten zur amerikanischen Wirtschafts- und Außenpolitik sehr klar zum Ausdruck kam, fand an dieser Stelle unüberhörbare Anklänge. Amerika war das Land des Materialismus, Kapitalismus und Egoismus. Es fällt aber auf, wie stark die Motive der Amerikanisten und die sozialen und politischen Umstände in den Vereinigten Staaten von der Zentrumsöffentlichkeit und den Zentrumsvertretern ignoriert wurden. Die Amerikanisten wollten die Stellung der Kirche in Amerika stärken, sie mit amerikanischen Institutionen vereinbar machen und ihr eine größere Akzeptanz verschaffen. Das Zentrum in Deutschland verstand dies nicht, sah darin eine Gefahr für die Kirche an sich und für die deutschen katholischen Einwanderer und kämpfte, zwar nur publizistisch und ohne Wirkung in Amerika, einen Kampf, den es nicht gewinnen konnte.
3. Sozialismus Unter den deutschen Parteien des Kaiserreichs stand die Sozialdemokratie in einem besonderen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Nicht nur, dass es die sozialdemokratische Partei war, die im Vergleich zu allen anderen Parteien, abgesehen von der Freisinnigen Vereinigung Theodor Barths, Amerika und der amerikanischen Politik sehr viel Aufmerksamkeit schenkte. Das Interesse an der amerikanischen Politik, an gut funktionierenden deutsch-amerikanischen Beziehungen und den daraus resultierenden Vorteilen für die eigene Klientel war aber immer nur ein Teil der sozialdemokratischen Auseinandersetzung mit Amerika. Neben den tagespolitischen Ereignissen und der tatsächlichen Politik existierte in den Vorstellungen der Sozialdemokraten ein Bild von Amerika, das die eigene Zukunft vorwegzunehmen schien und einen Gegenentwurf zu den europäischen Verhältnissen darstellte. 66 In 66 Die Literatur zum sozialdemokratischen Amerikabild bietet inzwischen vor allem durch die Arbeiten von Manfred Kremp einen soliden Fundus an Erkenntnissen. Vgl. Kremp , In Deutschland liegt unser Amerika, ders., Von Höhe sozialistischer Kultur zur neuen Macht auf dem Weltschachbrett. Sozialdemokratische Amerikabilder 1890-1914, in: Hase/Heideking (Hrsg.), Zwei Wege in die Moderne, S. 119-127 und ders. Variations on America. Some Re-
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diesem Kontext bildete die Frage nach den Aussichten des Sozialismus in Amerika und den Fortschritten der dortigen Arbeiterbewegung einen festen Bestandteil der sozialdemokratischen Auseinandersetzung mit Amerika. Betrachtet man dies anhand der Äußerungen der führenden Vertreter der Partei, so lässt sich festhalten, dass die Frage nach dem Sozialismus in Amerika zwischen zwei Polen pendelte: von einer durchaus realistischen Einschätzung seiner Lage und der ihm im Wege stehenden Schwierigkeiten, und auf der anderen Seite der Hoffnung auf seinen baldigen Durchbruch in Amerika. Es wäre zu kurz gegriffen, nur auf den ideologischen Hintergrund der Sozialdemokratie als Motivation für ihr Interesse an den Aussichten des Sozialismus in Amerika zu verweisen. Es trifft zwar zu, dass seit den Anfängen der Sozialdemokratie der Arbeiterbewegung in Amerika große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So interessierte Amerika die frühen Marxisten aus zwei Gründen: Der Klassenkampf in der Neuen Welt hätte eine dramatische Wendung nehmen und dem Sozialismus zu einem schnellen Sieg in Amerika verhelfen können, oder die Vereinigten Staaten hätten die sozialistische Revolution in Europa durch den wirtschaftlichen und finanziellen Konkurrenzkampf mit Europa und durch die dadurch ausgelösten Wirtschaftskrisen beschleunigen können. In beiden Fällen nahm Amerika die Rolle eines zukunftsträchtigen Staates an.67 Dieses „Warten auf die Zukunft", wie Henningsen es ausdrückt, bestimmte auch die Haltung Marx' und Engels' gegenüber Amerika. 68 Ihre Einschätzung Amerikas prägte in vielen Punkten die allgemeine Haltung der frühen Sozialisten gegenüber Amerika. Dabei lag der Schwerpunkt in der Erwartung einer schnellen Revolution. Amerika war nach ihrer Bewertung das sich am schnellsten entwickelnde Industrieland, also der erste Anwärter für eine sozialistische Revolution. Leider verzögere die Tatsache einer unterentwickelten Arbeiterbewegung diesen Vorgang, wenn aber die Revolution in Amerika ausbremarks about the Role of America in the Polical Thoughts of the SPD (From the 1860s to the 1930s), in: German Social Democracy and the United States. Past, Present and Future Attitudes. Contributions to a seminar held by the Friedrich-Ebert-Stiftung on the Occasion of the 125 th anniversary of the Social Democratic Party, Washington D. C., 1988, S. 31-42. 67 Vgl. Moore , European Socialists, S.60. 68 Vgl. Henningsen , Der Fall Amerika, S.76ff. Fraenkel schreibt in seiner Einleitung zu „Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens", dass die Beschäftigung mit amerikanischen Problemen weitab vom Zentrum des marxistischen Denken gelegen hat, wie die von Marx zugegebene Tatsache erkennen lässt, dass die amerikanische Arbeiterbewegung am Ende des Kommunistischen Manifests unerwähnt geblieben ist. Henningsen rechnet jedoch Marx und Engels zu den wenigen „zweifelsohne analytisch begabten und zugleich wohlmeinenden Interpreten", die Amerika im 19. Jahrhundert in Europa gefunden habe. Weiner geht in Bezug auf Marx noch weiter und spricht von der „lebenslangen Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten". Vgl. Henningsen, Der Fall Amerika, S. 31 .Fraenkel, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, S. 97. Weiner, Robert, Das Amerikabild von Karl Marx, Bonn, 1982, S. 10 und Mommsen, Hans, Die Mitteleuropäische Sozialdemokratie im Konflikt zwischen Internationalismus und nationaler Loyalität, in: Mommsen, Hans/Karalka, Jiri (Hrsg.), Ungleiche Nachbarn. Demokratie und nationale Emanzipation bei Deutschen, Tschechen und Slowaken 1815-1914, Essen, 1993, S. 91-106.
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che, so Marx, dann schnell und gründlich. Der Ausbruch der Revolution in Amerika werde dann auch die Länder der alten Welt in die revolutionären Entwicklungen mit sich reißen, damit könne Amerika eine Vorreiterrolle spielen.69 Marx' und Engels' Amerikabild war also besonders von der Erwartung bestimmt, Amerika werde in nächster Zukunft sozialistisch werden. Das Warten auf den Sozialismus in Amerika blieb eine Konstante des sozialdemokratischen Amerikabildes, auch wenn ein weiteres anfängliches Element des sozialdemokratischen Amerikabildes, der Mythos des „Landes der Freiheit", bei einigen Sozialdemokraten fortlebte, am deutlichsten wohl in der Person Liebknechts.70 Dies erklärt jedoch nicht ausreichend das besonders intensive Interesse an der Entwicklung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten. Ein weiterer wichtiger Grund für das rege Interesse der Sozialdemokraten an Amerika ist in der großen Zahl der in Amerika lebenden deutschen Sozialisten bzw. Sozialdemokraten, ihrer politischen Aktivitäten dort und der Rückkopplung mit der Heimat zu sehen. Vor allem in den 1870er Jahren und verstärkt nach dem Erlass der Sozialistengesetze von 1878 wanderten zahlreiche deutsche Sozialdemokraten nach Amerika aus, und es entstand ein vielschichtiges Geflecht von Verbindungen und Kontakten zwischen ihnen und den in Deutschland lebenden Sozialdemokraten.71 Obwohl bereits seit 1848 deutsche Utopisten und Sozialisten aller Couleur nach Amerika auswanderten, erreichte die Auswanderung deutscher Sozialdemokraten einen Höhepunkt in den 1880er Jahren, als in Deutschland die Sozialistengesetze ihre Wirkung voll entfalteten. Auch wenn die Zahl der ausgewanderten Sozialisten, Sozialdemokraten und anderer aus dem sozialistisch-kommunistischen Spektrum relativ gering ausfällt, ist ihr Anteil an der organisierten amerikanischen Arbeiterbewegung verhältnismäßig groß. Als hilfreich hat sich der Umstand erwiesen, dass sie bei ihrer Ankunft ein bereits existierendes Netz von deutschstämmigen sozialistischen Auswanderern früherer Jahre vorfanden. Freilich unter anderen Um69 Zum Amerikabild von Marx und Engel gehört ebenfalls ihre Beschäftigung mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, in dem Marx die „Sturmglocken für die europäische Arbeiterklasse" läuten hörte. Das marxsche Amerikabild trug aber auch Konturen, die nicht spezifisch dem Sozialismus zuzuordnen waren, wie eine geistig-kulturelle Überlegenheit Europas und die Überzeugung, dass Amerika das europäische historische Erbe in sich trage, das die Amerikaner dazu bewegen werde, sich den europäischen Theorien zuzuwenden, wobei Marx ausdrücklich das Angelsachsentum, den „Gedankenschund", wie er es nannte, aus dem europäischen Kontext herausnahm. Vgl. Kremp , In Deutschland liegt unser Amerika, S.430 und Weiner , Das Amerikabild von Karl Marx, S. 54-62. 70 Zum Mythos Amerikas als das „Land der Freiheit". Vgl. Brenner , Reisen in die Neue Welt, S. 344-357. 71 Vgl. vor allem Keil, Hartmut, Deutsche sozialistische Einwanderer in den USA im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Lebensweise und Organisation im Spannungsfeld von Tradition und Integration, München, 1985. Ders., German Working Class Imigration and the Social Democratic Tradition of Germany, in: Keil, Hartmut (Ed.), German Workers' Culture in the United States ftom 1850 to 1920, Washington/London, 1988, S. 10ff. undHoerder, Keil, The American Case, S. 143 ff.
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ständen als die Sozialdemokraten der 1880er Jahre nach Amerika gekommen, bereiten die Utopisten und Sozialisten der Jahre nach 1848 eine solide ideologische und organisatorische Basis für spätere Betätigungsfelder der Arbeiterbewegung vor. 7 2 So gründete Adolph Strasser zusammen mit einigen Lassallianern 1874 die Social Democratic Party of North America, Hermann Kriege wurde zum Wegbereiter der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung mit den Gründungen des Bundes der Gerechten und der Sozialreformassoziation, und Karl Hintzen gründete den Sozialen Bund der Radikalen mit dem Ziel der Verbreitung sozialistischer Ideen. Die Auswanderer der 1880er Jahren fanden somit schnell eine neue geistige Heimat. Aber auch die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien i m späten 19. Jahrhundert in Amerika waren deutsch geprägt und erwiesen sich als Ausgangspunkt für politische Agitation für deutsche Einwanderer. Gegen Ende des Jahrhunderts existierten in den Vereinigten Staaten zwei namhafte sozialistische Parteien und eine Reihe von Gewerkschaftsorganisationen, die von den deutschen Sozialdemokraten als Ausdruck einer amerikanischen Arbeiterbewegung zur Kenntnis genommen wurden. Als die älteste auf nationaler Ebene agierende Partei galt die Socialist Labor Party, die 1877 aus anderen kleineren Gruppierungen hervorgegangen 72 Es sei jedoch darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um keine geschlossene sozialdemokratisch-kommunistische Auswanderergruppe handelte, ihre politischen und weltanschaulichen Überzeugungen divergierten zu sehr, auch existierte kein Vorhaben einer organisierten Auswanderung, um als eine homogene Gruppe betrachtet zu werden. In der Gesamtzahl der deutschen Auswanderung nach Amerika haben sie nur einen kleinen Anteil. In den Jahren 1878 bis 1890 wanderten 1,6 Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika aus; von den ungefähr 850 aufgrund der Sozialistengesetze ausgewiesen Sozialdemokraten, darunter Gewerkschafter, Anarchisten und andere Radikale, ging allerdings weniger als ein Fünftel in die Vereinigten Staaten, wobei eine Unterscheidung zwischen politischem Exil und freiwilliger Auswanderung nicht immer klar zu treffen ist. In der Zeit nach 1878 flohen etwas 120 deutsche Sozialdemokraten nach Amerika. Zu den prominenten sozialistischen Auswanderern vor 1878 gehörten auch der Kommunist und Utopist Wilhelm Weitling und der Sozialist und Mitarbeiter von Marx Joseph Weydemeyer. In Amerika übernahm Weitling die Herausgabe des Volkstribuns und gründete 1852 den Befreiungsbund für Arbeiter. Im Jahre 1848 kehrte er mit dem Revolutionär und Theoretiker Julius Fröbel für kurze Zeit nach Deutschland zurück, um erfolglos eine außerparlamentarische Organisation nach dem amerikanischen Vorbild der Arbeiterloge ins Leben zu rufen. Weydemeyer agitierte in Deutschland mit einer Pressekampagne in der sozialistischen Presse und sollte Gelder für politische Tätigkeiten in Europa eintreiben. Vgl. Ho erder/Keil, The American Case, S. 141. Vagts, Alfred, Deutschamerikanische Rückwanderung, Heidelberg, 1960, S. 166. Knatz , Lothar, Wilhelm Weitling's Forgotten Scientific Works and Projects in America, in: Brancaforte, Charlotte L. (Ed.), The German Forty-Eighters in the United States, New York/Frankfurt, 1989, S. 37-45 und Doerries , Iren und Deutsche, S. 125. Einige Arbeiten betonen die große Zahl der sozialistischen Emigranten innerhalb der 48er Auswanderer, allerdings waren viele von ihnen Liberale oder Radikaldemokraten. Vgl. Wittke , Carl, Refugees of Revolution. The German Forty-Eighters in America. Westport, 1970, S. 171-174 und Berquist, James, Die Achtundvierziger: Katalysatoren deutsch-amerikanischer Politik, in: Trommler, Frank/Shore, Elliott (Hrsg.), Deutsch-amerikanische Begegnungen. Konflikt und Kooperation im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart/ München, 2001, S.46.
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ist. Sie erhielt durch den großen Einfluss von Daniel De Leon in den 1890er Jahren eine starke marxistische Prägung, verlor aber nach der Jahrhundertwende an Bedeutung. Von den deutschen Sozialdemokraten wurde allerdings als die eigentlich bedeutende amerikanische sozialistische Partei die Socialist Party betrachtet. Die Socialist Party ist 1901 aus der Vereinigung der Social Democratic Party und dem gemäßigten Flügel der Socialist Labor Party hervorgegangen. Führende Persönlichkeiten waren Eugene V. Debs und Victor Louis Berger, ein österreichischer Sozialist, beide riefen i m Jahre 1897 die Social Democratic Party ins Leben. 7 3 Entscheidend jedoch für die Wahrnehmung des Sozialismus in Amerika bei den deutschen Sozialdemokraten war die gegenseitige materielle und ideologische Unterstützung und der Ausbau eines tragfähigen Netzwerkes zwischen Deutschland und Amerika in der Zeit der Sozialistengesetze und in den 1890er Jahren. Zudem waren die amerikanischen sozialistischen Parteien organisatorisch und in ihrer Zielsetzung am deutschen Vorbild orientiert. A m engsten waren die Verbindungen zwischen der amerikanischen Socialist Labor Party und der Sozialdemokratischen Par73
Eugene Debs historische Bedeutung liegt in der Formulierung sozialer Forderungen, die später von den großen Parteien aufgenommen und zum Teil verwirklicht wurden. Eugene Debs galt als der Revisionist innerhalb der amerikanischen Sozialisten und erhielt den Beinamen. „the American Lasalle". Die Fülle der Arbeiten zu Arbeiterbewegung und zum Sozialismus in Amerika ist durchaus beachtlich. Vgl. unter anderen Fitrakis , Robert J., The Idea of Demokratie Socialism in America and the Decline of the Socialist Party, New York/London, 1993, S.74ff. oder Dick, Williams, Labor and Socialism in America. The Gombers Era. Port. Washington, 1971, S.52. Zu den organisatorischen Anfängen der „deutschen Arbeiterbewegung" in Amerika vgl. auch das Buch des aus Deutschland nach Amerika ausgewanderten Sozialisten Hermann Schlüter. Schlüter , Hermann, Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika, Stuttgart, 1907, S. 135-156. Viel stärker jedoch als in den politischen Parteien organisierte sich die amerikanische Arbeiterbewegung in Gewerkschaften. Die 1866 gegründete National Labor Union scheiterte in der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre. Erfolgreicher erwies sich die Gründung der Knights of Labor im Jahre 1878, die Knights of Labor standen allen Berufsgruppen offen und konnten einen beträchtlichen Zuwachs an Mitgliederzahlen verzeichnen. Ihre zentralen Forderungen lauteten Verbot der Kinderarbeit, gleicher Lohn für Frauen und Männer, Achtstundentag und Verstaatlichung der Eisenbahn-Telegraphengesellschaften, aber auch eine Begrenzung der Einwanderung. Die Knights of Labor erlitten einen schweren Schlag nach dem Bombenanschlag von Haymarket in Chicago 1886. Damit wurde der Schwung der Knights of Labor gebrochen. Bis 1896 sank ihre Mitgliederzahl von 700.000 auf 70.000. Ihr Erbe trat die American Federation of Labor an. Sie entstand 1881 in Pittsburgh auf Initiative von Samuel Gompers, verfolgte einen pragmatischen Kurs, der die Arbeitsbedingungen innerhalb des bestehenden Systems schrittweise verbessern sollte und legte wenig wert auf Mitgliedschaft ungelernter Arbeiter. 1900 gehörten von knapp 30 Millionen Beschäftigten nur etwa 1 Million einer Gewerkschaft an, die Mitgliederzahlen der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien fielen im Vergleich zu den Mitgliederzahlen anderer Parteien noch geringer aus. Vgl. Phelan , Craig, Grand Master Workman. Terence Powderly and the Knights of Labor, Westport Conneticut/London, 2000, S. 171 ff. Obermann, Karl, Der Einfluss der deutschen Einwanderer auf die ökonomische, politische und gesellschaftliche Entwicklung in den USA im 19. Jahrhundert, in: Bartel, Horst/Helmer, Heinz/Küttler, Wolfgang/Seeber, Gustav (Hrsg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Bd. II Berlin, 1976, S.427 und Faulkner, The Decline of Laissez-Faire, S. 280-287.
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tei in Deutschland, die sich auf institutioneller Ebene abspielten, aber auch unterhalb dieser Ebene ein breites Spektrum an Geldspenden, Hilfen für Einwanderer sowie persönlichen und publizistischen Kontakten aufwiesen. 74 In den 1870er und 1880er Jahren erlebte die deutsche Arbeiterpresse in Amerika einen Höhepunkt. In dieser Zeit wurden ungefähr 91 neue Zeitungen und Zeitschriften gegründet, darunter als wichtigste Zeitung die New Yorker Volkszeitung, das Organ der Socialist Labor Party und das führende marxistische Blatt mit einer Auflagenstärke von 21.000 Exemplaren. 75 Der publizistische Fluss aus Amerika nach Deutschland spielte für die Frage nach den Aussichten des Sozialismus in Amerika die entscheidende Rolle. Viele der nach Amerika ausgewanderten Sozialdemokraten und Sozialisten betätigten sich in der publizistischen Arbeit in Amerika. Für die deutsche Seite war ihre Arbeit von großer Wichtigkeit, da sie regelmäßige Berichte und Kommentare nach Deutschland schrieben und ihre Beiträge von deutschen Herausgebern gelesen und zum Teil für deutsche Zeitungen übernommen wurden. Genauso von Bedeutung war die Tatsache, dass der Informationsaustausch zwischen der deutschen und der amerikanischen Arbeiterpresse auf gemeinsamer Weltanschauung, gemeinsamen Erfahrungen und freundschaftlichem Verhältnis beruhte. Deutsche Sozialdemokraten wie Liebknecht oder Molkenbuhr, die Amerika bereisten oder dort zeitweise gelebt hatten, dienten dabei als Boten und Garanten der transatlantischen Verknüpfungen. Die prominentesten Lieferanten von Berichten und Kommentaren waren Opfer der Sozialistengesetze, die ihre Existenzgrundlage in Deutschland verloren hatten. Sie waren zudem in der Lage, aus der sozialistischen Perspektive Erfahrungen aus erster Hand zu liefern und genaue Analysen der amerikanischen Verhältnisse zu erstellen. In Deutschland war die Neue Zeit das wichtigste Publikationsorgan für ausführliche Artikel über Amerika. 76 Besonders Friedrich A. Sorge, der nach Amerika ausgewan74 So organisierte die Socialist Labor Party Protestveranstaltungen und Geldsammlungen für die Sozialdemokraten in Deutschland während der Zeit der Sozialistengesetze und startete zusammen mit den von Deutschen geleiteten Arbeiterzeitungen eine Kampagne gegen die Gesetze in Deutschland. Wilhelm Liebknecht nahm nach seiner ersten Amerikareise 11.000 Dollar als Spenden mit nach Deutschland zurück. Vgl. Foner , Philip, Protests in the United States agaist Bismarck's Anti-Socialist Law, in: International Review of Social History, 21 (1976), S.34 und S.41 und Hörder/'Hartmut, Deutsche Sozialdemokratie und Gewerkschaften, S.26. 75 In dem Zeitraum zwischen 1863 und 1876 wurden insgesamt 120 deutsche Zeitungen gegründet. Vgl. Miller , Sally K., The Ethnic Press and its Labor Component. Patterns of Selected Groups, in: Hanzig, Christiane/Hoerder, Dirk (Ed.), The Press of Labor Migrants in Europe and North America 1880s to 1930s, Bremen, 1995, S.406ff. Kiesewetter , Renate, German-American Labor Press. The Vorbote and The Chicogoer Arbeiter-Zeitung, in: Keil, Hartmut (Ed.), German Workers' Culture in the U.S., Washington/London, 1988, S. 138 und Buhle, Paul, Ludwig Lore and the New Yorker Volkszeitung. The Twilight of the German-American Socialist Press, in: Wolf, Ken Fones/Shore, Elliot/Daudy James P. (Ed.), The German-American Radical Press. The Shaping of a Left Political Culture, 1850-1940, Chicago, 1992, S. 168. 76 Vgl. Sperlich, Waltraud, Journalist und Mandat. Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und ihre Arbeit in der Parteipresse 1867-1918, Düsseldorf, 1983, S. 123 ff.
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derte deutsche Sozialist, lieferte regelmäßige Berichte unter der Rubrik „Briefe aus Amerika" und „Aus den Vereinigten Staaten" über das politische Leben, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Entwicklung des Sozialismus in Amerika. Aber auch Herman Schlüter und Julius Vahlteich versorgten die Neue Zeit regelmäßig mit Material. Julius Vahlteich, früherer Sekretär von Lassalle, Herausgeber der Chemnitzer Freien Presse und Reichstagsabgeordneter bis 1881, emigrierte 1881 in die Vereinigten Staaten und wurde als Korrespondent für Deutschland im Dienste der New Yorker Volkszeitung tätig. 77 Hermann Schlüter, ebenfalls Auswanderer, wurde 1878 amerikanischer Staatsbürger, kehrte aber im selben Jahr die Schweiz zurück. Nach der Ausweisung aus der Schweiz 1887 reiste er in die Vereinigten Staaten zurück und wurde Mitarbeiter und später Herausgeber der New Yorker Volkszeitung.78 Dass die Frage nach dem Sozialismus in Amerika in der Neuen Zeit einen so großen Raum einnahm, lag aber auch an der Ausrichtung des Organs. Die Neue Zeit stand unter erheblichem Einfluss ihres Chefredakteurs Karl Kautsky und galt als eines der führenden theoretischen Organe der Arbeiterbewegung. Kautsky selbst stellte das Organ unter die Maxime der „Propagierung und Fortentwicklung marxistischen Denkens und Forschens".79 Das Thema des Sozialismus in Amerika war jedoch für die Sozialdemokraten zu bedeutend, um einem Organ vorbehalten zu bleiben. Die Neue Zeit schöpfte ihre Informationen aus der Feder der in Amerika lebenden Sozialdemokraten, aber auch die Sozialistischen Monatshefte, der Vorwärts und vereinzelte Äußerungen einiger Sozialdemokraten beschäftigten sich mit diesem Thema. Auffällig an dieser Stelle ist jedoch die Tatsache, dass nicht alle Sozialdemokraten, die Amerika besuchten oder dort zeitweilig gelebt hatten, dem Thema „Sozialismus in Amerika" eine allzu große Beachtung schenkten. Wilhelm Liebknecht sprach von „republikanischem Wesen" und der „Zukunftsfähigkeit der Vereinigten Staaten", und Hermann Molkenbuhr fand einen sehr pragmatischen Zugang zu amerikanischen 77
Sorge wurde Generalsekretär der Ersten Internationalen in New York 1907, zuvor schon Mitglied des Kommunisten-Clubs und ab 1869 der 1. International Workingman Association, die ab 1870 an die Internationale angeschlossen wurde. Vgl. Hoerder, The American Case, S. 141. Keil, Hartmut, A Profile of Editors of the German-American Radical Press, in: Wolf/ Shore/Daudy (Ed.), The German-American Radical Press, S.20. Ders., German Working Class Immigration, S. 10 und Vagts, Rückwanderung, S. 190. 78 Schlüter wurde bekannt durch sein Buch „Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Amerika." Stuttgart, 1907 und „Die Internationale in Amerika." Chicago, 1918. Auch Adolph Hepner vom St. Louis Tageblatt und Eugen Dietzgen, beide nach Amerika ausgewandert, zählten zu den regelmäßigen Autoren der Neuen Zeit und der Sozialistischen Monatshefte. Hoerder, Deutsche Sozialdemokratie und Gewerkschaften, S.23. 79 Die Neue Zeit stand ganz unter der Leitung Karl Kautskys, der sie zum führenden theoretischen Organ der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung machte und sie stets in seinem ideologischen und ökonomischen Sinne beeinflusste. Auch August Bebel war einer der führenden Mitarbeiter. Zur Programmatik der Neuen Zeit und der Stellung Kautskys als Chefredakteur. Vgl. Friedemann, Peter, Zwischen Internationalismus und Nation. Das Europabild der Vorkriegssozialdemokratie im Spiegel der Zeitschrift Die Neue Zeit 1883-1914, in: Grunewald, Michael (Hrsg.), Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften 1871-1914, Bern/ Berlin, 1996, S. 208-214 und Kremp, In Deutschland liegt unser Amerika, S. 113.
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Themen und beschäftigte sich mit der amerikanischen Wirtschafspolitik und ihren Auswirkungen auf das deutsch-amerikanische Wirtschaftverhältnis. 80
a) Aussichten für den Sozialismus Die ideologische Ausrichtung der deutschen Sozialdemokraten, Elemente eines seit langem existierenden Amerikabildes, und vor allem das Netzwerk zwischen Amerika und Deutschland schafften Rahmenbedingungen, die der Frage nach dem Sozialismus in Amerika eine augenscheinliche Dringlichkeit und Bedeutung beimaßen. Es entstand in den Berichten der Exilsozialdemokraten, aber auch der deutschen Sozialdemokraten, der Eindruck einer widersprüchlichen Entwicklung. Einerseits wurde immer wieder auf den bevorstehenden, vielleicht nicht unmittelbaren, aber in naher Zukunft doch möglichen Durchbruch des Sozialismus in Amerika hingewiesen, und anderseits auf die enormen Schwierigkeiten, die einer sozialistischen Entwicklung in Amerika im Wege stünden. Manche Beiträge neigten dazu, die Bedeutung der Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten zu überschätzen und einen bevorstehenden Erfolg des Sozialismus vorauszusagen, andere wiederum zeichneten sich durch realistischere und nüchterne Herangehensweise aus. Den Schwerpunkt in der Interpretation für die Aussichten des Sozialismus in Amerika bildete jedoch die Hoffnung, Amerika werde bald reif für eine „sozialistische Revolution" sein und in naher Zukunft den Weg eines sozialistischen Staates einschlagen. Besonders die organisatorische Umstrukturierung der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in Amerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts nährte die Hoffnung auf einen Durchbruch des Sozialismus in Amerika. Von deutscher Seite aus wurde die Bildung von Parteien mehr als Ausdruck der sozialistischen Bewegung gesehen als der in Amerika viel breiteren Gewerkschaftsbewegung. Nach der Gründung der Social Democratic Party im Jahre 1897 feierte die Neue Zeit die Ausweitung der organisatorischen Struktur der sozialistischen Parteien als Eröffnung der Möglichkeit eines zukünftigen Erfolgs. Ihre Erwartung setzte sie in die Erweiterung des Wirkungskreises und der Anhängerschaft der sozialistischen Parteien 80 Das Ergebnis der ersten Reise Liebknechts in die Vereinigten Staaten war sein Buch „Ein Blick in die Neue Welt", in dem er Amerika aufgrund seiner wirtschaftlichen Entwicklung, der „vergangenheitsfreien Gegenwart" und der republikanischen Staatsform als das „Land der Zukunft und der Freiheit" preist. Vgl. Liebknecht , Wilhelm, Ein Blick in die Neue Welt, Stuttgart, 1887, S. 58 und S. 138. Molkenbuhr wurde nach der Entlassung aus der Haft in Deutschland 1881 laut des Sozialistengesetzes zu drei Monaten Gefängnis wegen des Besitzes verbotener Schriften verurteilt, danach lebte er drei Jahre in Amerika. Die Gründe für seine Auswanderung waren aber auch wirtschaftlicher Natur. Als Zigarrenmacher hoffte er, in Amerika eine Arbeit zu finden. Er engagierte sich in der amerikanischen Arbeiterbewegung, war bei der Cigar Makers Progressive Union und in der Socialist Labor Party aktiv. Nach seiner Rückkehr zog er oft Vergleiche zwischen den wirtschaftlichen Systemen beider Länder. Vgl. Braun , Bernd, Hermann Molkenbuhr. 1851-1927. Eine politische Biographie, Düsseldorf, 1999, S. 104 und S. 114.
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und der damit verbundenen „Amerikanisierung" der sozialistischen Ideen, da mit der Zunahme der Anhänger des Sozialismus der Vorwurf in Amerika entfalle, die „sozialistische Bewegung" sei nur von Deutschen getragen und mit den amerikanischen Ideen unvereinbar. 81 Max Beer, der regelmäßig Kommentare und Analysen für die Neue Zeit schrieb, sah gar die amerikanische Arbeiterbewegung auf dem Kurs der englischen und versicherte, dass sie denselben Gang nehmen werde, da die Gewerkschaften sich auf den Boden des Klassenkampfes stellen und sozialistische Resolutionen annehmen würden. Beer legte seine Erwartung in die wachsende Zahl der verschiedenen sozialistischen Parteien und ihre Einigung sowie den Erfahrungsgewinn im Kampf um weitere Anhänger, um bessere Chancen bei der Verwirklichung des Sozialismus zu erreichen. 82 Kurzfristige Erfolgsmeldungen wie die Gründung der Social Democratic Party im Jahre 1897 beflügelten die Hoffnungen der Sozialdemokraten auf einen Erfolg der Arbeiterbewegung in Amerika, grundsätzliche Überlegungen über das Wirtschaftsleben in Amerika lieferten jedoch den Grundstock der Beurteilung der Aussichten des Sozialismus in Amerika und prägten sowohl die Berichte der Exilsozialdemokraten aus Amerika als auch ihrer Pendants in Deutschland. Die Beobachtungen und Interpretationen des amerikanischen Wirtschaftslebens hielten sich an die marxistische Theorie von der Akkumulation des Kapitals, der Konzentration der Produktionsmittel und folglich der Entstehung einer sozialistischen Bewegung. In einem Bericht der Neuen Zeit deutete der Verfasser die neuesten Entwicklungen im Wirtschaftsleben Amerikas als eine Reaktion der Unternehmer auf die wachsende Solidarität unter den Arbeitern und die Gründung einer nationalen Arbeitervereinigung. Er verwies auf die „auffallende Kapitalkonzentration", auf die Organisationen der Kapitalisten, die im Kampf gegen die Arbeiter den Unternehmern zur Seite stünden, auf die wachsende Macht der Trusts, die bereits die Republikanische und Demokratische Partei beherrschten und auf die zunehmende Brutalität in den Streiks: 81 Rappaport , Philipp, Die neueste sozialistische Partei in Amerika, in: Neue Zeit, 17 (1897) II, S. 566-568. Eine der an die sozialistische Bewegung in Amerika gerichteten Kritikpunkte war der Vorwurf, sie sei nicht amerikanisch, da sie zumeist von Ausländern getragen werde und sich nicht amerikanischer Ideen bediene. In diesem Zusammenhang verstärkte die doktrinäre Haltung einiger deutscher Sozialisten zusätzlich das Misstrauen des Durchschnittsamerikaners gegenüber dem Sozialismus. Vgl. Überhorst , Horst, Das deutsche Element in der Arbeiterbewegung der USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 9 (1982), S.23. 82 Beer , Max, Die Vereinigten Staaten im Jahre 1898, in: Neue Zeit, 16 (1898) II, S.714. Es ist kein Zufall, dass Max Beer einen Vergleich zur englischen Arbeiterbewegung zog, Beer lebte in England und widmete sich publizistisch unter anderen dem „britischen Sozialismus". Der 1889 aus Österreich-Ungarn nach Deutschland emigrierte Historiker, Publizist und Journalist Beer wanderte 1894 nach der Verbüßung einer einjährigen Haftstrafe nach Großbritannien aus, verurteilt wurde er aufgrund der Sozialistengestzte. In Großbritannien verfasste er mehrere Abhandlungen zum britischen und internationalen Sozialismus sowie der internationalen Politik. Von Großbritannien aus war er für die Münchener Post, die Jüdische Arbeiter-Zeitung in New York, die Neue Zeit und den Vorwärts publizistisch tätig. Vgl. Beer , Max, A History of the British Socialism, London, 1929 bzw. die deutsche Ausgabe Berlin, 1931 mit Ergänzungen von Hermann Duncker.
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„So wird in allen Punkten der Klassenkampf rücksichtsloser und die Feindseligkeiten schärfer und brutaler." 83 Nach der Formierung der neuen amerikanischen Arbeiterparteien stiegen zwar die Hoffnungen auf einen unmittelbaren Durchbruch der Arbeiterparteien bei den Autoren der Neuen Zeit, bald aber stellte sich heraus, dass Amerika wohl doch nicht für einen schnellen Sieg des Sozialismus geeignet sei. Die Diskussion verlagerte sich stark auf eine theoretische Ebene, in der Fragen nach den Voraussetzungen und Bedingungen für einen sozialistischen Erfolg gestellt wurden. Diese Einsicht, die durchaus realistische Analysen erlaubte, schützte aber nach wie vor nicht vor der Erwartungen des sozialistischen Aufbruchs. Karl Kautsky, der die seiner Ansicht nach existierenden Probleme der amerikanischen Arbeiterbewegung durchaus zutreffend benannte, glaubte fest daran, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Amerika „sozialistisch" werde. In mehreren Beiträgen in der Neuen Zeit listete er die Schwierigkeiten der amerikanischen Arbeiterbewegung auf, wie die nationale Zersplitterung der Arbeiterbewegung, die großen Agrarflächen oder die Herrschaft und Geschlossenheit der Kapitalistenklasse, die einem sozialistischen Klassenbewusstsein hinderlich seien. Bei seiner Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse in Amerika folgte er jedoch der marxistischen Logik und sagte aufgrund der Zuspitzung der kapitalistischen Produktionsweise den bevorstehenden Durchbruch der sozialistischen Bewegung voraus. Die ungebremste ökonomische Entwicklung der Kapitalistenklasse, die Akkumulation des Reichtums in den Händen Weniger, das Elend der Arbeiter und die Macht der Trusts waren für ihn Vorboten einer Zeitenwende in Amerika und die ersten Anzeichen der Verschärfung der Klassengegensätze und des Beginns einer sozialistischen Bewegung. Kautsky schöpfte seine Hoffnung auf einen baldigen Durchbruch der sozialistischen Bewegung in Amerika aus der Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten das „Paradebeispiel einer kapitalistischen Gesellschaft" seien. Die Vereinigten Staaten waren für ihn das „wichtigste und interessanteste der modernen Kulturländer" mit dem höchsten Entwicklungsstand des Kapitalismus. Er wies Amerika einen „Zukunftscharakter" zu, weil es aufgrund seiner kapitalistischen Entwicklung der beste Kandidat für einen sozialistischen Durchbruch sei, von dem er sich weltweite Wirkung erhoffte. 84 Die Auflehnung der Massen gegen die „kapitalistische Tyrannei" werde nirgends so sehr geradezu erzwungen wie in den Vereinigten Staaten und sie sei die einzige Rettung für die Zukunft: „Die Zukunft, die uns Amerika weist, wäre freilich eine schlimme, wenn sie nicht auch ein Erstarken der sozialistischen Bewegung zeigte. Nirgends sind alle Mittel der politischen Macht, Regierung, Volksvertretung, Gerichte und Polizei, so sehr und so direkt von den großen Kapitalisten abhängig, wie in Amerika. Nirgends liegt es klarer zutage wie dort, daß ein sozialistisch denkendes Proletariat das einzige Mittel ist, die Nation zu retten, die noch ra83 Simons, B, Die Unternehmerverbände in den Vereinigten Staaten, in: Neue Zeit, 22 (1904) II, S. 789. 84 Kautsky, Karl, Bauernagitation in Amerika, in: ebd., 20 (1902) II, S.453.
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scher in vollständiger Knechtung durch eine handvoll Riesenkapitalisten versinkt, als diese es vermögen, dem Ausland ihr Joch aufzuerlegen." 85
Die Schwierigkeiten, die Kautsky benannte, waren seiner Ansicht nach lediglich temporärer Natur und gelegentliche Rückschläge einer unaufhaltsamen Entwicklung bis zur Entstehung eines „sozialistischen Bewußtseins" in Amerika und seiner vollen Entfaltung. 86 Kautsky kannte Amerika nicht aus eigener Erfahrung und ignorierte völlig die tatsächlichen wirtschaftlichen Bedingungen und die Lage der Arbeiter in Amerika. In seiner publizistischen Laufbahn zeigte er sich nie besonders interessiert an den Vorkommnissen und Ereignissen in Amerika, er schloss vielmehr Amerika in sein marxistisches Weltbild ein und deutete es entsprechend den marxistischen Maximen. Die in der Neuen Zeit immer wieder verlautbarten Hoffnungen auf eine „sozialistische Zukunft" fanden in der verhältnismäßig realistischen Einschätzung zur Lage des Sozialismus in den Sozialistischen Monatsheften eine Entgegnung.87 Die Sozialistischen Monatshefte widmeten dem Thema eine regelmäßige, aber bei weitem nicht umfangreiche Berichterstattung. Notizen und längere Nachrichten über die amerikanischen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien und ihre Parteitage, Wahlausgänge, Wahlagitation, aber auch über das Gewerkschaftsleben machten das Gros der Berichterstattung über den Sozialismus in Amerika aus. Es wurde zwar hin und wieder die Hoffnung ausgedrückt, der Sozialismus stehe in Amerika an der Schwelle zum Durchbruch, dann aber wurde immer wieder der Eindruck zurechtgerückt und die mangelnde politische Einflussnahme der Gewerkschaften sowie die geringe Durchschlagskraft der „sozialistischen Bewegung" beklagt. 88 So wurde ein „hoffnungsvoller Ausgang" einer Wahl zwar mit Freude aufgenommen, bei weitem aber nicht die Euphorie an den Tag gelegt wie in der Neuen Zeit. Der Tenor lief auf die Überzeugung hinaus, dass an einen Sieg eines sozialistischen Kandidaten bei einer den nächsten Präsidentschaftswahlen nicht zu denken sei. Nach der Wahl von 1904 berichteten die Sozialistischen Monatshefte vom Aufschwung der amerikanischen Sozialdemokratie, der die kühnsten Erwartungen weit übertreffe und sahen in dem „Sieg" einen Vertrauensgewinn, der die bürgerlichen 85
Ebd., S.453. Kautsky , Karl, Der amerikanische Arbeiter, in: ebd., 24 (1906) I, S. 676-683. S. 717-727. S. 741-752 und S. 773-783. 87 Die Sozialistischen Monatshefte erschienen seit 1897 und waren das Nochfolgeorgan der Monatsschrift der „Akademische Akademiker". Von Ernst Bloch herausgegeben, verstanden sie sich als Zentralorgan des revisionistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie. Amerika wurde überwiegend als Handels- und Wirtschaftsmacht und nicht durch eine ideologische Linse betrachtet. Nicht überraschend gehörten zu ihren prominentesten Autoren Max Schippel und Richard Calwer. Beide traten als Gegner der Parteilinie in der Bewertung der amerikanischen Außenhandelspolitik auf, vgl. Kremp , In Deutschland liegt unser Amerika, S.279. 88 Z.B. Sozialistische Monatshefte, Rundschau, 1 (1901), S.58. Rundschau, in: ebd., 1 (1903), S.83 und Fehlinger , Hans, Die amerikanischen Gewerkschaften und die Politik, in: ebd., 1 (1907), S. 537-541. 86
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Parteien und die Regierung veranlassen werde, die Sozialistische Bewegung nicht mehr als quantité négligeable zu betrachten. Es bleibe jedoch die Aufgabe der amerikanischen
Sozialdemokratie, so der Bericht weiter, die Arbeiterklasse von den
bürgerlichen Parteien, in deren Gefolgschaft sich dieselbe immer noch befindet, loszureißen. 89 Es überwog jedoch bei weitem Max Schippeis Einschätzung der politisch organisierten Arbeiterbewegung in Amerika, die er in seiner Rezension eines Aufsatzes Sombarts zur „Entwicklungsgeschichte des nordamerikanischen Proletariats" formulierte, dass Amerika zweifellos alle Hoffnungen auf einen raschen Eroberungszug der sozialistischen Idee bisher bitter enttäuscht habe. I n seiner Analyse amüsierte sich Schippel über die Reaktionen der deutschen Sozialdemokraten, die nach jeder noch so kleinen Erfolgsmeldung über den Sozialismus in Amerika, einer wirtschaftlichen Krise oder einem Arbeitskonflikt in Euphorie münden würden, um dann bald wieder auf den Boden der Realität zurückkehren zu müssen. A u f die Frage, warum der Sozialismus in Amerika keinen Durchbruch erzielt habe, folgte Schippel i m Grunde Sombarts Aussagen, wonach der amerikanische Arbeiter dem kapitalistischen System nicht feindlich gegenüber stehe und ein sozialistisches Bewusstsein ihm fremd sei. 9 0
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Sozialistische Monatshefte, Rundschau, 1 (1904), S. 172. S. 567 und S. 849. In diesem Artikel wurde auf das Ergebnis der Präsidentschaftskandidatur Eugene V. Debs' Bezug genommen, die ihm 1904 3.0% der Stimmen einbrachte, vier Jahre später konnte er noch 2,8% erreichen. Ebd., Rundschau. 1 (1905) S.89. Statistiken zu amerikanischen Präsidentschaftwahlen in: Heideking , Jürgen (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten. 41 historische Portraits von George Washington bis Bill Clinton, München, 1995, S.455. Ausnahmen bildeten die Berichte des aus Riga eingewanderten und führenden Theoretikers der Socialist Party Morris Hillquit. 1907 schrieb er, dass die Vereinigten Staaten auf dem Gipfel der kapitalistischen Entwicklung mit all ihren charakteristischen Begleiterscheinungen stünden, wie dies die „wahnsinnige Jagd" nach Reichtum, bei der Millionen niedergetreten würden, die rasche „Trustifizierung" der Industrien, die politischen und geschäftlichen Zänkereien der Finanzfürsten und die endlosen Skandale in der Finanz- und Geschäftswelt beweisen würden. Vor diesem Hintergrund sei der Boden für eine größere sozialistische Bewegung geschaffen worden, sodass der Sozialismus innerhalb kurzer Zeit in den Vereinigten Staaten als eine große Bewegung entstehen werde. Hillquit, auch mit einer Geschichte des amerikanischen Sozialismus hervorgetreten, hoffte auf eine geschlossene sozialistische Bewegung in den Vereinigten Staaten, die sich nicht auf dem Weg der Reformen in Akzeptanz des bestehenden Systems in Amerika für die Arbeiter einsetzt, sondern eine sozialistische Revolution anstrebt. Vgl. Hillquit , Morris, Die gegenwärtige Lage des amerikanischen Gewerkschaftswesens, in: Sozialistische Monatshefte, 1 (1907), S. 296-302 und ders., History of Socialism in the United States, New York, 1903. Zu Hillquit vgl. Pratt , Norma F., Morris Hillquit. A Political History of an American Jewish Socialist, London, 1979. 90 Schippel , Max, Sombarts Amerikastudien, in: Sozialistische Monatshefte, 1 (1906), S. 282-287. Sombart , Werner, Studien zur Entwicklungsgeschichte des nordamerikanischen Proletariats, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 3 (1905), S.210ff. Sombart nahm in dieser Studie die wesentlichen Erkenntnisse seines Werkes von 1906 vorweg. Ähnlich Hepner 1908: Der Sozialismus habe in Amerika geringe Fortschritte gemacht. Die Gründe seien vielschichtig: Vor allem die politische Rückständigkeit der Gewerkschaften, die, solange sie nicht dem englischen Vorbild folgten und eine politische Independent Labor Party darstellen, ihren bloßen „Tradeunionismus" nicht überwinden könnten, dann die größere Möglichkeit des 6*
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b) Hindernisse und Schwierigkeiten Schippeis Feststellung von der Unvereinbarkeit des „sozialistischen Bewusstseins" mit dem kapitalistischen System in Amerika bewegte sich völlig in der zeitgenössischen Wertung des „amerikanischen Sozialismus". Die zeitweilige Euphorie der Sozialdemokraten über einen bevorstehenden Durchbruch des Sozialismus in Amerika teilten nur wenige Zeitgenossen im Kaiserreich. Einhellig wurden die Vereinigten Staaten als mit dem Sozialismus inkompatibel bewertet, als ein Land gesehen, dem jegliche Voraussetzung für eine sozialistische Entwicklung fehle und in dem daher eine Arbeiterbewegung deutschen Ausmaßes nicht möglich sei. Am schärfsten formulierte Werner Sombart den Gegensatz zwischen Deutschland und Amerika. In seinem Werk „Warum gibt es keinen Sozialismus in den Vereinigten Staaten" diagnostizierte Sombart am deutlichsten die getrennten Wege, die Deutschland und die Vereinigten Staaten politisch und kulturell gingen. Den großen Widerspruch Amerikas sah Sombart in der Spannung zwischen der „kapitalistischen Hochkultur" und der „sozialistischen Unterentwicklung". Für Sombart herrschten in Amerika besondere politische Bedingungen und es fehlten die europäischen Voraussetzungen für das Entstehen des Sozialismus oder einer signifikanten Arbeiterbewegung. Die Bevölkerungszusammensetzung sei zu heterogen, die allgemeine ökonomische Lage zu gut für die Arbeiter, diese seien am Gewinn interessiert und betrachteten sich nicht als Gegner des Arbeitgebers. Zudem diene die offene Westgrenze als Ventil für politische Spannungen, die einer organisierten Arbeiterbewegung im Wege stehe.91 Auch andere zeitgenössische Beobachter betonten den fehlenden Klassencharakter und das fehlende „proletarische Bewusstsein" der amerikanischen Arbeiter, eine der Hauptvoraussetzungen für die Entstehung einer organisierten Arbeiterklasse, wie sie sie postulierten. Unter anderem schrieb Theodor Barth, dass der amerikanische Arbeiter sich nicht als Proletarier fühle, nicht als Angehöriger einer Klasse, sondern als „Unternehmer", der seine Arbeit wie Ware möglichst teuer an den Mann zu bringen versuche. Im selben Sinne handele er auch als Mitglied einer Gewerkschaft, er wolle seinen Einfluss auf Gesetzgebung und Verwaltung steigern. 92 Aufstiegs des Proletariers in das Bürgertum, die Korruption der alten Parteien, die viele von einer politischen Beschäftigung abhalte und schließlich die Kirchlichkeitsmode in Amerika und der Einfluss aller Religionen auf den Genügsamkeitssinn der Massen und die Andauer ihre Hoffnungen aufbessere Zeiten. Hepner, Adolf, Die amerikanischen Arbeiter und die Präsidentenwahl, in: Sozialistische Monatshefte, 1 (1908), S. 1062. 91 Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus, S. 135 ff. 92 Vgl. Barth, Theodor. Amerikanische Eindrücke, Berlin, 1907, S.42 oder auch Fulda, Ludwig, Amerikanische Eindrücke, Stuttgart/Berlin, 1904, S. 282 und Röder, Reisebilder, S. 126. Auch der konservative Autor Johannes Hoffmann schrieb, dass Sozialisten keine Aussicht auf Erfolg in Amerika hätten, den Arbeitern ginge es dort besser als in Deutschland und sie würden nicht an die Revolution denken. Hoffmann, Amerikanische Bilder, S. 64. In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit über die erschwerenden Faktoren einer national organisierten Arbeiterbewegung und über den „american exceptionalism", der auch auf die Frage ei-
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Der Blick der Sozialdemokraten war jedoch ideologisch sehr gefärbt. Das Hauptforum der Diskussionen, die Neue Zeit, war das führende theoretische Organ der Partei, geleitet von Karl Kautsky und mit Informationen und Sichtweisen der Exilsozialdemokraten versorgt, die aufgrund ihrer Biographien und ideologischen Vorprägung entschiedene Verfechter des revolutionären Sozialismus waren. So erscheinen auch die festgestellten Hindernisse und Schwierigkeiten einer sozialistischen Entwicklung in Amerika unter diesem Aspekt. Die Kommentatoren mussten jedoch zuerst einen Widerspruch in ihrem marxistischen Denken auflösen. Nach all ihrer Überzeugung galt Amerika als ein „erzkapitalistisches Land", hätte also die am weitesten entwickelte sozialistische Bewegung aufweisen müssen; da dies nicht zutraf, mussten die Gründe dafür in der amerikanischen Gesellschaft selbst liegen. Die eigentlich günstigen wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sozialismus in den Vereinigten Staaten beschrieb unter anderen Julius Vahlteich, als er von den Vorbedingungen für ein rasches Anwachsen der Arbeiterbewegung berichtete. Er schrieb von der enormen amerikanischen Industrie, die selbst mit England auf wirtschaftlichem Gebiet in siegreiche Konkurrenz zu treten vermöge und von einem Verkehrsmittelsystem, das auf einer höheren Entwicklungsstufe stehe als in irgendeinem Land Europas. Vahlteich bescheinigte der Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten sogar die besten gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, es würden keinerlei gesetzlichen Schranken für die Organisation der Arbeiter existieren, und es herrsche aufgrund einer mehr als hundertjährigen politischen Freiheit eine Tradition der Beteiligung am politischen Leben.93 Solche viel versprechenden Urteile über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen „Realitäten" und über die „kapitalistische Entwicklung", die sich auf dem Wege zu einem „sozialistischen Volkssturm" befinde, durchstreiften immer wieder die Beobachtungen über die Arbeiterbewegung in Amerika. Äußere Anlässe, wie die Wirtschaftskrise im Jahre 1893 oder aufflammende Streiks nährten den Glauben der Sozialdemokraten, in Amerika würde sich eine sozialistische Bewegung formieren. Viele Kommentatoren sahen die Vorzeichen eines „sozialistischen Volkssturms" in Amerika, der vor dem Hintergrund der kapitalistischen Entwicklung der Vereinigten Staaten nur eine ner dauerhaften Arbeiterbewegung greife. Gesellschaftliche, geographische und politische Bedingungen erschwerten den Weg einer der „new society" scheinbar widersprechenden Ideologie und entbehrten Rahmenbedingungen, welche in Europa vorhanden waren. Die geographische Mobilität, ethnische Vielfalt, Westwanderung, Ausrichtung des Wahlsystems auf große Parteien und die Überzeugung der Arbeiter, der Industrialisierung nicht ablehnend gegenüber zu stehen, setzten der Arbeiterbewegung unüberbrückbaren Hürden. Trotzdem entwickelt sich eine bemerkenswerte sozialistische Bewegung, die allerdings dauerhaft nicht überleben konnte. Einleitend in die Thematik und Bibliographie bei Upset , Seymour M., The Failure of the American Socialist Movement, in: Heffner, Jean/Rovet, Jeanine (Ed.), Why is there no Socialism in the United States?, Paris, 1998, S. 24-33. Foner , Eric, Why Is There No Socialism in the United States, in: ebd., S. 55-65 und Lowi , Theodore J., Why Is There No Socialism in the United States. A Federal Analysis, in: ebd., S. 71-85. 93 Vahlteich , Julius, Die Sozialisten in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: Neue Zeit, 19 (1901) I,S. 292.
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Frage der Zeit sei. Ganz im marxistischen Sinne glaubten sie, eine rasend beschleunigte und fortschreitende Konzentrierung ungeheurer Reichtümer und Geschäftsanlagen in den Händen Weniger bringe eine Masse des Proletariats und der wandernden Arbeitslosigkeit hervor, und dass die andauernden Industriekrisen und zahlreichen Aufstände den Betroffenen nur ein „lehrreiches Resultat" vor Augen führten, dass die unter dem derzeitigen „Privatproduktions-System" kein Friede und kein Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit dauernd möglich sei.94 Dennoch zwang die relative Erfolglosigkeit der amerikanischen Arbeiterbewegung deutsche Sozialdemokraten, Erklärungen für das Ausbleiben des „sozialistischen Durchbruchs" zu finden. Eine Fülle von Gründen wurde angeboten, die die „Besonderheiten" des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Amerika herausstellten. Adolf Hepner, ein Exilsozialdemokrat, der ebenfalls die Vorzeichen eines „sozialistischen Aufbruchs" in Amerika zu erkennen glaubte, machte sich hinsichtlich des Zeitpunkts der „Erlösung", wie er es nannte, keine Illusionen. Er sah mehrere Gründe für die „Fortschrittsverzögerung" in Amerika: die starke Stellung der Religion und Kirche, die aufgrund des Bildungsmangels der Arbeiter diese von den sozialistischen Parteien fernhielten, die Überzeugung in der Bevölkerung, wählen hätte nur einen Sinn, wenn man die Stimme einer der großen Parteien gebe, der „Aberglaube" an die eigene Chance, an die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs dank harter Arbeit und die berüchtigte, rücksichtslose „Jagd nach dem Dollar", die den Idealismus abtöte und die Humanität beleidige. Auch dem amerikanischen Arbeiter stellte Hepner kein gutes Zeugnis aus, er sei „geduldiger als Hiob" und patriotischer als die Konstitution es verlange, er lerne in seinen jungen Jahren von den „successful folks" und glaube an seine Chance. Hepner sah einen langen Weg voraus, bis dieser Aberglaube aussterben werde. 95 Hepners Auflistung der Hindernisse beinhaltete zwei Punkte, welche gerne von anderen Sozialdemokraten aufgegriffen wurden: das „fehlerhafte" politische System und der Glaube an das Erreichen des persönlichen Glücks durch harte Arbeit in Amerika. Vor allem die in Amerika verbreitete Überzeugung „Jeder ist seines Glückes Schmied", also ein „Charakterzug" der Amerikaner, so eine der Erklärungen der Sozialdemokraten, verhindere eine Stärkung der Arbeiterklasse. Vahlteich führte den Widerwillen, über soziale Fragen nachzudenken, auf den in Amerika „ausartenden Egoismus" zurück, der auf eine sozialistische Bewegung hemmend wirke. Für Vahlteich war es die herrschende Überzeugung in Amerika, nicht über das Ganze nachzudenken, solange persönliche Interessen nicht unmittelbar betroffen seien, 94 Hepner , Adolf, Die Aussichten des Sozialismus in Amerika, in: ebd. 12(1892/93) I, S.623. Hepner gründete seine Hoffnungen auf den Durchbruch des Sozialismus in Amerika auf die Stimmungslage innerhalb der amerikanischen und der deutschen Sozialdemokraten, er selbst zeigte sich pessimistischer über den Fortgang der amerikanischen Arbeiterbewegung. Ebd. 95 Hepner sah dennoch gute Aussichten für den Sozialismus in den Vereinigten Staaten, sobald dieses Vorurteil aussterben und die amerikanische Bouigeoise sich zu einer abgeschotteten Kapitalistenklasse nach europäischem Muster entwickelt haben werde, werde sich eine Arbeiterklasse gebildet haben. Der gesamte Aufsatz. Ebd., S. 620-24. S. 646-52 und 683-89.
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die der Bildung einer Arbeiterklasse im Wege stand.96 Auch Kautsky analysierte die Schwierigkeiten der amerikanischen Arbeiterbewegung, indem er den amerikanischen Volkscharakter und die politischen Überzeugungen der Amerikaner heranzog, die die Amerikaner gegen den sozialistischen Geist gewissermaßen, wie er sich ausdrückte, „immun" machten. Die „praktische Natur" der Amerikaner und die Erwartung sofortiger Lösungen der politischen und gesellschaftlichen Fragen als auch der Glaube an den sozialen Aufstieg, so Kautskys Schlussfolgerung, würden das Anwachsen des Sozialismus verhindern. 97 Aus dem Volkscharakter der Amerikaner schlossen deutsche Sozialdemokraten auch eine andere Erschwernis für die Bildung einer Arbeiterklasse. Einige Stimmen in der Neuen Zeit wiesen auf die Schwierigkeit der Vereinbarkeit einer sozialistischen Bewegung in Amerika, die zumeist deutsch geprägt sei, mit einer anglo-amerikanischen Mehrheit hin. Max Beer bezeichnete die amerikanische Arbeiterbewegung als „Schmerzenskind der internationalen Arbeiterbewegung" und sah eine der Hauptschwierigkeit für sie ebenfalls in der Tatsache, dass sie bislang zumeist von Deutschen getragen wurde. Er schloss sich an dieser Stelle Hugo Münsterbelgs Argumentation an, nach der das charakteristische Streben eines Deutschen nach Idealismus und geistigem Leben entschwinde, sobald er in Amerika eingewandert sei, und der Deutschamerikaner die amerikanischen Schwächen und die deutschen Fehler in der neuen Umgebung vereine. Beer fügte jedoch Missverständnisse zwischen Deutschen und Amerikanern als Ursache der Erfolglosigkeit der amerikanischen Arbeiterbewegung hinzu. Der Deutsche sei, wie Beer attestierte, nicht im Stande den amerikanischen oder amerikanisierten Elementen Respekt einzuflößen und der Amerikaner dem Deutschen noch weniger, denn der Deutsche sei sich mit Recht bewusst, auf einer Höhe der sozialistischen Kultur zu stehen, die der Amerikaner erst erklimmen müsse. Beer sah in der Verschiedenartigkeit der Auffassungen und der geistigen Tradition die Hauptschwierigkeit einer sozialistischen Bewegung in Amerika, der Deutsche stehe den „sozialistischen Lehren" freier und kritischer gegenüber, der Amerikaner fasse jede neue Idee blitzartig und praktisch auf und sehe in ihr sofort ein Dogma.98 Als Hauptursache für das Ausbleiben einer kraftvollen amerikanischen Arbeiterbewegung wurde daher das Fehlen des „Klassenbewusstseins" bzw. der „sozialistischen Bildung" der amerikanischen Arbeiter in Amerika diagnostiziert. Die Sozialdemokraten präsentierten zwar ein Konglomerat aus Gründen für die Schwierigkei96
Vahlteich, Julius, Die Sozialisten in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: ebd., 19 (1901) I, S.293 und Dietzgen, Eugen, Die sozialistische Parteibewegung in den Vereinigten Staaten, ebd., S. 113. 97 Kautsky, Karl, Bauemagitation in Amerika, in: ebd., 20 (1902) II, S.453. 98 Beer, Max, Die Vereinigten Staaten im Jahre 1899, in: ebd., 17 (1899) I, S.488. Hugo Münsterberg veröffentlichte seinen Aufsatz „Deutsche und Amerikaner" in der Septemberausgabe des Atlantic Monthly 1900. Auch Kautsky, die Deutschen hätten versucht deutsche Verhältnisse auf Amerika zu übertragen. Kautsky, Bauernagitation, in: Neue Zeit, 20 (1902) II, S. 296.
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ten der amerikanischen Arbeiterbewegung, wie z. B. das politische System, die vorherrschende Überzeugung in Amerika, sein Glück alleine zu versuchen, der scheinbar nicht existierende Klassengegensatz oder die Cleverness der Kapitalisten, die Arbeiter mit Geschenken wie dem Labor-Day zu betören. All diese Hindernisse hätten aber überwunden werden können, und darin waren sich alle Kommentatoren einig, würde der amerikanische Arbeiter ein „sozialistisches bzw. ein Klassenbewusstsein" besitzen und sich politisch und gesellschaftlich im Sinne einer Arbeiterklasse verhalten." Es gab jedoch auch Autoren, die die Verantwortung für das Fehlen eines sozialistischen Klassenbewusstseins nicht in der Bildung oder der mangelnden sozialistischen Standhaftigkeit der amerikanischen Arbeiter, sondern in der politischen Wirklichkeit Amerikas suchten. In einem Aufsatz der Neuen Zeit berichtete der recht unbekannte Autor Simons, dass es gerade die Folgen der demokratischen Freiheiten und des Zweiparteiensystems seien, die die Entstehung einer politisch klassenbewussten Arbeiterbewegung hindern würden. Simons sah den Nachteil für die amerikanische Arbeiterbewegung in dem zeitlichen Vorsprung der Bourgeoisie, die es verstanden habe, die demokratischen Freiheiten vor dem Aufkommen einer Arbeiterklasse für die Etablierung der eigenen Macht zu nutzen und ein Zweiparteiensystem zu bilden, das jegliche gesellschaftliche und politische Bereiche beherrsche. Simons bediente sich des durchaus gängigen Bildes im Kaiserreichs von der allgegenwärtigen Korruption und dem Patronatssystem der amerikanischen Parteien als Basis ihrer Herrschaft, um jeden möglichen Konkurrenten zu unterdrücken und die Geschicke des Landes im eigenen Sinne zu gestalten. Vor diesem Hintergrund sah Simons die amerikanische Arbeiterbewegung vor enorme Schwierigkeiten bei der Herausbildung eines Klassenbewusstseins gestellt, da sie nichts außer Idealen und Kämpfen zu bieten hätte.100 99 Rappaport , Philipp, Klassenkampf und Klassengängelei in Amerika, in: ebd., 17 (1899) I, S. 241-242 und ebd., (1899) II, S. 534-535. Vgl. auch Kolb , Alfred, Als Arbeiter in Amerika. Unter deutsch-amerikanischen Großstadtproletariem, Berlin, 1904, S.66. Auch Friedrich Sorge bemängelte in seinen „Briefen aus Amerika" die Weigerung der amerikanischen Arbeiter, die Klassenunterschiede zur Kenntnis zu nehmen und danach zu handeln und ärgerte sich über dessen Ignoranz. Wie andere Beobachter sah er auch in „amerikanischem Volkscharakter" und der Wirkung des gesellschaftlichen Ideals von individuellem Glück das Hindernis bei der sozialistischen Erziehungen der Arbeiterklasse. Sorge , Alfred, Briefe aus Amerika, in: Neue Zeit, 12(1893/93) II, S. 327. 100 Simons , B, Die Unternehmerverbände in den Vereinigten Staaten, in: ebd., 22 (1904) II, S. 789 und S.710. Auch der regelmäßige Autor der Neuen Zeit Rappaport sprach aufgrund der Verinnerlichung des Zweiparteiensystems dem amerikanischen Arbeiter jegliches „Klassenbewusstsein" ab und erwartete keine Änderung in den kommenden hundert Jahren. Allerdings äußerte er die Hoffnung, dass die Demokratische Partei sich eines Tages „sozialistischen Ideen" gegenüber offen zeigen könnte und auf diese Weise der Sozialismus doch Einzug in die amerikanische Politik halten würde. Rappaport , Philipp, Parteipolitisches aus den Vereinigten Staaten, in: ebd., 25 (1907) I, S.295. Rappaport erhielt prompt von verschiedenen Seiten mehrere Erwiderungen zu seiner These, ihm wurde vorgeworfen, sich vom Wunschdenken leiten zu lassen. Saltiel , Robert, Eine Erwiderung, in: ebd., (1907) I, S. 500-505 und Boudin, L.B.,
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Simons bewegte sich durchaus in der sozialistischen Deutung der Aussichten des Sozialismus in Amerika, als er die politischen Umstände in Amerika beklagte, die der Entstehung einer kraftvollen sozialistischen Bewegung im Wege stehen würde. Andere Autoren sprachen dem amerikanischen Arbeiter aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse und eigener ideologischer Unzulänglichkeiten das „Klassenbewusstsein" ab. Danach wurde der amerikanische Arbeiter von zwei Seiten an der Bildung eines sozialistischen Klassenbewusstseins gehindert. Er war von sich aus nicht in der Lage, dem gesellschaftlichen Konformismus zu entkommen und wurde von einem politischen System mit zwei herrschenden Parteien erdrückt, die keine Konkurrenten duldeten. Beide Feststellungen offenbaren den europäischen Blick der deutschen Sozialdemokraten und ihre Prägung durch die europäische Arbeiterbewegung. Eine massenhafte gegen die Obrigkeit bzw. „Kapitalistenklasse" gerichtete Arbeiterbewegung existierte in Amerika nicht, die Mehrheit der amerikanischen Arbeiter sah sich in den großen Parteien vertreten. Dennoch werteten Sozialdemokraten und die sozialdemokratischen Emigranten die amerikanische Arbeiterbewegung nach europäischem Muster.
c) Die „Bourgeoisie-Republik" Der europäisch gefärbte Blick nach Amerika hinsichtlich einer erfolgreichen Arbeiterbewegung und schlagkräftigen sozialistischen Parteien konnte nur zur Enttäuschung führen. Die europäischen Voraussetzungen für eine breite Arbeiterbewegung mit starken Parteien waren in Amerika nicht gegeben, dennoch hielten deutsche Sozialdemokraten an der Vorstellung eines „sozialistischen Amerikas" fest. Sie konnten aber ihre Enttäuschung über das Ausbleiben, bzw. das „Verzögern", des sozialistischen Durchbruchs nicht verdecken. Auch die Nennung der Hindernisse und Schwierigkeiten für den Sozialismus in Amerika erwies sich als nicht befriedigend genug, um sich mit der Lage in Amerika abzufinden. Der sozialistische Durchbruch stand nicht unmittelbar bevor, dennoch sollte er weiter als Fernziel hochgehalten werden und der amerikanischen Gesellschaft helfen, ihre Defizite zu überwinden. Je weiter aber der Durchbruch des Sozialismus in Amerika in die Ferne zu rücken schien, desto stärker geriet Amerika unter Beschuss. In diesem Zusammenhang wurden die „Missstände" und Defizite Amerikas auf das Fehlen einer kraftvollen sozialistischen Bewegung zurückgeführt, welche sich nur durch den Sozialismus ausräumen lassen würden. Die „Bourgeoisie-Republik", wie Sorge Amerika nannte, erschien deshalb so unvollkommen, weil es dort eben keine bemerkenswerte sozialistische Bewegung gebe, die alleine in der Lage sei, die Probleme Amerikas zu beheben. Sozialismus sollte das „Heilmittel" für die amerikanischen Missstände sein. Ohne eine bedeutende sozialistische Bewegung erschienen die Vereinigten Staaten als ein Hort des „wütenden Kapitalismus" und der „Ausbeuterkultur". Auch Die politische Lage in den Vereinigten Staaten und die demokratische Partei, in: ebd., (1907) II, S. 591-605.
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an dieser Stelle übernahmen die Exilsozialisten erneut die Meinungsführerschaft und setzten die Interpretationsschwerpunkte. Friedrich Sorge, der Generalsekretär der Ersten Internationalen in New York und einer der führenden Theoretiker der deutschen Exilsozialisten, war ein ständiger Beobachter der Vorgänge und regelmäßiger Berichterstatter der „sozialistischen Entwicklung" in Amerika. Er formulierte wohl am deutlichsten, wie die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft ohne den Sozialismus beschaffen sei. Sorge fasste Amerika in seiner Charakterisierung mit dem Begriff der „Bourgeoisie-Republik" zusammen, die seiner Ansicht nach all die verheerenden Begleiterscheinungen einer kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft ohne Klassenbewusstsein aufweise. 101 Noch 1890 lobte Sorge die Zukunftsfähigkeit Amerikas, das bestimmt sei, das Erbe des „alten Europas" anzutreten. Sorge zeigte sich begeistert vom „amerikanischen Menschenschlag", seiner großen Energie und hohen Intelligenz und bescheinigte Amerika aufgrund der hervorragenden Eigenschaften seiner Menschen, bald an der Spitze der Nationen zu marschieren. 102 Sorges Amerikaeinschätzung änderte sich im Verlaufe der 1890er Jahre, bereits ab Mitte der neunziger Jahre gehörte er zu den Kritikern der politischen Praxis und des politischen Systems in Amerika. Sorges Meinungsänderung ist wohl vor dem Hintergrund der Entwicklung einer organisierten Arbeiterbewegung in Amerika zu verstehen. Die Enttäuschung über das Versagen der sozialistischen Parteien, sich auf der politischen Bühne zu etablieren, veranlasste Sorge, Amerika mit anderen, sehr kritischen Augen zu sehen. Sein Hauptangriffspunkt kreiste um das Fehlen einer sozialistischen Bewegung, was Amerika zu einer „Bourgeoisie-Republik" par excellence machte. So variierte er die Worte Goethes „Amerikanischer Kapitalismus, du hast es besser", um den Zustand der amerikanischen Republik zu beschreiben. Friedrich Sorge charakterisierte Amerika als „kapitalistische Macht", in der brutale Ausbeutung und grenzenlose Rücksichtslosigkeit an der Tagesordnung seien, in seiner Rolle als ein in Amerika lebender deutscher Auswanderer, aber auch auf deutscher Seite war diese Überzeugung in der Sozialdemokratie weit verbreitet. 103 Er setzte jedoch einen anderen Akzent, indem 101
Über Jahre hinweg berichtete Sorge über Amerika in der Neuen Zeit, in der Reihe „Briefe aus Amerika" und in der Serie zur amerikanischen Arbeiterbewegung „Die Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten" und in Briefen an befreundete Sozialisten. Seine Beobachtungen für die Neue Zeit fasste er in Buchform zusammen. Er stand in brieflichem Kontakt unter anderem zu Marx und Engels. Vgl. dazu. Sorge, Friedrich Adolf (Hrsg.), Briefe und Auszüge aus Briefen von John. Phil Becker, Josef Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx und anderen an Sorge, Friedrich A. und andere, Stuttgart, 1906 und Foner, Philip/Chamberlain, Brewster (Ed.), The Labor Movement in the United States, Greenwood, 1977. 102 S orge, Briefe aus Amerika, in: Neue Zeit, 9 (1890/91) I, S. 255-56. In den 1880er Jahren noch, wie bei Hoerder und Keil nachzulesen ist, habe Sorge die deutsch-amerikanischen Sozialisten als „Dokrinäre" beschrieben, die isoliert von der gesellschaftlichen Entwicklung ihre Analysen geschrieben und Politik betrieben hätten. Vgl. Hoerder, Deutsche Sozialdemokratie und Gewerkschaften, S.24. 103 Sorge, Aus den Vereinigten Staaten, in: Neue Zeit, 12 (1894/95) I, S.43 und Franz, Ludwig, Die ersten 125 Jahre der amerikanischen Geschichte, in: ebd., 19 ( 1901 ) I, S.645. Die Denk-
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er in der „bürgerlichen Republik Amerika" lediglich einen Deckmantel der „Bürgerlichkeit und Demokratie" erblickte, die darunter die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus hervorgebracht habe. Sorge wunderte sich über die europäische Idealisierung Amerikas als Musterland unverfälschter Demokratie und als ein Gemeinwesen freier und unabhängiger Bürger. Zwar attestierte er den „Bürgern" größere Herrschaft in Amerika als in jedem anderen Land, allerdings setzte er den Begriff „Bürger" mit dem des „rücksichtslosen Kapitalisten" gleich. Er stellte analog der Kapitalisten- und Arbeiterklasse einen Gegensatz zwischen Arbeitern und Bürgern auf und listete die Eigenschaften der „echt bürgerlichen Amerikaner" auf: Ausbeutungsgier, Eitelkeit und Brutalität gegenüber Schwächeren. In seinem Angriff auf das bürgerliche Amerika glaubte jedoch Sorge weiterhin an das Erstarken der sozialistischen Bewegung und sagte einen Kampf zwischen der Bourgeoisie-Klasse und der Arbeiterklasse voraus, für den sich die Bourgeoisie-Klasse bereits rüste, indem sie durch großzügige Spenden und Bestechung ihre Kreaturen im Kongress, an den Universitäten und allen anderen Institutionen platziere. 104 Sorges Enttäuschung über das Fehlen einer starken sozialistischen Bewegung führte zu einer Charakterisierung Amerikas als eine „Bourgeoisie-Republik", in der der Griff der Bürger so mächtig sei, dass eine sozialistische Bewegung an allen Fronten zu kämpfen habe. Die allgegenwärtige Präsenz der „Bürgerlichkeit" ließ in Sorges Denken keinen Raum für eine mögliche Entfaltung der Arbeiterbewegung. Er war jedoch Sozialist genug, um von der heilenden Wirkung des Sozialismus auch für Amerika überzeugt zu sein und an seinen Durchbruch zu glauben. Seine Beschreibungen von der Allmacht der Bürger in Amerika und dem gezielten staatlichen und gesellschaftlichen Kampf gegen den Sozialismus in Amerika stellten aber keine Ausnahme in den Analysen der Neuen Zeit dar. Die Kritik wurde vielerorts wiederholt und vor allem auf den „staatlichen Kampf" Amerikas gegen den Sozialismus ausgeweitet. Amerika wurde als Rechtsstaat in Frage gestellt, weil es mit seinen Gesetzen der Ausbreitung der Arbeiterbewegung im Wege stehe. An figur von einer „kapitalistischen Gesellschaft" bildete freilich einen festen Bestandteil des sozialdemokratischen Amerikabildes. Auch Vorwärts, üblicherweise ein Bewunderer der amerikanischen Republik bediente sich zeitweilig dieses Bildes. Z.B. Vorwärts, Republik und Kapitalismus, Nr. 271,19.11.1891. Auch der Gewerkschaftsfunktionär Carl Legien, der 1910 auf Einladung der Socialist Labor Party die Vereinigten Staaten bereiste, sah Amerika als eine Gesellschaft mit dem höchsten Stand der kapitalistischen Ausbeutung. Vgl. Legien , Carl, Aus Amerikas Arbeiterbewegung, Berlin, 1914, S.9. 104 Sorge , Briefe aus Amerika, in: Neue Zeit, 14 (1896) II, S. 113. In der Neuen Zeit finden sich oft Bemerkungen, die Sorges Wortwahl glichen, z. B. Die republikanische Partei sei die Partei der Bourgeoisie par excellence. ebd., 15 (1897) I, S. 11 und ebd., 20 (1902) II, S. 215. Ein besonders krasses Beispiel für die Verdammung Amerikas als „kapitalistische Macht" findet sich in der Ausgabe der Neuen Zeit von 1907. Da ist die Rede von der „Herrschaft des Geldsacks", der „Verseuchung der Presse und der Universitäten" und der „rücksichtslosesten Ausbeutung". Da die Verfasserin eine bekennende Anarchistin ist, sind diese Wertungen in ihrer absoluten Verteufelung Amerikas nicht unbedingt typisch für die deutsche Sozialdemokratie. Vgl. Schlesinger-Eckstein , Therese, Amerika in anarchistischer Beleuchtung, in: ebd., 25 (1907) I, S. 644-648.
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erster Stelle wurde eine scharfe Verurteilung der amerikanischen Rechtspraxis im Zusammenhang mit der Arbeitergesetzgebung vorgenommen. Die Einmischung des Staates in Arbeitskämpfe war in Amerika viel geringer als in europäischen Ländern, in diesem Rahmen aber intervenierte der Staat oft und entschieden gegen die Arbeiter. Als in den 90er Jahren die injunctions sich vervielfachten und dadurch oft Streikende auf rechtlicher Basis ausgeschlossen oder ihre Streiks für gesetzeswidrig erklärt wurden, erregte die richterliche Praxis großes Aufsehen in den sozialistischen Parteien der Vereinigten Staaten und in den Reaktionen der Sozialdemokraten in Deutschland.105 In Deutschland widmeten vor allem Autoren der Neuen Zeit diesem Thema ausführliche Berichte und reihten sich in Sorges Sicht von der Dienstbarkeit öffentlicher Institutionen als Helfershelfer des Kapitalismus ein. Besondere Empörung schlug aus der Neuen Zeit Gerichtsurteilen entgegen, die einige zuvor beschlossene Arbeiterschutzmaßnahmen außer Kraft gesetzt und für verfassungswidrig erklärt hatten. Mit Unverständnis wurde die amerikanische Praxis des Einhaltsbefehls der injunction zur Kenntnis genommen und die Gerichte der Aufgabe der Unabhängigkeit und Kooperation mit den „amerikanischen Kapitalisten" bezichtigt.106 Rappaport schlug 1902 in diese Kerbe, als er sich zu einem Urteil in Indianapolis äußerte, in dem ein Richter den Streikenden verbot, andere Arbeiter zum Streik zu überreden. Die gesamte amerikanische Justiz, so sein Urteil, diene dem Kapital, der richterliche Einhaltsbefehl sei ein Instrument zur Unterdrückung und des Streiks. Die Kritik an der richterlichen Praxis verband Rappaport mit einer prinzipiellen Verurteilung Amerikas als Rechtsstaat, in dem er die in der Bundesverfassung festgehaltene „metaphysische Wahrheit" von Menschenrechten in der Praxis als nichts anderes als eine „große Lüge" bezeichnete. In den richterlichen Urteilen, die meist zugunsten der Kläger, also der Fabrikdirektoren und Arbeitgeber, ausfielen, sah Rappaport eine missbräuchliche Verwendung der amerikanischen Verfassung zur Verhinderung eines vernünftigen Arbeitsschutzes. Auf diese Weise werde, wie Rappaport es formu105 Um 1900 waren Streiks legal, allerdings waren Boykott, Solidaritätsstreiks und das Organisieren von unterstützenden Aktivitäten verboten. Das erste Urteil wurde im Jahre 1877 gegen streikende Bahnarbeiter verhängt und galt fortan als Präzedenzfall. Vgl. Forbath , William, Law and the Shaping of the American Labor Movement. Cambridge, 1991, S. 26, S.59 und S. 66. Ausführliche Daten und Informationen zu Streiks und zu Gerichtsurteilen in den USA in diesem Zeitraum. Currie , Janet/Ferne, Joseph. Strikes and the Law in the U.S., 1881-1894. New Evidence on the American Exceptionalism, Cambridge, 1995, S. 1-39. 106 Z.B. Sorge , Briefe aus Amerika, in: Neue Zeit. 15 (1896) II, S. 112 oder Rappaport, Philipp, Aus dem Lande der Yankees, in: ebd., 20 (1902) I, S. 279. Auch außerhalb der Diskussionen in der Neuen Zeit erregte die richterliche Praxis in Amerika fachliches Interesse. So wurden z. B. die richterlichen Urteilssprüche als Beispiele für die Einschränkung der legislativen Gewalt in den Vereinigten Staaten angegeben. Vgl. Loewy, Waither, Die bestrittene Verfassungsmäßigkeit der Arbeitergesetze in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ein Beispiel der Beschränkung der legislativen Gewalt durch das richterliche Prüfungsrecht. Heidelberg, 1905, S. 87 und Huberich , Charles Henry, Vereinigte Staaten von Amerika. Die amerikanische Arbeitsgesetzgebung des Jahres 1901, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, 17 (1902), S. 426-439.
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lierte, „Freiheit aufgrund der Freiheit unterdrückt." Nach dieser Lesart, war die Beschaffenheit der amerikanischen Verfassung darauf ausgerichtet, die „bürgerliche Freiheit" zu schützen und im Dienste der Bürger zu stehen. Die „bürgerliche Freiheit" war aus der Sicht der Autoren der Neuen Zeit eine wirtschaftliche Freiheit, die nicht die Interessen der Arbeiter, sondern die Vertragsfreiheit und die Unantastbarkeit des Eigentums meinte. Der amerikanischen Verfassung wurde die Fähigkeit abgesprochen, die Rechte der Arbeiter zu schützen, stattdessen bringe sie nur als „Magna Charta des amerikanischen Bürgertums" die wirtschaftlichen Anschauungen der herrschenden Schichten des Bürgertums zum Ausdruck. 108 Die Frage nach den Aussichten und der Lage des Sozialismus in Amerika bewegte die deutschen Sozialdemokraten in besonderem Maße, sie war jedoch viel schwieriger zu beantworten als Fragen zur amerikanischen Wirtschaft oder zur Außenpolitik. Sorge und andere Autoren der Neuen Zeit, die meisten davon Exilsozialisten, sahen Feinde der Arbeiterbewegung in allen Bereichen des amerikanischen Lebens. Von der Bürgerlichkeit gänzlich erfasst, wies Amerika zahlreiche Defizite auf, die nur der Sozialismus beheben konnte. Nach der Marxschen Devise sollte das Land, das kapitalistisch am weitesten entwickelt war, der geeignetste Kandidat für die sozialistische Revolution sein. Die kapitalistische Gesellschaft sollte eine Arbeiterklasse hervorbringen, die ein sozialistisches Bewusstsein entwickeln und eine sozialistische Bewegung in Gang setzen würde. In diesem Sinne würde die kapitalistischste Gesellschaft die Arbeiterklasse mit dem größten sozialistische Bewusstsein und der stärksten sozialistischen Bewegung hervorbringen. Für die meisten Sozialdemokraten stand Amerika für das am höchsten entwickelte kapitalistische Land, jedoch ohne eine bedeutende Arbeiterbewegung, diesen Widerspruch mussten die Sozialdemokraten auflösen. Dabei kristallisierten sich zwei Vorgehensweisen heraus. Einmal der sehr stark ideologisch geprägte Zugang der Schreiber der 107 Rappaport, Philipp, Verfassungsrecht und Arbeiterschutzgesetzgebung in den Vereinigten Staaten, in: Neue Zeit, 21, (1903) II, S.821. Rappaports besonders heftige Empörung ist wohl auch mit der aufgeheizten Stimmung in Amerika gegen Anarchisten und Sozialisten nach dem McKinley-Mord zu erklären. Ein wissenschaftliches Forum vieler Exilsozialdemokraten in Deutschland gründete das Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik. Fern der dogmatischen Sichtweise der sozialdemokratischen Organe wurden dort die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Amerika diskutiert. Das Scheitern des Stahlarbeiterstreiks von 1901 führt ein Autor des Archivs für Soziale Gesetzgebung und Statistik auf die bei den Arbeitern anerkannte „Vorherrschaft des Kapitals" und seine Vorliebe fürs Geldausgeben zurück. Ebenso betont er die Macht der öffentlichen Meinung und die Finanzkraft des Stahltrusts, gegen die ein Streik nicht zu gewinnen sei. Vgl. Waenting , Heinrich, Der Stahlarbeiterstreik vom Sommer 1901 und seine Lehren, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, 17 (1902), S.574 und S. 576. Weitere Aufsätze widmeten sich praktischen Fragen der Arbeitswelt in Amerika. Z. B. Stevens , Alzina P., Die Gewerksvereine der Vereinigten Staaten, in: Neue Zeit, 12 (1897) II, S. 695-723 oder Kelly, Florence, Das Sweating System in den Vereinigten Staaten, in: ebd,. 12(1897) I,S. 209-232. 108 Herzfeld , Adolf, Die Arbeitergesetze und die Gerichte in den Vereinigten Staaten, in: ebd., 23 (1905) II, S. 666 und Boudin , L. B., Politische Lage in den vereinigten Staaten und die demokratische Partei, in: ebd., 25 (1907) II, S.596.
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Neuen Zeit, gespeist von den führenden Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie und sehr intensiv von Berichten aus der Feder ausgewanderter Sozialdemokraten und Sozialisten beeinflusst. Ihr Wunsch nach einem bevorstehenden Durchbruch der sozialistischen Bewegung in Amerika diktierte die Wahrnehmung der amerikanischen Wirklichkeit. Eine verzerrte, von Wunschdenken geleitete Wahrnehmung der amerikanischen Verhältnisse und europäischen Vorstellungen ließ sie trotz der vielfachen Rückschläge der sozialistischen Bewegung an der Hoffnung auf eine sozialistische Zukunft in Amerika festhalten. Die amerikanische Arbeiterbewegung war keineswegs erfolglos, sie entbehrte aber der theoretischen und ideologischen Basis der europäischen, sodass ihre wahre Bedeutung als Spiegelbild und Veränderer der sozialen Verhältnisse in Amerika von den Theoretikern der Neuen Zeit nicht zur Kenntnis genommen wurde. Es gab aber auch eine nüchterne und sachliche Auseinandersetzung der Sozialdemokraten mit dem Sozialismus in Amerika, das jedoch in viel geringerem Maße. Praktische Fragen nach den täglichen Erfolgen der amerikanischen Arbeiterbewegung dominierten hier die Sichtweise. In den Sozialistischen Monatsheften oder dem Vorwärts spielten die Erfolge der sozialistischen Parteien oder der Gewerkschaften in Amerika und das Erreichen bestimmter Forderungen der Arbeiterbewegung durchaus eine Rolle. An dieser Stelle fiel der theoretische Ansatz unter die Notwendigkeit praktischer Fragen. Beiden Ansätzen liegt jedoch eine gemeinsame Schwierigkeit zu Grunde. Die Frage nach der Entwicklung des Sozialismus in Amerika bereitete deutschen Sozialdemokraten erhebliche Probleme, diese in der gewohnten europäischen Sichtweise zu beantworten. Amerika war das kapitalistische Land Nummer Eins, hatte ebenfalls eine nicht unbedeutende Arbeiterbewegung, aber eben keine große Arbeiterpartei europäischen Zuschnitts. Für die von europäischem Denken geprägten Sozialdemokraten in Deutschland ein Widerspruch, der nur schwer aufzulösen war.
II. Der amerikanische Protektionismus 1890-1897 1. Der McKinley-Tarif Ein großes, vielleicht das größte amerikanische Thema für die deutschen Parteien waren die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen und der in den 90er Jahren seitens der Vereinigten Staaten eingeschlagene Weg des Protektionismus. Trotz der bereits bestehenden wirtschaftspolitischen Reibungen der 80er Jahre, die sich am deutlichsten in den deutschen Einfuhrverboten für amerikanisches Schweinefleisch von 1883 und 1887 manifestierten, verschärften der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas, seine Außenwirtschaftspolitik und die Auswirkungen der amerikanischen Tarifpolitik auf Deutschland den Blick der Beobachter in Deutschland.1 Das neue Gewicht Amerikas als Wirtschaftsmacht, sein an den Tag gelegtes Selbstbewusstsein, wirtschaftspolitische Interessen deutlich zu artikulieren und der spürbar wachsende Konkurrenzdruck amerikanischer Produkte auf den deutschen Markt rückten die amerikanische Handelsmacht immer mehr in den Mittelpunkt handelspolitischer Debatten. Die politischen Parteien in Deutschland beobachteten die amerikanische Entwicklung mit großem Interesse. Je mehr sie sich von der amerikanischen Konkurrenz bedroht sahen, desto mehr wuchs die Sorge, marktpolitisch Schaden zu nehmen, und desto häufiger wurden die Rufe nach einer grundsätzlichen Neuausrichtung der handelspolitischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. War dies nicht der Fall, und erkannten sie in Amerika einen wertvollen Handelspartner, diktierte der Wunsch nach gut funktionierenden Wirtschaftsbeziehungen zu Amerika die Betrachtungsweise der amerikanischen Außenhandelspolitik. Unabhängig von der individuellen Haltung einer Partei zur amerikanischen Wirtschaftspolitik, wurde Amerika in den 1890er Jahren immer stärker unter dem Gesichtspunkt einer aufsteigenden Macht be1 Der prominenteste Vertreter des Faches „Agrarpolitik" im Kaiserreich, Max Sering, warnte bereits 1887 vor der landwirtschaftlichen Konkurrenz Amerikas. 1893 unternahm Sering eine ausgedehnte Amerikareise, um vor Ort die Verhältnisse der amerikanischen Landwirtschaft zu studieren. Auch andere Autoren widmeten dem Thema des wirtschaftlichen Aufstiegs Amerikas ihre Aufmerksamkeit. Speziell zur amerikanischen Landwirtschaft. Vgl. Sering, Max, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas in Gegenwart und Zukunft. Aufgrund von Reisen und Studien dargestellt, Leipzig, 1887, S.549 oder Annecke, der umfangreiche Tabellen und Statistiken zum Produktionsvolumen und zu regionalen Schwerpunkten der einzelnen landwirtschaftlichen Produkte sowie des Kapitals und der Arbeitskraft bietet. Annecke, W, Die Lage der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 15 (1891), S. 51-73.
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trachtet. Die bewährten Topoi der Amerikabeschreibung des 19. Jahrhunderts griffen zwar immer noch, sie wurden aber Schritt für Schritt durch neue Komponenten ergänzt oder gar gänzlich ersetzt. Das wirtschaftlich starke, „kapitalistische Amerika", das zu „unfairen" Handelsmethoden greife, wurde mit den altbekannten Vorwürfen der „Korruption", der „Rücksichtslosigkeit" und der „Gier" konfrontiert. Der wirtschaftliche Aufstieg der Vereinigten Staaten rief aber nicht nur Ablehnung hervor. Bewundernde Worte für die Leistungen und für die Zukunftsfähigkeit Amerikas mischten sich genauso in die Bewertung der amerikanischen Außenhandelspolitik. Die amerikanische Entwicklung zur Großmacht, die die meisten Beobachter in Deutschland mit dem amerikanischen Sieg über Spanien 1898 für weitgehend abgeschlossen hielten, wurde durch einen enormen wirtschaftlichen Aufstieg und durch ein verstärktes außenpolitisches Engagement der Vereinigten Staaten begleitet. Die wachsende amerikanische Konkurrenz auf dem landwirtschaftlichen Sektor seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, seit den 90er Jahren auch auf dem industriellen Sektor und die daraus abgeleitete Sorge in Deutschland um den zunehmenden Druck amerikanischer Produkte auf den deutschen Markt bestimmten zu einem erheblichen Teil die deutsche Perzeption Amerikas. 2 Zwar erreichte die Diskussion in Deutschland um die Gefährlichkeit Amerikas als Wirtschaftsmacht erst um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt, dennoch spielte die amerikanische Wirtschaftspolitik, vor allem die amerikanische Außenwirtschaftspolitik seit 1890 eine wichtige Rolle in der Bewertung Amerikas innerhalb der deutschen Parteien. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts zeichneten sich durch Abwesenheit von machtpolitischen Friktionen auf der weltpolitischen Bühne aus. Amerika wie das Deutsche Reich hatten sich noch nicht explizit auf den Weg einer imperialistischen Außenpolitik begeben, sodass erst mit verstärktem Engagement der Vereinigten Staaten in Lateinamerika, im Pazifik und dem Fernen Osten nach dem spanisch-amerikanischen Krieg und der fast gleichzeitigen Proklamierung der deutschen Weltmachtpolitik ernsthafte Reibungsflächen entstanden. Um 1890 hielt sich Amerika zwar noch weitgehend an das von George Washington aufgestellte Axiom zur amerikanischen Außenpolitik, keine entangling alliances einzugehen. Dieses hatte jedoch nicht zum Inhalt, das eigene Land völlig unabhängig von der europäischen Mächtekonstellation und dem europäischen Markt im Weltgeschehen zu plazieren, sondern es durch eine politische Distanz nicht in den europäischen Mächtekampf hineinziehen zu lassen, auf der anderen Seite aber die wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa so weit wie möglich auszubauen. Amerika interagierte also wirtschaftlich mit Europa und hatte bereits vor 1890 einen regen wirtschaftlichen Austausch zu verzeichnen. Dennoch kolli2 Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Vereinigten Staaten wird von der These vom amerikanischen „exceptionalism" Gebrauch gemacht, die Amerika aufgrund fehlender staatlicher Regulierung, politischer Klassenkämpfe sowie bester natürlicher Voraussetzungen einen besonders starken wirtschaftlichen Aufschwung zuspricht. Einleitend dazu vgl. Heideking, Jürgen, Geschichte der USA, Tübingen, 1999, S. 197 ff. und Faulkner, The Decline of Laissez Faire, 22 ff.
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dierte die außenwirtschaftliche Praxis der Vereinigten Staaten erst durch das amerikanische Einlenken auf eine protektionistische Außenwirtschaftspolitik und einen verstärkten Kampf um die Drittmärkte, vor allem in Süd- und Lateinamerika, mit den Interessen des Deutschen Reiches.3 1889 ist Benjamin Harrison Präsident geworden und in den Wahlen fürs Repräsentantenhaus und für den Senat gewannen die Republikaner die Mehrheit der Sitze.4 Seit Beginn der 80er Jahre propagierten die Republikaner, als Garantie für die hohen Löhne der amerikanischen Arbeiter und als Notwendigkeit, die ausländische Konkurrenz von Amerika fern zu halten, eine stärkere protektionistische Außenwirtschaftspolitik. 5 Die erste Neuerung in der amerikanischen Zollpolitik stellte die in den McKinley-Tarif eingeführte Reziprozitätsklausel dar. Danach konnte der Präsident auf Einfuhrprodukte, falls die importierenden Staaten nicht zu erheblichen handelspolitischen Konzessionen gegenüber den USA bereit waren, Zölle erheben. Die Stoßrichtung dieser Politik zielte vorwiegend auf lateinamerikanische Länder, die zwar wirtschaftlich eng mit den Vereinigten Staaten interagierten, ihre autonome Handelspolitik aber im Kern dennoch behalten konnten. Durch die Praxis der Reziprozitätspolitik und durch den wachsenden politischen Einfluss der Vereinigten Staaten in dieser Region wurden sie wirtschaftlich noch enger an die Vereinigten Staaten gebunden. Der neue Tarif erhöhte die Zölle im Durchschnitt auf 49,5 % und verschärfte die Bestimmungen über Zollabfertigungen. Neben den hohen Zollsätzen wurde ebenso die Reziprozitätsklausel auf Deutschland angewendet.6 3 Großen Wert auf die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen als Störfaktor zwischen Amerika und Deutschland legt Hase. Die gängige These, die USA hätten sich vor dem Kriegseintritt 1917 an europäischen Angelegenheiten desinteressiert gezeigt, und dass der Kriegseintritt Amerikas 1917 sich alleine aus den Kriegsereignissen erklären lasse, vertritt unter anderen Pommerin. Pommerin betont die deutsche „Weltpolitik" als besonders proamerikanisch. Auch in dem Klassiker von Vagts wird der wirtschaftspolitischen Dimension der deutsch-amerikanischen Beziehungen vor 1914 erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet. Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 319-357. Pommerin, Rainer, Der Kaiser und Amerika. Die USA in der Politik der Reichsleitung 1890-1917, Köln, 1986 und Vagts, Alfred, Deutschland und die Vereinigten Staaten in der Weltpolitik, Bd. 2 New York, 1935. Zu „entangling Alliances" vgl. Angermann, Erich, Entangling Alliances With None. Neutralismus und Bündnispolitik in den Anfängen der amerikanischen Außenpolitik, in: Dollinger, Heinz (Hrsg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer, München, 1982, S.93ff. 4 Zu Harrison einleitend vgl. Lammersdorf, Raimund, Benjamin Harrison 1889-1893. Präsident im Schatten des Kongresses, in: Heideking (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten, S. 234-238.1889 gewannen die Republikaner 166, die Demokraten 159 Sitze im Repräsentantenhaus, im Senat waren die Mehrheitsverhältnisse 39 zu 37 zu Gunsten der Republikaner. Ebd., S. 459. 5 Die „imperialistisch-protektionistische" Stoßrichtung der amerikanischen Außenhandelspolitik betont traditionell Wehler. Auch Schröder versteht die spätere Außenpolitik Roosevelts primär als Instrument zur Durchsetzung ökonomischer Interessen. Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, Göttingen, 1974. S.74ff. und Schröder, Ökonomische Aspekte der amerikanischen Außenpolitik, S.301. 6 1889 tagte auf Anregung Blaines, des damaligen amerikanischen Außenministers, in Washington der Panamerikanische Kongress, infolge dessen die Reziprozitätsklausel in die
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Die Konkurrenzsituation wurde zusätzlich dadurch verschärft, dass Amerika und das Deutsche Reich sich fast gleichzeitig auf den Weg des Protektionismus begaben. Deutschland verabschiedete 1879 einen neuen protektionistischen Tarif mit einer industriellen und landwirtschaftlichen Zielsetzung. Diesem folgten die Tarife von 1885 und 1887. Für Amerika besonders schmerzvoll waren die deutschen Einfuhrverbote für amerikanisches Schweinefleisch aus den Jahren 1883 und 1884. Beide innenpolitisch mit der Gefährdung der „Volksgesundheit" durch Trichinen begründet, hatten sie zum Ziel, die amerikanische Konkurrenz vom deutschen Markt fernzuhalten. 7 Trotz des Umschwungs beider Länder zum Protektionismus, stellten die Vereinigten Staaten 1890 mit 9,5 % das viertwichtigste Import- und mit 12,2% das zweitwichtigste Exportland Deutschlands dar. 8 Die wirtschaftliche Situation zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland wurde darüber hinaus durch die Lage auf dem Getreidemarkt erschwert. I n Deutschland zeichnete sich eine Agrarkrise ab, in den Vereinigten Staaten erlebte die Agrarwirtschaft einen enormen Aufstieg, und die Vereinigten Staaten entwickelten sich neben Russland zum zweitgrößten Exporteur von landwirtschaftlichen Produkten. 9
McKinley-Bill aufgenommen wurde. Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 272ff. Kempter, Gerhard, Agrarprotektionismus. Landwirtschaftliche Schutzzollpolitik im Deutschen Reich von 1879-1914, Frankfurt, 1985, S. 158 und Jonas, The United States and Germany, S. 37 ff. Tatsächlich wurde die deutsche Industrie von dem Tarif hart getroffen, die deutsche Ausfuhr in die Vereinigten Staaten sank in den folgenden Jahren enorm und erholte sich erst wieder ab 1895. Der McKinley-Tarif traf vor allem die deutschen Fertigprodukte aus der Textilbranche, aber auch Naturgüter wie Baumwolle. Deutschland tätigte 1890 12.2% seines Exports in die Vereinigten Staaten, die Rate des Imports betrug 9,5 %. Vgl. Crouse, Janet K., The Decline of German-American Friendship. Beef, Pork, and Politics 1890-1906, Delaware, 1980, S. 29 und Ulimann, Hans-Peter, Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluss und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895-1914, Göttingen, 1976, S. 166. 7 Zu den deutschen Einfuhrverboten von 1883 und 1884 vgl. Terrill, Tom E., The Tariff, Politics, and American Foreign Policy 1897-1901, Westport, 1973, S. 159-183. Cassidy, James, Applied Microscopy and American Pork Dispute, 1871-91, in: Isis, 6 (1971), S. 5 ff. und Crouse, The Decline of German-American Friendship, S.9-57 und S. 81, Das Thema „amerikanisches Fleisch" beschäftigte auch die zeitgenössische Publizistik so z.B. Backhaus, Alexander, Nordamerikanische Schweinezucht. Bericht über Studien auf der Weltausstellung zu Chicago und einer Reise in der Nordamerikanischen Union, Berlin, 1894. 8 Insgesamt belief sich die Einfuhr nach Deutschland auf 15,0% aus Großbritannien, 14,0% aus Österreich-Ungarn, 12,7 % aus Russland und 9,5 % aus den USA. Deutschland exportierte zu 20,7 % Ware nach GB, 12,2 % in die USA und 10,3 % nach Österreich-Ungarn. Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin, 1892. Wiederabgedruckt, Hildesheim, 1974, S.65ff. 9 Die günstigen klimatischen Bedingungen, die große Menge an landwirtschaftlichen Nutzflächen und wegen der Einwanderung ein erhebliches Potential an Arbeitskräften ließen die amerikanische Getreideproduktion im 19. Jahrhundert erheblich wachsen. Als großer Vorteil erwies sich das so genannte „Heimstättengesetz" von 1862, das jedem Bürger im Alter von über 21 Jahren das Recht auf 80 Acker Land zwischen reservierten Eisenbahnländereien und auf 160 Acker anderweitigen öffentlichen Landes garantierte. Nach dem Ende des Bürgerkrieges zogen zudem verstärkt Siedler gegen Westen. Der amerikanische Weizenexport stieg von 900.000 Tonnen jährlich in den Jahren 1851-1855 auf 12.2 Millionen Tonnen in den
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Das wirtschaftliche Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten gründete trotz der deutschen Schutzzollmaßnahmen und des amerikanischen Umschwungs zum Protektionismus auf dem Meistbegünstigungsvertrag von 1828. Dieser Vertrag wurde zwischen Preußen und Amerika abgeschlossen und 1871 auf das Deutsche Reich übertragen. 10 Aus amerikanischer Sicht verstieß der McKinley-Tarif nicht gegen die Meistbegünstigung, in Deutschland jedoch wurde er als ein klarer Bruch der bisher geltenden Grundlage der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen betrachtet.
a) Die kapitalistische Bedrohung Die Perzeption und Bewertung der amerikanischen Außenhandelspolitik durch die deutschen Parteien wurde durch mehrere Faktoren bestimmt. In den Reihen der deutschen Parteien, in den Fachkreisen, aber auch in der Öffentlichkeit führte der neue amerikanische Tarif vor allem in agrarischen Kreisen in Deutschland zu der Sorge, Amerika wurde Deutschland nicht nur auf dem Weltmarkt schaden, sondern auch langfristig auf dem heimischen Markt Fuß fassen und somit den deutschen Markt erobern. Die Schlagworte von der Bedrohung der deutschen Wirtschaft durch die Übermacht des amerikanischen Kapitals und durch eine wirtschaftliche Expansion Amerikas begleiteten die Bewertung des Tarifs. Für die Parteien spielten bei der Bewertung des McKinley-Tarifs die prinzipielle Haltung zur Außenhandelspolitik und die Frage nach dem vertraglichen Verhältnis Deutschlands zu Amerika eine zentrale Rolle. Diese Überlegungen wiederum wurJahren 1871-75. Vgl. Kemper, Agrarprotektionismus, S.76ff. Aus der zeitgenössischen Perspektive Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas, S. 529 ff. Paasche, Heinrich, Über die wachsende Konkurrenz Nord-Amerikas für die Produkte der mitteleuropäischen Landwirtschaft, in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 33 Jena, 1897, S. 91-125 und S. 195-231 und Ballod, Carl, Die deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen, in: Beiträge zur neuesten Handelspolitik Deutschlands, Verein für Socialpolitik, Bd. 2 Leipzig, 1901, S. 173 ff. 10 Die Regierung Caprivis versuchte, die neue amerikanische Außenwirtschaftspolitik durch eine zentrierte mitteleuropäische Offensive in der Außenwirtschaftspolitik abzufedern. Diese war zwar in ihrem Ursprung nicht genuin gegen Amerika gerichtet, erfüllte aber beim Aufkommen der amerikanischen Schutzzollpolitik diesen Zweck. Caprivis Pläne einer wirtschaftlich enger zusammengefassten mitteleuropäischen Zusammenarbeit, unterstützt vom Wilhelm II., hatten somit neben dem Ziel, wirtschaftlich von Russland unabhängig zu werden, auch eine antiamerikanische Stoßrichtung, die Deutschland und Mitteleuropa weitgehend wirtschaftlich von Amerika abkoppeln sollte. Fiebig-von Hase sieht den Hauptzweck der Caprivischen Handelspolitik in der Stoßrichtung gegen die Vereinigten Staaten, die zweifelsohne vorhanden war, reißt sie jedoch damit aus dem politischen Zusammenhang, die Dreibundstaaten durch wirtschaftliche Maßnahmen enger an sich zu binden. Der modifizierte Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten von 1828 fand seine ursprüngliche Fassung in dem zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten geschlossenen und ebenso genannten Vertrag von 1785. Vgl. Fiebig-von Hase, Lateinamerika, S. 288. Pommerin, Der Kaiser und Amerika, S. 24 ff. Meyer, Henry Cord, Mitteleuropa in German Thought and Action, 1815-1945, Den Haag, 1955. S.61 ff. und Doerries, Kaiserreich und Republik, S.353ff. i*
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den von der durch die eigene Klientel geschaffene Interessenlage und der politischen Positionierung der Partei diktiert. Schließlich rückte mit genauso großem Impetus zunehmend die wachsende Bedeutung Amerikas als wirtschaftliche Großmacht ins Bewusstsein der Parteien, und nicht zuletzt erwies sich Amerika als ein für alle Seiten brauchbares Argument im innenpolitischen Kampf. Diese Koordinaten steckten das Feld ab, in dem die deutschen Parteien die Vereinigten Staaten unter Rückgriff auf eingefahrene, aber auch neu entstandene Amerikabilder und Perzeptionsmuster wahrnahmen. Sobald der bevorstehende Erlass des McKinley-Tarifs in Deutschland bekannt wurde, formierten sich zwei ihm gegenüber stehende Fronten in der deutschen Parteienlandschaft. Auf der einen Seite die Deutschkonservativen, die, unterstützt von Teilen der Freikonservativen Partei und des Zentrums, eine härtere Gangart gegenüber den Vereinigten Staaten befürworteten. Sie sahen in diesem Tarif einen amerikanischen Angriff auf das bestehende vertragliche Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten und eine Gefährdung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands. Die konservativen Parteien und große Teile des Zentrums sahen in dem neuen Vorstoß der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik einen Höhepunkt des amerikanischen Protektionismus, der nicht nur die wirtschaftliche Vormachtstellung Amerikas sichern, sondern vor allem auch die deutsche und europäische Agrarwirtschaft nachhaltig schädigen sollte. Ihnen gegenüber standen Sozialdemokraten und Linksliberale, die trotz der prinzipiellen unvereinbaren Unterschiede in der Wirtschaftspolitik sich auf derselben Seite fanden und aus ihrer antiprotektionistischen Haltung heraus den McKinley-Tarif zwar nicht begrüßten, jegliche Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Amerika aber ablehnten. Beide Parteien agierten aus ganz unterschiedlichen Gründen auf diese Weise, die Sozialdemokraten waren um die Versorgung der Arbeiterbevölkerung durch „bezahlbare" Konsumgüter besorgt, die linksliberalen Parteien vertraten Interessen des Außenhandels und schrieben aus prinzipieller Überzeugung den Freihandel auf ihre Fahnen. Als der größte Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik präsentierte sich im Laufe der 1890er die Deutschkonservative Partei. Ein wichtiger Grund hierfür war der programmatische Wandel, den die Partei zu Beginn der 90er Jahre durchlief, und welcher schließlich im so genannten Tivoli-Programm mündete. Er brachte sie ideologisch und interessenpolitisch völlig auf den agrarischen Kurs. Die Verteidigung und der Ausbau der landwirtschaftlichen Interessen wurden zum zentralen Anliegen der Deutschkonservativen Partei. 11 Der nun offensichtlichen programmatischen und politischen Veränderung der Deutschkonservativen Partei ist ein zähes Ringen innerhalb der Partei und eine Veränderung der politischen Rahmenbedingen vorausgegangen. Nach dem Zerbrechen des Kartells bei den Wahlen von 1890 und 11 Vgl. Salomon, Felix, Die Deutschen Parteiprogramme. Berlin, Leipzig, 1907, Bd. 2 S.71. Stegmann, Die Erben Bismarcks, S. 20 und Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte, 1866-1918. Machtstaat vor der Demokratie, München, 1985, S.540.
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dem Rücktritt Bismarcks entbrannte ein Kampf zwischen der so genannten Kreuzzeitungsgruppe um Hammerstein-Schwartow und den Altkonservativen um Helldorff-Bedra. 12 Die Kreuzzeitungsgruppe um Hammerstein und Stöcker setzte sich gegen Helldorff-Bedra und seinen Wunsch nach der Fortführung des Kartells durch. I n der Wahrnehmung der amerikanischen Außenhandelspolitik spielte die Kreuzzeitung mit Hammerstein als Chefredakteur von nun an die Rolle des Anpeitschers für agrarische Interessen und gegen die amerikanische Konkurrenz. 1 3 Ebenso wichtig für die Perzeption der amerikanischen Politik war die Zusammensetzung der Parteimitglieder und die Radikalisierung des Programms zum Schutze der deutschen Landwirtschaft vor dem Hintergrund der Agrarkrise. Das Herzstück der Deutschkonservativen Partei bildeten 1890 nach wie vor preußische Junker östlich der Elbe; diese formulierten weitgehend die Ziele und die politische Vorgehensweise der Partei. M i t dem Tivoli-Programm und der Gründung des Bundes der Landwirte radikalisierte sich die Partei und nahm an der Seite des Bundes der Landwirte den Kampf gegen die Bedrohung der deutschen Landwirtschaft auf. 1 4 Schon sehr bald nach dem In-Kraft-Treten des McKinley-Tarifs drang Amerika in das Bewusstsein der Konservativen, vor allem in das der Agrarier, als eine Bedrohung 12 Helldorffs Einfluss wurde in einer Sitzung des Deutschkonservativen Wahlvereins am 31. Jan. und l.Feb. 1889 durch die Gründung eines Komitees zur Koordinierung der politischen Aktivitäten und Meinungsbildung der Partei durch Ergänzung mit Mitgliedern aus Preußischen und Sächsischen Parlamenten begrenzt. Auch Helldorffs Sprachrohr, das vormalige Parteiorgan Die Conservative Correspondenz, wurde zu einem unbedeutenden Blatt der Parlamentsberichtserstattung degradiert. Vgl. Retallack, Notables of the Right, S.78. 13 Als Ergebnis wurde Helldorf-Bendra als Vorsitzender des Deutschkonservativen Wahlvereins durch Graf zu Limburg-Stirum ersetzt. Ab 1895 bis 1911 stand ihm Otto Freiherr von Manteuffel vor. Nach Helldorffs Abgang 1892 übernahm Graf Mirbach-Sorquitten bis 1898 die Führung der Reichstagsfraktion, danach Otto von Normann. Helldorff behielt dennoch einen gewissen Einfluss auf gemäßigte Konservative. Auch der von Helldorff noch abgelehnte Antisemitismus fand nun offen Eingang in die Deutschkonservative Partei. Gruppierungen, die bis dahin vielerorts in Konkurrenz zu den Deutschkonservativen standen, wurden nun von führenden Persönlichkeiten wie Liebermann, Sonnenberg oder Graf von Reventlow in die Partei aufgesogen. Vgl. Deutschkonservative Partei, in: Fricke, Dieter (Hrsg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, S.672. Booms, Hans, Die deutsch-konservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff. Düsseldorf, 1954, S.24ff. und die detaillierte Beschreibung des so genannten Zeitungskrieges in der Deutschkonservativen Partei bei Retallack. Retallack, Notables of the Right, S. 77-90. 14 Vgl. Harnisch, Hartmut, Agrarstaat oder Industriestaat. Die Debatte um die Bedeutung der Landwirtschaft in Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Reif, Heinz (Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise - Junkerliche Interessenpolitik - Modernisierungsstrategien, Berlin, 1994. S. 33 und Flemming, Jens, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890-1925, Bonn-Bad Godesberg, 1978, S. 30. Genaue Zahlen und Daten zur Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der deutschen Landwirtschaft bei Grant, Oliver, „Few better farmers in Europe"? Productivity, Change, and Modernization in East-Elbian Agriculture 1870-1913, in: Eley, Geoff/Retallack, James (Ed.), Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meaning of Reform, 1890-1930. Essays for Hartmut Pogge von Sandmann, New York, 2003, S. 51-72.
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ihrer wirtschaftlichen Interessen ein. Die wachsende amerikanische Konkurrenz der 80er Jahre wurde nun durch eine Maßnahme verschärft, die den amerikanischen Markt schützte, auf der anderen Seite garantierte der Fortbestand der Meistbegünstigung weiterhin vielen amerikanischen Produkten einen Zugang zum deutschen Markt. 1 5 Diese Bedrohung erschien umso gefährlicher, da die Deutschkonservativen in Amerika einen Gegner erblickten, der nicht nur handelspolitische Entscheidungen in seinem Kampf gegen die ausländische Konkurrenz einsetzte, sondern ebenfalls auf den Reichtum der natürlichen Ressourcen und des unbegrenzten Kapitals i m eigenen Land zurückgreifen konnte, also auch eine Bedrohung in der Form der Wucht des „ungezügelten Kapitalismus" darstellte. 16 Die konservativen Abgeordneten griffen jede Gelegenheit auf, um wiederholt ihr wirtschaftspolitisches Konzept von Schutzzöllen gegen Amerika zu präsentieren und untermauerten es mit der Warnung vorm amerikanischen Kapital. Die von Amerika ausgehende Gefahr, so die einhellige Meinung in den Reihen der Konservativen, beruhe auf der Kapitalmacht dieses Landes, die bereits in eigenem Lande die Kleinen Bauern vernichtet habe und nun dank der verbesserten Transportverhältnisse auch Deutschland bedrohe. Der deutschkonservative Abgeordnete Lutz wählte deutliche Worte, um die Lage in Amerika zu beschreiben und das von amerikanischem Großkapital ausgehende Drohpotential für den deutschen Bauernstand zu schildern: 15
In den Vereinigten Staaten herrschte eine andere Auffassung vom Wesen der Meistbegünstigung. Nach amerikanischem Verständnis kam ein dritter Staat, in diesem Falle Deutschland, das nach dem Meistbegünstigungsverhältnis keine Nachteile aufgrund der Reziprozitätsverträge der USA mit lateinamerikanischen Staaten erleiden sollte, nicht automatisch in den Genuss der Vorteile der Meistbegünstigung, sobald Amerika diese einem anderen Staat vertragsmäßig gewährte, Für die Ökonomen des Kaiserreichs war dies ein viel beachteter Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Handelspolitik der Vereinigten Staaten. Dieses Verständnis ermöglichte den USA, Deutschland Zollvergünstigungen zu verweigern. Bosc erkennt drei Phasen der amerikanischen Handelspolitik. Die erste vor 1890 mit dem Ziel der Vernichtung der europäischen Landwirtschaft, die zweite nach 1890 mit dem Vernichtungskampf gegen die europäische Industrie und die dritte nach 1900, die den europäischen Export unterbinden sollte. Für Glier, einem weiteren Ökonomen der Kaiserzeit, bestand unter dieser Praxis und der amerikanischen Auslegung der Klausel gar kein Meistbegünstigungsverhältnis zu Amerika, daher hätte sich Deutschland auch an nichts halten sollen, was nicht existierte und mit Repressalien antworten müssen. Vgl. Glier, Ludwig, Die Meistbegünstigungsklausel. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Verträge mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin, 1905, S.287 und S.344. Bosc, Louis, Zollalliancen und Zollunionen in ihrer Bedeutung für die Handelspolitik der Vergangenheit und der Zukunft, Berlin, 1907, S. 84 und Lötz, Walter, Der Schutz der deutschen Landwirtschaft und die Aufgaben der künftigen deutschen Handelspolitik, Berlin, 1900, S.57. 16 Nach dem Inkrafttreten des McKinley-Tarifs wurden die ersten Stimmen in den Reihen der Konservativen nach einem gesamteuropäischen Vorgehen gegen Amerika hörbar, sie waren zwar noch vereinzelt, bildeten aber bereits den Ausgangspunkt für eine mögliche Abwehrmaßnahme gegen Amerika in den folgenden Jahren. So z. B. Mirbach, der im Dezember 1891 bedauerte, dass zur Zeit eine zollpolitische Union mit Frankreich aus politischen Gründen leider noch nicht möglich sei. Verhandlungen des Reichstags, 8. Leg. 1. Sess. 15.12.1891, Bd. 5 S.3433.
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„..., wenn wir sehen, das rücksichtsloseste Großkapital sich längst die größten und die besten Länderstrecken ausgesucht hat, wenn wir sehen, wie die kleinen amerikanischen Landwirte, die Farmer rettungslos an dieser Konkurrenz zu Grunde gehen, so fragen wir: wo ist die Grenze? Bei den heutigen Transportverhältnissen kann ich nicht glauben, dass die deutschen Bauern nicht demselben Schicksal verfallen." 17
Nach dem Verständnis der Konservativen ergänzte der McKinley-Tarif nur das innenpolitische Wirtschaftsleben in Amerika um eine außenwirtschaftliche Komponente. Die wirtschaftliche Stärke Amerikas wurde auf einen ungezügelten „Raubbau" der natürlichen Ressourcen und die „Herrschaft des Kapitals" zurückgeführt. Die daraus entstehende Bedrohung für Deutschland erschien umso unmittelbarer, da dank des verbesserten weltweiten Warenverkehrs Amerika die billigen Produkte weltweit exportieren und die Konkurrenz unterbieten konnte. Graf Helldorff von der Deutschkonservativen Fraktion beschrieb somit auch den Schutzzoll als einen Akt der Notwehr gegen die Konsequenz des Weltverkehrs, denn so lange Amerika mit seinem Raubbau, mit der unerschöpflichen Naturkraft des Bodens und billigsten Arbeitsbedingen weltweit seine Erzeugnisse transportieren könne, seien Zollschranken notwendig.18 Die Forderungen der Deutschkonservativen Partei wurden partiell durch den agrarischen Flügel der Freikonservativen Partei unterstützt, allerdings ohne den rhetorischen Angriff auf Amerika als eine „kapitalistische Macht". Die Freikonservative Partei hatte durchaus einen agrarischen Unterbau, aber ebenso einen bürgerlichen, kapitalistischen, besaß keine Massenorganisation und folgte immer noch ihrem alten Motto vom „das Vaterland über die Partei". 19 Maßgeblich beteiligt an der Diskussion um die amerikanische Politik und prägend für die Wahrnehmung Amerikas war Wilhelm von Kardorff. Von anderen Vertretern der Partei sind kaum Stimmen zu diesem Thema zu vernehmen, so avancierte Kardorff zum alleinigen Interpreten der amerikanischen Politik. Kardorff stammt aus einer alten mecklenburgischen Adelsfamilie, nach dem Studium der Rechtswissenschaften wurde er 1850 Staatsprofessor in Berlin, 1866 schloss er sich nach einer 17
Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 13.1.1891, Bd.2 S.930. Lutz ließ es sich nicht nehmen, der sozialdemokratischen Fraktion die politische Absicht vorzuwerfen, den Bauerstand in den Ruin zu treiben, ebd. 18 Ebd., 8.Leg. l.Sess. 14.1.1891, Bd.2 S.948. Auch der Ökonom Helfferich beklagte, dass Deutschland aufgrund des Vertrages von 1828 den Vereinigten Staaten ohne weiteres 1891 Zugeständnisse gemacht habe. Helfferich, Karl, Handelspolitik, Vorträge gehalten in Hamburg im Winter 1900-1901 im Auftrag der hamburgischen Oberschulbehörde, Leipzig, 1901, S. 152. 19 Die Freikonservativen begnügten sich mit Wahlaufrufen und öffentlichen Aussagen zu Sachthemen, aber auch eine prinzipielle Abneigung gegen ein Programm spielte eine Rolle. Freikonservative verstanden sich als Gegner jedes theoretischen Weltzugangs, eine Pflicht zur Programmatik widerstrebte dem. Der Prozentanteil der Stimmen sank von 9,8 im Jahr 1887 auf 6,7 in 1890 und kontinuierlich weiter auf 3,5 im Jahre 1903. Carl Ferdinand von Stumm-Hallberg fungierte als Parteiführer. Vgl. Alexander, Die Freikonservative Partei, S. 32 und S. 216. Fr icke, Dieter, Reichs- und Freikonservative Partei (RFKP) 1867-1918, in: Fricke, Dieter (Hrsg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, S. 562-568.
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kurzen Phase der Zurückgezogenheit den Freikonservativen an. Seine politische Laufbahn war durch wechselnde Einstellung zum Freihandel und Schutzzoll gekennzeichnet.20 Kardorffs argumentierte, dass Deutschland sich in einer sicheren Verhandlungsposition befinde, denn Amerika habe, laut Kardorff, ein ebenso großes Interesse am Handel mit Deutschland wie umgekehrt, Deutschland könne daher seine Interessen forscher vertreten. 21 Dabei galt die französische Handelspolitik gegenüber den USA als Vorbild. Frankreich, so Kardorff, erkenne die Suprematie der amerikanischen Handelspolitik nicht an, dementsprechend genössen nur gewisse amerikanische Produkte den Minimaltarif. 22 In der Folgezeit ragte Kardorff immer wieder als Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik aus der Freikonservativen Partei heraus. Er nahm jedoch nie eine dogmatische Haltung ein, und wie seine Kompromissfähigkeit beim Erlass der neuen Zollvorlage von 1902/03 bewies, hielt er sich an das Machbare. Abgerundet wurde der Angriff der Deutschkonservativen Partei auf Amerika durch eine Kampagne der Kreuzzeitung. Die Kreuzzeitungsgruppe um Hammerstein setzte sich in den innerparteilichen Querelen durch und bestimmte immer mehr die Richtung der Partei. Der starke Einfluss von Hammerstein, eines Anhängers des radikalen Flügels, kam in diesem Blatt immer mehr zum Vorschein. Die Kreuzzeitung sprach von der Bedrohung der agrarischen Interessen in Deutschland durch den neuen amerikanischen Tarif und rückte die amerikanische Politik in Zusammenhang mit dem ihrer Ansicht nach „kapitalistischen Wesen des Amerikaners", das von Gier 20 Im Januar 1876 gründete Kardorff den Centraiverband Deutscher Industrieller zur Förderung und Wahrung nationaler Arbeit, in seinen Augen gab es keinen Widerspruch zwischen Landwirtschaft und Industrie. Der Bund war unter allen Wirtschaftsverbänden auch derjenige, der sich am entschiedensten den Ausgleich zwischen der Industrie und der Landwirtschaft auf die Fahnen geschrieben hatte. Im Verhältnis zur Freikonservativen Partei nahm er jedoch nie die Stellung einer Vorfeldorganisation ein, wie der Bund der Landwirte zur Deutschkonservativen Partei. Kardorff als Mitbegründer des Verbands und Mitglied des Bundes der Landwirte verkörperte die personelle und inhaltliche Schnittstelle beider Organisationen, stand aber auch für das Konfliktpotenzial zwischen ihnen. Der verbandsinteme Gegensatz zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Interessen nahm nach der Jahrhundertwende erheblich zu, als die Industrie über die Landwirtschaft hinausgewachsen war. Bueck, der Geschäftsführer des Verbandes lehnte eine Zusammenarbeit mit dem Bund der Landwirte stets ab. Vgl. Kaelble, Hartmut, Industrielle Interessenpolitik der Wilhelminischen Gesellschaft, Centraiverband Deutscher Industrieller 1895-1914, Berlin, 1967, S.62. S. 123 und S. 132. Alexander, Die Freikonservative Partei, S. 94. Keller, Karl, Wilhelm von Kardorff, in: Armin, Hans/Below, Georg (Hrsg.), Deutscher Aufstieg. Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der rechtsstehenden Parteien, Berlin, 1925, S. 261-266. Kardorffs Sohn Siegfried würdigt die Leistung seines Vaters, „das deutsche Volk zum Schutzzoll" zu bekehren als seine höchst Leistung. Vgl. Kardorff\ Siegfried, Wilhelm von Kardorff. Ein nationaler Parlamentarier im Zeitalter Bismarcks und Wilhelms II. 1828-1907, Berlin, 1936, S.285. 21 So Kardorff im Reichstag, 8.Leg. l.Sess. 28.3.1892, Bd.7 S.5048. 22 Ebd., S.5042. Frankreich schloss zwar erst 1898 ein Reziprozitätsabkommen mit Amerika ab und schien damit Zugeständnisse erlangt zu haben, garantierte aber bereits seit 1892 keine Meistbegünstigung. Vgl. Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S. 148 ff.
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und Raubsucht beherrscht sei und fremde Märkte erobern wolle. Allerdings erreichte ihre Berichterstattung noch nicht die polemische Schärfe der folgenden Jahre, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass die Agrarier, welche später in der Deutschkonservativen Partei tonangebend waren, die Partei noch nicht völlig beherrschten. In ihrer Grundtendenz aber bediente sie sich altbewährter Klischees vom „kapitalistischen Amerikaner" und vermied keine Erklärung, um den aggressiven handelspolitischen Charakter der Vereinigten Staaten bloßzustellen.23 Noch vor dem In-Kraft-Treten des McKinley-Tarifs war für die Kreuzzeitung die Stoßrichtung des neuen amerikanischen Tarifs klar erkennbar, demnach beabsichtige McKinley die amerikanische Wirtschaft so stark zu machen, dass die europäische Zufuhr überflüssig werde. 24 Nach dem In-Kraft-Treten der neuen Bill verschärfte die Kreuzzeitung ihre Sprache. Von nun an forderte sie ein entschiedeneres deutsches Vorgehen gegen die Amerikaner. Laut der Kreuzzeitung sei es reine Zeitverschwendung, Protestnoten zu schreiben, wie die Reichsregierung dies tue, um in diese „chinesische Mauer Breschen zu schlagen", Protestnoten zu schreiben, so der Kommentar, offenbare nichts Anderes, als eine große Unkenntnis amerikanischer Zustände, denn der Yankee werde bei seiner „Selbstüberschätzung" durch nichts mehr in Harnisch gebracht, als durch fremde Einmischung in seine Angelegenheiten. Die Kreuzzeitung glaubte den Amerikaner in seinem Wesen anzugreifen und ihn bei seiner „Achillesferse", dem Geldbeutel, zu packen und empfahl Produkte wie Petroleum von woanders her zu beziehen.25 Als erschwerend für die deutsche Landwirtschaft wurden in den Reihen der Konservativen die günstigen Voraussetzungen Amerikas für eine erfolgreiche Landwirtschaft betrachtet. Besonderen Eindruck machten dabei die „unendlichen Gebiete", welche mit hervorragenden Transportwegen miteinander verbunden seien, und die 23
Hammerstein war ein Freund Stöckers, allerdings beruhte die Freundschaft nicht auf derselben politischen Überzeugung. Das sozialpolitische Moment, das er nach dem ersten Blick mit Stöcker teilte, war für ihn nur Mittel zum Zweck, zur Gewinnung von Einfluss auf die Massen und als Trumpf gegen die Klassen des großbürgerlichen Erwerbs. Vgl. Leuss, Hans, Wilhelm Freiherr von Hammerstein. 1881-1895 Chefredakteur der Kreuzzeitung. Aufgrund hinterlassener Briefe und Aufzeichnungen, Berlin, 1905, S.35. Alexander, Die Freikonservative Partei, S. 193. Retallack, Notables of the Right, S. 38 und Eley, Antisemitismus, agrarische Mobilisierung, S.193. 24 Kreuzzeitung, Nr. 275, 17.6.1890. Die Kreuzzeitung war die führende Zeitung der deutsch-konservativen Partei, sie vertrat weitgehend die Interessen der Agrarier und propagierte eine „antikapitalistisch-kooperative Sozialpolitik". Vgl. Rohleder, Meinolf¡Freude, Burkhard, Neue Preußische Zeitung (Kreuz-)Zeitung, in: Fischer, Hans-Dieter (Hrsg.), Deutsche Zeitungen, S.210. White charakterisierte die Kreuzzeitung als den „ärgsten Sünder" gegen die deutsch-amerikanischen Beziehungen: „Its intense hatred of everything in the United States has long been one of its most marked and, indeeed, one of its most amusing characteristics." White an Hay 10.12.1901 zit. nach Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S.2011. 25 Kreuzzeitung, Nr. 382,18.8.1890. Das französische Vorbild wurde schon damals erwähnt. Frankreich verabschiedete 1890 einen neuen Zolltarif mit Maximal- und Minimalzöllen. Vgl. Steinkühler, Martin, Agrar- oder Industriestaat? Die Auseinandersetzungen um die GetreideHandels und Zollpolitik des Deutschen Reiches 1879-1914, München, 1991, S.202.
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als besonders effektiv empfundenen amerikanischen Arbeitsweisen. Unter diesen Umständen kam die Kreuzzeitung zu einem pessimistischen Urteil über die Marktaussichten der deutschen Landwirtschaft gegenüber der amerikanischen Konkurrenz; sie sei nicht überlebensfähig, wenn sie nicht durch Zölle geschützt werde. 26 Der McKinley-Tarif traf die Konservativen Parteien am härtesten, zielte er doch direkt auf die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Landwirtschaft. Die Sorge um den Fortbestand der Landwirtschaft kann aber nur teilweise als Erklärung für die besonders harten Reaktionen der Agrarier der Konservativen Parteien in Betracht gezogen werden. In der Sichtweise der Agrarier stellte Amerika eine eindeutige Bedrohung ihrer Interessen und ihrer Stellung im Reich dar. Würde die deutsche Landwirtschaft erlahmen und ihre Bedeutung als nationaler Wirtschaftsfaktor einbüßen, würden auch ihre Repräsentanten an Einfluss und Macht verlieren. Da diese Gefährdung ausgerechnet von Amerika kam, einem republikanischen und demokratischen Staat, dessen politische und gesellschaftliche Ideale dem konservativen Staatsverständnis diametral gegenüberstanden, glich doch einer Provokation und Herausforderung. Zwar wurden die landwirtschaftliche Potenz und die natürlichen Voraussetzungen Amerikas zur Kenntnis genommen, diese aber nur als gefährlich angesehen, weil sie mit „Unfairness", „Gier" und „Rücksichtslosigkeit" als Waffe eingesetzt würden. Für Konservative war dies nur möglich, weil Amerika ein politisches System hatte, das dem „Spekulantentum" und „rücksichtslosen Kapitalisten" eine Plattform bot, sich zu betätigen. Die Ableitung der Art und Weise der amerikanischen Außenhandelspolitik aus dem „Wesen des Amerikaners" aber war keine ausschließliche Domäne der Konservativen Parteien. Noch bevor das Thema „McKinley-Tarif" die politische Diskussion der Parteien erreichte, rissen die Organe des Zentrums die Diskussion an sich und starteten einen publizistischen Angriff gegen die Vereinigten Staaten. Aber auch seitens der Sozialdemokraten wurden Stimmen laut, die im McKinley-Tarif das Werk von Spekulanten, Kartellen und Republikanern erkannten.27 26
Kreuzzeitung, Nr. 257,4.6.1892. Neben Hammerstein als Herausgeber der Kreuzzeitung zählte Oertel, der Chef der Deutschen Tageszeitung, zu den eifrigsten Befürwortern einer klaren agrarischen Politik ohne Kompromisse und zu den schärfsten Gegnern Amerikas. Vgl. Retallack, Notables of the Right, S. 77-99 und Eley, Antisemitismus, agrarische Mobilisierung, S. 191 ff. 27 Wie z. B. Kautsky vgl. Kautsky, Karl, Deutschland und die amerikanische Zollpolitik, in: Neue Zeit, 9 (1890/91) I, S. 320. Der Schutzzoll sei, wie Kautsky an anderer Stelle formulierte, das „Mistbeet", in dem die großen Ausbeuter und Monopolisten auf Kosten der Volksmasse aufs Üppigste gedeihen würden. Kautsky, Mißgünstiges über die Meistbegünstigung, in: ebd., S.53. Die Überzeugung, die amerikanische Schutzzollpolitik sei in erster Linie auf die Interessenlage der Republikanischen Partei zurückzuführen und ein Produkt des amerikanischen Parteiensystems, welches es erlaube Sonderinteressen über das Staatswohl zu stellen fand im Kaiserreich auch außerhalb der Parteien Anhänger. Der Ökonom Emst Francke attestierte 1891, dass in den Vereinigten Staaten die Gesetzgebung ausgiebigst zu Parteizwecken herangezogen werde. Sobald die Republikanische Partei bei den Wahlen 1889 die Herrschaft erlangte, schickte sie sich an, ihre Versprechen gegenüber den Großindustriellen und Silberminenbe-
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Die Berichterstattung und die Kommentare der Zentrumspresse spiegelten nicht immer deckungsgleich die tatsächliche politische Haltung der Partei wider, sie gaben aber das empfundene Stimmungsbild über die amerikanische Politik viel pointierter und polemischer wieder. Auch wenn die Zuspitzung der Berichterstattung zu Beginn des Jahrzehnts bei weitem nicht die polarisierende Grundtendenz der Jahrhundertwende aufwies, so lassen sich doch gewisse Denkmuster erkennen, die die amerikanische Wirtschaftspolitik begleiteten. Diese Tendenz beschränkte sich nicht auf das Zentrumsmilieu, sondern war ein Charakteristikum der allgemeinen Berichterstattung. Zu einem Grundklischee gehörte die Vorstellung, die amerikanische Wirtschaft und die amerikanische Außenwirtschaftspolitik insbesondere seien mit dem „Wesen des Amerikaners" zu erklären. Dem Gedanken folgend seien die Amerikaner deshalb so erfolgreich, weil ihr unbegrenztes Unternehmertum sie zu immer höheren Leistungen antreibe, und weil ihre „rücksichtslose Gier" sie zu Entscheidungen bewege, die die Konkurrenten vernichten sollen.28 Die größten Kritiker des McKinleyTarifs in der Presselandschaft der Parteien bedienten sich dieses Denkschemas, um auf die Gefährlichkeit der amerikanischen Außenhandelspolitik hinzuweisen, welche darauf abziele, die deutsche Volkswirtschaft zu schädigen und ein Instrument zur Schaffung eines Panamerika zu gewinnen beabsichtige. Erstaunlicherweise griff die Zentrumspresse, namentlich die Kölnische Volkszeitung, an vorderster Front den neuen amerikanischen Tarif scharf an. 29 Eine derartige Bewertung entsprach nicht der Haltung der gesamten Zentrumspartei zu Zollfragen. Die Zentrumsfraktion unterstützte zwar die protektionistische Wende von 1879 und den neuen Tarif von 1902/1903, sie trug aber auch die Handelspolitik Caprivis mit. Sie war trotz ei-
sitzern einzuhalten und den Schutzzoll zu erhöhen. Francke, Ernst, Die wirtschaftliche Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten im Jahre 1890, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 15 (1891), S.241. 28 Der wirtschaftliche Aufstieg in den Vereinigten Staaten wurde bereits vor den 90er Jahren in der deutschen Presse oft mit dem „Wesen des Amerikaners" in Verbindung gesetzt. Eine Auswertung einiger Blätter für die Zeit vor 1890 bietet Thaller. Vgl. Thaller, Manfred, Studien zum europäischen Amerikabild. Darstellung und Beurteilung der Politik und inneren Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika in Großbritannien, Deutschland und Österreich im Vergleich zwischen 1840 und 1942, Graz, 1975, S. 161-170. 29 Die Kölnische Volkszeitung befand sich seit 1860 in den Händen der Familie Bachen, in dem agrarisch geprägten politischen Katholizismus des Rheinlandes spielte sie eine dominierte Rolle als Presseorgan. Vgl. Kramer, Rolf, Kölnische Volkszeitung 1860-1941 in: Fischer, Heinz-Dietrich (Hrsg.), Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhundert, Pullach bei München, 1972, S. 257-267. Zur Bedeutung der „Kölnischen Volkszeitung" für das Zentrum im Rheinland vgl. auch Rieger, Isolde, Die wilhelminische Presse im Überblick 1888-1918, München, 1957, S. 115. Der Einfluss der Zentrumspresse ist trotz der vielfältigen Überschneidungen der redaktionellen und politischen Arbeit umstritten. Die meisten Organe, bis auf die Germania, waren älter als die Fraktion, eine Korrektorfunktion der Fraktion gegenüber der Presse und ungekehrt konnte laut Mittmann nicht in Anspruch genommen werden. Henden sprich dagegen von großem Einfluss der Zentrumspresse auf die Fraktion. Vgl. Mittmann, Fraktion und Partei, S. 211 und Henden, The Center Party, S. 23.
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ner starken agrarischen Basis keine rein agrarische Partei und hatte bedeutende industrielle, gar freihändlerische Elemente. Diese Heterogenität in Wirtschaftsfragen und die heterogene Zusammensetzung der Partei lässt ihre Wahrnehmung der amerikanischen Außenhandelspolitik oft als unschlüssig und widersprüchlich erscheinen.30 Im Falle des McKinley-Tarifs aber dominierte die öffentliche Darstellung der Kölnischen Volkszeitung und zum Teil der Germania, die sich aus zwei Kernpunkten zusammensetzte; der agrarischen Kritik an höheren amerikanischen Zöllen und einer dem übergeordneten Kapitalismuskritik. Die Agrarier der Partei hatten ihre Hochburgen im Rheinland und vereinzelt in Bayern und Schlesien. Zentrumspolitiker wie Freiherr von Loe Terporten und Graf Hoensbroech waren bei der Gründung des Westfälischen Bauernvereins dabei, wurden zu seinen führenden Vertretern und bemühten sich, den Einfluss der Agrarier in der Partei zu stärken. Sie unterstützten den Antrag Kanitz' und wehrten sich gegen den Kapitalismus und „moderne" Wirtschaftsformen. 31 Über die rein agrarisch bedingte Interessenlage lässt sich aus den Kommentaren ein ideologisches Moment feststellen, die prinzipielle Kritik der Zentrumsblätter am Kapitalismus und Liberalismus setzte die Eckpunkte der Bewertung des McKinley-Tarifs und lässt die weltanschaulichen Prämissen der Zentrumspresse erkennen, die „Internationalität des Kapitals" und seine Träger gerieten in den Mittelpunkt der Kritik. 32 Als Eintreiber der „Kampfzollpolitik" sah die Germania die Republikanische Partei, die Großkapitalisten und den Präsidenten, die alle gemeinsam im Sog der Korruption Politik wie ein Geschäft betreiben würden. So wurde auch der Sieg Clevelands über Harrison 1893 als ein Systemwechsel gefeiert, der das Ende der hochschutzzöllnerischen Politik bedeuten würde: „Es war, wie ein amerikanischer Politiker treffend bemerkte, ein Sieg der kleinen Leute über das mit der Korruption verbündete Großkapital. Die Kampfzollpolitik - darüber darf man 30 Mittman sprich vom „Für-jeden-etwas-Programm" des Zentrums in Wirtschaftsfragen, das klassische agrarische und schwerindustrielle Forderungen enthielt, aber auch soziale Elemente für katholische Arbeiter. Vgl. Mittmann, Fraktion und Partei, S. 16 und S. 95. Loth, Katholiken im Kaiserreich, S.46 und S.72. Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat, S. 34 und S. 45. Stegmann, Die Erben Bismarcks, S. 29 und Blackbourn, The Problem of Démocratisation, S. 161 ff. 31 Auch andere Parteigrößen des Zentrums spielten eine wichtige Rolle in der agrarischen Bewegung. Freiherr von Hühne war Vorsitzender des Schlesischen Bauemvereins, Freiherr von Schorlemer-Alst war einer der Initiatoren des ersten katholischen Bauemvereins in Westfalen. Dr. Heim stand an der Spitze des Bayerischen Bauernbundes. Vgl. Müller, Zentrumspartei und agrarische Bewegung, S. 834 und S. 841 und Henden, The Center Party, S. 37 und S. 102. Zur Selbstdefinition des Zentrums in seinem Bemühen um den „deutschen Bauernstand". Vgl. Politisch-soziales ABC-Buch, Ein Handbuch für die Mitglieder und Freunde der Zentrumspartei auf Grund authentischen Quellenmaterials. Bearbeitet von Sieberts, Paul, Stuttgart, 1900, S. 197-204. 32 Zur grundsätzlichen „Kapitalismuskritik" der Zentrumspresse vgl. Mittman, Fraktion und Partei. S. 240ff. und S. 163 ff.
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nicht im Zweifel sein - stand im ursächlichen Zusammenhang mit der Korruption, dem ,Paternalismus', der auf Kosten der Gesamtheit das Interesse Einzelner wahrnahm durch eine maßlose Begünstigung der Großindustrie und die Schaffung einer unglaublichen Zahl von Staatspensionären."33
Die Kapitalismuskritik der Zentrumsblätter gehörte zum festen Topos der Berichterstattung zu Amerika, wobei im Besonderen die Internationalität, die Rücksichtslosigkeit und die antisoziale Komponente des Kapitalismus angeprangert wurden. Vor allem der im neuen Tarif enthaltene Reziprozitätsgrundsatz stellte in den Berichten der Germania ein Instrument der Kriegsführung in einem „Weltzollkrieg" der amerikanischen Kapitalisten dar. Der amerikanische Präsident Harrison wurde mit einem römischen Diktator verglichen, der in Zeiten des Krieges mit besonderen Vollmachten und Instrumentarien ausgestattet in den Krieg ziehen könne.34 Die scharfen Attacken der Zentrumspresse entsprachen nicht der Haltung der Partei im Reichstag. Die Heterogenität erlaubte der Partei keine geschlossene Strategie in Wirtschaftsfragen. Die alleine durch die Klammer des Katholizismus gehaltene Einheit der Partei ermöglichte eine beachtliche Vielfalt von Interessenlagen und Milieus. Es ist jedoch auffallend, dass die Presse des Zentrums in noch viel stärkerem Maße als die der konservativen Parteien den amerikanischen Kapitalismus angriff. Kapitalismuskritik und der damit zusammenhängende Vorwurf an Amerika, „korrupt" auf allen politischen Ebenen zu sein, bildeten den eigentlichen Kern der Bewertung des McKinley-Tarifs. Unmissverständlicherweise ordnete sie diese Eigenschaften den republikanischen Politikern der Vereinigten Staaten zu, eine Denkfigur, die die gesamte Kaiserzeit über das Amerikabild prägte. Nach dieser Lesart war die Verabschiedung eines Tarifs wie die des McKinley eben nur möglich, weil republikanische Politiker in Amerika die Regierungsgeschäfte übernommen hatten.
b) Die „panamerikanischen Bestrebungen" Viele Ökonomen in Deutschland setzten bei der Bewertung des McKinley-Tarifs einen anderen Schwerpunkt, für sie war es nicht so sehr das amerikanische Kapital und die amerikanischen Kapitalisten, welche Anlass zur Sorge geben würden, sondern die panamerikanische Stoßrichtung des McKinley-Tarifs. So kritisierte Rathgen seinen Kollegen Sombart für die, seiner Ansicht nach, zu milde Darstellung der panamerikanischen Bestrebungen der Vereinigten Staaten, diese hätten schon konkrete Formen angenommen, wie die Versuche zeigten, Handelsverträge mit Brasilien und Westindien abzuschließen.35 Der Eindruck in Deutschland, Amerika versuche mit Hilfe der Reziprozitätspolitik seine panamerikanischen Bestrebungen auf eine feste Grundlage zu stellen, wurde umso stärker, da Amerika konkrete politische 33
Germania, Nr. 56, 9.3.1893. Germania, Nr. 229, 4.10.1890 und Nr. 168, 25.7.1890. 35 Rathgen, Karl, Moderne Zollpolitik, in: Preußische Jahrbücher, Hrsg. von Hans Delbrück, 69 (1892), S. 88. 34
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Schritte zur Schaffung einer panamerikanischen Union unternahm. Den Anhaltspunkt dafür lieferte die erste panamerikanische Konferenz in Washington D. C. im Jahre 1889, auch wenn diese Initiative im Sande verlief, entstand doch der Eindruck in Deutschland, Amerika expandiere nach Lateinamerika und versuche durch eine gezielte Außenhandelspolitik eine breitere Basis für weitere wirtschaftliche Expansion zu schaffen. 36 In den Reihen der Parteien rief dieser Umstand zu diesem Zeitpunkt nur ein relativ geringes Echo hervor. Kautsky beklagte zwar die „panamerikanische Idee" der Republikaner, und auch der nationalliberale Abgeordnete Oechelhäuer sprach nach dem Abschluss des amerikanischen Handelsvertrages mit Kolumbien von der Notwendigkeit den „panamerikanischen Gelüsten" der Vereinigten Staaten entgegenzuwirken. Eine breite panamerikanische Diskussion innerhalb der Partein war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht zu vernehmen.37 Eine Ausnahme bildete die Zentrumspresse. Sie war es, die das Thema „Panamerika" mit besonderem Eifer aufgriff und vor den Folgen für Europa warnte. Die Kölnische Volkszeitung sah im McKinley-Tarif den Ausdruck einer panamerikanischen Bewegung und ein amerikanisches Instrument, Europa wirtschaftlich von Amerika abhängig zu machen. In Anerkennung der wirtschaftlichen Überlegenheit Amerikas, eine sehr frühe Diagnose, die in der deutschen Öffentlichkeit erst gegen die Jahrhundertwende Verbreitung fand, empfahl sie zum Schutze der eigenen Märkte am deutschen Schutzzoll festzuhalten. In den Fokus der Kritik des Zentrumsorgans der Familie Bachem geriet die im McKinley-Tarif festgeschriebene Praxis der Reziprozität und die darin erblickte Stoßrichtung gegen Europa. Der Tarif werde in einen „amerikanischen Plan" eingebettet, mit dem Ziel, den „panamerikanischen Bestrebungen" eine rechtliche und zollpolitische Grundlage zu verschaffen und durch Bündnisse mit lateinamerikanischen Ländern der Verwirklichung der „panamerikanischen Idee" näher zu kommen. Anlässlich des Besuches des mexikanischen Präsidenten Diaz in Washington 36
Bereits 1875 führten die Vereinigten Staaten einen Zuckerzoll mit Reziprozitätsverträgen mit den lateinamerikanischen Ländern ein und erschwerten damit den europäischen Export. Nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in anderen europäischen Ländern wurde durch die Reziprozitätsbestimmungen des neuen amerikanischen Tarifs eine panamerikanische Stoßrichtung wahrnehmbar. Auch Italien, Portugal, Griechenland und die Türkei verboten die Einfuhr von amerikanischem Schweinefleisch. In der Türkei wurde das Verbot mit dem gesundheitlichen Schutz der christlichen Minderheit begründet. Vgl. Snyder, Louis, The American Pork Dispute, 1897-1891, in: Journal of Modern History, 17 (1945), S. 16-28. Gignilliant, John L., Pigs, Politics, and Protection. The European Boycott of American Pork, 1871-91, in: Agricultural History, 35 (1961), S. 3-12. Jonas, The United States and Germany, S. 37 und Crouse, The Decline of German-American Friendship, S. 526 ff. 37 Kautsky, Karl, Deutschland und die amerikanische Zollpolitik, in: Neue Zeit, 9 (1890/91) I, S. 320 und Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. 2. Sess. 16.3.1893, Bd.2 S. 1671. Aus der Rückschau wurde das Programm McKinleys „Amerika den Amerikanern" bei den Nationalliberalen zum Allgemeingut. Vgl. Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, Hrsg. von Mitgliedern der Nationalliberalen Partei, Berlin, 1897, S.361.
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sprach die Kölnische Volkszeitung von einer „wirtschaftlichen Kriegserklärung an Europa". 38 Wüste Beschimpfungen der amerikanischen Wirtschaftspolitik folgten. Die Kölnische Völkszeitung sprach von „Boykott" und „Rücksichtslosigkeit" der „Yankees" gegenüber der europäischen Wareneinfuhr und richtete ihre Angriffe gegen die geplante Absicht der „Yankees", durch den McKinley-Tarif nicht nur eine Absperrungspolitik gegenüber Europa, Latein- und Südamerika zu betreiben, sondern ebenfalls die Schaffung einer panamerikanischen Union zu forcieren. Auch die Germania erkannte im neuen amerikanischen Zolltarif den Willen zu einer Amerikanisierung der amerikanischen Kontinente und einen Aufruf zum Kampf gegen Europa. Unter dem Stichwort „Amerika den Amerikanern", so die Germania, finde der neue Kampftarif den eindeutigsten Ausdruck der Monroe-Doktrin, die bald in wirtschaftlicher Hinsicht zur Wirklichkeit geworden sein werde. 39 Als Antwort auf diese „moderne Krönung der Monroe-Doktrin" schlug der Verfasser dieses Artikels die Schaffung einer „mitteleuropäischen Union" vor, um der Verwandlung der „Neuen Welt" in ein geschlossenes Gebiet entgegenzuwirken. Was der Verfasser jedoch als weitaus gefährlicher ansah, waren die Folgen der „panamerikanischen Bestrebungen", denn der bereits erlangten wirtschaftlichen Überlegenheit Amerikas könne auch eine politische folgen, sodass auf lange Sicht der Schwerpunkt der Kultur und der politischen Macht sich von Europa nach Amerika verschieben würde. Zur gemeinsamen Verteidigug gab der Verfasser den Europäern den Rat, ihre „Indianerstreitigkeiten fallenzulassen" und sich auf wirtschaftlichem Gebiet eng zusammenzuschließen. Neben der Überlegung einer europäischen Zusammenarbeit auf zollpolitischem Gebiet begründete die Kölnische Volkszeitung die Annahme der Caprivischen Handelsverträge durch die Zentrumspartei mit der Absperrungspolitik Amerikas, um auf diese Wiese das politische Bündnis zwischen Österreich, Italien und Deutschland gegen Amerika zu festigen. 40 Die Idee einer europäischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet dominierte jedoch nicht die von der Zentrumspresse propagierte Abwehrstrategie gegen die McKinley-Bill, auch die Nennung der Monroe-Doktrin als ein gegen deutsche Interessen gerichtetes Instrument der amerikanischen Außen- bzw. Außenhandelspolitik stellte, im Gegensatz zur Jahrhundertwende, in der Zentrums- als auch in der gesamten deutschen Öffentlichkeit eher eine Ausnahme dar. Nach den Vorstellungen der Zentrumspresse sollte Deutschland weiterhin am Schutzzoll festhalten, denn nur dieser garantiere, dass sich kein übermäßiger Wettbewerb auf den heimischen Märkten ausbreite und der McKinley-Tarif seine volle Wirkung, auch die panamerikanische nicht entfalte. 41 38
Kölnische Volkszeitung, Nr. 122, 25.4.1891. Germania, Nr. 217, 20.9.1890 und Nr. 279, 3.12.1890. 40 Kölnische Volkszeitung, „Amerika den Amerikanern." Nr. 226, 19.8.1891 und Nr. 348, 19.12.1891. 41 Kölnische Volkszeitung, Nr. 282, 12.10.1890. Die Kölnische Volkszeitung unterließ es aber nicht, die Gelegenheit zu nutzen, bei der Beurteilung der amerikanischen Außenwirt39
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Interessanterweise führten einige Artikel der Zentrumspresse wie der Germania die wirtschaftliche Stärke Amerikas und die Fähigkeit, sich zukünftig in der Welt zu behaupten, auf den fehlenden Militarismus in Amerika zurück, eine Denkfigur, die in der sozialdemokratischen und zum Teil in der freisinnigen Presse beheimatet war. In diesem Zusammenhang wurde im Erstarken der amerikanischen Wirtschaftskraft ein politischer, vor allem aber ein wirtschaftlicher „Emanzipationsprozess" Amerikas gesehen, in dem sich Amerika von Europa abkoppeln wolle. Konsequenterweise interpretierte die Germania die „zukünftigen Streitigkeiten zwischen den Völkern" nicht als eine Auseinandersetzung, bei der die Zahl und der Drill der Soldaten die entscheidende Rolle spielen würden, sondern die Produktionskraft und der nachhaltige Nationalreichtum der Staaten. In diesem zukünftigen Wettbewerb der Völker würde Amerika als Sieger hervorgehen, weil es, im Gegensatz zu den vom Militarismus allmählich ausgezehrten europäischen Staaten, sich frei von der militaristischen Last enfalten könne.42 Die Kritik am europäischen Militarismus, die Anerkennung der wirtschaftlichen Stärke und der Zukunftsfähigkeit Amerikas war keine Domäne der Zentrumspresse, diese außergewöhliche Interpretion Amerikas und der amerikanischen Wirtschaft stellte eine völlige Ausnahme in der Zentrumsöffentlicheit und in den Reihen der Zentrumspolitiker dar. Es ist anzunehmen, dass die Intention der Beschreibung der „Zukunftsfähigkeit" Amerikas viel mehr in der Warnung vor der europäischen Untätigkeit und den möglichen Folgen eines panamerikanischen Gebildes lag, als in einer aufrichtigen Anerkennung des amerikanischen Potenzials. Die überwältigende Kritik am McKinley-Tarif und an der Reziprozitätspraxis wurde nicht merklich abgemildert.
c) Amerika als Garantie der Lebensverhältnisse in Deutschland Der großen Ablehnungsfront aus konservativen Parteien und dem Zentrum Vertreter der Nationalliberalen Partei hielten sich mit Kritik an Amerika noch sehr zurück - standen die freisinnigen Parteien und die Sozialdemokratie gegenüber. Die Deutschkonservativen und die agrarischen Teile des Zentrums fürchteten amerikanische Konkurrenz und verdammten Amerika als eine Macht des Kapitals, die durch ungeheure Kapitalsreserven und durch ungezügelte Ausbeutung der Natur nun zum Angriff auf das Ausland ansetze. Freisinnige und Sozialdemokraten bezogen den gegenteiligen Standpunkt, sie sahen im freien Handel mit Amerika die Garantie für einen ungehemmten Warenverkehr zwischen beiden Ländern und eine Garantie für die Sicherstellung der Versorgung der deutschen Bevölkerung mit bilschaftspolitik immer wieder Seitenhiebe gegen die Freisinnige Presse in Deutschland auszuteilen. Sie verspottete die „freisinnigen Phrasendrescher" und ihr Urbild eines im großen Stile ausgearbeiteten Freiheitsstaates. Die freisinnigen Organe würden die Tatsachen verdrehen und nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Amerikaner den Schutzzoll inzwischen als Sport betrieben wprden. Kölnische Volkszeitung, Nr. 306, 3.11.1890. 42 Germania, Nr. 145, 28.6.1890.
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ligen Produkten. Zu diesem Zweck sollten die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht durch handelskriegsähnliche Auseinandersetzungen und deutsche Repressalien belastet werden. Bezeichnend für die Haltung der Linksliberalen zum deutsch-amerikanischen Handelsverhältnis war der Antrag im Reichstag von Theodor Barth vom 22. Januar 1891 gegen die Einfuhrverbote von amerikanischem Schweinefleisch und Schweinefleischprodukten von 1883 und 1887. Sein Antrag zielte direkt auf eine freihändlerische Gestaltung der deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen ab. Auch Eugen Richter schlug bereits 1890 im Reichstag vor, die Getreidezölle zu senken, scheiterte aber an den Stimmen der Konservativen. Barth bezweifelte die tatsächliche Gesundheitsgefährdung und die Rechtsbasis der Verordnung von 1883 und verwies auf das kürzlich in Amerika erlassene Meat Inspection Law, das die Käufer in Europa zufrieden stellen müsse. Einen anderen Grund für die Aufhebung des Verbots sah Barth in der Versorgung der ärmeren Reichsbevölkerung mit billigeren Produkten und warnte vor möglichen amerikanischen Repressalien. Barth hoffte, durch eine Verständigung auf wirtschaftlichem Gebiet, die bis dahin mehr oder weniger reibungslosen politischen Beziehungen weiter auszubauen und sie nicht zu gefährden. Er fürchtete eine allgemeine Verstimmung mit den Vereinigten Staaten aufgrund der Differenzen in Wirtschaftsfragen. 43 Theodor Barth prägte besonders stark die Amerikadiskussionen der Linksliberalen. Barth, der prominenteste linksliberale Amerikabeobachter und -kenner, Jurist und Volkswirt, wurde in Hannover als einziger Sohn einer aus dem Rheinland stammenden Familie geboren. Er durchlebte die Abspaltungsgeschichte des parteilich organisierten Linksliberalismus von der Sezession von 1880/1881 bis zur Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei. In Barth fand die Freisinnige Partei, später die Freisinnige Vereinigung, einen der aktivsten und geistig beweglichsten Persönlichkeiten, die dem Anspruch der Vertretung des Bildungsbürgertums durch die linksliberalen Parteien gerecht wurde. 44 Barths amerikabezogene Analysen und Bemer43 Verhandlungendes Reichstags, 8.Leg. 3.Sess. 22.1.1891, Bd.2 S. 1097-99. Am 30.8.1890 schlug Harrison, vor dem Antrag Barths, ein Gesetz zur mikroskopischen Untersuchung des zu exportierenden Schweinefleisches vor, Barth bewerte dies als ausreichend, um der Gefahr einer Einschleppung von Trichinen vorzubeugen. Nach der Abwahl Clevelands sagte er aufgrund des Sieges des Republikaners Harrison eine Verschärfung des amerikanischen Protektionismus voraus. Vgl. Barth, Theodor, Die Präsidentenwahl und die Zollpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika. Vortrag, gehalten in der Berliner Volkswirtschaftlichen Gesellschaft am 24. November 1888, Berlin, 1888, S. 28-29. 44 Kurzbiographie Barth findet sich bei Kohfink vgl. Kohfink, Marc-Wilhelm, Für Freiheit und Vaterland. Eine sozialwissenschaftliche Studie über den liberalen Nationalismus 18901933 in Deutschland, Konstanz, 2002, S.363. Ausführlicher zum Lebenslauf Barths bei Wegner, Konstanze, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung. Studien zur Geschichte des Linksliberalismus im Wilhelminischen Deutschland, Tübingen, 1971, S. 8-12. Thompson beschreibt Barth als einen „highly educated, culturally sophisticated liberal bourgeoisie", der sich in dem wohlhabenden Berliner Tiergartenbezirk am meisten zu Hause fühle. Vgl. Thompson, Left Libérais, S. 2.
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kungen gründeten auf einer intensiven Beschäftigung mit den Vereinigten Staaten. Er bereiste das Land insgesamt viermal, half dem Präsidentschaftskandidaten Bryan in seinen Wahlkämpfen und war mit dem Eisenbahnkönig Henry Villard befreundet. Seine wirtschaftlichen und politischen Kenntnisse Amerikas nutzte er in den Reichstagsdebatten und in seiner publizistischen Tätigkeit als Fundament einer sachlichen, keinesfalls kritikfreien Amerikaanalyse, er nutzte aber auch sein Wissen für Angriffe gegen die von ihm so hart bekämpfte Zollpolitik. Der amerikanische Botschafter Andrew White bezeichnete ihn als einen der wenigen Deutschen, die wirklich die Vereinigten Staaten verstanden hätten.45 Auch Eugen Richter, der prinzipiell nicht außerordentlich stark an außenpolitischen Themen interessiert war, trat mit Vehemenz für den Freihandel mit Amerika ein. Seine Motive lagen vielmehr in grundsätzlichen Überlegungen, die von der Notwendigkeit des Freihandels als Kernbestand eines „liberalen Staates" ausgingen, um die Reichs- und Staatsfinanzen sowie einen liberalen Wirtschaftskreis im Inneren des Reiches zu garantieren. 46 Als Verfechter des Freihandels einte die linksliberalen Parteien in der politischen Zielsetzung die Gegnerschaft zu Bismarck und der Kampf für den Freihandel. Sie definierten sich als Vertreter der Allgemeininteressen und aller Klassen, in den Wirtschaftsfragen verfolgten sie das Ziel der freien Entwicklung des äußeren Handels in Form von Handelsverträgen und Meistbegünstigung. Freihandel sollte die Steuer-, und damit Konsumfreiheit fördern und auf diese Weise allen dienen, nicht wie der Schutzzoll Sonderinteressen einer Klientel unterstützen.47 Von der sozialdemokratischen Seite brachte der Abgeordnete Auer am 13. Januar 1891 einen Antrag zur Abschaffung der deutschen Einfuhrverbote von 1884 und 1887 für amerikanisches Fleisch im Reichstag ein. Auers Antrag zielte darauf, aus45 Vgl. White, Andrew, Autobiography, Vol. 2. New York, 1905, S. 155. Die Eindrücke seiner Reise veröffentlichte Barth 1907. Barth, Theodor, Amerikanische Eindrücke, Berlin, 1907 und ders., Amerikanische Reise. Eine impressionistische Schilderung amerikanischer Zustände in Briefen, Berlin, 1907. Zudem hatte Barth, wie der Ökonom Lujo Brentano, großes Interesse und große Begeisterung an der politischen Praxis in Großbritannien. Vgl. Eley, Geoff, Liberalism, Europe and the Bourgeoisie 1860-1914, in: Blackbourn, David Evans (Ed), The German Bourgeoisie. Essays in the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth Century to the Early Twentieth Century, London, 1991, S. 296-298. 46 Vgl. Thompson, Left Liberais, S. 12. Lorenz, Ina, Eugen Richter. Der entschiedene Liberalismus in wilhelminischer Zeit 1871-1906, Husum, 1981, S. 12 ff. und die zeitgenössische Würdigung Richters von Rachfahl, Felix, Eugen Richter und der Linksliberalismus im neuen Lichte, in: Zeitschrift für Politik, 5 (1912), S.265. 47 Linksliberale Publizistik propagierte stets dieses Ziel, so auch Richters viel gelesenes ABC-Büchlein. Vgl. Richter, Eugen, Politisches ABC-Buch. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen, Berlin, 1898. Zur Zollpolitik und Handelsverträgen ebd., S. 147-158 und S. 396-403. Der Kampf gegen den „Schutzzoll" blieb als Prämisse der linksliberalen Politik bis 1914 erhalten. Vgl. Wegner, Theodor Barth, S. 29-34 und Gräter, Carlheinz, Theodor Barths politische Gedankenwelt. Ein Beitrag zur Geschichte des entschiedenen Liberalismus, Würzburg, 1963, S. 13-45. Müller-Plantenberg, Der Freisinn nach Bismarcks Sturz, S.68. Grundsätzlich zum Liberalismus und Freihandel Langewiesche, Liberalismus, S. 169 ff.
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ländisches, darunter auch amerikanisches Fleisch und Getreide, billiger nach Deutschland einführen zu lassen. Die sozialdemokratischen Abgeordneten wiesen auf die durch die hohen Zölle der Bevölkerung entstandenen Nachteile hin und sprachen sogar vom Freihändlertum. 48 Die im Reichstag an den Tag gelegte Haltung der Sozialdemokraten wurde naturgemäß besonders stark durch die Interessen ihrer Wähler bestimmt. Da der Reichstag Einfluss auf die Außenhandelspolitik des Reiches hatte, versuchten die Sozialdemokraten ihre Vorstellungen von der Zollpolitik und Außenhandel zum Nutzen der Arbeiter und, nach eigenen Angaben, auch größerer Bevölkerungsschichten durchzusetzen. Sie widersetzten sich den Einfuhrverboten von 1883 und 1887 und verwarfen auch später jegliche Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den Vereinigten Staaten.49 Aus dieser antiprotektionistischen Haltung heraus ging auch die Kritik des neuen amerikanischen Tarifs hervor. Der sächsische Abgeordnete Schmidt sprach von der großen Not, die die McKinley-Bill unter den Textilarbeitern in Sachsen verursacht habe.50 Er sah aber im McKinley-Tarif in erster Linie eine amerikanische Reaktion auf die deutschen Einfuhrverbote und den Getreidezoll von 1879, daher verband er mit der Forderung nach einer Senkung des deutschen Zollsatzes die Hoffnung auf einen milderen amerikanischen Zoll. Er betonte, dass Drohgebärden oder gar Repressivmaßnahmen gegen Amerika nur den gegenteiligen Effekt haben würden, einzig Verhandlungen würden aus der „Sackgasse des Schutzzolles" herausführen. 51 Der Abgeordnete Schumacher argumentierte in dieselbe Richtung. Er hob zwar hervor, dass Amerika den Boden des Freihandels durch die McKinley-Bill verlassen habe, dass aber nach wie vor reger Warenverkehr herrsche, und er warnte davor, Amerika mit Repressalien zu provozieren. Schumacher bediente sich eines gängigen Argumentationsmusters der Sozialdemokraten, das den Aufschwung Amerikas auf Rohstoffe, große Bevölkerungszahl und das Fehlen des Militarismus zurückführte. In seiner Anerkennung des wirtschaftlichen Potenzials der Vereinigten Staa48 Beratung zum Antrag Auer und Genossen vom 13.1.1891. Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 13.1.1891, Bd.2 S.921-935. 49 Vgl. auch August Bebels Zusammenfassung der sozialdemokratischen Richtlinien bezüglich der Handelspolitik. Bebel, August, Die Sozialdemokratie im deutschen Reichstag. Tätigkeit und Wahlaufrufe aus den Jahren 1987-1893, Berlin, 1909, S. 557-563. Auch Kautsky äußerte sich im gleichem Sinne über Schutzzoll und den Kampf gegen ihn. Kautsky, Karl, Handelspolitik und Sozialdemokratie. Populäre Darstellung der handelspolitischen Streitfragen, Berlin, 1911, S. 63-83 vgl. auch Hans, Josef, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin/Bonn, 1979, S. 109. Zur Verbrauchelpolitik der Sozialdemokratie. Nonn, Verbraucherprotest und Parteiensystem, S.25. Vagts bietet eine andere Erklärung an: „Es war der dogmatische Internationalismus der deutschen Sozialdemokratie, der die Teilnahme am handelspolitischen Nationalismus ablehnte." Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S.613. 50 Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 22.1.1891, Bd.2 S. 1101. Der Handel der Textilindustrie ging in den Jahren von 1887 bis 1897 um 50% zurück. Vgl. Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S. 163. 51 Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 22.1.1891, Bd.2 S. 1102.
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ten wies er daraufhin, dass Amerika sich „einiges leisten könne", was sich Deutschland nicht erlauben könne, wolle es nicht den regen Warenverkehr stören und könne, wie er es formulierte, ein „namenloses Unglück" heraufbeschwören. 52 Die Sozialdemokraten waren also darauf bedacht, in ihrer Funktion als Vertreter der Arbeiterklasse, trotz des McKinley-Tarifs gute handelspolitische Beziehungen mit den Vereinigten Staaten zu unterhalten, darüber hinaus benutzten sie ihn, um damit gegen die deutschen Zölle anzukämpfen. Schumacher sprach den Sozialdemokraten von der Seele, als er auf den großkapitalistischen Charakter der Schutzzölle hinwies, der es den deutschen Großkapitalisten weiterhin erlaube in Amerika Geld anzulegen, den „kleineren Leuten" aber unmöglich mache, in die Vereinigten Staaten zu exportieren. 53 So groß der Wunsch nach einem handelspolitischen Ausgleich mit Amerika bei Sozialdemokraten und Linksliberalen auch war, konnte der McKinley-Tarif vor allem in den Reihen der Linksliberalen nur schwerlich mit ihrem Verständnis einer funktionierenden Wirtschaftspolitik vereinbart werde. Bei seiner Bewertung jedoch wurde dieser Ausdruck des amerikanischen Protektionismus nicht Amerika zugewiesen, sondern der protektionistischen Partei, den Republikanern und den protektionistischen Kreisen in den Vereinigten Staaten, und sein Ursprung in den deutschen Schutzzöllen gesehen. In einem Kommentar zum McKinley-Tarif berichtete die Wochenzeitschrift Die Nation von einem Aufschwung der Schutzzöllner in Amerika. In allen Parteien wurde der amerikanische Protektionismus zunächst als eine Domäne der Republikaner gesehen, erst mit zunehmender Schärfe der handelspolitischen Auseinandersetzung wurde das Land „Amerika" in den Reihen der Konservativen, des Zentrums und der Nationalliberalen mit Protektionismus gleichgesetzt. Zugleich äußerte Die Nation die Hoffnung auf ein baldiges Ende der extremen amerikanischen Schutzzollpolitik, betonte aber, dass der angebliche Schaden, wie die Konservativen ihn sähen, sich in Grenzen halte, da der Import trotzdem sehr stark geblieben sei.54 Obwohl der McKinley-Tarif auch bei den Linksliberalen nicht begrüßt wurde, bewog er sie jedoch nicht dazu, Vergeltungsmaßnahmen zu fordern, wie es bei den Konservativen der Fall war, vielmehr bemühten sie sich trotzdem um ein gutes Verhältnis zu den USA. Als Kanitz das Meistbegünstigungsverhältnis beenden wollte, warf ihm Barth Unkenntnis Amerikas vor und die Bereitschaft, einen Zollkrieg riskieren zu wollen, 52 Ebd., 8. Leg. l.Sess. 13.1.1891, Bd. 2 S. 924. Beratung des von den Abgeordneten Auer und Genossen vorgelegten Gesetzesentwurfs betreffend die Abänderung des Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 1879 (Nr. 19 der Drucksachen) und Beratung des vom Abgeordneten Richter eingebrachten Antrags betreffend Ermäßigung der Kornzölle resp. Revision des Zolltarifs, Aufhebung der Zuckermaterialsteuer und der Aufhebung der Privilegien der bisherigen Brenner bei der Verbrauchsabgabe für Branntwein. (Nr. 21 der Drucksachen) 53 Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 13.1.1891, Bd.2 S.923. 54 Barth, Theodor, Über die Behandlung von Rebellen in Amerika, in: Die Nation, Nr. 14, 4.1.1890, Bd. 14 S. 204.
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in dem Deutschland den Kürzeren ziehen werde. Der Wunsch, im „handelspolitischen Frieden" mit den Vereinigten Staaten von Amerika leben zu wollen, überwog bei weitem die Kritik am McKinley-Tarif. Gleichzeitig zogen Barth und andere Kommentatoren in der Nation eine scharfe Trennlinie zwischen dem von ihnen gewünschten Amerika, das dem Freihandel nachgehe und dem sich zur Zeit präsentierenden. Die Verantwortung für den amerikanischen Schutzzoll wurde der republikanischen Regierungsmehrheit und der republikanischen Partei als Ganzes zugeordnet. Für Barth war es klar, dass, sobald sich die Mehrheitsverhältnisse im amerikanischen Senat ändern würden, Amerika von der protektionistischen Außenhandelspolitik Abstand nehmen würde. Die Hoffnung, der Freihandel würde sich über kurz oder lang in Amerika durchsetzen, begleitete die amerikabezogenen Artikel der Nation über den gesamten Zeitraum der amerikanischen Schutzzollpolitik.56 Neben Theodor Barth nutzte auch Eugen Richter von der Freisinnigen Vereinigung die von ihm herausgegebene Freisinnige Zeitung als Sprachrohr, um das handelspolitische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf die Grundlage des Freihandels zu stellen und von jeglichem Protektionismus Abstand zu nehmen. Ähnlich dem Verhalten Barths, hatte Richters handelspolitische Streitlust bezüglich Amerika immer auch eine innenpolitische Stoßrichtung. Eine erklärende, sachliche Darstellungsweise der amerikanischen Verhältnisse verknüpfte Richter häufig mit Angriffen auf die deutschen Protektionisten, namentlich die Konservativen, insofern bot die amerikanische Handelspolitik auch genügend Zündstoff für die innenpolitische Auseinandersetzung. Die Forderung, die deutschen Einfuhrverbote gegenüber Amerika aufzuheben, verbunden mit einer allgemeinen Proklamierung des Freihandels und die stets geäußerte Sorge um die Versorgungslage der deutschen Bevölkerung aufgrund der steigenden Preise als Ergebnis des Protektionismus bildeten die Grundtendenz von Richters Kommentaren und Berichterstattung. 57 Nach In-Kraft-Treten des McKinley-Tarifs räumte Richter in einem Kommentar zwar ein, dass dieser Tarif der deutschen Ausfuhr nach Amerika schaden werde, es sei ein harter Schlag für die deutsche Exportindustrie, der tatsächlich in manchen Branchen einem Einfuhrverbot 55 Barth im Reichstag zu der Forderung von Kanitz, das Meistbegünstigungsverhältnis mit den Vereinigten Staaten aufzulösen. Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 28.3.1892, Bd. 7 S.5048. Kanitz-Podangen war ein Anhänger der bismarckschen Kontinentalpolitik und ein Gegner der caprivischen Handelsverträge, wie er behauptete, hätten sie die Landwirtschaft in eine Katastrophe geführt. Eine sehr positive Bewertung erfährt seine Politik durch seinen Sohn Friedrich Graf von Kanitz. Vgl. Kanitz, Friedrich Graf, Graf Kanitz, in: Below, Armin H. (Hrsg.), Deutscher Aufstieg. Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart rechtsstehender Parteien, Berlin, 1925, S. 321-326. 56 Barth, Theodor, Die Novemberwahlen in den Vereinigten Staaten, in: Die Nation, Nr. 10, 6.12.1890, Bd. 8 S. 148-150 und Schräder, Richard, Die Beteiligung Deutschlands an der Ausstellung in Chicago, in: ebd., Nr. 18, 22.8.1891, Bd.8 S.730 57 Freisinnige Zeitung, Nr. 116, 21.5.1890.
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gleichkomme. Er richtete aber seine Angriffe weiterhin innenpolitisch motiviert gegen die „eigentlichen Verursacher" der amerikanischen Hinwendung zum Protektionismus.58 Die Agrarier mit Fürst Bismarck an der Spitze hätten alleine aus Furcht vor ausländischer Konkurrenz eine Agitation für den Schutzzoll betrieben, Amerika, so Richter weiter, sei erbittert infolge der deutschen Verbote der Einfuhr von amerikanischen Fleischwaren und antworte mit einem neuen Zolltarif. Es sei zu befürchten, hieß es weiter, dass bald auch in anderen Ländern alle fiskalisch und schutzzöllnerisch Interessierte lernbegierige Schüler des deutschen Reichskanzlers sein würden. 59 Zugleich warf die Freisinnige Zeitung einen Blick auf die amerikanischen Verhältnisse und sprach die Hoffnung aus, dass durch Veränderungen in den amerikanischen Mehrheitsverhältnissen im Kongress bald eine andere, für Deutschland und Amerika günstigere Politik einkehren könnte. Nach dem Verständnis der Freisinnigen Zeitung lag die Verantwortung für die neue amerikanische Zollpolitik in den Händen der Republikaner, aber auch sie würden, sobald die Nachteile der Schutzzollpolitik sichtbar würden, eine handelspolitische Kehrtwende einleiten.60 Die Verwendung der amerikanischen Tarifpolitik als Waffe im innenpolitischen Kampf wurde auch in den Reihen der Sozialdemokraten zum gängigen Muster des Umgangs mit der amerikanischen Politik. Daneben tauchte immer wieder offene oder verdeckte Bewunderung der wirtschaftlichen Leistungen Amerikas auf. Karl Kautsky verdeutlichte, wo die Gründe für den amerikanischen Protektionismus liegen würden, in der deutschen Schutzzollpolitik, für ihn war dies die Genesis des Protektionismus überhaupt, der nun wie ein Lauffeuer von Deutschland aus die ganze zivilisierte Welt ergriffen hätte.61 Die Folgen des amerikanischen Schutzzolls sah Kautsky als nicht gravierend an, er werde lediglich eine Art Freihandelsverhältnis zu den lateinamerikanischen Staaten erzwingen. Er verband mit ihm vielmehr die Hoffnung, er werde durch seine „Absurditäten" und „Unerträglichkeiten" den Schutzzoll auf die Spitze treiben, auf diese Weise also zum Zusammenbruch des Schutzzollsystems führen und damit eine bessere Ausgangslage für die amerikanische Sozialdemokratie schaffen, die Arbeiter und Bauern in Amerika anzusprechen. 58
Freisinnige Zeitung, Nr. 277, 28.9.1890. Sobald die ersten Auswirkungen des McKinley-Tarifs in Deutschland spürbar wurden, ging die Freisinnige Zeitung noch einen Schritt weiter und sprach von einem „tödlichen Schlag für einen Teil des norddeutschen Handels". Freisinnige Zeitung, Nr. 256,1.11.1890. 59 Freisinnige Zeitung, Nr. 133, 11.6.1890 und Nr. 277, 28.9.1890. Die Heranziehung Bismarcks als Sinnbild für alles Unerfreuliche und jede falsche Politik gehörte zum gängigen Topos der linksliberalen Zeitungen und Politiker. So auch der Abgeordnete Broemel. Er sah im McKinley-Tarif eine amerikanische Reaktion auf die deutschen Verbote; es brauche sich, wie er meinte, niemand wundern, wenn der handelspolitische Frieden nun gestört sei, wenn die Politik des „weil du mir feindlich bist, will ich dir auch feindlich sein" weiter betrieben werde. Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 22.1.1891, Bd. 1 S. 1111. 60 Freisinnige Zeitung, Nr. 277, 28.9.1890. Als Beweis für freihändlerisch denkende Politiker in Amerika wurde Carl Schurz angeführt. Nr. 257, 2.11.1890 und Nr. 231, 2.10.1892. 61 Kautsky, Deutschland und die amerikanische Zollpolitik, in: Neue Zeit, 9 (1890/91) I, S. 160-171. S. 201-212 und S. 313-326.
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Für Kaustky war der amerikanische Tarif nur ein Teil einer grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis zwischen Schutzzoll, Freihandel und deren Bedeutung für die Arbeiterklasse, daher forderte er im Namen der deutschen Sozialdemokratie den unbedingten Kampf gegen das Schutzzollsystem, weil dieser der Industrie Schaden zufüge, eine ernorme Stärkung der Regierungsgewalt gegenüber der Volksvertretung bedeute und die Arbeiter am meisten unter ihm litten. 62 Der McKinley-Tarif rief in Deutschland die unterschiedlichsten Interessengruppen der Parteien auf den Plan. Es verwundert nicht, dass die Vertreter der Parteien gemäß ihrer Interessenlage ihn entweder für inakzeptabel und für eine Gefahr für die deutsche Wirtschaft hielten oder aus ihm Nutzen für die eigene Klientel ziehen wollten. Er verdeutlichte aber viel mehr. Amerika begann sich im Bewusstsein der Zeitgenossen als ernsthafter Konkurrent festzusetzen, der gewillt war, seine Vorstellungen von Außenhandelspolitik mit Nachdruck umzusetzen, und der offensichtlich, so die Überzeugung der Zeitgenossen, den „Eigennutz" ohne Rücksicht auf das Ausland als oberste Priorität entdeckt hatte. In dieser Wahrnehmung bot der McKinley-Tarif eine Angriffsfläche für die Reaktivierung und Weiterentwicklung alter Klischees und Beschreibungsmuster. Je aggressiver die amerikanische Außenhandelspolitik erschien, und je stärker sich die Parteien von der amerikanischen Konkurrenz bedroht fühlten, desto größeren Antrieb erhielt die Vorstellung von der „rücksichtslosen kapitalistischen Macht", in der eine Clique von „Raubkapitalisten" und „Spekulanten" die politischen Geschicke im Inneren bestimme und nun über die Grenzen des eigenen Landes hinaus greife.
2. Der Wilson-Tarif In der Reihe der außenhandelspolitischen Maßnahmen der Vereinigten Staaten der 1890er Jahre stellt der Wilson-Tarif von 1893 eine leichte Abmilderung der hohen tariflichen Hürden für ausländische Erzeugnisse dar. Nach dem Regierungswechsel von Harrison zu Cleveland schien sich eine Wende in der starren protektionistischen Außenhandelspolitik der Harrison-Regierung abzuzeichnen. Der neue Tarif senkte tatsächlich die meisten Zölle auf ausländische Erzeugnisse, führte aber den Zoll auf Rohzucker wieder ein. Für Deutschland eine besonders schmerzhafte Maßnahme, da es einer der Hauptlieferanten des amerikanischen Zuckermarktes war. Für die Gesamtheit der handelspolitischen Beziehungen zwischen dem Kaiserreich und Amerika war der Wilson-Tarif eher eine Randepisode. Für die Wahrnehmung der Parteien von Amerika als eine aufsteigende Macht spielte er aber eine durchaus gewichtige Rolle. Die Anhänger der auf Freihandel beruhenden deutschamerikanischen Wirtschafsbeziehungen entnahmen ihm eine gewisse Hoffnung auf eine langfristige Entspannung, bedeutender jedoch war seine Wirkung durch den wieder eingeführten Zuckerzoll bei den betroffenen Interessengruppen der Deutsch62
Ebd., S. 167.
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konservativen Partei, der Nationalliberalen Partei und des Zentrums. In diesen Parteien verfestigte er die Ressentiments gegenüber Amerika als einer aggressiven und rücksichtslosen Wirtschaftsmacht, der man sich entgegenstellen müsse. Allen voran entwarf die Deutschkonservative Partei, mit der neuformierten Agrarlobby in ihren Reihen, ein Bedrohungsszenario und setzte sich an die Spitze der rhetorischen und konzeptionellen Gegner Amerikas.
a) Das Saratoga-Abkommen Noch bevor der Wilson-Tarif erlassen wurde, schlossen beide Länder das so genannte Saratoga-Abkommen ab. Es setzte amerikanisches Fleisch und deutschen Zucker auf ein und dieselbe Ebene, rüttelte aber nicht an der Meistbegünstigung. Die US-Regierung verpflichtete sich, Schweinefleisch mikroskopisch untersuchen zu lassen, damit dieses auf dem deutschen Markt wieder zugelassen werde. Als Gegenleistung versicherte der amerikanische Präsident Harrison, von der Reziprozitätsklausel des McKinley-Tarifs keinen Gebrauch zu machen und den deutschen Zucker weiterhin zollfrei einführen zu lassen. Die amerikanische Regierung erreichte die Aufhebung des Einfuhrverbotes für amerikanisches Schweinefleisch und erhielt von der Deutschen Reichsleitung, als Ausgleich für die Möglichkeit der freien Einfuhr von deutschem Zucker in die USA, dieselben reduzierten Zollraten für landwirtschaftliche Produkte, die Österreich-Ungarn nach Abschluss der noch laufenden Handelsvertrags Verhandlungen zugestanden werden sollten.63 Die wirtschaftspolitische Stimmung zwischen beiden Ländern wurde nach dem Erlass des McKinley-Tarifs durch den so genannten „Schweinestreit" getrübt. Das von Bismarck 1883 durchgesetzte Einfuhrverbot und die Weigerung der Vereinigten Staaten, durch eine Trichinenbeschau auf die deutschen Wünsche einzugehen, verhärteten die Fronten. Erst die Wahl Harrisons zum US-Präsidenten brachte eine Wende.64 Am 30. August 1890 schlug Harrison ein Gesetz zur mikroskopischen Untersuchung des zum Export bestimmten Schweinefleischs vor, im Mai 1891 passierte das Gesetz den Kongress mit einer hinzugefügten Bestimmung, die die Beschau 63 Der Briefwechsel zwischen dem damaligen Geschäftsträger des Deutschen Reiches in Washington von Mumm und dem ehemaligen, für diese Verhandlungen Bevollmächtigten, Secretary of State John W. Foster, der zu diesem Abkommen führte war aus Saratoga datiert, daher der Name. Vgl. Stolberg-Wernigerode, Otto, Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika im Zeitalter von Bismarck, Leipzig, 1933, S. 185. 64 Zum Verbot der Einfuhr von amerikanischem Schweinefleisch. Vgl. Snyder , The American-German Pork Dispute, S. 16-28 und Hunt, James C., Peasants, Grain Tariffs, and Meat Quotas. Imperial German Protectionism Reaxamined in: Central European History, 7 (1974), S. 311-331. Hoy und Nugent betonen den gesundheitspolitischen Hintergrund, wonach es tatsächlich eine Gefährdung der Bevölkerung in Deutschland durch das eingeführte amerikanische Schweinefleisch gab. Hoy , SueMen/Nugent, Walter, Public Health or Protectionism? The German-American Pork War, 1880-1891, in: Bulletin of the History of Medicine, 63 (1989), S.198-224.
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von frisch geschlachteten Schweinen einführte. Die USA begannen am 3.3.1891 die geforderte Fleischbeschau einzuführen. 65 Die Haltung der neuen amerikanischen Regierung ermöglichte es, die angespannte wirtschaftspolitische Lage zwischen beiden Ländern etwas zu entschärfen. Das Saratoga-Abkommen von 1891, das erste von insgesamt fünf bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, markierte den ersten Versuch einer vertraglichen Einigung beider Länder in Wirtschaftsfragen. 66 Wie bei allen folgenden Abkommen, musste das Deutsche Reich auch bei diesem nachgeben. Vor dem Hintergrund der außerordentlich unausgewogenen wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder in diesem Zeitraum und des innenpolitischen Drucks in Deutschland, schaffte dieses Abkommen jedoch eine Verschnaufpause in den zollpolitischen Kämpfen beider Länder. 67 Das Saratoga-Abkommen erleichterte zwar die Ausfuhr deutschen Zuckers, änderte aber nichts an der grundsätzlichen Stoßrichtung des McKinley-Tarifs gegen die deutsche Landwirtschaft. Für die Deutschkonservativen war dieses Abkommen nur ein weiterer Beleg für die Fehlerhaftigkeit des Vertragsverhältnisses zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland. Das zwischen beiden Ländern existierende Meistbegünstigungsverhältnis erschwerte, ja, verhinderte in den Augen der Agrarier, geradezu die Sicherung der heimischen Erzeugnisse und ihrer Ausfuhr. Als vertragliche Grundlage des wirtschaftspolitischen Verhältnisses galt immer noch der Vertrag von 1828 zwischen Preußen und Amerika. 68
65 Verbote für landwirtschaftliche Produkte aus Amerika folgten 1891 in Frankreich, Österreich-Ungarn, Rumänien, Dänemark, der Schweiz und Belgien. Vgl. Terrill, Tom E., The Tariff, Politics, and American Foreign Policy, 1874-1901, Westport, Conn/London, 1973, S. 142. 66 Vgl. Oppelland, Der lange Weg in den Krieg, S. 5 ff. Die zeitgenössischen Bewertungen sprachen überwiegend von einem „Waffenstillstand" in den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen. Z.B. Fisk, Georg, Die handelspolitischen und sonstigen völkerrechtlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart, 1897, S. 154-166. Calwer, Richard, Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Berlin, 1902, S.21 und Lötz, Walther, Der Schutz der deutschen Landwirtschaft und die Aufgaben der künftigen deutschen Handelspolitik. Vortrag gehalten am 26. Februar in der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft zu Berlin, Berlin, 1900, S.72. 67 Das wirtschaftspolitische Ungleichgewicht manifestierte sich besonders deutlich im Export von Rohstoffen und Agrarprodukten. Die Vereinigten Staaten exportierten zu 90 % Rohstoffe und Agrarprodukte nach Deutschland, während Deutschland zu 70% industrielle Fertigprodukte in den USA absetzte. Vgl. Hase, Die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen, S.332. 68 Tatsächlich war diese Grundlage rechtlich umstritten. Preußen schloss bereits 1785 einen Freundschafts- und Handelsvertrag mit den USA ab. 1828 wurde der Vertrag modifiziert, er garantierte den Vereinigten Staaten die Meistbegünstigung, seine endgültige Form blieb Handelsgrundlage bis 1907. Dieser Vertrag wurde 1871 in seiner Gültigkeit auf das Deutsche Reich übernommen, stieß jedoch in der Kaiserzeit und auch später wegen der unsicheren rechtlichen Lage häufig auf Kritik. Präger argumentiert, der Vertrag sei nach dem Art. 33 der Reichsverfassung von 1871 nicht bindend gewesen, auch bei der Deklaration des Bundesrats von 24.10.1884 sei Amerika unter den Meistbegünstigungsstaaten nicht erwähnt. Vgl. Doerries, Kaiserreich und Republik, S. 354, S. 354 und Prager, Die Handelsbeziehungen, S. 22.
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Zu einem der schärfsten Kritiker der Vereinigten Staaten und zum Wortführer der Deutschkonservativen in Fragen der Wirtschaftbeziehungen zu Amerika entwickelte sich Kanitz-Podangen, Anhänger der bismarckschen Kontinental- und Zollpolitik und Gegner der caprivischen Handelsverträge. Seine politische Laufbahn kennzeichnete der Kampf für die Belange der Großgrundbesitzer und gegen eine Umstrukturierung des Reiches zu Gunsten einer industrialisierten Gesellschaft. Kanitz zweifelte den preußisch-amerikanischen Vertrag von 1828 als gültige vertragliche Grundlage für das Deutsche Reich an, denn der Vertrag, so seine Argumentation, sei vor der Gründung des Zollvereins und des Deutschen Reiches abgeschlossen worden und daher auf das Deutsche Reich nicht übertragbar. Der eigentliche Auslöser der Angriffe gegen Amerika war jedoch der McKinley-Tarif und die darin enthaltene Reziprozitätsklausel. Kanitz bedauerte die deutsche Nachgiebigkeit gegenüber Amerika in Wirtschaftsfragen, Deutschland habe sogar das Schweinefleischeinfuhrverbot aufgehoben. Die Forderungen der Konservativen waren eindeutig, die Kündigung des Meistbegünstigungsverhältnisses, die Neuregelung des Vertragsverhältnisses zu Amerika, und die Anwendung eines Generaltarifs. 69 Kanitz als der entschiedenste Gegner des Meistbegünstigungsverhältnisses forderte die Reichsregierung auf, die Vereinigten Staaten aus diesem herauszunehmen, denn dieses Verhältnis ermögliche es ihnen, Waren nach Deutschland ohne eine Gegenleistung einzuführen. Da die handelspolitische Praxis der Vereinigten Staaten der deutschen Landwirtschaft, und wie Kanitz betonte, anderen Industriezweigen wie der Textilindustrie schade, müsse mit den Amerikanern die offene Konfrontation gesucht werden. Diese seien unverbesserliche Schutzzöllner, Verhandlungen würden da nicht weiterhelfen. 70 Dieser Meinung schloss sich Kardorff an, der der Reichsregierung vorwarf, sie sei mit der Aufhebung des Schweinefleischeinfuhrverbotes zu weit gegangen, denn nach dem Meistbegünstigungsverhältnis hätte Deutschland es gar nicht nötig gehabt, diese Konzession zu machen. Die scheinbare Entspannung zwischen beiden Ländern bewerteten die konservativen Redner als Schwäche der Reichsregierung und als eine „listige Täuschung" der Amerikaner. Sowohl Kanitz als auch Kardorff gingen davon aus, dass sich Deutschland in einer stärkeren Verhandlungsposition befinde, denn laut Kardorff habe Amerika ein genauso großes Interesse am Handel mit Deutschland wie umgekehrt. Kanitz resümierte, Deutschland habe der amerikanischen Regierung alle Beneflzien eingeräumt, der McKinley-Tarif bestehe aber weiter. 71 Aus der Rückschau stellt der Abgeordnete der Deutschkonservativen Graf von Schwerin-Löwitz der Reichsleitung ein denkbar schlechtes Zeugnis bei 69 Kanitz im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 8. Leg. l.Sess. 28.3.1892, Bd. 7 S. 5041-5043. Frankreich setzte gegenüber Amerika einen festen Satz von Minimal- und Maximaltarifen. Frankreich schloss zwar erst 1898 ein Reziprozitätsabkommen mit Amerika ab und schien damit Zugeständnisse erlangt zu haben, garantierte aber bereits seit 1892 keine Meistbegünstigung. Vgl. Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S. 148. 70 Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 28.3.1892, Bd.7 S.5041. 71 Ebd., S. 5042 und S. 5048.
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der Ausarbeitung des Saratoga-Abkommens aus. Die Reichsregierung habe die Verschiedenheit der Auffassungen von Meistbegünstigung in beiden Ländern nicht verstanden und die betreffenden industriellen und landwirtschaftlichen Kreise nicht in die Beratungen miteinbezogen.72 Das Beharren der Konservativen auf einer Revidierung der vertraglichen Grundlage der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen erklärte Barth mit ihrer Unkenntnis der amerikanischen Verhältnisse. Für Barths Verständnis der deutschamerikanischen Beziehungen spielte einflorierender Wirtschaftaustausch zwischen beiden Ländern die entscheidende Rolle. Auch wenn er den amerikanischen Protektionismus kritisierte, setzte er sich gegen eine Verschlechterung der Beziehungen ein, die seiner Ansicht nach Deutschland mit Gegenmaßnahmen als Antwort auf die amerikanische Tarifpolitik provozieren würde. Vielmehr sollte Deutschland mit dem Vorbild des Freihandels vorangehen, um somit den Freihändlern in Amerika die nötigen Argumente zu liefern, die Zollschrauben herunterzudrehen und die Protektionisten von der Nutzlosigkeit ihrer Politik zu überzeugen. Barths Ansatz zur Lockerung der amerikanischen Zollpolitik war also eine indirekte Einflussnahme auf die innenpolitische Auseinandersetzung in Amerika. Neben der üblichen Betonung seines Standpunktes, wie schädlich der Protektionismus für Deutschland sei, warf er Kanitz vor, er würde in die Hände der amerikanischen Protektionisten spielen, die nur, so Barth, einen Vorwand suchten, um bei der nächsten Präsidentschaftskampagne den „handelspolitischen Chauvinismus" zu entflammen und einen möglichen Zollkrieg mit Deutschland zu riskieren. Für Barth war es Kanitz' absolute Unkenntnis der amerikanischen Verhältnisse, wenn dieser glaube, dass man durch einen derartigen Zollkrieg eine Entschärfung der McKinley-Bill bewirken könne.73 Barth wusste über die Bedeutung des Saratoga-Abkommens, er verteidigte es ebenfalls nicht, wollte jedoch nicht die Spannungen zwischen Deutschland und Amerika weiter verschärfen. Auch die Sozialdemokraten erkannten in diesem Abkommen ein Nachgeben Deutschlands. Für sie war es in erster Linie ein gutes Tauschgeschäft für die Amerikaner, denn diese hätten die Aufhebung des Einfuhrverbotes für Schweinefleisch und Würste nach Deutschland erreicht und Deutschland lediglich versprochen, den McKinley-Tarif auf den deutschen Zucker nicht anzuwenden. Die Kritik richtete sich gegen die deutsche Regierung, die nicht, wie der Vorwärts es formulierte, aufgrund der Teuerung der Lebensmittel in Deutschland, sondern aus Rücksicht auf die „armen Zuckerbarone" auf das Tauschgeschäft eingegangen sei. Die Hauptanalyse des Vorgangs zielte aber in eine andere Richtung. Nach der Lesart des Vorwärts war das Abkommen und das Zurückweichen Deutschlands Ausdruck der zunehmenden wirtschaftlichen Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten 72 Schwerin-Löwitz, Hans, Die Meistbegünstigung und unser handelspolitisches Verhältnis zur Nordamerikanischen Union, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 9 (1905/1906), S. 22. 73 Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 28.3.1892, Bd.7 S.5049.
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und der wachsenden Bedeutung der Vereinigten Staaten als Wirtschaftsmacht. Das Zurückweichen Deutschlands vor der „Union", sein Nachgeben und seine zarte Rücksichtsnahme seien keine zufällig mit dem Einzelfall verknüpften Erscheinungen, es sei eine Signatur des ganzen handelspolitischen Verhältnisses zwischen der alten und der neuen Welt, in der sich die „Überlegenheit der Union" am deutlichsten auspräge.74
b) Angriff auf die deutsche Landwirtschaft Das Saratoga-Abkommen stellte nur eine Etappe in den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen dar, es nährte aber die Hoffnung auf eine weit reichende Entspannung im Wirtschaftsverhältnis beider Länder. Diese wurde mit der Amtsübernahme des neuen Präsidenten Cleveland 1893 umso größer. Cleveland galt in wirtschaftspolitischer Hinsicht als ein Gegenspieler seines Vorgängers, des starr am Schutzzoll festhaltenden Harrison. Tatsächlich neigte Cleveland nach der Amtsübernahme zu einem freihändlerischen Kurs, konnte sich mit seinem Entwurf einer gemäßigten Schutzzollpolitik aber nicht durchsetzen. Der in dem neuen Konzept ausgearbeitete Wilson-Tarif sah erhebliche Zollermäßigungen, unter anderem auf Rohstoffe, Industrieartikel und Raffinadezucker vor, er wurde aber im Kongress von den Republikanern blockiert. Diese sahen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise in den Vereinigten Staaten hohe Zölle als die beste Garantie, der amerikanischen Wirtschaft wieder Auftrieb zu verleihen. 75 Schließlich hätte die Senkung der Zuckerzölle Gewinnverluste bei den amerikanischen Zuckerproduzenten bedeutet. Ihr Widerstand gegen den neuen Tarif führte sie vor den Obersten Gerichtshof, wo die erste Fassung des Wilson-Tarifs zu Fall gebracht wurde. Der in veränderter Form verabschiedete Tarif von August 1894 führte den Zoll auf Rohzucker wieder ein. Obwohl er in der Gesamtheit milder ausfiel als der McKinley-Tarif, war die Bezollung des Zuckers ein besonders harter Schlag für das deutsche Exportwesen. Als Reaktion verbot das Deutsche Reich die Einfuhr amerikanischen Schweinefleisches. Die Reichsleitung begründete diese Maßnahme als eine rein sanitäre, um der Gefahr der Einschleppung von mit Trichinen verseuchtem Fleisch entgegenzuwirken. Das amerikanische Außenministerium interpretierte diesen Schritt jedoch als eine Vergeltungsmaßnahme gegen den Wilson-Tarif. 76 In Deutschland wurde der 74
Vorwärts, Nr. 292, 13.12.1891. Zur amerikanischen Wirtschaftskrise vgl. Gallman, Robert E., Economic Growth and Structural Changes in the Long Nineteenth Century, in: The Cambridge Economic History, S. 1-57. Unter Deutschlands Ökonomen gewann das Thema Amerika eine immer größere Bedeutung. Ab den 90er Jahren begleitete eine stetig wachsende Anzahl von Publikationen die amerikanische Wirtschaftsentwicklung. Zur besagten Krise z.B. Halle, Ernst, Die wirtschaftliche Krise des Jahres 1893 in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 28 (1893), S. 1151-1181. 76 Der Hauptgrund für die Erhebung des additional levy waren leere Kassen in Amerika. Vgl. Crouse, The Decline of German-American Friendship, S.284 und S. 365. Zu den inneramerikanischen Auseinandersetzungen im Vorfeld des neuen Zolltarifs Hase, Lateinamerika, 75
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neue amerikanische Tarif als ein Vertragsbruch des Saratoga-Abkommens und als weiterer Verstoß gegen das bestehende MeistbegünstigungsVerhältnis gesehen.77 Zusätzliche Schärfe gewann die Auseinandersetzung um den amerikanischen Tarif vor dem besonderen Hintergrund der Lage der Landwirtschaft und der folgenden Umorientierung der deutschen Parteien in ihrem Verhältnis zur Landwirtschaft. Zum einen nahm der Druck der landwirtschaftlichen Erzeugnisse Amerikas auf den deutschen Markt weiter zu, zum anderen befand sich die deutsche Landwirtschaft in einer anhaltenden Krise. Der amerikanische Druck auf die deutsche Landwirtschaft nahm seit 1870 immer größere Ausmaße an, die amerikanischen Agrarexporte sowie später Vieh- und Fleischexporte drängten immer mehr auf den deutschen Markt. 78 Die deutsche Landwirtschaft verlor Anfang der 90er Jahre zunehmend an internationaler und nationaler Vorrangstellung gegenüber der Industrie. Als 1891 die Getreidepreise ihren Höhepunkt überschritten hatten und bis 1894 ständig fielen, wurden die deutschen Agrarregionen, vor allem die Zuckerproduzenten hart vom Wilson-Tarif getroffen. 79 Auf der anderen Seite formierte sich im Bund der Landwirte eine der mächtigsten Lobbygruppen im Kaiserreich, die ihren Einfluss bis weit in die Deutschkonservative Partei ausübte, aber auch Teile der Freikonservativen, Nationalliberalen und des Zentrums erfasste. Die Gründung des Bundes der Landwirte und die davon ausgehende personelle Verknüpfung mit den politischen Parteien bewirkte eine Akzentverschiebung im Interessengemenge der betroffenen Parteien zugunsten einer agrarischen Politik. 80 Personell wie programmatisch stand der S. 605 ff. Cleveland wurde 1893 nach 1885 zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Eine knappe Beschreibung seiner Präsidentschaft bietet Lammersdorf. Lammersdorf\ Raimund, Grover Cleveland 1893-1897. Die zweite Amtszeit, in: Heideking (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten, S. 239-244. 77 So eine große Zahl der Ökonomen des Kaiserreichs wie z. B. Lötz, Walther, Die Handelspolitik des Deutschen Reiches unter Graf Caprivi und Fürst Hohenlohe, Leipzig, 1901, Schriften des Vereins für Socialpolitik. Bd. 92. S. 156. 78 Das Thema der landwirtschaftlichen Stärke der Vereinigen Staaten, ihrer natürlichen, rechtlichen und arbeitstechnischen Voraussetzungen und ihrer Konkurrenz zu Deutschland blieben auch nach der Jahrhundertwende präsent in der deutschen Publizistik und Fachwelt. Bgl. u. a. Weidenfeld, Kurt, Die nordamerikanische Konkurrenz. Die Landwirtschaft. Die große Bedeutung der großen Landflächen und des billigen Grund- und Bodens für den Aufstieg der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten, in: Halle (Hrsg.), Amerika, S. 169 ff. und S. 189 ff. und Augustin, Max, Die Entwicklung der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und ihr Einfluß auf die Preisbildung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, München, 1914, S. 18 ff. 79 Besonders betroffen von der Krise waren Preise für Fleisch und andere Tierprodukte. Die Geldreinerträge aus Getreide erreichten Anfang der 90er Jahre ihren Tiefpunkt, von einem Notstand der Landwirtschaft konnte jedoch nur bedingt gesprochen werden. Vielmehr fürchteten die Agrarier, auch vor dem Hintergrund der Kanzlerschaft Caprivi, um den Verlust ihrer Vorrangstellung. Vgl. Flemming, Jens, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat, Bonn, 1978, S. 19-25. 80 Zum Einfluss der Agrarier in der Nationalliberalen, Freikonservativen Partei und der Zentrumspartei vgl. Eley, Antisemitismus, agrarische Mobilisierung und die Krise der Deutschkonservativen Partei, S. 174. Hendon, David W., German Catholics and the Agrarian League,
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Bund der Landwirte den Deutschkonservativen besonders nahe, viele Entscheidungsträger des B d L wie Wangenheim, Roesicke oder Sonnenberg von Liebermann gehörten zu aktiven Größen der Deutschkonservativen. Die programmatische Ausrichtung einer agrarischen antikapitalistischen Organisation mit antisemitischen Untertönen drang sehr tief in die Deutschkonservative Partei ein. 8 1 Die Agrarier aller Parteien, vor allem aber der Deutschkonservativen, forderten von nun an umso entschiedener die Revision der vertraglichen Grundlage der Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten, die Aufkündigung des Meistbegünstigungsverhältnisses und den Übergang zu einem System der Maximal- und Minimalzölle. 8 2 Allen voran traten die Deutschkonservativen mit Angriffen auf Amerika hervor. Für sie stellte der Wilson-Tarif nichts anderes als einen weiteren Beweis für die „Unzuverlässigkeit" und für den „Vertragsbruch" der Amerikaner dar. I n ihrer K r i t i k bezogen sie sich auf das Saratoga-Abkommen, deuteten es als einen völkerrechtlichen Vertrag und übersahen dabei, dass es sich bei diesem Abkommen um einen Notenwechsel und keinen bindenden Vertrag handelte. Die Kreuzzeitung griff die Reichsleitung frontal an. Es sei verwunderlich, warum sich die Reichsleitung einen ganz direkten, offenbaren Vertragsbruch vom Ausland stillschweigend gefallen lasse. Warum, so die Frage, übe Deutschland nicht die ihm zu Gebote stehenden Repressalien aus, die unzweifelhaft zu dem gewünschten Erfolg führen würden. 8 3 Die
1893-1914, in: German Studies Review, 41 (1981), S.427-445 und Stegmann, Dirk, Vom Neokonservatismus zum Protofaschismus. Konservative Partei, Vereine und Verbände 1831-1920, in: Wendt, Bernd-Jürgen/Stegmann, Dirk/Witt, Peter-Christian (Hrsg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert, Bonn, 1983, S.200. 81 Amerika als Handelsmacht nahm für die Tätigkeit des BdL eine durchaus prominente Rolle ein. Im Gründungsprogramm des BdL war die Forderung nach Neuregelung des Vertragsverhältnisses zu den Vereinigten Staaten ausdrücklich als Ziel in Artikel 2 verankert. Den Bund führte 1893 bis 1898 Berthold von Ploetz, von 1898 bis 1920 Conrad Freiherr von Wangenheim. 1893 hatte der Bund 162.000 Mitglieder. Er arbeitete in der so genannten „Wirtschaftlichen Vereinigung" mit 140 Abgeordneten zusammen, davon waren nur 1 % Junker. Vgl. Flemming, Landwirtschaftliche Interessen, S. 29-47. Steinkühler, Agrar- oder Industriestaat, S. 230 und Crouse, The Decline of German-American Friendship, S. 303. Einführend zum BdLPuhle, Hans-Jürgen, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen, 1975, S. 63-68 und Fricke, Dieter, Bund der Landwirte (BdL) 1892-1920, in: Bürgerliche Parteien. S. 241. Des Weiteren Farr, Ian, Populism and Countryside, in: Evans, Richard J. (ED.), Society and Politics in Wilhelmine Germany, London, 1978, S. 136-159 und Blackbourn, Peasants and Politics in Germany, S. 53-58. 82 So z. B. der Vorsitzende der Nationalliberalen in Hannover und Mitglied des BdL Flathmann. Flathmann, Johannes, Die Landbevölkerung der Provinz Hannover und die Agrarzölle, Hannover, 1902, S. 5. Allgemein zur ländlichen Agitation für die Erhöhung der „Schutzzölle" und gegen die zunehmende Industrialisierung vgl. Lebovics, Hermann, Agrarians versus Industrializes. Social Conservative Resistance to Industrialism and Capitalism in the Late 19th Century Germany, in: International Review of Social History, 12 (1967), S. 31-65 und Blackbourn , David, The Political Alignment of the Centre Party in Wilhelmine Germany, in: Historical Journal, 18 (1975), S. 821-850. 83 Kreuzzeitung, Nr. 430, 14.9.1894.
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zu Gebote stehenden Repressalien wären zum einen höhere Zölle auf amerikanische Produkte, und zum anderen die konservative Maximalforderung, der Ausstieg aus dem Meistbegünstigungsverhältnis gewesen. Der Vorwurf an die Adresse der Reichsleitung ignorierte das bereits von ihr erlassene Einfuhrverbot für amerikanisches Rindfleisch, in den Augen der Agrarier eine rein hygienische Maßnahme. In der öffentlichen Begründung des Kampfes gegen die amerikanische Wirtschaftspolitik schlug die von Hammerstein geführte Kreuzzeitung aber noch einen anderen Ton an. In einem von Hammerstein verfassten Artikel verlieh sie dem Eindringen der Ideologie des Bundes der Landwirte in die Deutschkonservative Partei Ausdruck, indem sie im Wilson-Tarif das Ergebnis der „Tyrannei der Wucherer und Kapitalisten auf republikanischem Boden, der kapitalistischen Korruption und der Tyrannei des Geldsacks" sah. Die Abneigung gegenüber der republikanischen Staatsverfassung verkleidete sie in Spott gegen das „Spekulantentum", das wohl zu den Sitten des „freiesten Volkes der Erde" gehöre und rief zum „Vernichtungskampf" gegen den kapitalistischen Liberalismus auf. 84 Hammersteins Aufruf gehört wohl zu den härtesten Kampfansagen an Amerika im Zusammenhang mit dem Wilson-Tarif und wurde in der Schärfe von anderen Stimmen nicht erreicht. Auch wenn nicht in dieser Schärfe, breitete sich weit über das Milieu der Deutschkonservativen Partei hinaus ein Gefühl der Bedrohung seitens Amerikas aus. Am deutlichsten beschrieb die Stimmungslage die Kölnische Volkszeitung, die auch die Fronten in diesem sich abzeichnenden wirtschaftspolitischen Kampf benannte. Die Vereinigten Staaten würden die „alte Welt" durch ihre Wirtschaft und ihr Ignorieren der Verträge - damit war das Saratoga-Abkommen gemeint - auf wirtschaftlichem Gebiete bedrohen; sollten keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, werde Amerika Europa schon bald wirtschaftlich dominieren. Der Gedanke, in diesem „Kampf" stünden sich nicht nur Deutschland und Amerika gegenüber, sondern Europa und Amerika, tauchte zuerst Anfang der 1890er Jahre auf. In Zusammenhang mit der Diskussion um die „amerikanische Gefahr" gehörte er später zum Standardrepertoire vieler Amerikagegner. Die Kölnische Volkszeitung schloss sich aber den Rufen der Deutschkonservativen Presse nach einem Zollkrieg nicht an, vielmehr sollte Deutschland an den bestehenden Einfuhreinschränkungen festhalten und das MeistbegünstigungsVerhältnis auflösen. 85
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Kreuzzeitung, Nr. 577, 9.12.1896 und Nr. 96, 19.3.1894. Diese Weltsicht war nicht völlig neu, vielmehr existierten bereits Versatzstücke bei den Deutschkonservativen, die durch das Wirken des BdL verstärkt und deutlicher akzentuiert wurden. Stegmann fasst sie unter dem Begriff der Mittelstandsideologie, bestehend aus völkischem Nationalismus, Antikapitalismus und Antisozialismus, zusammen. Vgl. Stegmann, Vom Neo-Konservatismus zum Proto-Faschismus, S.207. 85 Kölnische Volkszeitung, Nr. 126,4.3.1893. Nr.210,9.4.1894 und Nr.276,28.4.1985. Die Kreuzzeitung erhob die gleichen Forderungen, schloss aber die Möglichkeit des Zollkrieges nicht aus. Kreuzzeitung, Nr. 419,7.9.1894 und Nr. 526,9.11.1894, Auch die Kölnische Zeitung sah die Möglichkeit von Gegenmaßnahmen nach diesem neuen amerikanischen Tarif gegeben. Kölnische Zeitung mit Wirtschafts- und Handelsblatt. 5.12.1895 und 8.12.1895. Die Kölnische
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Der Ruf nach einem Zollkrieg als eine mögliche Vergeltungsmaßnahme mischte sich mit der Sorge vor der wachsenden amerikanischen Konkurrenz. Konservative Organe und zahlreiche Abgeordnete nutzten jede Gelegenheit, den bevorstehenden Untergang der deutschen Landwirtschaft vorauszusagen und einen Zollkrieg gegen Amerika zu fordern. Vor allem Mitglieder des BdL wie Hahn, Graf Oriola oder Herrnsheim sahen in einem Zollkrieg eine angemessene Antwort auf die amerikanische Zollpolitik. 86 Die Proteste der Agrarier erschöpften sich nicht wie im Falle Hammersteins in rhetorischen Eskapaden. Die Angst vor dem Verlust des amerikanischen Marktes und die Überzeugung, dass die amerikanische Zollpolitik, wie Liebermann von Sonnenberg es formulierte, der deutschen Landwirtschaft den „Todesstoß versetze", wenn nicht bald Abhilfe komme, veranlassten die Agrarier, konkrete Schritte von der Reichsleitung zu fordern und ein eigenes Konzept zur „Abwehr" der amerikanischen Konkurrenz zu entwerfen. 87 Im Reichstag richtete Kanitz seine Kritik parteikonform an die Adresse der Reichsregierung, da sie es versäumt hätte, sich eine zollfreie Einfuhr des deutschen Zuckers von den Amerikanern garantieren zu lassen, denn das Saratoga-Abkommen enthalte nur ein Zugeständnis, keine Garantie und sei daher nicht mehr wert als „der Sperling auf dem Dach". Kanitz orientierte sich an Frankreich, das seinen Worten nach den Amerikanern keinen Minimaltarif anbot, sondern nur ermäßigte Zölle für wenige Artikel. Deutschland dagegen, so Kanitz weiter, sei in einer viel besseren Verhandlungsposition gewesen, weil es eine Vielzahl an landwirtschaftlichen Produkten anzubieten habe, und auch das Recht habe, Zölle zu erheben.88 Das Ideal des vertraglichen Verhältnisses Deutschlands mit den Vereinigten Staaten lag für die Agrarier in einer Neugestaltung der tariflichen Grundlagen auf der Basis von Maximal» und Minimalzöllen nach dem Vorbild Frankreichs und demzufolge einer Erhöhung des Einfuhrzolles.
Zeitung vertrat nur bis 1867 weitgehend die Ziele der Nationalliberalen Partei, ab da ist sie eher der „Parteirichtungspresse" zuzuordnen, die in Einzelfragen ein relativ selbstständiges Urteil abgab. Vgl. Potschla, Georg, Kölnische Zeitung in: Fischer, Hans-Dieter (Hrsg.), Deutsche Zeitungen, S. 152. Vor den Auswirkungen eines Zollkrieges warnte die Freisinnige Presse z.B. Freisinnige Zeitung, Nr. 8, 5.12.1895. 86 Reden von Kanitz, Roesicke, Hahn, Herrnsheim und Graf Oriola. Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 3.Sess. 13.3.1895, Bd.2 S. 1443-1447 (Herrnsheim), S. 1460-1465 (Hahn), S. 1481-1486 (Oriola), 20.3.1896, S. 1587 (Kanitz). 9. Leg. 4.Sess. 8.2.1897, S. 5701-5706 (Kanitz) S.5713 (Herrnsheim). 10.Leg. l.Sess. 13.2.1899, S.783-789 (Kanitz), S.796-799 (Herrnsheim), S. 804-806 (Roesicke). 87 Verhandlungen des Reichstags, lO.Leg. l.Sess. 15.12.1898, Bd. 1 S. 117. Zur Agitation des BdL gegen den Wilson-Tarif. Vgl. Vagts. Deutschland und Amerika. S. 207 und Lötz, Die Handelspolitik des Deutschen Reiches, S. 144. 88 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 3.Sess. 14.12.1894, Bd. 1 S. 119-122. Im Gegensatz zu Paasche legte Kanitz Wert darauf den gesamten amerikanischen Zoll abzuschaffen, denn dieser blockiere mit 40 % und nicht der Zuschlagzoll von 0,1 % die Einfuhr des deutschen Zuckers. Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 3.Sess. 30.2.1895, Bd.2 S. 1816 und ebd., S.1817.
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Die Hauptforderung der Deutschkonservativen nach einer neuen Vertragsgrundlage zu den Vereinigten Staaten von Amerika und der Einführung von Minimal- und Maximalzöllen als Antwort auf die „amerikanische Bedrohung" der deutschen Landwirtschaft gipfelte in dem nach Kanitz benannten Antrag zum staatlichen Getreidemonopol. Der Antrag Kanitz' als eines der „Großen Mittel" zur Rettung der deutschen Landwirtschaft und zur Bekämpfung der ausländischen Konkurrenz entstand programmatisch im Bund der Landwirte. Kanitz fiel die Ehre zu, ihn im Reichstag und in der Öffentlichkeit zu präsentieren. 89 Der Antrag beinhaltete ein staatliches Monopol mit festgelegten Preisen für den Verkauf und Ankauf von Getreide und sein Herausnehmen aus dem außenhandelspolitischen Vertragsverhältnis, also auch aus dem MeistbegünstigungsVerhältnis. Damit wäre die Getreideproduktion vom Sonderinteresse einer Partei zur geschützten und geförderten staatlichen Aufgabe aufgestiegen. Der am 7. April 1894 eingebrachte Antrag fand keine Mehrheit im Reichstag, Abgeordnete aller Parteien sprachen sich dagegen aus.90 Nach dem Scheitern des Antrages, 1895 und 1896 wurde dieser wiederholt eingebracht, verlagerten die Agrarier der Deutschkonservativen ihre Strategie auf die so genannten „Kleinen Mittel". Die kurzzeitige Entspannung im deutsch-amerikanischen Handel in der Zuckerfrage fand ihr Ende im Wilson-Tarif. Der neue Tarif führte den Zoll auf Rohzucker wieder ein und erhöhte die Abgaben auf Raffineriezucker. Das Produkt Zucker entwickelte sich zu einem der Hauptstreitpunkte in den deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen. Beide Länder exportierten Zucker, und beide waren auf Absatzmärkte in Lateinamerika angewiesen. Der höhere Zuckerzoll traf die deutschen Ausfuhren nach Amerika, zugleich konnte Deutschland aufgrund des Meistbegünstigungsverhältnisses nicht isoliert den Vereinigten Staaten einen höheren Zoll aufbürden, sondern nur durch vereinzelte Maßnahmen, wie das Einfuhrverbot für Rindfleisch von 1894, reagieren. 91 Den Agrariern der Deutschkonservativen Partei war dieser Sachverhalt bekannt, viele landwirtschaftliche Betriebe waren auch mit der Zuckerproduktion beschäf89 Vgl. Rallatack, Notables of the Right. S. 131 und Kanitz' Erklärung zu seinem Antrag und Agrarpreisen. Kanitz-Podangen, Graf, Die Festsetzung von Mindestpreisen für das ausländische Getreide, Weberstädt, 1894, S.8ff. 90 Zu den „Großen Mitteln" gehörten neben dem Getreidemonopol auch die Börsenreform und die Doppelwährung, einzig das Konzept der Börsenreform konnte sich erfolgreich durchsetzen. Andere Interessenverbände, vor allem aus der Schwerindustrie sprachen sich gegen diesen Antrag aus. Vgl. Stegmann, Die Erben Bismarcks, S.63ff. und die zeitgenössischen Kommentare. Croner, Johannes, Die Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland, Berlin, 1909, S. 150ff. Francke, Ernst, Zollpolitische Einigungsbestrebungen in Mitteleuropa, Schriften des Vereins für Socialpolitik 90, Leipzig, 1900, S. 217 ff. und Lotz y Die Handelspolitik des Deutschen Reiches, S. 134 auch die Dokumentation des Zentrumsabgeordneten Pichler. Pichler, Franz. Der Antrag Kanitz. Geschichte, parlamentarische Behandlung und Würdigung desselben, Köln, 1895. Pichler selbst schloss sich der Kritik der Zentrumsfraktion an, der Antrag sei nicht durchführbar und mit den Handelsverträgen nicht vereinbar. Ebd., S. 129-135. 91 Eine sehr ausführliche Beschreibung des Zuckerstreits bietet Crouse, The Decline of German-American Friendship, S. 283 ff.
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tigt. Die größten Zuckerproduzenten aber befanden sich in den Reihen der Nationalliberalen Partei. Aber auch Agrarier der Nationalliberalen Partei, die nicht in der Zuckerproduktion tätig waren, ergriffen die Gelegenheit, angesichts des Wilson-Tarifs eine grundlegende Änderung des Handelsvertragsverhältnisses zu den Vereinigten Staaten zu fordern und vor dem Untergang der deutschen Landwirtschaft zu warnen. Wie die Agrarier der Deutschkonservativen Partei interpretierten sie das Meistbegünstigungsverhältnis zu Amerika als nachteilig für Deutschland und als ein Instrument in den Händen der Amerikaner, um eine wirtschaftliche Vormachtstellung anzustreben. Der nationalliberale Abgeordnete, Großgrundbesitzer und Großindustrielle Graf Heyl von Herrnsheim brachte am 13.3.1895 einen Antrag zur Kündigung des Vertrages mit Argentinien ein. Dieser Vertrag beinhaltete eine Meistbegünstigungsklausel, die aufgrund der Einfuhren des Getreides zusätzlichen Druck auf die deutsche Landwirtschaft erzeugte. Zwei Jahre später jedoch machte Herrnsheim klar, wem dieser Vorstoß eigentlich galt. Die Vereinigten Staaten, wie er im Reichstags formulierte, würden die deutsche Landwirtschaft mit billigerem Getreide überfluten, und es sei klug, mit kleineren Feinden, in dem Falle Argentinien, anzufangen, wenn man dadurch den größeren Feinden, Amerika, Warnungen zuteil werden lasse.92 Zu den prominentesten Sprechern der Nationalliberalen bezüglich Amerika entwickelte sich jedoch Herrmann Paasche, Professor für Staatswissenschaften und Ökonomie aus Rostock. In der Öffentlichkeit trat er als neutraler Ökonom auf, war aber als ein bedeutender Zuckerproduzent an zahlreichen Produktionsstätten beteiligt. 93 Paasche setzte sich in seiner politischen Karriere für eine günstige Handelslage für den deutschen Zucker auf dem Weltmarkt ein. Hinsichtlich Amerikas gab er sich als besonderer Kenner aus, da er Nord- und Mittelamerika zweimal bereist und sich in drei Veröffentlichungen zu den Vereinigten Staaten und der amerikanischen Zuckerproduktion geäußert hatte. 1891 stellte Paasche noch fest, Amerika befinde 92 Nur jeweils einer der Abgeordneten der Konservativen, der Polen, des Zentrums und des agrarischen Flügels der Nationalliberalen sprach sich für die Annahme des Antrages aus. Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 3.Sess. 13.3.1895, Bd.2 S. 1443-1465. Der Antrag selbst war bei den Nationalliberalen höchst umstritten. Der industriell dominierte Flügel der Nationalliberalen Partei, unterstützt von Industrieverbänden, sprach sich gegen ihn aus. Der Abgeordnete Theodor Möller betonte, dass Herrnsheim diesen Antrag nicht in Absprache mit der Reichstagsfraktion eingebracht habe. Die Industrieverbände argumentierten, dass der Handel mit Lateinamerika geradezu panamerikanische Tendenzen verhindere. Ebd., 9. Leg. 3.Sess. 14.3.1895, Bd.2 S. 1467-1471. Im Handbuch der Nationalliberalen Partei wird ausdrücklich hingewiesen, dass nach Ansicht der Nationalliberalen Partei der Antrag den Zweck hatte, allen Meistbegünstigungsverträgen bis auf den mit den Vereinigten Staaten ein zeitliches Ende zu setzen. Vgl. Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, Hrsg. von Mitgliedern der Nationalliberalen Partei, Berlin, 1897, S.359. Zu Herrnsheim vgl. Kriegbaum, Günther, Die parlamentarische Tätigkeit des Freiherrn C.W. Heyl zu Herrnsheim, Meisenheim, 1962, S. 102 ff. 93 Paasche war unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender der Rositzer Zuckerraffinerie AG, der Howaldt-Werft und der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik. Vgl. Jaeger, Hans, Unternehmer in der deutschen Politik 1890-1918, Bonn, 1967, S. 38.
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sich in der Zuckerproduktion nicht auf der Höhe der Zeit, gleichzeitig glaubte er aber das Potenzial und die Wachstumsaussichten der amerikanischen Zuckerproduktion zu erkennen. Sein Fazit lautete, die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika sind der große Zuckermarkt der Zukunft, so wie sie auf allen Gebieten der Wirtschaft berufen sind, in wenigen Jahren das entscheidende Wort zu sprechen.94 Seine momentane Begeisterung für die Zukunftsaussichten der Vereinigten Staaten auf dem Zuckermarkt gab Paasche nach seiner Amerikareise im Jahre 1894 auf. Das Ergebnis seiner Studien stellte der amerikanischen Zuckerindustrie kein gutes Zeugnis aus. Die amerikanische Zuckerindustrie, so seine Schlussfolgerung, werde in absehbarer Zeit aufgrund der kostspieligen Betriebe, der hohen Löhne und Produktionskosten sowie der schwierigen Bodenverhältnisse auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sein. Zudem schade der Schutzzoll der Produktion, denn nur die Zwischenhändler und die kapitalistischen Gesellschaften verdienten das Geld, nicht die Bauern; die Landwirtschaft werde an den durch hohe Zölle verteuerten Industrieprodukten leiden, sie bekomme keine Arbeitskräfte und habe die Abwanderung der Landbevölkerung in die Stadt zu verkraften. Dies seien, so Paasches abschließendes Urteil, keine Voraussetzungen für landwirtschaftliche Hochkulturen, die mit alten dicht bevölkerten Kulturstaaten in Wettbewerb treten könnten.95 Paasches Skepsis gegenüber den Zukunftsaussichten des amerikanischen Zuckermarktes brachte ihn nicht davon ab, aktiv gegen die handelspolitischen Voraussetzungen der Ausfuhr des deutschen Zuckers vorzugehen. Am 14.12.1894 brachte er zusammen mit dem Fraktionskollegen Friedberg eine Interpellation zur Änderung des Zuckersteuergesetzes im Reichstag ein. Friedberg war der einzige Nationalliberale, der sich den Rufen der Konservativen nach einem Zollkrieg anschloss.96 Die Zuckersteuer sollte, falls der Wilson-Tarif nicht geändert werde, gesenkt werden, damit eine bessere Handelsgrundlage geschaffen werde. 97 94 Paasche, wie auch andere, Zuckerproduzenten der Nationalliberalen Partei z. B. Friedberg, forcierten steuerliche Maßnahmen zur Unterstützung der Zuckerausfuhr. Paasche wollte eine Verbrauchsabgabe von 2 Mark und eine entsprechende Erhöhung der Ausfuhrprämien. Vgl. Paasche, Hermann, Zuckerproduktion und Zuckerhandel der Welt, Jena, 1891, S. 306 und S.424. 95 Paasche, Hermann, Kultur- und Reiseskizze aus Nord- und Mittelamerika. Entworfen auf einer zum Studium der Zuckerindustrie unternommenen Reise, Magdeburg, 1894, S. 86 und S.99. 96 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 3.Sess. 14.12.1894, Bd. 1 S. 107-126. Die Gründung des BdL wirkte sich auch in der Nationalliberalen Partei auf ihre Haltung zur Agrarpolitik aus. In der Literatur wird zum Teil von einer Wende in der Haltung der Nationalliberalen Partei zur Zuckerindustrie gesprochen und von „disastrous inroads", die der BdL in die Nationalliberale Partei brachte. Vgl. Vascik, George S., Rural politics and Sugar in Germany. A Comprehensive Study of the National Liberal party in Hanover and Prussian Saxony, 1871-1914, Ann Arbor, 1989, S. 188 und Mundle, Frederick G., The German National Liberal Party, 1900-1914. Political Revival and Resistance to Change, Illinois, 1975, S.27. 97 Paasche im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. l.Sess. 14.12.1894, Bd. 1 S. 107. Auch wenn Paasche sich den Forderungen der Agrarier nach höheren Zollsätzen anschloss und die Differenzierung des deutschen Zuckers beklagte, so bestritt er doch einige Jah-
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Die Attacken der Deutschkonservativen und Nationalliberalen auf den neuen amerikanischen Tarif und das von ihnen gezeichnete Szenario der Bedrohung der deutschen Landwirtschaft provozierten Reaktionen seitens der Linksliberalen und Sozialdemokraten. Die Sozialdemokraten blieben auch bei diesem neuen Tarif ihrer Linie treu. In ihrer Funktion als Vertreter der Arbeiterklasse prangerten sie den amerikanischen Protektionismus zwar an, kämpften aber gleichzeitig gegen eine Erhöhung der deutschen Zölle oder gar den Ausstieg aus dem Meistbegünstigungsverhältnis, da dies den Lebensverhältnissen der Arbeiter schaden werde. Den Nutzen, den die Sozialdemokraten in einem gut funktionierenden deutsch-amerikanischen Verhältnis sahen, war die Versorgung Deutschlands mit billigen amerikanischen Nahrungsmitteln. Diese praktische Überlegung hatte zur Folge, dass die Sozialdemokraten jegliche Vergeltungsmaßnahmen gegen die Vereinigten Staaten ablehnten. Das Argument, ein gutes wirtschaftspolitisches Verhältnis zu Amerika trage zu einem besseren Lebensstandard der Arbeiter bei, zog sich durch alle wirtschaftspolitischen Debatten in Bezug auf Amerika durch. Freilich teilten sie ebenso wenig die Einschätzung von der „katastrophalen" Lage der deutschen Landwirtschaft aufgrund der amerikanischen Konkurrenz. 98 Auf den eifrigsten Widerspruch stießen die Vorschläge konservativer und nationalliberaler Abgeordneter bei den Linksliberalen. Eugen Richter versuchte das Augenmerk von den Detailfragen zwischen Deutschland und Amerika auf das gesamte deutsch-amerikanische Verhältnis zu lenken, indem er von der übergeordneten Wichtigkeit der Beziehungen sprach, im Gegensatz zu den geringeren Auseinandersetzungen in Einzelfragen. Für Richter, wie für viele andere Linksliberale, war ein gutes deutsch-amerikanisches Verhältnis eine Voraussetzung für einen florierenden Handel. Nach Paasches Vorschlag verteidigte Richter den amerikanischen Zoll als harmlos und betonte die Bedeutung der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Seiner Ansicht nach könne der amerikanische Differentialzoll die deutschen Zuckerpreise gar nicht beeinflussen, da der deutsche Zuckerbau vollständig durch Zölle geschützt sei. Richter sprach den Vereinigten Staaten das Recht zu, sich durch Ausfuhrprämien bzw. Differentialzölle die Autonomie der eigenen Gesetzgebung gegen Maßnahmen anderer Staaten zu sichern und warnte vor einem Wettlauf der gegenseitigen Zollerhöhungen. Richter erkannte durchaus an, dass der deutsche Zucker sich nur schwer auf dem amerikanischen Markt behaupten könne, dennoch maß er dem gesamten Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika eine viel größere Bere später, dass der Rückgang der Einfuhr deutschen Zuckers in die Vereinigten Staaten alleine auf den amerikanischen Zoll zurückzuführen sei, und dass sie seit 1898 wieder ansteigen könne. Man müsse sich jedoch endgültig von der Vorstellung lösen, Europa könnte den amerikanischen Zuckerbedarf decken. Paasche, Hermann, Die Zuckerproduktion der Welt. Ihre wirtschaftliche Bedeutung und staatliche Belastung, Leipzig, 1905, S.89. 98 Der sozialdemokratische Abgeordnete Wurm führte eine Reihe von Nahrungsmitteln auf, wie Honig, Margarine, Kakaobutter, die dank des bestehenden Meistbegünstigungsverhältnisses in Deutschland billig erworben werden könnten. Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 3.Sess. 22.1.1895, Bd. 1 S. 472.
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deutung bei als den Interessen der deutschen Zuckerproduzenten. Wie Richter meinte, sei bei allen Maßnahmen gegenüber Amerika nicht nur das Verhältnis der Zuckerindustrie, sondern das Gesamtverhältnis zu Amerika zu berücksichtigen, im Vergleich zu dem die Interessen der Zuckerindustrie nur einen minimalen Bruchteil ausmachen würden." Auch die Freisinnige Vereinigung Theodor Barths hegte großes Interesse an einem florierenden Handel mit den Vereinigten Staaten. Viele der Mitglieder und Anhänger der Partei waren im Außenhandel involviert und profitierten von einem gut funktionierenden Warenverkehr mit den Vereinigten Staaten. Kurz nach der Machtübernahme durch Cleveland wuchs in linksliberalen Kreisen die Hoffnung, dass es keine Rückkehr zum Protektionismus und keine neuen McKinley-Tarif geben werde. 1 0 0 Auch wenn sich die Hoffnungen der Linksliberalen auf wesentliche Zollsenkungen seitens der Amerikaner nicht erfüllten, stellten sie sich doch gegen die Forderungen der Agrarier der Deutschkonservativen und der Nationalliberalen Partei nach härterem Vorgehen gegenüber den Vereinigten Staaten. Barth fasste die seiner Meinung nach wahren Gründe der agrarischen Forderungen gegenüber Amerika zusammen: „Heute verlangt man Schutzzölle im wesentlichen, um Konkurrenzartikel bekämpfen zu können, die durch rationelleres Verfahren hergestellt werden können." Damit spielte Barth auf die arbeitstechnische Entwicklung und die rasche Umstellung der Arbeitsweisen in Amerika auf moderne, rationelle Methoden an. Eine Sichtweise, die auch außerhalb des linksliberalen Spektrums geteilt wurde. 101 Die tatsächliche Lage des deutsch-amerikanischen Handelsverkehrs war den linksliberalen Sprechern nicht unbekannt. Georg Gotheim, ein linksliberaler Ökonomieprofessor, ließ keinen Zweifel aufkommen, dass der Druck auf den deutschen Zucker auf dem Weltmarkt mit dem Aufstieg der amerikanischen Zuckerindustrie 99 Verhandlungen des Reichstags. 9. Leg. 3. Sess. 14.12.1894, Bd. 1 S. 117 und 9. Leg. 4. Sess. 10.12.1895, Bd. 1. S. 34. Auch Rickert von den Linksliberalen, ebd., S. 54. Paasche und Friedberg brachten eine Interpellation ein, die nachfragte, wie die Reichsregierung beabsichtige, die durch das Ausland durch Besteuerungsformen dem deutschen Zuckerbau zugefügten Schädigungen zu beseitigen. Die von den Zuckerproduzenten, darunter Paasche, erhofften steuerlichen Begünstigungen lehnte die Reichsregierung ab. Ebd., S. 107-137. 100 So der Kommentar Barths in der Nation ders., Umsturz in Amerika, in: Die Nation, Nr. 6, 6.10.1894, Bd.12S.73. 101 Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 3. Sess. 22.1.1895, Bd. 1 S.514. Bereits vor der Diskussion um die „amerikanische Gefahr" berichteten Amerikareisende über industriellen Fortschritt und die steigende Industrieproduktion in Amerika. Z.B. der Mitarbeiter der Kreuzzeitung Johannes Hoffmann oder der österreichische Konsul und Schriftsteller Ernst HesseWartegg. Vgl. Hoffmann, Johannes, Amerikanische Bilder. Eindrücke eines Deutschen in Nord-Amerika, Berlin, 1893, S.90 und Hesse-Wartegg, Ernst, Amerika als neueste Weltmacht der Industrie. Neue Bilder aus Handel, Industrie und Verkehr in den Vereinigten Staaten, Stuttgart, 1890, S. 189-194. Bereits kurz nach dem Sieg Harrisons im Präsidentschaftswahlkampf von 1888, äußerte Barth die Hoffnung, dass die „Gegner der Handelsfreiheit" in Amerika lediglich einen „Pyrrhussieg" errungen hätten, und dass der Kampf zwischen Freihandel und Schutzzoll weitergehe. Vgl. Barth, Die Präsidentenwahl und die Zollpolitik, S.4.
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zusammenhänge. Höhere Zölle gegenüber den Vereinigten Staaten waren für ihn aber keine Methode, den steigernden Preisen zu begegnen. Diese kämen ausschließlich den landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetrieben zugute, und nicht den zahlenmäßig häufiger existierenden kleineren Bauernhöfen. Zudem sei der Aufschwung der deutschen Industrie nicht den Schutzzöllen zu verdanken. Der Freihandel, so sein Hauptargument, werde die Preise von alleine regeln, weil er die natürlichste Handelspolitik sei. 102 Die deutschen Interessen sollten, wie Barth es formulierte, in einer zu den Forderungen der Konservativen gegensätzlichen Weise erfüllt werden. Barths Idealvorstellung von Amerika zentrierte sich auf ein parlamentarisch-republikanisches und freihändlerisch gesinntes Land. In seinen Aussagen zog er stets eine Linie zwischen dem Amerika, das ihm zusagte und dem anderen, das er ablehnte. Er betonte immer, Deutschland müsse auf sanfte Weise versuchen sich mit den Amerikanern zu arrangieren, um den Schutzzöllnern in Amerika keinen Grund zu bieten, die Zollschraube weiter nach oben zu drehen. Barths Glaube an das Amerika des Freihandels ließ in ihm die Hoffnung wachsen, dass Deutschland von den Vereinigten Staaten in gleicher Weise behandelt werde, wie die anderen am Zuckerimport interessierten Länder. Dies entspreche der Meistbegünstigung, alles andere von deutscher Seite aus zu verlangen, wäre eine politische Torheit ersten Ranges und würde jeder rechtlichen Grundlage entbehren. 103 In den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts stellt der Wilson-Tarif nur eine Zwischenepisode dar. In der Wahrnehmung der Parteien nahm er ebenfalls keinen übergeordneten Rang ein. Er traf jedoch eine mächtige Interessengruppe in Deutschland, die Landwirtschaft, da insbesondere die Zuckerindustrie, und verschärfte den Eindruck eines „aggressiven amerikanischen Konkurrenten". In der Entwicklung der Wahrnehmung der Vereinigten Staaten als einer aufsteigenden Macht markierte er nach dem McKinley-Tarif einen weiteren Fixpunkt in der Beweiskette der Amerikagegner, dass die Vereinigten Staaten ihre Macht „unfair" ausspielten, sich nicht an Verträge hielten und eine ernsthafte Bedrohung für das deutsche Wirtschaftsleben darstellten. Die Vorwürfe an die Adresse der Vereinigten Staaten und die Vorstellung, Amerikas Wirtschaftspolitik werde von der „Wucherei des Geldsacks" bestimmt, klang zwar im Vergleich zu den Äußerungen zum McKinley-Tarif etwas ab, der Eindruck aber, Amerika entwickle sich zu einer wirtschaftlichen Bedrohung für Deutschland, verfestigte sich.
102 Gotheim, Georg, Der deutsche Außenhandel. Materialien und Betrachtungen, Berlin, 1901, S. 12 und S. 64. Ders.. Die Wirkung des Schutzzollsystems in Deutschland. Berlin, 1909, S.5-26. Ders., Agrarpolitisches Handbuch, Berlin, 1910. S.333 und ders., Die Wirkung des Schutzzollsystems in Deutschland, Berlin, 1909, S.5-26. 103 Barth in der Nation. Ders., Politische Wochenschrift, in: Die Nation, Nr. 42, 21.6.1894, Bd. 11 S.42.
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3. Der Dingley-Tarif Im Jahre 1896 fanden in den Vereinigten Staaten Präsidentschafts wählen statt. Der Republikaner McKinley, auf dessen Initiative der im Deutschen Kaiserreich so hart umkämpfte und nach ihm benannte Zolltarif zurückging, gewann sie mit klarer Mehrheit. 104 Nach dem kurzen Ausflug der Demokraten in den Freihandel, brachten der Sieg McKinleys und die republikanische Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses die amerikanische Außenhandelspolitik wieder auf den Kurs einer strikten Schutzzollpolitik. Bereits in den Wahlkämpfen des Jahres 1896, wie Ernst Halle die deutsche Öffentlichkeit über dieses Thema zu informieren versuchte, war für die Beobachter in Deutschland der Kern der republikanischen Handelspolitik klar ersichtlich: die Wiederaufnahme der Hochschutzzollpolitik, der Meistbegünstigungsverträge und der „Diskriminierungszölle" mit scharfer panamerikanischer Tendenz.105 Bald nach den Wahlen setzte der Kongress eine Sonderkommission ein, die den bis dahinrigorosesten Schutzzoll ausarbeitete, der den Höhepunkt des amerikanischen Protektionismus darstellte: der Dingley-Tarif führte das Prinzip der Reziprozität wieder ein, er verdoppelte den Zuckerzoll und ließ die Höhe der Einfuhrzölle auf ungefähr 57 % steigen. In den Wahlkämpfen argumentierten die Republikaner, durch die neuen Zölle werde der Wirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten Einhalt geboten werden, und die Zölle würden den amerikanischen Markt vor internationaler Konkurrenz schützen können. Nicht zuletzt spielten sie mit der Angst, die europäischen Arbeitsverhältnisse, wie der übermäßig lange Arbeitstag und die im Vergleich zu den Vereinigten Staaten relativ niedrigen Löhne, würden durch eine Öffnung der heimischen Märkte in Amerika Einzug halten. Die Wahlpropaganda der Republikaner konnte jedoch nicht die eigentliche Zielsetzung der hohen Schutzzölle verdecken. Mächtige Interessengruppen, wie die Zuckerindustrie oder die herstellende Industrie, hofften auf diese Weise lästige Konkurrenten vom amerikanischen Markt fern zu halten.106 Besonders schädlich für Deutschland wirkte sich der neue Tarif auf den Export von industriellen und landwirtschaftlichen Produkten aus. Auf der anderen Seite gewährte Deutschland den Vereinigten Staaten weiterhin die Meistbegünstigung. Der neue Tarif verletzte zwar nach Auffassung der Reichsregie-
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Zum Ergebnis der Wahlen vgl. Heideking (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten, S.455 und S. 459. 105 Für Halle war es daher wichtig, dass der Freihändler Cleveland wiedergewählt wurde. Halle konstatierte und bedauerte des Weiteren, dass die Zeit der nationalen, gar der kontinentalen Politik vorüber sei, und dass bei einem gemeinsamen europäischen Vorgehen gegen den McKinley-Tarif, viel Schlimmes hätte verhindert werden können. Vgl. Halle, Ernst, Das Interesse Deutschlands an der amerikanischen Präsidentenwahl, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 20 (1896), S. 264-267 und S.272. 106 Die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten stieg von 1893 bis 1897 auf 20%, über 600 Banken mussten Bankrott anmelden. Die wirtschaftliche Krise wirkte sich jedoch aufgrund der weitgehend ländlichen Struktur Amerikas nicht so frappierend aus, wie sie gerne in den Wahlkämpfen dargestellt wurde. Auch in der Außenwirtschaft litt die amerikanische Konkurrenzfähigkeit nicht darunter. Vgl. Jonas, The United States and Germany, S.49.
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rung das Meistbegünstigungsverhältnis und das Saratoga-Abkommen, außer förmlichen Protesten fehlten der Reichsleitung jedoch geeignete Gegenmaßnahmen. 107 In der deutschen Öffentlichkeit verstärkte der Dingley-Tarif den Eindruck, Amerika betreibe nun aufgrund der Reziprozität umso mehr eine gezielte Politik des „America for the Americans". 1 0 8 Für viele Kommentatoren in Deutschland war mit dem Erlass des Dingley-Tarifs der Weg in eine handelspolitische, kriegsähnliche Auseinandersetzung geebnet. Die Republikaner würden nach einem eventuellen Wahlsieg die Monroe-Doktrin auf das wirtschaftliche Gebiet übertragen, den Hochschutzzoll wiedereinführen und die Reziprozitätspolitik verstärken. 109 Zudem werde der neue Tarif nicht nur die Handelsinteressen Deutschlands in Lateinamerika schädigen, sondern auch den Außenhandel insgesamt und die heimische Industrie. Der Vorsitzende des Centraiverbandes Deutscher Industriellen Axel Bueck sprach von einer Vergewaltigung der bestehenden Verträge durch die Vereinigten Staaten. 1 1 0 Organe der Landwirtschaft und der Schwerindustrie riefen offen zum Zollkrieg mit den Vereinigten Staaten auf. Sie protestierten gegen die Einschränkungen
107 Der Dingley-Tarif brachte die verschiedenen Auffassungen von Meistbegünstigung zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten zutage. Für die Reichsleitung bedeutete Meistbegünstigung die unbedingte Gleichberechtigung im Anspruch gegen dritte, wie in der Gewährung gegen sich selbst, für Amerika war der Anspruch dagegen nur bedingt. Trotz der unterschiedlichen Auffassungen der Meistbegünstigung wurde sie rechtlich nicht verletzt, es bestand also keine Möglichkeit für die Reichsregierung, bis auf das Protestieren gegen den Dingley-Tarif Einspruch zu erheben. Marschall macht im Namen der Reichsleitung klar, dass der Dingley-Tarif die Meistbegünstigung nicht verletze, und dass daher keine rechtliche Handhabe gegen die Vereinigten Staaten bestehe. Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 4. Sess. 3.5.1897, Bd. 4 S. 5706-5709 und Crouse, The Decline of German-American Friendship, S.314. 108 Die panamerikanische Stoßrichtung des neuen amerikanischen Tarifs zeigte bereits vor seinem In-Kraft-Treten Wirkung. Im Verlaufe des Jahres 1896 und in der Erwartung des bevorstehenden Wahlsieges der Republikaner kündigten mehrere lateinamerikanische Staaten ihre Handelsverträge mit Deutschland, um in den Genuss der zollfreien Einfuhr von Kaffee in die Vereinigten Staaten zu kommen. Chile hatte den Vertrag von 1862 zum 27.8.1896 gekündigt, es folgten Santo Domingo, Uruguay und Costa Rica. Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 283. 109 Z. B. Francke, Emst, Zollpolitische Einigungsbestrebungen in Mitteleuropa während des letzten Jahrzehnts. Schriften des Vereins Socialpolitik, Bd. 90 Leipzig, 1900, S. 189ff. oder Borgius, Walther, Deutschland und die Vereinigten Staaten: Ein handelspolitischer Rückblick bei Eröffnung des Internationalen Handelskongresses zu Philadelphia, Berlin, 1899, S. 15 ff. 110 Bueck, Henry Axel, Der Centraiverband Deutscher Industrieller und seine dreißigjährige Arbeit von 1876 bis 1906, Bd. 1 Berlin, 1906, S.530. Die handelspolitische Literatur dieser Zeit wurde von der Vorstellung „Amerika den Amerikanern" bzw. in der zugespitzten Form „Amerika den Nordamerikanern" bestimmt. Viele Autoren bezogen sich auf den Ersten Panamerikanischen Kongress von 1889. Sie betonten die Ansicht der Nordamerikaner, da vor allem der Republikanischen Partei, die Völker Lateinamerikas unter nordamerikanischer Führung zu vereinigen, um die wirtschaftliche Einverleibung Lateinamerikas voranzutreiben und den nordamerikanischen Führungsanspruch zu festigen. Z.B. Annecke, Die Lage der Landwirtschaft, S. 542. Waltershausen, Sartorius, Deutschland und die Handelspolitik der Vereinigten Staaten, Berlin, 1898, S.82 oder Dehn, Paul, Kommende Weltwirtschaftspolitik, Berlin, 1898, S.50.
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der deutschen Zuckerexporte, die amerikanische Konkurrenz bei Fleischimporten sowie die amerikanische Eisen- und Stahlindustrie. 111 Die vorausgegangen amerikanischen Tarife trafen bestimmte Partikularinteressen in Deutschland, so war auch die Reaktion der betroffenen Interessengruppen in Deutschland am heftigsten ausgefallen. Grundsätzliche Einstellungen zu Amerika und ideologische Ressentiments waren ebenfalls zu vernehmen, es konnte sich aber keine breite antiamerikanische Front bilden. Daneben war seit 1890 immer häufiger eine Wahrnehmung der Bedrohung durch die kontinuierlich wachsende amerikanische Konkurrenz festzustellen, zumeist beschränkte sie sich jedoch auf die von der amerikanischen Wirtschaftspolitik betroffenen Interessengruppen. Nach dem Erlass des Dingley-Tarifs erfasste die Sichtweise von der Bedrohung durch die amerikanische Konkurrenz auch manchen der proamerikanischen Parteienvertreter. Der Kreis der Amerikagegner erweiterte sich mit der Zunahme der betroffenen Interessengruppen in Deutschland. Waren es bis dahin die konservativen Parteien mit den Agrariern an der Spitze, die vor der amerikanischen Konkurrenz warnten, schlossen sich nun weite Teile der Nationalliberalen Partei als Vertreter der Schwerindustrie dieser Sichtweise an. Insofern übernahm der Dingley-Tarif auch die Funktion des gemeinsamen Feindes, der eine Allianz zweier unterschiedlicher Partner ermöglichte. Von diesen beiden Parteien sind die schärfsten Verurteilungen der amerikanischen Handelspolitik ausgegangen. Sie entwarfen ein Szenario der Bedrohung nicht nur für die Landwirtschaft und die Industrie, sondern für das gesamte Wirtschaftsleben in Deutschland. Ihre Angriffe gegen Amerika untermalten sie mit Bildern eines stetig wachsenden Riesen, der begünstigt durch eine „unfaire" vertragliche Grundlage sein Augenmerk nun auf Deutschland gerichtet habe. Dem Gespenst der panamerikanischen Bewegung und der Sorge vor einem direkten wirtschaftlichen Angriff auf Deutschland konnte ihrer Ansicht nach nur durch eine grundlegende Änderung der vertraglichen Handelsbasis zwischen Deutschland und Amerika und mit scharfen Gegenmaßnahmen bis hin zum Zollkrieg begegnet werden. Die Konservativen und die Nationalliberale Partei empfanden die amerikanische Bedrohung am klarsten, aber auch die übrigen Parteien konnten sich der allgemeinen Wahrnehmung der amerikanischen Konkurrenz nicht entziehen. Fast schon traditionell lavierte das Zentrum zwischen scharfer Verurteilung und gemäßigteren Tönen. Industrielle und agrarische Zentrumsvertreter setzten sich zwar rhetorisch nicht an die Spitze der Amerikagegner, in der Sache aber neigten sie durchaus zu ähnlichen Mitteln zur Abwehr der amerikanischen Konkurrenz. Schließlich war die Wirkung des Dingley-Tarifs so groß, dass auch die traditionell um Ausgleich mit Amerika in Wirtschaftsfragen bemühten Sozialdemokraten und Linksliberalen kritische111 Z.B. Die Deutsche Volkswirtschaftliche Correnspondenz, Zollkrieg, Nr.85,29.10.1897. Nr. 61, 6.8.1897 und Korrespondenz des Bundes der Landwirte, Nr. 28, 13.4.1897 zit. nach Hallgarten, Georg W., Imperialismus vor 1914, Bd. 1 München, 1951, S.390 und S.429. Auch diverse Industriezweige, wie die Fahrradindustrie, wurden von der Stimmung nach Zollerhöhungen erfasst. Vgl. Tischert, Georg, Zollpolitische Interessenkämpfe, Berlin, 1900, S. 156.
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re Töne anschlugen. So opponierte der traditionell proamerikanische Kaufmannsstand und die exportorientierten Produzenten der Hansestädte, die ihre Interessen weitgehend in den linksliberalen Parteien vertreten sahen, gegen Amerika, ohne aber völlig auf Konfrontationskurs zu den Vereinigten Staaten zu gehen.112 Aber auch aus den Reihen der Sozialdemokraten häuften sich Stimmen, die die Parteilinie des wirtschaftlichen Ausgleichs mit den Vereinigten Staaten in Zweifel zogen. Den von Amerika zugeworfenen Fehdehandschuh, so die Wahrnehmung, hoben als erstes Konservative und Nationalliberale auf. Viel stärker einte nun die amerikanische Tarifpolitik die ohnehin Vergeltungsmaßnahmen fordernden Konservativen mit weiten Teilen der Nationalliberalen, die nun den Konkurrenzdruck der Vereinigten Staaten in ihren wirtschaftlichen Interessen immer deutlicher spürten. Der gemeinsame Feind ermöglichte es beiden, eine gemeinsame Linie in Zollfragen zu fahren. Die neue Konstellation im deutschen Wirtschaftsleben hatte ihren Ursprung jedoch nicht im Erlass des Dingley-Tarifs, er lieferte den Hauptkontrahenten der Konservativen und der Nationalliberalen aber zusätzliche Argumente. 113 Nachdem das „Kartell der schaffenden Stände" in der Auseinandersetzung um die Handelspolitik Caprivis auseinander gebrochen war, entfernten sich die Industriellen der Nationalliberalen Partei von den Forderungen der Agrarier; den deutlichsten Ausdruck der Kluft zwischen beiden Gruppen demonstrierte die Absage der Schwerindustrie an die „Großen Mittel" von Kanitz. Personelle Verbindungen beider Interessenlager bestanden jedoch nach wie vor. Abgeordnete wie Wilhelm von Kardorff von den Freikonservativen oder Heyl zu Herrnsheim und Hermann Paasche von den Nationalliberalen waren sowohl Agrarier als auch Industrielle. 114 Die Agrarier hatten nun 112 Nach den andauernden Aufrufen der konservativen und zum Teil der nationalliberalen Presse zum Zollkrieg mit den Vereinigten Staaten schickten die linksliberalen Fraktionen ihren Kollegen Freese, um im Auswärtigen Amt vorzusprechen und die Reichsregierung zu bitten, nicht einmal mit diesem Gedanken zu spielen. Freese sprach davon, dass die Kosten eines Zollkrieges von der deutschen Industrie und sogar Landwirtschaft getragen werden müssten, da Deutschland amerikanische Artikel wie Baumwolle oder Petroleum gar nicht entbehren oder woanders her beziehen könne. Weiterhin könne Deutschland die amerikanischen Gegenmaßnahmen, wie Einführung von Tonnengeldern auf deutsche Schiffe oder von Differentialzöllen auf in deutschen Schiffen beförderte Waren, nicht auffangen oder ihnen durch Repressalien entgegenwirken, damit würden deutsche Schiffe den englischen gegenüber konkurrenzunfähig werden. Die Reichsregierung dachte zu keinem Zeitpunkt an ein solches Vorgehen. Vgl. Pommerin,, Der Kaiser und Amerika, S. 196 und Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S. 169. 113 Am 25.9.1897 kam es im Reichsamt des Inneren zur konstituierenden Versammlung des Wirtschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung handelspolitischer Maßnahmen. 15 Mitglieder aus dem CVDI, dem Deutschen Handelstag, dem Deutschen Landwirtschaftsrat, und 15 Regierungsmitglieder nahmen daran Teil. Der Dingley-Tarif war eines der Hauptthemen. Vgl. Stegman, Die Erben Bismarcks, S.65. 1,4 Bueck, der Vorsitzende des CVDI, näherte seine Position der „gemäßigten Zölle" derjenigen der Agrarier an, indem er auf dem Delegiertentag der Nationalliberalen Partei erklärte, dass höherer Schutz der Landwirtschaft angemessen sei. Vgl. Allgemeiner Delegiertentag der Nationalliberalen Partei. 16.10.1896 in: Flugschriften der Nationalliberalen Partei, 17 (1896), S. 73. Auf der anderen Seite hatte die Partei starke Verbindungen zur Stahl- und Eisenindustrie.
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die Argumente, um die Gefolgschaft der Schwerindustrie auf ihre Seite zu ziehen, die hohen Zolltarife und die Ausbreitung des amerikanischen Einflusses durch Reziprozität auf Lateinamerika und damit eine Schädigung der deutschen Ausfuhren. 115 Seitens der Industriellen wuchs die Furcht vor einer weiteren Konkurrenz auf dem Weltmarkt und dem heimischen Markt durch die Vereinigten Staaten. Der Centraiverband Deutscher Industriellen, der bereits seit 1890 Amerika als den eigentlichen Gegner Deutschlands in Wirtschaftsfragen betrachtete, sah die Textilindustrie, Fertigware und Grundstoffe wie Eisen und Kohle durch den Dingley-Tarif gefährdet. Aber auch im Bund der Industriellen beseitigte der Dingley-Tarif die verbandsinternen Differenzen zwischen Freihandels- und Schutzzollprinzip zugunsten des Schutzzolles und einer Annäherung an die „Sammlungspolitik".116 a) Meistbegünstigung und die südamerikanischen Märkte Die neue antiamerikanische Front und die Annäherung zwischen den Nationalliberalen und den Konservativen in der Haltung zur amerikanischen Wirtschaftspolitik kamen durch eine Interpellation in einer von Kanitz initiierten Debatte im Reichstag offen zutage. Beide Fraktionen nutzten diesen Anlass, um erneut Angriffe gegen das Meistbegünstigungsverhältnis und das Saratoga-Abkommen zu starten. Die Befürworter der Interpellation beschworen die „Solidarität der Industrie und Landwirtschaft" und die gemeinsame Front gegen die Vereinigten Staaten. Am 3.5.1897 brachten konservative und nationalliberale Abgeordnete eine Interpellation im Reichstag zur Beendigung des Meistbegünstigungsverhältnisses mit den Vereinigten Staaten ein. Kern dieser Interpellation der Abgeordneten, darunter Kanitz, Kardorff und Herrnsheim, war die Frage an die Reichsregierung, ob sie weiterhin beabsichtige an dem Notenaustausch vom 22.8.1891 festzuhalten, trotz der Verschärfung der Differenzierung des deutschen Zuckers seitens der Vereinigten Staaten.117 Neben den Die beiden Verbände Centraiverband Deutscher Industrieller und der Bund der Industriellen waren personell mit der Nationalliberalen Partei verknüpft, diese war auf ihre Spenden angewiesen. Wendlandt, der Vorsitzender des Bdl, war Mitglied der NLP, Paasche und Hammacher, zwei prominente Kritiker der amerikanischen Politik, gehörten dem CVDI an. Vgl. Mundle, The German National Liberal Party, S. 64. Ulimann, Der Bund der Industriellen, S. 166 und Jaeger, Hans, Unternehmer in der deutschen Politik 1890-1918, Bonn, 1967, S.38. 115 Andrew White berichtet ebenfalls von der feindseligen Einstellung der deutschen Öffentlichkeit nach dem Erlass des Dingley-Tarifs: „Amerika hat sich die zwei einflußreichsten Stände des Landes zu Gegnern gemacht, die Fabrikanten und die Landwirte." Vgl. White, Andrew, Aus meinem Diplomatenleben, Leipzig, 1906, S.266. 116 Der Dingley-Tarif förderte auch die Annäherung zwischen der Landwirtschaft und der Industrie in den Zolldebatten von 1902/03. Die amerikanische Außenhandelspolitik war nicht die alleinige Ursache für den temporären Ausgleich der Interessen beider Gruppen, auch strukturelle und wahltaktische Gründe spielten eine wichtige Rolle. Sie lieferte jedoch weitere Argumente, die deutsche Handelspolitik auf eine neue Basis zu stellen. Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 296 und Kaelble, Industrielle Interessenpolitik, S. 123. S. 139 und S. 163. 117 Nach den Sätzen des McKinley-Tarifs wurde der deutsche Zucker mit Zollsätzen bis zu 40 % belastet, obwohl ein Meistbegünstigungsverhältnis zwischen beiden Ländern weiterhin
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rein wirtschaftspolitischen Überlegungen im Handelsverhältnis zu den Vereinigten Staaten war die Debatte von einer verschärften Sprache gekennzeichnet. Die konservativen und nationalliberalen Redner drängten Amerika immer mehr in die Rolle eines „gewissenlosen Konkurrenten", der auf Vernichtung seiner Gegner aus sei; es gehe nicht mehr nur um Wirtschaftsfragen, sondern um die „Ehre" und „Verminderung einer Demütigung Deutschlands". Warnungen aus industriellen und agrarischen Kreisen, wie die des Agrariers Hahn vor der völligen „Verdrängung" Deutschlands aus internationalen Märkten und dem Verlust des heimischen Marktes, erhitzten zusätzlich die Gemüter. 118 Als diese Interpellation eingebracht wurde, befand sich der Dingley-Tarif in Amerika noch auf dem parlamentarischen Weg. Er war zwar bereits vom Präsidenten erlassen worden, stand jedoch noch zur Debatte im Senat an. Er war zwar somit noch nicht zum Gesetz geworden, unter den Parteien im Reichstag erwartete jedoch niemand, dass der Dingley-Tarif den Senat nicht passieren werde. Die Unterzeichner der Interpellation begründeten ihren Vorstoß mit der Notwendigkeit der Revidierung des vertraglichen Verhältnisses zu Amerika. Sie sahen nach den neuen amerikanischen Zollsätzen keine Grundlage für die weitere Gewährung der Meistbegünstigung seitens Deutschlands und verlangten die Einführung höherer Zölle gegenüber Amerika. Kanitz forderte im Namen der deutschen Industrie die Neugestaltung des wirtschaftspolitischen Verhältnisses zu Amerika. Er unterstellte den Amerikanern die Absicht, die europäischen Exporte durch diesen Tarif vom amerikanischen Markt verdrängen zu wollen. Kanitz bezweifelte, dass ein Meistbegünstigungsverhältnis zwischen Deutschland und Amerika jemals rechtlich wirklich bestanden habe und schlug, nach französischem Vorbild, ein Konzept der Minimal- und Maximalzölle vor, um den deutschen Markt zu schützen. Die Reichsregierung konfrontierte er mit dem Vorwurf einer zu lässigen Haltung gegenüber Amerika und sprach von einer „Demütigung" für Deutschland. Laut Kanitz könne und müsse Deutschland das Saratoga-Abkommen kündigen und wie Frankreich höhere Zölle auf bestimmte Artikel setzen, denn mit dem neuen Tarif falle die Reziprozität, die Voraussetzung für Meistbegünstigung, weg. Darüber hinaus könne Deutschland die bisher aus Ameribestand. Vgl. Eßlen, Joseph B, Die Fleischversorgung des Deutschen Reiches. Eine Untersuchung der Ursachen und Wirkungen der Fleischteuerung und der Mittel zur Abwehr, Stuttgart, 1912, S. 115 ff. 118 Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 4.Sess. 8.2.1897, Bd. 2 S. 4537. Hahn war von 1893 bis 1894 bei den Nationalliberalen, bis er aus der Fraktion ausgeschlossen wurde. Er schloss sich zunächst als Hospitant den Antisemiten an und wechselte schließlich 1897 zu den Deutschkonservativen. Hahn organisierte den BdL in Hannover und westlich der Elbe. Vgl. Vascik, George, Agrarian Interest in Wilhelmine Germany. Diederich Hahn and the Agrarian League, in: Retallack, James/Jones, Larry E. (Ed.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945. Providence/Oxford, 1993, S. 230-240 und Blaich, Fritz, Kartell- und Monopolpolitik im Kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf, 1973, S.86.
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ka bezogenen Erzeugnisse wie Petroleum oder Mais woanders her beziehen, z. B. aus Russland oder Ungarn. Auf der anderen Seite jedoch bestand Kanitz darauf, dass Zucker weiterhin zollfrei nach Amerika eingeführt werden könne. In seinen Vorschlägen sah er keine Gefahr für einen deutsch-amerikanischen Zollkrieg, rief aber vorsorglich nach einer gemeinsamen europäischen Reaktion und bezog sich auf den Mitteleuropagedanken des Kaisers. Die europäischen Staaten mögen doch Hand in Hand gehen, dann drohe ihnen keine Gefahr aus Amerika. 119 Auch der freikonservative Kardorff griff Amerika wegen seiner Auslegung des Meistbegünstigungsverhältnisses an und ließ eindeutige Warnungen an die Adresse der Vereinigten Staaten verlauten. Die Amerikaner sollten es sich überlegen, ob sie durch ihre Auslegung des Meistbegünstigungsvertrages sich das gute Vertrauen zu Deutschland in recht hohem Maße verscherzen wollten. 120 Kardorff ließ keinen Zweifel daran, dass seine Drohung in der Konsequenz auf einen Zollkrieg zwischen Deutschland und Amerika hinauslaufe. Wie viele Konservative, glaubte er aber wahrscheinlich nicht wirklich, dass es zu einem Zollkrieg kommen würde, da er die deutsche Verhandlungsbasis mit den Vereinigten Staaten als so gefestigt ansah, dass Deutschland mit seinen Forderungen über das im Saratoga-Abkommen Erreichte hinaus gehen könne. Auch der Führer der Freikonservativen Stumm-Hallberg pflichtete dem bei und unterstützte ebenfalls ein „energisches Vorgehen gegen die nordamerikanische Union"; die Herabsetzung Deutschlands und die unfaire Behandlung durch die Vereinigten Staaten könne man nur mit Repressalien beantworten, selbst wenn dadurch die Gefahr momentaner Verluste im Außenhandel bestehe. Stumm-Hallberg, der sich sonst mit derart harten Attacken gegen Amerika zurückhielt, beharrte am schärfsten auf der „Einhaltung der deutschen Ehre". 121 Die Reichsregierung weigerte sich jedoch, auf größere Zugeständnisse von amerikanischer Seite zu drängen 119 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5701 und S.5705. Zu Beginn des Jahres 1898 präsentierte Kanitz statistische Angaben, mit denen er den Rückgang der deutschen Handelsbilanz am Beispiel des Baumwollhandels gegenüber Amerika nachzeichnete. Ebd., 9. Leg. 5. Sess. 11.2.1898, Bd. 2. S.978. Eine genaue Analyse der Baumwollproduktion in den Vereinigten Staaten und des amerikanischen Baum Wollhandels liefert Halle. Halle, Ernst, Baumwollproduktion und Pflanzungswirtschaft in den Nordamerikanischen Südstaaten, Leipzig, 1897, S. 156-186. Zu Wilhelm II. und den Mitteleuropaplänen. Vgl. Fiebigvon Hase, Ragnhild, Die Rolle Kaiser Wilhelms II. in der deutsch-amerikanischen Beziehungen, 1890-1914, in: Röhl, John C. G. (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München, 1991, S. 227-237. 120 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5723. In einem Gespräch mit einem „anonymen Freund" aus Amerika zeigte sich Kardorff jedoch sehr aufgeschlossen gegenüber Amerika. Er offenbarte gar seine Sympathien mit dem Präsidentschaftskandidaten Bryan, der wie er selbst für eine Doppelwährung eintrat. Vgl. KardorffWilhelm, Ein Gespräch mit einem Nordamerikaner, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 3 (1902/1903), S.731. 121 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5713-5718. StummHallberg war allerdings nicht gegen die Handelspolitik Caprivis und geriet deswegen mit Kardorff in Konflikt. Zur Person Stumms und seinem Zwist mit Kardorff vgl. Hellwig, Fritz, Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, in: Naumann, Peter (Hrsg.), Saarländische Lebensbilder, Bd. 3 Saarbrücken, 1986, S. 153-198 und Alexander, Die Freikonservative Partei, S.214.
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oder gar das Meistbegünstigungsverhältnis zu beenden. Sie wollte sich mit dem vorläufig Erreichten zufrieden geben, um keine Verschlechterung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses zu riskieren. Neben der Absicht, die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen auf eine neue vertragliche Grundlage zu stellen, empörten sich die konservativen und nationalliberalen Abgeordneten über amerikanische „Chikanen" und „Unverfrorenheit" und sahen Deutschland in seiner Würde und Ehre verletzt. Der deutschkonservative Limburg-Stirum schätzte, genauso wie Kardorff, die wirtschaftspolitische Stellung Deutschlands gegenüber Amerika als gefestigt an, die Amerikaner hätten dasselbe Interesse mit Deutschland in guten Beziehungen zu stehen, dies werde Deutschland einen gewissen Handlungsspielraum einräumen. Vor diesem Hintergrund forderte Limburg-Stirum eine klare Antwort gegenüber Amerika. Diese müsse laut Limburg so weit gehen, dass die Amerikaner verstünden, dass man ihnen nicht hilflos gegenüberstehe und die eigenen Möglichkeiten bis hin zum Zollkrieg nutzen könne. Limburg-Stirum appellierte zugleich an das „nationale Selbstgefühl", das Deutschland nicht erlaube, sich eine solche Behandlung seitens der Amerikaner gefallen zu lassen. Da sei es besser, so Limburg-Stirum, mit einem mit Nachteilen verbundenen Zollkrieg zu antworten, als die ganze Welt zusehen zu lassen, was sich Deutschland gefallen lasse.122 Die Forderung nach einem Zollkrieg, um die „amerikanische Willkür" zu beenden, falls sich eine vertragliche Einigung nicht erreichen lasse, wurde naturgemäß von der konservativen Presse aufgegriffen. In der Kreuzzeitung teilte Hammerstein die große Empörung seiner Kollegen im Reichstag, dass Deutschland zu „gutmütig" sei, und dass es bis jetzt nicht verstanden habe, auf diese neue wirtschaftliche Herausforderung zu antworten. Damit war die in den Augen der Konservativen als zu lasch aufgefasste Haltung der Reichsleitung gemeint, die lediglich mit Protesten auf das „unerhörte Vorgehen" der Amerikaner reagiere. Zugleich wurde seitens der Kreuzzeitung die Gefahr des Ausbruchs eines Zollkrieges den Amerikanern angelastet, denn schließlich würden sie Verträge brechen, nicht Deutschland. Die „Schwäche der Deutschen", gegen die amerikanische „Vergewaltigungspolitik" nichts zu unternehmen, liege darin, so die Kommentare, dass sie offensichtliche Vertragsbrüche ohne Gegenwehr hinnähmen.123 In der Interpellation zur Beendigung des Meistbegünstigungsverhältnisses setzten die Redner der Nationalliberalen Partei, im Vergleich zu den deutschkonservativen Abgeordneten, einen anderen Schwerpunkt in ihren Angriffen auf die Vereinig122
Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd. 4 S.5724. In der Kreuzzeitung wurde die Bedeutung der deutschen Landwirtschaft für das Gemeinwohl und ihre Gefährdung durch Amerika immer wieder betont. Z.B. Kreuzzeitung. Nr. 105, 8.4.1897, Nr. 199,30.4.1897 und Nr. 269,10.8.1897. Auch namhafte Ökonomen thematisierten einen stärkeren Schutz der deutschen Landwirtschaft durch die Reichsregierung. Z. B. Fisk, Die Handelspolitik der Vereinigten Staaten und Lötz, Der Schutz der deutschen Landwirtschaft, S. 5 und S. 55 ff. 123
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ten Staaten. Der Einfluss des Bundes der Landwirte auf die Politik der Nationalliberalen Partei nahm bereits sichtbare Konturen an, vor allem in ihrer Haltung zur deutschen Zuckerindustrie und zur Meistbegünstigung.124 So veröffentlichte der Zentralvorstand der Nationalliberalen Partei im März 1898 eine Erklärung, die von Abschlüssen neuer Handelsverträge mit unbeschränkten Meistbegünstigungsverhältnissen ohne Konzessionen und Entgelt dringend abriet. 125 Dies galt auch für Amerika, vor allem weil, Amerika die Meistbegünstigung ohnehin verletze und Deutschland wie im Saratoga-Abkommen lediglich Zugeständnisse mache, wie Herrnsheim ausführte. In seinen Beiträgen im Reichstag nahm Herrnsheim jedoch in erster Linie die panamerikanische Bewegung als eine mögliche Bedrohung deutscher Interessen ins Visier. Amerika greife in Form eines Zollvereins auf Südamerika hinüber, um eine panamerikanische Zollunion ins Leben zu rufen. Es bestehe daher kein Zweifel, so Herrnsheim, dass Amerika noch gefährlicher werde. Auch wenn sich die panamerikanischen Bemühungen der Vereinigten Staaten seit dem Scheitern der Panamerikakongresse auf wirtschaftliche Einbindung der lateinamerikanischen Staaten an Amerika beschränkten, hinderte dies Herrnsheim nicht, die „panamerikanische Gefahr" umso mehr zu beschwören. Nach Herrnsheims Ausführungen gibt Amerika Deutschland nichts, will aber gleichzeitig alles nehmen, „unseren Markt" und „unsere südamerikanischen Geschäfte". Die Gefahr, die von den Vereinigten Staaten ausgehe, sei also enorm und schädige Deutschland in jeder Hinsicht. 126 Herrnsheims Hauptaugenmerk lag auf der Verknüpfung der amerikanischen Zollerhöhungen mit der wachsenden „Monopolstellung" in Lateinamerika. Es könne nicht sein, so sein Argument, dass Rockefeller in Deutschland die Preise diktiere; Deutschland sei ein wichtiger Markt für Amerika, und man müsse nur „den Amerikanern mit kräftiger Sprache kommen", dem französischen Vorbild eines Maximal- und Minimaltarifs folgend, und somit das Vertragsverhältnis auf eine 124
Dennoch wurde die Nationalliberale Partei keine rein protektionistische Partei. Der Heterogenität in der Wirtschaftspolitik trug die Berliner Erklärung von 1891 Rechnung, wonach Wirtschaftsfragen Gewissensfragen seien und daher dem Einzelnen zu beantworten überlassen seien. Als die intensivste Phase der Beziehungen zwischen den Nationalliberalen und dem BdL gelten die Jahre 1893 und 1894. Mundle spricht von „disastrous inroads", die der BdL in die Nationalliberale Partei gemacht habe. Vgl. Vascik, Rural Politics and Sugar in Germany, S. 146 und S. 197. Mundle, Frederick. G., The German National Liberal Party, 1900-1914. Political Revival and Resistance to Change, Illinois, 1975, S.28 und Köhne, Renate, Nationalliberale und Koalitionsrecht. Struktur und Verhalten der nationalliberalen Reichstagsfraktion 1890-1914, Frankfurt, 1977, S.35. 125 Erklärung des Zentralvorstands der Nationalliberalen Partei vom 7.3.1898, in: Programmatische Kundgebungen der Nationalliberalen Partei 1866-1913, Berlin, 1913, S.63. In den öffentlichen Aufrufen wiesen die Nationalliberalen oft auf die Solidarität mit der Landwirtschaft und auf ihren Bedarf eines besonderen Schutzes hin, z.B. in der „Berliner Erklärung" des Allgemeinen Delegiertentages vom 3. bis 5. Oktober 1896. Ebd., S.62 und Aufruf zur Reichstagswahlen von 1898. Ebd., S.64. Dennoch teilte die Nationalliberale Partei nie die Wendung des BdL zum autoritären Staat und seine Affinität zu den preußischen Junkern. Vgl. Pohl, Karl. Heinrich, Die Nationalliberalen - eine unbekannte Partei, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 3 (1991), S. 103. 126 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5716.
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klare Grundlage stellen. Das nationale Interesse Deutschlands verlange es, dass es diese „Rankünen und Chikanen" nicht mehr dulde. 127 Die konservativen und nationalliberalen Redner setzten zwar in ihren Angriffen auf Amerika verschiedene Schwerpunkte, der endgültige Übergang Amerikas zu einer protektionistischen Wirtschaftspolitik und der im Kaiserreich entstandene Eindruck des wirtschaftlichen Übergewichts Amerikas hatten aber auch unmittelbare Folgen auf das taktische Verhalten ihrer Parteien im Reichstag und auf ihre strategische Orientierung. Der äußere Druck auf die deutsche Landwirtschaft und die industrielle Konkurrenz schufen für die agrarischen und industriellen Kreise der Parteien eine fast identische Interessenlage. Sowohl die Landwirtschaft als auch große Teile der Industrie drängten auf eine stärkere protektionistische Ausrichtung der Außenwirtschaftspolitik des Kaiserreichs. Der gemeinsame Gegner und das gemeinsame Interesse, die eigene wirtschaftliche Ausgangslage besser zu schützen, rückten beide Gruppen aneinander. Vor allem Politiker wie Kardorff oder Heyl zu Herrnsheim, die sowohl Agrarier als auch Industrielle waren, traten offenkundig für eine Neubelebung des Bündnisses zwischen Industrie und Landwirtschaft ein. Der Dingley-Tarif und der Eindruck der „amerikanischen Gefahr" schufen eine völlig neue Grundlage für seine Wiederaufnahme. Nun, da sich auch die Industrie bedroht sah, häuften sich die Signale aus industriellen Kreisen, gemeinsam gegen die Vereinigten Staaten vorzugehen. Der Geschäftsführer des Centraiverbandes Deutscher Industrieller, Henry Axel Bueck, stellte bereits 1898 fest, dass Amerika im Begriff sei, England wirtschaftlich hinter sich zu lassen und zum ersten Gegner Deutschlands zu werden. 128 Der CVDI näherte sich stetig dem protektionistischen Kurs der Agrarier an und fand Unterstützung in der Schwerindustrie, die sich für den Kampf inzwischen in Kartellen und Syndikaten organisiert hatte. Der bisher in der Zollfrage in Opposition zum CVDI stehende Bund der Industriellen schwenkte nun gänzlich auf die Seite der Schutzzöllner im Kaiserreich um. 129 Im Reichstag setzten sich nun konservative und nationalliberale Abgeordnete offen für die „Solidarität der Industrie und Landwirtschaft" im Kampf gegen die Gefahr aus Amerika ein. Im Mai 1897 nahmen Vertreter beider Fraktionen die Verabschiedung des Dingley-Tarifs im Kongress zum Anlass, gegen die Meistbegünsti127 Ebd., S.5717. Herrnsheims führte bereits zu diesem Zeitpunkt einen Kampf gegen die Standard Oil. Näheres im Kapitel 3.2. 128 Bueck, Der Centraiverband Deutscher Industrieller, S. 533 ff. 129 Der Bund der Industriellen erörterte auf der Generalversammlung des Jahres 1900 das Projekt eines kontinentalen Wirtschaftsblocks mit Stoßrichtung gegen die Vereinigten Staaten, der Vertreter des preußischen Handelsministeriums erteilte dieser Idee jedoch eine deutliche Absage. Im Bdl gab es zwei Flügel, einen rechten zum Schutzzoll hin orientierten Flügel, und einen linken, freihändlerischen, der sich an den Interessen der Banken und des Außenhandels orientierte. Vgl. Ullmann, Der Bund der Industriellen, S. 166. Ders., Zur Rolle industrieller Interessenorganisationen in Preußen und Deutschland bis zum ersten Weltkrieg, in: Puhle, HansJürgen/Wehler, Ulrich (Hrsg.), Preußen im Rückblick, Göttingen, 1980, S. 300-323. Mundle, The German National Liberal Party, S.64 und Kaelble, Industrielle Interessenpolitik, S. 152.
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gung und das Saratoga- Abkommen zu Felde zu ziehen. Kardorff und Stumm-Hallberg, beide Agrarier, die hier aber auch für die Schwerindustrie sprachen, forderten die Rückkehr zum alten System, denn nur so sei eine wirksame Abwehr gegen Amerika möglich. Stumm-Hallberg forderte energisch Repressalien gegen die Vereinigten Staaten, auch wenn dies einige Verluste im Export bedeute, denn nur mit Gewalt sei den Amerikanern beizukommen. Heyl von Herrnsheim legte den Schwerpunkt seiner Angriffe auf das amerikanische Vordringen in Lateinamerika und die damit verbundene Panamerikapolitik. Amerika habe durch seine Exporte seit 1875 Europa in eine wirtschaftliche Revolution versetzt und sei dabei, das Deutsche Reich gänzlich von der Konkurrentenliste der Exportnationen zu verdrängen. 130 Den Ausführungen der konservativen und nationalliberalen Abgeordneten stellten sich Barth und Richter entgegen. Zwar stießen der Dingley-Tarif und der amerikanische Protektionismus auch in den Reihen der Linksliberalen auf klare Ablehnung, laut Richters Kommentar würde die Interpellation vom 3.5.1897 aber zur Neuordnung der handelsvertraglichen Grundlage zwischen Deutschland und Amerika führen. Dies würde, so Richter in der Freisinnigen Zeitung, das deutsch-amerikanische Verhältnis weiter abkühlen und die „Schutzzollbewegung in Amerika durch eine zusätzliche chauvinistische Strömung gegen Deutschland verstärken", zudem würde sich ein Zollkrieg, aufgrund des großen Handelsvolumens Deutschlands mit den Vereinigten Staaten, verheerend auswirken. 131 Auch im Reichstags bewertete Richter, als Antwort auf die konservativen und nationalliberalen Redner, das Meistbegünstigungsverhältnis zwischen Deutschland und Amerika als problematisch, er sah aber zu diesem Zeitpunkt keine Alternative zum bestehendem Verhältnis. In seinem ABC-Buch schrieb er, dass es zwar zutreffe, dass Amerika mit dem Dingley-Tarif zum Hochschutzzoll zurückgekehrt sei, wie die Konservativen behaupteten, dass Amerika aber damit nur von seiner Selbstständigkeit in Tariffragen aufgrund des Meistbegünstigungsverhältnisses Gebrauch gemacht habe.132 Richter griff Kanitz an und benutzte Amerika als innenpolitisches Argument, um die Schutzzollpolitik der Agrarier schlechthin anzuprangern. Kanitz, so Richter, trete als „Schützer der Industrie" mit einem „agrarischen Pferdefuß" auf. Es sei natürlich, so Richter weiter, dass Amerika mehr nach Deutschland einführe als umgekehrt, zudem betreffe der amerikanische Zoll alle europäischen Länder, nicht nur Deutschland. Richter warnte vor den Folgen einer deutschen Zollerhöhung für den heimi130
Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5701-5727. Dennoch handelte es sich bei der Zusammenarbeit zwischen Landwirtschaft und Industrie nicht um eine einfache Neuauflage des Kartells. Die Basis für eine Neuauflage des alten Bündnisses war zu schmal. In der Frage der Wirtschaftsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten herrschte eine zu große Kluft zwischen den Wünschen der Agrarier, der Industrie, der Reichsleitung und des Machbaren. Zur „Sammlung". Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 292-304 und Alexander, Die Freikonservative Partei, S. 269ff. 131 Freisinnige Zeitung, Nr. 83, 8.4.1897. Nr. 84, 9.4.1897 und Nr. 231, 2.10.1897. 132 Richter, Eugen, ABC-Buch. Ein Lexikon parlamentarischer Zeit- und Streitfragen, Berlin, 1898, S.155. 10 Czaja
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sehen Markt, Beunruhigung in der Industrie, Arbeitslosigkeit und eine Lähmung des Unternehmergeistes wären die Folgen. Um den amerikanischen Schutzzoll zu begegnen, dürfe man nicht aufhören, an den gesunden Menschenverstand der Amerikaner zu appellieren, sodass sie einsähen, dass Schutzzölle ebenso wenig in ihrem Interesse lägen. Für Richter war der Freihandel ein unabhängiges Gut und das darauf basierende wirtschaftliche Verhältnis zu Amerika zu wichtig, um sich in dieser Situation der „nationalen Leidenschaft und Erregung" hinzugeben.133 Auch der zweite Redner der linksliberalen Parteien, Barth, gab zu, dass Amerika in der Außenwirtschaft einen schutzzöllnerischen Kurs fahre, er wies aber darauf hin, dass sich dieser Kurs nur gering auf die deutschen Einfuhren auswirke, wie die Zahlen der letzten Jahre beweisen. Barth hielt am Meistbegünstigungsverhältnis fest und erinnerte Kanitz daran, dass Saratoga nur eine Deklaration und kein Vertrag gewesen sei. Barth gab zu, dass das deutsch-amerikanische Wirtschaftsverhältnis geklärt werden müsse, er sprach sich aber gegen jegliche Repressalien von deutscher Seite aus. Viel mehr ging er von einer kurzen Lebensdauer des neuen Tarifs aus. Was jedoch Deutschland oder Europa auf keinen Fall tun dürften, sei von außen Druck auf die Beschlüsse der amerikanischen Regierung und des Parlaments auszuüben, damit erreiche man nichts. Der einzige Weg, so Barths Argumentation, sei die Annahme des rechtlichen Standpunkts, d. h. das Beharren auf die vertraglichen Zugeständnisse, sowie Zähigkeit und Geduld, dann würden die Dinge ziemlich rasch ein „einigermaßen vernünftiges Gesicht" bekommen. Als Kenner der amerikanischen Verhältnisse wusste er über die Stimmung, die handelspolitische Ausrichtung der amerikanischen Wirtschaftspolitik und ihre treibenden Kräfte bescheid. Würde man jetzt den Initiatoren der Interpellation folgen und eine Rettorsionspolitik einschlagen, könnte dies zwar den Import aus den Vereinigten Staaten auf jede mögliche Weise schädigen, hätte aber zur Folge, dass die Vereinigten Staaten dann mit ihrem noch lebhafteren schutzzöllnerischen Temperament wahrscheinlich die Retorsionspolitik noch viel leidenschaftlicher betreiben würden. Barth fürchtete, dass die „seit so langer Zeit engste politische Freundschaft beider Länder" allmählich in den Zustand leidenschaftlicher Verstimmung geraten könnte. 134 Auch die vom ihm herausgegebene Wochenschrift Die Nation erklärte den Dingley-Tarif ausgehend von den amerikanischen Verhältnissen, nahm Abstand von den damals einschlägigen Beschimpfungen und erlaubte sich erneut einen Seitenhieb auf die Agrarier. Sie beurteilte den Tarif zwar als eine „Missgestalt voller Widersprüche", 133
Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5721. Kardorff nannte daraufhin Barth und Richter „Delegierte des Auslands". Ebd., S.5723. 134 Ebd., S. 5712. Barth amüsierte sich über Kanitz, der, wenn es um amerikanischen Zoll gehe, von der Verdrängung Europas spreche, beim deutschen Zoll jedoch vom Schutz der nationalen Arbeit. Barth rechnete vor, dass Deutschlands Einfuhrvolumen in die Vereinigten Staaten im Jahre 1892 346Mil., im Jahre 1893 354Mil. und im Jahre 1894 nur 271 Mil. betrug, sich also nicht nach den Tarifen orientieren konnte, ebd. S. 5709. Später gestand Barth die „absurd hohen" Zollsätze des Dingley-Tarifs ein. Vgl. Barth, Amerikanische Reiseeindrücke, S. 15.
3. Der Dingley-Tarif
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ein „Labyrinth" aus Gewicht- und Wertzöllen, aus Zuschlägen und zahllosen Zollabstufungen und als wahrlich„kein Meisterwerk der Gesetzgebung", versuchte aber gleichzeitig seine Entstehung zu rechtfertigen. Er sei demnach, wie alle Zolltarife ein Ergebnis des Kampfes um wirtschaftliche Interessen, der in Amerika mit besonderer Rücksichtslosigkeit ausgefochten werde. Dennoch werde der Protektionismus nicht übermäßig stark werden, denn der Charakter der amerikanischen Schutzzöllnerei habe sich durch die Vermischung des industriellen mit dem agrarischen Protektionismus verändert, und in dem Maße, in dem die Agrarier in den Vordergrund treten würden, verliere die Industrie das Interesse an hohen Zöllen. 135 Die Hoffnung auf eine Lockerung des amerikanischen Protektionismus aufgrund amerikanischer Einsicht, teilte das Zentrum nicht. Erstaunlicherweise nahm die Zentrumsöffentlichkeit den Dingley-Tarif jedoch nicht mit dieser Vehemenz zur Kenntnis wie noch den McKinley-Tarif, die Partei blieb aber ihrer Taktik des Lavierens treu. In der Zentrumspresse wurde zwar die Sorge vor der „Sperrung" des amerikanischen Marktes für deutsche Erzeugnisse gewarnt, und es erhallte hin und wieder der Ruf nach einem Zollkrieg als Retalationsmaßnahme, zugleich aber wurde oft die Einschränkung hinzugefügt, dass hohe Zölle gegen Amerika nicht die Interessen der Industriearbeiter und der Kleinbürgerwelt gefährden dürften. 136 Auch in der Beurteilung der Frage der gesamten handelspolitischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten setzte sich eine gemäßigte Haltung durch, die zwar die Vereinigte Staaten des Bruchs des Sarotoga-Abkommens bezichtigte, die verschiedenen rechtlichen Auslegungen des Vertrages von 1928 aber zugestand.137 Es fehlten auch die harten Anschuldigungen, Amerika werde die Schaffung einer panamerikanischen Union vorantreiben und auf diese Weise den deutschen Handel und den heimischen Markt in Deutschland zu schädigen suchen, wie sie noch zu Zeiten des McKinley-Tarifs an der Tagesordnung waren. Einzig der bayerische Abgeordnete Aichbichler schloss sich den Ausführungen der Interpellanten vom Mai 1897 an. Er appellierte an die Reichsregierung, das Meistbegünstigungsverhältnis gegenüber den Vereinigten Staaten zu revidieren. Aichbichler sah im Überschuss amerikanischer Einfuhren nach Deutschland eine Gefahr für deutsche Produzenten, in erster Linie aber einen Vertragsbruch Amerikas, den Amerika 135
Barth, Theodor, Deutschlands handelspolitische Lage gegenüber den Vereinigten Staaten, in: Die Nation, Nr. 41, 14.8.1897, Bd. 14 S.691. 136 Kölnische Volkszeitung, Nr. 162,4.3.1897 und Nr. 748,3.11.1896. Der Kommentator der Historisch-politischen Blätter, Grupp, sah in der „Absperrungspolitik" McKinleys den Versuch eines Abbaus der amerikanischen Staatsschuld. Auf diese Weise verringere McKinley die Staatsschuld und fördere gleichzeitig das Großkapital und die Großindustrie, die ihm ja schließlich zum Präsidentenamt verholfen hätten. Grupp, Georg, Kapitalistische Raubritter, in: Historisch-politische Blätter, 119 (1897), S.737. 137 Kölnische Volkszeitung, Nr. 322, 2.5.1897. Der Verfasser bedient sich ausdrücklich der Argumente von Fisk, dessen Buch im selben Jahr erschien. In einem anderen Artikel hieß es, dass das amerikanische Weizen verfälscht werde, und man sich dagegen schützen müsse. Kölnische Volkszeitung, Nr. 785, 28.10.1897 auch Germania, Nr. 86, 15.4.1897 und Nr. 155, 11.7.1897 und Fisk. Die handelspolitischen und sonstigen völkerrechtlichen Beziehungen. 10*
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mit dem Dingley-Tarif begangen habe. Ein Grund also, wie er meinte, das Meistbegünstigungsverhältnis gänzlich außer Kraft zu setzten, da sich die Vereinigten Staaten nicht an dessen Grundlagen hielten. 138 Auf der anderen Seite betonten Zentrumsabgeordnete wie sein bayerischer Kollege Hilpert, die Notwendigkeit billiger Nahrungsmittel für die unteren Schichten, die durch eine lange zollpolitische Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten aufs Äußerste gefährdet wäre. 139 Die Heterogenität der Zentrumspartei äußerte sich bei der Bewertung des Dingley-Tarifs besonders deutlich. Weite Teile der Partei hatten bei der Beurteilung der amerikanischen Außenhandelspolitik die Interessen der katholischen Arbeiter und der kleineren Bauern vor Augen. Auch wenn der Einfluss der Schwerindustriellen und des Bundes der Landwirte in der Zentrumspartei nicht gänzlich ausgeschlossen war, war er doch nicht annähernd stark genug, um sie interessenpolitisch und rhetorisch auf einen eindeutigen Konfrontationskurs mit den Vereinigten Staaten festzulegen. b) Die „republikanischen Raubritter" In die Forderungen nach Revision der vertraglichen Grundlage der deutsch-amerikanischen Beziehungen und in die Appelle an die „deutsche Ehre" mischten sich auch Töne, die Amerika grundsätzlich verurteilten. Wie schon zuvor im Verlauf der Diskussionen um den McKinley-Tarif dienten der „amerikanische Kapitalismus" und die inneramerikanischen Verhältnisse als Erklärungsmuster für eine „räuberische" Außenhandelspolitik und für die amerikanische Missachtung internationaler Absprachen. Am heftigsten beschimpfte Hermann Ahlwardt Amerika. Der Grenzgänger zwischen der Deutschkonservativen und der Antisemitischen Partei bediente sich des in der Deutschkonservativen Partei und konservativen Presse immer wieder auftauchenden Bildes von Amerika als ein „Hort des Kapitalismus" und der „Ausbeutung". Ahlwardt selbst verweilte über ein Jahr in Amerika, allerdings wurde er dort gegen seinen Willen festgehalten, wie er behauptete. In seiner Rede vor dem Reichstag feuerte er eine ganze Breitseite von wüsten Beschimpfungen über das amerikanische 138 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 14.2.1898, Bd.2 S. 1035. Informationen über Aichbichler bei Haunfelder (Hrsg.), Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei, S. 119. 139 Verhandlungen des Reichstags, 10.Leg. l.Sess. 14.12.1898, Bd. 1 S.83. Das Zentrum sah sich vor allem im Rheinland mit Protesten der katholischen Arbeiter gegen Zollerhöhungen konfrontiert. Zentrumspolitiker wie Müller-Fulda oder Trimborn betonten immer wieder die Notwendigkeit, auf die Belange der Konsumenten Rücksicht zu nehmen. In den Flugblättern des Volksvereins an das katholische Deutschland betonte das Zentrum, dass es schon immer für den Schutz der deutschen Landwirtschaft gegen billigere ausländische Konkurrenz eingetreten sei. Vgl. Sozialpolitik der deutschen Zentrumspartei, Gesammelte sozialpolitische Flugblätter des Volksvereins für das katholische Deutschland. Mönchengladbach, 1907, Flugblatt Nr. 4 S. 65 und Flugblatt Nr. 22 S. 79 und Nonn, Verbraucherprotest und Parteiensystem, S. 121.
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Leben ab. Ahlwardt charakterisierte Amerika als eine „Brutstätte" der Ausbeutung und einen „Hort des ungezügelten Kapitalismus", in dem sich der Reichtum in den Händen weniger konzentriere, und in dem die Arbeiter und ärmeren Schichten von rücksichtslosen Kapitalisten ausgebeutet würden. Als die eigentlichen Hintermänner des „amerikanischen Kapitalismus" benannte Ahlwardt die „Juden", die das gesamte wirtschaftliche Leben in Amerika lenken und nun ihre „Gier" auf die amerikanischen Außenhandelspolitik übertragen würden. 140 Ahlwardts antisemitische Töne zur Beschreibung der amerikanischen Wirtschaftspolitik fielen auch bei den Amerikagegnern deutlich aus dem Rahmen. Die schärfsten Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik griffen zwar auch auf Bilder der „Korruption" und des „ungezügelten Kapitalismus" zurück und setzten in der Hitze des Gefechts diese Eigenschaften ebenfalls zuweilen mit ganz Amerika gleich. Im Kern aber waren es immer die Republikaner, die amerikanischen Großunternehmer und die Trusts, die als erste in den Verdacht gerieten, „kapitalistische Raubritter" zu sein. In diesem Sinne glaubte auch die Kreuzzeitung, einen Grund für die schädigende wirtschaftliche Behandlung Deutschlands und Europas durch die Vereinigten Staaten in den inneramerikanischen Verhältnissen zu sehen, da Deutschland und viele europäische Länder monarchische Staaten seien, biete dies den Scharfmachern im „republikanischen Amerika" eine Angriffsfläche. Die Kreuzzeitung gestand zwar ein, dass Amerika doch nur „wirtschaftliche Ziele" verfolge und dem „Mann mit zugeknöpften Taschen" gleiche, der nur nehmen, aber nicht geben wolle, dass aber die monarchischen Verfassungen europäischer Länder den Amerikanern oft eine zusätzliche Angriffsfläche bieten würden. Wenn aber ein monarchischer Staat in Europa auch nur eine „Miene" zur amerikanischen Politik mache, wie sie schrieb, so erhebe sich in Amerika immer ein fürchterliches, meist mit Kriegsdrohungen untermischtes Geschrei, das die „Freiheitstrompete bläst" und die Zerstörung des Absolutismus im Namen des „republikanischen Prinzips" verlange. Auf diese Art glaube man dort, einen bes140
Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5713-5718 und S.5725. Als auf der Seite des Freisinns Gelächter über Ahlwardts Ausbruch zu hören waren, beschimpfte Ahlwardt Theodor Barth als einen von der „Talmuditis" befallenen Mann: „Ich möchte diese Erkrankung als akute Talmuditis bezeichnen, im Gegensatz zur chronischen Talmuditis, die im Volk vielfach obwaltet in Folge der Pest durch die jüdischen Blätter." Ebd., S. 5726. Hermann Ahlwardt war einer der prominentesten Vertreter der antisemitischen Bewegung der 90er Jahre. 1893 gewann er als unabhängiger Kandidat mit überwältigender Mehrheit das Mandat für den Reichstag in Amswalde-Friedeberg in Vorpommern. Auf dem Tivoliparteitag und im Rahmen der Diskussionen über die Neuausrichtung der Deutschkonservativen Partei nach 1890 spielte Ahlwardt eine wichtige Rolle und fand große Unterstützung. Sein konservativer Gegenkandidat von 1893 stimmte bei den Stichwahlen selbst für ihn. Ahlwardt wurde durch seine Broschüre „Judenflinten", in der er die „jüdische Korruption" in der deutschen Rüstungsindustrie beklagte, bekannt. Dies brachte ihm eine Verleumdungsklage und einen Gefängnisaufenthalt ein. Vgl. Ahlwardt, Hermann, Judenflinten, Dresden, 1890. Levy, Richard S., The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, New Häven, 1975, S. 79 und Mai, Uwe, Wie es der Jude treibt. Das Feindbild der antisemitischen Bewegung am Beispiel der Agitation Hermann Ahlwardts, in: Jahr, Christoph (Hrsg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin, 1994, S.57 und S. 61.
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seren Eindruck zu machen, als sich einzugestehen, dass man nur wirtschaftlichen Profit im Auge habe. Die Kreuzzeitung setzte auf eine europäische Solidarität und versuchte eine wirtschaftliche Gegnerschaft zwischen Europa und Amerika aufzubauen, um auf diese Weise Deutschland nicht als einen einsamen Kämpfer gegen die amerikanische Konkurrenz zu präsentieren. 141 Die Angriffe gegen Amerika als „Hort des ungezügelten Kapitalismus" und die Gegenübersetzung des „monarchischen" und „republikanischen Prinzips" als zwei sich ausschließende Konzepte drang immer wieder in die konservative Wahrnehmung der amerikanischen Handelspolitik hinein. In der konservativen Presse und Publizistik wurde Amerika die Fähigkeit abgesprochen, eine „gerechte Regierung" aufstellen zu können. In einem Land, wo der „Dollar tyrannisch herrsche" und die Wahlstimmen wie „Handelsgegenstände" nach ihrem Preis vergeben würden, sei eine „faire Handelspolitik" nicht denkbar. 142 Die Verurteiltung Amerikas als ein republikanisches durch Korruption und ungezügelten Kapitalismus verdorbenes Staatswesen war jedoch nicht ausschließlich auf die monarchistische Ausrichtung der konservativen Parteien zurückzuführen. Es ist auffällig, wie die augenblickliche handelspolitische Situation die konservative Rhetorik verschärfte. Die Beurteilungsmuster nach den Kriterien der Gegensätzlichkeit zwischen einer Monarchie und Republik wurden immer dann intensiv bemüht, wenn der amerikanische Konkurrenzdruck besonders spürbar wurde, ließ er nach, klangen die Angriffe gegenüber der amerikanischen Republik ab. c) McKinley - „Ein Schüler Bismarcks"? Konservative und Nationalliberale brachten kein Verständis für den neuen amerikanischen Tarif auf, für sie stellte er den weiteren Beweis für amerikanische Unzuverlässigkeit in Vertragsfragen, Amerikas wirtschaftliche Eroberungsgier und rücksichsloses Vorgehen mit ausländischer Konkurrenz dar. In den Reihen der Sozialdemokraten rief der Dingley-Tarif zwar ein durchaus geteiltes Echo hervor, sie blieben aber in der Gesamtheit ihrem Grundsatz der Interessenvertretung der Arbeiter bzw. Konsumenten treu, was in der Konsequenz das Eintreten für einen möglichst reibungslosen wirtschaftlichen Austausch mit dem Ausland, vor allem mit Amerika, bedeutete. So brachte der Abgeordnete Auer am 5. Mai 1898 im Auftrag der Sozialdemokraten eine Interpellation zur zeitweiligen Aufhebung der Getreidezölle im 141
Kreuzzeitung, Nr. 448, 24.9.1898 und Nr. 493, 21.10.1898. Unzählige Male in der Kreuzzeitung oder auch der Abgeordnete der Deutschkonservativen Partei und Herausgeber der Deutschen Tageszeitung Georg Oertel. Oertel, Georg, Der Konservatismus als Weltanschauung, Leipzig, 1893, S.45 und S.46. Auch der Vorwärts suchte vereinzelt die Ursachen für den Dingley-Tarif im amerikanischen Kapitalismus. Bereits nach dem Wahlsieg McKinleys prophezeite er,»härtere Zeiten" für Europa. Damit rückte das Organ von der oft an den Tag gelegten Bewunderung Amerikas ab und nahm das „kapitalistische Amerika" ins Visier. In einer Charakterstudie wurde McKinley als ein,Rücksichtsloser Vertreter reinster Kapitalinteressen", ein Hochschutzzöllner und scharfer Verfechter der MonroeDoktrin bezeichnet. Sein Sieg sei von weit tragender Bedeutung für den ganzen Weltmarkt, er werde Schutzzollmauern um Amerika errichten. Vorwärts, Nr. 260, 5.11.1896. 142
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Reichstag ein, um die gestiegenen Getreide- und Brotpreise damit aufzufangen. Seine Initiative scheiterte, dennoch betonten sozialdemokratische Abgeordnete stets die Wichtigkeit der guten deutsch-amerikanischen Beziehungen als Garant für billige Lebensmittel.143 Auch wenn der Dingley-Tarif Beunruhigung in den Reihen des Sozialdemokraten verursachte, versuche der Vorwärts, trotz einzelner Bemerkungen zu „amerikanischen Kapitalisten" als Ursache für den Dingley-Tarif, in seinen Berichten Nüchternheit zu bewahren und den neuen amerikanischen Zolltarif von den amerikanischen Verhältnissen her zu erklären. Wie so oft verlor er dabei nicht die innenpolitischen Gegner aus den Augen und erlaubte sich des Öfteren einen Seitenhieb auf die deutschen Agrarier. Bei den Erläuterungen zum Dingley-Tarif wies er daraufhin, dass es sich dabei um einen industriellen Tarif handle, der aus dem hohen Tempo des Wachstums der amerikanischen Industrie entstanden und kein agrarischer sei. Auch wenn der Vorwärts zugestand, dass der Dingley-Tarif Europa, und besonders Deutschland, sehr hart treffe und mit einer Rücksichtslosigkeit in Angriff genommen worden sei, die überall in Europa Befremden und sogar helle Entrüstung hervorgerufen habe, hielt er sich mit Angriffen auf Amerika zurück. Vielmehr nutzte er den Dingley-Tarif als Argument gegen die deutsche Schutzzollpolitik und machte diese für die Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen verantwortlich. Der Vorwärts stellte sich zwar in die Reihe der Kritiker des Meistbegünstigungsvertrages, da dieser als vertragliche Grundlage der deutschamerikanischen Beziehungen nicht befriedigend sei, weil er in seiner Form als ein Vertrag zwischen Preußen und Amerika rechtlich nicht einwandfrei auf das Deutsche Reich übertragen werden könne, gleichzeitig aber nahm er die Entrüstung der Agrarier und der deutschen Schutzzöllner nicht ernst. Die Kritik des unter der Leitung Liebknechts stehenden Organs am Meistbegünstigungsverhältnis erreichte freilich nicht die grundsätzliche Schärfe der sozialdemokratischen Bedenkensträger Schippel und Calwer, vielmehr sah das Organ den Ursprung des amerikanischen Tarifs in den deutschen Einfuhrverboten für amerikanisches Fleisch und der Behandlung der amerikanischen Versicherungsgesellschaften in Preußen. 144 Den Forderungen nach höheren deutschen Zöllen oder gar einem Zollkrieg mit Amerika erteilten sowohl die sozialdemokratische Presse als auch die sozialdemokratischen Abgeordneten eine klare Abfuhr. In der sozialdemokratischen Vorstellung war Deutschland viel stärker wirtschaftlich von Amerika abhängig als umgekehrt, es machte daher keinen Sinn, die Arbeiter in Deutschland durch einen Zollkrieg zusätzlich zu belasten. Dem Wunsch nach Minderung des Dingley-Tarifs hofften die 143 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5. Sess. 5.5.1898, Bd. 3 S. 2202 ff. Von vielen Rednern wurde die Getreidepreissteigerung als Folge des spanisch-amerikanischen Krieges bezeichnet. Z.B. Bebel ebd., S.2222 oder Barth ebd., S.2219. 144 Vorwärts, Nr. 86,11.4.1897. In der Folgezeit profilierte sich vor allem Richard Calwer als Gegner des Meistbegünstigungsverhältnisses zu den Vereinigten Staaten. Im Rahmen der Diskussion über die „amerikanische Gefahr" trat er für ein europäisches Vorgehen gegen Amerika ein. Zu Calwers Haltung zu Meistbegünstigung vgl. Calwer, Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten, S. 146.
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Sozialdemokraten, ähnlich den Linksliberalen durch ein deutsches Vorbild näher zu kommen. Deutschland sollte den ersten Schritt in Form von Zollsenkungen und Einfuhrerleichterungen machen, damit Amerika sich dem Beispiel anschließe.145 Noch viel stärker als bei den Sozialdemokraten nahm der Dingley-Tarif die Funktion eines innenpolitischen Arguments und eines Schlachtbegriffs bei den Linksliberalen ein. Die konservative Presse griff die so genannte „Manchester-Presse" an, da diese versuche Amerika für ihre eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Die Kreuzzeitung meinte, Deutschland habe das Recht, den Amerikanern auf gleiche Weise zu antworten und alle amerikanischen Erzeugnisse, die nach Europa und Deutschland gelangten, genauso zu verzollen. Sollte es zum Zollkrieg kommen, habe diesen alleine Amerika zu verantworten. 146 Die freisinnige Presse antwortete in ähnlich scharfem Ton. Die Schuld an dem neuen amerikanischen Zolltarif wurde den Agrariern, insbesondere den „Schülern des Fürsten Bismarck" angelastet. Es sei zwar richtig, wie die Freisinnige Zeitung feststellte, dass die Amerikaner aufgrund des Meistbegünstigungsverhältnisses mit Deutschland ihre Zollsätze nach Belieben heben und senken könnten, aber McKinley sei eben ein begeisterter Schüler Bismarcks, und somit habe Deutschland mittelbar die Nachwirkungen der Bismarckschen Zollpolitik zu spüren bekommen.147 Auch die Nation bezog klar Stellung gegen die Forderungen der Agrarier und gegen Überlegungen, sich gegen den neuen amerikanischen Tarif mit härteren Maßnahmen, wie einem Zollkrieg, zur Wehr zu setzen. Der „Gedankenlosigkeit" der Agrarier, mit Mirbach, Kanitz, Ploetz und Armin an der Spitze, einen Zollkrieg zu riskieren, setzte die Nation die Auflistung des deutschen Warenverkehrs mit Amerika entgegen, nach der Amerika immer noch an dritter bzw. vierter Stelle unter den deutschen Handelspartnern rangierte. Härtere Maßnahmen, wie das Einfuhrverbot für Getreide, so die Nation, würden den Warenverkehr deutlich einschränken und daher Deutschland schaden. Den Agrariern warf die Nation Gedankenlosigkeit und ein Deutschland schadendes Verhalten vor. Eines sei sicher, so das Fazit, das „Junkertum" und der Bund der Landwirte mit ihrer Blindheit seien der Feind Deutschlands, und Handel, die Industrie und die unabhängigen Landwirte müssten mit aller Entschiedenheit diese Elemente bekämpfen. 148 Insgesamt jedoch veränderte der Dingley-Tarif die Wahrnehmung der amerikanischen Wirtschaftspolitik bei den deutschen Parteien grundlegend. Waren bis jetzt 145
Vorwärts, Nr. 67, 20.3.1897. Unter „Manchester-Presse" verstand die Kreuzzeitung Organe wie Die Nation, Die Freisinnige Zeitung oder die Frankfurter Zeitung. Kreuzzeitung, Nr. 168, 9.4.1897. 147 Freisinnige Zeitung, Nr. 83,8.4.1897. Der Artikel bezog in diesem Zusammenhang ebenfalls klar Stellung gegen die anstehenden Flottengesetzte: „Auch wenn wir eine zehnfach so starke Kreuzerflotte gegenwärtig hätten, so würden wir die Amerikaner damit nicht um eine einige Mark in ihrem Zolltarif herunterbringen können." 148 Die Nation, Politische Wochenschrift, Nr.41,10.7.1897, Bd. 14 S.677 und Barth, Theodor, Deutschlands handelspolitische Lage gegenüber den Vereinigten Staaten, in: ebd., Nr. 46, 14.8.1897, Bd.46S.693. 146
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nur landwirtschaftliche Produkte von der amerikanischen Konkurrenz betroffen, fühlte sich nun auch die Industrie von Amerika wirtschaftspolitisch bedroht. In den Auswirkungen auf die wirtschaftspolitische Haltung der Parteien zu Amerika verfestigte er die antiamerikanische Vorhut der Deutschkonservativen, erweiterte sie aber gleichzeitig um große Teile der Nationalliberalen Partei und einige Anhängsel aus dem Zentrum. Zwar war die Nationalliberale Partei - das Zentrum in einem noch viel geringeren Maße - in ihrer Gesamtheit auf einen Konfrontationskurs mit den Vereinigten Staaten eingestellt, die gewichtigen Stimmen der Agrarier und der Schwerindustriellen aber dominierten ihre amerikakritische Haltung. Die Wirkung des Dingley-Tarifs ging über die unmittelbar durch den amerikanischen Tarif betroffenen Kreise hinaus. Der Eindruck eines wirtschaftlichen Riesen, der mit unfairen Mitteln Politik betreibe, erfasste auch Teile der Sozialdemokratie und der Linksliberalen. In diesen Parteien häuften sich die Rufe nach einem Überdenken des wirtschaftspolitischen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten und einer Korrektur zu Gunsten Deutschlands. Das Grundmuster der Wahrnehmung der kommenden Jahre bis zum Höhepunkt der deutschen Diskussionen um die „amerikanische Gefahr" blieb konstant. Die Deutschkonservative Partei und weite Teile der Freikonservativen und der Nationalliberalen Partei hielten an ihrer Bewertung der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik fest. Auch wenn sich das unmittelbar nach dem Erlass des Dingley-Tarifs entstandenem Bedrohungsszenario eines „unfairen" und immer stärker werdenden Gegners etwas verflüchtigte, änderte sich nicht die Sichtweise der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik. Das Hauptziel der Konservativen war die Änderung der „unfairen" vertraglichen Grundlage der deutsch-amerikanischen Beziehungen als Kampfmittel gegen die amerikanische Konkurrenz. Rückblickend konstatierte Graf von Schwerin-Löwitz für die gesamte Zeit der deutsch-amerikanischen Handelsstreitigkeiten eine Verschiedenheit der Auffassungen von Meistbegünstigung. Für die deutsche Seite habe Meistbegünstigung immer die „unbedingte Meistbegünstigung", für die amerikanische stets „Reziprozität" bedeutet. Diese Verschiedenheit der Auffassungen habe Unklarheit und ein handelspolitisches Ungleichgewicht in die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ländern gebracht. Deutschland habe Zugeständnisse, wie im Saratoga-Abkommen, gemacht, zu denen es nicht verpflichtet gewesen sei. 149 Mit der Revision des Meistbegünstigungsvertrages mit den Vereinigten Staaten war auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. 1899 erkannte die Reichsregierung die amerikanische Auslegung der Meistbegünstigung an, das Ergebnis war das Abkommen von 1900. Für Bülow waren wegen der überseeischen Interessen Deutschlands 149
Schwerin-Löwitz, Graf, Die Meistbegünstigung und unser handelspolitisches Verhältnis zur Nordamerikanischen Union, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 9 (1905/1906), S. 17-25. Schwerin-Löwitz veröffentlichte seinen Aufsatz im Vorfeld der Verhandlungen zum deutsch-amerikanischen Handelsabkommen von 1906. Darin äußerte er die üblichen Forderungen der Konservativen nach dem Ausstieg aus der Meistbegünstigung und nach autonomen Tarifen nach französischem Vorbild. Ebd., S. 31.
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die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wichtiger als das Wohl der Agrarier. 1 5 0 Die Revision der Meistbegünstigung, die sich daraus ergebende Errichtung hoher Zollschranken für landwirtschaftliche Produkte und der Antrag Kanitz aus der Strategie der „Großen M i t t e l " der Konservativen hatten wenig Aussicht auf Erfolg. Als diese Strategie scheiterte, verlagerte sich das Augenmerk der Konservativen auf die Durchsetzung der so genannten „kleinen M i t t e l " zum Schutz der deutschen Landwirtschaft vor der amerikanischen Konkurrenz. 1 5 1 Tatsächlich konnten die Agrarier in der Folgezeit zwei Erfolge in ihrem Kampf gegen die amerikanische Konkurrenz erzielen. Begleitet von den üblichen Klagen über die amerikanische „Unfairness" und den Warnungen vor dem Untergang der deutschen Landwirtschaft, erreichten sie i m Jahre 1898 in der so genannten „Obstsperre" gegen amerikanische Früchte und i m Fleischbeschauungsgesetz von 1900 zwei bedeutende Erfolge gegen die amerikanische Konkurrenz auf dem Fleischmarkt. 1 5 2 Beide Maßnahmen entspra150
Posadowsky bekräftigte 1903 im Reichstag noch einmal, dass das Meistbegünstigungsverhältnis mit Amerika vom Bestand sei. Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2. Sess. 14. 1903, Bd. 8 S. 7322ff. 151 Ein „kleines Mittel" war das Vorgehen Preußens gegen die in Preußen tätigen amerikanischen Lebensversicherungsgesellschaften, die New York Life Insurance Co., die Equitable Life Insurance Co und die Mutal Life Insurance Co. Die preußischen Verordnungen der Jahre 1891/92 zwangen die Gesellschaften, ihre Geschäftsberichte nach einem preußischen Schema abzufassen und zu veröffentlichen, damit ihre Vorgehensweise der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte. Eine weitere Verordnung zwang sie, die Hälfte der Einnahmen aus den in Preußen getätigten Versicherungsabschlüssen in Preußen anzulegen und ins preußische Staatsschuldbuch einzutragen. Eine letzte Verordnung verpflichtete die Gesellschaften zu besonderen Rechnungsstellungen der Versicherten beim Tantiemenversicherungswesen. Aufgrund dieser Bestimmungen wurden die amerikanischen Gesellschaften 1894 praktisch vom preußischen Markt ausgeschlossen. Die Verordnungen richteten sich zwar sowohl gegen deutsche als auch ausländische Gesellschaften, da aber nur die amerikanischen durch ihre unterschiedliche Arbeitsweise unter sie fallen konnten, trafen sie nur die amerikanischen Gesellschaften und wurden in Amerika als gezielte Maßnahme gegen das amerikanische Versicherungswesen verstanden. Nach Clevelands Drohung, als Reaktion die deutschen Versicherungsgesellschaften in Amerika zu verbieten und nach mehreren, in Deutschland erstellten Gutachten zur Arbeitsweise der amerikanischen Gesellschaften, zuletzt von Mathematikprofessor Klein aus Göttingen im Jahre 1898 wurden die amerikanischen Gesellschaften 1899 wieder zugelassen. Vgl. Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S. 208-227 und Puhle, Agrarische Interessen, S. 240-246. 152 Auch Abgeordnete des Zentrums wie Gerstenberger sprachen sich offen für das Fleischbeschauungsgesetz aus. Es begünstige die kleinen und mittleren Bauern, weil es eine Gleichbehandlung von einheimischem und amerikanischem Fleisch garantiere. Verhandlungen des Reichstags, lO.Leg. l.Sess.8.3.1900,Bd.6S.4511undl0.Leg. l.Sess. 17.4.1899, Bd.2S. 1804. Nach Crouse haben die Agrarier die Vorlage zum Fleischbeschauungsgesetz zu einem Einfuhrverbot für ausländisches Fleisch umformuliert. Beim zweiten Versuch im Mai 1900 passierte die Vorlage den Reichstag, nachdem sie im Februar 1899 im Bundesrat verabschiedet wurde. Die erste Vorlage wurde von amerikanischer Seite durchaus begrüßt, von den Agrariern jedoch abgelehnt. Auch nach dem neuen Gesetz verlangte die Reichsregierung weiterhin mikroskopische Inspektionen von amerikanischer Seite. Im Reich auf Landesebene waren bereits seit 1897 Fleischbeschauungsgesetze für inländisches und ausländisches Fleisch erlassen worden, so z.B. in Preußen, Baden, Bayern und Württemberg. Interessenverbände wie der Fleischerverband oder der Deutsche Landwirtschaftsrat forcierten den Druck auf die Reichsregierung, ein Fleisch-
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chen jedoch nicht dem Wunsch der Konservativen, es den Amerikanern mit „gleicher Münze" heimzuzahlen, sodass der Antagonismus in Wirtschaftsfragen erhalten blieb. 153 Der Wunsch der Linksliberalen und der Sozialdemokraten nach guten deutschamerikanischen Beziehungen entsprang der grundsätzlichen Überzeugung vom Freihandel als dem richtigen Weg des wirtschaftspolitischen Umgangs miteinander. Barth wurde nicht müde zu betonen, dass der Dingley-Tarif zwar durchaus eine Belastung für die deutsche Landwirtschaft und Industrie darstellen könnte, dass aber Amerika sich gemäß des Vertrages von 1828 verhalte, und dass die nächsten amerikanischen Tarife milder ausfallen würden. Barth bezog sich stets auf die inneramerikanische Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Freihandels und denen des Protektionismus, es sei nur eine Frage der Zeit bis sich der Gedanke des Freihandels auch in Amerika durchsetzen werde. Barth konnte beim Dingley-Tarif keinen Vertragsbruch seitens der Vereinigten Staaten feststellen, Amerika habe das Recht, Gesetze souverän und eigenmächtig zu erlassen. Darüber hinaus habe der Dingley-Tarif keine unmittelbar schädigende Wirkung für den deutschen Handel, denn wie die Handelszahlen bewiesen, sei die deutsche Ausfuhr nach Amerika seit 1890, seit dem Inkrafttreten des McKinley-Tarifs, gestiegen.154 Im Falle von Barth spielte seine enge Verbundenheit mit demokratischen Politikern in Amerika und den Befürwortern von niedrigen Zöllen eine gewichtige Rolle in seiner Bewertung der amerikanischen Außenhandelspolitik. Seine Zuversicht wurde aber auch von Wunschdenken getragen. Verfolgt man Barths Analysen der amerikanischen Politik, insbesondere der Wirtschaftspolitik, lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass Barth ein von ihm gewünschtes Amerika wählte und des Öfteren die wahren Verhältnisse nicht genügend zur Kenntnis nahm. So wurden auch die amerikanischen Versuche, mit der Reziprozitätspolitik die lateinamerikanischen Staaten stärker an sich zu binden, nicht als Angriff auf Europa gesehen, sondern als beschauungsgesetz zu erlassen. Vgl. Crouse, The Decline of German-American Friendship, S. 405, S. 419 und S. 464 und Nonn, Verbraucherprotest und Parteiensystem, S.27 und S. 107. Auch die zeitgenössischen Abhandlungen. Die San- José Schildlaus. Denkschrift, Hrsg. vom Kaiserlichen Gesundheitsamt, Berlin, 1898 und Krüger, Leopold. Insekten Wanderungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika und ihre wirtschaftliche Bedeutung, Hrsg. vom Entomologischen Verein zu Stettin, Stettin, 1899. Über die Klagen der Konservativen über die Bedrohung seitens der amerikanischen Insekten amüsierte sich Barth im Reichstag. „Meine Herren, ich muss schon sagen, der Gedanke, plötzlich mit drei Milliarden Schildläusen unsere Obstbäume erfüllt zu sehen und zwar nur von einer einzigen Schildlausmutter, der ist in der Tat ein etwas beklemmender Gedanke." Verhandlungen des Reichstags. 9. Leg. 5. Sess. 11.2.1898. Bd. 2 S. 971 und ders., Insektenwanderung zwischen Deutschland und Nordamerika und ihre wirtschaftliche Bedeutung, in: Die Nation. Nr. 10, 9.12.1899, Bd. 17 S. 132-134. 153 So Roesicke im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 10.Leg. l.Sess. 11.2.1899, Bd. 1 S.805. 154 Ebd., 10.Leg. l.Sess. 11.2.1899. Bd. 1 S.801. Im gleichen Sinne auch Richter. Ebd., S.799. Auch Richter argumentierte in dieselbe Richtung und verwies auf die Wichtigkeit der Kapitalbeziehungen zwischen Deutschland und Amerika. Ebd., S.970.
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ein legitimes Mittel, den eigenen Einfluss in der unmittelbaren Einflusssphäre zu stärken. 155 Dennoch unterschied sich Barth durch seine große Sachkenntnis der amerikanischen Verhältnisse und der amerikanischen Wirtschaftspolitik von den meisten Politikern des Kaiserreichs. Wie die Linksliberalen betonten auch die Sozialdemokraten die Bedeutung der deutsch-amerikanischen Beziehungen als Garantie für Versorgung der Bevölkerung mit billigen Erzeugnissen. Gewiss spielten auch ideologische Überlegungen zum Zollsystem und der innerpolitische Kampf gegen die Agrarier eine wichtige Rolle bei der Bewertung der amerikanischen Außenhandelspolitik. Auch wenn namhafte Sozialdemokraten von diesen Prinzipien des Öfteren abrückten, blieb das Gros der Partei den Prinzipien des Freihandels und des wirtschaftlichen Ausgleichs mit Amerika treu. 1 5 6 Wie Bebel es formulierte, sei Deutschland auf Einfuhren aus dem Ausland angewiesen, um billige Nahrungsmittel für die Konsumenten, sprich Arbeiter, zu garantieren, hohe Zölle würden nur großen Produzenten nützen, kleineren Bauern dagegen schaden. 157 Den Einfuhren aus Amerika, seien
155 So auch der Abgeordnete Broemel in der Nation. Broemel, M., Das Zollabkommen Deutschlands mit den Vereinigten Staaten, in: Die Nation. Nr. 42,21.7.1900, Bd. 17 S.586 und der dem linksliberalen Spektrum zuneigende Ökonom Prager. Prager, Ludwig, Die deutschamerikanischen Handelsbeziehungen, in: ebd., Nr. 23, 24.4.1901, Bd. 18 S.467-470. 156 Neben Calwer und Schippel, die um die Jahrhundertwende eine härtere Gangart in Zollfragen gegenüber den Vereinigten Staaten befürworteten, ließ die Agrarfrage in den 1890er Jahren einige Sozialdemokraten eine Umorientierung ihre Politik in Angriff nehmen. Zum ersten Mal wandte sich die Sozialdemokratie der Agrarfrage 1891 zu. Sie fing an, ländliche Agitation zu betreiben und verfasste auf dem Parteitag in Erfurt mehrere Denkschriften zum Fortbestand der Landwirtschaft. Mitte der 90er Jahre entwickelte sich Bayern zum Schwerpunkt der Agitation. In der Agrardiskussion von 1894/95 starteten mehrere Sozialdemokraten den Versuch, bäuerliche Wähler an sich zu binden. Georg von Vollmar versuchte mit anderen bayerischen Sozialdemokraten bereits auf dem Parteitag in Erfurt, die Idee einer Verstaatlichung von Getreide durchzusetzen. Grillenberger, ein anderer bayerischer Sozialdemokrat, und Vollmar wollten gar den Antrag-Kanitz unterstützen, mussten sich jedoch der Parteidisziplin beugen. Vollmar brachte auf dem Parteitag in Franfurt von 1894 eine Resolution zum Schutze der „bäuerlichen Arbeit" ein, die höhere landwirtschaftliche Zölle verlangte. Trotz des Umstandes, dass er von Bruno Schönlank, einem der führenden Ökonomen der Sozialdemokratie assistiert wurde, wurde die Resolution verworfen. Neben Vollmar und Schönlank in Süddeutschland unterstützten auch Ignaz Auer und Wolfgang Heine im Norden diesen Kurs. Die Tuchfühlung mit der Landwirtschaft blieb aber eine regional begrenzte Alternative, die nicht den Kurs der Partei bestimmen konnte. Vgl. Maehl, W. Harvey, German Social Democratic Policy, 1890-1895, Reconsidered, in: Central European History, 13 (1980), S. 121 ff. Lehmann, Hans Georg, Die Agrarfrage in der Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus, Tübingen, 1970, S. 33, S. 67 und S. 100 und Saul, Klaus, Der Kampf um das Landproletariat: Sozialistische Landagitation, Großgrundbesitz und preußische Staatsverwaltung 1890 bis 1903, in: Archiv für Sozialgeschichte, 15 (1975), S. 163ff. Zur Agrardebatte auf dem Frankfurter Parteitag der zeitgenössische Kommentar Cohnstaedt, Wilhelm, Die Agrarfrage in der deutschen Sozialdemokratie von Karl Marx bis zum Breslauer Parteitag, München, 1903, S. 157-172. 157 Bebel, August, Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag. Tätigkeitsberichte und Wahlaufrufe aus den Jahren 1871 bis 1893, Berlin, 1909, S. 557 ff. Auf folgenden Seiten finden
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es landwirtschaftliche oder industrielle, maßen Sozialdemokraten allein aufgrund ihres Umfangs große Bedeutung bei. Sicherlich spielte die Amerikabegeisterung von Politikern wie Liebknecht oder des Vorwärts auch eine wichtige Rolle bei der Bewertung der amerikanischen Außenhandelspolitik, schließlich konnte auf diese Weise auf die Unzulänglichkeit des „deutschen Protektionismus" und seiner Träger hingewiesen werden. Wie schon bei den vorausgegangen amerikanischen Tarifen ergriff das Zentrum auf der anderen Seite nicht eindeutig Stellung gegen die Vereinigten Staaten und lavierte zwischen den vielschichtigen Interessen ihrer Klientel. Lieber zeigte sich z.B. sehr bemüht die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht weiter zu belasten. Er drängte darauf, dass das Meistbegünstigungsverhältnis von beiden Seiten beachtet werde und zeigte Verständnis dafür, dass Amerika die deutschen gesundheitlichen Maßnahmen bezüglich Obst und Fleisch aus Amerika ebenso als Schikane empfand wie Deutschland die amerikanische Zollpraxis und bedauerte die „wirtschaftliche Gereiztheit" zwischen beiden Ländern. Lieber präsentierte kein wirtschaftspolitisches Konzept gegenüber den Vereinigten Staaten, hoffte lediglich auf ein gutes Verhältnis zu Amerika. 158 Die schrillen Töne aus den Reihen des Zentrums waren aus den agrarischen Hochburgen im Rheinland zu vernehmen. Die Kölnische Volkszeitung verkündete öfters, wie schädlich die amerikanische Zollpolitik für Deutschland sei und wie „anmaßend" die Amerikaner sich verhielten. 159 Eine Verurteilung Amerikas als ein „kapitalistisches Land", das Deutschland bedrohe, wie es noch nach dem Erlass des McKinley-Tarifs an der Tagesordnung war, blieb diesmal aber weit gehend aus. Die Wirkung des Dingley-Tarifs war eindeutig. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit setzte sich Amerika im Bewusstsein der Zeitgenossen als ein ernster wirtschaftlicher Konkurrent fest. Die Frage nach dem Umgang mit dieser neuen Herausforderung ergab sich aus der Interessenlage der Parteien, wesentlicher erscheint jedoch die Festsetzung eines Wahrnehmungsmusters, das weit in das 20. Jahrhundert hineinwirkte: die Beurteilung der Vereinigten Staaten als ein Land des von jeglichen Hemmnissen befreiten Kapitalismus, das seine wirtschaftliche Macht unfair einsetze, seine Konkurrenten ausschalten wolle und Verträge missachte. Der Grundgedanke - Amerika sei ein Land des „ungezügelten Kapitalismus" - war nicht neu, er wurde aber nach jedem Zug der amerikanischen Außenhandelspolitik verstärkt und wurde desto größer, je mächtiger die Wirtschaftskraft Amerikas wurde.
sich zahlreiche Reichstagsreden und Wahlaufrufe, die den sozialdemokratischen Kampf gegen die Zollpolitik dokumentieren. Vgl. auch Dell, Peter, Sozialdemokratie und Junkertum. Die sozialdemokratischen Positionen zum ostelbischen Landadel 1890 bis 1920, Berlin, 1995, S.29 und S. 76. 158 Verhandlungen des Reichstags, lO.Leg. l.Sess. 11.2.1899, Bd.l S.790-792. 159 Kölnische Volkszeitung, Nr. 53, 7.2.1899 und Nr. 172, 22.2.1900.
III. Die amerikanische Gefahr 1. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas Die handelspolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zwar um die Jahrhundertwende nicht um wesentlich neue Streitpunkte erweitert, Tarife, Reziprozität und die Meistbegünstigung blieben im Kern die umstrittenen Fragen, dennoch erreichte die Diskussion um die amerikanische Konkurrenz in dieser Zeit einen neuen Höhepunkt. Nicht so sehr die Schärfe der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungen - 1900 schlossen Deutschland und die Vereinigten Staaten ein Handelsabkommen ab - , sondern vielmehr die Wahrnehmung des enormen wirtschaftlichen Aufstiegs der Vereinigten Staaten bewegte die Gemüter in Deutschland. Fragen nach dem vertraglichen Verhältnis zu Amerika, nach der „Fairness" der Amerikaner und den Möglichkeiten, der amerikanischen Konkurrenz entgegenzuwirken, wurden im Verlauf der 1890er Jahre durchgehend gestellt. Um die Jahrhundertwende jedoch rückten neue Komponenten in die Diskussion über die amerikanische Konkurrenz und Wirtschaftskraft. In der Öffentlichkeit und in den Parteien in Deutschland erlangten Überlegungen nach den Gründen des „amerikanischen Erfolgs" und seine Bedeutung für Deutschland und Europa enorme Wichtigkeit. Wie gefährlich konnte die aufsteigende „junge Republik" in ihrer wirtschaftlichen Kraft und politischen Ausdehnung für Deutschland und Europa werden, lautete die zentrale Frage. Der Begriff der „amerikanischen Gefahr", der um die Jahrhundertwende nicht erst neu entstanden war, begann die Betrachtungsweise amerikanischer Außenpolitik und Außenwirtschaftpolitik in den Jahren nach dem spanisch-amerikanischen Krieg bis ungefähr zum Abschluss des neuen Zolltarifs von 1902/03 zu dominieren. So schillernd und oft unbestimmt er auch gewesen sein mag, von den Zeitgenossen wurde er doch mit einigen festen Komponenten gefüllt: der Sorge vor dem Verdrängtwerden aus den Drittmärkten, namentlich Lateinamerika, der Angst, im direkten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf mit den Vereinigten Staaten zu unterliegen und schließlich der Furcht, den heimischen Markt nicht nur durch Produkteinfuhren an die Vereinigten Staaten zu verlieren, sondern ihn ebenso der Beherrschung amerikanischer Wirtschaftsformen zu überlassen.1 1 Die „amerikanische Gefahr" wird in der Fachliteratur unterschiedlich bewertet. In der älteren Darstellung spricht Vagts von der „Phantomgestalt der amerikanischen Gefahr", von einem aus der deutschen Innenpolitik geborenen Gespenst. Er übersieht dabei den dauerhaften Aufstieg der US-Industrie und lässt die dritten Märkte außer Acht. In ihren Arbeiten widerlegt
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Die besondere Aufmerksamkeit, die dem industriellen Aufstieg der Vereinigen Staaten in Deutschland geschenkt wurde, rührte aber auch aus der Tatsache, dass beide Länder fast gleichzeitig den Übergang von einem rein agrarischen Land zum Industriestaat geschafft hatten. Das Deutsch Reich befand sich seit Mitte der 90er Jahre in einer beispiellosen Hochkonjunktur, lediglich durch zwei kurze Rezessionen 1901/02 und 1907/08 unterbrochen, wies die Wertschöpfung der gesamten Wirtschaft zwischen 1895 und 1913 eine Steigerung um 75% auf. Die Nettoinvestitionen kletterten auf neue Rekordhöhen, sie stiegen schneller als der Verbrauch in privaten und öffentlichen Haushalten, was zur Folge hatte, dass ein Teil des Zugewinns reinvestiert und damit das Wachstum gesichert wurde. Die neuen Zugpferde des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland waren der Maschinenbau, die chemische und die Elektroindustrie. Die neuen Sektoren der Wirtschaft wurden von traditionellen Industriezweigen wie dem Kohlebergbau sowie der Eisen- und Stahlindustrie unterstützt, sie bildeten sozusagen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Dies schaffte Überkapazitäten, die auf dem Weltmarkt abgebaut werden mussten. Deutschland drängte mit aller Macht in die Weltmärkte. Die Vereinigten Staaten befanden sich in einem ähnlichen Prozess. Nach dem Bürgerkrieg und mehreren Wirtschaftkrisen, die letzte zwischen 1893 und 1897, brachte die Jahrhundertwende einen ungeheuren Boom. Die Verkehrswege waren weitgehend erschlossen, die Bevölkerungszahl stieg stetig an, und der Wandel vom Agrar- hin zum Industriestaat war in vollem Gange. Ab 1896 erzielten die Vereinigten Staaten regelmäßig Exportüberschüsse, suchten also auch nach ausländischen Absatzmärkten, und überholten um die Jahrhundertwende Großbritannien und das Deutsche Reich in der Industrieproduktion. Beide Länder waren also zu wirtschaftlichen Rivalen geworden. Diese Voraussetzungen nährten in Deutschland die Sorge um eine wirtschaftliche Überlegenheit der Vereinigten Staaten.2 Die Wahrnehmung in Deutschland war jedoch neben den tatsächlichen Exportund Importzahlen sehr stark von der amerikanischen Politik und dem Eindruck einer aufsteigenden Macht, die nun nach Europa griff, geprägt. Die Angst, der heimische Markt werde, neben dem Verdrängen der deutschen Wirtschaftsinteressen, durch amerikanische Erzeugnisse überflutet werden, nahm erheblich zu. Genährt wurde dies durch das Vordringen amerikanischer Firmen und Unternehmen auf den deutschen Markt. Trusts und Syndikate standen dabei als Synonym für eine amerikanische Invasion Europas. Europaweit wurde der Druck der amerikanischen Exporte Hase diese Behauptung mit einer genauen Beschreibung der Lage in Lateinamerika, den Handelszahlen zwischen Deutschland und Europa und mit dem Hinweis auf die Soige über die „amerikanische Gefahr" in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder England. Hase betont daher die Wichtigkeit Lateinamerikas für die Wahrnehmung der „amerikanischen Gefahr". Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 322ff. Ders., Die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen, S. 332-335 und Vagts, Deutschland und die Vereinigten Staaten, S. 345. 2 Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches einleitend Wehler, Hans-Ulrich. Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1918, München, 1995, S.612ff. Zu Amerika einleitend Wright, Economic History of the United States, S. 519 ff.
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III. Die amerikanische Gefahr
ebenso spürbar. Amerika, das 1890 Waren i m Wert von 677,3 Millionen Dollar nach Europa exportierte, konnte das Exportvolumen bis 1914 auf 1471,3 Millionen Dollar steigern, 1901 erreichten die amerikanischen Exporte die Höhe von 1122,2 M i l lionen Dollar, also fast eine Verdoppelung i m Vergleich zum Jahr 1890. Z u Beginn des Kaiserreichs 1871 betrug das amerikanische Exportvolumen nach Europa gerade 344,8 Millionen Dollar. 3 Der enorme Anstieg der amerikanischen Exporte nach Europa um 1900 verstärkte den Eindruck, Amerika werde Europa mit seinen Erzeugnissen überfluten. Der Begriff von der „American invasion of Europe" machte in vielen europäischen Staaten die Runde. 4 I n Deutschland war die Diskussion um die „amerikanische Gefahr" kein ausschließliches Anliegen der Parteien, sie erfasste in weitaus größerem Maße die politisch interessierte Öffentlichkeit und Wirtschaftskreise und provozierte fast jeden namhaften Ökonomen zur Stellungnahme. Die Publizistik dieser Jahre zu dem großen Themenkomplex „Amerika" erreichte einen neuen Höhepunkt. Zahlreiche Bücher und unzählbare Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge mit dem Titel „amerikanische Gefahr" berichteten über die von Amerika ausgehende Bedrohung, eine noch größere Flut von Veröffentlichungen widmete sich den verschiedensten politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Themen als Erklärungsversuche des wirtschaftlichen Aufstiegs der Vereinigten Staaten. 5 Die Diskussion der Jahrhundertwende verlief jedoch zusehends unter veränderten Vorzeichen. Der Begriff „Euro3
Zwischen 1890 und 1913 stieg der amerikanische Export nach Deutschland von 86 Millionen auf 194 Millionen an, machte jedoch keinen signifikanten Sprung um 1900. Der Anteil der USA an der Weltindustriewarenproduktion betrug 1900 24%. Bis 1913 wurde Großbritannien von den Vereinigten Staaten als Produzent auf dem Weltmarkt überholt. Eine genaue Auflistung der exportierenden Branchen findet sich bei Novack, David E.¡Simon, Matthew, Some Dimensions of the Invasion of Europe, 1897-1914. An Introductory Essay, in: Journal of Economic History, 24 (1964), S. 594-598 und Nussbaum, Helga, Der europäische Wirtschaftsraum. Verflechtung, Ausgleichung, Diskrepanz, in: Klein, Fritz/Aretin, Otmar (Hrsg.), Europa um 1900, Berlin, 1989, S.44ff. Zum Außenhandel allgemein vgl. Lipsey, U.S. Foreign Trade, S. 685-692. 4 Auch von amerikanischer Seite gab es Stimmen, die von einer „American invasion of Europe" sprachen, so z. B. der Vizepräsident der National City Bank in New York und ehemaliger Unterstaatssekretär im Schatzamt der Vereinigten Staaten, Frank Vanderlip. Europa sei das Land der unterentwickelten Fähigkeiten, ein reiches Feld für amerikanische Industrielle. Inzwischen lasse sich Europa von Amerika belehren, es müsste also vielmehr „Neues Europa" und „Altes Amerika" heißen. Einzig dem Deutschen Reich und Großbritannien gab Vanderlip eine Chance, sich im industriellen Konkurrenzkampf gegen die Vereinigten Staaten zu behaupten. Deutschland habe ohne natürliche Vorteile einen großen Aufstieg seit der Reichsgründung geschafft, und Großbritannien verfüge ähnlich den Vereinigten Staaten über Rohmaterial, Maschinen und moderne Arbeitsmethoden. Vanderlip, Frank A., Amerikas Eindringen in das Europäische Wirtschaftsgebiet, Berlin, 1903, S. 32. S. 49 und S. 59 s. auch die Rezension von Waenting, Heinrich in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 27, 1,2 (1903), S. 350-352. 5 Zu den bekanntesten Titeln zur „amerikanischen Gefahr" gehören: Doeberitz-Knebel, Hugo, Besteht für Deutschland eine amerikanische Gefahr, Berlin, 1904. Salomonsohn, Arthur, Reise-Eindrücke aus Nordamerika. Bericht erstattet in der Sitzung des Aufsichtsrats der Diskonto-Gesellschaft am 29.4.1903, Berlin, 1903 und Prager, Die amerikanische Gefahr und Lenschau, Die amerikanische Gefahr.
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pa" wurde immer stärker in die Diskussion einbezogen. Aus der Warte der Zeitgenossen ging es nicht mehr nur um eine wirtschaftspolitische Auseinandersetzung zwischen Amerika und dem Kaiserreich, sondern um ein weltweites Ringen um Einflusssphären, Absatzgebiete und Handelsvorteile zwischen Europa und Amerika sowie um die Selbstbehauptung Europas. Die Anrufung Europas als Gegenpol zu Amerika erlaubte aber auch vielen Kommentatoren und Beobachtern, der amerikanischen Wirtschaftsstärke ein Gleichwertiges gegenüber zu stellen, um nicht Deutschland als einen einsamen Kämpfer gegen das Vordringen des amerikanischen Einflusses und der amerikanischen Wirtschaft präsentieren zu müssen. a) Der amerikanische Erfolg Doch bevor die Frage gestellt wurde, ob eine „amerikanische Gefahr" für Deutschland bestehe, und wenn ja, wie ihr begegnet werden könne, entwickelte sich eine intensive Ursachenforschung und Analysearbeit des amerikanischen Erfolgs. Fragen nach den Gründen des amerikanischen Erfolgs vermischten sich mit Anerkennung und Bewunderung für die Wirtschaftsmacht „Amerika". Nicht einhellig sahen die zeitgenössischen Beobachter ein Bedrohungspotenzial für Deutschland, einige erblickten in der Wirtschaftskraft Amerikas auch eine Chance, überholte Arbeitsmethoden und Wirtschaftsformen in Deutschland zu überdenken und sie zeitgemäß umzugestalten. In der Öffentlichkeit bildete sich ein Fundus an Beschreibungsmustern, der für die Ursachen und Gründe des amerikanischen Ausstiegs herangezogen wurde. Viele der Veröffentlichungen konzentrierten ihre Hauptargumente auf einige wenige Voraussetzungen und Merkmale des amerikanischen Wirtschaftslebens, die der amerikanischen Wirtschaftskraft einen derartigen Auftrieb verschaffen konnten. Fast alle Beobachter waren sich aber einig, dass es der „kühne Unternehmergeist" der Amerikaner und die natürlichen Voraussetzungen des Landes seien, die es ihm ermöglichten, wirtschaftlich zu den Europäern aufzuschließen und sie sogar zu überholen.6 Der Reichtum des Landes an natürlichen Ressourcen und das inzwischen ausgebaute und funktionierende Verkehrssystem faszinierte 6
So z. B. Polenz und Präger, die den kühnen Untemehmergeist der Amerikaner, der sich frei von feudalen „Rückständen" und rechtlichen Beschränkungen entfalten konnte, und die „Lust und Liebe" der Arbeiter ohne Klassenhass zu arbeiten als entscheidend für den amerikanischen Erfolg hervorhoben. Prager, Die amerikanische Gefahr, S. 5 ff. und Polenz, Das Land der Zukunft, S. 94. Vgl. auch Polenz' Analyse der wirschaftlichen Verhältnisse in Amerika in den Grenzboten. Ders., Die Grenzen des amerikanischen Aufschwungs, in: Die Grenzboten, 62,1 (1903), S. 625-636. S. 708-719 und S. 752-765. In der Publizistik aber auch wurde hin und wieder der amerikanische „Raub an Natur", wie Abholzung von Wäldern und Ausdehnung der Städte beklagt, z. B. der Journalist der Gartenlaube und Trivialautor Paul Grzybowski oder Diercks. Vgl. Grzybowski, Paul, Land und Leute in Amerika, Berlin, 1894, S. 3 und Diercks, Kulturbilder aus den Vereinigten Staaten, S. 86. Der Autor Schultze-Großborstel schrieb nach seinem Amerikabesuch 1910: „Es ist seit Jahrzehnten eine bekannte Tatsache, daß die Nordamerikaner, oder richtiger gesagt die Einwohner der Vereinigten Staaten, mit dem Waldreichtum ihres Landes außerordentlich unvorsichtig und verschwenderisch umgehen." Schultze-Großborstel, Ernst, Streifzüge durch das nordamerikanische Wirtschaftsleben, Halle, 1910, S. 149 11 Czaja
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III. Die amerikanische Gefahr
viele Amerikareisende und deutsche Publizisten. Zwei Komponenten gehörten beständig zum Beschreibungsinventar des amerikanischen Aufstiegs. Neben der raschen Bevölkerungszunahme in den Vereinigten Staaten und des sich daraus ergebenden Wachstumspotenzials für die amerikanische Wirtschaft, gehörten die immense Größe des Landes und die damit verbundene endlose Zahl der Entfaltungsmöglichkeiten zu den festen Topoi der Bewertung der Ursachen des wirtschaftlichen Aufstiegs der Vereinigten Staaten.7 So war es unter anderen Max Prager, ein dem linksliberalen Spektrum zuzuordnender Ökonom, der die Mischung aus landwirtschaftlichem Erfolg und industriellem Aufstieg beschrieb, die in Europa als Bedrohung wahrgenommen wurden. 8 Der Begriff vom „Lande der unbegrenzten Möglichkeiten", in dem dank grenzenloser wirtschaftlicher Freiheit eine rapide wirtschaftliche und technische Entwicklung einsetzen konnte und Deutschland und Europa zu überholen drohte, fand Eingang in die zeitgenössische Publizistik.9 Daneben wurde der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung in Amerika immer wieder eine aggressive Tendenz entnommen, nach der Amerika bei der Eroberung fremder Märkte „planmäßig" vorgehe und Deutschland in die amerikanische Abhängigkeit treibe. 10 Die Amerikabeobachter im Deutschen Kaiserreich bedienten sich aber auch anderer Erklärungsmuster, wobei es bezeichnend ist, dass sie oft diejenigen gesellschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen des amerikanischen Aufstiegs nannten, die sie gerne auch in Deutschland realisiert gesehen hätten. Der Ingenieur Julius West nannte neben der technischen Entwicklung und der Tatsache, dass der europäische Auswanderer in Amerika bereit sei, mehr zu leisten als in seiner alten Heimat, die größere unternehmerische Freiheit in Amerika. Den europäischen Regierungen warf er „patronizing governments" vor und eine Behinderung der wirtschaftlichen Entfaltung durch die „Ketten veralteter Gesetze", wie sie eben in Amerika die Wirtschaftsentwicklung nicht hinderten. 11 Es war also praktisch der Mehrheit der deutschen Beobachter klar, dass sich Amerika von einem auf Landwirtschaft begrenzten Land zu einer Industrienation entwickelt hatte, die nun offenbar in der Lage war, den 7 Einige Veröffentlichungen widmeten sich ausschließlich dieser Frage. Z.B. Goldberger, Ludwig, Die amerikanische Gefahr, in: Preußische Jahrbücher, 120 (1905), S. 1-33. Kuchynski, Raoul, Die Einwanderungspolitik und die Bevölkerungsfrage der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin, 1903, S. 21 ff. und ders., Die Vereinigten Staaten zu Anfang des 20. Jahrhunderts in: Halle (Hrsg.), Amerika, S.61 ff. 8 Prager relativiert mit Zahlenbelegen über den deutschen Handel mit Amerika und die deutsche Verschuldung in Amerika die „amerikanische Gefahr", die er auch als „amerikanische Invasion" oder „amerikanisches Gespenst" beschreibt und sieht sie eher für „hochschutzzöllnerische" Zwecke in Deutschland missbraucht. Prager, Amerikanische Gefahr, S. 9 und S. 16. 9 Nach Goldbergers Buch „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten". 10 Z. B. Edgar, Jass6, Deutschland und die amerikanische Konkurrenz, in: Preußische Jahrbücher, 108 (1902), S. 146-152 oder Alfred Webern in: Die Zeit, Nr. 14, 2.1.1902. 11 West, Julius, Hie Europa! Hie Amerika! Aus dem Lande der krassen Utilität, Berlin, 1904, S. 15 oder der Gothaer Maschinenbauunternehmer Harjes, Philipp, Eine Reise nach dem Lande, wo die Arbeit adelt, Gotha, 1905, S.227.
1. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas
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europäischen Ländern ihre wirtschaftliche Stellung weltweit streitig zu machen und sie auf ihren eigenen Märkten herauszufordern. Die wirtschaftliche und politische Emanzipation Amerikas machte sich sehr deutlich in der zeitgenössischen Beobachtung von einem Amerika als einem von Europa unabhängigen und eigenständigen Land bemerkbar. Noch im 19. Jahrhundert war Europa auf allen Gebieten führend in der Welt, um die Jahrhundertwende entwickelte sich Amerika zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten. Ohne dass die Europäer ihr „Überlegenheitsgefühl" gänzlich aufgaben, rückte Amerika immer mehr auf die gleiche politische, wirtschaftliche und zuweilen auch kulturelle Stufe. In Amerika sahen Europäer nun eine schnelle Entwicklung voranschreiten, die Europa zu überholen drohte. Gleichzeitig sahen sie aber auch die Andersartigkeit des Landes.12 In den Reihen der Parteien wurde die neue wirtschaftliche Größe Amerikas von kaum einem der Gegner geleugnet. In der Anerkennung des wirtschaftlichen Aufstiegs Amerikas bewegten sich die unterschiedlichen Bewertungen seiner Bedeutung für Deutschland und die Suche nach seinen Ursachen. Dabei wischte die Achtung, gar Bewunderung vor „amerikanischen Leistungen" die Parteigrenzen der interessenmotivierten Bewertung der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik hinweg und schaffte ein buntes Konglomerat von Amerikabewunderern. Sicherlich nahmen die Sozialdemokraten eine Sonderstellung ein, ihre Anerkennung des amerikanischen Aufstiegs basierte auf einer ideologischen Überzeugung von der „Zukunftsfähigkeit" des Landes und des Gegenentwurfs zu dem von ihnen bekämpften „militaristischen und aristokratischen" Europa. Die traditionell amerikafreundlichen Linksliberalen hielten sich bemerkenswerterweise mit Lobeshymnen auf den amerikanischen Aufstieg zurück. Für sie bedeutete er zumeist eine sachliche Auseinandersetzung mit täglichen Wirtschaftsfragen. Vertreter der konservativen und der nationalliberalen Parteien aber, die die amerikanische Konkurrenz am meisten fürchteten, scheuten sich nicht davor, den wirtschaftlichen Aufstieg Amerikas als eine Gegenwartstatsache anzuerkennen. Freilich lieferte dieser Befund auch Munition für ihre Argumente, gegen die amerikanische Konkurrenz vorgehen zu wollen. Es ist jedoch auffällig, dass diejenigen Vertreter dieser Parteien, die Amerika aus erster Hand kennen gelernt hatten, eine grundsätzlich viel positivere Einstellung Amerika gegenüber an den Tag legten und frei von Anfeindungen die „amerikanischen Leistungen" beschrieben. Eine Ausnahme bildete jedoch das Zentrum, auch wenn Zentrumspolitiker sich zur amerikanischen Außenhandelspolitik äußerten und an der Diskussion zu „Mitteleuropa" teilnahmen, gibt es nur sehr wenige Bemerkungen, die eine bewundernde Sichtweise der wirtschaftlichen Entwicklung in Amerika erahnen lassen.
12 Kaelble spricht von einem „Wandel des europäischen Selbstverständnisses" und einer „spürbaren Verunsicherung" im europäischen Bewusstsein. Kamphausen weist auf die Gründung amerikanischer Universitäten hin, die in Deutschland und Europa als „intellektuelle Unabhängigkeit" gewertet wurden. Vgl. Kaelble, Europäer über Europa, S. 62 und S. 82 und Kamphausen, Die Erfindung Amerikas, S. 30.
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III. Die amerikanische Gefahr
Allen voran traten die Sozialdemokraten an die vorderste Stelle mit ihren Lobeshymnen auf den wirtschaftlichen Erfolg der Vereinigten Staaten. In den 1890er Jahren äußerten sie immer wieder ihre Anerkennung der wirtschaftlichen Leistungen Amerikas. Sicherlich waren dabei deutschland- bzw. europakritische Töne unüberhörbar. Sie entwarfen ein Bild von Amerika, das ihnen erlaubte, die von ihnen benannten Defizite der deutschen Gesellschaft bzw. des wirtschaftlichen Lebens in Deutschland anzuprangern und „Amerika" als Argument im innenpolitischen Kampf zu verwenden. Insofern ist die sozialdemokratische Wahrnehmung des wirtschaftlichen Aufstiegs Amerikas auch das Spiegelbild der Haltung der Sozialdemokratie zum kaiserlichen Deutschland. Es gehörte zum festen Bestandteil der Herangehensweise der Sozialdemokraten, Amerika als einen Gegenentwurf zu Europa zu präsentieren. Der amerikanische Erfolg wurde mit den Spezifika erklärt, die nach Ansicht der Sozialdemokraten in Europa nicht existent waren. Vor allem im Vorwärts - bereits vor der Diskussion um die „amerikanische Gefahr" - wurde der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas mit den zu Europa gegensätzlichen Verhältnissen erklärt. Die spezifisch politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Amerika würden Europa weit hinter die Vereinigten Staaten fallen lassen. Der Vorwärts sprach schon sehr bald, früher als andere sozialdemokratische Organe, von der „aufsteigenden Macht Amerika" und war das einzige sozialdemokratische Blatt, das konsequent diese Überlegung bis in das 20. Jahrhundert hinein verfolgte. Zu Beginn der 90er Jahre wurde die von den Sozialdemokraten als solche benannte Überlegenheit der amerikanischen Wirtschaft sowohl aus der Stärke Amerikas als auch von den „Missständen" Europas her erklärt. Die Jungfräulichkeit des amerikanischen Bodens, die herrenlosen Landflächen und die besondere Schulung der amerikanischen Farmer wurden zwar als Faktoren des Aufschwungs ebenfalls angeführt. Das Thema des „fehlenden Militarismus" und des „Nationenhaders" sowie zuweilen der „persönlichen Freiheit" in Amerika gehörten aber zu den gängigsten Erklärungsmustern der amerikanischen Spitzenposition unter den Industrienationen. Wie es an vielen Stellen des Vorwärts hieß, würden in Amerika keine „Volksverdummung", kein „Polizeidruck", kein „militärischer Drill" und keine „religiöse Zucht" die wirtschaftliche Entfaltung hemmen. Die vernichtende Erscheinung Europas im Vergleich zu Amerika, so der Vorwärts, sei auf die „freie Entwicklung des Geistes", den frischen „Hauch des Lebens", den Erfindungsgeist und die Unternehmungslust in Amerika zurückzuführen. 13 Amerika wurde als Beispiel ei13 Vorwärts, Nr. 273, 23.11.1897. Selbst Kautsky äußerte gewisse Sympathien für die wirtschaftliche Stärke der Vereinigten Staaten und konnte ihren wirtschaftlichen Aufschwung nicht verhehlen. Da Amerika für Kautsky das Musterland einer „kapitalistischen Republik" darstellte, untermauerte er sein Urteil über die Zukunftsaussichten Amerikas mit der „Kühnheit einer Kapitalistenklasse", die an Energie, Reichtum und Rücksichtslosigkeit nicht zu übertreffen sei. Er erblickte auch in Amerika diejenigen Eigenschaften und Traditionen, für welche die Sozialdemokraten in Europa kämpften, wie die Freiheit von Militarismus und von nationalen Gegensätzen. Kautsky, Karl, Deutschland und die amerikanische Zollpolitik, in: Neue Zeit, 9 (1890/91) I, S. 324. Erklärungen des amerikanischen Aufstiegs als Ergebnis des „fehlenden
1. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas
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nes aufstrebenden Landes ohne Militarismus und Nationalismus genannt und als Argument gegen den europäischen Militarismus und Nationalismus verwendet. In Amerika würden die wissenschaftlichen Errungenschaften und die technischen Fortschritte in den Dienst der Industrie und Landwirtschaft gestellt, in Europa dagegen werde die geistige Überlegenheit dafür gebraucht, die Kanonen zu verbessern und die Bajonette zu vervollkommnen. Das Ergebnis der beiden entgegengesetzten Lebensweisen bewirke, dass Amerika höher und höher in Reichtum, Macht und Kultur steige, während Europa der Vernichtung entgegenschreite.14 Der hier aufgebaute Gegensatz zwischen dem „militaristischen" Europa und dem „fortschrittlichen" Amerika sowie die Anerkennung der wirtschaftlichen Überlegenheit Amerikas gingen so weit, dass der Vorwärts gar die Wirkungen der amerikanischen Tarife für Deutschland als „gering" einschätzte. Das Fehlen des Militarismus in Amerika als Ursache für den wirtschaftlichen Aufstieg etablierte sich als Topos in den Kommentaren des Vorwärts bereits zu Beginn seines Erscheinens im Jahre 1891. Die Mitarbeit Liebknechts, der die meisten Kommentare zu Amerika verfasste, machte sich in dieser Hinsicht besonders bemerkbar. Als begeisterter Anhänger des demokratischen und republikanischen Amerika baute er oft einen Gegensatz zum „militaristischen Europa" auf. Amerikas Leistungen und sein Aufstieg dienten Liebknecht als Beispiele einer Entwicklung ohne „Militarismus". Im Militarismus, in den steigenden Rüstungsausgaben und Kriegen sah Liebknecht den „Feind jeder freiheitlichen Entwicklung"; seiner Meinung nach verdanke Amerika seinen Aufstieg schlicht und einfach der Abwesenheit von Militarismus. 15 In Laufe der 1890er Jahre baute Liebknecht immer wieder einen Gegensatz zwischen Amerika und Europa auf. Die von ihm gepriesenen Eigenschaften eines Staates, republikanische Staatsform, fehlender Militarismus und Militarismus" tauchten gelegentlich in der Zentrumspresse auf. Z.B. Kölnische Volkszeitung, Nr. 566, 7.7.1903 und Nr. 695, 19.8.1903. 14 Vorwärts, Nr. 153, 3.7.1892 und Nr. 219, 18.9.1896. Bei der Bewertung des amerikanischen Aufschwungs hinsichtlich der Faktoren „Boden" und „Ländereien" wurde auf die Abhandlungen von Max Sering und Rudolph Meyer Bezug genommen. Beider Autoren verwiesen auf die „Jungfräulichkeit" und die endlose Verfügbarkeit von Landfkächen in Amerika. Vgl. Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas. Meyer, Rudolph, Die Ursachen der amerikanischen Konkurrenz, Berlin, 1883. 15 Zu Liebknechts „antimilitaristischem Kampf" vgl. Knorr, Lorenz, Wilhelm Liebknechts antimilitaristischer Kampf, in: Beutin, Wölfgang/Malterer, Holger/Mülder, Friedrich (Hrsg.), Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte. „Eine Gesellschaft der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit". Beiträge der Tagung zum 100. Todestag Wilhelm Liebknechts am 21. und 22. Oktober 2000 in Kiel, Frankfurt am Main/Berlin, S.99-115 und Hofmann, Jürgen, Pfahl im Fleische der modernen Kultur, Zur Analyse des Militarismus bei Wilhelm Liebknecht, in: ebd., S. 121-128. Von Amerika als „Zukunftsmacht" zeigte sich auch der Leipziger Historiker Karl Lamprecht überzeugt. Nach seiner Amerikareise im Jahr 1904 schrieb er voller Bewunderung über die künftige Größe des Landes und hielt dessen physische wie psychische Hilfsquellen für keineswegs erschöpft. Lamprecht machte jedoch eine Einschränkung für die amerikanische Entwicklung, sollte Amerika einen „übertriebenen Imperialismus" verfolgen. Lamprecht, Americana, S. 10.
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III. Die amerikanische Gefahr
die Volksherrschaft, projizierte er oft auf Amerika und präsentierte es als Vorbild für einen idealen deutschen Staat. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas und der politische und ökonomische Niedergang Europas wurden als zwei Seiten ein- und derselben Medaille gesehen. Wilhelm Liebknecht und der Vorwärts betonten mit besonderer Vehemenz das von „Militarismus" freie Amerika als Ursache für seinen wirtschaftlichen Aufstieg und hielten dem das Bild des „rückständigen Europas" entgegen. Aber auch von anderen Seiten der sozialdemokratischen Partei erfuhr Amerika Bewunderung. Das Bild eines Gegenentwurfs zu Europa schimmerte auch bei den sozialdemokratischen Amerikakritikern als Erklärung für den wirtschaftlichen Erfolg durch. 16 Richard Calwer, ein sehr kritischer Beobachter der Vereinigten Staaten, zog die wirtschaftspolitische Cleverness der Amerikaner und die natürlichen Bedingungen ihres Landes als Erklärung für den amerikanischen Erfolg heran. Calwer bescheinigte den Amerikanern, das „geschichtliche Glück" gehabt zu haben, großes und von der Natur sehr begünstigtes Wirtschaftsgebiet vorgefunden, aber auch die Weitsicht, wirtschaftliche Strukturen und Betriebe nach „modernen Prinzipien" aufgebaut zu haben. Calwer bediente sich des im 19. Jahrhunderts gängigen Arguments der Freiheit von geschichtlicher Last, der ökonomischen „Jungfräulichkeit" und des amerikanischen Unternehmertums zur Erklärung des amerikanischen Aufstiegs.17 Den Gegensatz zu Deutschland baute ein weiterer Beitrag in den Sozialistischen Monatsheften viel markanter auf. Der Verfasser zählte eine Reihe von ökonomischen und geographischen Bedingungen auf, wie die guten Verbindungswege, genügend Vorrat an Landfläche und Kapital, die energische Tätigkeit in jedem Arbeitsbereich und die Dienste des Agricultural Department, um am Beispiel der amerikanischen Landwirtschaft den großen Grad an Industrialisierung aufzuzeigen. In diesem Sinne sprach er nicht von einer amerikanischen Landwirtschaft in der herkömmlichen Bedeutung des Wortes, sondern von einer „industrialisierten Landwirtschaft", die nach modernen Standards und Methoden betrieben werde. Als negatives Gegenbeispiel präsentierte der Verfasser die „verkrusteten" Strukturen der deutschen Landwirtschaft, und wie er feststellte, sei daran nicht nur die fehlende Industrialisierung 16
Selbst in der Neuen Zeit fanden sich lobende Worte für die technischen Leistungen Amerikas. Anlässlich der Weltausstellung in Chicago im Jahre 1893 schrieb Adolf Hepner eine Reihe von Briefen voller Enthusiasmus über die technischen Errungenschaften der Vereinigten Staaten. Auch in den folgenden Jahren finden sich immer wieder lobende Worte für die Arbeitsmethoden, die Transportmöglichkeiten und den technischen Fortschritt in Amerika. Adolf \ Hepner, Chicagoer Weltausstellungsbriefe, in: Neue Zeit, 12 (1893/94) I, S.48 und S. 107 und ders., Zur Entwicklung der Großschlächtereien in Amerika, in: ebd., 24 (1905/06) I, S.384 und S. 389. Erst deutlich nach der Jahrhundertwende mehren sich die Berichte über die „negativen Folgen" der ,Amerikanisierung" wie der Rationalisierung der Arbeitsmethoden. Z.B. Woldt, Richard, Technisch-wirtschaftliche Rundschau, in: ebd., 30 (1911/1912) I, S.27. 17 Calwer, Richard, Weltpolitik und Sozialdemokratie, in: Sozialistische Monatshefte, 2 (1905), S.745.
1. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas
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schuld, sondern vor allem die politische Machtstellung der Agrarier, die an „alten Traditionen" festhielten und einen „Fortschritt" verhinderten. 18 Die Bewunderung für den wirtschaftlichen Erfolg Amerikas kam aus verschiedenen Richtungen der Sozialdemokratie. August Bebel, kein Anhänger der Vereinigten Staaten und mit wenig Interesse an diesem Land, zeigte sich im Zusammenhang mit der Venezuela-Krise von 1902/03 vom Tempo der amerikanischen Transformation von einem rein agrarischen zum Industriestaat beeindruckt und nutzte den „amerikanischen Aufstieg" als Hilfsargument, um vor einem „imperialistischen Wettlauf" mit den Vereinigten Staaten zu warnen. Er legte dar, mit welcher Geschwindigkeit die Amerikaner durch Erfindungen und Verbesserungen aller Art das alte Europa in den Schatten gestellt hätten. Bei seiner Lobrede auf den amerikanischen Aufstieg schöpfte er gerne aus dem zeitgenössischen Fundus an Beschreibungsmustern und sprach von der „kolossalen technischen Entwicklung", der „außerordentlichen Energie und Tatkraft" und unerschöpflichen Finanzmitteln Amerikas. Es ist fraglich, ab Bebel tatsächlich vom „amerikanischen Aufstieg" überzeugt war, in seiner politischen Laufbahn zeigte er kein besonderes Interesse an den Vereinigten Staaten und stand dem amerikanischen Republikanismus äußerst reserviert gegenüber. Gewiss war er auch Innenpolitiker genug, um gleichzeitig Amerika als Argument gegen deutsche Absichten in Venezuela zu verwenden, er konnte sich aber dem Eindruck der wirtschaftlichen Stärke der Vereinigten Staaten und ihres „ernormen" Aufstiegs nicht entziehen.19 Eine solche Bewunderung der amerikanischen Arbeitsweisen ist natürlich nicht mit einer Kapitalismusbewunderung gleichzusetzen, in dieser Hinsicht war die Kritik selbstverständlich vorherrschend. Die Erklärungsversuche für den amerikanischen Erfolg rührten aus verschiedenen politischen und weltanschaulichen Impulsen der Sozialdemokratie her. Für überzeugte Republikaner wie Liebknecht war der amerikanische Fortschritt nur ein weiterer Beweis der Überlegenheit eines republikanisch-demokratischen Systems gegenüber dem monarchischen, undemokratischen in Europa und eine Bestätigung der Richtigkeit ihres Weltbildes. Gerne haben er und der Vorwärts die politisch-gesellschaftliche Andersartigkeit Amerikas gelobt und sie als Heilmittel für die von ihnen angeprangerten „Defizite" in Deutschland präsentiert. Sicherlich erwies sich der amerikanische Erfolg oft als dankbares Argument in der Innenpolitik. Aber auch die technische Entwicklung und „moderne" 18 Winter, August, Der industrielle Charakter der nordamerikanischen Landwirtschaft, in: Sozialistische Monatshefte, 1 (1900), S. 396. 19 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 11.12.1897, Bd. 1 S. 159 und ebd., lO.Leg. 2. Sess. 22.1.1903. Bd. 8 S. 7470. Bebel äußerte bereits während der Weltausstellung in Chicago seine Bewunderung für die technischen Errungenschaften und den technischen Fortschritt in Amerika. In der Debatte zur Genehmigung der Mittel für die deutsche Teilnahme an der Weltausstellung in Chicago stellte er fest, in wie vielem die Amerikaner Deutschland überlegen seien und welche,»riesenhaft technischen" Fortschritte Amerika auf allen Gebieten der Erwerbstätigkeit und in der Landwirtschaft gemacht habe. Ebd., 8. Leg. 2. Sess. 28.1.1893, Bd. 1 S.738.
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III. Die amerikanische Gefahr
Wirtschaftsformen in Amerika imponierten den Sozialdemokraten. Sie hatten ihrer Ansicht nach den amerikanischen Erfolg ermöglicht und würden auch in Deutschland zum Erfolg führen und im Endeffekt den Arbeitern zu Gute kommen. Die Sichtweise der Sozialdemokraten war von praktischem Interesse an Amerika und von ideologischem Gedankengut geprägt. Auf den ersten Blick überrascht es aber ein wenig, dass ihre Verbündeten im innenpolitischen Kampf für gute deutschamerikanische Beziehungen, die Linksliberalen, trotz der intensiven Beschäftigung zahlreicher ihrer prominenten Politiker mit den Vereinigten Staaten relativ selten den amerikanischen Aufstieg bejubelten. Sicherlich spielte ein sachlich orientierter Zugang zu amerikanischen Themen eine Rolle, es fehlte aber vor allem die ideologische Amerikabetrachtung der Sozialdemokraten, auch wenn die staatspolitischen Affinitäten offensichtlich waren. Ausschlaggebend scheint jedoch bei führenden Linksliberalen die weitgehend nicht existente Furcht vor der amerikanischen Konkurrenz gewesen zu sein und der Wille, mit den Vereinigten Staaten in Wirtschafsfragen Einvernehmen zu erzielen. Da gegen Amerika gerichtete wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht mitgetragen wurden, bestand kein Anlass, die „amerikanische Gefahr" zu dramatisieren, also auch nicht den besonderen Stellenwert der amerikanischen Wirtschaft in der Welt zu thematisieren. Es gab zwar vereinzelt Verlautbarungen, die die Überlegenheit Amerikas notierten, allerdings nur auf den Drittmärkten, diese wurde auf die Lebenshaltung und Leistung der amerikanischen Arbeiter und auf die besseren Exportzahlen und wirtschaftlichen Erträge zurückgeführt. 20 Viel typischer war bei weitem die Haltung, die der linksliberale Kommentator Paul Arndt in der Nation an den Tag legte. Auch er nahm die wirtschaftliche Expansion der Vereinigten Staaten zwar mit Erstaunen, aber doch mit Unbekümmertheit zu Kenntnis. Im Gegensatz zu vielen Konservativen und Nationalliberalen teilte er nicht die Angst vor dem Emporkommen eines überlegenen Rivalen. Für ihn war der amerikanische Aufschwung nur ein momentaner, der, sobald sich die konjunkturelle Lage änderte, zurückgehen werde. Vielmehr warnte er davor, die amerikanische Konkurrenzfähigkeit zu überschätzen und sie als Vorwand für „schutzzöllnerische Bestrebungen" in Deutschland zu missbrauchen.21 In der Mehrheit wurde in den Reihen der Linksliberalen der Begriff „die amerikanische Gefahr" als Ausdruck der Furcht vor einem übermächtigen wirtschaftlichen Konkurrenten vermieden. Amerikas wirtschaftlicher Aufstieg und wirtschaftliches Potenzial wurden zwar als durchaus beeindruckend empfunden, allerdings nicht als weltbewegendes Ereignis und mit keinerlei Gefahr für Deutschland verbunden. Der Eindruck eines unaufhaltsam wachsenden amerikanischen Konkurrenten wurde vermieden. Wie es in der Nation hieß, wüchsen die „amerikanischen Bäume" auch nicht in den Himmel. Eine klare Anerkennung einer für Deutschland bestehenden Gefahr hätte die Erklärung abverlangt, wie dieser Konkurrenz zu be-
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Gotheim im Reichstag. Ebd., lO.Leg. 2.Sess. 4.12.1901, Bd.4 S.2950. Arndt, Paul, Meistbegünstigung und nordamerikanische Konkurrenz, in: Die Nation, Nr. 34, 17.4.1902, Bd. 19 S.534 und ders., Amerikanische Gefahr, in: ebd., Nr. 48, 30.8.1902, Bd. 19 S. 756. 21
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gegnen sei. Überlegungen diesbezüglich hätten leicht auf den inzwischen weit verbreiteten Weg der Schutzzölle abgleiten können. So stießen Calwers Wertung und seine Folgerungen, als jemand der des „Agrariertums" unverdächtig war, ausdrücklich auf Widerspruch in der linksliberalen Publizistik. Amerikas besonders günstige Außenhandelswerte wurden als vorübergehend, die Ausfuhr amerikanischer Industrieprodukte nach Deutschland als verhältnismäßig gering erachtet und stets der Hinweis geäußert, dass der Absatz deutscher Produkte auf den Drittmärkten trotz amerikanischer Konkurrenz zugenommen habe und dass die Ausfuhr Deutschlands nach Amerika überwiegend aus Industrieprodukten bestehe.22 Den Linksliberalen fehlte der weltanschauliche Ansatz der Sozialdemokraten. Sachlichkeit und politisches Interesse an Amerika waren weitaus gewichtiger als selbstmotivierende Lobeshymnen auf Amerika. Den enormen wirtschaftlichen Erfolg der Vereinigten Staaten konnten sie aber nicht vollständig leugnen, der Rückgriff auf konjunkturelle Zyklen und wirtschaftspolitische Gesetzmäßigkeiten ersetzten die tiefgreifenden soziokulturellen und geschichtlichen Erklärungen der Sozialdemokraten. In der Wahrnehmung großer Teile der Linksliberalen drohte keine „amerikanische Gefahr" für Deutschland, solange Deutschland eine vernünftige Wirtschaftspolitik betrieb. In den Reihen der schärfsten Kritiker der amerikanischen Außenhandelspolitik, der Konservativen, traf der amerikanische Erfolg einen besonders empfindlichen Nerv. Den Befund vom wirtschaftlichen Aufstieg und der zunehmenden Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten konnten sie schwer widerlegen. Dies war nicht notwendig, denn eine aggressive amerikanische Außenhandelspolitik wurde seit Jahren beklagt, und eine wachsende Wirtschaftskraft konnte umso leichter als Argument für Abwehrmaßnahmen gebraucht werden. Auch wenn die wirtschaftliche Stärke Amerikas von den konservativen Parteien mit Sorge betrachtet wurde, konnten sich einige ihrer Vertreter der Faszination des amerikanischen Erfolgs nicht entziehen. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten Konservative bereits seit den 1880er Jahren die Entwicklung der Landwirtschaft in Amerika, entstand doch in 22
Arndt bezog sich auf Pragers Buch zur „amerikanischen Gefahr", nach dessen Darstellung keine „amerikanische Gefahr" für Deutschland bestehe, dieses Schlagwort werde nur als Vörwand für „hochschutzzöllnerische Bestrebungen" in Deutschland verwendet. Arndt, Meistbegünstigung und nordamerikanische Konkurrenz, S. 534ff. und ders., Amerikanische Gefahr, S. 756ff. In der linksliberalen Presse wurde ähnlich der sozialdemokratischen Sichtweise hin und wieder von der „Zukunftsfähigkeit" Amerikas und den günstigen Voraussetzungen für eine Weltmacht gesprochen, jedoch bei weitem nicht in diesem Umfang. Die Entdeckung Amerikas, wie die Freisinnige Zeitung schrieb, sei einer der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit gewesen. Europäer, Germanen und Romanen hätten dort gesiedelt, auf dem neu gewonnenen Boden hätte sich ein Staatswesen in anderer Weise als in Europa entfaltet. All jene Schranken, die als „fossile Reste geschichtlicher Entwicklung" dem geistigen Aufschwung Hindernisse gesetzt hätten, fehlten in Amerika. Freisinnige Zeitung, Nr. 179, 1.8.1892 oder auch in der Nation: Amerika habe die moralischen und intellektuellen Kräfte, um eine der stärksten Mächte der Zukunft zu werden. Vgl. Gizncki, Paul, Angloamerikanische Erziehungsideale, in: Die Nation. Nr. 52, 27.9.1902, Bd. 19 S.821.
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III. Die amerikanische Gefahr
dieser Hinsicht die primäre Konkurrenzsituation zwischen den deutschen und amerikanischen Getreideausfuhren. Zur Bekämpfung dieser Konkurrenz haben sie oft genug mit Forderungen die Kündigung des Meistbegünstigungsvertrages und Erhöhung der Zölle gefordert. Wie aber bei Vertretern anderer Parteien, die die Vereinigten Staaten aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatten, gab es auch in den Reihen der konservativen Parteien Stimmen, die nach Besichtigung der amerikanischen Verhältnisse - ohne dabei auf die Grundforderung der Schutzzollerhöhung zu verzichten - diese für lobenswert hielten und ihnen Anerkennung aussprachen. Es handelte sich dabei nie um eine parteipolitische Neuorientierung nach den zollpolitischen Tiraden gegen Amerika in den 1890er Jahren, auch nicht um eine grundsätzlich neue Betrachtungsweise der amerikanischen Wirtschaft, sondern um einzelne Stimmen, die aufgrund einer persönlichen Erfahrung das Land wohlwollender beurteilten. 23 Zu den prominentesten Amerikareisenden der konservativen Parteien zählte der freikonservative Abgeordnete und preußische Offizier Otto von Moltke. Moltke widmete einen Großteil seines Berichts der industriellen und technischen Entwicklung der Vereinigten Staaten. Er zeigte sich von dem noch nie „dagewesenen Aufschwung" in Amerika, seiner Bevölkerungszunahme und Verkehrsentwicklung beeindruckt. Viel interessanter jedoch ist Moltkes Erklärung für den amerikanischen Aufstieg. Das heutige Amerika, die „große Maschine" und die „kolossale Potenzierung der menschlichen Kraft", erkannte er als einzigartig in der Weltgeschichte an, sie sei das Produkt einer von Europa sich unterscheidenden Entwicklung. Moltke nannte eine Reihe von Erscheinungen, die seiner Ansicht nach Amerika den Aufstieg ermöglicht hatten: die freie Entfaltung der Individualität und die unbedingte Freiheit des Denkens und Handels, aber auch die Freiheit von polizeilicher Kontrolle und von Militär- und Beamten weit. 24 Es überrascht, dass ein konservativer Politiker die in der Sozialdemokratie gerne verwendeten Beschreibungsmuster gebrauchte. Moltke prangerte aber nicht die Verhältnisse in Deutschland an, wie es die Sozialdemokraten taten, sondern berichtete distanziert und kühl von der Andersartigkeit Amerikas. Er äußerte zwar große Anerkennung für die maschinelle Arbeitsweise und den technischen Fortschritt der Vereinigten Staaten, dies aber nicht, um Deutschland seine „Defizite" vorzuhalten, sondern um einen Appell an Deutschland zu richten, die eigenen technischen und finanziellen Möglichkeiten ausbauen. Trotz der enormen Wirtschaftskraft Amerikas sah Moltke keine unmittelbare Gefahr für Deutschland und hielt das öffentliche „Gerede" über eine bevorstehende weltwirt23 Einzig im konservativen Handbuch findet sich eine offizielle Anerkennung der Deutschkonservativen Partei für eine besonders gelungene Entwicklung in Amerika, die höheren Löhne der Arbeiter, wobei diese mit dem Hinweis auf den mangelnden Arbeiterschutz bei Unglücksfällen und fehlende Altersabsicherung in Amerika zurechtgerückt wird. Handbuch der Deutschkonservativen Partei, bearbeitet und herausgegeben vom Hauptverein der Deutschkonservativen Partei, Berlin, 1911,4. Auf., S.34. 24 Moltke, Otto, Nord-Amerika. Beiträge zum Verständnis seiner Wirtschaft und Politik, Berlin, 1903, S. 2.
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schaftliche Herrschaft der Amerikaner für übertrieben, solange Deutschland seine Konkurrenzfähigkeit nicht verliere. 25 Moltkes Beschreibungen, vor allem die Wahl seiner Begründungen des wirtschaftlichen Aufstiegs Amerikas, stellen eine Ausnahme in den konservativen Parteien dar. Die unmittelbare Beobachtung der amerikanischen Verhältnisse übte eine gewisse Faszination auf ihn aus. Er war aber stark genug im konservativen Denken verhaftet, um in Amerika nicht eine Vorbildfunktion für Deutschland zu erblicken. Eine ähnliche Sichtweise des amerikanischen Erfolgs ist beim zweiten prominenten Amerikareisenden aus den konservativen Parteien festzustellen. Johannes Hoffmann, Mitarbeiter der Kreuzzeitung und des Westfälischen Merkurs, der in Amerika für den Pittsburgher Beobachter gearbeitet hatte, verweilte in Amerika Anfang der 1890er Jahre. Nach seiner Rückkehr aus Amerika veröffentlichte er seine Eindrücke in Buchform und berichtete von der Größe, dem Potenzial und der landwirtschaftlichen Stärke des Landes. Amerika schrieb er die Eigenschaft zu, die „Speisekammer der Welt" zu sein. Bemerkenswert und für das konservative Milieu völlig untypisch war seine Lobeshymne auf die „Zukunftsfähigkeit" Amerikas. Wäre sein politischer Hintergrund unbekannt, könnte er eher den deutschen Sozialdemokraten zugeordnet werden. In Amerika erkannte er die Zeichen des „Fortschritts" und der „Freiheit", den Amerikanern schrieb er aufgrund ihres „Fleißes" und „Vorwärtsdranges" die Fähigkeit zu, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Amerika, so sein Fazit, gehöre die Zukunft. 26 Hoffmanns Beobachtung sind wie die Moltkes eine Ausnahmeerscheinung in den konservativen Parteien, auch er zeigte sich überzeugt von der amerikanischen Entwicklung, aber nicht von ihrer Vorbildfunktion für Deutschland. Es ist auffällig, dass die persönliche Erfahrung mit Amerika auch aus manchen der schärfsten Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik und Amerikas Bewunderer des amerikanischen Erfolgs machte. Freilich konnten sich konservative, im agrarischen Milieu beheimatete Beobachter wie Hoffmann oder Moltke nicht von den Urforderungen der Konservativen nach Zöllen und im Endeffekt nach einer Primärstellung der Landwirtschaft im Deutschen Reich lösen, sie verfielen aber auch nicht der plumpen, im agrarischen Milieu gängigen Erklärungsweise der amerikanischen Verhältnisse. Beispielhaft bediente sich der vielleicht bedingungsloseste Gegner der Vereinigten Staaten in den Reihen der Konservativen, Kanitz, eines einfachen Gedankenganges 25 Ebd., S. 30 und S.47. Die großen Stahlproduktionsstätten, der Einsatz von Maschinen bei der Herstellung von Gütern und die wirtschaftliche Bedeutung der Stahlproduktion für Amerika übten auf viele Reisende aus Deutschland eine Faszination aus. In zahlreichen Reiseberichten wird darüber berichtet. Z.B. bei Hesse-Wartegg, Amerika als neueste Weltmacht der Industrie, S. 189-194 und S. 205-215. Ähnlich auch Goldschmidt. Goldschmidt, Friedrich, Zum dritten und vierten Male in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Berlin, 1901, S. 18. Auch der Zentrumsabgeordnete Gerstenberger berichtete von den „modernen" amerikanischen Produktionsmethoden und Arbeitsweisen. Gerstenberger, Vom Steinberg zum Felsengebirg, S. 178. 26 Hoffmann, Amerikanische Bilder, S. 26 und S. 90-96.
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zur Erklärung des amerikanischen Aufstiegs. Vor dem Hintergrund seines Eintretens für die „Interessen der deutschen Landwirtschaft" wischte er alle Überlegungen zum wirtschaftlichen Aufstieg der Vereinigten Staaten beiseite und stellte eindeutig fest, dass es nicht die „größere Intelligenz", nicht der höher entwickelte Unternehmergeist oder Gewerbefleiß der amerikanischen Bevölkerung sei, die ihnen diesen Vorsprung verschafft hätten, sondern eine zielbewusste und rücksichtslose Zollpolitik. 27 Noch klarer fasste den Grund für den wirtschaftlichen Aufstieg der Vereinigten Staaten die Kreuzzeitung zusammen. Nicht der technische Fortschritt, auch nicht die Arbeitsweisen in Amerika seien der Grund für die wirtschaftliche Stärke, die wirtschaftliche Überlegenheit der Union beruhe auf dem „Wesen der Amerikaner", das aber nicht auf ihre Intelligenz zurückzuführen sei, sondern auf ihre Habgier, das Spekulantentum und die Schutzzölle.28 Zwar sprach die Kreuzzeitung gelegentlich von „immensem Reichtum der Republik" und oft von der bevorstehenden „Suprematie Amerikas über die ganze Welt", allerdings stets, um die Forderungen der deutschen Agrarier gegenüber der amerikanischen Konkurrenz zu begründen.29 Anerkennung oder Bewunderung des amerikanischen Erfolgs waren keine konservativen Domänen. b) Amerika als Vorbild für Deutschland Analysen und Beschreibungen des amerikanischen Aufstiegs, auch Bewunderung für amerikanische Leistungen wurden aus allen Parteien verlautbart. Besonders Sozialdemokraten begrüßten die neue Wirtschaftsmacht und nutzten jede Gelegenheit, um die wirtschaftlichen Leistungen Amerikas zu loben und sie den „Defiziten" in Deutschland vorzuhalten. Auch Vertreter anderer Parteien konnten sich dem Eindruck des enormen wirtschaftlichen Aufstiegs Amerikas nicht entziehen. Vereinzelt, jedoch sichtbar in geringerem Maß, erreichten Anerkennung und Bewunderung des amerikanischen Aufstiegs auch die wirtschaftspolitischen Gegner Amerikas, allerdings ohne den Konfrontationskurs zu den Vereinigten Staaten zu verlassen. Die Analysen der Gründe der Wirtschaftsmacht Amerika wären aber unvollständig gewesen, ohne eine Antwort auf ihr Bedrohungspotenzial zu geben. Die Mittel der 1890er Jahre, wie Zollerhöhungen oder der Ausstieg aus dem Meistbegünstigungsverhältnis, verloren um die Jahrhundertwende nicht an Aktualität, sie wurden um mitteleuropäische Gedankenspiele und die Versuche der Marktsperrung gegen amerikanische Trusts und Syndikate ergänzt. Aus verschiedenen politischen Richtungen jedoch wurden Stimmen laut, die einen anderen, weniger aggressiven Weg zum Umgang mit der „amerikanischen Gefahr" vorschlugen. Nicht ein Konfrontationskurs gegen die Vereinigten Staaten in Wirtschaftsfragen sollte Abhilfe gegen die „amerikanische Gefahr" schaffen, sondern ein Lernen vom amerikanischen Erfolg. Um den amerikanischen Konkurrenten einzudämmen, sollte aufgund 27 28 29
Verhandlungen des Reichstags, 10.Leg. l.Sess. 11.2.1899, Bd. 1 S.783. Kreuzzeitung, Nr. 136, 21.3.1903. Kreuzzeitung, Nr.574, 8.12.1900, Nr.288, 22.6.1901 oder Nr.486, 16.10.1901.
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gründlicher Analyse der amerikanischen Verhältnisse geprüft werden, inwiefern die Art des Wirtschaftens in Amerika auf Deutschland übertragbar sei, und wie deutsche Wirtschaftsformen zu modifizieren seien. Einen derartigen Versuch unternahm Friedrich Oetken, Mitglied der Deutschkonservativen Partei, Landwirt und Schriftsteller. Als Agrarier und Politiker der Deutschkonservativen Partei galt sein Augenmerk der deutschen Landwirtschaft und ihrem Behauptungskampf gegen die amerikanische Konkurrenz. Oetken bereiste die Vereinigten Staaten Anfang der 1890er Jahre und veröffentlichte als Ergebnis dieser Reise ein umfangreiches Werk zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen in Amerika. Darin empfahl er als Mittel gegen die amerikanische Konkurrenz, neben den standardisierten Forderungen nach besserem rechtlichem Schutz der deutschen Landwirtschaft, Schutzzöllen und niedrigen Steuern, vor allem ein genaues Studium der wirtschaftlichen Verhältnisse und der „Eigenschaften und Tätigkeit dieses Volkes". Für Oetken lag der Grund für den Erfolg der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten darin, dass in Amerika „die Luft in einem anderen Geiste anweht", was den Menschen erlaube, energischer „Hand ans Werk zu legen". Der Fleiß und der Tatendrang des amerikanischen Volkes waren für ihn aber nur ein Grund für den Erfolg der amerikanischen Landwirtschaft, auch die gezielte Förderung durch „landwirtschaftliche Unterrichtsanstalten" und die steuerliche Begünstigung hatten Oetkens Ansicht nach der amerikanischen Landwirtschaft einen enormen Auftrieb verschafft. Um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Landwirtschaft gegenüber Amerika zu erhalten, schlug Oetken vor, die „amerikanischen Ideen" von der gezielten Förderung der Landwirtschaft durch Schaffung von Fortbildungs- und Schuleinrichtungen zu heben, um auf diese Weise die „Leistungsfähigkeit und die Intelligenz der landwirtschaftlichen Bevölkerung" zu steigern. 30 Oetken schrieb seinen Bericht zu Anfang der 1890er Jahre, auch nach der Jahrhundertwende blieb die amerikanische Landwirtschaft das Hauptinteresse der Konservativen, dennoch nahmen sie auch den industriellen Aufschwung in Amerika und die beginnende Dominanz der amerikanischen Wirtschaft auf der Weltbühne durchaus wahr. Der Wirtschaftsreformer der Deutschkonservativen Partei Doeberitz-Knebel, der ebenfalls die Vereinigten Staaten besucht hatte, äußerte sich direkt zu dem Begriff der „amerikanischen Gefahr". Nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten präsentierte er seinem Publikum ein genaues Zahlenwerk der wirtschaftli30 Oetken, Die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten, S. 822-825. In der agrarischen Fachliteratur nahm die Beobachtung der Verhältnisse in Amerika einen durchaus prominenten Stellenwert ein. Deutsche Autoren bereisten Amerika und rieten zum genauen Studium der amerikanischen Landwirtschaft. Sie betonten die so genannten „Versuchsstationen" und das „Unterrichtswesen" als entscheidend für den Erfolg der amerikanischen Landwirtschaft. Beide Institutionen hätten die Aufgabe, Versuche zur Erhöhung der Ertragsgewinnung anzustellen und die Landwirtschaft zu belehren. U. a. Maercker, Max, Amerikanische Landwirtschaft. Landwirtschaftliches Versuchs- und Unterrichtswesen, Berlin, 1895, S. 60-71 und die Reiseberichte zur Lage der amerikanischen Landwirtschaft von Ferdinand Mohltmann und seinen Begleitern. Wohltmann, Ferdinand, Landwirtschaftliche Reisestudien über Chicago und Nordamerika, Breslau, 1894, S.90-122.
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chen Verhältnisse, der natürlichen Voraussetzungen und der Arbeits- und Produktionsprozesse beider Länder und kam zu dem Ergebnis, dass eine Gefahr für Deutschland nicht geleugnet werden könne. Für Doeberitz waren Deutschland und Amerika die schärfsten Konkurrenten weltweit, und wie sein Parteikollege Oetken riet er zum genauen Studium der amerikanischen Verhältnisse, um Amerika noch besser kennen zu lernen und das „Gute und Brauchbare" zu übernehmen. Gewiss sollte Deutschland weiterhin am Schutzzoll festhalten, aber die geringen Produktionskosten, der Ausbau der Verkehrswege und die betrieblichen Assoziationen könnten durchaus auf Deutschland übertragen werden. Doeberitz appellierte an die in den Vereinigten Staaten lebenden Deutschen und an die deutschen Konsulardienste, sich verstärkt dem amerikanischen Wirtschaftsleben zu widmen, um auf diese Weise Informationen über die amerikanische Wutschaftsentwicklung nach Deutschland zu liefern und die „amerikanische Gefahr" zu bannen.31 Oetken und Doeberitz gehörten nicht zu den prominentesten Vertretern der konservativen Parteien, ihre Vorschläge zum Umgang mit der amerikanischen Gefahr hatten keine Auswirkungen auf deren konzeptionelle Entwürfe. Sie zeigten aber, wie weit die Vorstellung vom wirtschaftlichen Aufstieg der Vereinigten Staaten auch in die Reihen der Amerikagegner eindringen konnte, und dass wirtschaftspolitische Schritte auch den Kritikern der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik nicht genügten, um die amerikanische Konkurrenz abzufedern. Die Idee, alternative Möglichkeiten zur Abwehr der „amerikanischen Gefahr" zu finden, blieb in den konservativen Parteien eine Randerscheinung von wenigen sich mit Amerika besonders intensiv beschäftigenden Persönlichkeiten. Die Mehrheit der konservativen Parteien favorisierte marktpolitische Maßnahmen. Eine klare marktpolitische Antwort auf die „amerikanische Gefahr" zu finden, war ebenfalls die vorherrschende Meinung in der Nationalliberalen Partei. Analog zu den Konservativen wurden jedoch auch hier vereinzelt Stimmen laut, die über die reine Markt- und Außenwirtschaftspolitik hinausgehen und sich dem Problem der „amerikanischen Gefahr" durch Veränderungen und Anpassung des wirtschaftlichen Lebens in Deutschland nähern wollten. Nicht immer diente Amerika als Vorbild, jedoch oft als Anlass, den eigenen wirtschaftlichen Weg und die wirtschaftlichen Verhältnisse zu überdenken. Hugo Böttger, Ökonom aus Hannover und Mitglied der Nationalliberalen Partei stellte in seiner Schrift zu „Zolltarif und Weltmarktssorgen" mit Erstaunen den schnellen Wandel der Vereinigten Staaten vom einem Ackerbauland zum Industriestaat fest. In dieser Transformation sah er aber auch die besondere Gefahr für Deutschland. Er teilte zwar nicht die weit verbreitete Sorge, die Vereinigten Staaten könnten eine panamerikanische Union errichten, diese Idee sei keine „fruchtbringende Spekulation", dazu habe das riesige Wirtschaftsgebiet zu vielgestaltige und 31
Doeberitz-Knebel, Hugo, Besteht für Deutschland eine amerikanische Gefahr, Berlin, 1904, S. 61-80. Zur Stellung Doeberitz' in der Deutschkonservativen Partei. Vgl. Retallack, Notables of the Right, S. 103.
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zu große Interessengegensätze, um Deutschland gefährlich zu werden. Die Gefahr lag für Böttger vielmehr darin, dass sich Amerika selbstständig mit Nahrungsmitteln versorgte, seine Fabrikate mit Zöllen schützte und sich industriell vom Rest der Welt unabhängig gemacht hatte. Besondere Sorge bereitete Böttger der Zustand des direkten Konkurrenzkampfes der Vereinigten Staaten mit Deutschland und des jährlich für Deutschland ungünstiger werdenden Handelsverhältnisses.32 Böttger empfahl keine Nachahmung der amerikanischen Produktions- und Arbeitsweisen, um den amerikanischen Konkurrenten auf dem Weltmarkt wirtschaftlich nicht davon ziehen zu lassen, sondern sprach sich für einen wirtschaftspolitischen Ausgleich und eine wirtschaftspolitische Arbeitsteilung aus. Demnach sollten sich Deutschland und Amerika vertraglich auf eine Arbeitsteilung in der Herstellung von Produkten einigen und so die direkte Konkurrenz entschärfen. Böttger sprach in erster Linie als Ökonom und beanspruchte für sich eine wissenschaftliche und neutrale Haltung. Seine auf Ausgleich mit den Vereinigten Staaten basierenden Überlegungen hatten zum Kern, dass der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas wohl in nächster Zeit nicht aufgehalten werden könne, und dass es daher für Deutschland aussichtsreicher sei, sich mit Amerika zu verständigen. Die politisch-öffentliche Haltung der Nationalliberalen Partei und ihrer führenden Persönlichkeiten war hingegen klar von der harten Gangart gegenüber den Vereinigten Staaten bestimmt. Böttger konnte sich als Ideengeber nicht durchsetzen, auch andere Vorschläge erzielten nur geringe Resonanz, dennoch provozierte die „amerikanische Gefahr" auch in den Reihen der Nationalliberalen Partei eine erstaunliche Vielzahl an unterschiedlichen Denkansätzen zum Umgang mit der „Überlegenheit der amerikanischen Wirtschaft". Ein interessantes Beispiel lieferte der bekannte Autor der Nationalliberalen Blätter, Hermann Losch. 1901 erschien das in Deutschland vielfach rezensierte Buch von William Stead „The Americanization of the World". Stead argumentierte zwar in erster Linie kulturpolitisch und maß den „kulturellen Leistungen" Amerikas und seiner geistigen Entwicklung besondere Bedeutung bei der Formung der amerikanischen Nation und der Hinüberführung in die „industrielle Moderne" bei. Es waren für ihn aber auch die mit dieser „Kultur" verbundenen Produktionsweisen, Transportwege und der „amerikanische Unternehmergeist", die die Machtlosigkeit Europas gegenüber der sich ankündigenden Vorherrschaft Amerikas in der Welt zementierten.33 Hermann Losch setzte sich mit Steads Ansichten auseinander. In der Bewertung des amerikanischen Erfolgs in der Welt stimmte Losch Stead weitgehend zu. Losch bestätigte sogar, dass die Amerikaner nicht bloß „öde business men" seien, sondern ebenfalls auf anderen Gebie32
Neben Amerika zählte Böttger Russland zu den Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Seine zweite Befürchtung war, dass Amerika bald zu Deutschlands Gläubigern gehören könnte, dennoch warnte er vor einem Zollkrieg. Böttger, Hugo, Zolltarif und Weltmarktssorgen. Berlin, 1901, S.49 und S. 54. Zu Böttger vgl. auch die Laudatio eines Parteifreundes. Harns, Paul, Die Nationalliberale Partei. Ein Gedenkblatt zu ihrer geschichtlichen Entwicklung mit 423 Bildnissen nationalliberaler Politiker, Berlin, 1907, S.5. 33 Stead, The Americanization of the World, dazu auch Kamphausen, Die Erfindung Amerikas, S. 159.
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ten, wie denen des Journalismus und der Literatur, einiges geleistet hätten, freilich teilte er nicht Steads Ansicht von der bevorstehenden „geistigen Herrschaft" der Amerikaner. Losch widersprach der von Stead beschriebenen „Machtlosigkeit" der Europäer gegenüber dem wirtschaftlichen und geistigen Einfluss der Vereinigten Staaten in der Welt. Losch sah nicht viele Möglichkeiten in Deutschland, um diesem Einfluss zu begegnen, er nannte aber einige „Notwendigkeiten", die umgesetzt werden müssten, um ihn zumindest einzudämmen. Zu einem war es die Vergrößerung der Reichsbevölkerung und des Reichsgebietes auf alle Deutsch sprechende Bevölkerungsteile, wie in den Entwürfen zu „Großdeutschland" von 1848, da man nur auf diese Weise mit der raschen Bevölkerungszunahme in den Vereinigten Staaten Schritt halten könne. Zum anderen forderte er eine zielbewusste wirtschaftliche Besserstellung der unteren Schichten, d. h. die Erhöhung der Lebensqualität der Arbeiter, und schließlich die bestmögliche Verbesserung der Transportwege, was nur durch eine „Nationalisierung" der Verkehrswege und eine Zentralisierung der Eisenbahnlinien erreicht werden könne.34 Loschs Idee von der Schaffung eines „Großdeutschlands" und der Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter als Antwort auf die wirtschaftliche Übermacht Amerikas blieb ein publizistisches Gedankenspiel ohne die geringste Wirkung auf die Meinungsbildung in der Nationalliberalen Partei. Sie zeigt aber die Intensität der Beschäftigung mit dem Phänomen der „amerikanischen Gefahr" und untermauert die von Amerika provozierte Auseinandersetzung mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Deutschland. Eine Komponente gehörte unausweichlich zum Grundstock aller Überlegungen: Welche Antwort ist auf die „technische und geschäftliche Überlegenheit" der Amerikaner zu finden, um nicht von der Wirtschaftsmacht Amerika überrollt zu werden. Der prominenteste Politiker aus der Nationalliberalen Partei, der sich mit dieser Frage alternativ, außerhalb der standardisierten Forderungen nach marktpolitischen Maßnahmen beschäftigte, war Hermann Paasche, Zuckerproduzent und Professor für Staatswissenschaften und Ökonomie aus Rostock. Paasche ist immer wieder mit Kritik an den amerikanischen Zöllen und der Handelvertragspolitik hervorgetreten und glaubte bereits während seiner früheren Reisen durch die Vereinigten Staaten Anfang der 1890er Jahre das Potenzial der amerikanischen Wirtschaft für die Zukunft erkannt zu haben. Als Zuckerproduzent war er besonders an der amerikanischen Zuckerindustrie interessiert. Auf seiner Reise durch Amerika 1891 sah er aber noch erhebliche Hindernisse, wie die hohen Löhne und die Produktionskosten, für die amerikanische Zuckerindustrie auf dem Weltmarkt. 35 Bald aber revidierte er sei34
Losch, Hermann, Die Amerikanisierung der Welt, in: Nationalliberale Blätter, 5 (1902), S. 177-183 und S. 222-227. Bereits 1892 schrieb Losch, dass Amerika aufgrund der Produktionsweisen Westeuropa wirtschaftlich gefährlich werde. Losch, Hermann, Nationale Produktion und nationale Berufsgliederung, Leipzig, 1892, S. 12. 35 Paasche, Hermann. Zuckerindustrie und Zuckerproduktion der Welt, Jena, 1891, S.424. Zu Paasches Beteiligung an der deutschen Zuckerindustrie und seiner Tätigkeit in der Schwerindustrie. Vgl. Jaeger, Unternehmer in der deutschen Politik, S. 33 und Blaich, Fritz. Kartellund Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf, 1973, S. 116.
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ne Meinung von 1891 und prophezeite, die Vereinigten Staaten würden in naher Zukunft das „entscheidende Wort" auf allen wirtschaftlichen Gebieten mitsprechen. Paasche zeigte sich vor allem von den gewaltigen Fortschritten der amerikanischen Stahlindustrie, dem Einsatz von Maschinen und der allgemeinen Technologisierung des Arbeitslebens beeindruckt und sah die Gefahr der Uneinholbarkeit des amerikanischen Vorsprungs, sollte Deutschland nicht prinzipiell seine Produktionsweisen überdenken.36 Sein Rat glich dem von Doeberitz und Oetken, Deutschland solle von Amerika lernen und die brauchbaren Errungenschaften übernehmen. Als Professor für Ökonomie und Beteiligter an der Schwerindustrie appellierte er nicht ganz uneigennützig für eine Forcierung der Bemühungen in Deutschland auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik durch die Errichtung neuer Professuren für Hochofenwesen und Maschinenbau, um mit Amerika Schritt halten zu können.37 Die Überlegungen von Teilen der Nationalliberalen Partei, die „amerikanische Gefahr" bzw. den amerikanischen Aufstieg aus den inneren Verhältnissen Deutschlands heraus einzudämmen, waren ein völlig anderer Denkansatz als die dominierende Meinung in der Partei, nur durch staatspolitische Maßnahmen und eine handelspolitische Offensive sei der amerikanischen Konkurrenz beizukommen. Diese Überlegungen sind nicht so sehr in die politische Haltung der Partei einzuordnen, sondern reflektieren viel mehr die allgemeine Wahrnehmung der Wirtschaftsmacht Amerika im Kaiserreich, sie demonstrieren aber auch, wie weit das Bild vom wirtschaftlichen und auch politischen Aufstieg der Vereinigten Staaten selbst in die Reihen der Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik Eingang gefunden hatte. Die einzige Partei, die Nachahmung und Übernahme amerikanischer Arbeitsund Betriebsmethoden zu ihrem Programm erhoben hatte, waren die Sozialdemokraten. Die Sozialdemokraten sahen keine essentielle „amerikanische Gefahr" für Deutschland, - dies nicht einheitlich, wie Calwer und Schippel, zwei Vertreter des revisionistischen Flügels immer wieder unter Beweis stellten - sondern eine Chance aus dem „amerikanischen Erfolg" zu lernen und einzelne Vorgänge und Merkmale der amerikanischen Wirtschaft auf Deutschland zu übertragen. Dies passierte jedoch sehr selektiv, der eigenen innenpolitischen Motivation entsprechend legten sie ihr Augenmerk auf die von ihnen als entscheidend für den amerikanischen Erfolg klassifizierten Erscheinungsformen des amerikanischen Wirtschaftslebens und setzten den amerikanischen Erfolg als Waffe für den innenpolitischen Kampf ein. Ratschläge zur Nachahmung der amerikanischen Produktions- und Betriebsweisen kamen aus allen Richtungen der sozialdemokratischen Partei. Stets mit einem Hinweis auf die Wirkungslosigkeit der Zollpolitik verbunden, sollten die amerika36
Paasche, Hermann, Kultur- und Reiseskizze aus Nord- und Mittelamerika. Entworfen auf einer zum Studium der Zuckerindustrie unternommenen Reise, Magdeburg, 1894, S. 86 und S. 99. auch Kommentare in den Preußischen Jahrbüchern rieten zur Nachahmung „amerikanischer Produktionsweisen", ebd., 114 (1904), S.81 und S.91. 37 Paasche im Preußischen Abgeordnetenhaus am 17.3.1903 bei Böttger, Hugo, Die Industrie und der Staat, Tübingen, 1910, S. 331. 12 Czaja
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III. Die amerikanische Gefahr
nische Produktivität, das Leistungsvermögen der Arbeiter und Arbeitsbedingungen und -methoden in deutsche Betriebe Eingang finden. Es handelte sich nicht um eine Anerkennung des „kapitalistischen Amerika", sondern um die Wahrnehmung eines enormen wirtschaftlichen Aufstiegs, der in der Denkweise der Sozialdemokraten aufgrund der Andersartigkeit Amerikas im Vergleich zu Europa möglich war. Natürlich erleichterten die innenpolitische Positionierung der Sozialdemokratie und die Gegnerschaft zu den Eliten im Kaiserreich ein Bekenntnis zum amerikanischen Aufstieg. In einem zweiteiligen Artikel setzte sich der Vorwärts mit der „amerikanischen Gefahr" auseinander. Er leugnete nicht, dass die amerikanische Konkurrenz in Europa zu spüren sei und stimmte sogar teilweise Lenschaus Analyse von der größeren Leitungsfähigkeit der Arbeiter und den selbstgewonnenen Rohstoffen als einscheidenden Faktoren für die Stärke der amerikanischen Wirtschaft zu, verwahrte sich aber gegen die „Aufbauschungen" des Centraiverbandes Deutscher Industrieller und lehnte die Forderungen nach Schutzzöllen kategorisch ab. Der Vorwärts deutete die Überlegenheit der amerikanischen Wirtschaft in erster Linie als das Ergebnis der Betriebskonzentration, der Anwendung von Maschinen, der Technik und der Arbeitsteilung, daher sollten diese Mittel auf die deutschen Betriebe übertragen werden. Dies sei der einzige Weg, der amerikanischen Konkurrenz zu begegnen.38 Der sozialdemokratische Abgeordnete Heinrich Cunow argumentierte in eine ähnliche Richtung. Er gab zwar zu, dass seit dem Erlass des Dingley-Tarifs Deutschland gegenüber den Vereinigten Staaten eine deutliche Unterbilanz im Handel habe, warnte aber mit einem Seitenhieb gegen die „Agrarier" vor einem Zollkrieg mit Amerika. Sein Augenmerk galt den Betriebsmethoden und Produktionsweisen in Amerika, die größere Betriebskonzentration, die Verbilligung der Frachttarife oder der technische Vorsprung waren für ihn ausschlaggebend für den amerikanischen Erfolg. Als Lösung schlug er vor, neben kleineren Zollerhöhungen auf Eisenwaren und Maschinen, die Nachahmung der Herstellungs- und Produktionsweisen vor. In der Nachahmung der amerikanischen Betriebsweisen liege die Stärkung der deutschen Konkurrenzfähigkeit. 39 Das Niveau der industriellen und technischen Entwicklung in Amerika imponierte vielen Sozialdemokraten. Als Vertreter der Arbeiterklasse hatten sie ein genuines Interesse an den Arbeitsbedingungen und der Lage der Arbeiter und konnten am Beispiel Amerikas den innenpolitischen Gegnern in Deutschland vor Augen führen, dass „moderne" Arbeits- und Produktionsformen effizienter und erfolgreicher waren als die in Deutschland gängigen. Amerika als Vorbild für Deutschland zu emp38
Vorwärts. Nr. 111, 15.5.1902 und Nr. 112, 16.5.1902 oder auch Cunow, Heinrich, Zollkriegs-Betrachtungen, in: Neue Zeit, 19 (1901) II, S.584. 39 Cunow wendete sich damit auch gegen den von Walterhausen empfohlenen, auf die amerikanische Konkurrenz zugeschnittenen Generaltarif und die Idee eines europäischen Zollvereins. Cunow, Zollkriegs-Betrachtungen, S.581 und Walterhausen, Sartorius, Die Handelsbilanz der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin, 1901, S.7-12 vgl. auch die Rezension im Vorwärts, 161, 14.7.1898.
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fehlen, stellte jedoch nur eine Seite des sozialdemokratischen Umgangs mit der „amerikanischen Gefahr" dar. Es ging ebenso darum, die amerikanischen Verhältnisse argumentativ zu verwenden, sie in Deutschland als erfolgsbringend zu präsentieren, betriebliche als auch soziale Veränderungen anzumahnen, um auf diese Weise die Lage der deutschen Arbeiter zu verbessern. Der Abgeordnete Molkenbuhr unterließ in seinen Äußerungen eine allgemeine Lobeshymne auf den wirtschaftlichen Aufstieg Amerikas, griff aber umso mehr das Schlagwort der „amerikanischen Gefahr" auf, um für die Belange der deutschen Arbeiter einzutreten. An die Adresse der Nationalliberalen und Konservativen richtete er im Reichstag einen Appell, der „amerikanischen Gefahr" dort zu begegnen, wo sie offensichtlich begründet liege, in der sozialen Lage der Arbeiter. Laut Molkenbuhr verdanke Amerika seinen wirtschaftlichen Vorsprung der besseren Lage der Arbeiter, sie bekämen höhere Löhne und hätten kürzere Arbeitstage. Molkenbuhrs Argumentation war von einer schlichten Klarheit gekennzeichnet, der Schlüssel, der „amerikanischen Überlegenheit" zu begegnen, lag für ihn in dem direkten Vergleich zwischen dem deutschen und amerikanischen Arbeiter. Molkenbuhr setzte die intellektuelle Überlegenheit des deutschen Arbeiters gegenüber seinem amerikanischen Pendant voraus; um den amerikanischen Konkurrenten zu überholen, müsse der deutsche Arbeiter besser bezahlt werden, könne sich dann besser ernähren und werde Größeres leisten als der amerikanische. Dann werde sich die Überlegenheit der deutschen Industrie ganz von selbst ergeben.40 Auch Karl Legien, ein Gewerkschaftsvertreter, der Amerika aus eigener Erfahrung kannte, zog Amerika als Beispiel für bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter heran. In den Reichstagsdebatten um den Achtstundentag verglich er die Arbeitszeiten und die Löhne in Deutschland und Amerika und kam zu dem Ergebnis, dass die Produktivität in Deutschland aufgrund der schlechteren Bedingungen für die Arbeiter geringer sei. Als Beweis führte er die Tatsache an, dass die nach Amerika ausgewanderten Arbeiter den amerikanischen Arbeitern in der Produktivität gleichkamen oder sie sogar, wie in der Bau Wollindustrie, übertrafen. 41 40
Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2.Sess. 2.12.1901, Bd. 4 S.2901. 1881 wurde Molkenburh nach dem Sozialistengesetz zu drei Monaten Gefängnis wegen Besitzes verbotener Schriften verurteilt, anschließend lebte Molkenbuhr drei Jahre in Amerika. Die Gründe für seine Auswanderung waren aber auch wirtschaftlicher Natur. Als Zigarrenmacher hoffte er in Amerika eine Arbeit zu finden. Er engagierte sich in der amerikanischen Arbeiterbewegung, war bei der Cigar Makers Progressive Union und in der Socialist Labor Party aktiv. Nach seiner Rückkehr zog er oft Vergleiche zwischen den wirtschaftlichen Systemen beider Länder. Vgl. Braun, Bernd. Hermann Molkenbuhr. 1851-1927, Eine politische Biographie, Düsseldorf, 1999, S. 104 und S. 114. 41 Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 4. Sess. 11.2.1897, Bd. 6 S. 4629-4630. So auch der Sozialdemokrat Fischer ebd., S. 4448-4449. In seinem nach der Rückkehr aus Amerika veröffentlichten Buch zeigte sich Legien von vielen Arbeits- und Lebensbedingungen in Amerika begeistert. Legien imponierte besonders, dass in Amerika jeder das Recht auf Erwerb von Land hatte und Redefreiheit genoss. Legien, Carl. Aus Amerikas Arbeiterbewegung. Berlin, 1902, S. 62 und S. 71. Zuvor meinte der Nationalliberale Herrnsheim, dass die amerikanischen Arbeiter produktiver seien, weil sie geschickter und besser mit den Maschinen umgehen könnten. Ebd., 12*
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III. Die amerikanische Gefahr
Die Bewunderung des amerikanischen Erfolgs und die Empfehlung, von Amerika zu lernen, stellte bei den Sozialdemokraten keinen Wert an sich dar. Gewiss, Idealisten wie Wilhelm Liebknecht ging es um prinzipielle Fragen der Staatsform, der persönlichen Freiheit und der Vorbildhaftigkeit Amerikas als einem politischen und gesellschaftlichen Entwurf. Vielen Sozialdemokraten lieferte der wirtschaftliche Erfolg Amerikas brauchbare, im innenpolitischen Kampf einsetzbare Argumente. Dies schließt nicht aus, dass Amerika mehr bedeutete als nur ein Argument für die Innenpolitik, in der Breite der Partei war es ein Gegenentwurf zu Europa, der wirtschaftliche Erfolg wurde daher mit besonderer Dankbarkeit aufgenommen. Nach den zollpolitischen Auseinandersetzungen der 1890er Jahre zwischen Deutschland und Amerika und den amerikanischen Erfolgen in der Außenpolitik seit dem spanisch-amerikanischen Krieg erreichte das wirtschaftliche und außenpolitische Erscheinungsbild der Vereinigte Staaten um die Jahrhundertwende endgültig die Form einer neuen, zu Einfluss und Bedeutung aufgestiegenen Macht. Die Parteien im Kaiserreich verfolgten aus diversen Gründen diese Entwicklung aufmerksam. Im Jahre 1890 war es noch überwiegend das Bild einer auf „unfaire Mittel" zurückgreifenden aufstrebenden Wirtschaftsmacht, die die europäischen Staaten herausforderte. Kurz nach 1900 herrschten keine Zweifel mehr, dass Amerika den Status einer wirtschaftlichen Großmacht mit starken außenpolitischen Ambitionen erreicht hatte. Diesen Befund teilten alle Parteien des Kaiserreichs, so ging auch die Bewunderung des amerikanischen Aufstiegs quer durch alle Parteien, auch wenn ihr Ausmaß stark divergierte und verschiedene Schwerpunkte in der Deutung gesetzt wurden. Viele Sozialdemokraten sahen bereits seit längerer Zeit in Amerika das wirtschaftliche Vorbild für Deutschland und betonten die Besonderheiten der amerikanischen Entwicklung, die in Deutschland ihrer Ansicht nach nicht ohne weiteres möglich war, da Deutschland ein von Militarismus, Aristokratie und „Unfreiheit" geprägtes Land sei. Der wirtschaftliche Erfolg Amerikas nahm damit die Funktion eines Gegenentwurfs zu den von der Sozialdemokratie bekämpften politischen und sozialen Erscheinungen in Deutschland an. Linksliberale Parteien zeichnete eine schlichte Nüchternheit in der Wahrnehmung der wirtschaftlichen Entwicklung Amerikas aus. Für sie gab es weder Gründe für eine übermäßige Betonung noch für eine Negierung der wirtschaftlichen Stärke Amerikas. Die Prämisse vom Freihandel und guten deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen diktierte auch an dieser Stelle eine distanzierte Haltung. Freilich fehlte bei den linksliberalen Parteien auch der ideologische Zugang der Sozialdemokraten, um den amerikanischen Aufstieg übermäßig zu akzentuieren. Die Bewunderung oder zumindest Kenntnisnahme des amerikanischen Aufstiegs erreichte aber auch Vertreter der konservativen Parteien und der Nationalliberalen Partei. Wie sich in den Debatten um die amerikanischen Trusts oder um Abwehrmaßnahmen gegen die amerikanische 9. Leg. 4. Sess. 11.2.1897, Bd. 6 S.4457. In manchen zeitgenössischen Schriften wurde die mangelnde Sozialfürsorge für Arbeiter in Amerika beklagte. Z.B. Salomonsohn, Arthur. Reise-Eindrücke aus Nordamerika. Bericht erstattet in der Sitzung des Aufsichtsrates der Diskonto-Gesellschaft am 29. April 1903, Berlin, 1903, S. 18 ff.
2. Das Problem der Trusts
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Konkurrenz herausstellte, erwies sich die Beschwörung eines wirtschaftlich übermächtigen Gegners immer wieder als nützliches Argument, insofern neigten Vertreter dieser Parteien oft zur Überzeichnung der „amerikanischen Gefahr". Es gab auch Stimmen, die den wirtschaftlichen Aufstieg Amerikas mit Bewunderung zur Kenntnis nahmen und darin nicht in erster Linie eine Gefahr für Deutschland, sondern eine Chance und einen Anreiz für Veränderungen sahen. Dass es sich dabei nicht um die offizielle Parteihaltung handelte, und dass es nichts an der Sorge um die amerikanische Konkurrenz änderte, minderte nicht die Wirkung des wirtschaftlichen Aufstiegs Amerikas in Deutschland.
2. Das Problem der Trusts Der Begriff der „amerikanischen Gefahr" ließ eine Vielzahl von Interpretationen zu. Die politischen Parteien näherten sich dem Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln und griffen aus dem Überbau der „amerikanischen Gefahr" jeweils die für sich als relevant angesehenen Aspekte heraus und begründeten damit ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen gegenüber den Vereinigten Staaten. Die „amerikanische Gefahr" wurde von den politischen Parteien aber auch unter dem Gesichtspunkt diskutiert, der ihnen im Moment am aktuellsten erschien. Die selektive Wahrnehmung der so genannten „amerikanischen Gefahr" ist aber nur eine Seite des Umgangs mit dem Phänomen. Auf der anderen Seite verlor das Schlagwort von der „amerikanischen Gefahr" immer mehr an Inhalt, je häufiger es gebraucht wurde. Es erhielt eine eher synonymhafte Bedeutung für eine wirtschaftliche Bedrohung seitens Amerikas in den verschiedensten Formen. Einer der Hauptinhalte der „amerikanischen Gefahr" jedoch, die Sorge um den heimischen Markt neben der Befürchtung vor dem Verdrängtwerden von Drittmärkten, wurde mit einer konkreten Komponente gefüllt: dem amerikanischen Angriff auf den deutschen Markt in der Gestalt der Trusts. Die amerikanischen Trusts wurden als ein besonders gefährlicher Ausdruck des amerikanischen Vordringens auf den deutschen Markt gesehen, da sie in der Sichtweise der Parteien mit einer Fülle von Macht ausgestattet waren. Sie standen auf wirtschaftlich stabilen Füßen, hatten bereits einen hohen Grad an Markteroberung erreicht und, so die Interpretation, fanden in der amerikanischen Regierung einen einflussreichen Verbündeten. Es machte sich die Sorge breit, sie würden den deutschen Markt völlig unter sich aufteilen, ihn dem deutschen Einflussbereich entziehen und „amerikanische Wirtschaftsformen" in Deutschland einführen. Betrachtet man den Umgang der Parteien mit diesem Phänomen, fallen aber die Artikulierung eigener Interessen hinsichtlich der amerikanischen Trusts und die allgemeine Perzeption Amerikas als eine „kapitalistische Macht" besonders auf. Es überrascht nicht, dass zahlreiche Politiker der Nationalliberalen und der Konservativen - viele von ihnen waren persönlich in deutschen Kartellen der Schwerindustrie und der Zuckerindustrie involviert - das Vordringen eines ausländischen Konkurrenten auf den deutschen Markt empfindlich störte. Schließlich hätten die amerikanischen Trusts ihre eigene wirtschaftliche Vormachtstellung in Deutschland
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III. Die amerikanische Gefahr
nachhaltig ins Wanken bringen können. Auf der anderen Seite fiel der Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Trusts auf die Jahrhundertwende. Zu diesem Zeitpunkt machte das Amerikabild im Kaiserreich einen bedeutenden Wandel durch. Auch wenn es sich dabei nicht um einen parteipolitischen Vorgang handelte, konnten sich die Vertreter der Parteien dem Zeitgeist nicht entziehen, sie agierten schließlich nicht in einem weltanschaulich freien Raum, sondern waren eingebunden in die allgemeine Wahrnehmung der Vereinigten Staaten. Da es vor allem wissenschaftliche Abhandlungen, aber auch Reiseberichte und Beobachtungen aus der Feme waren, die das neue Image Amerikas prägten, zumeist aus dem bürgerlichen und konservativen Milieu, lag die Wirkungsweise auf bestimmte Parteien, wie die liberalen oder die konservativen Parteien, besonders nahe. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine Einbahnstraße, sondern um eine personelle und weltanschauliche Interdependenz. Das Amerikabild um die Jahrhundertwende gewann zunehmend den Inhalt einer in die Zukunft weisenden Entwicklung, die von Europa völlig unabhängig verlief, zugleich aber Europa zu vereinnahmen drohte. Ab der Jahrhundertwende wurde im Zusammenhang mit Amerika immer häufiger von „Amerikanisierung", „Amerikanismus" und „Modernisierung" gesprochen. Die Entwicklung im deutschen Amerikabild erhielt um die Jahrhundertwende dadurch eine weit in das 20. Jahrhundert hinaus wirkende Komponente. Die Bandbreite der Zuordnungen und Definitionen, die diese Begriffe füllten, erstreckte sich von kulturellen bis zu ökonomischen Aspekten. Die ökonomische Überlegenheit des „Landes der Zukunft" gegenüber Europa und seine kapitalistische Übermacht, die die „europäische Kultur" zu zerstören drohten, steckten die Pole ab. Amerikanische Technik, amerikanische Produktionsweisen, amerikanisches Wirtschaftsleben und immer wieder der „amerikanische Kapitalismus", aber auch die daraus resultierenden Folgen für Europa füllten die Begriffe. Die Zeitgenossen der Jahrhundertwende fragten sich, ob die Welt „amerikanisch" werde, ob Europa eine von Amerika ausgehende politische und wirtschaftliche Vereinnahmung drohe. William Steads' Buch „The Americanization of the World" löste in Deutschland lebhafte Debatten über die Wirkung und das Wesen der „Amerikanisierung" aus. Aber auch prominente deutsche Wissenschaftler und Publizisten wie Max Weber, Werner Sombart oder Paul Dehn widmeten sich dem Thema. Sie attestierten Amerika eine von Europa separate Entwicklung und fragten nach den Folgen des amerikanischen Aufstiegs für das kulturelle, politische, vor allem aber das ökonomische Leben in Deutschland.42 Direkt mit dem Begriff der „Amerikanisierung" beschäftigte sich Paul Dehn. Dehn definierte „Amerikanisierung" wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch in 42 Vgl. Gassert, Amerikanismus, S. 532-538. Ders., Was meint Amerikanisierung, S. 785-796. Kamphausen, Die Erfindung Amerikas, S.28ff. und Kleinschmidt, Christian/Welshopp, Thomas, Amerika aus deutscher Perspektive. Reiseeindrücke deutscher Ingenieure über die Eisen- und Stahlindustrie der USA, 1900-1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 39 (1994), 2 S. 73-103. Zur einsetzenden „Amerikanisierung" im Kaiserreich vgl. Klautke, Amerika im Widerstreit, S. 61-86 und Schmidt, Reisen in die Moderne, S. 139 ff.
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erster Linie als einen „inneramerikanischen Vorgang". In wirtschaftlicher Hinsicht war „Amerikanisierung" für ihn gleichbedeutend mit „Modernisierung der Methoden in Industrie", gesellschaftlich und politisch sah er darin eine „Demokratisierung" und „Materialisierung". Die freie Entfaltung dieser Ideale und der praktische Sinn der Amerikaner hätten nach Dehns Analyse der amerikanischen Industrie einen gewaltigen Schub gegeben. Dehn kritisierte zwar die Korruption, die Bildung von Trusts und die sozialen Missstände, sah in Amerika aber trotzdem den einzigen Ort der Erde, an dem sich Talente frei entwickeln könnten und empfahl den Europäern den „industrialistischen Geist" der Amerikaner zuweilen nachzuahmen.43 Die Beschäftigung mit den Phänomenen „Amerikanismus" oder „Amerikanisierung" forderte die deutschen Betrachter aber auch zur Stellungnahme zum „Kapitalismus" heraus. Die Wahrnehmung Amerikas als eine „kapitalistische Macht" war weit verbreitet im Deutschen Kaiserreich, Amerika schien zuweilen in all seiner politischen und kulturellen Gesamtheit dem Diktat einer kapitalistischen Lebensweise zu erliegen. Aus den Reihen der Parteien führten Konservative und Zentrumspolitiker politische Schritte der amerikanischen Regierung häufig auf den „kapitalistischen Charakter" der Amerikaner zurück. Auch bei Sozialdemokraten war trotz ihrer engen Anlehnung an Amerika in wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen das Bild des „kapitalistischen Amerika" stets präsent. Eine Stimme aus dem außerparteilichen Spektrum, die Amerika unter dem Gesichtspunkt der „amerikanischen Wirtschaftsformen" einer ausgiebigen Kapitalismuskritik unterzog, war Johann Plenge. Der Münsteraner Nationalökonom begründete seine Ablehnung des „amerikanischen Vorbilds" mit der „kapitalistischen Natur" Amerikas. Seine Ausführungen lesen sich wie eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Verurteilung Amerikas als eine „kapitalistische Macht". Für Plenge eignete sich der amerikanische Weg des „staatsblinden individualistischen Freiheitsideals" nicht für die Zukunft. Er attestierte Amerika durchaus einen wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber Europa, stellte aber fest, dass Amerika sich im Umbruch befinde und seinen „unaufhaltsam strebenden Fortschritt" bereits hinter sich habe. Die Gründe für den zeitweilige Vorsprung Amerikas gegenüber Europa sah Plenge in der rücksichtslosen Ausnutzung großkapitalistischer Macht in der Form von Kartellen, Trusts und Holdinggesellschaften. Auch für die gesellschaftliche Ebene präsentierte Plenge eine Fülle von zeitgenössisch gängigen Urteilsmustern: Amerika sei eine bürgerliche, vom Staat emanzipierte Gesellschaft, ohne Adel, ohne Mittelstand und ohne Gewissen, es werde vom Gleichheitspostulat getrieben, wobei der Staat zurückgehalten und von „minderwertigen Geschäftspolitikern" geleitet werde. Für Plenge war diese „Verselbständigung des Kapitalismus" und die Zerstörung des individualistischen Freiheitsideals durch die hochkapitalistische Wirtschaft, die Kartelle und Trusts kein Vorbild für Deutschland.44 43 Dehn, Paul, Die Amerikanisierung der Erde, in: Deutsche Monatsschrift, 2 (1902), S. 130— 133 und ders., Weltwirtschaftliche Neubildungen, Berlin, 1904, S.238ff. 44 Plenge, der später den Begriff „Ideen von 1914" entscheidend mitprägte, glaubte an einen früheren Durchbruch des organisierten Sozialismus in Amerika als in Europa. Als Gegen-
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All diese Betrachtungsweisen hatten jedoch eins gemeinsam, sie betonten Amerika sehr stark als einen Gegenentwurf zu Europa, als eine Abkoppelung vom alten Kontinent, der nun in seiner Eigenart die Welt „amerikanisieren" könne. Amerika wurde durch den Aufstieg und die Unabhängigkeit von Europa zu einer Provokation und Herausforderung. Keines der erwähnten Amerikabilder lässt sich auf einen Parteivertreter eins zu eins übertragen. Das eigene Interesse, die eigene weltanschauliche Vorprägung spielten eine wichtige Rolle, und es lässt sich nicht immer feststellen, ob die präsentierte Wahrnehmung Amerikas den eigenen Überzeugungen entsprach oder lediglich die Funktion hatte, die eigenen politischen Ziele rhetorisch besser zu untermauern. Die neue Qualität der Betrachtungsweise Amerikas ist aber unverkennbar.
a) Die Standard Oil Company Die amerikanischen Trusts und ihr Vordringen auf den deutschen Markt bieten ein ideales Beispiel dafür, wie das veränderte Amerikabild im Zusammenspiel von handfesten Interessen Eingang in die Betrachtungsweise der Parteien fand. Der amerikanische Trust als eine Form des amerikanischen Einflusses auf Deutschland wurde vielerorts mit dem in Amerika existierenden Kapitalismus gleichgesetzt, und es galt seinen Wirkungskreis in Deutschland zu begrenzen. Dabei spielten handfeste Interessen der Parteien ebenso eine wichtige Rolle wie die Befürchtung, amerikanische Wirtschafsformen würden sich in Deutschland einnisten. Stellvertretend für die von den amerikanischen Trusts ausgehende Gefahr stand die Standard Oil Company. Der amerikanische Trust Standard Oil in der Hand von John D. Rockefeiler begann bereits 1890 auf den deutschen Markt zu drängen, erst ab etwa 1895 gelang es ihm jedoch, die deutschen Petroleumeinfuhren in fast völlige Abhängigkeit zu bringen. Der Trust zwang alle Importeure, etwa ein Dutzend, ihre Selbstständigkeit aufzugeben und sich dem Unternehmen als Tochtergesellschaften anzuschließen. 1895 unterlagen schließlich die beiden letzten selbstständigen deutschen Firmen, Philipp Roth in Mannheim und die Rassow, Jung & Co in Bremen, den Dumpingpreisen und Ausschließlichkeitsverträgen des amerikanischen Trusts. Die Standard Oil gründete damit mit zwei deutschen Firmen die Deutsch-Amerikanische Petroleum AG (DAP), übernahm aber erst 1904 die Aktienmehrheit. Neben der Firmenkonzentration war der deutsche Bedarf am Petroleummarkt fast vollständig von amerikanischen Einfuhren abhängig. 1897 deckte entwurf zur amerikanischen Freiheitsidee präsentierte er die „soziale Freiheit". Als Indiz für ein früheres Eintreten des „organisierten Sozialismus" notiert Plenge den ökonomischen Verstand der Amerikaner und die Struktur der Wirtschaft, der Amerikaner werde sich den ökonomischen Notwendigkeiten beugen. Plenge, Johann, Die Zukunft in Amerika in: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, 1 (1912), S. 435 ff. Eine Analyse Plenges bietet Beßlich. Beßlich, Barbara, Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1914, Darmstadt, 2000, S. 289-302.
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die inländische Erdölgewinnung nur 3 % des Bedarfs ab, die Standard Oil kam für 95% auf, die restlichen Prozentzahlen wurden mit Einfuhren aus Russland gedeckt.45 Der amerikanische Trust, die Standard Oil Company, und seine Marktstrategien, durch Ausschließlichkeitsverträge die Händler an sich zu binden und ihre Preispolitik der Unterbietung der Konkurrenz, führten in Deutschland noch vor dem Entstehen des Begriffs von der „amerikanischen Gefahr" zu Kontroversen und Abwehrreaktionen. In erster Linie suchten Politiker aus der Nationalliberalen Partei, die in deutschen Kartellen tätig waren, nach geeigneten Abwehrmöglichkeiten, um den Wirkungskreis der Standard Oil in Deutschland einzuschränken. Bereits in den Debatten über die Standard Oil vor 1900 wurde jedoch neben den rein marktpolitischen Kämpfen eine neue Front gegen die amerikanische Art des Wirtschaftens und die Versuche, den deutschen Markt nach eigenen Vorstellungen umzugestalten, eröffnet. 46 Ernst Bassermann von der Nationalliberalen Partei brachte am 4. Dezember 1897 eine Interpellation im Reichstag ein, die die Reichsregierung zu Gegenmaßnahmen zu den Monopolisierungsbestrebungen der Standard Oil aufforderte. 47 Bei den Befürwortern der Interpellation war die doppelte Motivlage aus ihren Äußerungen leicht zu entnehmen. Neben den objektiv belegbaren Befürchtungen vor der Beherrschung des deutschen Petroleummarktes durch eine amerikanische Firma war die Sorge vor den „amerikanischen Eroberungsplänen" und vor der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit von einer einzigen Person, der des John D. Rockefeiler, erkennbar. Bassermann griff die Praktiken der Standard Oil unverblümt an. Er beschrieb, auf welchem Wege sich die Standard Oil ihre Machtstellung in Amerika erobert hatte: durch Unterwerfung der selbstständigen Zwischenhändler und durch 45 Zu den genauen Zahlen und den Bestrebungen der Standard Oil, den deutschen Markt zu monopolisieren. Vgl. Blaich, Monopolpolitik im Kaiserlichen Deutschland, S. 15. Ders., Der „Standard Oil" vor dem Reichstag. Ein Beitrag zur deutschen Monopolpolitik vor 1914, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswirtschaft, 126 (1970), S. 664-670 und Wengenroth, Ulrich, Die Entwicklung der Kartellbewegung bis 1914, in: Pohl, Hans (Hrsg.), Kartelle und Kartellgesetzgebung in der Praxis und Rechtssprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart, 1985, S. 15-23. Zur Geschichte der Tochtergesellschaften der Standard Oil und anderen amerikanischen Trusts, wie dem Schifffahrtstrust und seinem Kampf mit den Bremer und Hamburger Linien. Vgl. vor allem die zeitgenössischen Abhandlungen. Gehrke, F., Die neuere Entwicklung des Petroleumshandels in Deutschland, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 20 (1906), S.79. Prager, Wirtschaftsbeziehungen, S.57ff. Thies. K , Die Entwicklung der Schiffahrt zwischen Hamburg und den Vereinigten Staaten von Amerika unter besonderer Berücksichtung des deutschen Gesamtverkehrs, in: Halle (Hrsg.), Amerika, S. 139-159 und Halle, Emst, Die Entwicklung des wirtschaftlichen Verkehrs zwischen Deutschland und den Vereinigen Staaten von Amerika, in: ebd., S.92-112. 46 Zahlreiche Nationalliberale waren in der Schwerindustrie tätig, z.B. Friedrich Hammacher, Hermann Paasche oder Theodor Möller. Zum Engagement deutscher Politiker in Kartellen. Vgl. Stegman, Erben Bismarcks, S. 82 und Ulimann, Der Bund der Industriellen, S. 175. 47 Bassermann wurde in einer Versammlung bei der Handelskammer in Mannheim von den von Trusts bedrohten Händlern ermuntert, diese Interpellation einzubringen. Im Reichstag vertrat Bassermann den Wahlkreis Mannheim. Vgl. Blaich, Monopolpolitik, S.78.
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Unterbietung der Konkurrenten. Bassermann verknüpfte den Erfolg der Standard Oil mit den Leistungen des „gewissenlosen" Rockefeiler, der durch finanzielle Manipulationen und Bestechung amerikanischer Politiker seinen Trust zur einer unangefochtenen Machtstellung geführt habe. Bassermann spielte damit auf die in Deutschland verbreitete Überzeugung an, amerikanische Kapitalisten und Politiker würden bei den Versuchen den amerikanischen und jetzt den deutschen Markt unter Kontrolle zu bringen, kooperieren. Daher maß er der amerikanischen Antitrustgesetzgebung keine Bedeutung bei, sah vielmehr seine Befürchtung bestätigt, dass die Standard Oil und die amerikanische Regierung Hand in Hand gegen den deutschen Markt arbeiteten. Als besonders Besorgnis erregend bewertete Bassermann den Entwicklungsstand der Standard Oil, die seiner Ansicht nach noch am Anfang ihrer Machtstellung stand und bereits jetzt die Stellung einer „Weltmacht" erreicht hatte. Er setzte Hoffnungen in die Reichsregierung, sie werde gegen die Versuche der Standard Oil, dem deutschen Markt ein Preisdiktat aufzwingen, rechtlich vorgehen. In seinen Augen bedeutete dies eine zollpolitische Differenzierung des amerikanischen Petroleums und eine Stärkung der amerikanischen Konkurrenten aus Russland und Galizien. Bassermanns Interpellation stand noch völlig unter dem Eindruck des vor kurzem erlassenen Dingley-Tarifs. Sein Fraktionsgenosse Herrnsheim bezog sich ausdrücklich auf den Dingley-Tarif als Beweis für die „monopolistischen Bestrebungen" des amerikanischen Trusts und forderte neben der Differenzierung des amerikanischen Petroleums die Erschließung neuer Petroleumquellen und die Einrichtung eines nationalen Petroleummonopols, um sich der amerikanischen Konkurrenz zu entledigen.48 Die Idee der Einrichtung eines nationalen Petroleummonopols hatte keine Aussicht auf Erfolg und es fiel den nationalliberalen Rednern schwer, gegen die Methoden der Standard Oil zu mobilisieren und gleichzeitig die deutschen Kartelle aus der Kritik herauszuhalten. Viele von ihnen gehörten zu den führenden Köpfen der deutschen Schwerindustrie und der deutschen Syndikate. Ganz in diesem Sinne fragte Martin Spahn von der Zentrumsfraktion, was Bassermanns Ausführungen mit den Vereinigten Staaten oder der amerikanischen Gesetzgebung zu tun hätten. Er erklär48 Verhandlungendes Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 9.12.1897, Bd. 1 (Bassermann) S. 108-110. (Herrnsheim) S. 122-123. Die Trustfrage beschäftigte auch die amerikanischen Gemüter. Bereits 1873 besaßen nur sechs Gesellschaften die meisten Stahlkohlelager Pennsylvanias. 1887 hatte der Kongress die so genannte Interstate Commerce Commission eingesetzt, die zwar Preise für unzulässig erklären konnte, sich aber oft gerichtlichen Urteilen beugen musste. 1890 trat das sogenannte Sherman-Antitrustgesetz in Kraft. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Trusts und den Trustgegnern fiel jedoch in die Jahre um die Jahrhundertwende. Bei den Wahlen 1896, 1900 und 1904 machten die Demokraten die Trusts zu einem ihrer Angriffsziele. Erst 1914, durch das Clayton-Antitrust-Gesetz, schuf die Regierung eine wirksamere Grundlage, um Monopolbildungen besser kontrollieren zu können. Vgl. Lamoreaux, Naomi R., Entrepreneurship, Business Organization, and Economic Contrentration, in: The Cambridge Economic History of the United States, S. 403-434. Zu den inneramerikanischen Kämpfen der Trustgegner- und Anhänger vgl. auch die zeitgenössische Betrachtung von Halle. Halle, Ernst, Trusts. Industrial Combinations and Coalitions in the United States, New York/ London, 1900, S. 120ff.
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te sich zwar mit der Kritik an den „Mißtänden" des Trustswesens einverstanden, erinnerte aber daran, dass diese nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland und Österreich zu Tage träten. Im Interesse der Verbraucher stellte er fest, dass eine Preissteigerung der vom Trust angebotenen Produkte nicht eingetreten sei, und dass eine rechtliche Grundlage gegen die Standard Oil fehle. 49 Das Zentrum vertrat in der Debatte um die Standard Oil klar die Interessen der Konsumenten. Als Vertreterin der kleinen Bauern und großer Teile der katholischen Arbeiter war ihr an billiger Versorgung mit Petroleum gelegen. Spahn begründete seine zögernde Haltung zu rechtlichen Maßnahmen gegen die Standard Oil im Reichstag mit der Garantie der niedrigen Preise. 50 Die Interpellanten der Nationalliberalen Partei fanden dagegen in den Reihen der Deutschkonservativen Partei Verbündete. Der erst seit 1897 der deutschkonservativen Fraktion angehörende Hahn argumentierte in dieselbe Richtung wie seine früheren Parteikollegen von der Nationalliberalen Partei. Er beklagte die „Machenschaften des Herrn Rockefeiler" und glaubte, seine Strategie in Deutschland durchschaut zu haben. Dem Befund der niedrigen Preise, wie Abgeordnete der Sozialdemokratie und des Freisinns behaupteten, widersprach er nicht, für ihn waren aber die „Ausbeuterkampagnen" der Standard Oil und ihr Ziel der Unterwerfung des deutschen Marktes ausschlaggebend, um gegen den Trust rechtlich vorzugehen. Nach den Plänen von Rockefeiler würden die Preise so lange niedrig gehalten, bis der deutsche Markt vollständig beherrscht sei, um ihn dann auszubeuten. Rockefeiler wisse schon, wann das „Schaf zu scheren" sei, wie Hahn schlussfolgerte, daher seien die Differenzierung des amerikanischen Petroleums und die Schaffung einer nationalen Petroleumraffinerie unumgänglich.51 In der Debatte zur Interpellation Bassermanns ging es nach der Begründung der Interpellanten um die Monopolisierungsbestrebungen der Standard Oil Company. Die Absicht, einem ausländischen Konkurrenten, der auf dem deutschen Markt ein Kartell neben vielen anderen darstellte, die Marktdominanz in seinem Wirkungsfeld in Deutschland so schwierig wie möglich zu machen, war unverkennbar, obwohl die allgemeine Haltung der Nationalliberalen zum Kartellwesen schwankend und widersprüchlich war. Die wohltätige Wirkung der deutschen Kartelle, insbesondere des Ruhrkohlesyndikats, wurde von der Nationalliberalen Partei allgemein gelobt, auf der anderen Seite griffen immer wieder Nationalliberale wie Münch-Ferber oder später Hernnsheim das Ruhrkohlesyndikat an. Auch die Deutschkonservative Partei war vom Wunsch der Bestandswahrung der Vormachtstellung für die eigenen Kartelle, das Zucker- und Spirituskartell geleitet, was zwar keinen Schulterschluss mit 49
Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 9.12.1897, Bd. 1 S. 123. Allgemein zur Haltung des Zentrums zu Kartellen und Trusts vgl. Blaich, Monopolpolitik, S. 217-221 und Grenner, Karl Heinz, Wirtschaftsliberalismus und katholisches Denken. Ihre Begegnung und Auseinandersetzung in Deutschland im 19. Jahrhundert, Köln, 1967, S. 136 ff. 51 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 9.12.1897, Bd. 1 S. 126 und S. 131. Genauso Kanitz in der Debatte am 3.5.1897 ebd., 9.Leg. 5. Sess. 3.5.1897, Bd. 8 S. 5702. 50
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den deutschen Kartellen der Industrie bedeutete, aber eine Ablehnung der amerikanischen Vorherrschaft auf dem deutschen Markt. 52 Der Fall Standard Oil bot beiden genügend Angriffsfläche, um eine gemeinsame ablehnende Haltung einzunehmen, der Trust bedrohte die Marktinteressen der von ihnen unterstützten deutschen Kartelle, und, was als besonders schmerzlich empfunden wurde, er tat dies auf einem ihm nicht zustehenden Einflussgebiet. Die harte Haltung gegen die Standard Oil Company wurde nicht primär mit der Bedrohung der eigenen Interessen begründet, sondern mit den „Machenschaften" eines amerikanischen Unternehmens, das den deutschen Markt und die deutschen Kunden bedrohe. Damit erwies sich das in den 1890er gewachsene Image vom „rücksichtslosen amerikanischen Kapitalisten" als hilfreich, um von der Gefahr der Vereinnahmung zu warnen. Nicht alle Parteien sahen in der Standard Oil die Verkörperung des natürlichen Gegners des Wirtschaftslebens in Deutschland. Für die Sprecher der linksliberalen Parteien stellte die Standard Oil kaum eine größere Gefahr für Deutschland wie die deutschen Kartelle dar, obwohl die Meinungen zum Umgang mit der Standard Oil in den freisinnigen Parteien durchaus auseinander gingen. So gehörte z. B. der Kampf gegen Trusts und Kartelle zum Lebenswerk Eugen Richters; als überzeugte Freihändler vertraten er und die Freisinnige Volkspartei die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmer im Reichstag. Monopolbildungen behinderten eine freie unternehmerische Entfaltung. Es war ein erklärtes Ziel Richters, gegen Kartelle und Trusts vorzugehen.53 Einen sehr wohlwollenden Standpunkt nahmen aber die Freisinnige Vereinigung und Theodor Barth ein. Führende Politiker der Freisinnigen Vereinigung, wie Georg von Siemens, Karl Schräder und Barth hatten in der Deutschen Bank leitende Funktionen inne oder fungierten als Berater. 54 Die personellen Berührungspunkte mit 52 Paasche und Beume, traten mit besonderer Vehemenz gegen eine rechtliche Beschränkung ihres Wirkens ein. Herrnsheim, ursprünglich ein Verfechter des Kohlesyndikats, nahm ab 1900 eine immer distanziertere Haltung ein. Paasche war unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender der Rositzer Zuckerraffinerie AG, der Howaldt-Werft und der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik. Auch der CVDI und der Bdl verfolgten entgegengesetzte Kartellpolitik. Der CVDI vertrat die Interessen der Schwerindustrie und von Teilen der Textilindustrie, im Bdl versammelten sich weitgehend Fertigwarenfabrikanten. Die Schwerindustrie war bereits in Kartellen organisiert und versuchte ihre Marktstellung durch einschränkende rechtliche Bestimmungen nicht zu gefährden. Die kleineren Betriebe, im Bdl organisiert, setzten auf den anderen Seite auf einen flexiblen leicht zugänglichen Markt. Vgl. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik, S. 166 und S. 152. Jaeger, Unternehmer in der deutschen Politik, S. 38. Kriegbaum, Heyl zu Herrnsheim, S. 119ff. und Retallack, Notables of the Right, S. 100ff. 53 Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 5.Sess. 9.12.1897, Bd. 1 S. 186. Eugen Richter warnte bereits 1891 vor Monopolstellung und Trustbildungen, er bezog in seine Kritik ausdrücklich auch die nationalen Kartelle ein, sein Hauptaugenmerk richtete sich jedoch auf die Herrschaftsbestrebungen der Standard Oil Company und den Beginn einer „Monopolisierung der europäischen Märkte". Feisinnige Zeitung, Nr. 173, 28.7.1891. 54 Die Deutsche Bank bekundete großes Interesse, Nachfolgerin der Standard Oil in der Beherrschung des deutschen Petroleummarktes zu werden. Vgl. Blaich, Kartell-Monopolpolitik, S.232.
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Großunternehmen und die Interessengleichheit ließen sie bei jeder rechtlichen Beschränkung staatsinterventionistische Tendenzen vermuten. Diese wurden nur akzeptiert, sofern sie dem freien Handel dienen konnten. Die Interpellation Bassermanns lief aber auf ein staatlich garantiertes Petroleummonopol und die Regulierung des Wettbewerbs hinaus. Theodor Barth begründete somit seine Ablehnung der Interpellation mit ihrer Zielsetzung, gegen einen einzigen Trust vorgehen zu wollen und den damit verbundenen Eingriff in den Wettbewerb. Barth wandte sich nicht gegen eine wirtschaftliche Stärkung der konkurrierenden Lieferanten der Standard Oil, aber deutlich gegen irgendwelche rechtlichen oder staatsinterventionistischen Mittel, um dies zu erreichen. Barth lehnte die Interpellation aber auch aus Gründen der Verbraucherinteressen und des freien Wettbewerbs ab. Die Konkurrenten der Standard Oil sollten in freiem Wettbewerb der Standard Oil Paroli bieten. Er räumte zwar ein, dass eine solch große Konzentration von Kapital bedenklich sei, fand aber lobende Worte für die Leistungen der Standard Oil, die sich auf natürliche Art und Weise ohne Begünstigung durch die Gesetzgebung, sondern durch geschäftliches Geschick und rationelle Geschäftspraxis entwickelt habe. Barths wohlwollende Charakterisierung der Standard Oil fällt deutlich aus dem üblichen Rahmen seiner Amerikabeobachtungen; amerikanische „Großkapitalisten" und Imperialisten, zu denen er auch die Standard Oil rechnete, waren oft Ziele seiner Angriffe. Bei der Interpellation Bassermanns überwog aber die Sorge vor einem zu großem Eingriff des Staates in den Wettbewerb und der Bevorzugung von Kartellen der politischen Gegner. Dennoch ließ Barth es sich nicht nehmen, seine Einschätzung von Rockefeller preiszugeben. Er gestand zwar ein, dass Rockefeiler einer der gescheitesten und reichsten Geschäftsleute in den Vereinigten Staaten sei. Auch seine „Frömmigkeit" sprach Barth ihm nicht ab, warnte aber davor, mit ihm Geschäfte zu machen, denn dann werde der Bibelspruch „liebe deinen Nächsten wie dich selbst" eine völlig andere Bedeutung bekommen.55 Die größten Schwierigkeiten im Umgang mit der Standard Oil Company hatten die Sozialdemokraten. Natürlich beklagten sie die Existenz der Trusts, auch der Standard Oil Company, und bedauerten, dass es in Amerika nicht gelungen sei, die Antitrustgesetzgebung auf den Weg zu bringen und das Monopol des Rockefellerschen Trusts zu brechen. Sicherlich minderte das Bild von Rockerfeiler den sozialdemokratischen Glauben an eine amerikanische Antitrustgesetzgebung. Rockerfeiler genoss in der sozialdemokratischen Presse den Ruf eines „Imperialisten" und „gedankenlosen Kapitalisten", nach dessen Meinung die Trusts notwendig seien und nicht angegriffen werden dürften. 56 Sozialdemokraten vertraten aber auch die Interessen der Arbeiter, und die Standard Oil garantierte niedrige Preise, es herrschte also Einigkeit in ihren Reihen, diesen Zustand nicht durch staatsinterventionistische Methoden zu gefährden. 55
Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 9.12.1897, Bd. 1 S. 119-120. Auch Fischbeck von der Freisinnigen Vereinigung. Ebd., S. 127. Assistiert von der freisinnigen Presse. Z.B. Freisinnige Zeitung, Nr.287, 8.12.1897. 56 Vorwärts, Nr. 281, 2.12.1902 und Nr. 283,4.12.1902.
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Unter diesen beiden Grundeinstellungen der Sozialdemokraten verliefen jedoch mehrere Strömungen zur Handhabung der amerikanischen Trusts im allgemeinen und der Standard Oil Company im besonderen. Zum einen war der theoretische Ansatz unverkennbar. Trusts als Konzentrationszentren von Markt und Kapital, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in noch viel stärkerem Maße in den Vereinigen Staaten, schienen die marxsche „Konzentrationstheorie" zu bestätigen, dies wäre ein Schritt auf dem Weg zum Sozialismus. Sozialdemokraten wie Kaustky oder der Parteiökonom Bruno Schönlank bewerteten die amerikanischen Trusts als Vorstufe der Verwandlung des Staates in Wirtschaftsgenossenschaften, die ein sozialistisches Gemeinwesen in Amerika zu Folge hätte.57 Revisionisten wie Bernstein, auf der anderen Seite, widersprachen dem und sahen in der Entstehung von Trusts Gefahren für Zollkrisen und eine schädigende Wirkung auf die heimische Industrie. Aber auch Argumente zum Schutz der Arbeiter, wie sie der bayerische Abgeordnete Völlmar vortrug, standen einer einheitlichen Linie der Sozialdemokraten zu den Trusts im Weg. Das seiner Ansicht nach richtige Bestreben, die Produktion zu planen und zu beherrschen, sei inzwischen zu einer „kapitalistischen Gewinnsucht", zu einem Mittel der Ausbeutung der Arbeiterklasse geworden.58 Am deutlichsten verteidigte Max Schippel die Standard Oil. Er betonte, dass es sich in erster Linie um seine persönliche Meinung handle, wobei seine Hinweise auf die Garantie für niedrige Preisen durch die Standard Oil Allgemeingut in der Sozialdemokratie waren. 59 Schippeis Vorwurf an die Adresse der Konservativen und Nationalliberalen hatte zum Kern, sie würden die Standard Oil Company deshalb bekämpften, weil es sich dabei um ein amerikanisches Unternehmen handle. Schippel konnte auch keine Beherrschung des deutschen Marktes durch die Standard Oil erkennen und verwies auf die große Zahl der „Outsider" als ihrer Herausforderer in Amerika, die die Marktstellung der Standard Oil angriffen. Schippel fand neben der Rechtfertigung für die Standard Oil bewundernde Worte für die Arbeits- und Funktionsweise dieses großen amerikanischen Unternehmens, die Standard Oil sei eine 57 Schönlank, Bruno, Die Kartelle. Beiträge zu einer Morphologie der Unternehmensverbände, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, 3 (1890), S.532. Als 1890 in den Vereinigten Staaten der Sherman-Act erlassen wurde, bezeichnete ihn Schönlank als „kleinbürgerliche Ideologie", die die wirtschaftliche Entwicklung verkenne. Ebd., S. 532 und Kautsky, Karl /Schönlank, Bruno, Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm, Berlin, 1898, S.26. 58 Vollmar artikulierte in seinen sogenannten „Eldorado-Reden" in Bayern fern der marxistischen „Katastrophenlehre" die praxisnahe Orientierung an den Bedürfnissen der Arbeiter. Vollmar, Georg, Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, München, 1899, S. 13-14. Zu Vollmar vgl. Beck, Florian, Georg von Vollmar: „König" in Bayern - Wegbereiter für die deutsche Sozialdemokratie, in: Mehringer, Hartmut (Hrsg.), Von der Klassenpartei zur Volkspartei. Wegmarken der bayerischen Sozialdemokratie 1892-1922, München/ London, 1992, S.48. 59 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 5.Sess. 9.12.1897, Bd. 1 S. 129-130. An anderen Stellen sprachen sich renommierte Sozialdemokraten gegen das Kartellwesen insgesamt aus. So z. B. Bernstein in einer ausführlichen Rede vor dem Reichstag. Ebd., 10. Leg. 2. Sess. 30.10.1902, Bd. 7 S. 3087 ff. und S. 6085-6098.
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musterhafte Absatzorganisation. Es zeige sich, was für kolossale, ökonomische Ersparnisse durch große konzentrierte, einheitlich geleitete Betriebe gegenüber den rückständigen alten Produktionsverfahren und der Produktionszersplitterung erreicht werden könnten.60 Die Standard Oil Company war der bekannteste in Deutschland tätige amerikanische Trust. Noch vor der Diskussion um die „amerikanische Gefahr" sorgte er für lebhafte Debatten über den amerikanischen Einfluss auf das deutsche Wirtschaftsleben und amerikanische Versuche, den deutschen Markt zu erobern. Er provozierte die Vertreter der Parteien zu den verschiedensten Reaktionen; Abwehrverhalten gegenüber einem mächtigen, von der amerikanischen Politik unterstützten Gegner mischten sich mit weltanschaulichen Motiven und grundsätzlichen Einstellungen zu Amerika. Das Bild des „kapitalistischen Amerika" gehörte jedoch zum Inventar bei bereits fast allen Überlegungen und Äußerungen. b) Unterwanderung der deutschen Wirtschaft Das Problem mit der Standard Oil verschwand nach der Interpellation von Bassermann nicht aus den Debatten. Die Standard Oil als der größte amerikanische Trust auf dem deutschen Markt blieb ein Symbol für die Wucht und das Streben des „amerikanischen Kapitals" bei seiner Eroberung der deutschen Wirtschaft. Um 1900, als die Konjunktur in Deutschland umschlug und das Thema „amerikanische Gefahr" seinen Höhepunkt erreichte, gewannen amerikanische Trusts umso mehr an öffentlicher Bedeutung. Das Thema „amerikanische Trusts" und die damit zusammenhängende Gefahr der Übernahme des deutschen Marktes durch amerikanische Firmen war von der Diskussion um die „amerikanische Gefahr" nicht mehr zu trennen. Als 1901 unter Führung von John Piermont Morgan der United States Steel Corp. in New York gegründet wurde und ein Interesse am deutschen Markt verkündete, schien für breite Teile der Öffentlichkeit eine „amerikanische Gefahr" real vorhanden zu sein. Aber auch andere Trusts wie der Zigarettentrust, die American Tabacco Company, nährten die Sorge in Deutschland, von der amerikanischen Wirtschaft vereinnahmt zu werden. 61 Die Diskussion verließ den Rahmen der Reichstagsdebatten und wurde 60 Schippel bezog sich mit dem Begriff „Outsider" auf amerikanische Lieferanten wie die Pure Oil Company, die allerdings mangels Kapitals und Transportfähigkeit weder in den Vereinigen Staaten noch in Deutschland zu einem emsthaften Konkurrenten der Standard Oil werden konnte. Vgl. Blaich, Der Fall Standard Oil, S. 666. 61 Carnegie gründete als erster einen so genannten Pool, in dem die Stock Company die Form der meisten Unternehmen bestimmte. Auf diese Weise wurde das wirtschaftliche Risiko auf mehrere Schultern verteilt, einzelne Aktionäre konnten aber auch leichter die Kontrolle übernehmen. Der gesetzliche Rahmen für Pools war in den Vereinigten Staaten Undefiniert. Vgl. Blaich, Fritz, Der Trustkampf 1901-1905. Ein Beitrag zum Verhalten der Ministerialbürokratie gegenüber Verbandsinteressen im Wilhelminischen Deutschland, Berlin, 1975, S. 30-38. Genaue Zahlen zu Morgans Finanzen und der Wirtschaftskraft des Trusts bei Glier, Ludwig, Zur neuesten Entwicklung der amerikanischen Eisenindustrie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 27, 1,2 (1904), S.275-281
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in zahlreichen Veröffentlichungen und Zeitungsartikeln weitergeführt. Innerhalb der Parteien wurde das Vorgehen der amerikanischen Trusts längst nicht nur unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt diskutiert. Auf dem administrativen Wege bemühten sich zwar Heyl zu Herrnsheim und Paasche in der von ihnen geleiteten Kommission des Reichstags, die Schaffung einer nationalen Petroleumraffinerie als Abwehrmaßnahme gegen die Standard Oil durchzusetzen, scheiterten jedoch mit ihren Resolutionen im Reichstag. Sie brachten die seit 1897 bekannten Argumente zur Begründung ihrer Resolution vor, die Standard Oil habe die Absicht den deutschen Markt zu unterwandern, die Konsumenten und Kleinproduzenten auszubeuten und sich langfristig als einziger Petroleumlieferant in Deutschland zu etablieren. Um dem entgegenzuwirken sei eine nationale Petroleumraffinerie und die Umorientierung auf andere Länder als Lieferant des Petroleums nötig. Sozialdemokraten auf der anderen Seite wiederholten die bekannten Argumente von der Nützlichkeit der Standard Oil als Garant für bezahlbare Petroleumpreise für Konsumenten und Kleinproduzenten. Abgeordnete des Zentrums lavierten zwischen einer verbraucherfreundlichen Politik und Bekämpfung der Standard Oil durch staatliche Maßnahmen, und Linksliberale bemühten sich, die Monopolstellung der Standard Oil herunterzuspielen. 62 In der Diskussion außerhalb des Reichstags wurden aber andere Schwerpunkte gesetzt. Das Bild von der „kapitalistischen Eroberungsgier" und dem Streben nach Beherrschung fremder Märkte füllte zahlreiche Parteiorgane und publizistische Äußerungen. Symbolisch tauchten immer wieder die Namen von Rockefeiler, Carnegie und Morgan als Verkörperung der „kapitalistischen Geier Amerikas" auf, die den deutschen Markt unter ihre Kontrolle zu bringen trachteten.63 Der Ökonom Paul und S. 1252-1265 und Levy, Hermann, Die Stahlindustrie der Vereinigten Staaten von Amerika in ihren heutigen Produktionen und Arbeitsverhältnissen, Berlin, 1905, S.337. Die beschworenen Gefahren durch den Tabaktrust hielt der Sozialdemokrat Lebius für übertrieben. Nach dem englischen Beispiel könnten sich auch in Deutschland Händler zusammenschließen und handelspolitische Absprachen treffen. Lebius, Rudolf, Der amerikanische Cigarettentrust in Dresden, in: Sozialistische Monatshefte, 1 (1902), S. 131-138. 62 Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2.Sess. 3.12.1901, Bd. 4 S.2918. Der Sozialdemokrat Wurm verglich sogar die Versuche Herrnsheims und Paasches mit den „großen Mitteln" der Agrarier und unterstellte den Nationalliberalen die gleiche Geldgier wie sie Rockefeller an den Tag lege. Ebd., 10. Leg. 2. Sess. 14.1.1903, Bd. 8 S. 7274. (Paasche) ebd. Einige Linksliberale wie Freese oder Gotheim sprachen sich dafür aus, den Handel mit konkurrierenden Gesellschaften zu fördern. Ebd. 14.1.1903, 10. Bd.8. S.7281. Ebd., 3.12.1901, Bd.4 S.2918. 63 Das Thema „Trusts" behielt seine Bedeutung bis 1914. Eine Fülle von verschienenen Autoren nahm sich der Deutung der Trusts an. Die Interpretationen gingen von einem geringen Wirkungskreis eines Trusts aus bis hin zu seiner langen Lebensdauer und Notwendigkeit für die technische Entwicklung. Vgl. Tschierschky, Siegfried, Kartell und Trust. Göttingen, 1903. S. 146-150 und Tafel, Paul. Die nordamerikanischen Trusts und ihre Wirkungen auf Technik und Fortschritt, Stuttgart, 1902, S.69. Die Liste der Titel ließe sich weiter fortführen. Anbei noch einige Beispiele: Gutmann, Julius, Über den amerikanischen Stahltrust. Mit Berücksichtung des deutschen Stahlverbandes, Essen, 1906. Baumgarten, F&rdinand/M eszleny, Artur, Kartelle und Trusts. Ihre Stellung im Wirtschafts- und Rechtssystem der wichtigsten Kultur-
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Dehn brachte die „amerikanischen Gefahr" unmittelbar im Zusammenhang mit den amerikanischen Trusts. Die Eroberung des Weltmarktes durch die amerikanische Konkurrenz und die Bedrohung der europäischen Industrie waren für ihn zwar auch nicht zu leugnende „Tatsachen", die eigentliche Gefahr sah er aber in den Trusts, weil sie das Instrumentarium zur Schaffung einer amerikanischen Vorherrschaft auf dem deutschen Markt darstellten. 64 Das Problem der Trusts inspirierte aber auch manchen Kommentator zum Entwurf einer veränderten Wirtschaftsform in Deutschland. Der Antisemit Ahlwardt riet als Gegenmaßnahme zu einem Zusammenschluss der trustfreien Produzenten, der Verweigerung der Annahme von Konsumgütern aus trustkontrollierten Industriezweigen und „öffentliches Brandmarken" von Geschäften, die ihre Güter von Trusts bezogen. Der recht unbekannte Schriftsteller Duimchen griff die Trusts auf, um damit seine eigenen politischen Vorstellungen von Deutschland zu begründen. Duimchen sah die einzige Chance, die „amerikanische Gefahr" bzw. die Trusts abzuwehren in der Errichtung eines „sozialen Königtums", um die Interessen des Kapitals und der Arbeit unter der Führung eines Monarchen auszugleichen. Er entwarf ein Horrorszenario, in dem die Trusts die deutsche Monarchie und Kultur bedrohten, gegen das nur die Kooperation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unter der Führung einer starken Monarchie bestehen könne. Duimchen verglich die amerikanischen Trusts mit einem Imperium, das im Gegensatz zu vergangenen Imperien der Weltgeschichte nur mit einer Waffe kämpfte, dem Kapital. Rockefeiler unterstellte Duimchen nichts Geringeres als ein Weltimperium der Tyrannei und Abscheulichkeit unter dem „amerikanischen Geist" errichten zu wollen und das kulturelle Leben in Deutschland völlig zu vernichten. 65 Der Gedanke, der amerikanische Kapitalismus trachte nach der Herrschaft über Deutschland, war nicht neu. Im Verlaufe der 1890er Jahre tauchte im Rahmen der Diskussionen über die amerikanische Tarifpolitik immer wieder der Vorwurf auf, Amerikas Außenhandelspolitik sei von „großkapitalistischen Interessen" geleitet und wolle ausländische Konkurrenz ausschalten, um die Dominanz der eigenen Kapitalmacht zu sichern. Die Trusts trugen umso entschiedener zu dieser Wahrnehmung bei, da sie direkt auf dem deutschen Markt agierten und die deutsche Konkurrenz ausschalteten, zudem wurden ihnen unbegrenzte Geldressourcen und Unterstützung der amerikanischen Regierung unterstellt. Staaten, Berlin, 1906 und Singer, Isidor, Das Land der Monopole. Amerika oder Deutschland, Berlin, 1913. 64 Dehn, Paul, Nordamerikanische Gefahr, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 2 (1902), S.443. 65 Duimchen, Theodor, Die Trusts und die Zukunft der Kulturmenschheit, Berlin, 1903, S. 133 ff. S. 171 und S. 202-234 und Ahlwardt, Hermann, Vertrustung Deutschlands, Leipzig, 1913, S. 39-40. Auch andere Publizisten betonten die Gefahren der Trusts z. B. Scherff\ Julius, Nord-Amerika. Reisebilder, sozialpolitische und wirtschaftliche Studien aus den Vereinigten Staaten, Leipzig, 1898, S. 163. Der freikonservative Moltke wertete die Trusts allerdings als nicht so gefährlich. Ihr Erfolg gründe auf Verringerung der Kosten, sie würden finanzielle und technische Interessen miteinander verflechten, seien aber ein Staat im Staate. Die Gefahr für Deutschland liege in den Produktionskosten. Moltke, Nord-Amerika, S.22ff. 13 Czaja
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III. Die amerikanische Gefahr
Bereits 1897 schrieb der Publizist der Zentrumspartei Georg Grupp in den Historisch-politischen Blättern einen Artikel mit dem Titel „Die kapitalistischen Raubritter". Der Verfasser charakterisierte darin die Vorgehensweise der amerikanischen Ringe und Trusts bei ihrer Eroberung der deutschen und europäischen Märkte. Als Synonyme für den amerikanischen Kapitalisten schlechthin bediente er sich der Namen Rockefeller und Rothschild, die mit Hilfe des „vaterlandslosen Kapitals" in alle Bereiche des Geschäftslebens vordrängen und planmäßig von Amerika aus sich über die Welt ausbreiteten. Der Autor verglich sie mit „Raubrittern des Mittelalters", die jedoch auf ihren „Plünderungszügen" nicht mit „Hurrah und Halidali", sondern mit Hausse und Baisse auf der Börse Jagd machten. Die tatsächliche Gefahr für Deutschland bestand laut Grupp darin, dass die deutsche Industrie aufhören werde, „Herr im eigenen Haus" zu sein und dass die amerikanischen Großaktiengesellschaften auf deutschem Boden mit großen Geldangeboten die deutsche Industrie völlig unterwandern würden. 66 In der beinahe gesamten Zentrumspresse lief die Grundtendenz der Kommentare und Berichtserstattung über amerikanische Trusts auf eine Unterwanderung des deutschen Marktes mit „kapitalistischen Mitteln" hinaus. Ähnlich den Ausführungen Grupps unterstellte ein Kommentartor der Kölnischen Volkszeitung Amerika planmäßiges und rücksichtsloses Vorgehen bei der Unterwanderung der deutschen Wirtschaft in „kapitalistischer Manier". Dabei wurde der Griff der amerikanischen Kapitalisten nach dem deutschen Markt als ein natürlicher Prozess des Wachsens beurteilt, in dem das „amerikanische Kapital" nach der Eroberung des eigenen Landes über die Grenzen hinausgreifen müsse. Die Gefahr wurde als besonders groß gesehen, da die Zentrumspresse eine Zusammenarbeit zwischen der amerikanischen Regierung und den Trusts zu erkennen glaubte und den amerikanischen Antitrustgesetzen keinerlei Bedeutung beimaß. Roosevelt wurde die Glaubwürdigkeit abgesprochen, gegen die eigenen „Brotherren" vorgehen zu wollen. 67 Die Vorstellung von gewissen- und vaterlandslosem Kapital als Antriebsfeder der amerikanischen Wirtschaft wurde in der Zentrumsöffentlichkeit seit dem Erlass des McKinley-Tarifs gepflegt. Die allgemeine Kapitalismuskritik und die Soziallehre des politischen Katholizismus in Deutschland spielten hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle, genauso wie die Überzeugung, dass derartige Auswüchse des sozialen Lebens nur in einer „korrumpierten Republik" möglich seien. Die Trusts und ihre Vorgehensweise lieferten den Vertretern des Zentrums die besten Beweismittel für ihre Vorstellung von der „kapitalistischen Republik Amerika". Als gravierend und besonders gefährlich für Deutschland wurde aber vor allem die Zusammenar66 Grupp, Georg, Kapitalistische Raubritter, in: Historisch-politische Blätter, 119 (1897), S. 733-743. Ähnliche Kommentare zum Zigarettentrust in Dresden dem American Tabaco Company oder dem Stahltrust in der Kölnischen Volkszeitung, Nr. 566, 7.7.1903 und Nr. 695, 19.8.1903 oder Germania, Nr. 98, 30.4.1902 und Nr. 118, 25.5.1902. Nach eigener Einschätzung war Matthias Erzberger ein Verfechter der deutschen Kartelle, da sie soziale Leistungen wie Krankenversicherung oder Invalidenversicherungen für die Arbeiter garantierten. Vgl. Erzberger, Matthias, Politik und Völkerleben, Paderborn/Würzburg, 1914, S. 55. 67 Kölnische Volkszeitung, Nr. 634, 16.7.1902. Nr. 655, 23.7.1902 und Nr. 772, 30.8.1902.
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beit zwischen den amerikanischen Kapitalisten und amerikanischen Politikern empfunden. Dadurch erhielten die amerikanischen Trusts in der Sichtweise des Zentrums eine noch größere Bedrohungskomponente, da sie von höchsten Stellen Unterstützung fanden. Das Bild des „rücksichtslosen Kapitalisten" fand ebenfalls Eingang in die sozialdemokratische Bewertung der amerikanischen Trusts. Äquivalent dem Zentrum und dem Freisinn verfolgten die Sozialdemokraten neben den theoretischen Diskussionen eine pragmatische Linie im Reichstag. Sie beurteilten amerikanische Trusts nach ihrer Nützlichkeit für die Arbeiterklasse. In der Öffentlichkeit jedoch wurde das Bild des „häßlichen Kapitalisten", der seine Macht weit in die Politik hinein ausdehnt, gezeichnet. Der moralische Impetus der Zentrumskommentatoren wurde zwar nicht geteilt, aber die Feststellung und das Urteil über die Macht der amerikanischen Trusts und ihrer Verbündeten in der amerikanischen Regierung waren identisch. Die Macht der Trusts und ihre Herrschaft über die Demokraten und Republikaner in der amerikanischen Politik wurden als derart gefestigt angesehen, dass rechtliche Schritte gegen sie nicht mehr denkbar schienen. Auch der Einfluss der amerikanischen Trusts auf den deutschen Markt wurde als bereits so gewachsen betrachtet, dass die deutsche Wirtschaft in höchstem Grade gefährdet schien. In gegensätzlicher Ausrichtung zur Reichstagsfraktion der Sozialdemokraten sahen die Parteiorgane die größte Gefahr für das wirtschaftliche Leben in der Ausbeutung der Märkte durch amerikanische Trusts. Selbst der Vorwärts, der prinzipiell sehr wohlwollend über Amerika und die amerikanische Politik berichtete, wich von dieser Linie nicht ab.68 Als die Hamburg-Amerika-Linie und der Norddeutsche Lloyd an das Morgan-Syndikat verloren zu gehen drohten, bezweifelte Heinrich Cunow, ein regelmäßiger Kommentator Amerikas in der Neuen Zeit, ob die Übernahme überhaupt noch verhindert werden könne, da die Macht des Morgan-Trust inzwischen zu gewaltig sei, um seinen Einfluss auf Deutschland zurückzudrängen. Cunow glaubte nicht der Botschaft Roosevelts an den Kongress vom Dezember 1901, in der Roosevelt den Trusts den Kampf angesagt hatte. Im gleichen Sinne wie die Beobachter des Zentrums bewertete Cunow den Einfluss der Trusts auf die amerikanische Regierung und die Etablierung des Systems der „Günstlinge und Nutznießer" als zu groß, um politisch noch etwas gegen die Trusts ausrichten zu können.69 Das Bild des „amerikanischen Kapitalisten", der in der Form von Trusts die amerikanische Wirtschaft und Politik bereits vereinnahmt hatte und zu einem Schlag gegen Deutschland ansetzte, prägte die öffentliche Wahrnehmung der amerikanischen Trusts bei den Sozialdemokraten. 68
Vorwärts, Nr. 156,8.6.1894. Nr. 95,24.4.1895 und Nr. 116,20.5.1900 oder auch Schlüter, Hermann, Die amerikanischen Wahlen, in: Neue Zeit, 23 (1905) I, S. 310. 69 Cunow, Heinrich, Wirtschaftliche Umschau, in: ebd., 20 (1902) II, S.383. s. auch den Beitrag in der Neuen Zeit zur Wirksamkeit der Anti-Trust-Gesetze. Beer, Max, Die amerikanischen Gesetzte gegen die Trusts, in: ebd., 20 (1902) II, S. 758-766. Tatsächlich erhielt Roosevelt wegen seines Vorgehens gegen Ringe und Trusts den Beinamen „Trust-buster". Vgl. LaFeber, Walter, The American Search for Opportunity. The Cambridge History of American Foreign Policy, Vol. 2, 1865-1913, Cambridge, 1993, S. 185. 13*
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III. Die amerikanische Gefahr
Ebenso eindeutig war die veröffentlichte Meinung der nationalliberalen und konservativen Parteien hinsichtlich der amerikanischen Trusts. Die Nationalliberale Partei, als eine Partei mit kapitalistischer Grundausrichtung, thematisierte kaum das „amerikanische Kapital", ihr fehlte auch der weltanschauliche Zugang des Zentrums und der Sozialdemokratie, um darin eine Gefahr für Deutschland zu sehen. Ihr Urteil war jedoch unmissverständlich: die Gefahr einer Unterwerfung der deutschen Wirtschaft durch amerikanische Trusts. Aus der nationalliberalen Sicht war die praktische Sorge vor der amerikanischen Konkurrenz entscheidender als moralische oder theoretische Überlegungen. So wurden auch die bevorstehenden Gefahren für die deutsche Wirtschaft viel klarer benannt, ohne jedoch das Urteil der Sozialdemokratie und des Zentrums von der Zusammenarbeit zwischen Politik und Trusts in Amerika und dem Griff amerikanischer Trusts nach Deutschland anzuzweifeln. Die Versuche des United States Steel Co., unter der Führung von John Pierpont Morgan, die Aktienmehrheit der deutschen Schifffahrtslinien zu übernehmen, nahm die Kölnische Zeitung zum Anlass, um auf die Gefährlichkeit der amerikanischen Trusts hinzuweisen. Sie prangerte die Versuche des Morgan-Trust an, jeden Wettbewerber in den Boden zu drücken, und zählte die unmittelbaren Folgen für Deutschland auf, wie den Verlust der europäischen Industrien und des eigenen Marktes an amerikanische Firmen sowie das Beschneiden deutscher Wirtschaftsinteressen auf den Drittmärkten, um vor der bevorstehenden Herrschaft amerikanischer Trusts in Deutschland zu warnen. 70 Auch die Absichten Roosevelts, den amerikanischen Trusts rechtlich beizukommen, wurden in der nationalliberalen Presse eher belächelt als ernst genommen. Wie Hugo Schlick in den Nationalliberalen Blättern schrieb, habe es Roosevelt geschafft, in Deutschland den Glauben zu wecken, er werde die Korruption bekämpfen, den Trusts energisch zu Leibe rücken, den Hochschutzzoll brechen und sich den Deutschen freundlich gegenüber verhalten. Für Schlick waren Roosevelts Bekundungen jedoch lediglich „Komödiantentum und schauspielerisches Talent", um seine Verstrickungen in der „republikanischen Maschine" und seine Kooperation mit den Trusts zu kaschieren. Als Beweis für Roosevelts Hilfestellung für die amerikanischen Trusts führte Schlick seine Berufungen der Senatoren Mark Hanna und Orville Platt in sein Kabinett an.71 Es war für ihn daher klar, dass Roosevelt nicht ehrlich und un70 Kölnische Zeitung, 3.6.1901. 1902 kam ein Abkommen zwischen den deutschen Schifffahrtslinien und dem Morgan-Trust zustande, den deutschen Linien blieb der Verkehr zwischen den deutschen Häfen und den USA vorbehalten, dem amerikanischen Trust zwischen England und den USA. Morgan verpflichtete sich des Weiteren, keine Aktien der deutschen Linien aufzukaufen. Vgl. Heer, Erich, Der Zusammenbruch der Wirtschaftsfreiheit und der Sieg des Staatssozialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, Jena, 1906, S. 126-132. 71 Schlick, Hugo, Präsident Roosevelt und seine Botschaft, in: Nationalliberale Blätter, 18 (1901), S. 602. Mark Hanna war Senator von Ohio und Präsident des republikanischen Nationalkomitees. Platt O. Hitchcock, Senator aus Connecticut, bekannt durch seine Initiative zum Platt-Amendmend, das 1901 dem Militärhaushaltsgesetz als Ergänzung eingefügt wurde. Es machte den Abzug der amerikanischen Truppen aus Kuba abhängig vom Recht der Intervention zur Wahrung der kubanischen Unabhängigkeit. Hanna, aktiv im Kohle- und Eisenhandel
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abhängig gegen eine von den Trusts kontrollierte Politik vorgehen könne. Die größte Gefahr für Deutschland und Europa sah Schlick jedoch nicht in der amerikanischen Trustgesetzgebung, sondern in der von Roosevelt repräsentierten chauvinistischen Außenpolitik des „We can lick everybody" und „We can buy everything". Die außenpolitischen Erfolge und der phänomenale wirtschaftliche Aufschwung des Landes hätten die nationale Eitelkeit ins Maßlose gesteigert, die Trusts zu einem Instrument zur Verdrängung Europas auf den Weltmärkten werden lassen und ihren Wert als Werkzeug, um Amerika zum Bankier der ganzen Welt zu machen, für Roosevelt verdeutlicht. 72 Die nationalliberale Presse beklagte nicht minder als nationalliberale Politiker die wirtschaftspolitischen Gefahren, die von den amerikanischen Trusts ausgingen. Zielsicherer und unverblümter benannte sie die Folgen des Vordringens amerikanischer Trusts auf den deutschen Markt. Es bestand keine Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung der Nationalliberalen und der Haltung der Partei zu amerikanischen Trusts, wie dies in der Sozialdemokratie oder dem Zentrum der Fall war. Der nüchterne und kühne machtpolitische Zugang zu diesem Thema erlaubte zwar, die Charakterisierung der amerikanischen Trusts zu überdehnen und sich verschiedener Repertoires zu bedienen, aber auch die eigentliche Sorge auf den Punkt zu bringen: die Angst vor einem unerwünschten Konkurrenten auf dem deutschen und den fremden Märkten. Der Hinweis auf die besondere Bedrohung durch die amerikanischen Trusts aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der amerikanischen Politik gehörte, wie in der Sozialdemokratie und dem Zentrum, zum Standardrepertoire der konservativen Presse und zahlreicher konservativer Politiker. Wie Kanitz es formulierte, hätten die amerikanischen Trusts die „tatkräftigsten Vertreter" in der politischen Führung der Vereinigten Staaten gefunden. 73 Der spanisch-amerikanische Krieg schien zudem den Eindruck der ständig wachsenden Macht der Trusts in ihrer Gier nach Expansion zu bestätigen, wurde dieser doch in der konservativen Deutung auf Drängen der amerikanischen Trusts und Unternehmen betrieben. Die Monroe-Doktrin und die territoriale Expansion Amerikas stellten für die Konservativen nur weitere Beweise dar, dass amerikanische Politik und Außenpolitik dem Diktat der Trusts folge. Dabei wurde immer wieder dem amerikanischen Markt und dem amerikanischen Kapital eine aggressive, expansionistische Grundhaltung vorgeworfen, die nach der Eroberung des amerikanischen Festlandes nun über die eigenen Grenzen hinaus bis nach sowie Banngewerbe und Schifffahrt, förderte McKinleys Wahl zum Gouverneur von Ohio und später zum Präsidenten. Für McKinley sammelte er 1896 eine Spendensumme von bis dahin nie erreichter Höhe von 3,5 Millionen Dollar. In der öffentlichen Meinung Amerikas wurde er zum Inbegriff des Einflusses von Big Business in der Politik. Vgl. Sauter , Udo, Lexikon der amerikanischen Geschichte, München, 1997, S. 162. 72 Schlick, Hugo, Präsident Roosevelt und seine Botschaft, in: Nationalliberale Blätter, 18 (1901), S. 603. 73 Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 5.Sess. 11.2.1898, Bd. 2 S.978 oder auch Ahlwardt, Die Vertrustung Deutschlands, S.31.
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Europa greife. Ein Konglomerat aus imperialistischer, dem Schutzzoll folgender Politik und einer gewalttätigen Konzentration des Kapitals mündete in den Augen der Konservativen unumgänglich in einer ständigen Ausdehnung der amerikanischen Wirtschaft in Form von Trusts. Zur Beschreibung der Expansion der amerikanischen Wirtschaft wurde das Bild eines „kapitalistischen Raubtieres" verwendet, das mit „unehrlichen und ungesetzlichen Mitteln" den „ehrlichen Industriellen" vom Markt verdränge und sich durch Spekulationen, unfaire Methoden und politische Bestechung auf Kosten der Allgemeinheit bereichere. 74 Amerika war in dieser Sicht ein Gefangener seiner Selbst und konnte sich aufgrund seiner gesellschaftlichen und politischen Ordnung dem kapitalistischen Zwang nicht entziehen. Zuweilen mischten sich antisemitische Tone in die Bewertung der amerikanischen Wirtschaftspolitik von Seiten des rechten Flügels der Deutschkonservativen Partei. Hammerstein und seine Kreuzzeitung griffen des Öfteren auf die Gleichsetzung von „Yankee", „Jingo" und „Jude" zurück und versuchten auf diese Weise die „kapitalistische" Politik der Vereinigten Staaten zu erklären. Nach dieser Denkart war Amerika so „rücksichtslos" und produzierte Erscheinungen wie die Trusts, weil sich die „Juden" in Amerika in die höchsten Ämter hochgearbeitet hätten. Nach dem Urteil der Kreuzzeitung seien „Juden" und „Jingos" bzw. „Yankees" wesensverwandt, und es liege in ihrer Natur, entweder als Unterdrücker oder als Unterdrückter zu leben und die Rechte eines Nebenmenschen zu missachten.75 Die Titulierung amerikanischer Wirtschaftsformen als Auswüchse des amerikanischen Kapitalismus und des Amerikaners als „Kapitalisten ohne Gewissen" war in allen Parteien präsent. In der Deutschkonservativen Partei gründete sie jedoch nicht nur auf der Entrüstung über die amerikanische Tarifpolitik und die amerikanische Handelspraxis, sondern bildete einen Teil der gesamten Amerikaperzeption der Konservativen. Der „ideological resentment" 76 fand in den Wirtschaftsfragen und besonders im „kapitalistischen Ausdruck" des amerikanischen Wirtschaftslebens genügend Nahrung, um den amerikanischen Materialismus und Utilitarismus bestätigt zu sehen. Gewiss untermauerte das monarchisch geprägte Denken der deutschen Konservativen die Vorstellung von amerikanischem Kapitalismus. Ein ideologischer Zugang ist auch besonders deutlich in der Sozialdemokratie und in der Zentrumspartei zu spüren. Der von den Trusts erwartete Nutzen für die Versorgung der Arbeiterklasse wurde immer wieder durch das Bild des „hässlichen Kapitalisten" konterkariert, eine Charakterisierung, die die Beschreibung amerikanischer Wirt74 Kreuzzeitung, Nr. 112,13.3.1897 und Nr. 175,16.4.1903. Aber auch in der Freikonservativen Presse z. B. Hasbach, W., Die amerikanische Tarifrevision und die Demokratie, in: Das Neue Deutschland. Wochenschrift für Konservativen Fortschritt, 1 (1913), S.208. 75 Kreuzzeitung, Nr. 559,29.11.1902. In dieser Ausgabe erschien ein Artikel unter dem Titel „Das Judentum in Amerika", der die Situation der Juden in Amerika zum Gegenstand hatte und auf ihren wachsenden Einfluss hinwies. Am Ende des Artikels, nachdem die „Wesensverwandtschaft der Juden und Yankees" festgestellt worden war, hieß es: „(...) und da gleiche Pole sich abstoßen, mag sich auch hieraus die beginnende starke Abneigung (in Amerika) gegen die Juden erklären." Ähnliche Kommentare schon zuvor. Z.B. Kreuzzeitung, Nr.72, 26.4.1891. 76 So Kennedy. Vgl. Kennedy, British and German Reactions, S. 18.
3. „Panamerika" contra „Mitteleuropa"
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schaft und amerikanischer Wirtschaftsformen trotz des praxisorientierten Zugangs stets begleitete. Schließlich verstanden sich die Sozialdemokraten als eine antikapitalistische Partei, die sich den Kampf gegen die „kapitalistische Ausbeutung" auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Ebenso war aber die Zentrumspartei zwischen dem praktischen Nutzen von Kartellen und Trusts und der weltanschaulichen Verurteilung von unsozialen Wirtschaftsformen zerrissen. In den legislativen Entscheidungen verfolgte sie eine dem Konsumenten nützliche Politik, verurteilte aber gleichzeitig das „kapitalistische Treiben" der amerikanischen Trusts und ihre Versuche, auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen. Sicherlich war ihre antikapitalistische Attitüde anderen Ursprungs als die der Sozialdemokratie, eine ungerechte Konzentration von Kapital und die vermeintliche Ausbeutung Unterprivilegierter ließ sich aus der christlichen Ordnung, dem Naturrecht und der Soziallehre nicht ableiten. Als einzige verfolgte die Nationalliberale Partei eine klar begründete Interessenpolitik ohne rhetorische Verrenkungen. Übergreifend lässt sich dennoch feststellen, dass die Diskussionen um die amerikanischen Trusts wie kaum eine andere Debatte zu amerikanischen Themen das Bild vom kapitalistischen Amerika parteiübergreifend endgültig etabliert hat. Die Trusts, auch als ein Synonym für enorme Konzentrationen von Kapital und amerikanische Versuche, das Ausland damit zu unterwandern, wurden als der stärkste Ausdruck des aggressiven kapitalistischen Amerika betrachtet.
3. „Panamerika" contra „Mitteleuropa" Die Diskussion über die „amerikanische Gefahr" erreichte um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt. Der industrielle Aufstieg der Vereinigten Staaten, die wachsenden Exporte und die neue weltpolitische Rolle Amerikas nach dem spanisch-amerikanischen Krieg nährten die Diskussionen. Eine der Hauptsorgen in Deutschland konzentrierte sich jedoch auf die dominante Rolle der Vereinigten Staaten in Lateinamerika. Kurz nach der Jahrhundertwende war die amerikanische Vormachtstellung in Lateinamerika bereits in dem Maße gefestigt, dass europäische Staaten zunehmend an Einfluss verloren, zudem gewann Amerika nach dem spanisch-amerikanischen Krieg neue Territorien und konnte auf diese Weise die Basis für außenwirtschaftliches Engagement erweitern. Die Sorge in Deutschland, von den Drittmärkten in Lateinamerika verdrängt zu werden, wuchs parallel zur Zunahme des amerikanischen Einflusses. Die Zeitgenossen glaubten in der amerikanischen Außenpolitik die Vorboten eines panamerikanischen Imperiums zu erkennen. Die neuen Gebietsgewinne, die Panamerikakongresse, der Bau des Panamakanals und die neuerliche Artikulierung der Monroe-Doktrin manifestierten für sie den US-amerikanischen Willen, eine Vormachtstellung über die zwei amerikanischen Kontinente zu begründen. Auch wenn die Anläufe zum Aufbau einer panamerikanischen Zollunion auf dem Panamerikakongress von 1890 gescheitert waren, glaubten dennoch Teile der Parteien, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich die Vereinigten Staaten ganz Lateinamerika U n t e r t a n machen würden. Auch die gegen Eu-
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III. Die amerikanische Gefahr
ropa gerichtete Zollpolitik der Reziprozität hatte für die Zeitgenossen das Ziel, die Europäer aus Lateinamerika herauszuhalten und die wirtschaftliche Vormachtstellung der Vereinigten Staaten in Lateinamerika zu sichern. Die Sorge um die Minderung des Absatzmarktes in Lateinamerika breitete sich in Kreisen des Außenhandels in Deutschland zunehmend aus. Dort bekamen die deutschen Wirtschaftsinteressen die amerikanische Konkurrenz besonders hart zu spüren. Es gelang Amerika zwar nicht, seinen europäischen Exporterfolg in Lateinamerika zu wiederholen, auch verbesserte sich m Laufe der Jahre 1901/02 die Exportlage Deutschlands gegenüber den Vereinigten Staaten bereits leicht, als die konjunkturelle Inkongruenz beider Länder sich zugunsten Deutschlands verschob und die deutschen Eisen- und Stahlexporte einen Aufschwung erhielten, dies änderte aber nichts an der bestehenden Wahrnehmung einer Bedrohung seitens der Vereinigten Staaten.77 Deutschland schien von einem wirtschaftlichen Giganten erdrückt und schließlich von der Weltbühne als Wirtschaftsmacht verdrängt zu werden. Die Wirksamkeit der Konzepte der 90er Jahre, wie der Kündigung des Meistbegünstigungsverhältnisses oder der Erhöhung der Zölle, drohte unter diesen Vorzeichen verloren zu gehen. Auch wenn sie immer noch gefordert wurden, ihre Durchschlagskraft als Waffe gegen die „amerikanische Bedrohung" ließ erheblich nach.78 Die Sorge vor der amerikanischen Dominanz in Lateinamerika und dem Verlust der deutschen Stellung in diesem Raum erfasste weite Teile der deutschen Öffentlichkeit und der politischen Parteien und provozierte eine Reihe von Konzepten und Ideen, sich gegen den neu entstehenden amerikanischen Konkurrenten zur Wehr zu setzen. Die Wahrnehmung des Phänomens der „amerikanischen Gefahr" ging über die üblichen handelspolitischen Streitigkeiten der 1890er Jahre hinaus. Es ging nicht mehr nur um eine Schieflage der deutsch-amerikanischen Handelsbeziehungen und um die Abwehr der amerikanischen Konkurrenz, sondern um die Frage nach der Stellung Deutschlands und Europas als wirtschaftliche Größen weltweit. Die neue Sachlage verlangte in den Augen der Zeitgenossen neue Formen der Abwehr der „amerikanischen Gefahr". Sicherlich war der Gedanke, amerikanische Produktionsweisen und wirtschaftliche Vorgänge den deutschen Verhältnissen anzupassen und auf diese Weise das wachsende wirtschaftliche Ungleichgewicht auszugleichen, ein neuer Ansatz. Die Idee, dem deutschen Konkurrenzkampf gegen Amerika auf diese Weise neuen Auftrieb zu verschaffen, blieb aber weitgehend ohne Einfluss auf die Meinungsbildung der Parteien. Vielmehr etablierte sich in den Reihen der Parteien, unter vielen Wissen77 Die amerikanischen Exporte nach Deutschland fielen von 192 Millionen im Jahr 1901 auf 173 Millionen im Jahr 1902, demgegenüber stieg der deutsche Export nach Amerika im selben Zeitraum von 100 auf 102 Millionen Reichsmark. Vgl. Hase, Lateinamerika, S. 320-360. Herwig, Holger H., Germany's Vision of Empire in Venezuela 1871-1914, Princeton, 1986, S. 181 und Neitzel, Weltmacht oder Untergang, S. 273-276. 78 So z. B. Kanitz oder Münch-Ferber, die zum wiederholten Male zur Kündigung des Meistbegünstigungsverhältnisses und zur Erhebung von Zöllen aufriefen und den Amerikanern die „Zähne zeigen" wollten. Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. l.Sess. 11.2.1899, Bd. 1 S.783. Ebd., lO.Leg. 2.Sess. 4.12.1901, Bd.4. S.2937 und ebd., lO.Leg. 2.Sess. 12.12.1901, Bd. 4 S. 2172.
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schaftlern und Publizisten die Vorstellung, man müsse dem amerikanischen Konkurrenten, einem wirtschaftlichen Riesen und einem politischen immer stärker werdenden Rivalen, der sich zu einem Panamerika wandelte, mit einem gemeinsamen europäischen Vorgehen begegnen. Die Entwürfe eines wie auch immer gearteten gemeinsamen europäischen Vorgehens gegen die wirtschaftliche Übermacht Amerikas wurden um die Jahrhundertwende in einer ungeheuren Vielfalt zum festen Bestandteil der Amerikadiskussionen. a) Mitteleuropadiskussionen der 1890er Jahre Die Idee eines mitteleuropäischen wirtschaftlichen Zusammenschlusses war nicht neu. Im Vormärz entwickelt, tauchte sie immer wieder als protektionistische Variante oder als Absatzmarktstrategie auf. Damals spielte Amerika als wirtschaftlicher Konkurrent noch keine Rolle, und die „Mitteleuropa-Konzepte" hatten einen offensiven Charakter mit dem Ziel, den wirtschaftlichen Einfluss Deutschlands in Europa zu vergrößern. Zu den Gründervätern der „Mitteleuropakonzeptionen" gehörten Ökonomen wie Friedrich List. List propagierte eine wirtschaftliche Vereinigung der deutschen Staaten im großdeutschen Sinne unter anschließender Einbeziehung Belgiens, Dänemarks und der Schweiz, später folgten ihm Droz, Bruck und Lujo Brentano. Diese Vorstellungen erreichten aber kaum die politische Ebene, sie blieben mehr auf akademische Eliten begrenzt.79 Auch seit der Reichsgründung spielten sie auf der Regierungsebene eine sehr untergeordnete Rolle. Bismarck schien, nachdem der ungarische Abgeordnete Guido von Bauern eine Zollunion zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn entworfen hatte, mit dem Gedanken eines Zollbundes mit Österreich-Ungarn gespielt haben, erklärte ihn zum „idealen Ziel" und verfolgte es nicht weiter. 80 Eine erste antiamerikanische Stoßrichtung ist in den Mitteleuropa-Plänen Caprivis auszumachen. Caprivis Pläne verfolgten die Idee eines wirtschaftlich abgerundeten Dreibundes als Fundament, um damit die konjunkturelle Schwäche des Reiches durch gezielte Zollsenkungen und Exportföderung in Mitteleuropa zu verbessern und einen wirtschaftlichen Block gegen die Vereinigten Staaten und Russland 79 Zu den verschiedenen Varianten der Idee einer Mitteleuropäischen Zollunion vgl. u. a. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action, S. 57-66. Böhme, Helmut, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln, 1966, S. 19-21. S. 108-119 und S. 237-239. Theiner, Peter, Mitteleuropa-Pläne im Wilhelminischen Deutschland, in: Berding, Helmut (Hrsg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen, 1984, S. 128-148 und Wengenroth, Ulrich, Hoffnungen auf Mitteleuropa. Absatzstrategien und Interessenpolitik der deutschen Schwerindustrie im Reichsgründungsjahrzehnt, in: Melville, Ralph/Scharf, K l a u s / V o g t , Martin/Wengenroth, Ulrich (Hrsg.), Festschrift für Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, Stuttgart, 1988, S. 537-555. 80 Vgl. Henderson, William O., Mitteleuropäische Zollvereinspläne 1840-1940, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 122 (1966), S. 147 und Francke, Zollpolitische Einigungsbestrebungen, S.207.
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zu schaffen. Sie stießen aber in den deutschen Nachbarstaaten auf wenig Entgegenkommen und wurden zudem durch Meistbegünstigungsverträge mit außereuropäischen Staaten konterkariert, wie durch den Handelsvertrag mit Russland von 1894 oder die Bekräftigung der Meistbegünstigung im Saratoga-Abkommen mit den Vereinigten Staaten. Aber auch in der Exportindustrie dieser Jahre wurden Stimmen für einen „mitteleuropäischen Zollverein" unter Einschluss Frankreichs als Abwehrmaßnahme gegen die Vereinigten Staaten laut. 81 Viel stärker als in der Reichsregierung fand die Idee eines mitteleuropäischen Zollverbundes zur Abwehr der amerikanischen Konkurrenz in der Wissenschaft und Publizistik Anklang. Vor dem Hintergrund der wachsenden Konkurrenz auf dem Agrarsektor und des eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurses der Vereinigten Staaten sprachen sich Ökonomen, Unternehmer und Publizisten für einen mitteleuropäischen Zollverband mit abgestimmten Zollsätzen und einer koordinierten Handelspolitik aus. All die Konzepte hatten in ihren unterschiedlichen Facetten grundsätzliche Elemente gemein, einerseits das Leitbild nationaler Autonomie und möglichst weitgehender nationaler Handlungsfreiheit sowie der Nutzung einer mitteleuropäischen Zollunion als Forum, um nationale oder gar gruppenspezifische Interessen durchzusetzen, so z. B. um die Wirtschaftslage zu verbessern oder, wie später bei den Alldeutschen, eine bessere Ausgangslage für Weltpolitik zu schaffen. Mitteleuropa sollte als gemeinsame Waffe gegen einen gemeinsamen Feind genutzt werden. 82 Zu einem größeren Publikum in Deutschland verhalf der Mitteleuropaidee der in Deutschland sehr bekannte österreichische Ökonom, der auch Mitglied im österrei81 Zu Caprivis Mitteleuropaplänen vgl. Hannigan, Robert E., Continentalism and Mitteleuropa as Points of Departure for a Comparison of American and German Foreign Relations in the Early 20 th Century, in: Schröder, Hans-Jürgen (Ed.), Confrontation and Cooperation. Germany and the United States in the Era of World War One, 1900-1914, Oxford, 1993. S.70ff. Pommerin, Der Kaiser und Amerika, S. 23-49 und die zeitgenössischen Kommentare Waltershausen, Deutschland und die Handelspolitik, S. 82. Francke, Zollpolitische Einigungsbestrebungen, S. 219 sowie die lobenden Worte Waldersees für Caprivis Pläne zur Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa". Waldersee, Graf Alfred, Denkwürdigkeiten des GeneralFeldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, Bearb. und Hrsg. von Heinrich Meißner, Otto, Stuttgart/Berlin, 1922, S.230. 82 Zum europäischen Bewusstsein vgl. Krüger, Peter, Europabewusstsein in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Hudemann, Rainer/Kaelble, Hartmut/Schwabe, Klaus (Hrgs.) Europa im Blick der Historiker, München, 1985, S. 33-38. Alle Vorstellungen zu einem mitteleuropäischen Zollverein hatten jedoch nicht im entferntesten mit einer politischen Einheit Europas als Akteur zu tun. Dennoch existierten auch in der Kaiserzeit Ideen zu einer europäischen föderativen Einheit, oft pazifistisch orientiert gingen sie von einem europäischen staatsähnlichen Gebilde und europäischem Bewusstsein aus. Z.B. der Appell von Couberin, an ein „einiges, friedfertiges und sich den Werken und Künsten der Zivilisation zuwendendes Europa", sollte sich Amerika entschließen, eine „ungerechtfertigte Herrschaft über die Welt" ausüben zu wollen. Couberin, Pierre, Die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten im zwanzigsten Jahrhundert, in: Deutsche Revue, Vi (1898), S.231. Vgl auch Wehberg, Hans, Ideen und Projekte betreffend die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten 100 Jahren, Bremen, 1984, S. 16ff.
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chischen Abgeordnetenhaus war, Alexander Preez. Viele Konservative beriefen sich später auf die Ideen Preez', um der „amerikanischen Gefahr" zu begegnen. A m 11. März 1889 hielt er einem Vortrag vor der Gesellschaft österreichischer Volkswirte, in dem er eine Zollunion der Länder des Dreibundes unter möglicher M i t w i r kung Frankreichs gegen die Weltmächte der Zukunft, Russland, „Größer-Britannien" und die Vereinigten Staaten forderte. Peez nahm die wachsende agrarische Konkurrenz zum Anlass, ein mögliches mitteleuropäisches Zollbündnis gegen die aufkommende wirtschaftliche Bedrohung aus Amerika zu fordern. 83 Aber auch seitens deutscher Publizisten und Ökonomen war der Ruf nach einem europäischen Zollbündnis unüberhörbar. Der Ökonom Karl Rathgen schrieb 1892 mit etwas Wehmut, dass ein mitteleuropäisches Zollbündnis zwar noch in weiter Ferne liege, dass es aber dennoch gegen die agrarische Konkurrenz der Vereinigten Staaten notwendig sei. 8 4 Die Diskussion über den Exportanstieg landwirtschaftlicher Erzeugnisse der Vereinigten Staaten und die Bedeutung Amerikas als Handelsmacht verließ Anfang der 90er Jahre den Kreis der Ökonomen und Publizisten und erreichte die Reihen der politischen Parteien. Der neu eingeschlagene Kurs in der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik, ihr Hinausgreifen nach Lateinamerika und die zollpolitische Ofifen83
Peez, Alexander, Zur neuesten Handelspolitik. Sieben Abhandlungen, Wien, 1895. S. 7-30, S. 37-65 und S. 83 ff. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte Peez unverkennbare Bewunderung für den amerikanischen Aufstieg und bescheinigte Amerika, dass es inzwischen zu einem wichtigen Faktor der Weltpolitik geworden sei. Vgl. Peez' Einleitung zu der Abhandlung von Paul Dehn. Dehn, Paul, Weltpolitische Neubildungen, Berlin, 1905, S.8 der Einleitung. 84 Rathgen, Karl, Moderne Handelspolitik, in: Preßische Jahrbücher, 69 (1892), S.95. Auch andere Ökonomen favorisierten die Idee eines „Mitteleuropäischen Zollvereins", wie Gustav Schmoller, der bereits zu Beginn der 1880er Jahre von der Notwendigkeit eines „mitteleuropäischen Zollvereins" zur Abwehr der amerikanischen Konkurrenz. 1891 erschien eine anonyme Schrift in Berlin, die mit viel Pathos und Entschiedenheit für „Mitteleuropa" eintrat, um der Gefahr der „Aushungerung und Verknechtung" durch halbbarbarische Völker wie Russland und Amerika entgegenzuwirken. Der Verfasser bezog sich ausschließlich auf die agrarische Konkurrenz zwischen Europa und Amerika und sah nur in einer mitteleuropäischen Zollunion mit Einbeziehung Frankreichs unter deutscher Führung eine geeignete Abwehrmöglichkeit. Schmoller, Gustav, Die amerikanische Konkurrenz und die Lage der mitteleuropäischen, besonders der deutschen Landwirtschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 6 (1882), S. 283 ff. Anonym, Die Zukunft der Völker von Mitteleuropa, Berlin, 1890. S. 10 ff. Vgl. auch die zustimmende Rezension von Gustav Schmoller in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 15 (1891), S. 279. In den 80er Jahren hatte der Orientalist Paul de Lagarde durch sein Konzept von einem durch Deutschland imperialistisch beherrschten Mitteleuropa von sich reden machen, wobei er von einem Europa ausging, das zwischen Russland und Amerika stand. Auch Stimmen aus anderen europäischen Ländern so z.B. der französische Publizist Guilaume de Molinari, Herausgeber des Journal des Economistes in Frankreich, der 1879 einen Mitteleuropäischen Zollverein forderte. Mitglieder sollten sein Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn und die Schweiz. Weitere Beiträge zur „Mitteleuropadiskussion" der 90er Jahre in der zeitgenössischen Dokumentaion von Fisk. Fish, George M., Continental Opinion Regarding a Proposed Middle European Tarif-Union, Baltimore, 1902, S. 5. S. 11 und Theiner, Mitteleuropa-Pläne, S. 129ff.
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sive gegen Deutschland führten unter den Gegnern der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik in Deutschland, neben den Forderungen nach Neugestaltung des Handelsvertragsverhältnisses und Erhöhung der deutschen Zölle, zur Belebung der Mitteleuropaidee. Der McKinley-Tarif und die darin enthaltene Zielrichtung, die lateinamerikanischen Staaten wirtschaftlich enger an Amerika zu binden, erwies sich dabei als der konkrete Auslöser, ein zollpolitisches Bündnis in Europa gegen die Vereinigten Staaten anzudenken. Schon bald nach Bekanntwerden der amerikanischen Pläne, einen neuen Zolltarif zu erlassen und der zuvor eingeleiteten Panamerikapolitik begann das Schlagwort von einer Bedrohung Europas in der Öffentlichkeit und unter den Parteien zu zirkulieren. 85 In dieser Zeit präsentierten die Anhänger eines gemeinsamen europäischen Vorgehens gegen die Vereinigten Staaten ihre Vorstellungen zur Abwehr der amerikanischen Konkurrenz als eine Ergänzung der nationalen Maßnahmen, als eine ferne Möglichkeit, die erstrebenswert sei, sich aber wahrscheinlich nicht realisieren lasse. Von Seiten der Agrarier der konservativen Parteien aber auch vereinzelt aus den Reihen des Zentrums und der Nationalliberalen Partei wurden Rufe nach einem gemeinsamen europäischen Vorgehen gegen Amerika laut. Die geäußerten Vorstellungen fanden weitgehend kein großes Echo unter der Mehrheit der Parteigenossen. Am realistischsten schätzte wohl der Vertraute Bismarcks und einer der Sprecher der Agrarier unter den Deutschkonservativen, Graf MirbachSorquitten, die Chancen eines europäischen Zollverbandes gegen „die überseeische Konkurrenz" ein. Zu diesem Zweck sei eine zollpolitische Union unter Einschluss Frankreichs notwendig, wie er im Reichstag feststellte, diese sei aber aus politischen Gründen leider nicht möglich. Mirbach sprach sich nicht gegen eine mitteleuropäischen Zollunion aus, er verlegte lediglich ihre Realisierung in die Zukunft, als eine wünschenswerte Variante zur Abwehr der amerikanischen Konkurrenz. 86 Ein weitaus größeres Echo fand die Idee einer mitteleuropäischen Zollunion in der Parteipresse. Dort wurde schon bald oft nicht nur von Deutschland als Ziel der amerikanischen Politik, sondern von Europa als Ganzem gesprochen und auch an Europa als Ganzes appelliert, sich zu wehren. In den Aufrufen und Kommentaren nahm Europa oft den Charakter eines Kampfbegriffes ohne eine inhaltliche Differenzierung an. Anlässlich eines Besuches des mexikanischen Präsidenten Diaz in Washington sprach die Kölnische Volkszeitung von einer „wirtschaftlichen Kriegs85
Besonders in der Reederei und in den auf Lateinamerika zielenden Außenhandelsinteressen wie in der Textil-, Eisen- und Stahlindustrie rief der Panamerikagedanke, die hohen Zollsätze des McKinley-Tarifs und die damit verbundene Reziprozitätspraxis Unmut hervor. Der Sekretär der Handelskammer von Dortmund, Bernhardi, propagierte als bestes Mittel zur Abwehr des amerikanischen Vordringens in Lateinamerika das Zusammengehen Europas in einem Zollbund und die Expansion des europäischen Handels in neue „noch nicht formell okkupierte" Mächte wie z. B. China, Japan, Türkei und die Reste von Afrika und Südamerika. Deutsche Wirtschaftliche Korrespondenz, Nr. 3.9.1. 1891 bei Stegmann, Dirk, Wirtschaft und Politik nach Bismarcks Sturz, in: Geiss, ImmanueVWendt, Bernd-Jürgen (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf, 1974, S. 165. 86 Mirbach im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. l.Sess. 15.12.1891, Bd. 5 S.3433.
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erklärung an Europa" und vom Bestreben der „Yankees", Europa wirtschaftlich zu ruinieren. Der „Boykott" und die „Rücksichtslosigkeit der Yankees" gegenüber der europäischen Wareneinfuhr habe bereits einige Industriezweige in Sachsen ruiniert. Der Verfasser präsentierte an dieser Stelle die Vereinigten Staaten als den Gegenspieler Europas, der versuche, Europa aus Lateinamerika zu verdrängen. Als besonders gefährlich sah er die existierende wirtschaftliche Überlegenheit Amerikas an, die seiner Ansicht nach bald eine politische zur Folge haben und den Schwerpunkt der „Kultur und der politischen Macht" nach Amerika verlagern werde. Als Gegengewicht zu dieser Politik des „Ganz-Amerika den Amerikanern" schlug der Verfasser die Schaffung einer mitteleuropäischen Union vor und rief die Europäer zur Beendigung ihrer „Indianerstreitigkeiten" auf. 87 Der Kommentar der Kölnischen Volkszeitung ist nur ein Beispiel aus dem reichen Fundus an Reaktionen zu den „panamerikanischen Bemühungen" der US-Regierung. Während der 90er Jahre tauchte der Gedanke einer mitteleuropäischen Zollunion immer wieder als Reaktion auf außenhandelspolitische Schritte der Vereinigten Staaten auf. Der nationalliberale Abgeordnete Möller plädierte im Februar 1894 noch unter dem Eindruck des McKinley-Tarifs für ein gemeinsames europäischen Vorgehen gegen Amerika. Er setzte sich für die Schaffung eines mitteleuropäischen Zollvereins unter Einschluss Österreichs, Russlands und eventuell Frankreichs ein. 88 Auch in der Debatte um die Kündigung des Meistbegünstigungsvertrages mit Argentinien nach der Interpellation von Herrnsheim, Oriola und Professor Friedberg von der Nationalliberalen Partei am 13. und 14.3.1895 forderten konservative und nationalliberale Abgeordnete die Verständigung mit den übrigen europäischen Staaten, um die Gründung einer europäischen Zollunion in Erwägung zu ziehen.89 Nach dem Erlass des Dingley-Tarifs glaubte Kanitz an den Reaktionen in vielen europäischen Ländern die Aussicht einer gemeinsamen europäischen Antwort gegen Amerika herauslesen zu können. Es erschien ihm als besonders wünschenswert, neben allen Maßregeln, die in Deutschland beschlossen würden, mit anderen europäischen Staaten Hand in Hand zu gehen.90 Auch ein Jahr später war es erneut Kanitz, der sich für eine mitteleuropäische Zollunion stark machte. Er räumte zwar ein, dass es nicht leicht werde, einen Ausgleich mit Frankreich zu erreichen, durch den gemeinsamen Druck von Deutschland, Österreich und Russland könne Frankreich 87
Kölnische Volkszeitung, „Amerika den Amerikanern", Nr. 226, 19.8.1891. In ähnlichem Sinne Nr. 122, 25.4.1891 und Nr. 348, 19.12.1891. Ebenso die Kreuzzeitung, Nr. 473, 10.10.1890 und Nr. 122, 13.3.1891. 88 Verhandlungen des Reichstags, 8.Leg. 3.Sess. 10.3.1894, Bd. 3 S. 1733. 89 Ebd., 9. Leg. 3.Sess. 14.3.1895, Bd. 2 S. 1467-1471 und ebd., 9. Leg. 4.Sess. 8.2.1897, Bd. 6 S.4531. Auch der Nationalliberale Hammacher sprach schon 1897 von den Vorteilen eines europäischen Zusammenschlusses gegenüber den Interessen anderer Kontinente. Hammacher rechnete auch Russland zu einem eigenen Kontinent. Verhandlungen des Reichstags. 9. Leg. 4. Sess. 8.2.1897. Bd. 6. S. 4531. Die Freisinnige Zeitung spottete, dass die Agrarier sich in ihren Phantasien zu dieser Resolution verstiegen hätten. Freisinnige Zeitung, Nr. 30, 5.2.1895 und Nr. 125, 30.5.1895. 90 Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 3.5.1897, Bd.4 S.5705.
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aber umgestimmt werden. Kanitz erschien ein mitteleuropäischer Zollverbund nur mit Einschluss Frankreichs sinnvoll, er legte daher die Möglichkeit seiner Realisierung weit in die Zukunft. 91 Die vereinzelten Forderungen nach einem gemeinsamen europäischen Vorgehen von Vertretern der Parteien in den 90er Jahren des 19. Jahrhundert konnten immer nur als Ergänzung zu den von der Reichsleitung geforderten Maßnahmen gesehen werden und hatten auch nie eine reelle Chance, im Gegensatz zum Ruf nach höheren Zöllen oder der Kündigung des Meistbegünstigungsverhältnisses, von der Reichsleitung auch nur ansatzweise aufgegriffen zu werden. Auch wenn Caprivis „Mitteleuropakonzept" ebenfalls gegen die Vereinigen Staaten konzipiert war, stand es doch den Vorstellungen der Agrarier bei den Konservativen und Nationalliberalen diametral entgegen. Es basierte auf einem freihändlerischen Ansatz und sollte erst im Ergebnis der Außenwirtschaftspolitik eine engere Bindung der Handelspartner an Deutschland zur Folge haben. Den Grundstein für die Befürworter der „Mitteleuropäischen Zollunion" bildeten der Schutzzoll und eine vorhergehende politische Absprache mit den Nachbarn mit der Absicht, gemeinsames Vorgehen gegen die Vereinigten Staaten zu vereinbaren. Auch wenn führende Politiker der konservativen Parteien, wie Mirbach, die Idee eines mitteleuropäischen Zollbündnisses gegen die Vereinigten Staaten als unpraktikabel bezeichneten, verschwand sie nie gänzlich aus der konservativen Rhetorik. Im Gegenteil: Nach der Jahrhundertwende erlebte sie einen neuen Höhepunkt in allen Parteien des Kaiserreichs. b) Mitteleuropa als Abwehrmaßnahme Die Gedankenspiele um Mitteleuropa in den 1890er Jahren machten nicht das Gros der Abwehrstrategien gegen die amerikanische Konkurrenz aus. Sie ergänzten vielmehr die üblichen Forderungen der Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik nach Kündigung des Meistbegünstigungsverhältnisses und Zollerhöhungen. Dies änderte sich kurz nach der Jahrhundertwende. Vielen Gegnern der amerikanischen Außenhandelspolitik wurde klar, dass ihre Vorschläge zur Abwehr der amerikanischen Konkurrenz nur partiell verwirklicht werden konnten. Der neue Zolltarif von 1902/1903 entsprach zwar in vielen Punkten den Forderungen der Agrarier und Industriellen, das Meistbegünstigungsverhältnis mit Amerika bestand jedoch weiter. Auf der anderen Seite war das amerikanische Bedrohungspotenzial weiter gewachsen. Es war nicht nur die agrarische und industrielle Konkurrenz, die Deutschland bedrohte, sondern einriesenhaftes Gebilde, das in den Augen der Zeitgenossen das wirtschaftliche Überleben Deutschlands in Frage stellte. Vielen der Verfechter der Mitteleuropaidee war es bewusst, dass ihre Konzepte keine unmittelbare Auswirkung auf die Handlungen der Reichsregierung hatten und wohl in näherer Zukunft den Diskussionsstand nicht verlassen würden, dennoch wurde die Idee 91 Ebd., 9. Leg. 5. Sess. 11.2.1898,9. Bd. 2 S. 977 und 10. Leg. 1. Sess. 11.2.1899, Bd. 1 S. 784 und S. 789.
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des „Mitteleuropa" als Abwehrmaßnahme gegen die „amerikanische Bedrohung" hochgehalten. Erneut kamen die entscheidenden Impulse zu einer Neubelebung der Diskussionen aus der publizistischen Welt. Namhafte Wissenschaftler, die meisten darunter Ökonomen, aber auch Unternehmer, Mitglieder verschiedenster Verbände und Publizisten unterschiedlicher politischer Couleur, nahmen sich des Themas an. Die Diskutanten setzten in ihren „Mitteleuropaentwürfen" unterschiedliche Akzente; sie bewegten sich von einem zollpolitischen Zweibund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn über einen mitteleuropäischen Zollverband bis hin zu einem kulturell-politischen Zusammenschluss Europas. Eine klare Zielrichtung war jedoch erkennbar, vor dem Hintergrund der „amerikanischen Gefahr" gewann die Vorstellung eines wie auch immer gearteten Mitteleuropa den Charakter einer defensiven Waffe gegen die amerikanische Bedrohung, der nur durch ein größeres Gebilde begegnet werden konnte. Zahlreiche Vertreter der Parteien beteiligten sich an der Diskussion und formulierten an unterschiedliche Adressaten gerichtet, mal an die eigene Partei, mal an den politischen Gegner, ihre Vorstellungen einer „europäischen Abwehr" der „amerikanischen Gefahr", ohne jedoch ein parteipolitisches Konzept zu entwickeln oder gar durchzusetzen. Oft reihten sie sich in die bereits existierenden Gedankengänge ein und fügten ihnen lediglich eine persönliche Note bei. Bezeichnend für die empfundene wirtschaftliche Bedrohung durch Amerika war jedoch die erhebliche Zahl einstiger Anhänger des Freihandels und des Ausgleichs mit den Vereinigten Staaten, die sich nun dem Kreis der Mitteleuropabefürworter anschlossen. Der Straßburger Ökonom Sartorius von Waltershausen, der seine Schriften in der freihändlerischen Zentralstelle zur Vorbereitung von Handelsverträgen veröffentlichte, griff im Zusammenhang mit der vielfach diskutierten „amerikanischen Gefahr" das Bedrohungspotenzial der Vereinigten Staaten für Europa auf und startete einen heftigen Angriff gegen die Politik der Vereinigten Staaten. Ursprünglich ein Freihändler, trat er nun für ein härteres zollpolitisches Vorgehen gegen die Vereinigten Staaten, in Form eines mitteleuropäischen Zollbündnisses, ein. Waltershausen attestierte den Vereinigten Staaten eine wirtschaftliche und industrielle Überlegenheit gegenüber Europa, welche auf natürlichen Ressourcen, der Größe des Landes und der industriellen Entwicklung basierte. Die besondere Gefahr für Europa erblicke Waltershausen in der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Macht der Vereinigten Staaten seit dem spanisch-amerikanischen Krieg. Amerika könne bald die Zukunft erobern und zum alleinigen Schiedsrichter in allen Angelegenheiten der Welt werden. Für Deutschland und Europa schlug er vor, sich am effektivsten mit einem Schutzzoll und mit der Bildung eines mitteleuropäischen Zollvereins unter Einschluss Österreich-Ungarns und Frankreichs zu wehren, denn die politische Zersplitterung Europas sei das Glück Amerikas. 92 92
Allerdings hielt Waltershausen die Schaffung eines europäischen Zollvereins in nächster Zukunft für nicht realisierbar, vgl. Walterhausen, Sartorius. Die Handelsbilanz der Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin, 1901. S. 7-12 und S.61. Die Kölnische Zeitung freute die Abkehr
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Waltershausen richtete seinen Appell in die ferne Zukunft, wohl in dem Wissen, dass eine zügige Umsetzung seiner Vorschläge nicht realisierbar war. Die Schwierigkeit der Umsetzung eines Mitteleuropäischen Zollvereins benannte auch Julius Wolff, der Breslauer Ökonom und Gründer des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins. Er favorisierte statt dessen eine wirtschaftliche Allianz oder zumindest ein wirtschaftliches Einvernehmen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, um die heterogenen Interessen dieser Länder in Einklang zu bringen. I m Gründungsaufruf des Vereins stellte er die Frage, ob die Völker Europas so verblendet seien, dass sie die Gefahr nicht sähen, die von dem jungen Riesen ausgehe, der seine Arme über zwei Ozeane ausstrecke. 93 Einige Jahre später thematisierte der Publizist und Ökonom Ludwig Bosc erneut die amerikanische Bedrohung. Er setzte die amerikanische Außenwirtschaftspolitik einer Eroberungsstrategie gleich, welche Amerika seit 20 Jahren praktiziere. Bosc fand durchaus lobende Worte für den amerikanischen Erfolg in der Wirtschaftswelt, erkannte darin gleichzeitig aber einen „Alarmruf für die Europäer", der kommerziellen Überschwemmung der Amerikaner mit einem europäischen Zollverein entgegenzutreten. 94 Waltershausens vom Freihandel. Kölnische Zeitung, 24.7.1901. Natürlich gab es auch Stimmen, die eine Gefahr für Deutschland oder Europa seitens Amerikas nicht erkennen konnten. So attestierte der Ingenieur Julius West nach einer Amerikareise, dass man zwar nicht genau sagen könne, ob eine Weltherrschaft Amerikas bevorstehe, aber zumindest Deutschland habe nicht den geringsten Grund den amerikanischen Wettbewerb zu fürchten, sei doch Deutschland hinsichtlich seiner industriellen Entwicklung das amerikanischste Land und Berlin die amerikanischste Stadt Europas. West sah in maschineller und technischer Hinsicht keinen Nachholbedarf in Deutschland, die oft genannte Ursache für den wirtschaftlichen Aufstieg der Vereinigten Staaten, die Rationalisierung der Arbeitsmethoden, sah er in Deutschland bereits realisiert. West, Hie Europa, Hie Amerika, S.49 und S. 55 93 Der von Wolff gegründete Verein erklärte die Schaffung einer mitteleuropäischen Zollunion aus Gründen der gegenwärtigen „Undurchführbarkeit" nicht zu seinen Zielen, dennoch äußerten sich führende Mitglieder unmissverständlich in diese Richtung. Das Ziel sollte sein, die Diskussion weiter am Leben zu halten. Zu den führenden Mitgliedern gehörten die Deutschkonservativen Graf von Schwerin und Freiherr von Manteuffel und prominenten Vertreter des Central Verbandes Deutscher Industrieller. Vgl. Wolf, Julius, Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein, Berlin, 1904, S. 12-15 und S. 17-26. Ders., Das Deutsche Reich und der Weltmarkt, Jena, 1901, S. 33 ff. und Kaelble, Industrielle Interessenpolitik, S. 155-158. Weitere Vorschläge zum Mitteleuropäischen Zollverband z.B. Egner, Hermaim/Schuemacher, Karl, Brennende Agrar-, Zoll- und Handelsfragen, Karlsruhe, 1902, S. 124-132. Mayr, Georg, Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 6 (1904), S. 206-207 oder Kresz, Carl, Die Bestrebungen nach einer Mitteleuropäischen Zollunion, Heidelberg, 1907, S. 45-58. 94 Bosc setzte auf Absprachen zur Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa" und sah die europäische Solidarität nach dem spanisch-amerikanischen Krieg wachsen. Er berief sich auf eine Reihe von Befürwortern, wie Peez, List und die Franzosen Théry oder Lerog-Beaulieu. Auch in Großbritannien und Frankreich erfasste die Diskussion um die „amerikanische Gefahr" Teile der Öffentlichkeit. In Frankreich sind wohl am bekanntesten die Beiträge von Leroy-Beaulieu und Leger, Leroy-Beaulieu, A., De la nécessité de préparer une fédération européenne, in: Economiste Française, 3.9.1898. Ders., L'Américanisation du Monde und ders., Les Etats-Unis contre l'Europe, in: Le Correspondant, 25.4.1902 und 23.5.1903 nach Bosc, Zollallianzen und Zollunionen, S. 167 und S. 311-320. In Großbritannien vor allem McKenzie,
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Erreichte das Bedrohungspotenzial der Vereinigten Staaten und die damit einhergehende Forderung nach einem gemeinsamen europäischen Vorgehen um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt, so klinkte sich einer der ursprünglich eifrigsten Befürworter eines europäischen Zollbündnisses, Graf Kanitz, aus der Diskussion fast völlig aus. Bereits im Februar 1899 erklärte Kanitz im Reichstag, ein solches Bündnis sei aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen der Europäer kaum realisierbar. Tatsächlich gingen die konservativen Denker von einem mitteleuropäischen Zollbündnis aus, das sich dem Schutz der Landwirtschaft verschreiben und eine agrarisch geprägte Außenhandelspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten verfolgen sollte.95 Für diese Zielsetzung gab es lediglich unter den österreichisch-ungarischen Agrariern Entgegenkommen, aber keine weitreichende politische Bereitschaft. Die Diskussionen der 90er Jahre, mit konkreten Vorstellungen zum europäischen Zollbündnis, wichen damit einem rhetorischen Festhalten an einer Zukunftsidee ohne klare Zielsetzung und Richtung.96 Viele Abgeordnete der Deutschkonservativen Partei, wie Graf Schwerin oder Manteuffel, engagierten sich publizistisch für ein „mitteleuropäisches Zollbündnis", aber selbst da blickten sie weit in die Zukunft, um ein mögliches „Mitteleuropa" zu erreichen. Freilich verschwand der Gegensatz zwischen dem aufkommenden wirtschaftlichen Riesen und dem Deutschen Reich bzw. Europa nicht aus der konservativen Öffentlichkeit. Graf Schwerin sprach vor dem Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein von der „Superiorität Amerikas als einer Gegenwartstatsache" und von der Notwendigkeit, eine „Union des kontinentalen Europa gegen Amerika und England" zu schaffen. 97Auch die Kreuzzeitung hielt noch immer an der „Mitteleuropaidee" fest. Als die Vorschläge von Gottfried Zoepfl vom Vorstand des Centraiverbandes Deutscher Industrieller auf der Sitzung des Vorstands Frederic A., The American Invaders, London, 1902 und Furness, Christopher, The American Invasion. London, 1902. Zu Bedrohungsszenarien in Frankreich und Großbritannien vgl. Kaelble, Europäer über Europa, S. 31-35. Natürlich gab es auch in der publizistischen Welt Stimmen, die einem mitteleuropäischen Zollbündnis jegliche Chance absprachen, so hielt der berühmte Ökonom Waither Lötz ein gemeinsames europäisches Vorgehen gegen Amerika für aussichtslos. Deutschland solle vielmehr dem französischen Vorbild folgen, die Möglichkeit freundschaftlicher Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nutzen und einen günstigen Vertrag für sich aushandeln. Lötz, Der Schutz der deutschen Landwirtschaft, S.64. 95 Verhandlungen des Reichstags, 13.2.1899, lO.Leg. 1. Sess. Bd. 1 S. 807. 96 Zum Bündnis mit Österreich. Kreuzzeitung, Nr. 473,10.10.1890 und Nr. 122, 13.3.1891. Ab 1900 ungefähr sprach die Kreuzzeitung nicht mehr nur vor der landwirtschaftlichen Konkurrenz Amerikas, sondern auch von der industriellen und von der Ebenbürtigkeit, sogar der Überlegenheit amerikanischer Produkte. Kreuzzeitung, Nr. 288, 22.6.1901 und Nr. 457, 30.9.1902. Das Buch von Calwer „Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten von Amerika" wurde gewürdigt. „Unter den sozialdemokratischen Outsidern gibt es einzelne, die gelegentlich ganz vernünftige Ansichten entwickeln." Kreuzzeitung, Nr. 486, 16.10.1901. 97 So Graf Schwerin vor dem Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein. Wolff, Materialien, S. 31. Kanitz im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 5. Sess. 11.2.1898, Bd. 2 S. 977. Der Deutsche Landwirtschaftsrat in der Sitzung vom 9. Feb. 1904 sprach sich dafür aus, dass eine „europäische Zollunion" aus wirtschaftlichen und politischen Gründen weder möglich noch bei der Verschiedenheit der Produktionsbedingungen der europäischen Staaten wünschenswert sei. DoeberitZ'Knebel, Amerikanische Gefahr, S.67. 14 Czaja
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in Nürnberg als unpraktisch abgelehnt wurden, kommentierte die Kreuzzeitung, dass diese nur so lange „unpraktisch" seien, bis sie von den leitenden Kreisen der europäischen Staaten aufgenommen würden. 98 Für die Konservativen spielte die Bedrohung durch die sogenannte „amerikanische Gefahr" in erster Linie eine Rolle auf dem Agrarsektor. Das Festhalten an der „Mitteleuropaidee" zu Anfang des 20. Jahrhunderts hatte gewisse Anklänge an Vorschläge von Peez und List, die sehr stark das landwirtschaftliche Fundament eines mitteleuropäischen Zollbündnisses akzentuierten. Es handelte sich nicht um ein ausgearbeitetes Parteikonzept, sondern eher um eine Teilnahme an öffentlichen Diskussionen, vor allem wenn es darum ging, die amerikanische Konkurrenz anzuprangern. Das industrielle Wachstum der Vereinigten Staaten, der Aufbau eines abhängigen Wirtschaftsgebietes in Lateinamerika und die Sperrung der dortigen Märkte für deutsche Wirtschaftsinteressen beunruhigte in viel größerem Maße die Nationalliberalen. Ein mitteleuropäisches Vorgehen gegen Amerika wurde vor allem unter dem Gesichtspunkt der industriellen Bedrohung propagiert. Bereits nach dem Erlass des Dingley-Tarifs übernahmen nationalliberale Abgeordnete die Wortführerschaft für ein mitteleuropäisches Zollbündnis. Die Nationalliberalen Hammacher und Herrnsheim sprachen schon 1897, noch frisch unter dem Eindruck des Dingley-Tarifs, von den Vorteilen eines europäischen Zusammenschlusses, dieser könne die deutschen Interessen gegenüber einem ganzen Kontinent besser schützen helfen. 99 Der Geschäftsführer des Centraiverbandes Deutscher Industrieller, Henry Axel Bueck, Mitglied der Nationalliberalen Partei, stellte bereits 1898 fest, dass Amerika im Begriff sei, England wirtschaftlich hinter sich zu lassen und zum wichtigsten Gegner Deutschlands zu werden. Auch er erblickte in einer europäischen Zusammenarbeit die beste Möglichkeit, sich gegen einen Gegner, der wirtschaftlich über seinen eigenen Kontinent nach Lateinamerika griff, zu wehren. 100 Wilhelm Wendlandt, der Sekretär des Bundes der Industriellen und ebenfalls Mitglied der Nationalliberalen Partei, diagnostizierte stellvertretend für den Bdl, die „amerikanische Gefahr" bedrohe nicht einen einzelnen europäischen Staat, sondern alle Staaten Europas, es bedürfe also eines gemeinsamen europäischen Widerstands gegen den Aggressor. Wendlandt zeigte sich zuversichtlich, dass sich bei einem europäischen Zusammenschluss die „amerikanische Gefahr" schnell in eine „europäische Gefahr" für Amerika umwandeln lasse.101 Die Stimmen aus den industriellen Kreisen der 98 Zoepfl, Gottfried. Der Wettbewerb des russischen und amerikanischen Petroleums, Berlin, 1899 und Kreuzzeitung, Nr. 6, 4.1.1902. 99 Hammacher rechnete auch Russland als einen eigenen Kontinent. Verhandlungen des Reichstags, 9.Leg. 4.Sess. 8.2.1897, Bd.6 S.4531 und ebd., Bd.8 S.5705. 100 Bueck, Der Centraiverband Deutscher Industrieller, S. 533. 101 Wendtland, Wilhelm, A German View of the American Peril, in: North American Review, 174 (1902), S.563. Der Bund der Industriellen erörterte auf der Generalversammlung des Jahres 1900 das Projekt eines kontinentalen Wirtschaftsblocks mit Stoßrichtung gegen die Vereinigten Staaten, der Vertreter des preußischen Handelsministeriums erteilte dieser Idee jedoch eine deutliche Absage. Vgl. Mundle, The German National Liberal Party, S. 64. Die Kölnische Zeitung sprach jedoch von einer nicht allzu großen „amerikanischen Gefahr", sondern von der
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Nationalliberalen Partei begründeten ihre Befürchtungen mit einer handfesten Interessenlage. Amerikanische Exporte drohten den deutschen Markt zu überfluten, und mit dem Anwachsen des amerikanischen Einflusses in Lateinamerika stieg in ihren Augen das Gefährdungspotenzial, nicht nur am heimischen Markt Schaden zu erleiden, sondern ebenfalls auf den Drittmärkten ins Hintertreffen zu geraten. Die allgemeine Wahrnehmung des amerikanischen Aufstiegs und das empfundene Bedrohungsszenario war aber eine gesellschaftliche Realität, die weit über die Grenzen der traditionellen Gegner der amerikanischen Außenhandelspolitik wirkte. Der Gedanke eines gemeinsamen europäischen Vorgehens gegen die Vereinigten Staaten erreichte gleichermaßen die Reihen anderer Parteien wie die des Zentrums. Die Zentrumspartei favorisierte trotz der heterogenen Haltung in Wirtschaftsfragen im Großen und Ganzen eine ausgewogene Handelspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten, auch wenn schärfere Tone immer wieder zu vernehmen waren. Die ersten Stimmen für ein europäisches Vorgehen gegen Amerika wurden zwar bereits nach Erlass der McKinley-Tarifs hörbar, aber erst nach der Jahrhundertwende nahmen sich namhafte Zentrumspolitiker des Themas an. Nach Erlass der McKinley-Tarifs setzte lediglich die Kölnische Volkszeitung auf eine gemeinsame europäische Antwort gegen die amerikanische Handelsoffensive. Sie bevorzugte ein deutsch-österreichisches Zollbündnis gegen die Auswirkungen des amerikanischen Protektionismus und forderte einen gemeinsamen Kampf gegen die Überflutung Deutschlands und Europas mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus Nordamerika. Sie räumte zwar die Schwierigkeit des Vorhabens aufgrund der Divergenz deutscher und österreichischer Interessen ein, hielt aber an der Forderung fest, um die der deutschen Landwirtschaft von Amerika zugefügten Wunden zu heilen. 102 Solche Forderung wurden jedoch oft wieder abgemildert. Die Kölnische Volkszeitung prophezeite an vielen Stellen zwar, dass die Überlegenheit und Rücksichtslosigkeit Amerikas sich wohl viel stärker bemerkbar werde machen müssen, bis sich die „Europäer" auf eine gemeinsame Verteidigung besinnen würden, dass aber die Existenz der „Vereinigten Staaten von Europa" genauso eine Illusion sei wie der Weltfrieden. 103 Vereinzelt tauchten derartige Gedankenspiele in den 1890er Jahren auf, jedoch erst nach der Jahrhundertwende fanden sich namhafte Zentrumspolitiker im Kreise der Befürworter einer „mitteleuropäischen Union" als Abwehrmaßnahme gegen das erstarkte Amerika. Der prominenteste unter ihnen war Mathias Erzberger. Erzberger nahm die Venezuelakrise zum Anlass, um vor dem Entstehen eines wirtschaftlichen und politischen Riesen zu warnen, er plädierte für ein enges zollpoliti-
Gefahr der Stagnation. Ein emotionaler Aufschrei nach gemeinsamem europäischen Vorgehen sei überflüssig, da solches nicht realisierbar sei. Vielmehr sei an eine ruhige Politik der mäßigen „Retorsionsmittel" zu denken. Kölnische Zeitung. 27.7. und 30.7.1901. 102 Kölnische Volkszeitung, Nr. 281, 11.10.1890 und Nr. 218, 11.8.1891. 103 Der Vorschlag eines mitteleuropäischen Zollbündnisses wurde 1900 noch einmal gemacht, ohne Amerika als Gefahr zu nennen. Kölnische Volkszeitung, Nr. 951, 25.10.1902 und Nr. 528, 10.6.1900. 14*
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sches Zusammengehen Europas im Kampf gegen die „wirtschaftliche Unterjochung Europas durch Amerika". Seiner Argumentation zufolge herrschten die Vereinigten Staaten auf den amerikanischen Kontinenten wie ein Riese unter Zwergen, sie seien allen anderen amerikanischen Republiken überlegen, hätten eine hohe Bevölkerungszahl sowie gute geographische und natürliche Voraussetzungen für weiteres wirtschaftliches Wachstum. Der Grund für die Stärke Amerikas lag für Erzberger in der Zerstrittenheit der europäischen Staaten und in der Vergeudung ihrer Kräfte in den gegenseitigen Konkurrenzkämpfen. Er schloss daher, dass nur ein gemeinsames europäisches Vorgehen die „wirtschaftliche Unterjochung" unterbinden könne. Erzberger schwebte eine „europäische Zollunion" vor, in der die europäischen Staaten ihre Selbstständigkeit bewahren, die Zollschranken untereinander weitgehend abschaffen, nur bezüglich Amerika gemeinsam ihre Zölle nach Bedarf heben oder senken würden. Hoffnung auf Realisierung seiner Vorschläge schöpfte Erzberger aus dem europäischen Vorgehen gegen Venezuela von 1902/03, es habe bei den Amerikanern Eindruck gemacht und bewiesen, dass sich Europa nicht alles gefallen lasse, wenn es gemeinsam handle. Lediglich die lateinamerikanischen Bindungen an Europa, die seiner Ansicht nach noch enger seien als an „Nordamerika", hielten ihn vor der Sorge einer unmittelbar bevorstehenden Schaffung der panamerikanischen Union ab, ihr Aufbau werde noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen.104 Erzberger bewegte sich insofern im Geist der Zeit, da er Amerika einen gezielten wirtschaftlichen Kampf gegen Deutschland und Europa unterstellte, dem mit einem Zusammenschluss Mitteleuropas begegnet werden könne. Seine Vorstellungen von einem gemeinsamen europäischen Vorgehen wichen aber von den, seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts immer wieder formulierten, „europäischen Abwehrmaßnahmen" gegen Amerika ab, Erzberger spielte sehr offensichtlich mit der Idee eines amerikanischen Weltreiches.
104 Erzberger, Mathias, Die neue Weltpolitik in Amerika, in: Historisch-politische Blätter, 131 (1903), S. 714 ff. und S. 727. Josef Edmund Jörg sprach kurz nach dem Krimkrieg von der Notwendigkeit eines „mitteleuropäischen christlich-abendländischen Völkerbundes" als einem Gegenentwurf zum „selbstherrlichen, republikanischen'" Amerika und dem „orthodoxen" Russland. Beide Länder würden die Weltstellung der Zukunft bestimmen, und die Gegenwartsgroßmacht Großbritannien werde dann die Rolle eines „Wirtes im Absteigequartier" spielen. Jörg argumentierte katholisch-moralisch, Amerika sei die Gesellschaft des vollendeten egoistischen Individualismus, der letztlich aus dem protestantischen Subjektivismus herrühre. Auch Russland sprach er aufgrund der Orthodoxie die moralischen Bedingungen für eine Großmachtstellung ab, nichtsdestoweniger würden sich Russland und Amerika in Europa treffen und als politische und wirtschaftliche Mächte Europa aufzureiben versuchen. Jörgs mitteleuropäischer Gedanke hing mit dem großdeutschen und der klaren außenpolitischen Option für Österreich zusammen. Historisch-politische Blätter, 32 (1853), S. 295 und 33 (1854), S. 855. S. 750 und S. 800. Ausführlich zu Jörgs Mitteleuropakonzept vgl. Gollwitzer, Politischer Katholizismus, S. 248 ff. Martin Spahn verdankte nach eigenen Angaben sein späteres Bekenntnis zu Mitteleuropa wesentlich dem Einfluss Jörgs. Vgl. Spahn, Martin, Selbstbiographie, in: Armin/Below (Hrsg.), Deutscher Aufstieg, S.484.
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c) Das Neue Weltreich „Amerika" Die Idee, die amerikanische Konkurrenz durch ein gemeinsames europäisches Vorgehen abwehren zu können, erlebte um die Jahrhundertwende eine Renaissance. Sie wurde zwar nicht grundsätzlich neu konzipiert, sie erfuhr aber neuere Variationen und beachtliche öffentliche Wirkung. Die meisten Vorschläge gingen von einem übermächtigen agrarischen oder industriellen Gegner aus, der nur gemeinsam bekämpft werden könne. Je mehr aber Amerika sich als Weltmacht etabliert hatte, desto mehr gewann die Vorstellung eines weltweiten Ringens um Macht und Einfluss an Bedeutung. Es ging nicht mehr nur um wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Europa und Amerika, sondern um einen Kampf der beiden um weltweite Einflusssphären und Besitzstände. Amerika schien nach der unter den Zeitgenossen gängigen Aufteilung der Welt in Riesenreiche einen Platz als neues Weltreich einzunehmen. Bereits einige Mitteleuropakonzepte der 1890er Jahre spielten mit der Weltreichslehre, nach der Jahrhundertwende aber ist Amerika zum ersten Kandidaten für ein neues Weltreich aufgestiegen. Beide Gedankengebäude, die Mitteleuropaidee und die Weltreichslehre, existierten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nebeneinander. Die Mitteleuropaidee zielte ursprünglich darauf, einen größeren Geltungsbereich für das Deutsche Reich zu schaffen, sie wurde oft variiert, mal mit einem offensiven, mal mit einem defensiven Charakter untermauert. Die Weltreichslehre ging von drei Weltreichen aus, denen Deutschland gegenüberstehe und sich zu behaupten habe. Zwischen beiden Konzepten gab es Überschneidungen und Berührungspunkte, und es wie das Beispiel Erzbergers beweist, ist es nicht immer möglich, zwischen beiden Konstrukten eine Trennlinie zu ziehen. Nach der Jahrhundertwende gewann die Weltreichslehre jedoch die Oberhand in der Bewertung Amerikas als weltpolitischer Akteur. Die Weltreichslehre wurde im Deutschen Kaiserreich seit den 1870er Jahren mit unterschiedlicher Intensität diskutiert, wie intensiv die Diskussion geführt wurde, hing von Ereignissen in der Außenpolitik und der Außenwirtschaftspolitik ab. Das waren z. B. die politischen Entscheidungen in Richtung einer Weltpolitik in Deutschland und die damit verbundenen Konfrontationsgefahren mit Großbritannien, die wirtschaftliche Konkurrenz mit Ländern wie Amerika, Großbritannien oder Russland und das Emporkommen der Vereinigten Staaten als major player auf der weltpolitischen Bühne. Aber auch weltanschauliche Aspekte spielten in der Weltreichslehre eine wichtige Rolle. Zum einen bildeten der Sozialdarwinismus und der Raumgedanke die feste Basis der Weltreichslehre. So gab es nach dem Sieg der Vereinigten Staaten gegen Spanien eine weitgehende Übereinstimmung in der Bewertung der öffentlichten Meinung in Deutschland, das jüngere und stärkere Volk habe sich in diesem Kampf durchgesetzt. Der Raumgedanke ging davon aus, dass Riesenreiche auf unendlich großen Landmassen aufgebaut seien, als Beispiele galten das Britische Reich mit überseeischen Besitzungen, die Panamerikabewegung und zum Teil der Panslawismus. Als besonders bedrohlich wurden die im damaligen Sprachgebrauch als Riesenreiche bezeichneten Vereinigten Staaten mit Panamerika,
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Großbritannien mit dem Empire und vereinzelt auch Russland betrachtet, zumindest Großbritannien und Amerika erfüllten alle Kriterien eines Weltreiches. Sie konnten auf eine extrem große Landfläche zurückgreifen, standen in der sozialdarwinistischen Betrachtungsweise an vorderster Stelle unter den Völkern der Erde und waren wirtschaftlich die stärksten Konkurrenten Deutschlands.105 Unter diesen Prämissen skizzierten Ökonomen wie Schmoller oder Adolf Wagner ein präzises Bedrohungsszenario, das von den Vereinigen Staaten, Großbritannien oder Russland in wirtschaftlicher Hinsicht ausging. Durch die wirtschaftliche Bedrohung rückten die Vereinigten Staaten nach diesem Konzept an die Stelle des stärksten Gegenspielers Deutschlands. Immerhin erfüllte Amerika alle Voraussetzungen der Weltreichslehre, nach deren Deutung Amerika die „edelsten Kräfte der europäischen Rassen" vereinte, eine riesige Landfläche kultiviert hatte, den Anspruch auf einen Teil der Welt durch die Monroe-Doktrin erhob und einen industriellen Aufstieg geschafft hatte. 106 Die Idee eines kontinentaleuropäischen Blocks als Gegengewicht in der Weltanschauung der Dreiweltenlehre fand Eingang in die Gedankenspiele der Vertreter der politischen Parteien. Ähnlich dem von der Weltreichslehre noch unabhängigen Konzept einer mitteleuropäischen Zollunion handelte es sich nicht um parteipolitisch ausgearbeitete Strategiekonzepte mit dem Ziel, sie durch Einwirken auf die Reichsleitung auch umzusetzen. Vielmehr präsentierten die Akteure grundsätzliche Beschreibungen der Weltlage und der Stellung Deutschlands.107 105 Zu Weltreichslehre in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten vgl. vor allem die Arbeit von Neitzel. Neitzel, Weltmacht oder Untergang, da vor allem S. 82-93. Zur Entstehung der Weltmachtslehre in Deutschland ebd., S. 31-71 und ders., Außenpolitische Zukunftsvorstellungen in Deutschland um 1900, in: Neitzel, Sönke (Hrsg.), Die Zukunftsvorstellungen der Großmächte, Paderborn, 2002, S. 55-79. 106 Vgl. z. B. Wagner, Adolf, Vom Territorialstaat zur Weltmacht, Berlin, 1900 oder Schmoller, Gustav, Die Wandlungen in der Handelspolitik des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 24 (1900), S. 372ff. Friedrich Ratzel beschäftigte sich ausgiebig mit den Vereinigten Staaten. Zur Bedeutung Amerikas als „Territorialmacht" vgl. Ratzel, Friedrich, Land und Landschaft in der nordamerikanischen Union, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, 2 (1902), S. 523-538. Des Weiteren ders., Politische Geographie der Vereinigten Staaten von Amerika unter besonderer Berücksichtigung der natürlichen Bedingungen und wirtschaftlichen Verhältnisse, München, 1893. 107 So erfreute sich dieses Thema auch in der Publizistik großer Beliebtheit. Der Publizist Albrecht Wirth im Dienste der Preußischen Jahrbücher sah als Folge des spanisch-amerikanischen Krieges ein „unaufhaltsames Anwachsen der Rassengegensätze und das Verschärfen des Wirtschaftskrieges", das zu einer anglo-sächsischen und zu einem Gegenbündnis der „germano-romanischen Gruppe Kontinentaleuropas" führen werde., Das Wachstum der Vereinigten Staaten, Bonn, 1899. Kurzfassung in: Preußische Jahrbücher, 94 (1899), S. 383-406, hier S. 384. Der Publizist Alfred Fried, der auf dem Höhepunkt der Debatten zur „amerikanischen Gefahr" für einen „kontinentalen Bund" zur Abwehr des angelsächsischen Einflusses und des „imperialistischen Amerika" plädierte, revidierte später sein Urteil. In Europa bestehe eine feste Voreingenommenheit gegenüber Erscheinungen, die vom „bewaffneten Frieden" abwichen, wie es in der panamerikanischen Bewegung geschehe. Panamerika sei aber eine Bewegung des „Fortschritts und des Friedens" und richte sich nicht gegen Europa. Die Vereinigten Staaten strebten nicht nach Hegemonie, sondern seien ein gleichberechtigter Partner in der panameri-
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Am deutlichsten fand die Weltreichslehre Eingang bei den radikalen Kräften der Nationalliberalen Partei. Zahlreiche Nationalliberale waren führende Vertreter im Alldeutschen Verband. Sie entwarfen eine Idee von Mitteleuropa als Ausgangsbasis für eine deutsche Vormachtstellung gegen Großbritannien, Russland und Amerika, die als Grundlage zur Erwerbung neuer Kolonien dienen sollte. Auch wenn die Mitteleuropapläne in der Deutschkonservativen Partei, und vereinzelt auch in der Freikonservativen, einen breiten Raum einnahmen, so wiesen sie doch einen defensiven Charakter auf. Die Funktion von Mitteleuropa sollte kein Sprungbrett sein, um den deutschen Einfluss weltweit zu stärken und die Voraussetzungen zu schaffen, in den exklusivsten Klub der Weltpolitik vorzustoßen, sondern einen Abwehrblock zu bilden, um einen amerikanischen Vorstoß auf Europa abzuwehren. Der defensive Gedanke eines „Mitteleuropa" tauchte auch in der Nationalliberalen Partei auf. Abgeordnete wie Möller oder Paasche sahen in ihm oft ein probates Mittel, um die amerikanische Konkurrenz abzuwehren. 108 Es fällt jedoch auf, dass die eifrigsten Anhänger eines von Deutschland dominierten Mitteleuropas weltpolitische Absichten verfolgten. Der nationalliberale Abgeordnete Lehr, führendes Mitglied des Alldeutschen Verbandes und Schriftleiter der Alldeutschen Blätter, forderte des Öfteren die Schaffung eines unter deutschem Einfluss stehenden Mitteleuropas gegen das „Angelsachsentum" und Russland. Vor dem Reichstag griff Lehr die Rede des Österreich-ungarischen Außenministers Goluchowski vom 20. November 1897 auf, um einen europäischen, unter deutscher Führung stehenden Kampfverbund gegen Amerika und England zu starten, da Lehrs Ansicht nach Amerika nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch Europa und Deutschland bedrohte. 109 Die Rede von Goluchowski im gemeinsamen auswärtigen Ausschuss, in der Goluchowski für das 20. Jahrhundert einen Kampf der Völker auf handelspolitischem Gebiet voraussagte und einen „Schulter-an-Schulter-Abwehrkampf" der europäischen Völker gegen die gemeinsame überseeische Gefahr beschwor, schlug in Deutschland hohe Wellen und wurde in den deutschen Entwürfen zu einem mitteleuropäischen Zollkanischen Bewegung. Dennoch hielt Fried an seiner Idee der „europäischen Einheit" fest, denn nur so könne Europa den Wettbewerb mit Amerika aufnehmen; dieser dürfe sich nur auf wirtschaftliche Interessen beschränken. Europa müsse ein „Kultur- und ein sozialer Begriff" werden. Fried, Alfred, Unter der weißen Fahne. Aus der Mappe eines Friedensjournalisten. Gesammelte Artikel und Aufsätze, Berlin, 1901, S. 94. Ders., Die werdenden europäischen Staaten und Deutschland, in: Die Friedenswarte, 6,1 (1904), S. 1-5. Ders., Die amerikanische Gefahr, in: ebd., 3 (1901), S. 137-139 und ders., Pan-Amerika. Entwicklung, Umfang und Bedeutung der pan-amerikanischen Bewegung 1810-1910, Berlin, 1910, S. 277-298. 108 Paasche. Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2.Sess. 4.12.1901, Bd. 4 S.2935 und Möller ebd., 8.Leg. 3.Sess. 13.3.1894, Bd.2 S. 1733. 109 Ebd., 10.Leg, l.Sess. 14.4.1899, Bd.2 S. 1756. Der Alldeutsche Verband entdeckte um die Jahrhundertwende die Idee eines Mitteleuropas in Form eines Zusammenschlusses zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Er beschäftige sich auf der Vollversammlung vom 7. Juni 1900 mit der Frage des Mitteleuropäischen Zollvereins und kam zu dem Entschluss, eine deutsch-österreichische Annäherung in dieser Frage zu unterstützen, allerdings auch um die „alldeutschen Ideen" in Österreich am Leben zu halten, vgl. Bosc, Zollalliancen, S. 264 und Theiner, Mitteleuropa-Pläne, S. 133.
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III. Die amerikanische Gefahr
verband zum festen Begriff. 110 Lehrs Fraktions- und Verbandskollege, Ernst Hasse veröffentlichte seine Vorstellungen zu einem Mitteleuropäischen Zollverbund 1897. Deutlicher als Lehr setzte Hasse dabei sowohl auf die koloniale als auch auf die kontinentale Expansion des Deutschen Reiches.111 Deutschland müsse sich kolonial festigen, um gegen die drei geschlossenen Wirtschaftsgebiete Amerika, Russland und Großbritannien bestehen zu können und nicht auf die Stufe von Portugal oder Spanien zurückzufallen. Es müsse mit Holland, Belgien und Österreich in einen Zollverbund treten und die kleinen mitteleuropäischen Staaten, wie die baltischen Staaten, Rumänien oder Großserbien politisch in ein geschlossenes Wirtschaftsgebiet aufnehmen. Hasse glaubte aufgrund des Widerstandes gegen die panamerikanischen Bestrebungen seitens Kanadas und Großbritanniens jedoch nicht an ein schnelles Entstehen eines geschlossenen panamerikanischen Wirtschaftsraumes, war sich aber sicher, dass der amerikanische Markt durch Schutzzollsysteme und Zollvereine den Deutschen im kommenden Jahrhundert nicht mehr in derselben Weise offen stehen werde wie in vergangenen Jahren. Trotz der Platzierung Panamerikas in einer ferneren Zukunft erklärte Hasse die Schaffung eines mitteleuropäischen Zollvereins zur größten Aufgabe des jetzt lebenden Geschlechts.112 Bei beiden Autoren ist neben der Nennung Mitteleuropas als Abwehrmaßnahme gegen die amerikanische Konkurrenz die Tendenz zur Schaffung eines unter einem Staatsgebilde vereinten deutschsprachigen Elementes unverkennbar. Sowohl Hasse als auch Lehr verliehen dem agrarischen Gedanken einer gemeinsamen europäischen Abwehrstrategie eine offensive Stoßrichtung. Mitteleuropa sollte die Ausgangsbasis für eine kraftvollere deutsche Weltmachtpolitik sein, die sich auch gegen 110 Vgl. die zustimmenden Kommentare zu Goluchowskis Rede. Kreuzzeitung, Nr. 551, 25.11.1897. Hammacher im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 4. Sess. 8.2.1897, Bd.6 S.4531. Kanitz ebd., 9.Leg. 5.Sess. 11.2.1898, Bd. 1 S.977 und Hemnsheim ebd., 9. Leg. 5. Sess. 3.5.1897, Bd. 8 S. 5718. Auch die spätere Hervorhebung die Bedeutung der Rede durch Schippel. Schippel, Max, Amerika und die Handelsvertragspolitik. Eine Politische Studie, Berlin, 1906, S. 19 ff. 111 Ernst Hasse leitete den Alldeutschen Verband von 1893 bis 1908. 1885 wurde er Professor für Rechts- und Staatswissenschaften in Leipzig und hielt dort Vorlesungen zur Kolonialpolitik. Zu Ernst Hasse und seiner Arbeit und Funktion im Alldeutschen Verband vgl. Lindemann, Thomas, Die Macht der Perzeptionen und die Perzeptionen von Mächten, Berlin, 2000, S.50. 112 Hasse, Ernst, Deutsche Weltpolitik. Hrsg. vom Alldeutschen Verband, München, 1897, S.7-9. Hasse veröffentlichte bereits 1893 anonym die Schrift „Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950", in der er die Idee eines „Großdeutschen Bundes" mit Einschluss Österreich-Ungarns, der Schweiz, Hollands (die flamischen Länder) und Luxemburgs forderte. Anonym, Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950, Berlin, 1893. Autorennachweis bei Lindemann, Die Macht der Perzeptionen, S. 99. Hasse wiederholte seine Forderung im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 9. Leg. 4. Sess. 22.2.1897, Bd. 4 S. 4854. Hasse reihte sich damit in die vom Alldeutschen Verband oft gestellten Forderungen nach der Schaffung eines Mitteleuropäischen Zollverbandes ein, laut Neitzel jedoch handle es sich dabei um ein „publizistisches Ablenkungsmanöver", um die Expansionsbestrebungen zu kaschieren. Vgl. Neitzel, Weltmacht oder Untergang, S. 125.
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das entstehende Panamerika auf der Weltbühne behaupten konnte. Wohl am deutlichsten ist bei beiden Verfechtern der deutschen Weltmachtpolitik der Gegensatz zwischen Europa und Amerika erkennbar. Ursprünglich von Amerikabewunderern, wie von zahlreichen Sozialdemokraten, aufgebaut, um die eigenständige und zum Teil vorbildhafte Entwicklung der Vereinigten Staaten zu unterstreichen, erhält er an dieser Stelle eine bedrohliche Note. Im Gedankenkonstrukt der Dreiweltenlehre wird Amerika zum größten Gegenspieler Deutschlands stilisiert. Die von vielen empfundene wirtschaftliche Bedrohung durch Amerika wird zum Nebenschauplatz einer weltpolitischen Auseinandersetzung. Lehrs und Hasses Ausführungen stellten eine Ausnahme im deutschen Parteienspektrum dar, dominierend wirkte bei weitem die Frage nach der wirtschaftlichen Bedeutung der Vereinigten Staaten. Das Bedrohungsszenario teilten zahlreiche Ökonomen und Publizisten, Vertreter aus allen Parteien schlossen sich dieser Sichtweise an. Das ging so weit, dass sogar einige Sozialdemokraten und Linksliberale, traditionell Anhänger eines wirtschaftspolitischen Ausgleichs mit Amerika, sich von der Parteilinie entfernten, eine härtere Gangart gegenüber den Vereinigten Staaten favorisierten und gelegentlich mit der Lehre der Dreiweltreiche spielten. Sicherlich begünstigten der Zeitgeist und die allgemeingesellschaftliche Wahrnehmung Amerikas ihre Reaktionen, aber auch grundsätzliche Überzeugungen und persönliche Enttäuschungen spielten eine Rolle. Bei den Sozialdemokraten entfernten sich vor allem die beiden dem revisionistischen Lager zuzurechnenden Parteigänger Schippel und Calwer von der Parteilinie. Aber auch in der gesamten Partei wurde das Empfinden einer wirtschaftlichen Bedrohung aufgrund der „amerikanischen Gefahr" zu einem relevanten Thema. Freilich wurde sie nicht in dem Maße thematisiert wie bei den Gegnern der amerikanischen Wirtschaftspolitik in Deutschland, schließlich war es die erklärte Politik der deutschen Sozialdemokraten, ein unbelastetes Handelsverhältnis zu den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten und so am sichersten die Interessen der Konsumenten zu wahren. Einige prominente Parteimitglieder bewerteten die amerikanische Wirtschaftspolitik jedoch „realistischer", traten für ein härteres zollpolitisches Vorgehen gegen die Vereinigten Staaten ein und spielten mit der Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Abwehrfront. Charakteristisch für diese Denkweise waren die Reaktionen auf die Rede des österreichisch-ungarischen Außenministers Goluchowski. Der Vorwärts schloss zwar nicht aus, dass irgendwann in der Zukunft eine europäische Zusammenarbeit auf dem Feld der Zollpolitik nötig sein könnte, um sich gegen den Konkurrenten zu behaupten - der Kommentator nannte ausdrücklich neben Amerika auch Russland und eventuell Großbritannien als mögliche Gegner im weltpolitischen Konkurrenzkampf - zur Zeit jedoch sei es das „plumpste und wahrlich ungeeigneteste Mittel", um Europa in diesem Kampf mit den aufstrebenden Wirtschaftsgebieten zu schützen. Zu sehr hatte Goluchowskis Vorschlag den Anschein einer agrarischen Maßnahme, um bei den Sozialdemokraten Zustimmung zu finden. Vielmehr griff der Vorwärts auf die bewährte Kritik am „alten Europa" zurück und wiederholte die bekannten Erklärungsversuche für den amerikanischen
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Erfolg; den fehlenden Militarismus, den amerikanischen Unternehmergeist und die politische Freiheit. 113 Schippel und Calwer auf der anderen Seite gehörten der Front der Amerikabewunderer und Befürworter eines wirtschaftspolitischen Ausgleichs mit Amerika nie an. Um die Jahrhundertwende verstärkten sie ihren Kampf für eine Änderung der sozialdemokratischen Maximen hinsichtlich der amerikanischen Außenhandelspolitik. Mit zahlreichen Analysen der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen und Aufrufen traten sie für eine wirtschaftspolitische Wende in der Sozialdemokratie ein. Die ersten Anklänge an die Dreiweltenlehre waren von Max Schippel zu vernehmen. Schippel formulierte kein mitteleuropäisches Konzept, sondern forderte einen deutschen bzw. europäischen Schutzzoll, um sich nicht weiter wirtschaftlich, politisch und kulturell einer „fremden Macht" dienstbar zu machen. Europäische Länder sollten, jedes für sich allein, die Reziprozität gegenüber Amerika einführen, um damit die amerikanische Konkurrenz von Europa fernzuhalten. Am Beispiel des Zuckerhandels und der amerikanischen Tarife zeichnete Schippel die Schieflage der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen nach und sprach sich für ein Abrücken von der unbedingten Meistbegünstigung und für ein System von Reziprozitätsverträgen aus. 114 In seinen Ausführungen bediente er sich des Bildes des amerikanischen Kapitalisten, als er von der amerikanischen „Rübenclique" sprach, die mit Kapitalfluss die neu erworbenen Kolonien füttere, für billige Zuckereinfuhren nach Amerika sorge und die europäische Konkurrenz durch Reziprozitätsverträge ausschließe.115 Für Europa zog Schippel daraus eine wenig erfreuliche Konsequenz, da es unter diesen Umständen den europäischen Ländern kaum gelingen könne, den amerikanischen Markt zu erschließen. Als noch viel gravierender für den deutschen und europäischen Export als die wirtschaftlichen Bedingungen wertete Schippel die „allgemeinen politischen Richtlinien" der Vereinigten Staaten, die seiner Ansicht nach darauf zielten, die europäische Konkurrenz zu schädigen und auszuschließen. Da für Schippel keine Hoffnung bestand, dass Amerika von dieser Politik abrückte oder die Missachtung der Meistbegünstigung beendete, forderte er eine neue vertragliche Grundlage und einen Übergang zum System der Reziprozität. 116 Auch wenn Schippel an dieser Stelle die deutsche Zuckerindustrie bemühte, um die Schieflage der deutsch-amerikanischen Wirtschafsbeziehungen anzuprangern, 113
Vorwärts, Nr. 273, 23.11.1897. Schippel sah sich parteiinternen Angriffen ausgesetzt, in einem Aufsatz verteidigte er seine handelspolitische Position und wies darauf hin, dass niemand den Freihandel zum Parteiprogramm oder zur Prinzipienfrage in der deutschen Sozialdemokratie erhoben habe. Schippel bestand darauf, die „schikanöse Behandlung der deutschen Warenausfuhr" durch das Ausland mit Kampfzöllen zu beantworten. Schippel, Max, Eine Parteidiskussion. Ein Nachwort zur Darlegung meines handelspolitischen Standpunktes, in: Sozialistische Monatshefte, 2 (1904), S.720. 115 Schippel, Max, Zuckerproduktion und Zuckerprämien bis zur Brüsseler Konvention. Eine wirtschaftsgeschichtliche und handelspolitische Darstellung, Stuttgart, 1903, S. 166-186. 116 Ebd., S. 180 und ders., Die Zukunft der Meistbegünstigung und der englisch-kanadische Streitfall, in: Sozialistische Monatshefte, 2 (1903), S.678. 114
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so galt sein Hauptaugenmerk doch der industriellen Konkurrenz aus Amerika. Schippel widersprach dem wirtschaftspolitischen Konzept der Parteiführung, sich vordergründig stets von reinen Konsumenteninteressen leiten zu lassen und den Schutzzoll als „reaktionär" zu verurteilen. Auf dem Stuttgarter Parteitag griff er die von der Parteiführung vertretene Ansicht an, das Schutzzollsystem sei konservativ und der Freihandel fortschrittlich, und versuchte zu begründen, dass Amerika seinen wirtschaftlichen Aufstieg dem Protektionismus verdanke, da dieser die Interessen der Unternehmer als auch der Arbeiter schütze. Der Freihandel werde die Vereinigten Staaten auf die Stufe einer englischen Kolonie degradieren, und der Schutzzoll verbessere die Industrie und die Lebensqualität der Arbeiter. 117 Um die amerikanische Konkurrenz abzuwehren, schlug Schippel nicht die Schaffung eines europäischen Zollbündnisses vor, sondern ging von einem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum aus, in dem jedes Land individuell, aber nach gleichen Grundsätzen mit dem „Weltreich Amerika" Verträge abschließe. Schippel wiederholte seine Forderungen nach einem Umdenken in Handelsfragen zu Amerika bei mehreren Anlässen und in mehreren Publikationen, konnte aber trotz seiner Appelle keinen Widerhall in der Sozialdemokratie finden. 118 Weitaus größere Wirkung als Schippel erzielte Calwer. Was Schippel nur andachte, eine europäische Zusammenarbeit gegen die amerikanische Konkurrenz, sprach Calwer offen aus. Wie schon Schippel zuvor, polterte Calwer vor allem gegen eine freihändlerische Handelspolitik, um der amerikanischen Herausforderung zu begegnen. Er ging jedoch einen Schritt weiter und forderte die Schaffung einer „mitteleuropäischen Gemeinschaft" als Abwehrmaßnahme. Diese sollte in enger Kooperation mit Frankreich eine Abwehrfront gegen die Randzonen, die Vereinigten Staaten, Russland und England schaffen. Damit war Calwer wohl als einziger prominenter Sozialdemokrat in den Chor der Anhänger der Dreiweltenlehre eingetreten. Seine revisionistische Haltung in der Handelspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten kam bereits in seiner Verurteilung des Meistbegünstigungsverhältnisses zu den Vereinigten Staaten zum Tragen. Calwer bezweifelte die Gültigkeit des Vertrages von 1828 und wollte einen neuen Vertrag mit Amerika aushandeln. Für ihn schrumpfte der Vertrag auf eine schön klingende Formel ohne Inhalt zusammen, da dieser nur den Vereinigten Staaten nutze und europäische Staaten schädige. Calwer nahm den wirtschaftlichen Aufstieg Amerikas ins Visier und warnte vor einer Abhängigkeit Europas von dem Exportriesen Amerika. Dass Amerika die Superiorität auf industriellem 117 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin, 1900, S. 174. 118 Schippel erläuterte seinen wirtschaftspolitischen Standpunkt nochmals in seinem 1902 erschienenen Buch „Grundzüge der Handelspolitik." Schippel, Max, Grundzüge der Handelspolitik. Zur Orientierung in den wirtschaftlichen Kämpfen, Berlin, 1902, S.210-17 und ders., Handelsvertragspolitik, S. 23-29. Vgl. auch die Rezension von „Gründzüge der Handelspolitik" in: Sozialistischen Monatshefte, 2 (1901), S. 1007-1008. Schmoller rezensierte Schippeis „Grundzüge der Handelspolitik" mit den Worten: „ein talentvolles Buch für die Schutzzollbewegung". Schmoller in Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Kaiserreich, 27 (1903), S.321.
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III. Die amerikanische Gefahr
Gebiet so rasch erreicht hatte, lag für Calwer an seiner wirtschaftsgeographischen und ökonomischen Überlegenheit und zum erheblichen Teil an den Wirkungen seiner Zoll- und Handelspolitik, daher plädierte er für eine Schutzzollpolitik und die Überarbeitung der vertraglichen Handelsgrundlage. Neben der Ausarbeitung eines neuen Vertrages mit den Vereinigten Staaten wollte Calwer aber auch das europäische Zusammenwirken in Zollfragen stärken. Er setzte sich ausdrücklich für die Fortsetzung der Handelspolitik Caprivis mit einem mitteleuropäischen Fokus ein, um die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu vermeiden. Bereits 1897 schrieb er in der Neuen Zeit, dass die europäischen Länder ihre Vorurteile und Gegensätze ablegen und sich auf ein gemeinsames zollpolitisches Handeln einigen müssten. Sie müssten das eigene Wirtschaftsgebiet durch gegenseitigen handelspolitischen Anschluss erweitern, um von dieser „machtvollen Grundlage" aus gegen den amerikanischen Konkurrenten zu agieren. 119 Auf dem Parteitag in Mainz im Jahre 1900 bediente sich Calwer in seinem Referat einer sehr emotionalen Sprache zur Beschreibung des deutschen Handelsverhältnisses zu Amerika. Er fragte, ob die deutsche Sozialdemokratie es weiter hinnehmen könne, dass die deutschen Arbeiter aufgrund der amerikanischen Zölle fortlaufend „Millionen über Millionen Mark" in die Finanzkasse der Amerikaner zahlten, und ob durch den verteuerten deutschen Export die Steigerung der Lebenshaltungskosten der Arbeiter weiter zu dulden sei. Dies war Calwers Ansicht nach das Ergebnis des Meistbegünstigungsverhältnisses zwischen beiden Staaten. Er rief den versammelten Delegierten zu, sich endlich auf den Standpunkt der Arbeiter und nicht auf den der Konsumenten zu stellen. Als Gegenmaßnahme forderte Calwer den sofortigen Ausstieg aus dem Meistbegünstigungsverhältnis, auch auf die Gefahr eines Zollkrieges hin. 120 Das Hauptthema seines Referats war das Meistbegünstigungsverhältnis und diesem galt auch sein Hauptangriff. Was jedoch bei den Anwesenden besonderen Ärger hervorrief, war Calwers Vorschlag, Europa möge doch „enger liiren", um der amerikanischen Konkurrenz zu begegnen. Da der amerikanische Markt verloren gehe, 119 Calwer, Richard, Die Vorbereitung neuer Handelsverträge, in: Neue Zeit, 16 (1897/98) I, S. 328 ff. 120 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages des SPD, S. 191. Calwer blieb seinem Standpunkt treu und veröffentlichte 1902 eine Abhandlung, in der er noch einmal seine Vorschläge untermauerte. In der Rezension des Buches in den Sozialistischen Monatsheften bezweifelte der Rezensent die Parteizugehörigkeit Calwers und fügte hinzu, dass Calwer nach seiner Mainzer Parteitagsrede wohl als „vogelfrei" in der Partei zu betrachten sei. Vgl. Calwer, Richard, Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten, S. 34 und S. 153 ff. und Sozialistische Monatshefte, 1 (1902), S.79. Calwers Vorschläge riefen bei den Linksliberalen Erstaunen hervor, sie brachten ihm den Beinamen „weiße Taube unter den roten Hähnen". Barth, Theodor, Schutzzöllnerei und Sozialdemokratie, in: Die Nation, Nr. 50, 14.9.1901, Bd. 17 S.787. Calwers Buch wurde ausdrücklich von der Kreuzzeitung gewürdigt. „Unter den sozialdemokratischen Outsidern gibt es einzelne, die gelegentlich ganz vernünftige Ansichten entwickeln in handelspolitischen Fragen jedenfalls verständigere, als die von freihändlerischer Seite zum Besten gegeben werden." Kreuzzeitung, Nr. 457, 30.9.1902.
3. „Panamerika" contra „Mitteleuropa"
221
solle Europa durch Abbau von Zollschranken den Export untereinander intensivieren, Amerika gegenüber die Reziprozität anwenden und es auf diese Weise vom europäischen Markt fernhalten. 121 Es trifft jedoch nur bedingt zu, dass Calwer sich damit vollständig in die Reihen der Anhänger der Dreiweltenlehre oder des Mitteleuropakonzepts begeben habe. Er sprach nicht von einem mitteleuropäischen Zollbündnis oder einer erweiterten Machtausgangsbasis für das Deutsche Reich, sondern lediglich vom verstärkten gegenseitigen Export in Europa, um den Verlust des amerikanischen Marktes auszugleichen. In der Konsequenz bedeute dies sicherlich die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsblocks gegen Amerika, aber nicht um den panamerikanischen Markt zu erobern, sondern um den europäischen Markt durch Ausschöpfung seiner Kapazitäten vor der Abhängigkeit von Amerika zu bewahren. Einzig sein Parteikollege und Helfer auf dem Parteitag in Mainz, Eduard David, setzte sich unmissverständlich für einen europäischen Zollverein ein und benutzte dabei die Vokabeln der Dreiweltenlehre. Ganz im Sinne der Aufteilung der Welt in drei Reiche sprach er von einer amerikanischen Weltpolitik nach dem Motto „Amerika den Amerikanern" und forderte eine europäische „Weltteilpolitik", um sich gegen Panamerika zu wehren. 122 Davids kurzer Beitrag ging nicht in die Tiefen der Weltpolitik oder der theoretischen Debatten über die entstehenden Weltreiche, doch sein Stichwort vom „europäischen Zollverein" und Calwers Vorschläge glichen einer Provokation und brachten zahlreiche Parteigenossen in Rage. Rosa Luxemburg fasste die Empörung der Delegierten zusammen, indem sie Calwers Standpunkt mit dem des „Grafen Kanitz" gleichsetzte. Die Vorschläge Calwers, so Luxemburg, seien nichts anderes als ein „alter Ladenhüter aus dem Magazin der Agrarier und anderer Schutzzöllner". 123 Die Vorschläge Calwers und Davids hatten keine Aussicht auf Erfolg, schon gar nicht auf einer solchen, für die Sozialdemokraten bedeutenden Plattform. Calwers Niederlage auf dem Parteitag brachte ihn von seiner Überzeugung nach einer härteren Gangart gegenüber den Vereinigten Staaten nicht ab. In den regelmäßig von ihm als Forum genutzten Sozialistischen Monatsheften wiederholte er seine Forderungen nach gegenseitigem Abbau der Zollschranken in Europa, um den amerikanischen Hochschutzzöllnern das „Gefühl der Reziprozität beizubringen". 124 An einer anderen Stelle aber setzte sich Calwer direkt mit der Dreiweltenlehre auseinander, folgte aber nicht ihren Schlussfolgerungen nach einer größeren mitteleuropäischen Machtbasis für Deutschland. Seine Wortwahl war zwar fast identisch mit der von Friedrich Ratzel oder Gustav Schmoller, als er über die politische Ausdehnung der Vereinigten Staaten nach Südamerika und ihre Betonung der MonroeDoktrin resümierte und von den britischen Bemühungen, einen weltweiten Zollverbund zu schaffen, sprach. Calwers Antwort war jedoch, wie schon auf dem Mainzer 121 122 123
Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD, S. 192 Ebd., S. 203. Ebd., S. 194. Ebenso Molkenbuhr und Bebel in abgemilderter Form ebd., S. 198 und
S.203. 124
Calwer, Richard, Der Zolltarifentwurf, in: Sozialistische Monatshefte, 1 (1902), S.25.
222
III. Die amerikanische Gefahr
Parteitag, die Schaffung eines mitteleuropäischen Absatzgebietes. Dezidiert wandte er sich gegen eine „schablonenhafte Imitation" Amerikas oder Großbritanniens, wie dies deutsche Expansionspolitiker forderten, weil diese zu kriegerischen Auseinandersetzungen hätten führen können. Vielmehr offenbarte Calwer seine eurozentrische Sicht, indem er erneut von gleich starken europäischen Nachbarn ausging und den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in Europa festmachte. Deutschland müsse auf eine Beseitigung der wirtschaftlichen, politischen und nationalen Schranken zwischen den europäischen Ländern - England und Russland nahm Calwer aus hinarbeiten und den großen Markt, den es außerhalb Europas nicht finden könne, sich in Europa selbst schaffen. 125 Die Konzepte Schippeis und Calwers tangierten die Mitteleuropaideen und die Dreiweltenlehre und wiesen gewisse Parallelen zu den Gedankengängen ihrer Verfechter bei den Nationalliberalen und Konservativen auf. Auch Schippel und Calwer dachten an einen europäischen Wirtschaftsraum, in dem die Länder mit oder ohne rechtliche Absprachen derselben Politik folgen sollten, um sich von Amerika „unabhängig" zu machen. In den Vorstellungen beider Politiker hatte Europa oder „Mitteleuropa" weder Deutschland als größte Macht zum Kern noch war es als Ausgangsbasis für eine deutsche Weltmachtpolitik konzipiert, und schon gar nicht als neuer Anwärter für das große Spiel der Weltmächte gedacht. Dem Konzept lag ein rein defensiver wirtschaftlicher Charakter zugrunde, um den Handel innerhalb Europas zu beleben, sich von Amerika unabhängig zu machen und schließlich, dem Uranliegen der Sozialdemokraten folgend, die materielle Lage der Arbeiter in Deutschland zu verbessern. Die revisionistische Haltung Calwers und Schippeis blieb eine Randerscheinung in der Sozialdemokratie, sie konnte sich nie in der Partei durchsetzen oder die wirtschaftspolitische Richtung der Parteispitze beeinflussen. Nur wenige Sozialdemokraten teilten sie. Amerika wurde zwar auch als ein mit Trusts und „Großkapitalisten" durchsetztes „Schutzzollland" charakterisiert, aber der Gedanke des Freihandels und der Glaube, die Interessen der Arbeiter seien nur in einem guten handelspolitischen Verhältnis mit Amerika angemessen vertreten, war zu stark, um von der Mehrheit der Parteimitgliedern ernsthaft angezweifelt zu werden. 125
Calwer, Richard, Weltpolitik und Sozialdemokratie, in: ebd., 2 (1905), S.746. Auch andere Sozialdemokraten befürworteten eine europäische Zusammenarbeit, um der amerikanischen oder russischen Übermacht entgegenzuwirken. Alexander Israel Helphand, ein Immigrant aus Russland und Chefredakteur der Sächsischen Arbeiter Zeitung - Vorgänger von Rosa Luxemburg in dieser Funktion - trat aus Furcht vor der industriellen Überlegenheit Amerikas für ein engeres Zusammengehen der Europäer gegen Amerika und Russland ein. Auch dem bayerischen Sozialdemokraten Georg Ledebour schwebte ein europäisches Bündnis vor. Zum Herzstück seiner außenpolitischen Vorstellungen gehörte der Wunsch nach einer Verständigung mit Großbritannien, die er als Voraussetzung für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa" erachtete, um sich gegen die wirtschaftliche Konkurrenz Russlands und Amerikas zu behaupten. Helphand, Parvus, Kolonialpolitik und der Zusammenbruch, Leipzig, 1907, S. 28 ff. und Ratz, Ursula, Georg Ledebour. Weg und Wirken eines Sozialistischen Politikers, Berlin, 1969, S. 118.
3. „Panamerika" contra „Mitteleuropa"
223
Wie die Sozialdemokraten waren die linksliberalen Parteien von der Idee des handelspolitischen Ausgleichs mit den Vereinigten Staaten bewegt, zwar aus anderen Gründen als die Sozialdemokraten, aber wie diese lehnten sie Gegenmaßnahmen und eine gegen Amerika gerichtete Politik ab. Die allgemeingesellschaftliche Wahrnehmung von der ökonomischen Dominanz der Vereinigten Staaten und persönliche Empfindungen brachten aber einige Linksliberale von der Parteilinie ab. Prinzipiell wurde die „amerikanische Gefahr" von führenden linksliberalen Politikern heruntergespielt. Die gängige Erklärung der momentanen Handelslage zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten konzentrierte sich auf die „natürlichen konjunkturellen Zyklen", die abwechselnd auf der deutschen oder der amerikanischen Seite eine günstigere Wirtschaftsbilanz zur Folge hätten.126 Die Mehrheit der linksliberalen Politiker und Publizisten beteiligte sich nicht an den Diskussionen über „Mitteleuropa" und die neuen Weltreiche. Der wirtschaftliche Aufstieg Amerikas wurde zwar anerkannt, ihm wurde aber keine akute Bedrohung für Deutschland beigemessen. Zum Teil wurde er sogar heruntergespielt, denn eine zu starke Thematisierung einer wirtschaftlichen Überlegenheit Amerikas hätte den Linksliberalen Antworten abverlangt, die ihr traditionell amerikafreundliches Denken ins Wanken hätten bringen können. Der linksliberale Ökonom Dietzel griff die These von der „amerikanischen Gefahr" ganz im Sinne der linksliberalen Überzeugungen scharf an. Er stellte die protektionistische Handelspolitik und die industrielle Konkurrenz Amerikas nicht in Abrede, hielt jedoch die Lehre der Weltreiche für hochwertig spekulativ und für ein Propagandamittel, um „nationalistischen und protektionistischen" Bestrebungen der Landwirtschaft und der Schwerindustrie Vorschub zu leisten. Auch Panamerika und einer daraus entstehenden Bedrohung für Europa sprach er jegliche Realisierungschancen ab; für Dietzel noch unwahrscheinlicher als Panbritannia. 127 Der einzige prominente Linksliberale, der in das Lager der Dreiweltenanhänger wechselte, war Georg von Siemens. Ursprünglich ein überzeugter Freihändler und Mitbegründer des Handelsvertragsvereins, wechselte er unter dem Eindruck der „amerikanischen Gefahr" in das Lager der Befürworter einer gemeinsamen europäischen Antwort auf die amerikanische Bedrohung und schloss sich der Einteilung der Welt in drei Reiche an. Am 21.2.1901 verkündete er in einem Vortrag vor der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre seine Forderungen nach einem gemeinsamen europäischen Vorgehen gegen die Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund der amerikanischen Schutzzollpolitik und des industriellen Übergewichts. Trotz dieses Bekenntnisses gehörte Siemens nicht zu den eifrigen Amerikagegnern. Durch geschäftliche und persönliche Bindungen nach Amerika war er trotz seiner momentanen Empörung um gute Beziehungen zu den 126
Z.B. Gotheim im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 10.Leg. 2.Sess. 4.12.1902, Bd. 2 S. 2947. 127 Dietzel, Heinrich, Die Theorie von den drei Weltreichen, Berlin, 1900, S.59ff. und ders., Die Theorie von den drei Weltreichen. III Panamerika, in: Die Nation, Nr. 32,12.5.1900, Bd. 32 S. 443-447.
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III. Die amerikanische Gefahr
Vereinigten Staaten bemüht. Er bereiste Amerika in den 80er und 90er Jahren zweimal und unterhielt als Vorstand der Deutschen Bank Kontakte zum „Eisenbahnkönig" Henry Villard und zu weiteren amerikanischen Geschäftsleuten, wie dem Finanzmann Edward Adams oder dem New Yorker Bankier Jacob Schiff. Durch persönliche Kontakte versuchte er die Entscheidungsträger in Amerika zu einer Kurskorrektur in der Außenwirtschaftspolitik zu drängen. In einem Brief an Adams von 1901 bat er um eine Klärung des wirtschaftlichen Verhältnisses zwischen beiden Ländern und um eine Milderung der wirtschaftlichen Nachteile für Deutschland. In einem weiteren Brief an Schiff wählte er einen etwas härteren Ton und schrieb, dass Amerika den „Bogen nicht überspannen möge", schließlich solle die Maxime gelten „leben und leben lassen".128 Siemens' Umschwung in das Lager der Dreiweltenlehre lagen sicherlich persönliche Motive zugrunde. Seine Pläne zur Gründung einer „Germanisch-transatlantischen Bank" scheiterten an der amerikanischen Gesetzgebung, er sah darin eine Tendenz der amerikanischen Außenhandelspolitik, Europa vom amerikanischen Markt fernzuhalten. Siemens trat nicht als eifriger Befürworter eines Mitteleuropakonzepts hervor, er wiederholte seine Forderungen nicht und hatte sich bis dahin stets durch persönliches Engagement für ein gutes deutsch-amerikanisches Verhältnis ausgezeichnet. Seine Äußerungen reflektierten vielmehr seine Enttäuschung über die amerikanische Handelspolitik und seinen persönlichen Misserfolg auf dem amerikanischen Markt. Dennoch bedauerte Theodor Barth als persönlicher Freund und Geschäftspartner in der Deutschen Bank, dass durchs Siemens' Vorpreschen die „linksliberale antiagrarische Agitation" empfindlichen Schaden erlitten habe.129 Siemens' Nachfolger als Vorsitzender des Handelsvertragsvereins, Georg Gotheim, versuchte zwar die „amerikanische Gefahr" und die Vorschläge Siemens' herunterzuspielen. 130 Die bedingungslose Amerikafreundschaft der Linksliberalen verlor damit aber einen prominenten Vertreter. Trotz Siemens' Ausflug in das Lager der Dreiweltenlehre, überwog bei den Linksliberalen nach wie vor das Interesse an guten Beziehungen zu den USA. Begriffe wie Panamerika, Mitteleuropa oder „amerikanischen Gefahr" fanden nur gelegentlich Eingang in die linksliberale Publizistik und wurden selten zum Gegenstand der Diskussionen linksliberaler Politiker. Die Stärke und das enorme Wachstum der amerikanischen Wirtschaft hatten in der Sicht der Linksliberalen kein Bedrohungspotenzial, sie resultierten aus einer natürlichen wirtschaftlichen Entwicklung, die Deutschland nicht gefährlich werden konnte, so-
128
Briefe abgedruckt bei Helfferich, Karl, Georg von Siemens. Ein Lebensbild aus Deutschlands großer Zeit, Bd. 3 Berlin, 1923, S. 228 und S. 229. 129 Die Deutsche Bank beteiligte sich dennoch an der Finanzierung der Northern Päcific und an mehreren anderen amerikanischen Eisenbahnlinien, wie der Rocky Fork oder der Manitoba Railroad. Zusammen mit Villard gelang Siemens die Rettung der beiden Eisenbahnlinien von Villard, der Oregon und der Transcontintal Co. Vgl. Helfferich, Georg von Siemens, Bd. 3 S. 246 und S. 246. Villard, Heinrich, Lebenserinnerungen. Ein Bürger zweier Welten, 1835-1900, Berlin, 1906, S.468 und Barth, Theodor, Die amerikanische Gefahr, in: Die Nation, Nr.48, 30.8.1902, Bd. 17 S.756. 130 Gothe im Reichstag. Verhandlungen des Reichstags, 10. Leg. 2.Sess. 4.12.1902, Bd. 5 S.2947-2955.
3. „Panamerika" contra „Mitteleuropa"
225
lange der Ablauf der Wirtschaft durch gesetzliche Maßnahmen und staatliches Reglement nicht gestört werde. Die Diskussionen über Panamerika und Mitteleuropa hätten ohne die gesellschaftliche Wahrnehmung des wirtschaftlichen Aufstiegs der Vereinigten Staaten unter dem Blickwinkel einer „Gefahr" für Deutschland und Europa nicht stattfinden können. Ängste vor einem wirtschaftlichen Giganten, der seine Macht auf zwei Kontinente stützte und deutsche Wirtschaftsinteressen weltweit zu strangulieren und den heimischen Markt zu vereinnahmen drohte, riefen in Deutschland die unterschiedlichsten Gruppen auf den Plan. Die alten Konzepte von Zollerhöhungen und dem Ausstieg aus der Meistbegünstigung konnten als Maßnahmen eines einzelnen europäischen Staates nicht mehr greifen. Indem eine gemeinsame europäische bzw. mitteleuropäische Antwort formuliert wurde, befand sich Deutschland nicht mehr allein in seinem Kampf gegen die amerikanische Konkurrenz, sondern konnte aus einer breiteren Abwehrfront heraus agieren. So sehr jedoch der allgemeine Eindruck der Gegensätzlichkeit zwischen Europa und Amerika und der Auseinandersetzung zwischen zwei Kontinenten entstanden sein mag, so sehr variierten die Vorstellungen der Akteure über ein gemeinsames europäisches Vorgehen. Agrarier der konservativen Partei dachten aus der Defensive heraus. Für sie war es wichtig, die amerikanische Konkurrenz abzuwehren und den deutschen Produkten eine bessere Ausgangslage zu verschaffen. Calwer und Schippel wollte ebenso keine bessere Ausgangsbasis für die Machterweiterung des Reiches schaffen, sondern lediglich durch die Schaffung eines mitteleuropäischen Marktes die Arbeiterinteressen wirkungsvoller verwirklichen. Die Nationalliberalen mit ihren stark industriell dominierten Interessen nahmen den Kampf um Drittmärkte auf, für sie spielte sich die „amerikanische Gefahr" in Lateinamerika ab. Eine europäische Antwort sollte einer gezielten wirtschaftspolitischen Offensive gleichkommen. Anhänger der Weltmachtpolitik wie Hasse oder Lehr, auf der anderen Seite, nutzten die „amerikanische Gefahr", um ihre Pläne für die Weltpolitik eindrucksvoller zu untermauern. Alle Gedankenspiele allerdings hatten einen gemeinsam Kern. Sie alle entsprangen einer Wahrnehmung Amerikas, die noch ein paar Dekaden zuvor unvorstellbar gewesen wäre, einem Amerika, das sich innerhalb kürzester Zeit von einem mittelmäßigen Agrarland zu einer Industrienation erster Güte entwickelt hatte und das die alte Welt auf allen Gebieten herausforderte.
15 Czaja
IV. Der spanisch-amerikanische Krieg 1. Gründe und Ursachen Die Diskussion der Jahrhundertwende über die amerikanische Gefahr drehte sich um den Verlust von Drittmärkten, das Eindringen der amerikanischen Wirtschaft auf den heimischen Markt und um die überproportionale Zunahme der amerikanischen Wirtschaftskraft. Sie wäre jedoch ohne den spanisch-amerikanischen Krieg des Jahres 1898 in dem Ausmaß nicht möglich gewesen. Der Krieg von 1898 führte den Beobachtern in Deutschland und Europa vor Augen, dass Amerika nicht nur seit Jahrzehnten stetig wirtschaftlich anwuchs, sondern nun auch machtpolitisch in der Lage war, die eigenen Interessen auch außerhalb der „natürlichen Einflusssphäre" mit Nachdruck durchzusetzen. Der spanisch-amerikanische Krieg trug wesentlich zu der Erkenntnis bei, dass Amerika von nun an nicht mehr nur als eine Wirtschaftsmacht betrachtet werden musste, sondern auch als eine Macht mit weltweiter politischer Durchsetzungskraft. Bis dahin wurde in den Reihen der politischen Parteien fast ausschließlich das wirtschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika und die Bedeutung Amerikas als Wirtschaftsmacht thematisiert. Das außenpolitische Gewicht Amerikas und sein außenpolitisches Verhältnis zu Deutschland fanden entweder nur am Rande Eingang in die Amerikadebatten oder sie wurden als beständig und solide eingeschätzt. Der zurückhaltenden Beurteilung der Außenpolitik Amerikas und seines Verhältnisses zu Deutschland kam zugute, dass die Zeitgenossen oft zwischen der Außenwirtschaftspolitik und der eigentlichen, auf der Stellung eines Landes auf der Weltbühne und der Wahrung und Vergrößerung seines Einflusses beruhenden Außenpolitik, unterschieden. Der spanisch-amerikanische Krieg rückte Amerika in der Wahrnehmung der Parteien nicht in die erste Reihe eines möglichen Kandidaten für eine bevorstehende kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland. Nur äußerst vereinzelt wurden Stimmen in den Reihen der Parteien laut, die vor einer zukünftigen kriegerischen Auseinandersetzung mit Amerika warnten. Im Vergleich zu den Jahren vor 1898 verliefen die Diskussionen dennoch unter veränderten Vorzeichen. Es ging nicht mehr nur darum, den amerikanischen Protektionismus abzuwehren, sondern Amerika als Neuling ins Gefüge des Weltgeschehens einzuordnen. Im Bewusstsein der Beobachter in Deutschland und Europa etablierten sich die Vereinigten Staaten durch den spanisch-amerikanischen Krieg als eine aufstrebende, mit politischen Ambitionen ausgestatte „imperiale Macht", die in der Lage war, den europäischen Mächten Paroli zu bieten. Die Vereinigten Staaten brachten einen Krieg gegen eine alteingesessene europäische Monarchie in denkbar kurzer Zeit erfolgreich zu
1. Gründe und Ursachen
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Ende, verbuchten in der Folgezeit überseeische Territorialgewinne und zeigten sich gewillt, in den bis dahin den europäischen Staaten vorbehaltenen exklusiven Kreis der Groß- und Weltmächte vorzustoßen. Der Krieg demonstrierte aber noch mehr: Er verdeutlichte die Dynamik eines aufstrebenden „jungen Landes", das seit einigen Jahren den wirtschaftlichen Aufstieg zelebrierte und sich nun auch außenpolitisch anschickte, zu einem major player zu werden. Der schnelle Erfolg der amerikanischen „Freiwilligenarmee" gegen eine traditionelle europäische Armee stützte diese Sichtweise. In diesem Krieg, so die Essenz der Beobachtungen, hätten die Vereinigten Staaten unter Beweis gestellt, dass sie gewillt und in der Lage waren, ihre politischen Ambitionen und Interessen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, und dass sie von nun an ein Mitsprechrecht in der Weltpolitik beanspruchen würden. Der Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten um das krisengeschüttelte Kuba zeichnete sich in den frühen 1890er Jahren ab.1 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet Kuba immer tiefer in den Sog von Korruption, Misswirtschaft, Armut und Elend. Die spanische Herrschaft erwies sich als unfähig, dem kolonialen Besitz „Kuba" eine effiziente Verwaltung, eine wie auch immer geartete Autonomie zu geben und das Ausmaß der eigenen Misswirtschaft einzuschränken. Der immer offensichtlichere Verfall Kubas wurde von mehreren Aufständen begleitet. Bereits in den 70er Jahren musste die spanische Herrschaft zu Waffen greifen, um einen Aufstand im so genannten „Zehnjährigen Krieg" mit Gewalt niederzuschlagen. 1895 rief eine Dissidentengruppe den grito de Baire aus, den Auftakt für einen neuen Kampf gegen die spanische Herrschaft. Spanien erwies sich zunächst als unfähig, der Aufständischen, ihrer Taktik der „verbrannten Erde" und des Guerillakrieges Herr zu werden, sodass sich Kuba am 15.7.1895 für unabhängig erklären konnte.2 1 Die Literatur zum spanisch-amerikanischen Krieg ist äußerst umfangreich, vor allem in den 90er Jahren setzte eine Welle von Abhandlungen zu diesem Thema ein. An dieser Stellen sei nur auf die gängigsten Titel hingewiesen. Eine sehr detaillierte Beschreibung der gesamten Krise bieten auf über 700 bzw. 600 Seiten Musicant und Trask an. Misicant, Ivan, Empire by Default. The Spanish-American War and the Dawn of the American Century, New York, 1998 und Trask , David F., The War with Spain in 1898, Lincoln, 1996. Vgl. auch die knapperen Darstellungen z.B. Balfour , Sebastian, The End of the Spanish Empire, 1898-1923, Oxford, 1997. Smith , Joseph, The Spanish-American War. Conflict in the Caribbean and the Pacific 1895-1902, New York/London, 1994. Dyal , Donald H., Historical Dictionary of the Spanish American War. Westport Conn., 1996. Offner, John L., An Unwanted War. The Diplomacy of the United States and Spain over Cuba, 1895-1898, Chapel Hill, 1992 und Jeffers, Harry P., Colonel Roosevelt Goes to War, 1897-1898, New York, 1996. 2 Zur Vorgeschichte des spanisch-amerikanischen Krieges s. unter anderen Balfour , The End of the Spanish Empire, S. 11 ff. Für die Taktik der „verbrannten Erde" wurden die kubanischen Kämpfer Marti und Gómez bekannt, sie wandten sie vor allem gegen Zuckerplantagen an. Von 1894 bis 1896 ging die Zuckerproduktion auf Kuba von über einer Million Tonnen auf 286229 Tonnen zurück. Kubas Wohlstand hing vom Zuckerexport ab. Der Wilson-Tarif von 1894 erhöhte den Zuckerzoll auf 40% und legte damit den kubanischen Zuckerexport in die Vereinigten Staaten fast vollständig lahm. Dies beschleunigte den wirtschaftlichen Verfall Kubas und schürte die Unruhen. Vgl. Balfour , The End of the Spanish Empire, S. 12. Trask, The
15*
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IV. Der spanisch-amerikanische Krieg
Erst nach der Einberufung des deutschstämmigen Generals Valeriano Weyler y Nicolau als spanischer Oberbefehlshaber und nach seinem Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung brach der Aufstand zusammen.3 Die Situation auf Kuba konnte dennoch kaum deutlich entspannt werden, selbst das Autonomiedekret Spaniens von 1897 trug nur unwesentlich zur Beruhigung der Verhältnisse bei.4 Auf amerikanischer Seite wuchs das Unbehagen über die Unfähigkeit Spaniens, den Konflikt auf Kuba zu lösen. Präsident Cleveland, und anfangs ebenfalls McKinley, hatten zwar die revolutionäre Regierung Kubas nicht anerkannt und weigerten sich, sie militärisch zu unterstützen. Ab 1898 begann McKinley jedoch, die spanische Regierung zu drängen, den Konflikt zu lösen. Durch den Druck der amerikanischen Öffentlichkeit und der amerikanischen Wirtschaft sowie vor dem Hintergrund der allgemeinen imperialistischen Stimmung und der einsetzenden territorialen Ausdehnung über die „natürlichen" Grenzen hinaus entschloss sich die Regierung McKinley zu Beginn des Jahres 1898, aktiver in den Konflikt einzugreifen. 5 Auf der anderen Seite nahm die amerikanische Öffentlichkeit immer mehr Anteil an den Geschehnissen auf Kuba. Nachrichten über die Vorgehensweise Weylers und die Lage der Bevölkerung auf Kuba nährten die Entrüstung in der amerikanischen Presse. Die Yellow Press, aber auch seriöse Blätter verstanden es geschickt, durch Berichte über die Gräueltaten des „Butcher" Weyler eine antispanische und jingoistische Stimmung in Amerika zu schüren, die bald weite Teile der amerikanischen Gesellschaft erfasste. Der Gipfel der Entrüstung wurde in der amerikanischen Öffentlichkeit erreicht, als das amerikanische Schlachtschiff Maine vor der Küste Kubas versenkt wurde. In der amerikanischen Presse und der Öffentlichkeit wurde Spanien für die Versenkung des Schiffes verantwortlich gemacht und ein entschiedeneres militärisches Eingreifen gefordert. 6
War with Spain, S. 3 ff. und Smith, The Spanish-American War, S. 1-27. LaFeber geht so weit zu sagen, dass die Vereinigten Staaten durch ihre Tarifpolitik die Revolution auf Kubaverursacht hätten. LaFeber, Search for Opportunity, S. 129. 3 Weyler setzte auf eine Umsiedlungspolitik und härteres Vorgehen des Militärs gegen die Zivilbevölkerung. Die Landbevölkerung wurde aus der Nähe der spanischen Stützpunkte und den weiträumigen Landgebieten in die Städte umgesiedelt, ihre Bewegungsfreiheit wurde deutlich eingeschränkt und das Militär mit Gerichtsbarkeit ausgestattet. Damalige Schätzungen gingen von 400.000 bis zu einer Million Opfern als Folge der „Umsiedlungspolitik" aus. Die korrekte Zahl dürfte laut Trask bei 100.000, laut Balfour bei 200.000 liegen. Vgl. Trask, The War With Spain, S. 9 und Balfour , The End of the Spanish Empire, S. 17. Zu Weylers Kriegsführung vgl. Smith, The Spanish-American War, S. 18-23. 4 Vgl. Balfour , The End of the Spanish Empire, S. 22. 5 1896 verabschiedete der Kongress eine Resolution, die erwog die Aufständischen als Kriegspartei anzuerkennen. Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik 1750-1900. Von den englischen Kolonien zur amerikanischen Weltmacht, Frankfurt, 1984, S.193. 6 Zur nationalistischen Stimmung in Amerika und der Kriegshetze der amerikanischen Presse. Vgl. Morgan, H. Wayne, America's Road to Empire. The War with Spain and Overseas Expansion, New York/London, 1965, S.65ff.
1. Gründe und Ursachen
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Das Interesse am Schicksal der Kubaner und die allgemeine Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit reflektierten aber auch den einsetzenden überseeischen Imperialismus der Vereinigten Staaten. Die amerikanische Außenpolitik im lateinamerikanischen Raum kennzeichneten die interessenwahrende Abgrenzung gegenüber europäischen Staaten, ökonomische Dominanz und notfalls militärische Gewalt Kuba hatte einen strategischen Wert, die Insel lag am Zufahrtsweg zum Isthmuskanal und war noch im Besitz einer europäischen Monarchie. Expansionistisch denkende Politiker und Geschäftsleute hatten Kuba seit einiger Zeit zum Ziel erklärt. 7 Amerika richtete ohne Erfolg mehrere Ultimaten an Spanien, den Konflikt auf Kuba zu lösen. Schließlich entsandte McKinley die Maine vor die Küste Kubas. Als diese durch eine Explosion zerstört wurde, erklärte Amerika Spanien den Krieg. Nach einigen Niederlagen für Spanien und mehreren diplomatischen Vermittlungsversuchen, vor allem durch den französischen Botschafter in Washington Jules Combon, wurden die Kriegshandlungen ausgesetzt und eine Friedenskonferenz in Paris einberufen. Auf der Konferenz in Paris willigte Spanien ein, die Souveränität über Kuba aufzugeben, die angehäuften Schulden Kubas vor und während des Krieges zu übernehmen und Puerto Rico, Guam und die Philippinen an die Vereinigten Staaten zu übergeben.8 Die deutsche Diplomatie wurde durch diesen Krieg nur am Rande berührt. Zwar regte Kaiser Wilhelm II. in einer spontanen Solidaritätsadresse am 28. September 1897 das Eingreifen der europäischen Mächte für das monarchische Spanien an. Dieser Versuch, wie auch die anfänglichen Kontakte in Europa zwischen Frankreich, Österreich und Deutschland, ein gemeinsames Vorgehen in dieser Krise zu diskutieren, verlief aber im Sande. Deutschland achtete im Verlauf der Krise auf die Einhaltung der strikten Neutralität. Erst nach Beendigung des Krieges schloss Deutschland am 10.9.1898 ein geheimes Abkommen mit Spanien, das schließlich zum provisorischen Vertrag von 21.12.1898 führte. Deutschland wurde darin das Vorrecht zum Kauf der Hauptinseln der Karolinen garantiert. 9 7 Vgl. Balfour , The End of the Spanish Empire, S. 30 und Pratt, Julius W , American Business and the Spanish-American War, in: Greene, Theodor (Ed.), American Imperialism in 1898. Problems in American Civilisation, Boston, 1968, S. 26-43. 8 Zum Kriegsverlauf sehr detailliert Smith, The Spanish-American War, S. 48-187 und Trask, The War with Spain, S. 95 ff. Zu Pariser Friedenskonferenz Musicant, Empire by Default, S. 586-630 und Trask, The War with Spain, S. 209-231 und S. 445-472. Zu den diplomatischen Bemühungen, eine Friedenskonferenz zustande zu bringen vor allem Smith, The Spanish-American War, S. 188 ff. 9 Dennoch blieb der Verlauf des Kriegs nicht ohne Spannungen zwischen Deutschland und Amerika. Der so genannte „Zwischenfall von Manila", bei dem General Diederichs und sein amerikanisches Pendant General Dewey sich mit Kriegsschiffen gegenüber standen, markierte den Interessenskonflikt beider Mächte auf den Philippinen, der beide Gegner leicht in einen Krieg hätte verwicken können. In der amerikanischen Öffentlichkeit war die Empörung über das deutsche Vorgehen enorm. Rufe nach einer „Lektion für Deutschland" und Aufregung über die „deutsche Anmaßung" schallten durch die amerikanische Presselandschaft. Vgl. Dülffer, Jost¡Kröger, Martin ¡Harald, Rolf (Hrsg.), Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg. Aufsatz Nr. 26, War with Germa-
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IV. Der spanisch-amerikanische Krieg
Der spanisch-amerikanische Krieg wurde in Deutschland vor allem zum Gegenstand der öffentlichen und publizistischen Diskussionen. Im Reichstag wurde er nie in einer eigenen Debatte diskutiert, obwohl es diesbezüglich Bemerkungen gab. Die politischen Parteien wurden Teil einer öffentlichen Debatte, sie setzten aber eigene Akzente. Parteiorgane, parteinahe Blätter und Stellungnahmen der Parteivertreter nahmen sich der Deutung des Krieges an. Im Gegensatz zu den amerikabezogenen Debatten in den wirtschaftlichen Fragen, formulierte keine Partei ein Konzept zum Umgang mit dem Krieg oder eine öffentlich verkündbare Interpretation. Der spanisch-amerikanische Krieg berührte kaum die Innenpolitik, und die Parteien hatten aufgrund der konstitutionellen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich nur ein indirektes Mitspracherecht in außenpolitischen Fragen. Wie auch in den Debatten um die „amerikanische Gefahr", bot Amerika eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten und dankbaren Argumentationshilfen für die eigenen politischen Ziele. Sozialdemokraten und Linksliberale sahen in diesem Krieg den Siegeszug einer Republik gegen eine veraltete Monarchie. Sie nutzten den offensichtlichen Erfolg der Amerikaner für direkte und indirekte Angriffe gegen die politischen Gegner und als Beleg dafür, dass die Republik eine zukunftsweisende Regierungsform sei. Die Anhänger einer starken Flotte in Deutschland sahen in dem Krieg den Beweis für die Effizienz und Notwendigkeit einer weltweit einsetzbaren Flotte. Für Konservative und Zentrumspolitiker stellte der Krieg nichts anderes dar, als einen reinen Eroberungskrieg der Amerikaner. Die unterschiedliche Akzentsetzung in der Deutung und Interpretation des Krieges spiegelte aber auch die ideologischen Prägungen der Parteien und ihre außenpolitischen Orientierungen wider. Fragen nach der Legitimität Amerikas als Weltmacht und die Wertung einer Republik im Vergleich zu einer Monarchie begleiteten die Diskussionen. a) Der „Raubkrieg" Eine der Hauptfragen zu Beginn und im Verlaufe des Krieges waren für die Parteien die Motive der Amerikaner, den Kampf gegen Spanien zu eröffnen. Besonders die Konservativen und das Zentrum lehnten Amerika heftig an. Der von Amerika öffentlich genannte Hauptgrund für den Krieg, das „humanitäre Elend" in Kuba zu beenden, wurde von den Vertretern beider Parteien unisono als unglaubwürdig, geradezu „grotesk" verworfen. Es herrschte Konsens, dass Amerika seiner kapitalistischen „Eroberungsgier" nachgegeben habe und unter Vortäuschung einer „humanitären" Intervention nach kubanischem Besitz greife. Das Schlagwort vom „Zuckerkrieg" kursierte in den Reihen des Zentrums und der Konservativen. Beide Parteien ny Is Imminent. Deutsch-amerikanisches Säbelrasseln vor Manila 1898, S. 513-525. Hase, Die Rolle Kaiser Wilhelms II. in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, S. 237 ff. Bridge, Francis R., Great Britain, Austria, Hungary, and the Concert of Europe on the Eve of the Spanish-American War, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, 44 (1996), S. 87 ff. und Kaikkonert, Deutschland und die Expansionspolitik der USA, S. 113.
1. Gründe und Ursachen
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fanden sich in ihrer Deutung der amerikanischen Motive in den Krieg zu ziehen in Übereinstimmung mit weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit. Der damalige amerikanische Botschafter in Berlin Andrew White berichtete von der „antiamerikanischen Stimmung", die große Teile der deutschen Presse erfasst habe. 10 Trotz der neutralen Haltung der Reichsregierung ergriffen konservative und nationale Organe demonstrativ Partei für die Spanier. Der Krieg galt als ein aus „niederen Motiven", aus der Gier nach neuen Besitztümern und Zuckerplantagen von den Amerikanern angezettelter völkerrechtlich unhaltbarer Eroberungszug. 11 Den Amerikanern wurde die Schuld an den Unruhen in Kuba zugesprochen. Sie wurden als „kriegstreibende Kapitalisten" dargestellt. Für weite Teile der deutschen Presselandschaft bewies der spanisch-amerikanische Krieg nicht die Brutalität der spanischen Kolonialherren, sondern die Heuchelei der Amerikaner, die unter dem Vorwand der Humanität harte wirtschaftliche Interessen verfolgten. Es sei ein „Zuckerkrieg" um die Plantagen auf Kuba, in dem „amerikanische Trustmagnaten" gegen die spanische Ehre kämpften, und es sei ein „schmutziger Krieg", in dem weder M u t noch Ehre entschieden, sondern rohe Gewalt und überlegene Technik. 1 2 10 White übersah nicht die antideutsche Stimmung in der amerikanischen Presse, er sah darin eine der Hauptursachen für die schlechten deutsch-amerikanischen Beziehungen. Tatsächlich verwischte die Berichterstattung in der deutschen Presse den Eindruck der Neutralität in den Vereinigten Staaten. White, Andrew D., Aus meinem Diplomatenleben, Leipzig, 1906, S. 289 dazu auch Drechsler, Wolf gang, Andrew D. White in Deutschland. Der Vertreter der USA in Berlin 1879-1881 und 1987-1902, Stuttgart, 1989, S. 157 und Christof, Horst, Deutsch-amerikanische Entfremdung. Studien zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1913 bis zum Mai 1916, Würzburg, 1975, S.7. 11 Die Verdachtsmomente der deutschen Presse, Amerika würde den Aufstand schüren, waren nicht unbegründet. Estrada Palma, der frühere Präsident der kubanischen Republik während des Zehnjährigen Krieges koordinierte viele Aktivitäten der Aufständischen von New York aus. Die Gewerkschaften und die Presse unterstützten dies. Heorst und Pulitzer machten ein Vermögen mit Berichten über den kubanischen Aufstand. Labour Unions und die amerikanische Presse unterstützten dies. Vgl. Trask, The War with Spain, S. 2 ff. und Kennedy, The Samoan Tangle, S. 134. 12 Die Aufregung in der deutschen Öffentlichkeit über den „amerikanischen Griff" nach Kuba verdeckte die Bedeutung des vielleicht einzigen gefährlichen Moments zwischen Deutschland und Amerika in diesem Konflikt, des so genannten „Manila-Zwischefalls". Der Aufschrei in der deutschen Presse darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aufregung nicht sehr lange andauerte, bereits kurz nach dem Krieg war auch bei den Gegnern Amerikas eine Änderung der Tonlage festzustellen. Einen guten Überblick über die Berichterstattung in der deutschen Presse bietet Kaikkonen und zuletzt Hugo in seinem differenzierten Aufsatz. Vgl. Kaikkonen, Deutschland und die Expansionspolitik des USA, S. 137-170 xxn