Die Materieauffassung in der islamisch-arabischen Philosophie des Mittelalters [Reprint 2022 ed.] 9783112621264, 9783112621257


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Die Materieauffassung in der islamisch-arabischen Philosophie des Mittelalters [Reprint 2022 ed.]
 9783112621264, 9783112621257

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T. T I S I N I Die Materieauffassung in der islamisch-arabischen Philosophie des Mittelalters

TAYEB

TISINI

Die Materieauffassung in der islamisch-arabischen Philosophie des Mittelalters

AKADEMIE - VERLAG • B E R L I N 1972

Bearbeitung: Dr. Gerhard Bartsch und Irene Kaiser

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/7/72 Herstellung: IV/2/14 VEB «G. W. Leibniz». 445 Gräfenhainichen/DDR 3673 Bestellnummer: 5726 • ES 3 B 2 EDV-Nr.: 7519600 14,-

1. KAPITEL

Die sozialökonomische und -politische Struktur mittelalterlichen arabischen Gesellschaft

der

I Die gesellschaftliche Situation auf der arabischen Halbinsel vor der Entstehung des Islam Der Zeitraum, in dem sich die mittelalterliche arabische Philosophie herausbildete und entwickelte, reicht vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. Die Geschichte der Gesellschaft, die diese Philosophie hervorgebracht hat, ist untrennbar mit der Geschichte des Islam verbunden. Unter dem Islam wird hierbei nicht lediglich religiöse Dogmensammlung und Frömmigkeitsbewegung, sondern vor allem eine gesellschaftliche Bewegung verstanden, die tiefgreifende soziale, politische und geistige Umwandlungen in ihrem Einflußbereich hervorbrachte. Das im 7. und 8. Jahrhundert durch arabische Eroberungen entstandene feudale islamische Weltreich umfaßte zur Zeit seiner größten Ausdehnung einen Baum, der sich vom Aralsee und Iran bis nach Nordwestafrika und den Pyrenäen erstreckte. Die ökonomische Basis dieses Reiches bildeten mehr und mehr die feudalen Produktionsverhältnisse, die aus der eigenen Entwicklung im Lande sowie aus der Übernahme der feudalen Anfänge in den eroberten Gebieten entstanden waren, aber durch die Schaffung großer, auf feudalistische Weise bewirtschafteter Staatsländereien entsprechend modifiziert wurden. Dadurch — und in Verbindung mit technischen Errungenschaften, wie hochentwickelten, von Staatssklaven instandgehaltenen Bewässerungsanlagen — wurde eine Ausdehnung und Steigerung der Agrarproduktion erzielt und somit Bedingungen geschaffen, die verhältnismäßig früh den Übergang von der Naturalwirtschaft zur Warenwirtschaft ermöglichten. Auf der Grundlage der gesteigerten Agrarproduktion und einer gehobenen Technik entwickelte sich rasch auch die gewerbliche Produktion, so daß sich ein bedeutender Binnen- und Außenhandel entfalten konnte, der dank der sich durchsetzenden Geldwirtschaft, der Schaffung eines weitgehend einheitlichen Marktes, der Vorteile einer durch den Islam verbreiteten gemeinsamen Schriftsprache und der Bedürfnisse eines zentralisierten Staatsapparates in relativ kurzer Zeit einen be-

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trächtlichen Aufschwung erfuhr. Ein stabiles Handelsnetz, das selbst später nach Zerfall des Reiches in kleinere, einander feindlich gesinnte Fürstentümer weiterbestand, überzog das riesige Gebiet dieses staatlichen Gebildes. Durch das stärke Anwachsen des Handels errangen die Städte die wirtschaftliche Führung gegenüber dem Grundbesitz. Sie wuchsen zu Großstädten an und neue Städte entstanden. In den Städten entwickelten sich Manufakturen, entstanden Zünfte, entfalteten sich Künste und Wissenschaften. Buchara und Samarkand im Osten, Bagdad und Kairo in der Mitte, Cordöba im Westen wurden wirtschaftliche und kulturelle Zentren der mohammedanischen Welt. Die Entwicklung der Städte zu Brennpunkten der materiellen und geistigen Kultur, das Aufbegehren der gehobenen bürgerlichen Schichten gegen den feudalen Partikularismus waren ein Teil des beginnenden feudalen Zersetzungsprozesses, das Ergebnis eben jener antagonistischen Widersprüche des sarazenischen Feudalismus, die sowohl in den Masseniaufständen von Bauern, Staatssklaven und Plebejern als auch in manchen Fällen in den Spannungen zwischen arabischem Siegervolk und nicht-arabischen Völkern eklatant in Erscheinung träten. Erwachsen auf dem Boden dieser gesellschaftlichen Antagonismen, errangen die Wissenschaften um so bedeutendere Erfolge, je enger sich ihre Beziehung zu antifeudalen Bestrebungen und nationalen Unabhängigkeitskämpfen gestaltete. So entstand eine in ihrem Kern antifeudale und zum Materialismus tendierende Philosophie, die sich auf Erkenntnisse der mit der ökonomischen Praxis eng verbundenen Naturwissenschaften stützen konnte und sich das Erbe der klassischen griechischen Philosophie zugänglich machte. Die glänzendsten Vertreter dieser Philosophie, die rasch zur Ideologie der führenden wissenschaftlichen Intelligenz wurde, waren die Araber Ibn Sina oder Avicenna (980—1037) und Ibn Roschd oder Averroes (1126-1198). Die Spitze dieser antifeudalen Philosophie sowie die der Naturwissenschaften richtete sich offensichtlich gegen die orthodoxe islamische Religion, die als aktiver Teil des Staatsapparates und ideologische Autorität auf Seiten der rückschrittlicheren feudalen Staatsmacht zu finden war. In ihrer Wirkung unterschied sie sich von der christlichen Religion; sie war nicht mönchisch-einsiedlerisch, sondern gemeinschaftsfördernd und verfügte zudem in einem Reich, das Völker mit verschiedenen Sprachen in seine Herrschaft einbezog, über eine lebende 2

Sprache. Außerdem bestand neben der orthodoxen islamischen Theologie selbständig eine antiorthodoxe Wissenschaft. Die stürmische Entfaltung der Produktivkräfte, das Aufblühen der Städte, die Heftigkeit der Klassenkämpfe, die Entstehung einer von der orthodoxen Theologie unabhängigen Wissenschaft, das Heranreifen einer zum Materialismus tendierenden Philosophie — all diese Faktoren ermöglichten eine immer entschlossenere, grundsätzlichere Religionskritik, die von antifeudalen frühbürgerlichen Schichten der Intelligenz in Verbindung insbesondere mit plebejisch-revolutionären Gruppen getragen wurde.1 Die Geburts- und Heimstätte des Islam war Mekka, das sich schon vor Mohammeds Auftreten zur bedeutendsten Stadt auf der arabischen Halbinsel entwickelt hatte. Arabien wurde damals von zwei Haupthandelswegen durchzogen. Beide gingen von Hadramut im Süden aus. Der erste führte über den Persischen Golf bis Syrien, der zweite über das Rote Meer nach Ägypten und Syrien. Die Bedeutung Mekkas lag in seiner geographisch-strategischen Lage. Mekka, das am westlichen Handelsweg lag, der den Jemen mit Ägypten und Syrien verband, erlangte diese große Bedeutung besonders seit der Verlagerung des Handelsschwerpunktes von den Jemeniten zu den Hedschasiten am Anfang des 6. Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert litt der Jemen unter den verheerenden Kämpfen zwischen Persern und Abessiniern. 576 wurde er als Folge dieser Kämpfe zu einem persischen Satellitenstaat, der von einheimischen Arabern geleitet wurde. Auf der gesamten Halbinsel wurde die sozial-ökonomische Lage von den katastrophalen wirtschaftlichen Folgen dieser Kämpfe bestimmt. Nur für die Bevölkerung Mekkas, insbesondere für die Stammesaristokratie, ergaben sich Vergünstigungen durch die Verlagerung des Handelsschwerpunktes vom östlichen zum westlichen Handelsweg. In ganz Higäz galt Mekka (und zum Teil Medina) als Handelsmittelpunkt und heiliges Zentrum (in Mekka stand die Kaaba, die von den Arabern jährlich besucht wurde). In Mekka, das im Koran als unfruchtbares Tal bezeichnet wird,2 gab es nur einen einzigen Wasserbrunnen. Dadurch wurde allerdings die Art der materiellen Lebenserhaltung der Stadt bedingt. Diese geographisch-wirtschaftliche Notlage zwang die Mekkaer, nach Lebenserhaltungsgrundlagen zu suchen. Diese fanden sie fast ausschließlich 1 2

Siehe: H. Ley, Avioenna. Berlin 1953, S. lOff. Siehe: Der Koran, Leipzig, Reclam 1968, 14. Sure, Vera 40, S. 241. 3

im Handel. Vor dem 6. Jahrhundert war Mekka als Handelsstätte unbedeutend. Aber seine sich immer mehr festigende Lage verwandelte es in eines der Haupthandelszentren der ganzen Halbinsel, was eine gewisse Bevölkerungsumstrukturierung zur Folge hatte. Die nomadisierenden Stämme fanden hier, wie auch in anderen Städten, z. B. Sana im Jemen und At-täif im Higäz, bedingt durch den Handel, ein seßhaftes und wirtschaftlich mehr oder weniger gesichertes Leben vor. Dies schuf im Laufe der Zeit bei den Mekkaern ein allgemeines Interesse für den Handel. Man mußte dafür sorgen, daß dieser als Existenzgrundlage reibungslos funktionierte. Um die Handelskarawanen vor den räuberischen Beutezügen der Beduinen zu sichern, bildete sich ein mehr oder weniger anerkannter „Grundsatz" heraus, nach dem der Handel während vier Monaten im Jahr ungestört betrieben und die heilige Stätte ungehindert besucht werden konnte. Während der übrigen acht Monate hingegen waren Kriege und Beutezüge an der Tagesordnung.1 Trotz häufiger Verletzung dieses Grundsatzes trug er doch einigermaßen zur Regelung der Handelsbeziehungen bei. Mekka trieb Handel mit Byzanz, Mesopotamien, Indien sowie mit den arabischen Städten. Es ist hervorzuheben, daß die Weiterentwicklung des Handels besonders in Mekka, zu einem gewissen wirtschaftlichen Zusammenschluß der Stämme und einem — zunächst allerdings sehr begrenzten — einheitlichen Markt führte. In den zwei anderen Märkten des Hedschas ('Uqas und Thull magaz) konnte sich der Handel nicht zu einer ständigen Hauptquelle des wirtschaftlichen Lebens entwickeln. Außer bei den regelmäßigen Pilgerfahrten und dem damit verbundenen Warenaustausch entstand hier kein reges wirtschaftliches Leben. Dagegen schlug in Mekka ein solches Leben mehr und mehr feste Wurzeln. Somit entwickelte es sich zum „Hauptmarkt" der Halbinsel.2 Trotzdem gab es hier immer noch kein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gefüge; es war jedoch im Werden begriffen. Denn „die Stufe der Warenproduktion, womit die Zivilisation beginnt, wird ökonomisch bezeichnet durch die Einführung 1. des Metallgeldes, damit des Geldkapitals, des Zinses und Wuchers; 2. der Kaufleute als vermittelnde Klasse zwischen den Produzenten; 3. des Privatgrundeigentums und der Hypothek und 4. der Sklavenarbeit als herrschender Produktionsform"3. Auf dem Markt Mekka fand, besonders zu Pilgerzeiten, ein 1

Siehe: Hei, Die Kultur der Araber, Kairo 1956, S. 15 (arab.). 2 Siehe: ebenda, S. 17. 3 K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 170.

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vielseitiger reger Gedanken-, Erfahrungs- und vor allem Warenaustausch zwischen den verschiedenen arabischen und sogar zwischen den syrischen, persischen und abessinischen Händlern statt. Dies war für die wirtschaftliche Stabilisierung der Stadt von großer Bedeutung. Der wirtschaftliche und kulturelle Differenzierungsprozeß zwischen den Bewohnern Mekkas, anderer Handelsstätten und denen der zahlreichen Küstenstriche machte rasche Fortschritte. Unmittelbar vor der Entstehung des Islam, als die Kämpfe zwischen Byzanz und Persien zu einer unumgänglichen Begleiterscheinung des Lebens in diesen Staaten wurden, erreichte die Handelsentwicklung in Mekka einen hohen Grad. Sie wurde zu einer umfassenden gesellschaftlichen Triebkraft. Die Mekkaer nutzten die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Byzanz und Persien zu ihren Gunsten aus. Die Zahl der Karawanenkamele war außerordentlich hoch. Eine dieser Karawanen umfaßte nach Al-tabari 1500 Kamele. 1 Da die Beduinen den oben erwähnten Grundsatz des Handels unter den Arabern allzuoft verletzten, entwickelten sich die Lachmiden in Hira zu gemieteten Vermittlern und Beschützern der Handelskarawanen zwischen Persern und Arabern der arabischen Halbinsel. Die gleiche Rolle spielten die Gassaniden in Syrien hinsichtlich der Beziehungen zwischen den erwähnten Arabern und Byzanz. Die Lachmiden und Gassaniden betätigten sich darüber hinaus selbst als Händler. Im Zusammenhang mit diesem vielfältigen „internationalen" Handel bildeten sich in Mekka zwei sozial voneinander unterschiedene Schichten (Klassen) heraus. Auf der einen Seite galten die Beherrscher und Organisatoren des Handels meistens zugleich als Bankiers und Wucherer sowie als die privilegierte Kaaba-Geistlichkeit und -Aristokratie. An der Spitze der Mekkaer Bevölkerung standen die Kuraschiyyun. In ihren Händen lag die ökonomische, geistliche, politische und juristische Macht. Auf der anderen Seite befanden sich die freien und halbfreien Plebejer (al-cawämm) und die Sklaven (ariqqä') in einem wirtschaftlich schlechteren Zustand. Die Ausdehnung des Handels verlangte immer bessere Organisierung, Finanzierung und Rüstung. Die Kuraschiyyun waren mehr und mehr gezwungen, gemietete Bewachungs- und Verteidigungstruppen zur Begleitung der Handelskarawanen einzusetzen. Diese Truppen wurden aus den Plebejern und Sklaven Mekkas sowie anderer Städte und Wüstenstriche gebildet. Für die Plebejer stand meistens nur diese Möglichkeit der 1

Siehe: A. Amin, Anbruch des Islam, Kairo, 9. Aufl., 1964, S. 14 (arab.).

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Lebenserhaltung offen, während die Sklaven von ihren Herren dazu gezwungen wurden. Daraus zeigt sich, daß die ganze Bevölkerung Mekkas, Herrsehende (al-mala') sowie Plebejer und Sklaven, wirtschaftlich mehr oder weniger am Handel beteiligt oder interessiert waren. Die Zahl der Sklaven Mekkas nahm mit der Ausbreitung des Handels zu, denn sie selbst waren auch Handelsobjekt. In erster Linie wurden sie aus Afrika gekauft. Aber auch Araber wurden versklavt. Diese Sklaven rekrutierten sich aus Gefangenen, die in den Stammeskriegen gemacht wurden. Neben diesen zwei Hauptquellen der Versklavung in der Heidenzeit (Zeit der Unwissenheit) vor dem Islam gab es Versklavungen durch Menschenraub, Schuldsklaverei u. a. Formen.1 Dabei waren die Grenzen zwischen Freien und Sklaven vielfach fließend, denn durch Kriege konnten auch die Besiegten zu Sklaven gemacht werden. Innerhalb eines Stammes war dies fast ausgeschlossen. Mit zunehmender Bedeutung des Handels und des damit verbundenen kulturellen Aufschwungs wurde das Bewußtsein der Stammeszugehörigkeit unterhöhlt. Eine unmittelbare Folge davon war die beginnende Versklavung der eigenen Stammesgenossen. Allerdings konnten Sklaven auch aus verschiedenen Gründen freigelassen werden. Die freigelassenen Sklaven wurden Gefolgsmänner (mawali) genannt. Denn zwischen diesen und ihren ehemaligen Besitzern bestanden noch dahingehende Beziehungen, die die Freigelassenen unter Umständen verpflichteten, deren Gefolgsmänner zu sein. Die Sklaven und Plebejer betätigten sich jedoch nicht nur als Beschützer von Karawanen, sondern auch als Gewerbetreibende und als Krieger in den Reihen der Herren und Reichen oder auch als Ackerbauern. Allerdings wurde eine solche Tätigkeit nicht sonderlich hoch geachtet. Im Grunde konnten sie auf der unfruchtbaren Halbinsel nur wenig Ackerbau treiben. Das heißt, unter Berücksichtigung der bei ihnen herrschenden Moralnormen, einer patriarchalischen Ritterlichkeit, spielte das geographische Milieu eine wichtige Rolle. Ibn Chaldun bemerkte diese Erscheinung bei den vorislamischen Arabern. Ungerechtfertigterweise verabsolutierte er sie jedoch. Er schrieb, „daß die Araber von den Gewerben weiter als alle Menschen entfernt sind. Die Ursache ist, daß sie im Nomadentum mehr verwurzelt und daß i Siehe: M. 'Aglani, Genialität des Islam in den Regierungsgrundsätzen, Damaskus o. J., S. 23-24 (arab.).

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sie von der zivilisatorischen Verstädterung mehr entfernt sind . . . " 1 Die freien Araber „spezialisierten" sich also vorwiegend auf den Handel und die Eroberung. Aus diesen Aurführungen ergeben sich folgende wesentliche Charakterzüge der Struktur der arabischen städtischen Gesellschaft im Gebiet des Hedschas vor dem Islam: Diese städtische Gesellschaft bildete sich in einem historischen Prozeß heraus, und zwar aus drei gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich auf zwei gesellschaftliche Klassen reduzieren lassen: die Klasse der Händler und Wucherer einerseits und die der Sklaven, Gefolgsmänner und Plebejer andererseits. Die patriarchalischen Produktionsverhältnisse der verschiedenen Stämme existierten zwar noch, begannen sich aber schon aufzulösen; Neben diese Produktionsverhältnisse, die teilweise auf Naturalwirtschaft, auf beschränkter Viehzucht und auf Beutezügen beruhten, trat der Handel und damit der Wucher. Das Wucher- und Handelskapital erreichte in Mekka zu Beginn des T.Jahrhunderts den Höhepunkt seiner Entwicklung. Hier verlangten die Wucherer 40—100% Zinsen.2 Damit aber wurde die Grundlage für eine gewisse Stabilisierung eines wirtschaftlich geprägten Lebens gelegt. Wesentlich trug dazu die sich entwickelnde Geldwirtschaft bei. Verschiedene, wenn auch kleine primitive Zünfte wurden errichtet. Mekka selbst entwickelte sich auf diesem Wege nicht nur für die arabische Halbinsel zu einem Wirtschaftszentrum, sondern auch für andere Staaten, wie z. B. für Byzanz. Die Sklaven galten hier als „Menschen", d. h., im Gegensatz zum Sklaven im antiken Rom und Athen, der als „Sache" betrachtet wurde, genoß der Sklave auf der arabischen Halbinsel bestimmte Rechte, in erster Linie das Recht auf Leben. Die Abhängigkeit von seinem Besitzer beschränkte sich im wesentlichen auf eine Art Verfügungsrecht des Herrn in Handels-, Kriegs-, Handwerksoder Ackerbauangelegenheiten. Wenn es bei manchen primitiven Stämmen, wie den tamim, dazu kam, neugeborene Mädchen lebendig zu begraben, so betraf dies Mädchen sowohl Von versklavten als auch von freien Eltern. Für Knaben beider Kategorien galt dieser unmenschliche Brauch nicht. Darin lag eine gewisse Gleichberechtigung des Sklaven mit dem Freien. Im Zusammenhang mit den erwähnten sozialen Auf1 2

Ibn Chaldun, Prolegomena (al-muqaddima). Kairo o. J., S. 404 (arab.). Siehe: H. Lamens, LaMeoque ä la veille de L'hegire, S. 306—332. Zitiert nach: B. Djosi, Vorgeschichte der geistigen Bewegungen im Islam, Beirut o. J., S. 25, (arab.). 7

gaben der Sklaven in Friedens- und Kriegszeiten, mit ihrem traditionell anerkannten Recht auf Leben sowie mit dem Fehlen unüberbrückbarer Grenzen zwischen Sklaven und Freien bildete sich eine tiefgreifende Lockerung der Struktur der vorislamisch-arabischen Gesellschaft heraus. Die Zahl der Plebejer nahm mit dem Differenzierungsprozeß innerhalb eines Stammes sowie mehrerer Stämme zu. Dieser vollzog sich vor allem durch den zunehmenden Handel zwischen Ost und West und durch die damit verbundene Einführung des Wuchers in das wirtschaftliche Leben der arabischen Gesellschaft. Die wirtschaftliche Bereicherung der sich herauskristallisierenden Händler und Wucherer und die Verarmung der Plebejer und Sklaven gingen damit Hand in Hand. Die Plebejer waren besonders am Anfang des 7. Jahrhunderts eine Hauptbezugsquelle für Sklaven in den vorislamischen Städten, insbesondere in Mekka. Meistens kamen sie durch Wucherzins in die Schuldsklaverei.1 Ein „Ausweg" aus dieser Lage war für die Masse der Armen eben ihre Verwandlung von Freien zu Sklaven der betreffenden Wucherer. Die Schuldsklaverei entwickelte sich mit dem Aufschwung des Handels- und Wucherkapitals in Mekka zu einer Hauptform der Versklavung von Freien und schuf damit auch fließende Grenzen zwischen Plebejern und Sklaven. Aus der objektiv bedingten Verbindung zwischen diesen beiden sich rasch herausbildenden Klassen formten sich später die sozialen Motive der islamisches Bewegung. Sowohl unter den Plebejern als auch unter den Sklaven waren Handwerker. Die Entwicklung des Handwerks vollzog sich in Mekka und Medina im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Handels. Die unmittelbaren Lebensbedürfnisse der vorislamischen Araber waren durch die klimatischen Bedingungen ihrer Halbinsel bedingt. Ihre Kleider stellten sie aus dem Fell der Kamele und Ziegen sowie aus Häuten verschiedener Tiere her, ihre Häuser bauten sie aus Stein und Palmen. Ihre „Götter" fertigten sie ebenfalls unter anderem aus Palmen. Der „Tierarzt" vereinigte in sich Schmiedehandwerk und Pferdebehandlung und war somit wichtig für die Händler und Handwerker.2 Das Handwerk hatte in Mekka und Medina im allgemeinen keine besondere Bedeutung, aber es erfüllte die Bedürfnisse und Anforderungen der 1

Siehe: Der Koran, a. a. O., 2. Sure, Vers 276ff., S. 71f.; 30. Sure, Vers 38, S. 369. - Siehe: Hei, Die Kultur der Araber, a. a. O., S. 17.

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Einwohner und des Handels, besonders in den Zeiten der Handelsbasare, da diese von den einheimischen reichen Bewohnern ziemlich umfangreiche Vorbereitungen verlangten. Das besagt andererseits, daß die Entwicklung des Handwerks hier in einer organischen Verbindung mit der Entwicklung und Festigung des Handels und der Geldwirtschaft stand. Die Entwicklung der politischen und ökonomischen Verhältnisse wurde, zumindest bis zur Entstehung des Islam und der Festigung der Macht Mohammeds in Medina, von mehr oder weniger voneinander getrennt lebenden und oft gegeneinander kämpfenden Stämmen getragen. Der, allerdings unterschiedliche Einfluß von Handel und Wucher auf das wirtschaftliche Leben dieser Stämme lockerte deren patriarchalisches System, ohne es jedoch zu beseitigen. In Mekka selbst lag die wirtschaftliche Entwicklung vor allem in den Händen des Kuraschiyyun-Stammes. Was in diesem Zusammenhang die „Bodenfrage" angeht, so war innerhalb eines Stammes der Boden formell Allgemeingut aller Stammesmitglieder. In Wirklichkeit aber war der Boden — die Rede ist von landwirtschaftlich nutzbarem Boden — privilegierter Besitz des Stammesoberhauptes sowie einiger bevorrechteter Mitglieder. Ebenso spielte der landwirtschaftlich nutzbare Boden eine große Rolle in den Beziehungen zwischen den Stämmen. Die Auswanderung eines Stammes oder die Beutezöge gegeneinander kämpfender Stämme wurden in erster Linie von ökonomischen Faktoren hervorgerufen, wenn sie auch öfter von außerökonomischen Motiven überlagert wurden. Hier sei auf die Feindschaft zwischen 'auz und hasrag in Medina oder auch zwischen diesen beiden Stämmen und den Kuraschiyyun in Mekka hingewiesen. Daraus geht allerdings nicht hervor, daß hier Bodenbesitzverhältnisse im eigentlichen Sinne existierten. Denn dies setzt das Vorhandensein von ausreichenden fruchtbaren Bodenflächen, von Bewässerungsmöglichkeiten und damit einen bestimmten Entwicklungsgrad des Ackerbaues voraus. Das war aber nicht der Fall. Das Fehlen des Grundeigentums muß daher unbedingt für die Charakterisierung der sozialen Produktionsverhältnisse im vorislamischen Hedschas berücksichtigt werden. In einem Brief an K. Marx schrieb F. Engels 1853: „Die Abwesenheit des Grundeigentums ist in der Tat der Sohlüssel zum ganzen Orient. Darin liegt die politische und religiöse Geschichte. Aber woher kommt es, daß die Orientalen nicht zum Grundeigentum kommen, nicht einmal zum feudalen? Ich glaube, es liegt hauptsächlich im Klima, verbunden mit 9

den Bodenverhältnissen, speziell mit den großen Wöstenstrichen, die sich von der Sahara quer durch Arabien, Persien, Indien und die Tatarei bis ans höchste asiatische Hochland durchziehn. Die künstliche Bewässerung ist hier erste Bedingung des Ackerbaus,. . 1 Hierzu ist zu bemerken, daß das, was Engels hier auf das Klima zurückführt, mit der Entstehung und Entwicklung des Islam in den Hintergrund tritt. In einem langwierigen sozial-ökonomischen, politischen und kulturellen Prozeß, dessen erster Höhepunkt die Entstehung des Islam ist, bildete sich eine mehr oder weniger festgefügte Gemeinschaft der arabischen Stämme heraus, besonders derjenigen, die eine bestimmte Kulturstufe erreicht hatten. Schon seit Beginn der arabischislamischen Eroberungen nahm das Grundeigentum einen Platz im wirtschaftlichen Leben ein. Vor diesen Eroberungen gab es feudales Grundeigentum und die mit diesem verbundenen sozialen Beziehungen — Feudaladel und leibeigene Bauern — im Hedschas noch nicht. Der Islam entstand in einer Periode, in der das Handels- und Wucherkapital besonders in Mekka gewisse Höhepunkte erreichte, und wo sich demzufolge die Ausbeutung der Plebejer und Sklaven vervielfachte. Die Mitglieder eines Stammes wurden sowohl von „ihren" Reichen als auch von den Reichen anderer Stämme ausgebeutet. Die alten Zeiten der Blutsverwandtschaft und Stammesfehden, in denen jeder für den ganzen Stamm und der Stamm für jeden eintrat, waren vorbei. Als Ausdruck des Suchens nach einem Ausweg der unterdrückten und ausgebeuteten Masse der Plebejer und Sklaven im Hedschas — vor allem in Mekka und Medina —, zugleich aber auch als Ausdruck der Bestrebung zur Schaffung eines freien, vereinigten und wirtschaftlichkulturell entwickelten Volkes entstand die islamische Bewegung. » K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 28, Berlin 1968, S. 259.

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II

Der Islam und die Umwandlung der gesellschaftlichen Struktur der arabischen Gesellschaft bis zum Zerfall des Abbasiden-Kalifats im Osten und der Almohaden-Dynastie im Westen Nach altislamischen und anderen Überlieferungen1 war in Mekka und anderen arabischen Städten unmittelbar vor den Anfängen der islamischen Bewegung der politische und religiöse Boden für das Auftreten eines neuen, alle Stämme einigenden Propheten bereitet. Bei allen arabischen Stämmen, die mit dem Christentum und dem Judentum in Berührung kamen, wurde ein solcher „Abgesandter Gottes" erwartet. Mohammed (um 570 bis 632) war zur Zeit der Begründung des Islam 40 Jahre alt. Er lebte in Mekka und gehörte den Kuraschiyyun an. Er kannte die ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Der Islam war bei seiner Entstehung tatsächlich „in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend" 2 . Er spiegelte das vielfache Elend der Massen der Plebejer und Sklaven in einer illusorischen Form wider. Diese bedeutet hier nicht eine Verneinung unmittelbarer praktischer Ergebnisse zugunsten der Armen, sondern die Verneinung einer unmittelbaren Verknüpfung und Zurückführung dieser Ergebnisse auf phantastische außenweltliche Gründe. Das ist ein charakteristischer Zug des Islam als Religion und als sozialer Bewegung. Das Fehlen unüberbrückbarer Grenzen zwischen Plebejern und Sklaven schuf eine günstige Basis für das politische und soziale Zusammenwirken beider Gruppen. Der mehr oder weniger bewußte Protest der Plebejer und Sklaven gegen ihre Ausbeuter fand seinen unmittelbaren Ausdruck in Mohammeds Bewegung, die im Jahre 610 begann und nach dreijähriger illegaler Tätigkeit Öffentlich betrieben wurde. Der Kampf Mohammeds gegen die Mekkaer „Elite" (Mala') trug mittelbar politischen und sozial-ökonomischen Charakter. Er erwies sich hinsichtlich dieses Charakters und der Überzeugungskraft des mohammedanischen Zentralgedankens von der „Gottesalleinheit" 1

2

Siehe: Mohammed al-hucjari, Vorlesungen über Geschichte der islamischen Nationen, Kairo 1926, S. 8 6 - 8 7 , 89 (arab.)'. K . M a r x / F . Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 378.

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(wahdäniyyatul iläh) als überzeugend für Plebejer und Sklaven. Mit der Verschärfung dieses Kampfes wurde der sozial-ökonomische und politische Gehalt des Islam immer deutlicher. Der Differenzierungsprozeß innerhalb der Mekkaer Schichten ging rasch vor sich. Die Auseinandersetzungen nahmen z. T. bewaffneten Charakter an. Die Großhändler und Wucherer Mekkas, zu denen auch der Onkel Mohammeds „Abu gähl" zählte, erkannten die Gefahr, die für sie von Mohammed und seinen Anhängern ausging. Im Grunde wird diese Gefahr von den islamisch-orthodoxen Interpreten des Islam nur ihrer Erscheinung nach richtig begriffen, nämlich in ihrer religiösen Form, in der Idee eines alleinigen Allahs. Denn Mohammed stellte Allah, der schon vor ihm in Mekka — jedoch nur als eine unter vielen Gottheiten — verehrt wurde, 1 den zahlreichen Göttern und Götzenbildern der Mekkaer Mala' als den einzigen und alleinherrschenden Gott gegenüber. Und das war das Zentralproblem der mohammedanischen Gedankenwelt. Die Mekkaer Elite (Mala') jedoch sah in dem Monotheismus Mohammeds die Gefährdung ihrer Existenzgrundlage, die nicht zuletzt auf den verschiedenen Stämmen beruhte, die zur Kaaba pilgerten, um die hier befindlichen Götterbilder zu verehren. Das zeigt eindeutig den Klassencharakter der islamischen Bewegung, die in ihrer Entstehung von den großen Händlern und Wucherern Mekkas bekämpft wurde. Dabei wurden die Anhänger Mohammeds als die Niedrigen, Verächtlichen bezeichnet.2 Die Tätigkeit Mohammeds als Begründer des Islam muß in zwei Perioden eingeteilt werden. Die erste Periode beginnt mit Mohammeds illegalem Wirken im Jahre 610 in Mekka und reicht bis zum Abkommen von IJudeibiya im Jahre 628. Die zweite Periode reicht von diesem Abkommen bis zum Tode Mohammeds im Jahre 632. Die erste Periode zeichnet sich durch einen konsequenten Kampf Mohammeds und seiner Anhänger gegen die Mekkaer Mala' aus. Diese ganze Periode hindurch führten die Mohammedaner mit Mohammed an der Spitze ständige, auch bewaffnete Auseinandersetzungen gegen diese Mala'. Schon seit der Hidschra (al-higra)3 Mohammeds und seiner Mekkaer Anhänger 1 Siehe: R. Landau, Islam and the Arabs, Beirut 1962, S. 16 (arab.). 2 Siehe: Der Koran, a. a. O., 11. Sure, Vers 29, S. 213. 3 Higra • Hedschra — arab. — Auswanderung; bedeutet die Emigration Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahre 622 und wurde vom Kalifen Omar als Beginn der mohammedanischen Zeitrechnung festgelegt.

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nach Medina 622 änderte sich das Kräfteverhältnis zugunsten der letzteren. Jedoch erst mit der Niederlage der Mekkaer Mala' in der Schlacht von Badr (624) konnte die islamische Bewegung einen festen Boden unter den „fuqaräi wal mazäkin" (Armen und Unterdrückten) gewinnen. Die sich nach dieser siegreichen Schlacht ausbreitende islamische Bewegung unter den Massen der Plebejer und Sklaven in Medina, Mekka und anderen Orten sahen die Wucherer und Händler als Bedrohung ihrer Reichtümer, nicht so sehr ihrer alten Götter an. Daß die „Verächtlichen" an die Macht kommen sollten, schien ihnen gegen die Natur der Dinge zu sein, war für sie dem Weltuntergang gleiche zusetzen. Ihr Handeln war deshalb auf die Vernichtung der Muslime gerichtet. Mit Abu zufyän an der Spitze rüsteten sie erneut zu einem von ihnen finanzierten Feldzug (uhud) im Jahre 625. Die Ergebnisse dieser Schlacht zeigten, daß die Wucherer und Händler immer noch stark und einflußreich waren. Sie konnten die Schlacht gewinnen und ihre Positionen in Mekka verstärken und zum Teil unter den Mohammedanern Verwirrung schaffen. Trotzdem kam es nicht selten dazu, daß Sklaven in Mekka von ihren Besitzern in das Lager der Muslime flüchteten, wo sie als Freie behandelt wurden. Die weiteren Kampfentwicklungen zwischen beiden Lagern, besonders die Schlacht bei Handaq mit ihren verheerenden Folgen, führten schließlich zu dem Kompromiß, der im Abkommen von Hudeibiya fixiert wurde. Zu den Bedingungen des Abkommens gehörte die Einstellung der feindseligen Tätigkeit der Muslime gegen die Mala' in Mekka.1 Darin zeigt sich die politische und ökonomische Inkonsequenz Mohammeds im Kampf gegen die Mala'. Um ihre Positionen zu sichern und zu stärken, traten danach die großen Wucherer und Händler Mekkas selbst dem Islam bei, mit „Abu zufyän" an der Spitze. Das Abkommen von 628 öffnete im Grunde der Mekkaer Mala' Tür und Tor zur Aushöhlung dès Islam als einer Bewegung der Armen und Unterdrückten. Dies zeigte sich später besonders deutlich in dem Omajjadenkalifat. Die Weiterentwicklung des Islam in Medina und die arabisch-islamischen Eroberungen verschiedener Länder, wie Syrien und Irak (638), Ägypten (641) trugen dazu bei, die Klassenverhältnisse auf der arabischen Halbinsel und in den eroberten Ländern umzugestalten. Auf der arabischen Halbinsel wurden die patriarchalischen 1

Siehe : M. Al-^iK^ari, Vorlesungen über Geschichte der islamischen Nationen, a. a. O., S. 180. 13

2 Tisini, Materiebegriff

Stammesgemeinschaften mehr und mehr durch eine „islamische" einheitliche Gesellschaft abgelöst. Der theoretische Leitgrundsatz dieser Gesellschaft, der jedenfalls der wirklichen Entwicklung in bestimmten Aspekten, wie z. B. der Versklavung von Arabern, nicht entsprach, lautete: „la fadla Ii ,arabiyen' alä agamiyen iUä bit-taqwä" (Kein Vorrang eines Arabers vor einem Berber — Nichtaraber — außer in der Frömmigkeit) (Mohammed). Dabei entwickelte sich ein neues Verhältnis zwischen Sklaven und Herren zugunsten der ersteren, besserte sich der Lebensstandard der Plebejer und Kleinhandwerker und bildeten sich schließlich feudale Bodenverhältnisse heraus. Dabei ist festzustellen, daß der Islam, auch zur Zeit seiner Entstehung, die Sklaverei nicht von Grund auf beseitigen, sondern die Sklaven nur partiell befreien konnte. Die Muslime jeder Herkunft (sozial und geographisch) konnten nach den juristischen Satzungen des Islam, jedenfalls während seiner Entstehungszeit, nicht versklavt werden. Die Einführung dieses Prinzips hatte eine starke, auf die Befreiung von Sklaven gerichtete Bewegung zur Folge. So ist zu erklären, daß „die Menschen (unter ihnen viele Sklaven — T. T.) in die Religion Allahs scharenweise"1 eintraten.2 Die Versklavung wurde weiterhin dadurch beschränkt und eingeengt, daß auch die einer anderen monotheistischen Religion angehörenden Verbündeten des Islam (Christen, Juden u. a.) und die sich gegenüber seinem Ausbreitungsprozeß friedlich verhaltenden Gruppen und Völker nicht versklavt werden durften. Das zeigt allerdings, unter welchen sozialen Aspekten sich der Islam unter den verschiedenen Völkern verbreitete. Der Islam führte aber auch andere Normen zur Beschränkung der Sklaverei ein- Obwohl er nun •praktisch den Vorrang der Araber vor Menschen anderer Herkunft bejahte, indem er die arabischen Männer prinzipiell der Versklavung entzog, so stellte das soziale Anliegen des Islam trotzdem — verglichen mit den vorhergegangenen sozialen Verhältnissen auf der arabi1 Der Koran, a. a. O., 110. Sure, Vers 2, S. 673. Ali ibn abi talib berichtet nach abu dawud und al-tarmazi: „Sklaven gingen am Tage des hudeibiya vor dem Abkommen-Abschluß zum Propheten Allahs, Gott segne ihn und schenke ihm Heil. Da schrieben, an ihn ihre Besitzer sagend: O Mohammed! Bei Gottes Namen, sie kamen zu dir nicht deiner Beligion wegen, sondern sie flüchteten vor der Sklaverei. Und Leute sagten: Gib sie ihnen zurück! Darauf wütete er, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, und lehnte ab, sie zurückzugeben." (Zitiert nach A. Amin, Anbruch des Islam, a. a. O., S. 88).

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sehen Halbinsel — einen großen Fortschritt dar, insbesondere auch hinsichtlich der Schaffang eines wirtschaftlich-politisch und kulturell einheitlichen Territoriums. Unter den vorislamischen patriarchalischen Verhältnissen wurden Kinder von einem mit einer Sklavin verheirateten freien Vater als Sklaven angesehen. Dieses Prinzip wurde vom Islam abgeschafft. Jedoch galten die Kinder von Sklaven als Sklaven. Zu Sklaven wurden also diejenigen gemacht, die von Sklaveneltern geboren und die als Sklaven auf der Halbinsel oder aus anderen Ländern gekauft wurden. Jedoch muß bemerkt werden, daß die ständige Reproduktion der von Sklaveneltern abstammenden Sklaven durch die sich, besonders in der Omajjadenzeit, verbreitende Unsitte der Sklavenkastrierung immer mehr verringert wurde. Im wesentlichen blieb die Eroberung Hauptmittel zur Versklavung, d. h. zur Verwandlung von Freien in Sklaven. Aber auch selbst die freien Kriegsgefangenen mußten nicht unbedingt zu Sklaven gemacht werden. Wenn sie sich mit Geld oder anderweitig auslösen konnten, so wurde ihre Versklavung aufgehoben. Der Islam schlug einen anderen Weg zur Sklavenbefreiung ein, nämlich durch seine Förderung der Freilassung von Sklaven. In bestimmten Fällen mußte der sklavenbesitzende Gläubige einen Sklaven als Buße freilassen. Einen bedeutenden Schritt unternahm er auf diesem Gebiet dadurch, daß er einen aus der (zakät-Almosensteuer) herkommenden Teil des Staatshaushaltes im Haus des Geldes (beitil mal) für die Befreiung der Sklaven ausgab. Somit schuf der Islam eine breite Basis für die Einschränkung der Sklaverei. Weiterhin wurde damit auch das islamische Prinzip der Freiheit jedes Menschen — mit bestimmten schon erwähnten Ausnahmejällen — von der Geburt an ausgedrückt. Der Sklave galt im Islam als Mensch und nicht als Suche. Das ist ein wichtiges Merkmal für das richtige Verständnis der Rolle der Sklaven vom islamischen — oder exakter — mohammedanischen Standpunkt aus. Wenn Marx schreibt, „der Sklave verkaufte seine Arbeit nicht an den Sklavenbesitzer, sowenig wie der Ochse seine Leistungen an den Bauern verkauft. Der Sklave mitsamt seiner Arbeit ist ein für allemal an seinen Eigentümer verkauft"1, so ist das bezüglich der Stellung des Sklaven im antiken Griechenland und Rom zu verstehen. Hier verfügten die Sklavenhalter nicht nur über die „stummen" Werkzeuge i K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 6, Berlin 1959, S. 401. 15 2*

der Gesellschaft, sondern auch über die „sprechenden Werkzeuge", die unmittelbaren Produzenten, die Sklaven. Anders als der Sklave im Islam, hatte der Sklave hier z. B . nichts mit theoretischer Arbeit zu tun. Philosophie, Dichtung, Kunst z. B . waren im islamischen Bereich nicht nur Angelegenheit der herrschenden Klasse, sondern auch der Sklaven und anderer. I n vielen Fällen, in denen die Führungsschicht ihr hauptsächliches Interesse der Armee und dem Staatsapparat zuwandte, fiel sogar die theoretische Arbeit den Sklaven und anderen zu; Dies trifft auf die Omajjaden- und Abbasidenepoche zu. Mit der arabisch-islamischen Eroberungswelle, der Persien, Byzanz und Ägypten zum Opfer fielen, faßte die Geldwirtschaft in dem jungen Imperium festen Fuß. Eine stürmische Entwicklung des Warenaustauschs begann. Die technisch-wirtschaftlichen Errungenschaften in den genannten traditionellen Zivilisationsländern wurden von den Eroberern, besonders auf dem Gebiet der Bewässerungssysteme, mehr und mehr übernommen und weiterentwickelt. Neue Städte, wie Alba§ra und Al-küfa, entstanden. Ein hochinteressanter Mischungs- und Assimilationsprozeß auf allen Gebieten zwischen den Arabern und den Völkern der eroberten Länder vollzog sich. Der Feudalisierungsprozeß machte in diesem Imperium Fortschritte. Bereits unter den Omajjaden wurden wichtige Maßnahmen zur Festigung der Geldwirtschaft sowie zur Schaffung eines politisch-kulturell einheitlichen Staates getroffen. I n erster Linie ist dabei auf die Einführung einer neuen, für das ganze Reich gültigen Geldwährung sowie auf die Verwandlung der arabischen Sprache in eine für das ganze Reich offiziell gültige Sprache hinzuweisen, die zur Zeit des Kalifs 'Abdil-malik ibn marwan (684—705) verwirklicht wurden. Mit dem Aufschwung der Geldwirtschaft und damit des Warenaustausches gewann die Stadt als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum im islamisch-arabischen Reich immer mehr an Bedeutung. Das Geld als allgemeines Äquivalent setzte sich allmählich durch. Man tauschte Waren allerdings nicht immer gegen Geld, sondern auch gegen Waren. Die ganze Omajjadenepoche hindurch bis zu den Anfängen der Abbasidenzeit konnten die Bauern die Steuern in der Gestalt von Naturalien an den Staat bezahlen. Das änderte sich im 9. Jahrhundert, wo „die der Zentralgewalt zustehende Steuer weitgehend Umstellung von Naturalien auf Geld" 1 erfuhr. 1

H. Loy, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, Berlin 1957, S. 27.

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Die Omajjadendynastie errichtete eine militärisch-administrative Herrschaft, die auf der Stammesaristokratie beruhte. Die demokratische Tendenz des Islam verblaßte unter dieser Dynastie und machte der Herrschaft einer ökonomisch und politisch privilegierten Clique Platz. Die allgemeine Orientierung dieser letzteren gegenüber den Nichtarabern und Mischlingen im Imperium, seien sie Sklaven oder Freie, bestand darin, die entscheidenden Stellungen im staatlichen Apparat und auch — und das ist wichtig — in der Armee für sich beizubehalten, während sie den anderen den Ackerbau, das Handwerk, die Wissenschaft und die Kunst überließen. Der Sturz der Omajjaden im Jahre 750 erfolgte aus sozial-wirtschaftlichen Ursachen, bei denen auch der Widerstand anderer Völkerschaften eine Rolle spielte. Die nun folgende AbbasidenherrBchaft stützte sich in erster Linie auf die unterdrückten Nichtaraber (Mawäli), auf die ausgebeuteten Staatssklaven und Bauern «owie auf die besitzlosen städtischen Plebejer und schließlich auf die rebellierenden Schiiten und Charidschiten. Die weiteren Ereignisse im Abbasidenreich zeigten jedoch, daß sich die Abbasiden auf diese Gruppen und Klassen nur stützten, um die Omaj jaden zu zerschlagen und die Macht an sich zu reißen. Zwar kam es in diesem Bereich zu einem Bündnis zwischen den Abbasiden und den persischen Barmakiden. Jedoch dauerte dies nicht die ganze Zeit der Abbasidenherrschaft hindurch, sondern fand sein Ende im Jahre 803, als die Barmakiden entmachtet und abgeurteilt wurden. Im wesentlichen betraf dieses Bündnis auch nur die Großgrundbesitzer unter den Persern. Die armen Bauern, Staatssklaven und städtischen Plebejer der unterworfenen Völker und Araber, die durch ihre Beteiligung am Krieg gegen die Omajjaden eine entscheidende Rolle gespielt hatten, befanden sich nach wie vor im ausgebeuteten und unterdrückten Zustand. Die Entwicklung von Wirtschaft und Kultur nahm im Abbasidenimperium unter dem Kalifat von Harün ar-raiid (786—809) und Almamun (813—833) einen steilen Aufschwung. Senkung der Steuern für die Bauern, die Errichtung großer Bewässerungsanlagen und damit die Erschließung und Fruchtbarmachung großer Bodenflächen, waren in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Die Bodenkultur, der Haridel sowie die Warenproduktion und das Handwerk einschließlich des Zunftwesens erreichten einen hohen Stand. Mit einer umfassenden Geldwirtschaft entwickelte sich ein starkes Handelskapital, das unmittelbar den Prozeß der materiellen Reproduktion förderte, da ein großer Teil dieses Kapitals zum Ausbau oder gar zur Neugründung 17

von Produktionszweigen eingesetzt wurde. Die Abbasidenzeit war in ihrer ersten Phase durch ein bis dahin einmaliges Aufblühen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens gekennzeichnet. Zugleich aber gab es zahlreiche Aufstände der Bauern und Sklaven in den verschiedenen unterworfenen Ländern gegen die soziale Unterdrückung durch die lokalen Fürsten und Heerführer, die als Vertreter des Kalifen regierten. Der Kampf um die Durchsetzung der sozial-ökonomischen und politischen Forderungen der Bauern, Sklaven und Plebejer war also ebenfalls ein wichtiges Merkmal des Abbasidenreiches. Oft war er mit Unabhängigkeitsbestrebungen der unterdrückten Völkerschaften verbunden. In der Geschichte der abbasidischen Epoche gab es einen der größten Aufstände der Bauern, Sklaven und städtischen Plebejer, den BabekAufstand (816—838) im Iran und in Aserbaidshan. An diesem Aufstand beteiligten sich Iraner, Kurden, Türken und Araber. Insgesamt zeigt sich also eine uneinheitliche Entwicklung dieses Riesenreiches, bei der die Selbständigkeitsbestrebungen der Emire und Heerführer eine große Rolle spielten. Zusammenfassend ist festzuhalten: 1. Die arabische Gesellschaft durchlief in der Heidenzeit die patriarchalische Phase und entwickelte sich nicht über die Sklaverei zum Feudalismus, sondern ging im wesentlichen zu diesem über, ohne daß sich die Sklaverei als eine umfassende ökonomische Gesellschaftsformation herausgebildet hatte. 2. Die patriarchalische Gesellschaftsform wurde demzufolge in Arabien nicht durch die Sklavenhalterordnung, sondern durch eine Mischung aus dieser sowie aus feudalen und frühbürgerlichen Elementen abgelöst. Hervorgehoben werden muß, daß die Sklaverei als Begleiterscheinung schon seit der patriarchalischen Epoche bis zum Verfall des darauffolgenden islamisch-arabischen Reiches existierte. Andererseits wurde die patriarchalische Form auch nicht vom Feudalismus abgelöst, denn die Mekkaer Handels- und Wuchereraristokratie wurde ja nicht von einer sich herausbildenden Bodenaristokratie oder gar von Bauern bekämpft. Der Islam entstand unter anderem als Ausdruck der zunehmenden Bedürfnisse des straff organisierten weltoffenen Handels, der von ständig gegeneinander kämpfenden Stammesgemeinschaften nur begrenzt betrieben werden konnte. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse hatte die Hebung des sozial-ökonomischen Standards der Sklaven und der Plebejer zur Folge. Anders ausgedrückt, die Hebung dieses Standards konnte nur erfolgen, indem neue gesellschaftliche 18

Verhältnisse geschaffen wurden, in denen die sozialen Unterschiede nicht zu kraß waren. Historisch gesehen, wurde das über die Eroberung anderer Länder und die Organisierung der Handelswege verwirklicht. Will man die sozial-ökonomische Grundstruktur des Sarazenenreiches bestimmen, so ist folgendes zu sagen: „Im sarazenischen Feudalismus lassen sich . . . nebeneinander Elemente der Sklavenhaltergesellschaft, Elemente feudaler Zersplitterung und Anfänge einer Zentralisierung feststellen, die sich auf Faktoren gründen, mit denen das Werden einer bürgerlichen Gesellschaft beginnt."1 Während der Eroberungswelle zur Zeit der Omajjadenherrschaft wurde Spanien — außer dem Berggebiet von Asturien — (in der Zeit von 711 bis 718) von den Arabern unterworfen. Nach dem Sturz der Omajjaden in Damaskus (750) flüchtete der Omajjade Abdir-rahmän I. nach Spanien und begründete dort 756 das Emirat von Cordoba. Daß die Araber das feudale verfallene Spanien so leicht erobern und unterwerfen konnten, erklärt sich vor allem aus ihrer großen zivilisatorischen Rolle. Als Wichtigstes führten sie zunächst die Enteignung der Großgrundbesitzer, die Verteilung des Bodens an die verarmten besitzlosen Leibeigenen sowie die beträchtliche Senkung der Steuern für die Bauern, freien und halbfreien Plebejer durch. Da der Übertritt zum Islam für die Sklaven und armen Freien unter den Bauern und Plebejern ihre völlige Befreiung von den Steuern sicherte, traten sehr viele von ihnen dem Islam bei. Die einer monotheistischen Religion angehörigen Nichtmuslime (Juden und Christen) konnten weiterhin ihren Glauben beibehalten. Allerdings mußten sie an die Zentralmacht pro Kopf und Jahr einen goldenen Dinar als Steuer entrichten. Das heißt, daß die von den Arabern unternommene Umgestaltung der spanischen Gesellschaft in erster Linie auf eine Erschütterung, wenn nicht Beseitigung, des Feudalismus und der Sklaverei sowie auf die Durchsetzung einer auf weltoffenem Handel und Geldwirtschaft beruhenden frühbürgerlichen Gesellschaft abzielte. Deshalb wurden die Araber von der Masse der Leibeigenen, freien und halbfreien Plebejer und Sklaven in Spanien nicht als Eroberer, sondern als Befreier betrachtet. Toleranz zeigten sie gegenüber den Christen und Juden. Die eroberten Städte Cordoba, Granada und andere wurden von den einheimischen Juden verwaltet. Die Folge war, daß Spanien unter der arabischen Herrschaft, insbesondere seit der Zeit der westlichen 1

Ebenda, S. 25.

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Omajjaden, einen erheblichen Aufschwung auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet erlebte. Die Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens hatte das Hervortreten neuer gesellschaftlicher Klassen und Schichten zur Folge. Die frühbürgerliche Entwicklung war eng mit dem Aufblühen der Städte verbunden. Cordoba, die Zierde der damaligen Welt, 1 war ein glänzendes Beispiel dafür. Seine Bevölkerung zählte unter der Omajjadenherrschaft eine halbe Million. Allein mit der Seidenherstellung, die hier einen Höhepunkt erreichte, waren etwa 13000 Menschen beschäftigt. Es hatte 70 öffentliche Bibliotheken, 300 öffentliche Bäder, 700 Moscheen, viele staatliche, kostenlose Schulen für arme Kinder, die berühmte Universität von Cordoba und die Bibliothek von Al-hakam II., die über 400000 Bände umfaßte.2 Die Omajjaden, schreibt H. Ley mit Recht, „führten im Westen durch, was ihre gleichnamigen Vorgänger im Osten zu verhindern gesucht hatten. Während sie in Bagdad eine Dynastie des Feudaladels und der nationalen Unterdrückung errichteten, wirkten sie nun im Westen progressiv, indem sie die vorhandenen feudalen Verhältnisse und Reste der Sklaverei zerschlagen halfen . . . " 3 Eine der entscheidenden Ursachen hierfür besteht zweifellos darin, daß die Omajjaden, die im Westen einen einheitlichen starken Staat bildeten, diesen nicht auf den Trümmern verschiedener gegeneinander kämpfender feudaler Fürstentümer und nicht auf der Grundlage von Diskriminierung und Unterdrückung der Einheimischen errichteten. Etwa seit 1031 wird der Zerfall dieses Reiches deutlich. Der zentralisierte Staat, in dem die aufkommende Geldwirtschaft, der weltoffene Handel, die auf hochentwickelter Bewässerungstechnik beruhende Landwirtschaft und das vielseitige Gewerbe Höhepunkte erreichten, löste sich unter dem zunehmenden Druck der feudalen Zersplitterungstendenzen zur Zeit der Herrschaft des Mohammed ibn ali amir al-mansür in mehr als 20 Kleinfürstentümer auf. Schon kurz nach seinem Tode kam es zum Bürgerkrieg.4Die Herrschaft dieser Kleinstaaten konnte sich nicht 1

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Siehe: T. J . de Boer, Geschichte der Phfloaophie im Islam, Stuttgart 1901, S. 154. Siehe : R . Landau, Islam and the Arabs, a. a. O., S. 177. Hei, Die Kultur der Araber, a. a. O., S. 119. H. Ley, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, a. a. O., 8. 54 f. Siehe: M. Bizar, Über die Philosophie des Ibn Koschd, Kairo 1954, S. 21 (arab.).

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lange halten. Sie wurde ihrerseits von den neuen marokkanischen Eroberern, den Almoraviden, abgelöst. In Spanien und Nordafrika (Marokko) errichteten sie unter Führung von Jusuf ibn taSfin auf der Grundlage des islamisch-arabischen Erbes einen zentralisierten Staat. Wenn sie die großen wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften ihrer Vorgänger im islamisch-arabischen Spanien auch nicht zunichte machten, so entwickelten sie diese zumindest nicht weiter. Auf bestimmten Gebieten wirkten sie sogar regressiv. Dazu zählt ihre fanatische Verfolgung der einheimischen Christen und Juden unter Ali ibn jusuf ibn taifin (1107—1143). Zu ihrem Sturz kam es 1147 durch progressive und freigeistige Berber, die Almohaden, die aus Nordafrika kamen und in Spanien bis 1212 herrschten. Ihre Herrschaft war von wesentlicher Bedeutung für die Wiederbelebung der GeldWirtschaft und des Handels. Sie schufen unter Abu jaqub jusuf (1163—1184) und nach ihm unter Abu jusuf al-mansür (1184—1199) einen Staat, in dem Muslime, Christen und Juden gemeinsam an der Entwicklung der Landwirtschaft, des Handels, des Gewerbes sowie der Wissenschaft teilnahmen. Ibu Tymart, der Begründer der berberisch-islamischen Sekte, der Mohaden, starb 1130, bevor diese die Almoravidendynastie zurückdrängten. Im wesentlichen fiel die Blütezeit des islamisch-arabischen Spaniens mit der Periode der Almohadenherrschaft zusammen. Die Almohaden, die sich i n Spanien sechs Jahrzehnte behaupten konnten, mußten schließlich unter dem Druck der militärisch vereinten benachbarten christlichen Länder sowie unter dem Druck der zunehmenden inneren feudalen ßeaktion ihre Herrschaft aufgeben. 1212 siegten die vereinten Kräfte Kastilliens, Aragons, Navarras und Portugals über den letzten Almohaden-Emir Muhammad annasir in der Schlacht bei las Navas de Tolosa.

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2. KAPITEL

Die geistige Situation und die Herausbildung von Philosophie und Naturwissenschaften im islamisch-arabischen Reich

Der Islam entstand in Arabien zu einer Zeit, als es dort keinerlei Wissenschaft und Philosophie gab. Erst durch die Entstehung des Islam wurden Voraussetzungen zu ihrer Herausbildung geschaffen. Um das zu verstehen, ist es erforderlich, einen Blick auf die geistige Situation der Heidenzeit, der Zeit vor dem Islam, zu werfen und den ideologischen Aspekt des Islam sowie die Einflüsse zu analysieren, die von verschiedenen Gedankenwelten auf ihn ausgeübt wurden. In Arabien war vor dem Islam neben dem Christentum das Judentum verbreitet. Auch das Heidentum nahm im geistigen Leben der Araber einen beachtlichen Platz ein. Weiterhin sind die Dahriten hervorzuheben, die als die „Atheisten" dieser Zeit galten. Hauptsächlich kam es aber infolge eines regen Handelsverkehrs zwischen Persien und Byzanz, dessen Vermittler die Araber waren, sowie zwischen Persern einerseits und Byzantinern andererseits zu geistiger Beeinflussung. Persische und byzantinische Einflüsse auf die Araber waren unterschiedlich vorhanden. In diesem Kreis bewegte und formte sich das Bewußtsein des arabischen Menschen jener Epoche, vor der Entstehung des Islam im 7. Jahrhundert. Das Judentum in Arabien existierte schon mehrere Jahrhunderte vor der Entstehung des Islam. 1 Seine Heimstätte war Jathreb (Medina). Außerdem war es in vielen anderen Ortschaften der arabischen Halbinsel verbreitet, wie inTeimä, Jjeiber u.a. In Jathreb selbst waren drei jüdische Stämme: beni qureisa, beni qoinuqä und beni nadir. Die Frage, woher die Juden der arabischen Halbinsel kamen, ob sie aus Palästina nach ihrer Niederlage gegen die Byzantiner ausgewandert waren, wie Abul-farag al-asfahäni in seinem Buch „Al-agani" berichtet, oder ob sie einheimische Araber waren, die die jüdische Religion an1

Siehe: A. Amin, Anbruch des Islam, a. a. O., S. 23.

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genommen hatten, wie Jaqut in seinem „Al-mugamm" bezüglich der Juden im damaligen Jathreb behauptet, 1 ist für das Studium des ideologischen Bewußtseins der Araber der patriarchalischen Gesellschaft von nicht geringer Bedeutung, da die Juden in Alexandria, wie am Mittelmeer überhaupt, unmittelbar von der hellenistischen Kultur beeinflußt waren. Die arabischen Juden hatten großen Anteil an der Übersetzung antiker griechischer Werke ins Arabische. Nach dem Bericht Abul-farag al-asfahänis ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Juden, Araber und Nichtaraber, die auf der Halbinsel vor dem Islam lebten, mit ihrer Religion im Zusammenhang mit von den anderen Völkern übernommenen Kulturtraditionen das vorhandene Bewußtsein der Araber in der patriarchalischen Zeit unmittelbar beeinflußten. Das Judentum, das vor dem Islam in Alexandria und in den Ländern am Mittelmeer mit seiner Vorstellung vom auserwählten Volk sozialpolitisch und geistesgeschichtlich keine progressive, sondern eine restaurative extrem religiöse Bolle spielte, vermochte hier in Arabien, besonders durch seine monotheistische Gottheitsidee, positiv zu wirken. Vor allem in den Städten und Ortschaften, in denen Handel und Heidentum (Götzenbildertum) blühten, entbrannte ein Kampf zwischen den Monotheisten (in diesem Falle den Juden) und Polytheisten (Götzendienern). Mekka dient dabei als bestes Beispiel: Für die heidnische Mekkaer Mala' stellte die jüdische — genauso wie die christliche — oder auch später die islamische monotheistische Gottheitsidee in erster Linie eine Gefahr für ihre Herrschaft dar. Denn die vielen Götzenbilder in der Kabba in Mekka — man berichtet, daß vor der Herrschaft des Islam sich 305 solcher Götzenbilder in der Kaaba befanden 2 — waren eine ständige Quelle des Reichtums für die Mala'. Von überall kamen die Pilger nach Mekka, um der Kaaba und den in ihr vorhandenen Götzenbildern Opfer darzubringen, und zwar gegen eine bestimmte Geldsumme, die an die dafür Verantwortlichen der Mala' entrichtet werden mußte. Weiterhin wurde das patriarchalische arabische Bewußtsein auch vom Christentum beeinflußt. Dieses verbreitete sich, wie auch das Judentum dort, wo gewisse Handwerke und ein gewisser politischer Zusammenhalt vorhanden waren. In solchen Städten wie Hira und Nagrän, nicht aber in den Ortschaften der primitiven Beduinen, fand 1 2

Siehe: ebenda, S. 23-24. Siehe: R. Landau, Islam and the Arabs, a. a. O., S. 15-

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das Christentum einen Nährboden. Es war mit Elementen der griechischhellenistischen Kultur vermischt. Von den Byzantinern wurde das Christentum im 4. und 5. Jahrhundert v . u. Z. nach Abessinien getragen, und von dort kam es nach Südarabien.1 Das religiöse Moment des städtischen arabischen Bewußtseins wurde durch das vordringende Christentum und Judentum verstärkt; aber das Heidentum besaß immer noch starke Positionen, insbesondere in Mekka. Jedoch stellte die Verbreitung des Christentums und Judentums auf der arabischen Halbinsel einen Fortschritt hinsichtlich eines abstrakteren weltanschaulichen Denkens gegenüber dem Heidentum dar. Die Stufe der unmittelbaren Sinneserkenntnis und Personifizierungen in den Götzenbildern der Mekkaer Mala' lag unter der des abstrakteren Monotheismus des Christentums und des Judentums. Die Götter wurden als personifizierte Naturmächte dargestellt. Die Auffassung, daß in allem eine Seele enthalten sei, zeigt die hylozoistische Ausrichtung dieses Denkens. Diese Überzeugung herrschte vor allem bei den alten, nicht seßhaften Beduinen. Ein bestimmtes kausales Denken war diesem Bewußtsein immanent. Regen und fruchtbaren Boden, Kamel und Schaf dienen dem Leben der Beduinen, und deshalb bedingen sie einander und hängen voneinander ab. Die Kräfte oder Seelen, die diesen Naturerscheinungen und Tieren innewohnen, sind natürlicher Herkunft. Eine gewisse Selbständigkeit erlangen sie gegenüber den von ihnen beseelten Dingen, jedoch bleibt die Zugehörigkeit zwischen diesen Kräften und ihren Trägern erhalten. Der Satan — äeitän — wohne jedem bösen Ding inne. Er ist die Seele desselben. Solche Anschauungen findet man jetzt noch unter den primitiven und rückständigen Beduinenstämmen in Saudiarabien, dem Jemlen und dem Irak. Diese Beduinen konnten weder schreiben noch lesen. Sie waren ihren Sippen und Stämmen untergeordnet. Dabei besaß jede Sippe oder jeder Stamm seine abgesonderte Gedankenwelt. Diese war mit den elementaren Lebensbedürfnissen der Sippen und Stämme untrennbar verbunden. Mit dem Vordringen des Judentums und des Christentums bekam der Hylozoismus auf weltanschaulichem Gebiet eine ausgeprägt religiöse Form. Über Christentum und Judentum hinaus wurde die Weltanschauung der arabischen Nomaden auch durch Elemente der alten persischen, indischen, griechisch-römisohen und ägyptischen Rei Siehe: ebenda, S. 22.

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ligionen und Mythen^ die die Händler und Beisenden aus anderen Ländern mitbrachten, geformt. Neben diesen Religionen gab es auch eine mehr atheistisch-materialistische Weltanschauung, die vor allem von den Dahriten, die eine kosmische Urkraft annahmen, vertreten wurde. Schahrastanis Arbeit „Religionsparteien und Philosophieschulen" stellt hierfür ein wichtiges Dokument dar. Von ihm, dem idealistischen Philosophiehistoriker, wurden die Vertreter dieser Richtung, gestützt auf eine orthodoxe Auslegung des Koran, entschieden abgelehnt. 1 Er klassifizierte sie nach drei Gruppen: Leugner des Schöpfers, der Auferstehung und der Rückkehr; Leugner der Auferstehung und der Rückkehr und schließlich Leugner des Propheten. Bei der Behandlung dieser Gruppen stützt sich Schahrastani auf den Koran. Das zeigt, daß sogar von Seiten des Islam die Existenz materialistischer und atheistischer Auffassungen in der Heidenzeit anerkannt wird. Ihre Träger waren Sklaven und Plebejer, aber auch finanziell ruinierte Kaufleute. Es gilt als sicher, daß die Dahriten durch den umfangreichen Handelsverkehr der Araber mit den Persern von den Zrwanisten Persiens beeinflußt wurden. Begünstigt wurde dies durch die unmittelbare Verbindung und Berührung der Araber mit den Persern und dem von Persien gegründeten, jedoch von den arabischen Lachmiden regierten Fürstentum Hira. De Boer meint, der Zrwanismus kam „unter dem Sassaniden Jozdegerd II. (438/39 bis 457) sogar öffentlich zur Anerkennung"2. Als Urgrund des Universums wurde in dieser Lehre die Zeit angesehen. Diese sei unerschaflfbar und unendlich. Manche Dahriten lehnten Gott überhaupt ab: „Und nur die Zeit bringt uns zugrunde." 3 Schahrastani nennt keinen der Vertreter dieser radikalen Richtung. Nach Schahrastani erkannten die anderen die Existenz eines Gottes an, lehnten aber die Auferstehung und Wiederkunft ab. Diese Differenzierung wird von Schahrastani rein konstruktiv hervorgehoben. Er führt den Vers eines unbekannten Dichters an: Leben, dann Tod, dann Auferstehung Dies ist eine Illusion, o amrs Mutter. 4 1 2 3 4

Siehe: Schahraatani, Religionsparteien und Philosophieschulen Bd. 2, Kairo 1961, 8. 235-249 (arab.). De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 15. Der Koran, al-g&thiya, Vers 24. Schahrastani, Religionsparteien und Philosophieschulen, a. a. O., S. 236.

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Dabei nimmt er an, ohne jedoch eine auf Fakten beruhende Begründung zu geben, daß dieser Vers die Existenz eines Schöpfers bejahe, wenn auch die Auferstehung darin verneint werde. Hingegen könne man sagen, daß diejenigen, die die christliche Auferstehung ablehnten, auch nicht an einen Weltschöpfer geglaubt haben können. Diese naiv materialistischen Anschauungen waren nicht stark genug, um der Vielgötterei oder auch der Idee vom Vorhandensein nur eines Gottes entgegenzutreten. Der Islam knüpfte an das Christentum, Judentum, aber auch an das Heidentum an. Das geschah trotz der Einwände des Islam gegenüber diesen Religionen. Doch die materialistischatheistische Tendenz der Heidenzeit ging mit der Entstehung und Weiterentwicklung des Islam nicht verloren. Sie entwickelte sich unter verschiedenen Formen weiter. Nach der Entstehung des Islam bildete sich eine neue Gedankenwelt heraus. Das eigentlich Neue im Islam gegenüber dem Judentum und Christentum bestand in seiner relativ progressiven Weltoffenheit und Toleranz. Dies zeigt sich klar im Vergleich mit dem orthodoxen Christentum. Wenn man das Verhältnis zwischen Mensch und Gott anhand der damaligen Trinitätslehre untersucht, stellt sich ein Zusammenhang, allerdings ein willkürlicher, zwischen Gott, Mensch und Geist heraus. Es besteht danach keine unüberbrückbare Kluft zwischen diesen. Der Mensch (Christus) ist ein Teil Gottes oder der Zeit und dem Wesen nach Gott ähnlich. Im Islam hingegen besteht eine tiefe Kluft zwischen Gott und Mensch. Gott schuf den Menschen danach nicht aus sich oder aus irgendeinem Stoff, sondern aus dem Nichts. Der Koran behauptet: „Siehe, Jesus ist vor Allah gleich Adam; er erschuf ihn aus Erde, alsdann sprach er zu ihm: ,Sei!', und er ward."1 Die Mystiker und Philosophen im Islam mußten darum kämpfen, daß das Verhältnis zwischen Gott und Mensch vermenschlicht werde. So erklären sich das starke Auftreten des Pantheismus und die Übernahme der Emanationslehre. Im Christentum ist der Mensch ganz von Gott abhängig. Im Islam hängt die Erlösung des Menschen von ihm selbst ab. Die Erbsünde, die vom Christentum durch persönliches Leiden getilgt werden soll, stellt vor den Muslim bestimmte konkrete profane Aufgaben zur Aufhebung ihrer Folgen. Nicht das passive Leiden, wie im Christentum, sondern der religiöse Kampf ist der Weg der islamischen Erlösung. i Der Koran, a. a. O., 3. Sure, Vers 52, S. 80.

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Die Erlösung erhielt im Islam einen anderen Inhalt, indem hier an den einzelnen, aktiv handelnden Menschen appelliert wurde. Im Islam des 7. Jahrhunderts fehlte das Priestertum, bzw. es wurde bekämpft. Dieser Umstand förderte die Entstehung von heterodoxen Richtungen innerhalb des Islam und selbst von Bichtungen, die ihn bekämpften. Das Problem der Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen, das im Christentum eine wesentliche Rolle spielt, fehlt im Islam. Anläßlich Mohammeds Tod am 8. Juni 632 sprach der künftige Kalif Abu-bakr zu den Muslimen: „Wer für Mohammed betet, so ist Mohammed gestorben, und wer für Allah betet, so ist Allah lebendig, unsterblich."1 Der Mensch steht vor — oder unter — Allah allein, ohne die vermittelnde Rolle der Kirche. Allah ist überall, auch in jedem Menschen. Deshalb ist eine besondere Vereinigung mit Gott nicht notwendig. Seine Ideale kann der Mensch in dieser Welt verwirklichen. Gott kann zu jedem einzelnen gelangen, nicht aber umgekehrt. In dieser Hinsicht vertrat der Islam eine religiös pantheistische Auffassung über die Einheit der Welt. „Und er ist Allah in den Himmeln und auf Erden. Er kennt euer Geheimnis und Öffentliches und weiß, was ihr verdient."2 Der islamische Pantheismus ist einseitig, d. h. er schließt jede aktive gegenseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch aus. Der Mensch ist hier, in dieser Sicht, ein passives Geschöpf Allahs. Er ist viel weniger als die Hyle des Aristoteles, denn er wird von Allah aus dem Nichts geschaffen, und hat in diesem Sinne nur seine einzelne Gegenwart. Wenn die Hyle des Aristoteles bezüglich ihrer geschichtlichen Existenz viel höher als der Mensch im Islam gestellt wird (sie ist in der Zeit ewig), so beschränkt er (Aristoteles) zugleich seinen „Gott", den ersten Beweger darauf, eben erster Beweger und Schöpfer zu sein. Dieser sei ewig, unendlich, mischt sich aber nicht in die Welt ein. Das heißt, Aristoteles sprach seinem Gott eine göttliche Vorsehung ab. Sie bildet aber einen wesentlichen Bestandteil der Wirkung Allahs. Im Grunde entstand der Gedanke von der absoluten, die ganze Welt umfassenden Existenz Allahs als ein Ausdruck der Ablehnung des anthropomorphen christlichen und des jüdischen Gottes. Mohammeds Allah entstand in erster Linie in engem Zusammenhang mit der praktischen Tätigkeit der Mekkaer. Es waren zwei Faktoren, die dazu entscheidend beitrugen: 1

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Zitat nach: M. Al-hudari, Vorlesungen über Geschichte der islamischen Nationen, a. a. O., S. 225. Der Koran, a. a. O., 6. Sure, Vers 3, S. 135.

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Einerseits die damalige Entwicklung des Christentums und Judentums, verbunden mit den vielfältigen heftigen Auseinandersetzungen mit den Anhängern des Götzenbildertums und den Dahriten, und andererseits die historisch dringende Notwendigkeit, eine sozial-ökonomische und politische Einheit unter jenen patriarchalischen Bedingungen auf Grund der wachsenden Bedürfnisse des Handels zu schaffen. Allah ist der Gott aller, oder er muß doch als solcher gelten. In ihm komprimiert sich der immer deutlicher werdende Gedanke vom weltoffenen Handel. Da der Islam in seiner Entstehung die elementaren Lebensbedürfnisse der Plebejer, der Sklaven, der Ackerbauern und der Kleingewerbetreibenden ausdrückt, indem er ihren Lebensstandard durch die Entwicklung des Handels förderte, war auch der islamische Allah, historisch und sozial gesehen, als Gott der Leidenden entstanden, denen er ein besseres Leben in der „anderen" Welt versprach. Den Wucherern und Großhändlern, den Ausbeutern der Armen bereitet er in dieser „anderen" Welt „ das Höllenfeuer" vor. Trotzdem ist man auch in der Lage, die Lebensideale und -ziele in dieser Welt zu verwirklichen, wenn man die dazu erforderlichen Bedingungen erfüllt. Während diese Ideale und Ziele beim Muslim ohne irgendwelche Vereinigung mit Allah zu verwirklichen sind, wird vom Christen die Nachfolge zu dem göttlichen Christus verlangt. Allah wurde pantheistisch nur von der Seite Allah — Mensch her aufgefaßt. Dies wurde später von den Mystikern und Pantheisten auch in die gegenteilige Richtung übertragen: Mensch — Allah. Weiterhin wurde dies, hinsichtlich der Probleme der Attribute Gottes und des Fatalismus auch von den Mutaziliten aufgegriffen und zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen gemacht. Für die Entwicklung einer späteren experimentellen und theoretischen Wissenschaft im islamisch-arabischen Bereich war dies von großer Bedeutung. Philosophie und Wissenschaft entstanden und entwickelten sich in diesem Bereich untrennbar voneinander, jedoch keinesfalls parallel zueinander. Im wesentlichen beschränkte sich die wissenschaftliche Tätigkeit zu Beginn der kulturellen Entwicklung im islamisch-arabischen Imperium auf praktische Erfahrungen, die unter anderem aus Indien, Persien und Griechenland kamen und die mehr experimentell als theoretisch ausgeprägt waren. Die Entwicklung von Naturwissenschaft und Philosophie wurde hier in erster Linie von der stürmischen handwerkstechnischen Entwicklung bestimmt. Es ist deshalb unzulässig zu behaupten oder zu schlußfolgern, „ . . . das Bedürfnis der 28

Araber zur Wissenschaft ist aus der Religion hervorgegangen" 1 . Die unmittelbaren Bedürfnisse, die zu dieser Entwicklung fährten, genügen, um die Hintergründe der Entstehung und Entwicklung von Naturwissenschaft und Philosophie im islamisch-arabischen Baum zu klären. Die Besonderheiten der Entwicklung und Struktur desselben sind zu diesem Zweck unbedingt zu berücksichtigen. Aus einer eingehenden Analyse dieser Besonderheiten ergeben sich folgende Momente, die vereinigt einen Nährboden für die Entstehung und Entwicklung von Naturwissenschaft und Philosophie schufen: 1. Die intensive Entwicklung der materiellen Produktivkräfte, deren Grundlage ein hochentwickeltes Bewässerungssystem, ein beachtlicher Warenaustausch und ein weltoffener Handel waren. 2. Eine spezifische Besonderheit der geistigen Entwicklung ist in der ideologischen Struktur des Islam selbst zu suchen. Wir meinen die klassischen Theoreme des Islam, wie die Schaffung aus dem Nichts, das Verhältnis Gott—Mensch, die Freiheit oder die gegenteilige These von der Unabänderlichkeit des menschlichen Geschickes, die Attribute Gottes usw. Es muß hierbei festgestellt werden, daß der Islam auf Grund seiner sozial-politischen Sätze zur Entstehung und Weiterentwicklung von Naturwissenschaft und Philosophie beitrug. Die demokratischen, nicht-klerikalen weltlichen Tendenzen im Islam wiesen allerdings schon über ihn hinaus. Darin äußert sich ein Widerspruch, der dem Islam als Religion und als weltlicher Gesellschaftsauffassung innewohnte. Dieser Widerspruch verkörperte den Konflikt zwischen Fortschritt und Rückschritt in der damaligen arabischen Gesellschaft. Das religiöse Wesen des Islam und seine Gesellschaftsauffassung sind zwei verschiedene Dinge, wenn sie einander auch mehr oder weniger bedingen. Das ist eigentlich das Widersprüchliche und zugleich Progressive im Islam, das später von den verschiedenen heterodoxen Gruppierungen zur Geltung gebracht und in den Mittelpunkt gerückt wurde. Wenn die Historiker des Islam den Koran nicht nur als Religionsschrift, sondern auch als ein ethisches, juristisches und gesellschaftliches Dokument betrachten, 2 so ist dies eben aus diesem Gegensatz zu erklären. 1

2

O. A. Farrukh, Genie der Araber in Wissenschaft und Philosophie, 2. Aufl. Beirut 1952, S. 43 (arab.). Siehe z. B . : Ali zami al-naschaar, Entstehung des philosophischen Denkens im Islam, Bd. 1, 2. Aufl., Alexandria 1962, S. 1—2 (arab.); M. Y. Muza, Der Koran und die Philosophie, Kairo 1958, S. 7, 13, 24, 32 (arab.).

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Tisioi, Materiebegriff

Daß aber auch das Ideelle im Islam unter unterschiedlichen historischen und geistigen Umständen des islamisch-arabischen Kalifats durchaus positiv wirken konnte, ist in erster Linie aus der Klassensituation zu erklären. Es ist zu beachten, daß eine Idee oder eine Auffassung unter unterschiedlichen historischen Umständen unterschiedlich und nicht selten gegensätzlich interpretiert werden und wirken kann. Die Wissenschaft und die Philosophie profitierten in der Regel davon. Anhand der revolutionären Opposition der verschiedenen islamisch-heterodoxen Sekten zeigt sich klar die Bedeutung dieses Aspektes. 3. Ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung von Naturwissenschaft und Philosophie war die betont rationale Interpretation des Islam, die ihren Höhepunkt mit den Mutaziliten erreichte. In seinem Werk „Die Ratio" stützt sich der Mutazilite Dauudl ibn al-muhabbir auf einen Spruch, der Mohammed von Allah eingegeben worden sein soll (Gottes Selbstrede) und nach welchem die Ratio Allahs erstes und bestes Geschöpf ist. 1 Hinzugefügt werden muß, daß der Autor dieses Werkes, wie Ibn Taimiyya berichtet, Anfang des dritten Jahrhunderts nach Higra gelebt hat, 2 in einer Zeit also, in der eine solche, im Namen Allahs vertretene oder vielmehr auf ihn zurückzuführende, rationalistische Auffassung nicht selten als Ketzerei verurteilt wurde. Solche kühne Betonung der Ratio trug — bei allen orthodox-pragmatischen Gesichtspunkten — zweifellos zur Schaffung einer sicheren Basis für die Entstehung und Entwicklung eines rationalistischen Herangehens an die Interpretation des Koran bei. Motiviert von einer dogmatischorthodoxen Ablehnung der „theoretischen" Interpretation des Koran gelangte Mälik ibn unz — ebenfalls ein Mutazilite — dazu, das Handeln überzubetonen und nur dieses als Kriterium für die Richtigkeit von Theorien zu betrachten. Er sagte dazu: „ . . . Ich bevorzuge nur das Sprechen, dem das Handeln entspricht."3 Wenn diese Einstellung eines solchen bedeutenden Lehrers des Islam zur Unterdrückung einer freien Interpretation des Koran beitrug, so konnte sie trotzdem die Aufmerksamkeit auf das Praktische (Experimentelle) überhaupt lenken, was 1

Ibn Taimiyya, Bugjatul-mutadd fil-radd 'alal faläzifa walqaramitawal batiniyya, Kairo 1329 (nach Higra), S. 5 (arab.). 2 Siehe: ebenda, S. 29. 3 Siehe: Ibn 'abd al-birr, Gämi' bajän al-'ilm wa fadlih, S. 50. Zitiert nach: A. Z. Al-naschaar, Entstehung des philosophischen Denkens im Islam, a. a. O., S. 36.

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indirekt zur Herausbildung von experimentierenden Einzelwissenschaften Anregung gab. Ernster und tiefgreifender war der Einfluß der Mutaziliten auf die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft im arabisch-islamischen Bereich. Ihr Hauptanliegen bestand in letzter Instanz in der Hervorhebung und Betonung der Stellung des Menschen gegenüber Allah. Im Mittelpunkt standen hier zwei Probleme: die Attribute Allahs und die Freiheit des Menschen. Zum ersten Problem schreibt Schahrastani: „Der Sekte der Mutaziliten ist der Glaube gemeinsam, daß Allah erhaben und ewig sei und die Ewigkeit das Charakteristische seiner selbst sei. Und sie negierten ursprünglich die ewigen Attribute und sagten: Er ist wissend in sich, mächtig in sich, lebendig in sich, nicht mit Wissen und Mächtigkeit und Leben. Es sind ewige Attribute und in ihm seiende Ideen, denn wenn die Attribute seine Ewigkeit teilen, die das Charakteristische ist, so teilen sie auch seine Göttlichkeit . . . Sie nannten diese Richtung Verneinung."1 Noch klarer hat das Abulhutheil al-allaf (130—226 nach Higra) zum Ausdruck gebracht. Darüber berichtet der Vertreter der Mutaziliten Al-hajjat (300 nach Higra gestorben) in seinem historisch außerordentlich wichtigen Buch „Al-intisär": Abul-hutheil al-allaf sagte: „Das Wissen Allahs ist Allah."2 In diesem Sachverhalt sah man eine negative, getarnte Verneinung oder Entkräftung des Begriffs „Allah" überhaupt. Im Gegensatz dazu behaupteten die Vertreter der Orthodoxie, vor allem die Alanten, die untrennbare Einheit zwischen Allah und seinen Attributen. Nach Schahrastani sagt Abul-hasan al-asari: „Der Schöpfer sei erhaben, sei wissend mit Wissen, mächtig mit Mächtigkeit, lebendig mit Leben, wollend mit Willen, sprechend mit Sprache, hörend als Hörender, sehend als Sehender . . . Und diese Attribute sind ewig in ihm selbst... Es kann nicht gesagt werden, sie seien er, und nicht, sie seien ein anderer als er, und nicht, nicht er, und nicht, nicht ein anderer als er . . ." 3 Die Asariten spürten genau, welche Gefahr sich in dieser mutazilitischen Attributsauffassung gegenüber dem Begriff „Allah" verbarg. Das Attribut der Ewigkeit nahm dabei einen wesentlichen Platz ein. Wenn die Mutaziliten Allah jede Eigenschaft absprachen, so führte dies konsequenterweise zu seiner Reduzierung auf eine un1 2

3

Schahrastani, a. a. O., Bd. I, S. 43—45. Al-hajjat, Kitab al-intisar, in Arabisch hrsg. und ins Französische übers. von A. N. Nader, Beirut 1957, S. 80. Schahrastani, a. a. O., S. 95.

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bestimmte, zeitlose und im Grunde inhaltlose Substanz. Dies brachte ziemlich eindeutig der bedeutende Mutazilite Mu'ammar ibn-'abbad azzullami (220 nach Higra gestorben) zum Ausdruck. Nach ihm sei es unmöglich, daß Allah sich selbst oder andere kennt. Das Seiende als solches könne er nicht kennen.1 Aber wenn alle Mutaziliten die Einheit Allahs auf eine negative Weise bejahen, so betonen sie alle außer Alsalihi die These, daß das Nichts ein Ding sei. 2 Das wurde nach Schahrastani von Al-hajjat mit Nachdruck vertreten. 3 Es ist außerordentlich wichtig, diesen Aspekt der mutazilitischen Philosophie hervorzuheben. Alle Körper, Wesen und Akzidenzien enthalten danach zwei Existenzformen, die präformierte und die konkretisierte Existenz. Der Übergang von der einen zur anderen verwirklicht sich durch göttliches Eingreifen. Die präformierte Existenz sei eigentlich mit der Allahs untrennbar verbunden. Allah sei nicht in der Lage, aus einem Nichts etwas zu schöpfen. Al-hajjat versucht in seiner schon erwähnten Schrift, dieses Problem trotz mancherlei Unklarheiten darzulegen, und zwar im Namen der Verteidigung der monotheistischen Substanz Allahs.4 Der Einfluß der aristotelischen Begriffe „Möglichkeit" und „Wirklichkeit" läßt sich dabei an den mutazilitischen Begriffen der präformierten und der konkretisierten Existenz leicht feststellen. Al-nazzam (231 nach Higra gestorben), der bedeutendste Mutazilite, hat zu seiner Zeit den Begriff „Latenz" erstmalig in das mutazilitische Denken eingeführt.5 Im Zusammenhang damit versetzten die Mutaziliten mit ihrer These von dem Nichts als Ding der islamisch-orthodoxen Gottesauffassung ohne Zweifel einen schweren Schlag. In der konsequenten Durchführung dieser Vorstellung ergeben sich drei unter den damaligen geistigen Verhältnissen revolutionär orientierte Lehren: 1. Die Ablehnung des islamischen Postulats von der Schöpfung aus dem Nichts.6 2. Die Behauptung der Ewigkeit des dinglichen Nichts neben Allah. 3. Eine auf eine raffinierte und geistreiche Weise durchgeführte Ver1 2

3 4 5 6

Siehe: ebenda, S. 68. Siehe: Al-azfarajini, Al-tabsir, S. 37. Zitiert nach: A. Z. Al-naschaar, Entstehung des philosophischen Denkens, a. a. O., S. 331/32. Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 77. Siehe: Al-hajjat, Kitab al-intisar, a. a. O., S. 90. Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 66; Al-ljajjat, a. a. O., S. 94/97. Der Einfluß des griechisch-antiken Geistes und insbesondere des Demokrit und des Aristoteles ist hier unverkennbar zu spüren.

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flüchtigung Allahs, und zwar durch die Reduzierung seiner Tätigkeit auf den Übergang von der präformierten zur konkretisierten Existenz der Dinge. Im Zusammenhang mit der Negierung von Gottes Attributen kommt die Verflüchtigung dadurch zum Ausdruck, daß selbst die göttliche Tätigkeit, die sich im erwähnten Schöpfungsakt äußert, lahmgelegt wird. Der Allah der orthodoxen islamischen Theologie, der jeglicher Attribute bar ist, wird — im Grunde genommen — zunichte gemacht. Von ihm als Ur- und Beweggrund der Welt bleibt im besten Fall nur noch ein Skelett übrig. Der Gedanke von der Bewegung als Veränderungsprinzip,1 den Al-nazzam verteidigte, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Diese Bewegung als Veränderungsprinzip ist die Bewegung der Körper; sie ist deren Selbstbewegung.2 Sie ist ihnen immanent. In Wirklichkeit sind alle Körper bewegt; nur im Denken, das diese Körper ideell widerspiegelt, sind sie unbewegt.3 Alnazzam, der, wie jeder andere Mutazilite, den Begriff „Allah" als Ur- und Beweggrund der Welt nicht so unmittelbar und bewußt konsequent ablehnte, betonte jenen Gedanken einer inhärenten Bewegung der Körper sogar während des Prozesses des Schöpfungsaktes.4 Dem Latenzzustand der Körper fehlt nach ihm nicht die Bewegung überhaupt, sondern nur die äußere Bewegung. Diese selbst ist Ausdruck der räumlichen Bewegung.5 Al-nazzam sagte nicht, in welchem Zustand sich die Körper vor ihrer Schöpfung, d. h. in diesem Falle vor ihrem Latenzzustand, befanden oder ob sie zuvor überhaupt existierten. Wenn wir uns aber die mutazilitische Prämisse vom Nichts als Ding6, das genauso als ewig wie Allah selbst zu betrachten ist, ins Gedächtnis rufen, so ergibt sich der Konsequenz nach die atheistisch-materialistische Schlußfolgerung, daß die Körper, die schon als nichtige Dinge 1

Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 55. Siehe: Abul-hasan al-aäari, Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam, hrsg.von H. Ritter, Wiesbaden, 2.Aufl., S.324;. A.Z. Al-naschaar, a. a. O., S. 431. 3 Siehe: Al-aSari, a. a. O., S. 324. * Siehe: ebenda, S. 325. 6 Siehe: ebenda, S. 324. 6 Die These vom „Nichts" als Ding, d. h. als etwas Seiendes, von dem das Sein entsteht, hätte, könnte man annehmen, ihren Ursprung in der „unbestimmten Materie" des Piaton oder in der „ersten Materie" des Aristoteles gehabt. 2

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existieren, nicht von außen, sondern von sich selbst her bewegt werden und daß die Wirkung Allahs beim orthodox interpretierten Schöpfungsakt nur formell in Betracht gezogen werden kann. Dieser Tatbestand wurde in Einzelfällen von einigen Mutaziliten nachdrücklich betont, so zum Beispiel von Al-hajjat, der den Körper (das Ding) vor seinem vollendeten Entstehen, — sowie von Abu ali al-gubbai und seinem Sohn Abu-hasim, die die Substanzen und die Akzidenzien ebenso vor ihrem vollendeten Entstehen als seiend ansahen.1 Zum Problem der Freiheit des Menschen stellten die Mutaziliten der islamisch-orthodoxen Menschenauffassung eine interessante Konzeption entgegen. Sie alle waren der Meinung, daß der Mensch „Schöpfer seiner guten und bösen Taten" 2 ist. Abul-hutheil al-allaf stellte diese Frage wie folgt: „Wenn der Ungläubige nach euch (den Fatalisten, T. T.) unfähig ist, aus seiner Ungläubigkeit auszutreten, in der er sich befindet, so sei dann richtig, daß er sie nicht freiwillig wählt und tut, sondern er ist dazu gezwungen, da derjenige, der fähig ist, etwas zu tun, auch fähig ist, es nicht zu tun." 3 Diese mutazilitische Fragestellung enthält einen theoretisch-revolutionären Kern. Die Aiariten kämpften dagegen ebenso wie gegen die Einigungsthese der Mutaziliten. Der ägyptische Anhänger der Asariten, Al-naschaar, mußte zugeben, daß die Mutaziliten in diesen beiden Thesen nur dazu gelangten, Allah als bloße Negativität darzustellen.4 Indem der Mensch sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt, d. h., indem er sich für das Gute und das Böse verantwortlich erklärt, wird jeder göttliche Einfluß auf ihn ausgeschlossen; der Mensch ist Schöpfer seiner selbst. Mag diese Anschauung insgesamt mehr oder weniger undialektisch und ahistorisch sein, so bestand doch ihre große historischsoziale Bedeutung in dem Versuch der Befreiung des Menschen von der Illusion einer von Allah vorbestimmten Unabänderlichkeit des Schicksals. Da die islamisch-orthodoxen Dogmen Allah für den Schöpfer aller Wesen und Dinge halten, galt diese mutazilitische Menschenauffassung als ketzerisch und wurde bekämpft. Für die meisten Mutaziliten ist schließlich Schöpfer nur noch der Mensch. Die Tendenz, und ich sage nicht, die bewußt festgelegte Konzeption, der meisten Mutaziliten, das Übernatürliche aus dem Wege zu räumen, die objektiv reale 1 Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 77. 2 Ebenda, S. 45. 3 Siehe: Al-hajjat, Kitab al-intisar, a. a. O., S. 17. 4 Siehe: Al-naschaar, a. a. O., S. 343.

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Welt in ihrer Selbstbewegung sowie in ihrer Ewigkeit hervorzuheben, schuf eine Grundlage für die Herauskristallisierung und Weiterentwicklung von Naturwissenschaft und Philosophie im islamisch-arabischen Imperium. Sie öffnete dem freien Denken den Weg, d. h., sie lenkte die Aufmerksamkeit auf die menschliche Vernunft als Mittel der Erkenntnis, und zwar im unmittelbaren Gegensatz zur islamischen Orthodoxie. Für die Entfaltung von Naturwissenschaft und Philosophie im arabisch-islamischen Reich war nicht nur die Vielfältigkeit der nüchternen, zum Atheismus und Materialismus tendierenden Gedankenwelt der Mutaziliten von einer beachtlichen Bedeutung; auch ihr methodologisches Herangehen an die von ihnen aufgeworfenen Probleme legte hierzu eine Grundlage. Sie stellten dem islamischen und jeglichem Glauben überhaupt die Vernunft entgegen.1 Diese Feststellung kann nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß die Gedanken der meisten Mutaziliten spekulativen Charakter tragen. Dieser war durch Inhalt und Art ihrer oft verdeckt geführten Auseinandersetzung mit den Vertretern der islamischen Orthodoxie bedingt. Daß dieser spekulative Charakter die Mutaziliten nicht daran hinderte, die Aufmerksamkeit auf die wissenschaftlich-experimentelle Forschung zu lenken und sie sogar zu betreiben, zeigt sich vor allem in dem Werk „Das Tier" des Mutaziliten Al-gahiz (868 gestorben), in dem dieser eigene sowie andere — zum Beispiel von Al-nazzam schon durchgeführte — zoologische Experimente erklärt und begründet. Das Verdienst der mutazilitischen Denker zeigt sich ganz besonders in der Zeit des Kalifen Al-mamun (813—833), in der sich ihre Auffassungen als Staatsideologie durchsetzen konnten, d. h. in einer Zeit, in der viele antike Autoren übersetzt wurden, in der Philosophie und Naturwissenschaft eine hohe Blüte erreichten. 4. Philosophie und Naturwissenschaft entstanden und entwickelten sich im islamisch-arabischen Imperium motiviert und begünstigt von dem ins Arabische übertragenen überlieferten Gedankengut verschiedener Zivilisationen, vor allem der griechischen Antike. Es muß hierbei hervorgegoben werden, daß die griechisch-antike Wissenschaft und Philosophie im arabisch-islamischen Mittelalter eine entscheidende Holle spielte. Bemerkenswert ist, daß von den heterodoxen Denkern Aristoteles bevorzugt wurde. Da Aristoteles' Lehren diesen Denkern ver1

Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 45; O. A. Farrukh, Genialität der Araber in Wissenschaft und Philosophie, a. a. O., S. 4i. 35

mischt mit platonischem und neuplatonischem Gedankengut überliefert waren, entstand für sie die Aufgabe, Aristoteles' Lehren von diesen fremden Elementen zu reinigen. Das war eine Aufgabe, durch deren Lösung die Tendenz jener Denker zum Materialismus in unterschiedlichem Maße mitbestimmt wurde. Antike Wissenschaft und Philosophie gingen also im Mittelalter nicht verloren. Sie wurden vielmehr von den verschiedenen Denkern des arabisch-islamischen Mittelalters aufgegriffen und weiterentwickelt. So kam es im Laufe der ersten Zeit des Kalifats dazu, daß die Mutakallimun die geistigen Waffen der Antike, die schon im großen Maße den Syrern bekannt und zum Teil ins Syrische übersetzt waren, aufgriffen. Mutaziliten und Alariten, heterodoxe und orthodoxe Richtungen benutzten das „Organon" des Aristoteles. Die Übertragung von Philosophie und Naturwissenschaft antiker Zivilisationen in die Sprache der Kalifen wurde entscheidend von der betreffenden Klassensituation sowie von der Einstellung zu den prinzipiellen Problemen des Islam diktiert. Aristoteles, Ptolemäus, Euklid, Demokrit, Thaies sowie Piaton und Sokrates waren, trotz vieler Unklarheiten und Irrtümer, Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.1 Der Aufschwung von Naturwissenschaft und Philosophie kann deshalb nicht nur als Produkt der arabisch-islamischen Denker betrachtet werden. Er ist auch als ein legitimes Produkt der historischen Kontinuität der philosophisch-wissenschaftlichen Entwicklung anzusehen. 1

Siehe hierzu: Schahrastani, a. a. O., Bd. 2, S. 58—158.

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3. KAPITEL

Die Anfänge der islamisch-arabischen

Philosophie

I Die Atomistik bei den Arabern Innerhalb der islamisch-arabischen Atomistik sind zwei entgegengesetzte Eichtungen zu unterscheiden. In der einen wird das Atom als unteilbar, in der anderen als unendlich teilbar angesehen. Die Atomistik durchlief im wesentlichen drei Etappen: die erste wurde von den Mutaziliten, die zweite von den Asariten und die dritte von den Philosophen geprägt. Abul-hutheil gilt als der erste, der sich mit dem Atomproblem auseinandersetzt. Mit ihm gewann die mutazilitische Lehre ihr eigentliches Gepräge.1 Als zuverlässige Quelle für seine Ansichten sowie für die Ansichten der Mutakallimun überhaupt zur Atomlehre gelten in erster Linie „Maqalät al-islamjjin" (die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam) von Abul-hasan al-asari und zum Teil Kitab al-intisär (Buch des Sieges) von Al-hajjat; denn von Abul-hutheils Schriften blieb nichts erhalten. Abul-hutheil geht zunächst davon aus, daß es zwei Welten gäbe, die eine (göttliche) sei ewig, unendlich; die andere aber begrenzt, endlich.2 Die These vom unteilbaren Atom ist bei ihm durch ausgesprochen islamische Elemente motiviert: „Es ist möglich, daß Allah, (er) sei erhaben, den Körper zu trennen und das, was er an Zusammensetzung besitzt, zu vernichten vermag, bis er zu einem unteilbaren Teil wird . . . " 3 Natürlich darf daraus nicht geschlossen werden, daß Abul-hutheil seine atomistischen Auffassungen aus islamischen Quellen schöpfte. Die historischen Angaben zeigen mit großer Sicherheit, daß er die griechisch-antike Philosophie kannte. 4 Dies wird dadurch bekräftigt, daß Abul-hutheil ein Zeitgenosse des Mamunischen Kalifats war, in dem die Übersetzungen philosophischer Werke der griechischen Antike 1 2 3 4

Siehe: Schahrastani, a. a. O., Bd. 1, S. 49. Siehe: Al-hajjat, Kitab al-intisar, a. a. O., S. 80. Asari, Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam, a. a. O., S. 314. Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 50.

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ihren Höhepunkt erreichten. Das sei vorweg gesagt, um den grundsätzlichen Zusammenhang der Atomlehre der Mutaziliten mit der altgriechischen Atomistik hervorzuheben. Abul-hutheil unterscheidet zwischen dem Körper und dem unteilbaren Teil (Atom). Der unteilbare Teil „besitzt weder Länge noch Breite, noch Tiefe, noch Zusammensetzung"1. Er ist das Einfachste und Letzte. Die vergängliche, unbeständige Welt besteht aus solchen unteilbaren Teilen. Das Atom als letzte Einheit in der Struktur der Materie — der vergänglichen Welt — hat keine Ausdehnung. Es mußte folglich als mathematischer Punkt aufgefaßt werden. Abul-hutheil aber zog den letzten Schluß nicht und stellte fest, daß der unteilbare Teil sich bewegen, in Ruhe sein und andere unteilbare Teile berühren könne, denn diese Fähigkeiten seien Akzidenzien des unteilbaren Teiles. Ein Körper entsteht erst, wenn sich sechs unteilbare Teile zusammenfinden. Die Fähigkeit des unteilbaren Teils, sechs andere Teile zu berühren, war im Grunde ein Ausdruck der Anerkennung der Ausdehnung. 2 Diese Atömlehre wurde auch, abgesehen von einigen Varianten, von anderen mutazilitischen Denkern vertreten. Mu'ammar ibn-'abbad azzullami, einer der bedeutendsten Mutaziliten, meinte, Abul-hutheil zustimmend: „Der eine unteilbare Teil kann nicht ein Körper sein, weil der Körper lang, breit und tief ist. Und der unteilbare Teil ist dies nicht." 3 Ein Körper wird mindestens aus acht unteilbaren Teilen zusammengesetzt.4 Demnach besitzt ein solcher Teil die Fähigkeit der Berührung und die Eigenschaft der Ausdehnung. Asari zählt in seinem Werk weiterhin die Mutaziliten Abu ali algubbai (235—303 nach nigra) und Hiiam ibn-'amr al-futi (226 nach Higra gestorben) zu denjenigen, die das Atom nicht als Körper ansahen. 5 Wenn Al-gubbai, ähnlich wie Abul-hutheil und Mu'ammar, den unteilbaren Teilchen die gegenseitige Berührung zuschrieben,6 so sprach Al-futi sie ihnen ab7. Dies resultiert daraus, daß Al-futi, im Gegensatz zu Abul-hutheil, Mu'ammar und Al-gubbai, nicht ein letztes Teilchen, sondern sechs derselben als die elementare Einheit des Körpers be1

ASari, Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam, a. a. O., S. 314. 2 Siehe: ebenda, S. 315. 3 Ebenda, S. 307. 4 Siehe: ebenda, S. 303. 5 Siehe: ebenda, S. 304, 307, 315. 6 Siehe: ebenda, S. 315. 7 Siehe: ebenda.

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trachtete. Ein Körper bestellt nach ihm aus sechs letzten Teilen, die die Fähigkeit der gegenseitigen Berührung besitzen.1 Im Gegensatz zu den angeführten Auffassungen, die auf die eine oder andere Weise die Existenz von Atomen bejahten, stand die Meinung Nazzams (231 nach Higra gestorben). Schahrastani schreibt in dem Abschnitt über den Nazzamismus, daß Nazzam den Philosophen zustimme, die die Existenz unteilbarer Teilchen bestreiten.2 Näher ging Asari darauf ein. Er schreibt: „Nazzam sagte: Kein Teil, der keinen Teil hat, kein ba'd 3 , der keinen ba'd hat, kein nisf (Hälfte), der keinen nisf hat. Es ist möglich, daß der Teil immer (abä'dan) geteilt wird. Es gibt kein Ende der Teilung."4 Daß es Nazzam um die unendliche Teilbarkeit geht, bezeugten überlieferte Texte. Danach aber ist die Interpretation der Nazzamschen Atomlehre durch O. Pretzl, nach der „jede Hälfte . . . eine ihr entsprechende Hälfte" 5 habe, nicht haltbar. Entsprechend der Annahme unendlicher Teilbarkeit bestimmte Nazzam den Körper als lang, breit, tief, damit ausgedehnt und unbegrenzt teilbar.6 Allah sei nicht in der Lage, „die Zusammensetzung der Körper bis auf letzte Teilchen zu reduzieren"7. Die dritte Richtung der islamisch-arabischen Atomistik wird hauptsächlich von Abbad ibn suleiman vertreten. Dieser bejaht zwar die Existenz unteilbarer Teilchen, die weder Länge noch Breite, noch Tiefe, folglich keine räumliche Ausdehnung haben, die ferner nicht bewegt 1 2 3

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Siehe: ebenda. Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 55. „ba'd" ist, wie S. Pines richtig bemerkt, ein „ursprünglich dem guzc (Teil) paralleler Ausdruck, der aber nicht die spezifische Bedeutung eines Atoms der Materie hat". Pines verweist weiterhin auf die Gegenüberstellung von ba'd und kull (Ganzem), die sich im Kitab al-intisär S. 7 und 10 von Hajjat befindet. (P. Salomon, Beiträge zur islamischen Atomlehre, Berlin 1936, S. 4). Asari, a. a. O., S. 318. O. Pretzl, Die frühislamische Atomenlehre. In der Zeitschrift „Der Islam" 19, 1931, die arabische Ausgabe, übers, von M. A. Abu-rida, Kairo 1946, S. 142. Siehe: ASari, a. a. O., S. 304. Ebenda, S. 568. Die Behauptung in dem „Kitab al-intisär", nach der Nazzam Allah das Können zuschrieb, in einem Augenblick „unteilbare Körper zu schaffen", steht im Gegensatz zu der herangezogenen Stelle aus der Arbeit Aäaris. Das hätte eine wesentliche Einschränkung der Macht Allahs zur Folge.

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sind oder ruhen, 1 spricht ihnen aber durch diese negative Fassung im Grunde genommen jede materielle Existenz ab. Diese atomistischen Auffassungen, die der frühen islamisch-arabischen Gedankenwelt angehören, zeigen die Vielfalt und Gegensätzlichkeit, in der sich das weltanschauliche Denken der Mutaziliten und anderer Sekten bewegte. Bei den prägnantesten Vertretern der Mutaziliten, Abul-hutheil und Nazzam, wird die gegensätzliche Position in ihrer Stellung zu Allah am klarsten. Während Abul-hutheil mit seinen atomistischen Überlegungen die Allmacht Allahs demonstrieren wollte, ging es Nazzam gerade darum, dieser Allmacht Grenzen zu setzen. Daran zeigt sich, daß die Atomistik unter verschiedenen sozialökonomischen und geistigen Umständen unterschiedliche Wirkungen hatte, unterschiedlich aufgenommen und interpretiert wurde. In der Antike, bei Demokrit, Epikur und Lukrez, besaß sie einen ausgeprägt materialistischen und progressiven Charakter. Im islamisch-arabischen Baum wurde sie mehr oder weniger zur Untermauerung einer religiösen Weltanschauung verwendet. Die entgegengesetzte von Nazzam vertretene Richtung stellte sich hingegen das Ziel, die Macht Gottes einzuschränken und darüber hinaus auf den „himmlischen" Bereich einzuengen. Nazzam lehnte die These vom unteilbaren Teil ab, da sie auf die Annahme eines mathematischen Punktes als letzten Bausteins der Welt hinausläuft. Nazzam sah dieses Problem nicht in der hier genannten Schärfe, aber sein Begriff „Al-tafra" — der Sprung — deutet darauf hin, daß er diese Fragestellung vor Augen hatte. Schahrastani berichtet, daß Nazzam den Begriff des Sprunges benützte, um die Tatsache zu erklären, daß eine Ameise beim Durchlaufen einer bestimmten Strecke Unendliches überschreite. Aber wie kann ein endliches Wesen etwas Unendliches „überspringen"? Nazzam meinte, die Ameise überschreite die Teile der Strecke, indem sie das Unendliche „überspringe". 2 Der Baum ist dementsprechend unendlich. Die These vom „Sprung" wurde, wie Aiari bezeugt, von den meisten Mutakallimun, darunter auch von Abul-hutheil, abgelehnt.3 Die Verwendung dieses Begriffes durch Nazzam war Ausdruck eines ersten Versuchs zur Erklärung der Siehe: Asari, a. a. O., S. 316. Schahrastani, a. a. O., S. 65—56. Siehe auch: Asari, a. a. O., S. 321. 3 Siehe: ASari, a. a. O., S. 321. 1

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Wirklichkeit in ihrer Vielfältigkeit und Unendlichkeit. Die Kompliziertheit dieses Problems übersah er jedoch nicht. Vor ihm stand die Frage, wie man von unendlich teilbaren Teilchen sprechen kann, wenn man die Menge der Teile eines Senfkorns der Menge der Teile eines Berges gleichsetzen will. Nazzam antwortete auf diese Frage, indem er die unendlich teilbaren Teile des Berges für größer als die des Senfkorns hielt. „Wenn der Berg", schreibt Al-hajjat zur Unterstützung Nazzams, „in zwei Hälften und das Senfkorn in zwei Hälften geteilt wird, so sind die Hälften des Berges größer als die des Senfkorns. Wenn sie auch in Viertel, Fünftel und Sechstel geteilt werden, so sind die Viertel, des Berges, seine Fünftel und Sechstel größer als die Viertel, die Fünftel und Sechstel des Senfkorns; und so ihre Teile, immer, wenn sie geteilt werden."1 Es muß hier an den frühen mathematischen Atomismus im antiken Griechenland in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts erinnert werden.2 Man ließ danach „alle Größen aus ausdehnungslosen Punkten zusammengesetzt sein"3. Zenon jedoch konnte diesen Atomismus ausgehend von zwei mathematischen Lehrsätzen der Alten widerlegen: „1. Die Summe einer unendlich großen Z a h l . . . beliebiger, wenn auch überaus kleiner, ausgedehnter Größen muß unendlich groß sein. 2. Die Summe einer beliebigen (wenn auch unendlich großen) Zahl nicht ausgedehnter Größen ist immer gleich Null und kann nie einer festgesetzten, reellen Größe gleich werden."4 Die „Ausdehnung" stellte nach Zenon dabei die Hauptstütze dar. Die Nazzamsche Lehre von dem unendlich teilbaren Teil schließt die Eigenschaft der Ausdehnung ein. Sie knüpft höchstwahrscheinlich an eine weitere These an, nämlich an die der Anfangslosigkeit (Ewigkeit) des Teils. Ibn ar-rawindi berichtet von einem Dialog zwischen Nazzam und den Dahriten, wo der erstere folgendes feststellte: „Die schon durchgeführte Teilung von Körpern ist entweder endlich oder unendlich. Wenn sie aber endlich ist, so hat sie einen Anfang . . . ; und wenn sie unendlich ist, so hat sie keinen Anfang. Was keinen Anfang hat, kann nicht endlich geteilt werden . . . Jede schon durchgeführte Teilung ist dann unendlich."5 Al-hajjat zi1

Al-hajjat, a. a. O., S. 34. Siehe: S. Luria, Anfänge griechischen Denkens, Berlin 1963, III. Abschnitt, S. 68-78. 3 Ebenda, S. 68. 4 Ebenda, S. 74. s Al-hajjat, a. a. O., S. 33. 2

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tiert diese Stelle von Ibn ar-rawindi in der Absicht, Nazzam gegen Ibn ar-rawindi zu verteidigen. Er behauptet, daß dies eben gerade von Nazzam geleugnet werde.1 Nun stellt sich dies jedoch unserer Meinung nach etwas anders dar, als Al-hajjat es sieht. Erstens gab Al-hajjat in seinem Buch, in dem er als Mutazilite die Lehren seiner Schule verteidigt, diese nicht als Historiker, sondern in apologetischer Absicht wieder. Wenn wir weiterhin wissen, daß diese Lehren nicht einheitlich sind, so ist es auch möglich, daß Al-hajjat dieselben nur so wiederzugeben und zu verteidigen versuchte, wie er, als einer der Vertreter dieser Richtung, sie verstand. In seinem Buch ist zum Beispiel keine Rede von der Nazzamschen Lehre über den Sprung, weil Alhajjat sie nicht gelten lassen konnte. Die anderen Mutaziliten, die die These vom Vorhandensein immaterieller unteilbarer Teilchen vertraten, waren auf die eine oder andere Weise gezwungen, diesen unteilbaren Teil als das letzte Element anzusehen. Eine schwierige Frage, die damit organisch verknüpft war, mußten sie jedoch klären, nämlich die Frage der Ausdehnung. Sie mußten den Widerspruch lösen, der sich aus der Aussage über einen unteilbaren letzten und deshalb ausdehnungslosen Teil und aus der unvermeidbaren Konsequenz ergibt, nach der sich der eine Teil neben anderen Teilen befindet und sie deshalb irgendwie berühren müßte. Der Zenonsche Einwand gegen den mathematischen Atomismus galt auch hier. Die Mutaziliten glaubten, das Problem lösen zu können, indem sie die zwei Asppkte jenes Widerspruchs zu einer Einheit verbanden. Der letzte Teil sei danach unteilbar und besitze zugleich Ausdehnung. Bei der Feststellung einer Ähnlichkeit zwischen der Atomlehre der Mutakallimun und derjenigen Epikurs meint S. Pines: „Die Minima Epikurs könnten eine gewisse Ähnlichkeit zu den agzä' (Teilchen) der Mutakallimun bieten, vor allem durch ihre Entgegensetzung zu den Körpern, zu denen die Atome zu rechnen sind." 2 Das heißt, die Unterscheidung zwischen Teil und Atom bei den Mutakallimun ist im Zusammenhang mit ihrer Annahme der Ausdehnung sehr wahrscheinlich. Freilich blieb damit das Problem der Einheit vom unteilbaren letzten Teilchen als mathematischem Punkt und der Ausdehnung als Eigenschaft dieses Punktes nach wie vor ungeklärt. 1

Siehe: ebenda. ^ S. Pines, a. a. O., S. 98. 42

Stark religiösen Charakter bekam die islamisch-arabische Atomistik in der aSaritischen Auslegung. Der Hauptvertreter war Abul-hasan al-asari (873—935). Nach ihm sind als Vertreter dieser Lehre Abubakr al-baqillani (403 nach Higra gestorben) und Imam al-haramein abul-ma'ali al-guweini (478 nach Higra gestorben) zu nennen. In Ibn Roschds „Enthüllung der Beweismethoden" 1 finden sich zusammenfassende und kritische Bemerkungen zur Atomlehre der ASariten. Aus der Annahme unteilbarer Teilchen, lassen sich drei aSaritische Dogmen ableiten: 1. die Erschaffung der Welt durch den Willen Allahs, die 2. als ununterbrochener Schöpfungsakt aufgefaßt wird und 3. die Leugnung jeder Gesetzmäßigkeit in der Welt. Die natürliche Welt sei mit der Atomlehre erklärbar, nicht aber die überirdische Welt. Erstere bestünde aus unteilbaren Teilchen und Akzidenzien, die ihrerseits die Körper bilden würden. Diese vergängliche Welt, die ihre Existenz nicht aus sich selbst schöpft, bedürfe einer nie versiegenden Kraft, um zu existieren. Diese sei Allah. 2 In asaritischer Sicht gehört zur Atomwelt nicht nur die Eigenschaft der Körperlichkeit, sondern auch die räumliche und zeitliche Eigenschaft. Allerdings ist eben alles, was in unteilbare Teile zerlegt werden kann, im Grunde gar nicht real, sondern nur in der Einbildung vorhanden. Der asaritische Standpunkt von der Vergänglichkeit der materiellen Welt wird vor allem dadurch gestützt, daß die Akzidenzien nur „jetzt", in diesem Augenblick existieren. Sie werden jeden Augenblick unaufhörlich erschaffen. Diese Lehre wurde schon vor Asari von mehreren Denkern ausgearbeitet. 3 Dieser hat sie übernommen4 und brachte sie in einen engen Zusammenhang zu seinem Dogma von Allah als dem Allmächtigen, der alles in der Welt unmittelbar lenkt. Wir haben also 1

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Ibn Roschd, Enthüllving der Beweismethoden, hrsg. zusammen mit der „Unterscheidenden Rede", Mesr 1319 nach Higra, S. 28 (arab.). Gazali (Algazel) erwähnt in seinem Buch „Tahafut al-falasifa" (hrsg. von M. Bouyges, Beirut 1927) zwei asaritische Auffassungen über die Vergänglichkeit der Atome und damit der natürlichen Welt. Bei Ibn Roschd findet man die Auffassung, daß die Asariten von drei Prämissen ausgehen: Von der Einheit des Atoms mit den Akzidenzien, von der abgeleiteten Natur der Akzidenzien und von der Tatsache, daß alles, was Erschaffenes (Abgeleitetes) enthalte, selbst erschaffen sei. (Siehe: Ibn Roschd, Enthüllung der Beweismethoden, a. a. O., S. 27.) Siehe: ASari, a. a. O., S. 358. Siehe: Schahrastani, a. a. O., S. 96.

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einen ununterbrochenen, kontinuierlichen Schöpfungsakt diskontinuierlicher, voneinander völlig unabhängiger Teilchen. Ihr natürlicher Zusammenhang, ihre gesetzmäßige Bewegung sowie ihre ontologische Eigenständigkeit werden durch die Allmächtigkeit Allahs ersetzt. In diesem Sinne ist jedes Ding die Vergegenständlichung eines göttlichen Aktes. Fragt man nun nach den Hauptmotiven der Entstehung und Weiterentwicklung der islamisch-arabischen Atomistik, so ist vor allem zu beachten, daß diese Atomistik in erster Linie zur Stützung der Religion gedacht war. Sie wurde als Bestandteil eines religiösen fatalistischen Systems aufgebaut und aufgefaßt. Sie wurde mehr oder weniger zur Rechtfertigung und Sanktionierung desselben entwickelt. Diese apologetische Funktion zeigt sich sowohl bei den mutazilitischen als auch bei den asaritischen Konzeptionen. Die Atomlehre der Mutaziliten spielte keine progressive Rolle. Sie stand im Widerspruch zu ihrer Leugnung der Attribute Allahs sowie zu der Lehre von der Freiheit des menschlichen Handelns. Bei den Asariten allerdings, die diese Widersprüche der Mutaziliten verwarfen, stimmt die Atomlehre gänzlich mit dem fatalistischen extremen und apologetischen Grundprinzip der Allmacht Allahs überein. Das zeigt, daß die Atomistik in dieser Gestalt vorwiegend einen religiös-orthodoxen und, besonders bei den Asariten, politisch reaktionären Charakter trug. Im Gegensatz dazu wiesen die nicht-atomistischen Konzeptionen des Hisam ibn al-hakam und Nazzam z. T. einen materialistisch-atheistischen, zumindest aber deistischen Charakter auf, der vor allem in der Auseinandersetzung mit den mutazilitischen und asaritischen Lehren herausgebildet wurde. Es bleibt die Frage offen, ob die altgriechische Atomistik die theoretische Quelle dieser Lehren ist. Für diese Annahme spricht, daß in den Werken der islamischen Philosophie und bei den Historikern der islamischen Sekten keine Betonung des Einflusses z. B . der indischen Philosophie zu finden ist. Dagegen wird dieser Einfluß hinsichtlich der antiken griechischen und römischen Philosophie zugegeben. Solche Hinweise finden sich z. B . bei Schahrastani. 1 Das geistige Erbe der Antike war in vielfacher Hinsicht von überragender Bedeutung für die islamisch-arabische Philosophie. Die philosophische Literatur, die den Arabern des Mittelalters überliefert wurde, war zum größten Teil griechischen Ursprungs. 1

Siehe: Schahrastani, a. a. O., Bd. II, S. 58, 60.

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Daß auch die Inder in dieser Zeit einen gewissen geistigen Einfluß ausübten, ist unzweifelhaft. Die Übertragung der brahmanischen Fabelsammlung des „Pantschatantra" von Ibn al-muqaffa' aus dem Pahlawi ins Arabische zur Zeit des Abbasiden-Kalifen Al-mansür (754—775) ist ein klarer Beweis dafür. Ob dieser Einfluß sich auch auf die philosophische Entwicklung im jungen islamisch-arabischen Imperium erstreckte, ist nicht sicher. Im Jahre 1936 vertrat S. Pines die Auffassung, daß es solchen Einfluß gegeben hätte. Wenn wir, so meinte er, diese speziell atomistische Beeinflussung nicht abweisen dürfen, so sind wir andererseits nicht in der Lage, sie eindeutig nachzuweisen.3 Denn was die islamischen Historiker selbst darüber berichteten, ist allzu wenig und von geringer historischer Exaktheit. 2 Wenn trotzdem eine Form der Beeinflussung der Araber durch die Inder mit Sicherheit angenommen werden kann, so wäre in erster Linie die indische Zahlenlehre zu nennen. Dabei geht es hauptsächlich um den „zifr" — ursprünglich die Zahl Null —. Das erste arabische Buch, in dem hiervon die Rede war, entstand im Jahre 896 (274 nach Higra), während das erste indische Buch in dieser Hinsicht aus dem Jahre 876 stammt. 3 Trotzdem geht die Einführung und Benutzung des „zifr" in der Arithmetik auf die Inder (7. und 8. Jahrhundert) zurück/1 Die Übernahme des „zifr" im islamisch-arabischen Bereich brachte ohne Zweifel einen Umschwung auf dem Gebiet der Arithmetik und überhaupt der mathematischen Disziplinen und, damit verbunden, gewisse Anregungen für die Kalamlehre in ihren heterodoxen und orthodoxen Formen. Dabei ist die Rede von dem „zifr" als Zahl in einer endlichen Progression. Andererseits muß beachtet werden, daß die Form eines „zifr" im Arabischen der Punkt (.) ist. Ein Punkt besitzt keine Dimensionen. Er sei das letzte, was man annehmen könne. Das ist im Grunde dasselbe, was sich die ersten islamisch-arabischen Atomisten mit dem ausdehnungslosen letzten, nicht mehr teilbaren Teilchen vorstellten. Die Äußerung Pines', er zweifle daran, daß „die Atome schon in dieser frühen Zeit bewußt als punktuell aufgefaßt wurden"5, wäre hinsichtlich der eben erwähnten geschichtlichen Fakten berechtigt. Das heißt, 1 Siehe: S. Pines, a. a. O., arabische Ausg. S. 120. 2 Siehe: ebenda, S. 119. 3 Siehe: O. A. Farrukh, Genie der Araber in Wissenschaft und Philosophie, a. a. O., S. 44. 4 Siehe: Meyers Neues Lexikon, Bd. 6, Leipzig 1963, S. 213. 5 S. Pines, a. a. O., dt. Ausg., S. 5.

45 4 Tlainl, Materiebegriff

einen Einfluß der indischen „Zifr"-Lehre auf die Herauskristallisierung der islamisch-arabischen Atomlehre anzuerkennen, ist nicht gerechtfertigt. Anders verhält es sich hinsichtlich späterer Stadien dieser Lehre. Der griechische Einfluß hingegen ist nachweisbar. Die Kenntnis der antiken Philosophie wurde hauptsächlich durch Aristoteles vermittelt. Anfang des 9. Jahrhunderts wurden neben vielen Werken verschiedener Vertreter der griechisch-antiken Gedankenwelt mehrere Werke des Aristoteles ins Arabische übersetzt. Insbesondere übte dessen „Organon" nachhaltigen Einfluß aus. Anders als Piaton wurde es zur Quelle geistiger Auseinandersetzungen und weltanschaulicher Kämpfe, angefangen von den ersten Sekten bis zu den Philosophen der Spätzeit. Die ersten islamisch-arabischen Atomisten lernten die antike Atomlehre aus den Schriften des Aristoteles selbst und aus den Werken antiker Kommentatoren seiner Schrift kennen. Bekannt waren besonders die „Metaphysik" und „De anima" (Über die Seele).1 Allerdings wurde nicht die Atomlehre eines antiken Vertreters in unveränderter Form — sondern mehr ein Gemisch aus verschiedenen Lehren (aristotelische, platonische, pythagoreische) übernommen. Der Gedanke von der identischen, unteilbaren und einfachen Einheit Gottes tauchte bei den mutazilitischen Atomisten nicht erstmalig auf. Der weder gedanklich noch real, das heißt, weder potentiell noch in Wirklichkeit unteilbare Allah war kein völlig eigenes „Geschöpf" der verschiedenen Kalamlehren; er ist mit dem aristotelischen „Einen" sowie mit der pythagoreischen Eins-Einheit verwandt.2 Wenn Fritz Lieben mit Recht griechischen Einfluß auf die islamische Atomistik bejaht, so beschränkt er jedoch den Versuch, die demokritische Atomistik für religiöse Zwecke 1

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Auf folgende wichtige Tatsache muß hierbei aufmerksam gemacht werden, nämlich auf die, daß die Benennung und kurze Erläuterung der aristotelischen Bücher in einem philosophischen Brief des Philosophen Alkindi aus dem 9. Jahrhundert (siehe: Die philosophischen Briefe des Alkindi, hrsg. von M. A. Abu-rida, Mesr 1060, Bd. i , S. 363-384, arab.) einen klaren Beweis dafür bieten, daß Aristoteles' „Metaphysik" und „Über die Seele" sowie andere wichtige Werke von ihm diesen ersten Vertretern der Atomlehre bekannt waren. Im Zusammenhang damit muß man weiterhin bedenken, daß Alkindi in vielen Hinsichten mit den Mutaziliten verbunden war und von ihnen beeinflußt wurde. Siehe: Aristoteles, Metaphysik, Berlin 1960, S. 286; Schahrastani, a. a. O., S. 121-175.

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zu nutzen, auf die asaritische Lehre.1 Dieser Versuch lag aber auch, wie gezeigt, den ersten mutazilitischen Atomlehren zugrunde. Der Einwand Pretzls gegen die Annahme einer Beeinflussung der islamischarabischen Atomisten durch die griechisch-antike Atomistik, demzufolge die Atome von ersteren nicht in einem festgelegten kosmologischen Zusammenhang, nicht als letzte ursprüngliche, für die Erfassung des Weltgeschehens erforderliche Urelemente betrachtet werden,2 ist verfehlt. Wenn trotzdem in der islamischen Atomlehre die letzten Teilchen im Grunde so aufgefaßt werden, wie es Pretzl darlegt, ist dies kein Grund dafür, den griechischen Einfluß zu bestreiten oder die Ähnlichkeit zwischen der griechischen und der islamischen Atomistik lediglich auf die formelle Frage der Benennung zu reduzieren.3 Es gibt vielmehr inhaltliche Übereinstimmungen, die den antiken Einfluß eindeutig bezeugen: 1. Die Unteilbarkeit letzter Teilchen in der Realität wurde sowohl von Vertretern der islamisch-arabischen als auch von den Vertretern der antiken Atomistik (Demokrit, Epikur und Lukrez) angenommen.4 Die Unteilbarkeit wurde bei ersteren aus Gott, bei letzteren als immanente Eigenschaft des Atoms selbst erklärt. 2. Bei den ASariten befinden sich die Atome in keinem Zusammenhang miteinander. Es gibt zwischen ihnen keinerlei Wechselbeziehung. Sie können nur isoliert voneinander existieren. Jedoch bilden sie die Körper, die Akzidenzien und alles andere, von Allah Erschaffene. Aber dazu ist das ständige Eingreifen Allahs erforderlich. Dieser allein könne aus ihnen die Welt gestalten. Demokrit ließ in gewisser Hinsicht die Atome ebenfalls isoliert voneinander existieren, indem er ihre Wechselwirkung nicht als jedem Atom immanente Eigenschaft erklärte. Er griff jedoch nicht auf übernatürliche Kräfte zurück, um ihren Zusammenhalt untereinander zu erklären.5 Die sich mechanisch bewegenden Atome des Demokrit, d. h. die Atome, die „durch einen .Schlag' bewegt würden"6, erhalten bei den asaritischen Apologeten des ortho1

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Siehe: F. Lieben, Vorstellungen vom Aufbau der Materie im Wandel der Zeiten, Wien, 1953 S. 73 f. 2 Siehe: Pretzl, a.a.O., S. 138-140. Wie bei: Pinea, a. a. O., arabische Ausgabe, S. 94. Siehe: W. Capelle, Die Vorsokratiker, Berlin 1958, S. 295; ASari, a. a. O., S. 302-305; Al-naschaar, a. a. O., S. 399. Siehe: W. Capelle, Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 397; Pines, a. a. O., S. 2, deutsehe Ausgabe; Al-naschaar, a. a. O., S. 398. W. Capelle, Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 403.

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doxen Islam ein religiös-seelisches Gepräge. Sie bewegen sich, wirken aufeinander und existieren überhaupt erst durch den eingreifenden Willen Allahs. 3. E s ist bekannt, daß Demokrit den Atomen Schwere zuschrieb. 1 Bei den mutazilitischen Atomisten liegt ein anderer Ausgangspunkt vor. Nach Asari 2 sollen die Mutaziliten gesagt haben, daß durch die Anzahl der Teile eines Dinges seine Schwere bestimmt wird. Ein Ding kann erst schwerer als ein anderes sein, wenn es mehr Teile besitzt. Aiari nennt Al-gubbai als Vertreter dieser Ansicht. Die Kategorie der Schwere wurde also auch von islamisch-arabischen Atomisten verwendet oder zumindest erwähnt. Wenn sie sie auch nicht wie Demokrit dem Atom, sondern dem Ding zusprachen. 4. Des weiteren ist die Ähnlichkeit der Minima Epikurs mit den Teilen (agzä), nicht aber mit den Atomen bei den Mutakallimun, die Pines annimmt 3 , zu nennen. 5. Der Einwand Pretzls gegen den Einfluß der griechischen Atomistik, daß bei den klassischen Atomlehren der demokritische Gedanke vom leeren Raum fehle 4 , ist unberechtigt. Eine vollständige Übernahme der griechischen Atomistik durch die islamischen Atomisten erfolgte ohnehin nicht. Die islamisch-arabische Atomistik 5 stellt mehr eine Abart derjenigen des antiken Griechenlands dar. Ihrem Wesen nach war sie antiwissenschaftlich und abhängig von religiösen Postulaten. Ihr lag das Streben zugrunde, die Materie in ihrer quantitativen und qualitativen Vielfalt in den Raum theologischer Dogmatik hineinzupressen. Die entgegengesetzte Richtung, die Konzeption von den unendlich teilbaren Teilchen wirkte dagegen progressiv, antireligiös. Sie erfuhr ihre Fortsetzung später bei solchen Philosophen wie Ibn Sina. Unter den damaligen Umständen entsprang sie antireligiösen Positionen und diente der Entwicklung der Wissenschaft. 1 2 3 4 5

Siehe: ebenda, S. 407. Siehe: ASari, a. a. O., S. 420-421. Siehe: Pines, a. a. O., S. 98, deutsche Ausgabe. Siehe: O. Pretzl, a. a. O., S. 141. Die atomistischen Ansichten des großen Atheisten Al-razi wurden hier nicht behandelt, da dem Autor dazu gegenwärtig nicht genügend Material zugänglich ist.

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II Der Einfluß Piatons, Aristoteles' und Plotins Wenn Engels feststellt, „daß in den mannigfachen Formen der griechischen Philosophie sich fast alle späteren Anschauungsweisen bereits im Keim, im Entstehen vorfinden"1, dann ist dies natürlich nicht so zu verstehen, als ob sich die wesentliche Entwicklung des philosophischen Denkens ausschließlich auf das griechische Zeitalter beschränkt hätte und weiter beschränken würde und danach nichts Wesentliches mehr auf diesem Gebiet geleistet worden wäre. Hier geht es um die Aufdeckung und Darstellung der qualitativ neuen Momente in der Entwicklung des philosophischen Denkens, insbesondere des Materiebegriffs, bei den Philosophen des arabischen Mittelalters. Dabei geht es auch um den Nachweis der Einheit von Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung des menschlichen Denkens. Das Bekanntwerden der Araber mit den Werken Piatons und Aristoteles' erfolgte hauptsächlich direkt durch deren übersetzte Werke sowie auch durch die Schriften des alexandrinischen Neuplatonikers Plotin (204—269).2 Dabei entstand ein grundlegender Irrtum, der das philosophische Denken im arabischen Imperium in unterschiedlichem Maße prägte und zu Komplikationen führte. Er wurde durch die letzten drei Bücher des plotinschen Werkes „Enneaden" hervorgerufen, die als „Theologie" des Aristoteles übertragen wurden. Ihre Übersetzung erfolgte von 'Abdillmasih ibn abdallah na'ima al-himsi (um 835). In der ersten Zeit der philosophischen Entwicklung waren bereits fast alle wichtigen Werke des Aristoteles bekannt. Der Brief des Alkindi „Die Zahl der Bücher des Aristoteles und was verlangt wird zur Erwerbung der Philosophie"3 ist dafür ein wertvolles Dokument. In diesem Brief des Alkindi, der als der erste eigentliche Philosoph des islamischarabischen Mittelalters gilt, wird deutlich, in welch hohem Maße die aristotelischen Werke bekannt waren. Die „Metaphysik", „Über die Seele", „Über den Himmel", „Parva Naturalia", „Über Entstehung und Vergehen", „Meteorologie" und andere zoologische, ethische und logische Schriften wurden in diesem Brief nicht nur erwähnt, sondern 1 2

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K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 333. Schahrastani nennt Plotin — da er diesen Namen nicht kannte — den griechischen Scheich (Gelehrten). Schahra3tani, Bd. 2, a. a. O., S. 144. Die philosophischen Briefe des Alkindi, a. a. O., Bd. 1, S. 350.

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auch inhaltlich wiedergegeben und erläutert.1 Dabei wird auch deutlich, daß Alkindi bestrebt ist, die Werke des Aristoteles von den Schriften anderer Philosophen, insbesondere Piatons zu unterscheiden. Was nun die Werke Piatons betrifft, so berichtet Ibn al-nadim in seinem „Fahrist", daß Hunein ibn-ishaq (810—877) die „Politik" des Piaton gekannt hat. 2 Man kannte damals aber auch schon von Piaton die „Apologie", den „Timäus", den „Sophisten", den „Phädrus" und die „Republik", ferner die Dialoge „Kriton", „Gorgias", „Menon", „Protagoras"3. Aus der Übersetzung der Werke des Aristoteles, Piatons und Plotins sowie anderer griechischer Denker ergaben sich interessante geistige Verflechtungen, aber auch Verwirrungen. Die weltanschaulichen Auseinandersetzungen zu Anfang des damaligen arabischen Imperiums zwischen den verschiedenen Sekten und Philosophen wurden hiervon — und zugleich von islamischen und anderen Einflüssen bestimmt. Für das Verständnis jener Auseinandersetzungen sowie der weiteren philosophischen Entwicklung ist die Kenntnis des komplizierten Differenzierungsprozesses zwischen aristotelischem, platonischem und neuplatonischem Denken unerläßlich. Das Interesse der meisten arabischislamischen Philosophen an dem Werk des Aristoteles wurde von der damaligen konkreten Situation getragen. Die Entfaltung vielseitiger Handelsverbindungen sowie der Warenproduktionen und der Landwirtschaft war mit der Entwicklung der Naturwissenschaft eng verbunden. Die technischen Bedürfnisse dieser Wirtschaft regten in hohem Maße die Naturwissenschaft an. Man braucht nur an die vielen Erfindungen und Entdeckungen auf den verschiedenen Gebieten, wie denen der Chemie, Astronomie, Mechanik usw., zu denken. 4 Diese Entwicklung wurde zunächst, und zwar in ganz besonderer Hinsicht, vom Islam selbst gefördert. In dieser Situation waren vor allem die Werke des Aristoteles von Nutzen. Seine empirische Methode förderte mehr die einzelwisscnschaftlichen Bestrebungen als die Spekulationen Piatons. Schon von den ersten philosophierenden Mutaziliten wurden das „Organon" und die „Metaphysik" verwendet. Die platonische und neu1 2 3 4

Siehe den Brief: In: ebenda, S. 363-384. Siehe: Ibn al-nadim, Fahrist, Kairo 1348 nach Higra, S. 344 (arab.). Siehe: ebenda, S. 353; De Boer, a. a. O., S. 28. Siehe dazu: Q. H. Tuqan, Die Wissenschaften bei den Arabern, Mesr (ohne Datum) in der Reihe „1000 Bücher" (arab.); J. D. Bernal, Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1967, S. 179-183.

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platonische Gedankenwelt wurde von den orthodoxen Mutakallimun sowie von Alkindi und Alfarabi übernommen, da letztere unter starkem Einfluß der islamischen Religion standen. Die orthodoxen islamischen Vertreter bedienten sich der aristotelischen Logik, oder besser, sie wurden von den gegnerischen, hauptsächlich mutazilitischen Gruppen dazu gezwungen, um ihre Dogmen gegenüber diesen Gruppen zu verteidigen und aufrechtzuerhalten. Sie bekämpften zugleich die Gotteslehre des Aristoteles, weil Gott hier nur als erster Beweger der Welt gilt, und zugleich dessen Materiekonzeption, weil die Materie hier ebenso ewig existiert wie der erste Beweger. Dies waren zwei Hauptpunkte für oder gegen die ein langwieriger und vielfältiger Kampf geführt wurde. Die Irrtümer, die durch die angebliche „Theologie" des Aristoteles ausgelöst wurden, waren vielfältig und nachhaltig. Der Distanzierungsprozeß des Materialismus und Atheismus vom Idealismus und von der Religion wurde damit stark erschwert. Aristoteles wurde zugunsten des Idealismus und der Religion ausgelegt. Die Gegensätze zwischen Aristoteles einerseits sowie Piaton und Plotin andererseits wurden verwischt oder zumindest abgeschwächt. Die, wenn auch schwachen Versuche 1 einer Entwirrung dieser folgenschweren Mißverständnisse sind eben als ein Ausdruck jenes Distanzierungsprozesses zu bewerten. Die islamisch-arabischen Philosophen entwickelten ihre Materiekonzeption hauptsächlich in Anlehnung an die Philosophie des Aristoteles, Piatons und Plotins, aber auch unter islamisch-arabischem Einfluß. Der Islam als Religion, in Verbindung mit den platonisch-neuplatonischen Überlieferungen sowie mit den idealistischen Elementen im System des Aristoteles, hatte geistige Voraussetzungen geschaffen, die auch bei der Ausarbeitung und Fixierung einer häretischen Materiebzw. Weltkonzeption von Einfluß waren. Die ersten bedeutenden Philo1

Wir begegnen solchen Versuchen zum Beispiel bei Alkindi in seinem schon erwähnten Brief über die Zahl der aristotelischen Bücher, wobei die angebliche „Theologie" überhaupt nicht angeführt wird; weiterhin bei Alfarabi in seinem Buch „der Vereinigung der Auffassungen der zwei Weisen" (Mesr 1907, S. 1—4, arab.) wobei er bei seinem Vermittlungsversuch zwischen Aristoteles und Piaton offensichtlich davon ausgeht, daß ein Unterschied zwischen ihnen besteht. Später äußert Ibn Sina ebenfalls seine Zweifel über die Herkunft der „Theologie" (Siehe: Kitab almubahthat von Ibn Roschd, in: Badawi, Aristoteles bei den Arabern, Bd. 1, Kairo 1947, S. 121, arab.). 51

sophen im Bereich des Islam, Alkindi und Alfarabi konnten diesen religiös-idealistischen Rahmen nicht sprengen. In ihrer Materieauffassung bewegten sie sich auf islamischem, platonischem und neuplatonischem Boden. Sie wollten den Widerspruch zwischen Philosophie (Wissen) und Religion (Glauben) in dem Sinne lösen, daß beide ihre Berechtigung hätten. Beide lehnten die Auffassung von der Ewigkeit der Materie ab — allerdings unter verschiedenen Voraussetzungen. Alkindi vertrat, im Einklang mit dem Islam, den Schöpfungsgedanken, während Alfarabi der neuplatonischen Grundlage verhaftet blieb. Einem echten Fortschritt in der Materieauffassung gegenüber dem aristotelischen Standpunkt begegnen wir erst bei Ibn Sina, Ibn Tofeil und vor allem später bei Ibn Roschd. HI Alkindi; Dualismus von Welt und Gott. Die Bedingtheit von Zeit, Bewegung und Körper Alkindi (873 gestorben) war der erste wirklich bedeutende Philosoph im arabischen Mittelalter. Er lebte in einer Zeit, in der die Weltvorstellungen der Mutaziliten gewissermaßen zur Staatsreligion deklariert worden waren und die diesen entgegenstehenden Auffassungen der orthodoxen, fatalistischen Richtung an Einfluß verloren, d. h. von der Kalifatszeit des Mamun (813—833) über die des Mutasim (833—842), des Al-Wathiq (842—847) bis zu dem Zeitpunkt, äls Al-mutawakkil im Jahre 847 an die Macht kam. Es war eine Blütezeit der sozial-ökonomischen und geistigen Entwicklung im arabischen Imperium. Mit Al-mutawakkil setzte eine Terrorwelle gegen die Mutaziliten ein, von der auch Alkindi betroffen wurde. Wenn dieser sich auch mehr oder weniger im Rahmen des mutazilitischen Denkens bewegte, 1 so ging er doch darüber hinaus. Unter griechischem, speziell aristotelischem Einfluß schuf er eine relativ eigenständige Philosophie. Bei seiner Materiekonzeption ging er allerdings von einem anderen Ausgangspunkt aus. Hier ist starker islamischer Einfluß vorhanden. 1

Siehe: Die philosophischen Briefe des Alkindi, a. a. O., Bd. 1, S. 27—31; K. Jasgi, Merksteine des arabischen Denkens im Mittelalter, Beirut 1961, S. 190 (arab.).

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Allah und das Weltall sind zwei unvereinbare Pole. Das koransche Schöpfungspostulat: „Sei! und es ward"1 erhält bei Alkindi philosophischen Charakter. Bei seiner ganzen Beweisführung geht es ihm im wesentlichen um die Klärung der Kategorien „Endlichkeit" und „Unendlichkeit" sowie ihres Verhältnisses zueinander. Unendlich ist danach Allah, das Weltall hingegen bzw. die Körperweit sind endlich. Dieser Grundgedanke durchzieht das gesamte System Alkindis. In seinen Ansichten zur Körperwelt finden sich die meisten Ansätze eines natürlichen Weltverständnisses. So schreibt er: „. . . die Natur ist eine erste Ursache für alles sich Bewegende und für alles Ruhende . . .. alles Natürliche ist beweglich; also ist die Lehre von der Natur die Lehre von allem Beweglichen. Unbeweglich hingegen ist das Übernatürliche. Also ist die Lehre von diesem auch die Lehre vom Übernatürlichen." 2 In einem anderen Brief schreibt er: „ . . . die Lehre der natürlichen Dinge ist die der beweglichen Dinge, weil die Natur das Ding ist, das Allah zum Grund und zur Ursache für alle beweglichen Dinge"3 macht. Hiermit zieht Alkindi eine unüberwindliche Grenze zwischen der göttlichen und der natürlichen Welt. Wenn die Natur bei Plotin die letzte und deshalb niedrigste Stufe in der Emanation des Einen darstellt, so ist sie bei Alkindi das Ergebnis eines göttlichen Schöpfungsaktes, den eben nur der erste Grund, nämlich Allah, vollziehen kann. Dieser erste Grund ist „schöpfend, wirkend, das Ganze vervollkommnend und unbeweglich" 4 . Das Ergebnis ist hier nicht als Schlußglied einer Kausalkette anzusehen. Denn die Tätigkeit Allahs, deren Ergebnis die Entstehung der Welt ist, sei eine Schöpfung der Dinge und Wesen aus dem Nichts.5 Die Schöpfung aus dem Nichts ist Zentral- und Ausgangspunkt für das philosophische System des Alkindi. Hinsichtlich des historischen Ganges der philosophischen Entwicklung stellt er zur Zeit Alkindis bereits einen gewissen Bückschritt dar. Aristoteles nahm neben 1

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Alkindis Brief über die Zahl der Bücher des Aristoteles. In: Die philosophischen Briefe des Alkindi, a. a. O., S. 375; der Koran, Yazin-Sure, Vers 83. Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, Bd. 1, S. 111. Alkindis Brief über die Natur der Himmelssphäre. In: ebenda, Bd. 2, S. 40. Alkindis Brief über die Definitionen und Merkmale der Dinge. In: ebenda, Bd. 1, S. 165. Siehe: ebenda und: Alkindis Brief über den ersten Beweger, In: ebenda, S. 182.

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dem ersten Beweger eine formlose Urmaterie an und hielt die Behauptung von der Schöpfung der Welt aus dem Nichts für unhaltbar. Die „Materie" des Plotin ging aus dem Einen und nicht aus dem Nichts hervor. Der Standpunkt Alkindis hingegen war wesentlich theologisch. Hinzu kommt, daß dadurch dem philosophischen System des Alkindi der Tendenz nach ein absoluter Dualismus innewohnt. Jedoch in Anbetracht dessen, daß Alkindi den Versuch unternommen hatte, den im Islam behaupteten Schöpfungsakt philosophisch auszulegen, kam es zu einer gewissen Rationalisierung und damit zugleich auch zur Schwächung der theologischen Positionen des Islam. Um seinen dualistischen Standpunkt von der Existenz zweier, grundsätzlich voneinander unterschiedener Welten zu rechtfertigen und zu begründen, bedient er sich der Begriffe „Endlichkeit" und „Unendlichkeit". Seinem dualistischen System entsprechend, läßt er Allah Unendlichkeit, dem Körper aber Endlichkeit zukommen. Die Attribute Vergehen, Veränderung, Unvollkommenheit, kurz alles, was Quantität oder Qualität besitzt, träfen auf den Körper zu.1 Da der Körper Qualität und Quantität besitze, habe er keinen Anteil an der Unendlichkeit. Bei der Beweisführung greift Alkindi zu formallogischen Mitteln, bei denen vor allem die „Größe" eine Rolle spielt. 1. Alle gleichartigen und gleichgroßen Größen sind gleich. 2. Wenn diesen eine gleichartige Größe hinzugefügt wird, werden deswegen nicht alle diese Größen gleich. 3. Es ist unmöglich, daß eine von zwei gleichartigen, unendlichen Größen kleiner sein kann als die andere. 4. Die endlichen gleichartigen Größen sind in ihrer Gesamtheit endliche Aus diesen Prämissen stellt Alkindi sein Hauptpostulat auf, wonach jeder Körper Endlichkeit besitzt.3 Unendlich ist er nur der Möglichkeit (Potentia) nach. Dies sei allerdings Sache der Vorstellung.4 Körper5 1 2

3 4 5

Siehe: Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, S. 114 f. Diese vier Prämissen führt Alkindi in seinem Brief über die Klärung der Endlichkeit der Körperwelt an. In: ebenda, S. 188—190.

Siehe: ebenda, S. 191. Siehe: Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, S. 116. Alkindi bestimmte den Körper unter anderem als „lang", „breit" und „tief" (Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, S. 120, und sein Brief über Definitionen und Merkmale der Dinge. In: ebenda, S. 165). Dieser Bestimmung des Körpers begegnen wir auch bei dem Mutaziliten

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und Materie seien nicht schlechthin miteinander identisch. Die Dinge werden von Alkindi in dreiKategorien eingeteilt: 1. Dinge, die unrennbtar mit der Materie verbunden sind; 2. Dinge, die unabhängig von der Materie existieren; 3. Dinge, die an die Materie gebunden sein können, mit ihr jedoch nicht identisch und somit von ihr trennbar sind. 1 Diese drei Arten von Dingen könnten im wesentlichen auf zwei reduziert werden: auf die zusammengesetzten, mit der Materie verknüpften Dinge, wie Körper und Seele, und auf von der Materie unknüängige, göttliche Dinge.2 Zu ersteren gehören außer der Materie, Form, Baum, Bewegung und Zeit.3 Materie und Form gelten hierbei als die grundlegenden Substanzen/* Sie seien einfach, d. h. unteilbar und deshalb das Ausgangsmaterial solcher Elemente wie des Warmen, des Kalten, des Feuchten und des Trockenen. Die Materie bestimmt er als das, „was zwar aufnimmt, aber selbst nicht aufgenommen wird . . . Wenn die Materie aufgehoben wird, so wird auch das, was ihr entgegengesetzt ist, aufgehoben. Umgekehrt jedoch, wird sie nicht aufgehoben, wenn das ihr Entgegengesetzte aufgehoben wird. Aus Materie sei alles. Sie sei das, was die Gegensätze aufnähme, ohne dabei zugrunde zu gehen." 5 Ferner definiert er die Materie als „Vermögen, das zum Aufnehmen der Form befähigt ist"®. Mit Aristoteles stellt Alkindi also fest, daß die Materie Subjekt der Form, diese, dem Aktiven gegenüber passiv ist. Im Gegensatz zu Aristoteles hält er sie aber für von Allah geschaffen. Es bestehen jedoch zwischen Alkindi und Aristoteles weitere Unterschiede hinsichtlich der Materieauffassung. Dies wird deutlich an Hand der „Briefe" des Alkindi. Für Aristoteles existiert der Stoff dem Vermögen nach, die Form hingegen wirklich. Die Vereinigung als Endziel (Entelechie) dieser zwei Momente nennt er die „Verwirklichung". Alkindi spricht das Vermögen beiden, der Materie und der Form, zu. 7 Im Zusammenhang mit den Begriffen „Möglichkeit" und „Verwirklichung" unterscheidet Al-

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2 3 4 6 7

Mu'ammar (siehe: Asari, a . a . O . , S. 303), was die Beziehung Alkindis zu den Mutaziliten deutlich macht. Siehe: Buch der fünf Substanzen von Alkindi. In: Die philosophischen Briefe des Alkindi, a. a. O., Bd. 2, S. 8-10. Siehe: ebenda, S. 10. Siehe: ebenda, S. 14. 5 Ebenda. Siehe: ebenda, S. 16. Brief über Definitionen und Merkmale der Dinge. In: ebenda, S. 166. Siehe: Buch der fünf Substanzen von Alkindi. In: ebenda, S. 20.

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kindi drei Arten von Dingen: die der Wirklichkeit nach existierenden Dinge, die der Möglichkeit nach existierenden Dinge und die der Möglichkeit nach existierenden, aber in die Verwirklichung übergehenden Dinge.1 Dabei soll die Himmelssphäre die erste Kategorie ausmachen. Was sich unterhalb dieser Sphäre befindet, gehöre der zweiten und dritten Kategorie an, da die Himmelssphäre der Grund für alles unter ihr Existierende sei.2 Die Himmelssphäre zähle zu den göttlichen Dingen und sei damit frei von jeder Materie und Form.3 Ein weiterer Unterschied zu Aristoteles ist der, daß die Form von ihrem Element nicht trennbar ist. 4 Unter Element versteht Alkindi hier die Materie.5 Bei Aristoteles findet sich diese Einheit nicht. Indem Alkindi den ersten Schöpfer entmaterialisiert, wird dieser der reinen Form oder der Form der Formen des Aristoteles ähnlich. Form und Materie existieren nach Alkindi nur innerhalb der sublunarischen Welt. Diese letztere ist als der unmittelbar wirkende Grund all dessen anzusehen, was sich „unter" ihr befindet.6 Der Ewige ist an keine Form oder Materie gebunden. Er ist der erste, wirkende, alles bewegende, selbst aber unbewegte Grund von allem.7 „Oberhalb" von ihm befindet sich nichts; unter ihm befindet sich jedoch alles, auch die Himmelssphäre. Von seinem transzendenten Ort aus regiere und kontrolliere er die Welt. So unterscheidet Alkindi auch zwei Gründe: einen „fernen" Grund (Allah) und einen „nahen" Grund (Himmelssphäre).8 Wenn 1

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Siehe: Alkindis Brief über Klärung der Prosternation der Himmelssphäre. In: ebenda, Bd. 1, S. 251. Siehe: ebenda. Diese Teilung der Welt in eine translunaxische und in eine sublunarische Welt übernahm Alkindi von Aristoteles. Siehe: ebenda, Si 248. Jedoch ist hier Alkindis Meinung nicht widerspruchsfrei. Wenn er meint, alles Sinnliche enthalte immer Materie und deshalb sei das Sinnliche ein Körper (Die erste Philosophie, a. a. O., S. 107), die Himmelssphäre aber sei ein Körper (Klärung der Prosternation der Himmelssphäre, a. a. O., S. 247), so befindet sich dies nicht in Übereinstimmung mit dem oben Dargelegten. * Siehe: ebenda. Siehe dazu: Alkindis Brief über Definitionen und Merkmale der Dinge. In: ebenda, S. 166. Siehe: Alkindis Brief über Klärung der Proaternation der Himmelssphäre. In: ebenda S. 248. Siehe: Alkindis Brief über Definitionen und Merkmale der Dinge. In: ebenda, S. 165. Siehe:. Buch des Alkindi über Klärung des nahen hervorbringenden Grundes. In: ebenda, S. 219.

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Aristoteles von einer ersten Materie spricht, so versteht er darunter das Unbestimmte, das in der Lage sei, jede Form aufzunehmen. Die Materie wird als etwas Passives, Empfangendes bestimmt, das außer dem Sein kein weiteres Attribut besitzt. Erst durch das Hinzutreten der Form entstehen unterschiedliche Qualitäten. Diese aber sind nach Alkindi schon in der Materie selbst enthalten: „ . . . Nicht jede Materie nimmt jede Form auf", denn „die Form, die in der Materie ist, folgt der Materie" nicht umgekehrt. Alkindi ließ sich vom islamischen Gedanken einer göttlichen Schöpfung aus dem Nichts leiten. Das muß jetzt näher präzisiert werden. Wenn Alkindi die plotinsche Emanationslehre auch nicht in seine Philosophie aufnahm, so zeigen sich doch bei ihm Gedanken, die der Emanationslehre nahestehen, was als deutlicher Ausdruck dafür gewertet werden sollte, daß Alkindi seine Schöpfungslehre nicht konsequent zu Ende führen konnte. In diesem Zusammenhang ist die Einordnung der materiellen Welt von Interesse. Die Ursachen teilt er — hierbei Aristoteles folgend — in Materialursachen, Formalursachen, Wirkursachen und. ZWeckursachen auf. 2 Weiterhin teilt Alkindi die Wirkursache, die bei ihm an der Spitze steht, 3 in die „nahe" und die „ferne" Ursache. 4 Wenn Allah die erste und „ferne" Ursache ist, die alles aus dem Nichts erschafft, 5 so stellt die Himmelssphäre die „nahe" Ursache für die irdische Sphäre dar. Es liegt also eine stufenweise Schöpfung vor: die Himmelssphäre entsteht durch den ersten Schöpfungsakt der ewigen und „fernen" Wirkursache (Allah), worauf die Schöpfung der vergänglichen irdischen Sphäre durch die „nahe" Wirkursache, die Himmelssphäre, folgt. 6 Dieser stufenweise Schöpfungsakt ist im alkindischen philosophischen System festzustellen, obwohl er doch an anderer Stelle beide Schöpfungsstufen auf eine, nämlich die göttliche Schöpfung reduziert. Alkindi spricht von zwei Arten des Schöpfungsaktes, dem eigentlichen nur Allah zukommenden, der die Schöpfung aus dem Nichts bedeutet, 7 und dem mehr im übertragenen 1 2 3 5 7

Brief des Alkindi über Wesen des Schlafens und Träumens. In: ebenda, S. 299. Siehe: Buch des Alkindi über Klärung des nahen • hervorbringenden Grundes. In: ebenda, S. 217. 4 Siehe: ebenda, S. 219. Siehe: ebenda, S. 218. Siehe: ebenda. « Siehe: ebenda, S. 236. Siehe: Alkindi« Brief über den eigentlichen ersten vollkommenen Akteur. In: ebenda, S. 182. 57

Sinne zu verstehenden Schöpfungsakt,1 der durch den ersteren verursacht wird. Denn Allah sei in der Tat der erste Grund aller Geschöpfe, sei er es nun direkt, wie bei der translunarischen, oder indirekt, wie bei der sublunarischen Welt. 2 Dies zeigt deutlich, daß die Emanationslehre nicht ohne Einfluß auf Alkindi gewesen ist. Dies wird noch dadurch bekräftigt, daß Alkindi bei seiner Ansicht von der Einheit und dem ersten Einen direkt von „Emanation" spricht.3 Alkindi ist in seiner Auffassung über das Unendliche und das Unbegrenzte von Aristoteles ausgegangen. Aristoteles stellte in seiner „Metaphysik" fest, „daß das Unbegrenzte kein Sinn der Verwirklichung", sondern der Möglichkeit nach ist. 4 Ebenso meint Alkindi: „Alles, was der Möglichkeit nach keine Endlichkeit besitzt, ist auch der Möglichkeit nach unendlich."5 Ein Körper, der sinnliche Qualitäten aufweist, kann sowohl nach Aristoteles6 als auch nach Alkindi7 der Verwirklichung nach nur endlich sein. Das Argument, das Aristoteles gegen die Annahme des Unbegrenzten anführt, findet sich im wesentlichen bei Alkindi wieder. Aristoteles argumentiert: „Denn sonst wäre jeder beliebige Teil des Unbegrenzten, den man herausgreift, selbst unbegrenzt." 8 Und Alkindi meint, wenn ein Körper, von dem ein Körper endlicher Größe genommen wird, selbst keine Endlichkeit besäße, so muß das Verbleibende entweder von endlicher oder unendlicher Größe sein. Für Alkindi aber ist es ein Unding, daß ein Körper keine Endlichkeit besitzt. Aus der Endlichkeit des Körpers ergeben sich für Alkindi weitere, damit im Zusammenhang stehende Schlußfolgerungen hinsichtlich der Zeit, des Raumes und der Bewegung. Der Körper ist danach, formallogisch ausgedrückt, Subjekt. Seine Prädikate sind Zeit, Raum, Quantität und Bewegung. Da das Subjekt (Körper) nicht unendlich sein kann, so können auch seine Prädikate 1 2 3 4 5

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Siehe: ebenda, S. 183. Siehe: ebenda. Siehe: Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, S. 162. Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., S. 268. Alkindis Brief über die Einheit des Allah und Endlichkeit des Weltkörpers. I n : Die philosophischen Briefe des Alkindi, a. a. O., S. 203. Siehe: Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., S. 268. Siehe: Alkindis Brief über die Einheit des Allah und Endlichkeit des Weltalls. In: ebenda, S. 203 Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., S. 268.

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der Verwirklichung nach nicht unendlich sein.1 Unendlich können sie nur der Möglichkeit nach existieren.2 Der Körper und seine Prädikate existieren nur zusammen: „Kein Körper ist ohne Zeit . . . Die Bewegung ist Bewegung des Körpers."3 Dies alles befindet sich im Jetzt. 4 Wenn der Körper und seine Prädikate auch untrennbar voneinander existieren, so sind sie doch nicht miteinander identisch. Die Zeit ist, mit Aristoteles' Zeitkonzeption übereinstimmend, „Zahl der Bewegung".5 Denn „wenn es keine Zeit gäbe, so gäbe es dann keine Zeitspanne (Zeitraum), die die Bewegung zählt. Weil, wenn es eine aufeinanderfolgende Zeitspanne gibt, so ist ,von . . . zu' existent."6 Wenn Alkindi aus seinem Postulat von der Endlichkeit des Körpers, der Zeit, des Baumes und der Bewegung die Schlußfolgerung zieht, daß diese erschaffen seien, so steht er auch hier mit Aristoteles nicht im Einklang; denn Aristoteles stellt fest, daß es unmöglich ist, „daß Bewegung — oder auch Zeit — irgendwann einmal entstanden wäre oder verginge, denn sie war immer. Es kann kein Früher und Später geben, wenn es keine Zeit gibt."7 Bewegung und Zeit sind bei Aristoteles nicht nur existentiell durcheinander bedingt, wie bei Alkindi, sondern auch ewig, genauso wie die Materie und der erste Beweger. Nach Aristoteles sind sie indessen auch kontinuierlich. Bei Alkindi ist die Zeit zwar ebenfalls kontinuierlich,8 die Kontinuität der Zeit ist jedoch abhängig vom Willen Allahs. Denn mit diesem Willen beginnt oder endet alles. Die Entstehung der sinnlichen Welt stellt bei Alkindi eine Bewegung dar.9 Diese Bewegung setzt keine frühere Bewegung voraus.10 Allah allein sei in der Lage, die Schöpfung der sinnlichen Welt zu vollenden. Das heißt 1

Siehe: Alkindis Brief über Monität . . . In: Dio philosophischen Briefe des Alkindi, a. a. O., S. 203. 2 Siehe: ebenda, S. 204. 3 Siehe: ebenda. 4 Siehe: ebenda, S. 205. 5 Ebenda, S. 204. 6 Alkindis Brief über das Wesen von dem, was keine Unendlichkeit besitzen kann. In: ebenda, S. 196. 7 Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., S. 283. 8 Siehe: Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, S. 122. 9 Siehe: Buch der fünf Substanzen von Alkindi. In: ebenda, S. 24. 10 Bei Aristoteles setzt jede Bewegimg eine ihr vorausgehende voraus, da zur Bewegung ein Anstoß notwendig ist, der seinerseits mit dem ersten Beweger primum movens gleichzusetzen ist.

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also, daß die Bewegung nicht unendlich und nicht ewig ist. Von Allah kann sie geschaffen oder zerstört werden. Sie entsteht zugleich mit dem Körper.1 Wenn Alkindi die Zeit für kontinuierlich hält, so meint er damit, „daß sie eine gemeinsame Grenze für das Vergangene und das Kommende hat. Ihre gemeinsame Grenze ist das Jetzt, das das Ende der vergangenen und der Beginn der kommenden Zeit ist." 2 Die Bewegung kann, wie die Zeit, nicht unendlich sein, weil sie (Bewegung und Zeit) Prädikate des endlich existierenden Körpers darstellen. Die Entstehung eines Körpers als des Subjekts und seiner Prädikationen ist lediglich möglich, wenn es Allah will. ' Uberschauen wir nun die Materiekonzeption Alkindis insgesamt, so sehen wir zunächst sein Grundpostulat, nämlich dies, daß es in der Natur nichts Willkürliches gäbe, nichts, das keine Ursache habe, sondern daß alles seinen Grund im Willen Allahs habe. Dieser teleologische Standpunkt unterscheidet sich von demjenigen des Aristoteles nur dadurch, daß bei Alkindi das Verhältnis der Dinge zu Gott von dessen absolutem Willen abhängig ist, während bei Aristoteles das Verhältnis der Dinge zum ersten Beweger oder der reinen Form vom Streben der Dinge nach demselben diktiert wird. Die Materie wird dadurch bei Alkindi zu etwas Passivem, fatalistisch auf Gott Ausgerichtetem. Die weitere Entwicklung der Materieauffassung bei den islamischarabischen Philosophen, von Alfarabi über Ibn Sina bis Ibn Roschd, implizierte die Überwindung der Auffassungen Alkindis. Von wesentlicher Bedeutung wurde hierbei die Übernahme plotinschen Gedankenguts durch Alfarabi sowie die Übernahme und wissenschaftliche Ausdeutung des aristotelischen Materiebegriffs durch Ibn Sina und Ibn Roschd. 1

Siehe: Alkindis Brief über die erste Philosophie. In: ebenda, S. 119. 2 Ebenda, S. 122.

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t . KAPITEL

Alf arabi; Kampf gegen Dualismus und

Schöpfungsglauben

Die spezifischen Schwierigkeiten, die einer logisch-konsequenten Beweisführung des von Alkindi vertretenen Prinzips der Schöpfung aus dem Nichts anhafteten, begünstigten seine Zurückdrängung sowie die Formierung einer neuen philosophischen Richtung, der die Emanationslehre zugrunde lag. Auf gesellschaftlicher Seite waren es die materiellen Entwicklungsbedürfnisse der wachsenden Warenproduktion, des umfangreichen Handels und der damit zusammenhängenden rasch zunehmenden Rolle der Stadt als gesellschaftliches und geistiges Zentrum, die diese Entwicklung günstig beeinflußten. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Naturwissenschaften. Die Übernahme der Emanationslehre durch Alfarabi und andere war mit der Bekämpfung der rationalistischen Theologie Alkindis, die ein ernstes Hindernis für die Entwicklung einer selbständigen Naturwissenschaft wurde, verbunden. Dies geschah im Namen der vom Islam geförderten vernunftmäßigen Auslegung der Dogmen. Tatsächlich aber standen das Dogma von der Schöpfung aus dem Nichts und dessen rationalistische Deutung in einem tiefen Widerspruch zueinander. Die philosophischen Anschauungen, die sich im Rahmen der islamischarabischen Gedankenwelt entwickelten, sind mehr oder weniger durch diesen Konflikt bestimmt worden. Die heterodoxen zum Materialismus und Atheismus tendierenden Denker betonten die rationalistische Auslegung und griffen zugleich auf die progressiven geistigen Überlieferungen anderer Völker zurück. Die Auslegung der islamischen Religion in einem zum Teil antireligiösem Sinne war von großer Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung progressiver weltanschaulicher Richtungen. Der Verzicht auf das islamische Zentraldogma von der Schöpfung aus dem Nichts konnte, wenn auch mit Schwierigkeiten, aus Sätzen der islamischen Theologie selbst begründet werden. Damit verbunden

61 5 Tisi ni, Materiebegriff

baute Alfarabi die Emanationslehre zu einer umfassenden philosophischen Lehre aus. Alfarabi wurde vermutlich 870 in einem Dorf in der Nähe von Farab (Türkei) geboren; 950 starb er in Damaskus, nachdem er eine Zeit lang am Hofe des Emirs Saif-addaula in Aleppo gelebt hatte. Er wuchs in Armut und Dürftigkeit auf. „Er war Hüter eines Gartens in Damaskus. Er war zugleich immer mit der Philosophie beschäftigt. Und er war arm, ließ sich in der Nacht von der Laterne des Wächters beleuchten." 1 Seine soziale Situation bestimmte im großen und ganzen die Richtung seines geistigen Schaffens, besonders auf dem Gebiet der Gesellschaftslehre. Alfarabi versuchte ein umfassendes philosophisches System zu konstruieren, wobei er auch der Gesellschaft seine Aufmerksamkeit widmete. Uns interessiert hier seine Materiekonzeption und in diesem Zusammenhang der Fortschritt, den sie gegenüber der Materieauffassung Alkindis enthält. Bei der Ausarbeitung seines philosophischen Systems bediente sich Alfarabi solcher Grundbegriffe wie „Notwendigkeit", „Möglichkeit", „Ausstrahlung", „Einheit", „Vielheit" und anderer. An der Spitze der Welt stand das erste Seiende. Dieses faßt Alfarabi negativ. 2 Es sei vom menschlichen Verstand nicht zu erfassen. Trotzdem könne es von diesem folgendermaßen definiert werden: Es ist in seinem Wesen, das als geistiges Wesen gefaßt wird, eins, sowohl der Quantität als auch der Qualität nach. 3 Es sei weder mit dem Nichts behaftet, noch könne es vergehen. 4 Es enthalte keinerlei innere oder äußere Differenzen und sei zugleich das Denken (Geist), das Denkende und das Gedachte. 5 Ferner sei es an keine Form gebunden, da die Form ohne Materie nicht existieren könne. 6 Als solches sei es notwendigerweise die erste Ursache sowie der erste Zweck.7 Als Wesenbestimmung gehört zu ihm ferner 1

Zitiert nach: Alfarabi . . . von H. Muruwa. In: At-tariq, Heft 5, Beirut 1963, S. 10. 2 Siehe: Alfarabi, Ansichten der Bewohner einer Musterstadt, 2. Aufl., Kairo 1948, S. 8 (arab.). Dieses Werk, das ins Deutsche unter dem Titel „Der Musterstaat" von F. Dieterici, 1900, Leiden, übertragen wurde, ist das wichtigste unter Alfarabis Werken. 3 Siehe: ebenda, S. 8 - 9 . 4 Siehe: ebenda, S. 2. 5 Siehe: ebenda, S. 10. 6 Siehe: ebenda, S. 3. "> Siehe: ebenda, S. 2 - 3 .

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die Notwendigkeit zur unbedingten Verwirklichung. Alfarabi verwendet diesen NotwendigkeitsbegrifF nur implizit.1 Im Zusammenhang mit seiner „Ausstrahlungsauffassung" ergibt sich außerdem die Notwendigkeit dieses Begriffes, um das erste Seiende von den anderen Seinsarten zu unterscheiden.2 Alfarabi geht davon aus, daß alles, was aus dem ersten Seienden hervorgeht, dies durch Emanation tue.3 Wenn dieses erste Seiende nun das andere Sein aus sich emaniert, so bedeutet dies nicht, daß es deshalb zwei Momente in sich enthält, nämlich das Wesen und das, aus dem das andere Seiende hervorgeht.4 Erstes Sein und sein Wesen sind vielmehr identisch. Es ist „freigebig" und „gerecht".5 Mit der Existenz des Ersten existiert sogleich die Notwendigkeit seiner Emanation.6 Diese Notwendigkeit steht zunächst nicht im Widerspruch zur „Freigebigkeit" (Freiheit) und Gerechtigkeit des ersten Seienden, wenn diese beiden als notwendig aufgefaßt werden. Dies aber bestreitet Alfarabi dann, weil sonst dem ersten Seienden Einschränkungen auferlegt würden. Dessen absolute Unbedingtheit vertrage sich mit solchen Einschränkungen nicht.7 Im Grunde befreit Alfarabi damit sein erstes Seiendes von jeglicher Notwendigkeit, die er ihm vorher zukommen ließ. Damit wird der Grundwiderspruch der Emanationsauffassung Alfarabis aufgedeckt, der zwischen der absoluten Transzendenz des ersten unendlichen geistigen Seienden einerseits und dessen eigentlicher „Tätigkeit" oder, besser gesagt, deren Resultaten (die emanierte Welt) andererseits besteht. Die Emanation alles Seienden aus dem Ersten erfolgt stufenweise. Aus dem Ersten, das sich ununterbrochen denkt, fließt das Zweite, der zweite Geist. Dieser denkt sich und das Erste. Denn obwohl dieser einfach wie das Erste ist, genügt er sich nicht vollkommen. In bezug auf sich selbst ist er potentiell (möglich), während er in bezug auf das Erste notwendig existiert. Diese Differenzierung im zweiten Geist setzt voraus, daß das Erste nur der ewigen Verwirklichung nach existiert.8 1

Siehe: 2 Siehe: 3 Siehe: « Siehe: 5 Siehe: 6 Siehe: 7 Siehe: 8 Siehe:

ebenda. ebenda, ebenda, ebenda, ebenda, ebenda, ebenda, ebenda,

S. S. S. S. S. S. S.

2 4 - 2 5 , 30. 19. 20. 21. 18. 23. 3.

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Wenn nun der zweite Geist das Erste denkt, emaniert aus ihm ein dritter Geist, während, wenn er sich selbst denkt, der erste Himmel aus ihm herausfließt. Der dritte Geist denkt seinerseits das Erste, wodurch ein vierter Geist entsteht, und denkt er sich selbst, so entsteht die Sphäre der Fixsterne. Diese Emanationstätigkeit reicht bis zum elften Geist und dem „letzten" der Himmelskörper, dem Mond.1 Alle diese Geister, vom zweiten bis zum elften, sind ebenso wie das Erste materieund formlos, d. h. unkörperlich.2 Sie enthalten auch kein Nichts, kein Vergehen und keine Gegensätzlichkeit. Diese letzteren sind Attribute, die nur dem Seienden zukommen, sich „unterhalb" des Mondes befinden, also die sublunarische Welt ausmachen.3 Alfarabi nennt die elf Geister materie- und formlose Dinge4, während er für den sublunarischen Bereich den Begriff der „materiellen Körper" verwendet. 5 Alfarabis Ausgehen von der Emanationslehre bedingte seine Ansicht über die Materie überhaupt. Das erste Seiende ist die einzige Quelle alles Seienden, „sei es vollkommen oder unvollkommen"6. Die materiellen Seiensschichten von „unten" nach „oben" sind wie folgt zu sehen: „Das niederste unter ihnen, die erste gemeinsame Materie, dann die Prinzipien, die vollkommener als die Materie sind (das sind die vier Elemente Wasser, Erde, Feuer, Luft), dann die metallische Materie, es folgen die Pflanzen, dann die sprachlosen Tiere, schließlich die sprachbegabten Tiere . . ."7 Dieses Sein besteht durchweg aus Materie und Form. Beide können nur in Korrelation zueinander existieren, „Denn die Form kann nicht an Statur und Existenz gewinnen, ohne die Materie. Die Existenz der Materie ist für die Form; und wenn keine Form existieren würde, so wäre keine Materie."8 In dieser korrelativen Einheit von Materie und Form drückt sich ebenso wie bei Alkindi ein gewisser Fortschritt gegenüber der aristotelischen Auffassung von Materie und Form aus. Aber auch Alfarabi bleibt hinter Aristoteles zurück, indem er Gott als das erste Seiende setzt. Allerdings sieht Alfarabi das Verhältnis Gott—materielle Welt anders als Alkindi. Der absolute Du1

Siehe: ebenda, Siehe: ebenda. 3 Siehe: ebenda, 4 Siehe: ebenda, 5 Siehe: ebenda, 6 Ebenda, S. 21. 7 Ebenda, S. 28. 8 Ebenda, S. 27. 2

64

S. 24-25. S. 2. S. 25. S. 38.

alismus Gott—Materie in Alkindia System wird von Alfarabi durch eine gewisse Einheit -von geistigem (göttlichem) und materiellem Sein ersetzt. Die Verbindung von Materie und erstem Seienden unter dem Gesichtspunkt eines ursächlichen und prozeßhaften Zusammenhangs war ein Schritt auf dem Wege zur Überwindung des Dualismus von Alkindi. Alfarabi meint mit Aristoteles, daß jedes materielle Sein seine wahre Existenz erst durch die Verwirklichung gewinnt, so nämlich, daß die Form zu ihm hinzutritt.1 Daraus folgert er, gleichfalls mit Aristoteles, daß die Materie in einem Ding die Unvollkommenheit, die Form hingegen die Vollkommenheit darstellt.2 In diesem Zusammenhang vertritt er den Gedanken, daß, wir je mehr wir uns von der Materie befreien können, dem ersten Seienden um so näher seien.3 Alfarabi übernahm die neuplatonische Emanationslehre nicht mechanisch. Sie erfuhr unter islamischem Einfluß bei ihm Änderungen. Von Plotin unterscheidet sich Alfarabi in zwei Punkten seiner Materiekonzeption. Plotin betrachtet die Materie vor allem in ethischer Hinsicht. Sie ist für ihn das Prinzip des Bösen.4 Alfarabi dagegen faßt sie ontologisch. Sie ist für ihn nicht das Böse, sondern die niederste Stufe in der Seinshierarchie. Die positive Einstellung des Islam zum Körper (im Verhältnis zur Seele)5 zeigt sich darin ziemlich deutlich. Ein weiterer Unterschied ist, daß die Materie, die bei Plotin als das Nichtseiende überhaupt angesehen wurde, bei Alfarabi genauso wie die Form am Sein teilhat. Sie ist z. B. das Holz des Bettes oder das Metall des Ringes, abgesehen davon, daß sie dem Rang nach niedriger als die Form steht. Das heißt also, daß die Möglichkeit, ebenso wie die Wirklichkeit, ihr seiendes Sein besitzt.6 Die andere Materieauffassung Alfarabis in bezug auf die Plotins zeigt sich auch, wenn man die zu einem gewissen Materialismus tendierenden sozialen Ansichten Alfarabis beachtet. Er schreibt: „Die Mitglieder der Stadt besitzen angeborenerweise verschiedene Anlagen, . . . jedoch sind sie Mitglieder der Stadt nicht durch ihre Anlagen, sondern durch die von ihnen freiwillig erworbenen Eigenschaften."7 Unter diesen versteht er vor allem die 1

Siehe: ebenda. Siehe: ebenda. 3 Siehe: ebenda, S. 15. 4 Siehe: Plotin, Die Enneaden, Jena, Leipzig 1905, Bd. 1, S. 208f. 5 Mohammed sagte: „Du hast deinem Leibe sein Recht zu gewähren!" 6 Siehe: Alfarabi, Ansichten der Bewohner der Musterstadt, a. a. O., S. 27. ' Ebenda, S. 80 2

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gewerbliche Tüchtigkeit. Mit dieser Ansicht, die später im 14. Jahrhundert von Ibn Chaldun präziser dargelegt wird, richtet sich Alfarabi gegen die plotinsche Irrationalisierung der Materie, des Sozialen oder des Wirklichen überhaupt, gerät aber auch in Konflikt mit seiner eigenen Emanationslehre, die die Materie als Produkt eines übernatürlichen, von sich selbst her unerfaßbaren Schöpfers betrachtet. Alfarabi bezeichnet das erste Seiende auch als ein absolutes unteilbares Wesen.1 Diesem gegenüber stehen die materiellen Dinge. In diesem Sinne ist das erste Seiende zeitlos2 und raumlos, da allein die Körper an den Baum gebunden sind.3 Raum, Bewegung, Zeit, Unendlichkeit und das Nichts sind wie die Materie unvollkommenes Seiendes.4 Die materielle Welt wird als die Welt des Vergehens und Entstehens angesehen. Deshalb ist sie auch endlich. Jedoch wird der Begriff „Unendlichkeit" von Alfarabi in zweierlei Hinsicht verwendet. Obwohl er die Unendlichkeit als unvollkommen betrachtet, bezeichnet er das erste absolut vollkommene Seiende als das, was „unendlich in der Zeit"5 ist. Auf den ersten Blick scheint darin ein Widerspruch zu bestehen. Dieser Widerspruch besteht allerdings nur scheinbar, denn wenn Alfarabi das erste absolut vollkommene Seiende für zeitlich unendlich hält, so ist dies so zu verstehen, daß dieses Erste eben das Erste und das Letzte, also die letzte und die erste Stufe oder Ursache in der Welt im umfassenden Sinne ist. Es ist ewig und unendlich; aber diese Unendlichkeit ist schon als die letzte, damit endliche Unendlichkeit festgelegt. Die Unendlichkeit des Ersten in der Zeit und der^Vollkommenheit nach tritt hier als die letzte, ihren Höhepunkt erreichende Unendlichkeit auf; so wird der Widerspruch gelöst, und es bleibt das erste Seiende eben endlich. Nun ist nach Alfarabi die Materie unvollkommen. Sie kann ihrem innersten Vervollkommnungsziel unendlich nachgehen, doch erreicht sie nie die absolute Vollkommenheit. Es bleibt bei einem unendlichen Streben. In diesem Sinne bleibt sie ihrem existentiellen und drangmäßigen Wesen nach unendlich. Es bleibt ein Problem offen, dessen sich Alfarabi nicht bewußt war, das aber die Unmöglichkeit zeigt, diese Lehre im plotinschen oder in Siehe: ebenda, Siehe: ebenda, 3 Siehe: ebenda, 4 Siehe: ebenda, s Ebenda, S. 17. 1

2

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S. S. S. S.

11. 17. 34. 13-34.

seinem eigenen Sinne konsequent zu Ende zu führen. Es ist das Problem der Möglichkeit, speziell ihres Ursprungs im ersten Geist. Woher kommt die im ersten Geist steckende Möglichkeit? Wenn Alfarabi das erste Seiende als das Erste schlechthin darstellt, so war er gezwungen, schon in dieses Erste die Existenz eines Zweiten hineinzulegen, um die Entstehung der Vielheit zu rechtfertigen. Wenn das erste Seiende als Notwendigkeit gegenüber der Möglichkeit dem „Range" nach höher steht, so bleibt unklar, ob es auch der Zeit nach früher ist. Diese Unklarheit kann aber in der Konsequenz dazu führen, daß die Möglichkeit mit der Notwendigkeit zeitlich gleichgesetzt wird. Folglich kann auch die Möglichkeit als Erstes angesehen werden, von dem alles andere Seiende ausgeht. Diese Überlegungen zeigen zumindest, wie wirksam die Emanationslehre Alfarabis gegen die Alkindische Auffassung der Schöpfung aus dem Nichts verwendet werden konnte und wie sie dazu beitrug, den Irrationalismus und die Mystik dieser islamischen Lehre zu beseitigen. Darüber hinaus richtete sich dieser zum Materialismus tendierende Ansatzpunkt auch gegen die Emanationslehre selbst, indem das Hervorgehen des vielheitlichen Seienden aus einem einheitlichen Seienden in Frage gestellt wurde. Denn wenn neben diesem Seienden die Möglichkeit existiert, aus der unter dem Einfluß des ersten Seienden das Viele entsteht, so ist die Annahme zweier ewiger Seinsbereiche nicht zu umgehen. Diese ansonsten stiefmütterlich behandelte Materie finden wir hier in Form der ewigen Möglichkeit wieder, und zwar als ein der Zeit nach gleichberechtigter Seinsbereich des ersten Seienden. Damit ist ein weiterer Schritt zur Überwindung des Dualismus von erstem Seienden und Materie getan. Das erste Seiende wird dabei nur noch dem Range nach höher gestellt als die Möglichkeit. Dieser, von Alfarabi selbst nicht in dieser Klarheit festgehaltene Gedanke, deutet bereits auf Ibn Sina hin. Alfarabi bereitet quasi den Rückgriff Ibn Sinaa auf den aristotelischen Materiebegriff vor. Vergleichen wir noch einmal die Auffassungen Alkindis und Alfarabis miteinander, so wird der strenge Dualismus des ersteren, bei dem das Hervorgehen der Materie aus dem Nichts ungeklärt bleibt und beide sich im Grunde unvermittelt gegenüberstehen, bei Alfarabi durch einen Prozeß ersetzt, der das Hervorgehen der Materie aus dem ersten Seienden beinhaltet. Dieser für die Entwicklung der Wissenschaft im Bereich des Islam fruchtbar werdende Standpunkt zeigt, daß die Lehre von der Emanation hier eine progressive Rolle spielte. 67

Alfarabi wurde in seiner Emanationslehre in erster Linie von den „Enneaden" des Plotin sowie vom Dialog „Timäus" des Piaton beeinflußt. Bei seinem Versuch, die Ansichten Piatons mit denen des Aristoteles zu vereinen, bestritt er einerseits die aristotelische Ewigkeitsauffassung, nahm sie aber andererseits, wenn auch modifiziert, in seinem System auf. Die „Enneaden" spielten bei diesem Versuch eine entscheidende Rolle. 1 Alfarabi, der als erster Philosoph mit dem islamischen Grunddogma der Schöpfung aus dem Nichts brach, fand in Ibn Sina seinen glänzenden Fortführer, der allerdings einen wesentlich kühneren und sichereren Weg einschlug, indem er Aristoteles materialistisch auslegte und weiterentwickelte. 1

Siehe: Alfarabi, Buch der Vereinigung der Auffassungen der zwei Weisen, a. a. O., S. 22.

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5. KAPITEL

Ibn Sina; Umbildung des aristotelischen Materiebegriffs. Überwindung des Dualismus von Materie und Form, Oott und Welt

Ibn Sina (Avicenna) gehört zu den hervorragendsten Denkern des arabischen Mittelalters. Als Arzt und Philosoph erlangte er Weltgeltung. Innerhalb seiner Philosophie spielt die Materieauffassung eine entscheidende Rolle. Er wurde im Jahre 370 nach Higra (980) in Afchana in der Nähe des tadschikischen Charmithen geboren. In seinem Kampf gegen die islamische Orthodoxie stützt er sich vor allem auf den aristotelischen Materiebegriff. Dies geschah in einer Zeit, in der die Auseinandersetzungen häretischer Denker mit der Orthodoxie allgemein zunahmen. Im Geiste des Islam erzogen, lernte Ibn Sina schon im elterlichen Hause bedeutende Werke der Antike kennen: so die „Isagoge" des Porphyrius, die „Elemente" von Euklid, den „Almagest" von Ptolemäus und schließlich die „Metaphysik" des Aristoteles. Vierzigmal soll er dieses Werk gelesen haben, ohne seinen Inhalt richtig zu erfassen. Erst nachdem er die Kommentare des Alfarabi zur „Metaphysik" kennengelernt hatte, begriff er dieses Buch.1 Die „Enneaden" des Plotin, die er ebenso wie Alfarabi für ein aristotelisches Werk hielt, wurden von ihm kommentiert und interpretiert. Trotz der Einflüsse dieses Werkes wie auch der Werke von Piaton, Alkindi und Alfarabi bewegte sich seine Materieauffassung insgesamt im aristotelischen Rahmen.2 Diese Konzeption stellte einen sehr beachtlichen Fortschritt in der gesamten Entwicklung der materialistischen Philosophie dar, besonders in bezug auf die damals im isla1 2

Siehe: Ibn abi useibi'a, 'Uün al-anba, Mesr (Kairo) 1882, S. 3—4(arab.). De Boer schreibt irrtümlicherweise: „Es ist wohl der größte Irrtum, der sich in der Geschichte der muslimischen Philosophie festgesetzt hat, Ibn Sina sei über Farabi hinaus zu einem reineren Aristotelisnms vorgedrungen." (De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 119).

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mischen Bereich vorwiegend vertretenen Materieauffassungen des AU bindi, des Alfarabi und des Aristoteles selbst. Die Materie des Aristoteles ist in ihrer allgemeinsten Bestimmung als das absolute Unbestimmte, als das Ungeformte nur in bezug auf die Form zu betrachten. Die Form ist umgekehrt nur in bezug auf die Materie zu bestimmen. Sie ist gegenüber der passiven Materie oder der bloßen Möglichkeit das von außen zur Materie hinzutretende aktive Prinzip, die reine Wirklichkeit. Die Form dominiert über die Materie. Die Passivität der aristotelischen Materie bedeutet zugleich, daß sie nicht die Bewegung in sich enthält. Materie und Bewegung sind also nach Aristoteles getrennt. Die höchste Form in der Hierarchie der Formen, die reine Form oder der unbewegte Beweger bewirkt, daß die Bewegung von außen zur Materie hinzutritt. Es ist der Vorgang der Formgebung, der Verwirklichung (Entelechie). Es ist zugleich der Übergang von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Aristoteles, der die platonische Verdoppelung der Welt (Ideenwelt und gegenständliche Welt) ablehnte, konnte sie doch nicht konsequent überwinden. Der Dualismus von Ding und Idee, der in dieser Verdoppelung bei Piaton zum Ausdruck gebracht wird, tritt uns wieder in der aristotelischen Beziehung von Form und Materie entgegen. Die Form behält gegenüber der Materie nicht nur die Dominanz, sondern auch ihre Selbständigkeit bei. Sie ist das Wesentliche, Bestimmende, Aktive. Wenn Aristoteles auch mit dem Gedanken der Verwirklichung das Verhältnis von Materie und Bewegung nicht löste, so stellt er doch eine Weiterentwicklung gegenüber dem platonischen Dualismus dar, der dieses Verhältnis mit der bloßen Teilhabe der gegenständlichen Welt an der Ideenwelt geklärt haben wollte. Der aristotelische Standpunkt resultiert zu einem guten Teil aus der Erfahrung, daß, betrachtet man die handwerkliche Tätigkeit, insbesondere deren Produkte, die Trennung von Materie und Form nicht aufrechterhalten werden kann. Die handwerkliche Produktion zeigt im Gegenteil recht anschaulich den Prozeß der Vereinigung beider, indem der Handwerker dem rohen Ausgangsmaterial eine bestimmte Form oder Gestalt gibt, woraus dann bestimmte Dinge entstehen. 1 Ihn Sina übernahm die Materie—Form-Lehre des Aristoteles. Sie wurde ein wesentlicher Bestandteil seiner Philosophie und erfuhr hierbei eine gründliche Umbildung. 1

Siehe: H. Ley, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, a. a. O., S. 82.

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Er ging bei der Darstellung der Wirklichkeit von einem notwendigen Dasein (Gott) und einem zeitlichen Dasein (Materie) aus. Das sind die beiden Grundprinzipien der Welt. Beide sind ewig. Dieser Auffassung begegneten wir schon in Alfarabis Emanationslehre, wenn sie hier auch noch nicht mit dieser Klarheit ausgesprochen war und die Materie noch nicht mit der gleichen Konsequenz einbezogen wurde. Ibn Sina meint, daß jedes Existierende der Notwendigkeit oder der Möglichkeit nach sei.1 Er unterscheidet ferner Ewigkeit und Schöpfung oder Hervorbringung: Was die Ewigkeit angeht, so enthält sie in sich zwei Bedeutungen. Die erste ist nach dem Dasein, die andere nach der Zeit zu bestimmen. Die Beziehung zwischen beiden ist von prinzipieller Bedeutung. Ibn Sina greift hier auf seine Ausgangsprinzipien, das notwendig Existierende sowie das möglich Existierende zurück: „Jedes Existierende, wenn du es hinsichtlich seiner selbst berücksichtigst, ohne Rücksicht auf etwas anderes, ist, wobei die Existenz ihm an sich selbst zukommt — oder ist nicht. Wenn es ist, so ist es das Wahre in sich, das von sich selbst her notwendig Existierende."2 Hingegen „kann nicht aus sich selbst existieren, dessen Hauptmerkmal das Mögliche ist . . . Folglich ist die Existenz jedes möglich Existierenden von einem anderen bedingt."3 Infolgedessen ist das Ewige seinem notwendigen Dasein nach dasjenige, was sich selbst genügt; dies nun ist das Erste (Gott). 4 Dieses verändert sich weder in der Zeit — da es außerhalb der Zeit existiert — noch durch seinen eigenen Willen. Es läßt sich auch nicht von etwas anderem verändern; denn eine solche Veränderung bedeutet seinen Übergang in das Böse.5 In Anlehnung an Aristoteles spricht Ibn Sina auch der Materie Ewigkeit zu. Er erklärt: „Jedem Hervorgebrachten geht eine Existenz in der Möglichkeit und damit in der Materie voraus."6 Diese ist der Zeit nach genauso wie das Erste (Gott) ewig. Allerdings unterscheidet 1

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5

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Siehe: Ibn Sina, Die Hinweise und Verweise (al-iäarät wat tanbihät), hrsg. von S. Dunia, Kairo, Bd. 3, o. J., S. 37 (arab.). Siehe auch: Schahrastani, Religionsparteien und Philosophieschulen, a. a. O., Bd. 2, S. 173. Ibn Sina, a. a. O., S. 36. Siehe auch: Schahrastani, a. a. O., S. 173. Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., S. 40. Siehe: Schahrastani, a . a . O . , S. 173; Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., S. 147-151. Siehe: Ibn Sina, Kommentar des Buches (zur Metaphysik). In: Badawi, Aristoteles bei den Arabern, a. a. O., S. 30. Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., S. 103.

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Ibn Sina zwischen dem der Zeit und dem dem ersten Sein nach Hervorgebrachten : „Das Ding kann in bezug auf die Zeit sowie in bezug auf das Sein hervorgebracht sein."1 Die Materie soll das Hervorgebrachte in bezug auf das erste Sein darstellen. Die zusammengesetzten Gegenstände sind hervorgebracht in bezug auf die Zeit (in der Zeit). Das ist das, was Ibn Sina unter dem seinsmäßigen und zeitlichen Später versteht.2 Das heißt aber auch, daß das Ewige „entweder in bezug auf das Sein oder in bezug auf die Zeit verstanden werden kann. Das Ewige in bezug auf das Sein bedeutet, daß seine Existenz durch nichts bedingt ist. Das Ewige in bezug auf die Zeit bedeutet, daß es keinen Anfang in der Zeit hat."3 Bei der Klärung der zwei Aspekte des Hervorgebrachten stellt Ibn Sina fest, daß „all dem, was einen Anfang in der Zeit hat, Zeit und Materie vorausgehen"4. Daraus zeigt sich, daß die „Zeit" neben dem „Sein" für Ibn Sina eine wesentliche Kategorie zur differenzierten Auffassung der Wirklichkeit ist. Ibn Sina macht den bedeutenden, die Naturwissenschaft und den Materialismus fördernden Versuch, die Materie im Zusammenhang mit der Zeit und der Bewegung zu fassen. Zunächst sei dazu seine Schlußfolgerung angeführt, daß die Zeit nicht zeitmäßig, sondern seinsmäßig hervorgebracht sei. Ihr gehe das Hervorbringende nicht zeitmäßig, sondern seinsmäßig voraus. Bei der Bewegung sei es ebenso.5 Die Zeit sei, wie Materie und Bewegung, ewig und unerschaffen. Diesen Standpunkt vertrat Ibn Sina vor allem gegenüber den, wie er schreibt, „Unsinnigkeiten der Mutakallimun"0. Damit meint er die Asariten, die die Zeit diskontinuierlich auffaßten, in völlig voneinander isolierte „Jetztzeiten" auflösten und ihren Ewigkeitscharakter bestritten. Die Zeit ist, wie bei Aristoteles, Maß der Bewegung, und zwar genauer der Bewegung hinsichtlich des „Früher" und des „Später". Da die Bewegung kontinuierlich ist, ist auch die Zeit kontinuierlich.7 1

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Ibn Sina, Al-nagät (Die Hilfe). Zitiert nach: T. S. Alard, Ibn Sina - Ausgewählte Texte Beirut 1962 S. 219 (arab.). Siehe: Ibn Sina, Kommentar zum Buch „Theologie". In: Badawi, Aristoteles bei den Arabern, a. a. O., S. 60. Ibn Sina, Al-nagät, a. a. O., S. 218. Ebenda: Schahrastani, a. a. O., S. 180. Siehe: Ibn Sina, Al-nagät, a. a. O., S. 248. Ibn Sina, Buch der Besprechungen (mubahatbat). In:. Badawi, Aristoteles bei den Arabern, a. a. O., S. 168. Siehe: Ibn Sina, Al-nagät, a. a. O., S. 249.

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Ibn Sina meint, daß Erneuerung nur mit Veränderung eines bestimmten Zustandes möglich ist. Dieser Zustand ist hier als Subjekt zu verstehen. Die Kontinuität, die der Bewegung innewohnt, ist also natürlicherweise „abhängig von einer Bewegung und einem Bewegten, von einer Veränderung und einem Veränderten"1. Zeit und Bewegung sind untrennbar2, und die Bewegung ist die vornehmste Bestätigung in bezug auf die Verwirklichung des sich im Stadium der Möglichkeit befindenden Dinges.3 Diese Zusammenfassung von Materie und Bewegung ist ein wichtiger Schritt, den Ibn Sina in Richtung einer materialistischen Philosophie über Aristoteles hinaus tut. Zwar vertrat Aristoteles die Ansicht des Zusammenhanges von Zeit und Bewegung,4 aber der Zusammenhang zwischen Zeit, Bewegung und dem Bewegten wird bei ihm durch die Existenz und den Eingriff des ersten Bewegers, der selbst unbewegt ist, sowie durch die aktiv eselbständige Rolle der Form durchbrochen. Dagegen erhält jener Zusammenhang bei Ibn Sina eine betonte Selbständigkeit gegenüber dem „Ersten", Gott. Nach Schahrastani schrieb er, daß der Gegenstand der Naturwissenschaften die „existierenden Körper (sind), insoweit sie der Veränderung unterliegen"5. Kein Körper kann sich bewegen oder in Ruhe befinden, ohne daß dies aus ihm selbst heraus verursacht wird.6 Darin liegt der wichtige Gedanke der Selbstbewegung der Dinge. Wenn Ibn Sina andererseits die Bewegung nicht als Wesen, sondern als Akzidens klassifiziert, da sie mit Zunahme und Abnahme verbunden sei,7 und die Materie als Wesen betrachtet, so bedeutet das jedoch nicht, daß er zwischen ihnen eine Kluft aufreißt. Wesen und Akzidens sind für ihn ebenso untrennbar miteinander verbunden wie Materie und Form. Ein Körper ist für ihn auch immer bewegt. Dies bedarf allerdings einer weiteren Erläuterung. Ibn Sina sieht in der Bewegung die erste Aktion und erste Vollkommenheit des sich in der Möglichkeit befindenden Dinges. Dabei unterscheidet er zwei zeitlich und sachlich unterschiedene Momente im Prozeß der Heraus1 2 3 4

5 6 7

Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., S. 100. Siehe: Ibn Sina, Al-nagät, a. a. O., S. 247. Siehe: ebenda, S. 242. Siehe: Ibn Sina, Kommentar des Buches A. In: Badawi, Aristoteles bei den Arabern, a. a. O., S. 22. Schahrastani, a. a. O., S. 201. Siehe: Ibn Sina, Al-nagät, a. a. O., S. 237. Siehe: ebenda, S. 243; Schahrastani, a. a. O., S. 202.

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hildung eines Dinges1: erstens, die Herausbildung der verschiedenen Möglichkeiten, die zweitens, wenn sie realisiert sind, zur Wirklichkeit des Dinges führen. Er spricht hierbei von einer ersten Vervollkommnung und von einer zweiten Vervollkommnung.2 Die erste beinhaltet die potentielle, die zweite die realisierte Bewegung. Darin steckt im Ansatz der Gedanke, daß die Bewegung die qualitative Daseinsweise der Materie ist. Hierbei lehnt Ibn Sina die Meinung ab, daß der Ausgangszustand eines sich in Bewegung befindenden Dinges dem Zustand gleicht, den dieses Ding erreicht hat, wenn es verwirklicht ist. 3 Es ist ein ständiger Übergang von potentieller zu realisierter Bewegung, d. h. eine ständige Entwicklung des Dinges und damit der Materie insgesamt. Nicht ohne Grund bestimmte Ibn Sina den bewegten Körper als Gegenstand der Naturwissenschaft. „Bewegung" ist für Ibn Sina ein fest umrissener Begriff. Die Bewegung wird von ihm als die Daseinsweise der Dinge oder, um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen, als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, Qual4 betrachtet. Ibn Sina tat damit einen entscheidenden Schritt in Richtung einer materialistischen somit wissenschaftlichen Bewegungsauffassung und zur Überwindung der von Aristoteles vorgenommenen Trennung von Materie und Bewegung. Zur Klärung des Verhältnisses von Materie und Form einerseits und dem ersten aus sich heraus notwendigerweise Seienden andererseits bedient sich Ibn Sina des Begriffes „Nichts". Für ihn gibt es drei Grundprinzipien der Natur: Materie, Form, Nichts. Das Nichts sei deshalb Grundprinzip, weil es für das Seiende als solches unentbehrlich ist. Ohne Nichts gäbe es kein Sein und umgekehrt. Allerdings ist dieses Nichts nicht in einem absoluten, sondern im dialektischen Sinne als Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit zu verstehen, bei dem das Ding sich schon nicht mehr im Ausgangszustand und noch nicht im nächsten, neuen Zustand befindet. Die das Nichts enthaltende Materie existiere der Möglichkeit, die Form aber der Wirklichkeit nach: „Das Wesen der Form ist die Wirklichkeit, und was der Möglichkeit nach existiert, hat die Materie zu seinem Subjekt."5 In seinem Werk „Die Genesung" schreibt Ibn Sina dazu ausführlicher: „Daher existiert die in Körpern vorhandene Materie nicht getrennt von der Wesensform. 1

Siehe: ebenda, S. 242-243; Schahrastani, a. a. O., S. 202. Siehe: ebenda, S. 243. 3 Siehe: ebenda, S. 242-246. 4 Siehe: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 135. 5 Schahrastani, a. a. O., S. 176. 2

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Die Materie also besteht aktuell nur durch die Wesensform, und wenn daher die Materie in der inneren Vorstellung von der Wesensform befreit wird, so macht sie einen (logischen) Prozeß durch, dem in der realen Wirklichkeit kein Korrelat entspricht."1 Wenn Ibn Sina die Form als aktuell und die Materie als potentiell existierend bestimmt, so ist das für ihn kein starres Schema. Er geht vielmehr davon aus, daß diese beiden Grundpole der Welt nicht nebeneinander, sondern mit- und durcheinander existieren und ineinander fließen. So schreibt er in einer seiner Thesen im „Buch der Besprechungen": „Die Form ist der Möglichkeit nach."2 Diese Überlegung, die das Ineinanderübergehen von Materie und Form ausdrücken soll, erhält eine noch klarere Formulierung: „Das, was Materie genannt wird, kann auch Form heißen, und was Form heißt, kann auch Materie genannt werden."3 H. Ley, der in seinem Buch über den Materialismus im Mittelalter diese Formulierung zitiert, kommentiert dies folgendermaßen: „Damit verliert die Trennung von Materie und Form oder Materie und Substanz ihre überragende Bedeutung, die sie bei Aristoteles hat. Mit der wechselweisen Beziehung von Materie und Form wird der Entwicklungsprozeß in der Materie selbst erkannt."4 Das heißt, daß ein wesentlicher Schritt durch diese dialektische Erfassung der Beziehung von Materie und Form zur Überwindung des von Aristoteles gesetzten Dualismus zwischen beiden getan wurde. Ibn Sina tut es durch eine „Aufwertung" der Materie und die Hereinnahme der Form in diese. Für ihn war klar, daß die Materie ebenso notwendig wie die Form zum Aufbau der Welt ist. Zunächst stellt Ibn Sina dazu fest: „Die Materie wirkt auf das ein, was für die Form zu ihrem Wirksamwerden unentbehrlich ist, wie z. B. die Endlichkeit und die Formung selbst."5 Diese Einwirkung bestehe darin, daß die Materie die Form individualisiere und bestimme. Jedes einzelne dieser Prinzipien, Materie und Form, 1

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5

Das Buch der Genesung der Seele, eine philosophische Enzyklopädie Avicennas, II. Serie, III. Gruppe, X I I I . Teil: Die Metaphysik Avicennas, enthaltend die Metaphysik, Theologie, Kosmologie und Ethik, übersetzt und erläutert von M. Horten, Halle a. d. S. und N e w York i 907, S. 132-133. Ibn Sina, Buch der Besprechungen, a. a. O., S. 165. Ibn Sina, Das Buch der Genesung, a. a. O., S. 147. H. Ley, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, a. a. O., S. 88f. Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., Bd. 2, S. 46.

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sei die jeweilige Ursache für das andere. In den „ H i n w e i s e n " z e igt er, in welcher Hinsicht diese beiden die Ursache füreinander sind: „ . . . Durch sie, die Materie, wird die Form bestimmt, und diese bestimmt die Materie."1 Daraus ergeben sich für uns zwei Schlußfolgerungen. Die erste besteht in der Betonung der in einer Hinsicht dominierenden Rolle der Materie gegenüber der Form bei der Formung der materiellen Welt. Die zweite beruht auf der Hervorhebung des wechselseitigen Aufeinandereinwirkens von Materie und Form, und zwar in ein und derselben Hinsicht, zur Herausbildung konkreter Dinge. Damit wird nochmals eine selbständige Existenz der Form gegenüber der Materie bestritten und eine dialektische Einheit beider angenommen. Nachdem Ibn Sina so sein eigenes weltanschauliches Fundament errichtet hat, baut er darauf seine Lehre weiter aus. Mit der Festlegung der Grundsätze seiner Weltanschauung rückt er die Autonomie der materiellen Welt, der Natur, im Sinne ihrer materiellen Objektivität in den Vordergrund. Die materialistisch-atheistische Tendenz, von Schahrastani mit folgenden Worten ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht : „Das Ding ist entweder ein objektiv Existierendes oder eine davon hergenommene Form im Geist, und beide sind bei den Ländern und Völkern nicht verschieden"2, zeugt von klaren materialistischen Überlegungen Ibn Sinas,3 bei denen auch nach der erkenntnistheoretischen Seite hin eindeutig ist, daß die Begriffe keine selbständigen Wesenheiten sind, sondern eine Widerspiegelung der materiellen Welt im Denken des Menschen. Die Vermittlung zwischen Welt und erstem Seienden stellt sich nach Ibn Sina folgendermaßen dar: „Materie und Form sind dem Grade ihrer Verbindung und ihres Miteinanderexistierens nach nicht gleich."4 Deshalb seien die Verbindungsglieder zu dem ersten Seienden von Wichtigkeit. Dazu meint Ibn Sina, daß die Materie sich aus einer Grundursache heraus gestalte bzw. formiere. Diese Grundursache sei das erste Seiende. So gibt es drei Komponenten: das erste Seiende, die Materie, der die Bewegung immanent ist, und die Himmelskörper. Die Materie ist das vermittelnde Glied zwischen dem ersten und dritten Moment.5 Diese dreifache Gliederung ist auch Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Notwendigkeit fällt mit dem Ersten (Gott), 1 3 4 5

2 Ebenda, S. 87. Schahrastani, a. a. O., S. 161. Siehe: Ibn abi useibi'a, 'uun al-anba', a. a. O., S. 3. Siehe: Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., Bd. 2, S. 84. Siehe: Ibn Sina, Buch der Besprechungen, a. a. O., S. 195.

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die Möglichkeit mit der Materie und die Wirklichkeit mit der materiellen (gegenständlichen) Welt zusammen. Die Notwendigkeit ist die Grundursache, die die Materie befähigt, die Form aufzunehmen. Diese Notwendigkeit enthält weder Bewegung noch Willen.1 Ihr allein inhäriert das Dasein. Sie sei das Dasein schlechthin.2 Sie ist weder Materie noch Form, weder geformte noch ungeformte Materie. Sie ist unteilbar.3 Sie ist das „Eine", nur eben im negativen Sinne.4 Sie ist reines Denken, das Denken, das sich selbst deutet.5 Sie ist schlechthin sie selbst, wobei ihre begriffliche Bestimmung ausgeschlossen ist, 6 da das die Existenz zweier oder mehrerer Wesenheiten im Ersten voraussetzen würde.7 Das Erste enthalte keine Differenz. Die Verneinung jeglicher Attribute, die Reduzierung des Einen auf seinen „Namen", ohne weitere inhaltliche Bestimmung8 verwandelte es in seinen direkten Gegensatz, ins Nichts. Diese Entleerung des Ersten von jeder Bestimmung und damit dessen Entblößung von jedweder Macht kommt bei Ibn Sina zum Ausdruck, wenn er, Aristoteles zustimmend, kommentiert: „Er (Gott) verändert sich weder in der Zeit noch nach seinem Willen." 9 In diesem Sinne unterliegt er selbst als solcher einer bestimmten Notwendigkeit, der er nicht ausweichen kann. Zur Darlegung der Beziehung dieses Einen zur Welt bedient sich Ibn Sina der plotinschen Emanationslehre, wobei er diese im materialistischen Sinne interpretiert. In seinem Kommentar zu den „Enneaden" des Plotin schreibt er: „Das Hervorgehen der Wirklichkeit aus dem ersten Wahren erfolgt später als der erste Anfang, aber nicht hinsichtlich der Zeit, sondern hinsichtlich des wesenhaften Seins . . ." 10 Das Hervorgehen der Welt aus Gott wird damit inhaltlich entleert; denn da ist kein Zeitabstand zwischen dem Anfang und dem Ende. Gott existiert in der Welt, und diese reißt ihn aus seiner Transzendenz: Siehe: Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., Bd. 3, S. 156. Siehe: Ibn Sina, Buch der Besprechungen, a. a. O., S. 160. 3 Siehe: Ibn Sina, Al-nagät, a. a. O., S. 225. 4 Siehe: ebenda, S. 230. 5 Siehe: Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., Bd. 3, S. 78. 6 Siehe: ebenda. 7 Siehe: ebenda, S. 184; Ibn Sina, Kommentar des Buches „Theologie", a. a. O., S. 5 7 - 5 8 . 8 Dies klingt nach den Ansichten der mutazilitischen „Einiger"-Ketzer. 9 Ibn Sina, Kommentar zum Buche „Theologie", a. a. O., S. 30. 10 Ebenda, S. 47. 1

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77 6 Ttainl, Materiebegriff

Er wird ein natürlicher Gott oder eine göttliche Natur. Wenn Ibn Roschd von den Orientalen schreibt, die die Götter als Himmelskörper ansahen,1 so sieht man, wie stark pantheistisch Ibn Sinas Philosophie ausgerichtet war. Allein von der plotinschen Emanationslehre ausgehend konnte Ibn Sina nicht zu dieser Idee gelangen. Hierbei spielte die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Materie eine entscheidende Rolle. Das islamische Dogma „Werde! und es ward" (Koran, Yasin-Sure, Vers 83), das Ibn Sina in sein philosophisches System aufnimmt,2 wird von ihm im Zusammenhang mit diesen zwei Lehren von der Ewigkeit der Welt und der Identität von Gott und Welt beiseite gelassen und bestenfalls als Tarnung gegen die Angriffe der Orthodoxie benutzt. Ibn Sina bekräftigt seine Ansicht durch die eindeutige Ablehnung der entgegengesetzten Auffassung, nach der das erste Wahre mit dem Schöpfungsakt in einer bestimmten Zeit begann. Dies sei reine Illusion,3 weil „in ihr der Schöpfer aus einem Zustand in einen anderen übergehen müßte. Er müßte, ohne ersichtlichen Grund, aus dem Zustand des Unvermögens in den des Vermögens (der Macht) übergehen."4 Die Grundlage für die Ewigkeit von Welt und Gott sei die Beziehung von Ursache und Wirkung. Dieser Beziehung liege Gleichzeitigkeit zugrunde. Das Vorhandensein der Ursache ruft gleichzeitig, d. h. ohne jeglichen zeitlichen Unterschied, die Wirkung hervor: „Wenn sie (die Ursache) vorhanden ist, muß auch schon die Wirkung vorhanden sein. Welches von beiden immer angenommen wird, so ist das andere immer neben ihm . . . Wenn diese (die Wirkung) deswegen nicht Hervorgebrachtes genannt wird, weil ihm kein Nichts vorausgeht, so ist das keine Behinderung, nachdem die Bedeutung ersichtlich wurde."5 Seine Ansicht veranschaulicht Ibn Sina am Beispiel der Bewegung einer Hand, die einen Schlüssel bewegt, und an der Bewegung des Schlüssels selbst: „Wenn die Ursache, die Bewegung deiner Hand am Schlüssel, aufgehoben wird, wird die Wirkung, die Bewegung des Schlüssels, aufgehoben . . ."6 Anhand dieses Beispiels wird auf populäre Weise deut1

2 3 4 5 c

Siehe: Ibn Tofeil, Hai ibn Jaqzan, hrsg. von D. Saliba und K. Ayyad, 5. Aufl., Damaskus 1962, S. 4—14 (arab.); Ibn Roschd, Tahafut at-tahafut, hrsg. von S. Dunia, Kairo 1965, Bd. 2, S. 639-640 (arab.). Siehe: Ibn Sina, Buch der Besprechungen, a. a. O., S. 233. Siehe: Ibn Sina, Kommentar des Buches „Theologie", a. a. O., S. 47. Ibn Sina, Das Buch der Genesung, a. a. O., S. 556. Ibn Sina, Die Hinweise, a. a. O., Bd. 3, S. 112. Ebenda, Bd. 2, S. 89.

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lieh, daß Ibn Sina im Grunde den Unterschied zwischen Gott und Welt aufgehoben wissen will. Seine eigene Weltanschauung liegt also in der Richtung eines materialistischen Pantheismus. Läßt er, mit Rücksicht auf die islamische Orthodoxie, doch noch einen Unterschied bestehen, dann ist das Lebendige, Aktive, Vielfältige, das in Bewegung und Veränderung Existierende, die materielle Welt, während das Passive, Unbewegliche, Verknöcherte, Leere, Isolierte und damit Ohnmächtige den Inhalt Gottes ausmacht. Die Hervorhebung der materiellen Welt, d. h. die Betonung ihrer Ewigkeit und Selbstbewegung auf der einen Seite und die Zurückdrängung des ersten Seienden (Gottes) sowie die Betonung des Fehlens jeder Aktivität und jedes bestimmten Wesens auf der anderen Seite, zeigen die Entwicklung der Philosophie des Ibn Sina gegenüber Aristoteles.



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6. KAPITEL

Ibn Tofeil;

Fortführung

der Materiekonzeption

Ihn

Sinas

I

Die philosophische Symbolik und der geistige Terror der Orthodoxie

Die Untersuchung der Materiekonzeption des Ibn Tofeil setzt die Untersuchung der geistigen und politischen Situation seiner Zeit in Andalusien voraus. Sein einziges uns überliefertes Werk 1 „Hai ibn Jaqzan" 2 kann in der Tat ohne das Verständnis dieser Situation historisch und philosophisch nicht richtig gewertet werden. Die scheinbare Zweideutigkeit, die es durchzieht, findet ihre Auflösung und Klärung in der Enthüllung dieser Situation. Charakteristisch ist der wachsende Widerspruch zwischen der orthodoxen Religion einerseits und der Philosophie und Naturwissenschaft andererseits oder, anders gesagt, zwischen den orthodoxen fanatischen Theologen hier sowie den Philosophen und Freidenkern aller Art dort. Dieser Widerspruch war die geistige Erscheinungsform des Kampfes zwischen frühbürgerlichen Elementen und dem Feudalismus. Die Macht der Orthodoxie hatte immer mehr an Bedeutung verloren. Ihre Positionen wurden im wachsenden Maße geschwächt. Im islamisch-arabischen Osten hatte Ibn Sina die philosophische Grundlage dieses Prozesses durch seine materialistisch-pantheistische Lehre geschaffen. Zuvor schon hatten die Mutaziliten und Alfarabi Ansätze einer mate1

2

Auf einer Festveranstaltung, die im Jahre 1962 zum Jubiläum der 850. Wiederkehr des Geburtstages von Ibn Tofeil stattfand, gab der marokkanische Vertreter die Neuentdeckimg eines Manuskriptes von Ibn Tofeil bekannt, das die Überschrift „Dichtung I b n Tofeils über die allgemeine Medizin" trägt. Siehe: Die Beiruter Zeitschrift „At-tariq" 1962, Heft Januar und Februar, S. 64-67. Ins Deutsehe übersetzt unter der Überschrift „Der Naturmensch oder Qeschichte des Hai I b n Joktan, ein morgenländischer Roman, des A b u Dschafar Ebn. Tofeil, aus dem Arabischen übersetzt von Johann Gottfried Eichhorn, Berlin und Stettin 1783. Die Zitate aus diesem Roman werden im weiteren dem arabischen Original entnommen.

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rialistischen Weltanschauung entwickelt. Dies alles hat sich in offensiven und verdeckten Formen gegen die Religion schlechthin gerichtet, speziell aber gegen die Schöpfungslehre. Diese Offensive gegen die islamische Religion blieb nicht ohne eine ernst zu nehmende Reaktion seitens der Vertreter des Islam. Der Kampf beider Seiten bildete den Höhepunkt der geistigen Auseinandersetzung im islamisch-arabischen Osten. Oazali aus Tos in Chorasan (1059—1111), ein markanter Vertreter der Orthodoxie, sah seine wichtigste Aufgabe in der Widerlegung und Verketzerung der progressiven arabischen Lehren. In seinen Werken „Maqäfid al-falazifa" (Die Absichten der Philosophen) und „Tahafut al-falazifa" (Zerstörung der Philosophen) sowie in „Al-munqith minaldaläl" (Der Retter aus dem Irrtum) griff Gazali diese Lehren an und behandelte ihre Vertreter als Ketzer und Feinde Gottes. In der Tat spielte Gazali eine zerstörerische Rolle gegenüber der Philosophie überhaupt. Er setzte das asaritische und alkindische Erbe fort, jedoch, in Kenntnis der aristotelischen Logik und der gesammelten Erfahrungen des Kampfes der Orthodoxie gegen die progressive Philosophie und die Naturwissenschaft, wesentlich aggressiver. Das irrationale theologische Zentralpostulat von der göttlichen Weltschöpfung aus dem Nichts nimmt in seinem System den ersten Platz ein.1 Aristoteles erscheint bei ihm als Feind des Islam, den er (Gazali) im Namen sämtlicher muslimischer Schulen und Richtungen bekämpft.2 Gazali lebte in einer Zeit, in der der Verfall des gesamten Imperiums immer deutlicher zutage trat, in der die feudale Reaktion immer heftigere Formen annahm. Es ist auch die Zeit der feudalistischen europäischen Kreuzzüge, die diese Erscheinungen noch förderten. DiesenProzeß begleitete eine zunehmende Zurückdrängung der Naturwissenschaft und Philosophie und zugleich eine Belebung und Festigung der islamisch-orthodoxen Dogmen, der Grundelemente der feudalistischen Ideologie. Gazali war der Hauptvertreter dieser geistigen Reaktion. Während der arabische Osten durch gesellschaftlichen und geistigen Verfall charakterisiert war, entwickelte sich im arabisch beherrschten Spanien, vor allem in Andalusien eine progressive Philosophie und Wissenschaft. Schon zur Zeit des Omajjaden Al-hakam II. (961—976) begann ein Aufschwung von Wissenschaft und Freidenkertum. Mag dies auch noch nicht allseitig gewesen sein und den Bereich der Philo1 2

Siehe: Gazali (Algazel), Tahafud al-falazifat, a. a. O., S. 106-358. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 142.

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sophie nicht unmittelbar betroffen haben, so bereitete er auf alle Fälle den geeigneten Boden dafür vor. Einen Rückschlag erlitt diese Entwicklung später zurZeit der Diktatur des Mohammed ibn ali amir al-man-sür, der die Macht aus den Händen des jungen Kalifen Iiisam ibn al-hakam an sich riß. Dieser Angriff auf das Freidenkertum und die Wissenschaft, der sich z. B.in der Vernichtung und Verbrennung der weltlichen Bücher der Bibliothek von Cordoba äußerte, wird von Al-qädi Saidin seinem Werk „Tabaqät al-umam" (Kategorien der Nationen) beschrieben. Ibn Chaldun berichtet, daß die malikitische Richtung schon seit den Anfängen der Omajjaden-Herrschaft in Andalusien immer mehr in den Vordergrund trat. 1 Diese Richtung war durch ihre dogmatische, am Buchstaben hängende Haltung gegenüber dem Koran gekennzeichnet. Sie lehnte die rationalistische Auslegung des Koran entschieden ab. Ihr Einfluß auf die Massen der Gläubigen vertiefte sich immer mehr. Dadurch entstand ein ausgeprägter Widerspruch zwischen einem beachtlichen Teil der religiös gesinnten Masse des Volkes einerseits sowie den Philosophen und Freidenkern andererseits. Dieses Widerspruchs bedienten sich die orthodoxen Geistlichen, um ihre Macht zu erhalten. Die Kalifen konnten nicht gleichgültig bleiben, sondern mußten sich der einen oder anderen Seite anschließen. Diejenigen, die die Macht der Geistlichen brechen wollten, förderten Philosophie und Wissenschaft. Die Vernichtung philosophischer Bücher aus der Bibliothek von Cordoba durch Mansur ibn ali amir, die Verbrennung der Bücher Gazalis auf Veranlassung des Almoraviden Ali ibn jusuf ibn ta§fin, von der Al-marrakiii in seinem Geschichtsbuch „Al-mu'gab fi talhis ahbar almagreb" berichtet, sowie später die Verbrennung der Bibliothek des Ibn Roschd und seine Verbannung durch den letzten almohadischen Kalifen waren ein Ausdruck des Kampfes zwischen häretischen antifeudalen Kräften und den reaktionären Vertretern des Feudalismus. In der Zeit dagegen, in der die religiösen Werke des Gazali, darunter die „Belebung der Religionswissenschaften", verbrannt wurden, hatte der zum Atheismus neigende rationalistische Denker Ibn Baddscha eine hohe Stellung in der Regierung des almoravidischen Staates inne. Abu bekr ibn ibrahim, Schwager des erwähnten Almoravidenfürsten Ali nahm sich „zum großen Ärgernis seiner Faqihs und Soldaten, den Ibn Baddscha zum Vertrauten und ersten Minister."2 Damit aber war 1 2

Siehe: Ibn Chaldun, muqaddima, a. a. O., S. 450. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 158.

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der Weg für die revolutionären Ideen Ibn Tofeils und Ibn Roschds geebnet.1 Die Symbolik, die den Roman „Hai ibn Jaqzan" durchzieht, zeigt, daß Ibn Tofeil nicht offen schreiben konnte, weil „die wahre Religion und das offenbarte mohammedanische Gesetz verbot, darüber zu sprechen, und davor warnte".2 Dies, obwohl Ibn Tofeil zum Leibarzt und Minister des almohadischen Kalifen Abu jaqub jusuf avancierte. Die Verbannung Ibn Roschds am Ende seines Lebens in ein Dorf in der Nähe von Granada durch den almohadischen Kalifen Abu jusuf jaqub (Almansür) geschah ohne Zweifel unter dem Druck der fanatischen Geistlichkeit. Diese Maßnahme zeigt ihren relativ starken Einfluß.3 Ohne Berücksichtigung dieser komplizierten Umstände wäre ein volles Verständnis der Werke solcher Denker, wie es Ibn Tofeil und Ibn Roschd sind, unmöglich. Bei deren Beachtung jedoch werden Symbolik und Zweideutigkeit in Ibn Tofeils „Hai ibn Jaqzan" verständlich. II Ibn Tofeils Materieauffassung Ibn Tofeil wurde Anfang des 12. Jahrhunderts in Gaudix im Nordosten Granadas geboren. Ibn Hallkan berichtet, daß Ibn Tofeil unter anderem von Ibn Baddscha beeinflußt wurde.4 Ibn Tofeil zollte Ibn Baddscha große Achtung und lobte ihn als bedeutendsten Denker Andalusiens. Vor allem begrüßte er sein Auftreten gegen die unsinnigen religiösen Spekulationen.5 Ibn Baddscha nämlich betrachtete „den Weg der theoretischen Wissenschaft und der geistigen Forschung" als das 1

2

3

4

5

Siehe: H. Ley, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, a. a. O., S. 56. Ibn Tofeil, Hai ibn Jaqzan, hrsg. von D. Saliba und K. Ayyad, Damaskus 1962, 5. Aufl., S. 11. M. Bizar berichtet, daß dieser Kalif unter dem Einfluß der Fanatiker ein Dekret erließ, nach dem jeder Philosoph und Freidenker, unter ihnen Abu gafer assahabi und Ibn Roschd, aus dem öffentlichen Leben entfernt wurden (siehe: M. Bizar, Über die Philospohie des Ibn Roschd, Kairo 1954, 1. Aufl., S. 25). Ibn Hallkan, wafiyyat al-a'yan, Mesr 1948, Bd. 4, S. 492, zitiert nach: D. Saliba und K. Ayyad, a. a. O., S. 14. Ibn Tofeil, Hai ibn Jaqzan, a. a. O., S. 9.

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einzig wahre Mittel zur Erlangung der Glückseligkeit.1 Solche rationalistisch-materialistischen Ansätze werden wir auch bei Ibn Tofeil wiederfinden. Ibn Tofeil knüpft an Ibn Sinas Materiekonzeption an. „Hai" denkt in dem Roman über die Welt nach: „Ist sie etwas, das entstanden ist, nachdem es nicht gewesen ist, und in die Existenz herausgekommen ist nach dem Nichts? Oder ist sie etwas, das schon früher gewesen ist und dem das Nichts auf keine Weise vorausgegangen ist?"2 Ibn Tofeil erzählt weiter, daß Hai über keine dieser Ansichten Gewißheit erlangte. Denn bei der zweiten Frage, der über die Ewigkeit der Welt, begegnete ihm das Problem der Unendlichkeit der Körper.3 Die Körper b€sitzen als gemeinsames Attribut die Ausdehnung (Länge, Breite und Tiefe)4 Die Ausdehnung aber sei endlich. Keine so bedeutende Rolle spielt die Frage der Endlichkeit der Körper in Ibn Tofeils Weltauffassung. Als Arzt und experimentierender Naturforscher konnte er den Schöpfungsgedanken nicht annehmen und vertrat die These von der Ewigkeit der Welt. Hier steht er stark unter dem Einfluß Ibn Sinas und Ibn Baddschas. Bei Annahme der Weltschöpfung müßte der Welt die Zeit vorausgegangen sein. Die Zeit aber „ist in der Welt enthalten und von ihr untrennbar"5. Er wirft wie Ibn Sina, die Frage auf: „Wenn die Welt erschaffen ist, so braucht sie einen Schöpfer. Warum hat dieser die Welt jetzt und nicht vorher erschaffen?"6 Darüber hinaus sei die Welt auch nicht ohne ewige Bewegung zu denken.7 Diese ewige Welt existiert in ihrer ewigen Bewegung und ihrer ewigen Zeit. Die Zweifel, die Hai durchlebt, werden zugunsten der Bejahung der Ewigkeit der Welt überwunden. Obwohl die sinnliche Welt an die göttliche Welt gebunden ist, sei trotzdem die Annahme ihres Nichtseins unmöglich; denn sie ist unbedingt an die göttliche Welt gebunden. Daß sie vergänglich sei, heiße, daß sie sich wandle, nicht aber, daß sie untergehe.8 Ibn Tofeil versuchte, diese These mit dem Koran zu begründen. Die Auslegung des Korans erhält damit 1

Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 54. 3 Ebenda. 4 Ebenda, S. 48. 5 Ebenda, S. 55. 6 Ebenda. ? Siehe: ebenda, 8. 55-56. 8 Siehe: ebenda, S. 82. 2

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wie bei den Mutaziliten, bei Alfarabi und Ibn Sina einen weiteren atheistischen Aspekt. Die Berge, die Menschen, die Sonne und der Mond, die Meere und die Ebenen, all das verändert sich; die Welt insgesamt aber ist ewig.1 Denn aus dem Nichts könne nichts entstehen. Diese philosophische These, die Jahrhunderte später unter entwickelteren gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bedingungen positiv gewendet zur Formulierung des Satzes von der Erhaltung der Energie und der Masse führte, wird hier, wie bei Ibn Sina, unter komplizierten religiösen Umständen, und zwar im Namen des Islam selbst, verteidigt. Um die Beziehung zwischen Gott und Welt zu klären, greift Ibn Tofeil auf Ibn Sinas Definition der Ewigkeit zurück. Für ihn steht fest, daß Gott und Welt gleichzeitig und ewig sind. Ibn Tofeil bedient sich eines ähnlichen Beispiels wie Ibn Sina: „Wenn du einen der Körper in deine Hand nimmst und diese bewegst, so bewegt sich dieser Körper entsprechend der Bewegung deiner Hand: eine Bewegung, die von der Bewegung der Hand der Sache nach abhängt („später" ist), obwohl beide gleichzeitig sind. So ist auch die ganze Welt vom Demiurgen ohne Zeitunterschied bewirkt und erschaffen." 2 Die Beziehung zwischen diesen beiden wird damit zur Beziehung von Ursache und Wirkung, die gleichzeitig nebeneinander existieren. Auch Ibn Tofeil verwendet die aristotelischen Begriffe „Form" und „Materie". Die sinnliche Welt sei der Daseinsbereich beider. Ein Körper besteht nach Ibn Tofeil aus Form und Materie.3 Der Körper könne nur aus diesen zwei Elementen bestehen, eines sei vom anderen abhängig.4 Beide sind voneinander untrennbar. Wenn Ibn Tofeil weiter erklärt, daß die Materie im Grunde keine Form enthält, so meint er damit die erste, ewige Materie, obwohl er diese nicht explizit nennt. Ein wichtiger Aspekt seiner Form-Auffassung besteht darin, daß er die Form als lebendiges Prinzip betrachtet. Es ist als ein der Materie immanentes Prinzip aufzufassen. Ibn Sina sah in der Bewegung die Daseinsweise jedes Körpers oder Lebewesens. Für Ibn Tofeil sind Bewegung, Materie und Zeit untrennbar miteinander verbunden. Die Bewegung ist somit für ihn „die spezifischste Eigenschaft unter den Eigenschaften der Körper"5. Wenn wir dazu nun auch seine These in Betracht ziehen, 1

Siehe: ebenda. 2 Ebenda. 3 Siehe: ebenda, S. 49. 4 Siehe: ebenda.

5

Ebenda, S. 76.

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daß „alles, was sich auf der Erde befindet, seine Form ständig verändert, daß alles dem Entstehen und Vergehen als einer immerwährenden Wandlung unterworfen ist" 1 , so wird ersichtlich, daß das Entstehen und Vergehen der materiellen Welt mit einer ständigen Veränderung seiner Form natürlicherweise verbunden ist, daß also folglich die Form und ihre Veränderung der Ausdruck der Bewegung sind. Die Bewegung der Form, die von der Materie nicht zu trennen ist, wird somit zum Lebensprinzip in der Materie erhoben. Die Übereinstimmung mit Ibn Sinas Auffassung der Bewegung ist offensichtlich. Mit der Zunahme der Formenvielfalt, die durch den jeweiligen Entwicklungsgrad eines materiellen Gegenstandes bestimmt wird, erhöht sich die Notwendigkeit der Harmonisierung der Formen dieses Gegenstandes, damit dieser ein ausgewogenes Ganzes wird.2 Ibn Tofeil, der in seinem Roman die Menschheitsentwicklung in der Person des Hai darstellen will, gelangte auf eine interessante Weise zur Erkenntnis der materiellen Einheit der Welt. Aus dem Arbeitsprozeß des „Robinson" Hai, d. h. durch seine allmähliche Beherrschung der Welt mit Hilfe der von ihm geschaffenen verschiedenen Arbeitsinstrumente3 und der von ihm entdeckten Naturkräfte4 sowie auch durch Nachahmung der Tiere und der Naturerscheinungen5 entwickelt sich sein praktisches und theoretisches Verhalten ohne Beistand eines Propheten oder einer Religion. Die Welt des Entstehens und Vergehens, die materielle Welt, enthalte in sich, so schreibt er, zugleich die Einheit und Differenziertheit. Alle Körper und Gegenstände „stimmen in einigen Eigenschaften überein und gehen in anderen Eigenschaften auseinander. Von der Seite ihrer Übereinstimmung her sind sie einheitlich, von der Seite ihrer Unterschiedlichkeit her sind sie different und vielheitlich."6 Ibn Tofeil versuchte, die Welt nicht nur in ihrer dialektischen Einheit und Vielheit zu erfassen, sondern auch weiterhin dieselbe Einheit und Vielheit in der Materialität der Welt zu begreifen. Die Pflanzen und Tiere sowie die leblosen Gegenstände stimmen miteinander darin überein, daß sie Körper sind, die Länge, Breite und Tiefe besitzen, entweder warm oder kalt sind, wie jeder Körper, 1

Ebenda, S. 65. Siehe: ebenda, S. 66-67. 3 Siehe: ebenda, S. 31, 36-37. 4 Siehe: ebenda, S. 34-35. 5 Siehe: ebenda, S. 28, 34. ß Ebenda, S. 39-40. 2

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der nicht empfindet und keine Nahrung aufnimmt. Jeder ist von anderen durch Merkmale unterschieden, die nur ihm zukommen. Schließlich gelangte er zu der Auffassung, daß „alle Körper eins sind, und zwar die lebenden und leblosen, die bewegten und ruhenden . . Z'1 Auf diese Weise „betrachtete Hai die materielle Welt als etwas Einheitliches"2. Somit gelang es Ibn Tofeil, die unendliche Materie in ihrer dialektischen Einheit und Vielheit zu bestimmen. Mit dieser Auffassung ging Ibn Tofeil sowohl über Alfarabi als auch über Ibn Sina hinaus. Das wird auch bei der Darstellung des geschichtlichen Denkens Ibn Tofeils deutlich. Dieses nimmt in seinem Roman eine zentrale Stellung ein. Dem Roman liegt die Absicht zugrunde, die Geschichte der menschlichen Erkenntnis zu erfassen. Ibn Tofeil beschreibt, wie sich Hai durch seine praktische und theoretische Tätigkeit aus der ihn umgebenden Welt erhebt und zu ihrem Beherrscher wird. Er zeigt, wie der Materiebegriff in einem langwierigen historischen menschlichen Entwicklungsprozeß herausgebildet wird, durch Aufsteigen aus dem Konkret-Unmittelbaren zum Abstrakt-Vermittelten, aus dem anschaulich Einzelnen zum begrifflich Allgemeinen.3 In diesem Sinne ist der Begriff der Materie das Ergebnis der Entwicklung des Hai. Die Historizität der Erkenntnis überhaupt und des Materiebegriffs insbesondere bildet neben dem Gedanken von der Einheit der Welt, der materialistische und dialektische Elemente enthält, eines der wesentlichen Verdienste Ibn Tofeils. Hierin übertraf er die vorausgegangenen islamisch-arabischen Philosophen und Aristoteles selbst an Klarheit und Konsequenz. Nun ist noch die Beziehung „Gott—Mensch" bei Ibn Tofeil im Zusammenhang mit der hier behandelten Materiekonzeption darzulegen. Ibn Tofeil behauptete in seinem philosophischen Roman, daß der Mensch unter bestimmten Umständen selbst zu Gott gelangen könne. Das ist die Stufe, auf der dem Menschen alles als Eines erscheine. In diesem Zusammenhang findet sich bei Ibn Tofeil eine starke Tendenz zum Pantheismus. Es scheint Hai, „daß er keine Wesensmerkmale besitzt, die sich von denen Gottes unterscheiden, und daß damit sein Wesen auch Gottes Wesen ist"4. Zusammen mit seiner Materieauffassung führt das zur Aufhebung Allahs als eines transzendenten 1

Ebenda. 2 Ebenda. 3 Siehe: ebenda, S. 27-30, 39-44. « Ebenda, S. 76-77.

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Wesens. Er sei im Menschen und der Mensch in ihm. Die Konzeption, nach der Gott und Materie parallel zueinander existieren, verliert damit an Bedeutung, und zwar zugunsten der Hervorhebung und Betonung der Materie und des „allmächtigsten" Menschen. Zu diesen Erkenntnissen gelangt Hai durch die Vernunft, die Ibn Tofeil als einzig sicheres Mittel zur Erkenntnis ansieht. Selbst „Azäl", die zweite Person im Roman, verläßt, nachdem er Hais Auffassungen kennengelernt hatte, seine mystischen, dogmatisch-religiösen Positionen und beschreitet den Weg der Vernunft.1 Somit wollte Ibn Tofeil Religion und Vernunft nicht als gleichberechtigt angesehen wissen, sondern die entscheidende Rolle der letzteren hervorheben. Ibn Tofeils Roman „Hai ibn Jaqzan" ist ein hervorragendes Zeugnis fortschrittlichen, materialistischen Denkens. Ibn Roschd, der Freund Ibn Tofeils, hat dessen Weltanschauung übernommen und fortgeführt. 1

Siehe: ebenda, S. 92.

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7. KAPITEL

Ihn Boschd; Einheit von Materie und Form, von Welt und Oott

Die mittelalterliche arabische Philosophie erreichte ihren Höhepunkt mit Ibn Roschd, der unter dem latinisierten Namen Averroes weltberühmt wurde. Er lebte von 1126 bis 1198 im islamisch beherrschten Südspanien und Marokko, wo sich die Almohaden behaupten konnten, die auf der schon von den Omajjadenkalifen, vor allem von Al-h&kam II., geschaffenen Grundlagen regierten. Cordoba war die Geburt- und Heimatstadt von Ibn Roschd, der aus einer Juristenfamilie stammte. Sein Großvater war Großrichter von Andalusien. Ibn Boschd beschäftigte sich intensiv mit Philosophie, Medizin, Rechtswissenschaft, Theologie u. a. Im Jahre 1153 erhielt er durch Vermittlung Ibn Tofeils den Auftrag des Fürsten Abu jaqub jusuf, das Gesamtwerk des Aristoteles zu kommentieren.1 Der politische und geistige Widerspruch zwischen großen Teilen des von der reaktionären Geistlichkeit fanatisierten Volkes und den Philosophen und Freidenkern, von dem schon im vorherigen Kapitel die Rede war, gilt auch für die Zeit des Ibn Roschd. Ibn Roschd wurde, ebenso wie Ibn Baddscha, von den Angriffen der Orthodoxie unmittelbar betroffen. Aus dieser Situation heraus ist die bei ihm, wie auch bei Ibn Tofeil, anzutreffende negative Einstellung zum Volk zu verstehen. Vor allem folgende drei Faktoren bereiteten den Boden für die Lehren des Ibn Roschd: 1. Die progressive und materialistische Interpretation der Lehren Aristoteles' durch Ibn Sina, Ibn Baddscha und Ibn Tofeil. 2. Der große geistige Einfluß des Begründers der Almohadenherrschaft Ibn Tumart auf die philosophische Entwicklung. Er stimmte, 1

Al-marrakiSi schildert in seinem Werk „Al-mugab fi thlhisi ahbär almagrib" nach einem Schüler des Ibn Boschd das Zusammentreffen des Ibn Boschd mit dem genannten Fürsten in Anwesenheit des Ibn Tofeil.

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wie Al-marrakisi berichtet, wesentlich mit den Mutaziliten gegen die Asariten überein.1 Dies zeigt sich in seinem Buch „Das Teuerste, das angestrebt wird", das eine Tendenz zum Pantheismus aufweist. 3. Als dritter Faktor kann die Bekämpfung und Verbrennung der Werke Gazalis auf Veranlassung des Almoraviden Ali ibn jusuf ibn tasfin angesehen werden. Der Mann, unter dessen Einfluß die Philosophie und das Freidenkertum im Osten verketzert wurden, wird im Westen selbst als Ketzer betrachtet. Seine Bücher werden verbrannt. Die Philosophen aber genießen hohes Ansehen. Ibn Roschd verteidigt Aristoteles gegen Gazali, und zwar im engen Zusammenhang mit der Verteidigung der Mutaziliten in zwei wichtigen Punkten. Im Mittelpunkt stand die Frage nach den Attributen und dem Nichts. Dabei knüpft er an die vorliegenden pantheistischen Lehren an. Ibn Roschd setzt sich kritisch mit Piatons Erkenntnislehre von der Wiedererinnerung auseinander. In seinem Werk „Talhis kitab al-nafz" (Zusammenfassung des Buches der Seele) stellt er fest, daß die Gewinnung von Universalien, das Vorhandensein eines objektiven Gegenstandes und der Sinnesorgane als Vermittler zwischen Gegenstand und den Universalien, voraussetzt. Wir müssen erst empfinden, ehe wir begrifflich erkennen. Da die Gattungsbegriffe weder angeboren sind noch sich durch Wiedererinnerung gewinnen lassen, sondern nur als begriffliche Widerspiegelung und Verallgemeinerung von objektiv existierenden Gegenständen erreicht werden können, entstehen sie nur historisch.2 Das Experiment erweist sich als unentbehrliches Mittel bei der Suche nach der begrifflichen Erfassung der Gegenstände.3 Damit bejaht Ibn Roschd die primäre Existenz des Gegenstandes gegenüber seiner Widerspiegelung. Diese averroistische Erkenntniskonzeption liegt in der Richtung des mit dem Universalienstreit zusammenhängenden Nominalismus, der „der erste Ausdruck des Materialismus im christlichen Mittelalter war"4. 1

Siehe: M. Bizar, Über die Philosophie des Ibn Roschd, a. a. O., S. 23. Siehe: Zusammenfassung des Buches der Seele des Ibn Roschd, hrsg. mit vier anderen Briefen von A. F. Al-ahwani, 1. Aufl., Kairo 1950, S. 79-81 (arab.). 3 Siehe: ebenda, S. 70. « K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1957, S. 135. Ein ahistorisches Herangehen an die materialistische Tendenz in der Gedankenwelt des Ibn Roschd zeigt sich bei T. I. Oiserman in seinem Buch „Zur Geschichte 2

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Was die Materieauffassung betrifft, so geht Ibn Roschd von dem Prinzip aus, daß nur mit Hilfe der Ratio das Wahre ermittelt werden könne — im Gegensatz zu den Rechtstheologen, die nur zu Vermutungen gelangen.1 Deshalb untersuchen die Philosophen, deren Tätigkeit in der Erforschung der eigentlichen Ursachen der Dinge besteht,2 diese Ursachen allein anhand von beweiskräftigen Fakten. 3 Der Beweis der Ewigkeit der Welt steht im Vordergrund der Aufgaben des Philosophen. In leidenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Asariten, darunter Gazali, sowie mit dem Idealisten Piaton ringt Ibn Roschd in seinen Werken um eine überzeugende Begründung der These von der Ewigkeit der Welt. Er sucht sogar im Koran selbst Begründungen dafür und wirft den Mutakallimun, die das Dogma von der Schöpfung aus dem Nichts verteidigen, vor, sie verstünden den Koran und die Religion nicht.4 Den Versuch Gazalis, die These von der Ewigkeit der Welt mit der These von der Erschaffung der Welt als gleichermaßen gültig anzusehen, lehnt Ibn Roschd ebenfalls ab.5 Kernpunkt der Polemik Ibn Roschds gegen Gazali ist die Behauptung, daß die Welt immer da war, ist und sein wird. Gazali hingegen meint: „Das Nichts geht dem Sein voraus."6 Ebenso wie die materialistische Lehre Ibn Sinas und Ibn Tofeils stützte sich die averroistische Lehre von der Ewigkeit der Welt auf die aristotelische Grundthese der untrennbaren Einheit von Zeit und Bewegung. Diese beiden sind unerschaffen, ewig und bleiben auch immer existent. Es ist sinnlos anzunehmen, daß die Zeit erschaffen wurde. Das würde dazu führen, vor und nach der Zeit unendlich viele Zeiten anzunehmen.7 Gegen Gazali, der die subjektiv-idealistische Behauptung aufstellte, daß das der vormarxschen Philosophie", Berlin 1960, worin er feststellt, daß Ibn Roschd „die Grundfrage der Philosophie idealistisch" löste. S. 30. 1 Siehe: Ibn Roschd, Unterscheidende Rede, Mesr 1319 nach Higra, hrsg. zusammen mit der „Enthüllung der Beweismethoden", S. 7 (arab.). 2 Siehe: Ibn Roschd, Enthüllung der Beweismethoden, a. a. O., S. 33. 3 Siehe: Ibn Roschd, Zerstörung der Zerstörung (Tahafut at-tahafut), a. a. O., Teil 1, Kairo 1964, S. 345-346. 4 Siehe: Ibn Roschd, Unterscheidende Rede, a. a. O., S. I i . 5 Siehe: Ibn Roschd, Zerstörung, a. a. O., Teil 1, S. 75. 6 Ebenda, S. 135. 7 Siehe: Averroes (Ibn Roschd), Tafsir ma bad at-tabiat (Kommentieren der Metaphysik), hrsg. von M. Bouyges, Beirut 1948, Bd. 3, S. 1560 bis 1561 (arab.).

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Denken Zeit und Bewegung konstruiere, vertritt Ibn Boschd deren Objektivität. Ferner steht für ihn fest, daß Zeit und Bewegung unlösbar miteinander verbunden sind.1 Sie ist nicht nur anfangs-, sondern auch endlos. Die aSaritischen Mutakallimun sind mit den Philosophen, stellt Ibn Roschd fest, darin einig, daß die Zeit genau wie das Sein endlos ist. Der Streitpunkt zwischen ihnen besteht jedoch in der Bejahung oder Verneinung eines Anfanges der Zeit und damit auch des Seins, der Welt. Die Mutakallimun vertreten einen Anfang in der Zeit und sind somit zu den Anhängern Piatons zu zählen, während Aristoteles und seine Anhänger die Anfangslosigkeit vertreten2. Ibn Roschd gelangt zu der Auffassung: „Was keinen Anfang hat, hat auch kein Ende; und keiner der Teile dessen, was kein Ende hat, vergeht in Wirklichkeit."3 Ewigkeit und Unendlichkeit sind die charakteristischen Merkmale von Zeit und Bewegung. Denn „nur das vergeht . . . was schon anfing"4. Wenn Zeit und Bewegung ohne Anfang und Ende sind, so folgt daraus, daß sie mit der Welt in einer wesentlichen Verbindung stehen. Nach Ibn Roschd sind Welt und Gott notwendig als ewig anzusehen. Das Verhältnis „Gott—Welt" zeigt sich bei ihm unter zwei Gesichtspunkten. Danach ist es einmal das Verhältnis der Welt zu Gott, ein anderes Mal das Verhältnis von Materie, Form und Gott. Jedoch ist hierbei zu beachten, daß die Begriffe „Welt" auf der einen Seite und „Materie—Form" auf der anderen Seite bei Ibn Roschd inhaltlich im wesentlichen miteinander übereinstimmen. In der „Zusammenfassung des Buches der Kategorien" zählt Ibn Roschd fünf Arten des Früher und Später auf. Die erste ist es der Zeit, die zweite der Natur, die dritte dem Grad, die vierte der Vollkommenheit und die fünfte der Ursache nach.5 Um das Verhältnis Gottes zur Welt in bezug auf diese Arten des Früher und Später festzulegen, unterscheidet Ibn Roschd in einer Polemik gegen Gazali den Willen des ersten Bewegers (Allah) von seiner Tätigkeit. Dies macht er mit der Absicht, beides zeitlich gleichzusetzen. Eine Zeitdifferenz zwischen dem Schöpfungsakt des ersten Bewegers und dem Objekt als dem Resultat dieses Aktes lehnt 1 2 3 4 6

Siehe: Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, a. a. O., S. 149-150. Siehe: Ibn Boschd, Unterscheidende Bede, a. a. O., S. 10. Ibn Boschd, Zerstörung, Teil 1, a. a. O., S. 81. Ebenda, S. 82. Siehe: Ibn Boschd, Zusammenfassung des Buches der Kategorien, hrsg. von M. Bouyges, Beirut 1932, S. 111-113.

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Ibn Roschd ab; bestenfalls wäre sie hinsichtlich des göttlichen Willens möglich.1 Diese Überlegungen lagen im Prinzip schon bei Ibn Sina und Ibn Tofeil vor, nur nicht in dieser Klarheit und ohne Verwendung des Begriffes „Wille". Bei Ibn Roschd geht es also um die Bestimmung der Tätigkeit Gottes. Wenn diese ewig ist, so ist auch die Welt, als die „Wirkung" dieser Tätigkeit, ewig. Wenn sie jedoch zeitlich begrenzt ist, dann sei auch die Welt zeitlich begrenzt. Da „Gott dadurch charakterisiert wird, daß seine Tätigkeit der Existenz des Objekts parallel ist"2, sei seine Tätigkeit und damit das Objekt derselben ewig.3 Dieses Objekt nun ist die Welt, die also das Resultat der Tätigkeit Gottes ist. Wenn nun die „Bewegung die Tätigkeit Gottes ist", so „kann die Welt nur in der Bewegung existieren".4 Wenn Ibn Roschd davon ausgeht, daß Zeit, Bewegung, Bewegtes und Beweger gleichzeitig und ewig sind5, so differenziert er zugleich hinsichtlich der Ewigkeit zwischen dem ersten Beweger auf der einen Seite und dem Bewegten, der Zeit und der Bewegung auf der anderen Seite. Da der erste Beweger „früher als die Welt, allerdings nicht der Zeit nach, ist"6, versteht es sich von selbst, daß er überhaupt nicht in Zeit und Bewegung existiert7. „Aber das Später der Welt ihm gegenüber kann nur als das Später des Verursachten gegenüber der Ursache verstanden werden, weil das Später dem Früher gegenübersteht."8 Damit legte Ibn Roschd, wie Ibn Sina und Ibn Tofeil, das Schwergewicht des Verhältnisses „Gott—Welt" auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Jedoch wird von Ibn Roschd klarer als bei diesen die Bewegung einbezogen. Das Verursachte (die Welt) könne nur als bewegt betrachtet werden.9 Selbst als Produkt der Tätigkeit Gottes ist die Ewigkeit ein Wesensmerkmal der Welt und die Verursachung nur akzidentiell.10 Darin sehen wir einen weiteren Fortschritt gegenüber dem in Möglichkeit Seienden des Ibn Sina, das seine Wesen1

Siehe: Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, a. a. O., S. 64. Ebenda, Teil 2, Kairo 1965, S. 428. 3 Siehe: ebenda, S. 429. 4 Ebenda, S. 428. 5 Siehe: ebenda, Teil 1, a. a. O., S. 136. « Ebenda, S. 141. ? Siehe: ebenda, S. 138-139. » Ebenda, S. 141. s Siehe: ebenda, S. 282. 10 Siehe: ebenda, S. 277. 2

7 Tlalni, Materlebegriff

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faeit aus dem ersten Seienden, das den Charakter der Notwendigkeit trägt, erlangt.1 Dieser Aspekt des philosophischen Denkens des Ibn Boschd stellt — gemessen an den anderen islamischen Philosophen, die wir bisher betrachtet haben — eine entwickeltere und konsequentere Form des materialistischen Denkens dar. Bei seiner Bestimmung der Welt als einer wesentlich und notwendig2 existierenden, wies Ibn Boschd nicht nur die Auffassung Ibn Sinas, sondern auch die des Abul-ma'ali zurück. Letzterer vertrat die Ansicht, „daß die Welt mit allem, was in ihr existiert, wahrscheinlich ( m ö g l i c h ) . . i s t und „daß das Wahrscheinliche (das Mögliche) erschaffen ist und einen Schöpfer hat. . ."3 Nach Ibn Boschd ist die Welt wesensmäßig und notwendig, weil „die Tätigkeit des ersten Bewegers nicht von dem Nichts ausgeht, weil das Nichts keine Tätigkeit ist, aber auch nicht von dem Sein, dem kein Nichts gegenübersteht . . ."4 Die Tätigkeit des ersten Bewegers hängt vielmehr von „dem unvollkommenen Sein ab, dem Sein also, dem das Nichts zugefügt ist"5. Parallel zu Gott und in einem ursächlichen Zusammenhang mit diesem stehend, ist die Welt in ihrer Gesamtheit ewig, in ihren Teilen jedoch, im Sinne von „veränderlich", vergänglich.6 An diesen ursächlichen Zusammenhang anknüpfend und von ihm ausgehend, unterscheidet Ibn Boschd zwei Arten der Erschaffung: die eine der Zeit, die andere der Ursache nach. In letzterer wurde die Welt erschaffen: „Die Welt ist von Gott erschaffen, und die Bezeichnung .Erschaffung' ist für sie geeigneter als die Bezeichnung .Ewigkeit'." Sie ist ewig „in dem Sinne, daß sie in ständiger Erschaffung ist und daß ihre Erschaffung weder Anfang noch Ende hat"7. Wenn sie nun als ewig bezeichnet wird, so um sie von dem Erschaffenen abzugrenzen, „das etwas in der Zeit und nach dem Nichts ist"8. Hiernach stehe die Welt in einem Wesenszusammenhang mit Gott. Das schließe nicht aus, daß zwischen beiden auch qualitative Unterschiede bestehen. So sei Gott unveränderlich und existiere außerhalb der Zeit, 1

Siehe: Ibn Koschd, Die Enthüllung, a. a. O., S. 33. 2 Siehe: ebenda, S. 32-33. 3 Ebenda, S. 32. 4 Ibn Boschd, Die Zerstörung, a. a. O., Teil 1, S. 274. 5 Ebenda. 6 Siehe: ebenda, S. 131. 7 Ebenda, S. 271. 8 Ebenda, S. 272. 94

während die Welt veränderlich, folglich bewegt sei und in der Zeit existiere.1 Das Verursachte, die Welt, setzt die Ursache und diese wiederum das Verursachte voraus; obwohl „der Schöpfer mit seinem Objekt auseinandergeht. Sie (die Philosophen, T. T.) glauben, daß der Schöpfer von der Welt getrennt ist."2 Ibn Roschd sprach nur von einer ursächlichen Abhängigkeit der Welt vom ersten Beweger. Umgekehrt läßt sich eine Abhängigkeit der Ursache von ihrem Verursachten, also Gottes von der Welt, nur der Tendenz der averroistischen Problemstellung nach feststellen. Für unser Anliegen, welches den scheinbaren Widerspruch des Verhältnisses Gott—Welt zum Verhältnis Gott—Materie zu lösen versucht, ist es aber von Bedeutung, die Konsequenz der Abhängigkeit Gottes von der Welt vor Augen zu haben, da Ibn Roschd das Verhältnis Gott—Materie ausgesprochen materialistisch interpretiert. Dabei enthält dieses Verhältnis bei Ibn Roschd in der Hauptsache nicht eine wesensmäßige Abhängigkeit der Materie von Gott, sondern hier zeigt sich die Materie — eben die Welt — in ihrem eigenen Reichtum und ihrer vielfältigen Entwicklung. Aristoteles kommentierend, stellt Ibn Roschd fest, daß es drei Prinzipien des materiellen Seins gibt: „Materie, Form und das aus diesen Zusammengesetzte."3 An anderer Stelle meint er, die drei Prinzipien seien einerseits die zwei Gegensätze Form und Nichts, andererseits das Subjekt Materie. Dazu führt er den Kommentar des Alexander von Aphrodisias zum Prinzip des Nichts an, wo dieser das Nichts als zum Wesen gehörig betrachtet.4 In seiner „Zerstörung" legt Ibn Roschd diese drei Prinzipien ebenfalls als die Prinzipien des materiellen Seins fest. Das Nichts wird aber hier als akzidentiell aufgefaßt, während Form und Materie als wesensmäßig angesehen werden. Das Nichts sei „eine Voraussetzung für das Werden des Hervorgebrachten und vergehe mit dessen Entstehen"5. Form und Materie sind also bei Ibn Roschd Wesensprinzipien des materiellen Seins. Die Materie—Form-Auffassung hängt bei Ibn Roschd mit der Zurückweisung der Emanationslehre zusammen. Dabei bezieht er sich auf Aristoteles, geht aber über dessen Auffassung hinaus, indem er die Emanationslehre und Aristoteles' Annahme vom „Formgeber" ablehnte und die Ewigkeit und Selbständigkeit, die Materie und Form Gott 1

Siehe: ebenda, S. 139-140. * Ebenda, S. 255. Ibn Roschd, Tafsir ma bad at-tabiat, Bd. 3, a. a. O., S. 1467. 4 Siehe: ebenda, S. 1619. s Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, a. a. O., S. 247. 3

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gegenüber besitzen, in den Vordergrund rückt. Die Formen werden nach Aristoteles von Gott geschaffen und in die Materie hineingelegt.1 Nach Ibn Roschd ist nicht nur diese Ansicht falsch, sondern auch die, nach der Gott zum Schöpfer der Welt aus dem Nichts gemacht wird.2 Nach seiner Meinung hat Aristoteles zwar die Gesamtheit des Problems richtig gesehen, nicht aber alle hier behandelten Punkte. Die Weiterentwicklung durch Ibn Boschd besteht in der Differenzierung und Präzisierung der Begriffe „Materie", „Form" und „Nichts" gegenüber dem Begriff der „Tätigkeit des ersten Bewegers". Aristoteles verstand unter „Gott" lediglich den ersten unbewegten Beweger der bewegten Welt. Ibn Boschd sagt aber weiterhin, daß die Tat Gottes in der Bewegung (dem Übergang) von der Möglichkeit zur Wirklichkeit besteht: Gott „vereint in der Tat nicht zwei Dinge miteinander, sondern führt das, was in der Möglichkeit ist, in die Wirklichkeit hinüber"3. Ibn Boschd fährt an anderer Stelle fort: Die Dinge, „die der Möglichkeit nach sind, sind alles Dinge, die kein äußeres Prinzip zur Bewegung benötigen"4. Er beschränkt den Betätigungsbereich Gottes auf dieses Hinüberführen der Möglichkeit in die Wirklichkeit. In einem Kommentar zu der Ansicht des Aristoteles über das Vorhandensein verschiedener Planeten ist er der Meinung, daß die Auffassung vom Hervorgehen des Seienden aus Gott auf dem Wege der Emanation unannehmbar sei5, da Gott eben nur diese Mittlerrolle spiele6. Gott veranlaßt nur, daß aus Materie und Form Zusammengesetztes entsteht, schafft aber nicht selbst Materie und Form.7 Die Notwendigkeit des Wirkens Gottes wird noch weiter beschränkt, wenn er sagt, daß die Elemente, die den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit bewirken, wesensmäßig der Materie und Form innewohnen. Wenn die erste Materie, schreibt Ibn Boschd, „eine ist, so ist sie der Möglichkeit und der Anlage nach vieles"8. Da es „unmöglich ist, daß etwas Mögliches nicht in die Aktualität übergeht"9, muß auch die Materie diese wesentliche Bestimmung in sich enthalten. 1 Siehe: Ibn Roschd, Tafsir ma bad at-tabiat, Bd. 3, a. a. O., S. 1498. 2 Siehe: ebenda. 3 Ebenda, S. i499. 4 Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 2, a. a. O., S. 1171. •>r Siehe: Ibn Roschd, Tafsir, Bd. 3, S. 1649. s Siehe: ebenda, S. 1652. 7 Siehe: Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, S. 390. 8 Ibn Roschd, Tafsir, Bd. 3, S. 1449, 9 Ebenda, Bd. 2, S. 1140,



Im Zusammenhang mit dem Begriff des Nichts verschärfte Ibn Roschd den Unterschied zwischen Gott einerseits und Materie—Form andererseits. Im Anschluß an Aristoteles klassifiziert er das Nichts dreifach: 1. das Nichts, „das absolut nicht existiert . . 2 . das Nichts, das in der Materie existiert und die Negation der Formen ist, 3. das Nichts, das der Möglichkeit nach existiert; denn von dem in Möglichkeit-Seienden wird gesagt, daß es nicht existiert, d. h., der Aktualität nach nicht existiert"1. Zur Erläuterung meint Ibn Roschd, „daß das Seiende aus dem besteht, was nicht der Aktualität, sondern der Potentialität nach besteht"2. Ibn Roschd schenkt dem Begriff des Nichts große Aufmerksamkeit. Hierbei setzt er sich mit der aäaritischen Richtung auseinander und hebt ihr gegenüber die Auffassung der Mutaziliten positiv hervor. „Das Negative (Nichts) ist" — für ihn, wie für die Mutaziliten — „ein bestimmtes Wesentliches."3 Das Mögliche ist danach das Nichts, das zu existieren oder nicht zu existieren vermag. Das mögliche Nichts ist aber „möglich nicht hinsichtlich seines NichtExistierens und auch nicht hinsichtlich seines Existierens, sonde n es ist möglich hinsichtlich seiner Potentialität"4. Die Unmöglichkeit von Gottes Einfluß auf den Übergang der Möglichkeit zur Wirklichkeit wird klar formuliert: „Jedes Ding, das entsteht, kann dies nur insofern, als es der Anlage nach etwas von dem enthält, was in ihm am Ende realisiert ist." 5 Ibn Roschd stellt in seinem Kommentar zu einer These des Aristoteles fest, daß jedes Ding, das entsteht, nur aus etwas und mit etwas entstehen kann6, und übertrifft bezüglich seiner Untersuchung der drei Varianten des Nichts Aristoteles an Konsequenz und Klarheit. Dies ist unter anderem aus der politischen und geistigen Situation zu erklären, in der Ibn Roschd lebte. Die „Natur ist", schreibt Ibn Roschd, „Beweger des Dinges selbst, d. h., er existiert im Ding seinem Wesen nach und nicht dem Akzidens nach"7. Durch die Anlage eines Dinges zur Veränderung verliert der Einfluß Gottes auf die Existenz von Form und Materie sowie auf ihren FormungsEbenda, Bd. 3, S. 1449. Ebenda. 3 Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, S. 191. Siehe auch: Ibn Roschd, Unterscheidende Rede, S. 29. 4 Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, S. 191. 5 Ibn Roschd, Tafsir, Bd. 2, S. 1185. 6 Siehe: ebenda,|S. 1182. i Ebenda, Bd. 3, S. 1459-1460. 1

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prozeß jede Grundlage. Von einem Ursache—Wirkungsverhältnis oder überhaupt einer Wesensbeziehung zwischen Gott und Welt kann keine Rede sein. Der zweite, mit dem eben genannten untrennbar verbundene Gesichtspunkt, gemeint ist die negative Bestimmung des Verhältnisses Gottes zu Materie und Form, besteht darin, daß dieser ihnen auch nicht ihr Was und Wie verleihen kann. Die Existenz und Entwicklung des Was und Wie von Materie und Form sind ihnen der Anlage nach eigen. Form und Materie besitzen demnach ihre eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten, die keiner Einwirkung Gottes unterliegen. Hieraus läßt sich der Widerspruch zwischen dem Verhältnis von Gott und Welt einerseits und dem von Gott und Materie—Form andererseits erklären. Dies ist eben ein scheinbarer Widerspruch, denn es besteht kein inhaltlicher Unterschied zwischen Welt und Materie—Form. Wenn er Gottes Einfluß auf der einen Seite so bestimmt, daß er die Welt insgesamt — trotz ihrer Ewigkeit — verursacht, so wird auf der anderen Seite dieser Einfluß bestritten, wenn er die ewige Dauer von Materie und Form behauptet und annimmt, ihr Wandlungsprozeß sei aus ihnen selbst zu erklären. Die Auflösung des erwähnten Widerspruchs zugunsten der Materie (also auch zugunsten des Materialismus und Atheismus) erfolgt bei Ibn Roschd auf dem Weg der Eliminierung des Wesensunterschiedes zwischen Hervorbringendem und Hervorgebrachtem sowie auf dem Weg der pantheistischen Identifizierung von Gott und Welt. Beim ersten Problem beschränkt Ibn Roschd den Unterschied zwischen Gott und Welt auf die Zahl. Er schreibt: „Es ist notwendig, daß der Hervorbringer anders als das Hervorgebrachte in der Zahl ist und daß er und das Hervorgebrachte eins im Wesen und in der Bestimmung sind."1 Diese Beschränkung des Unterschiedes zwischen Gott und Welt auf die Zahl war der letzte Schritt zur restlosen Eliminierung des Unterschiedes von Gott und Welt zugunsten der materiellen Einheit der Welt. Die Welt ist von den Philosophen, sagt Ibn Roschd, gleichsam als eine Stadt zu betrachten, in der alle Seienden, auch Allah, zu einer einzigen Gestalt verschmolzen sind.2 Da diese Einheit die Differenzierung in sich enthält, so sind auch der einheitlichen Stadt (Welt) differente Seiende innewohnend.3 Allah wird von Ibn Roschd als die „eine Kraft"4 1

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Ibn Roschd, Tafsir ma-wara at-tabiat Ii Aristo (Zusammenfassung der Metaphysik des Aristoteles), S. 24. Zitiert nach: M. Bizar, a. a. O., S. 55. Siehe: Ibn Roschd, Zerstörung, a. a» O., Teil 1, S. 376. Siehe: ebenda. Ebenda, S. 374.

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in der materiellen Welt hingestellt. Der transzendente Gott verschwindet hier restlos. An seine Stelle tritt der naturalisierte Gott. Die Bewegung, die Zweck- und Wirkursache sowie die Harmonie der materiellen Welt sind in dieser immanent vorhanden.1 Jene Kraft Allahs, die die gesamte Welt durchzieht, ist die Eigengesetzlichkeit der Welt, sie ist der Nous, das Weltgesetz der griechischen Philosophie. Was das Verhältnis von Materie und Form im engeren Sinne angeht, so meint Ibn Roschd, „daß die Form und die Materie nur akzidentiell entstehen und vergehen und daß das Entstehende und Vergehende in der Tat das Konkrete ist, das aus der Form und der Materie zusammengesetzt ist" 2 . Beide, Form und Materie, sind also ewig, unerschaffbar und unzerstörbar. Wenn Ibn Roschd von dieser Materie spricht, dann meint er damit die erste Materie. Diese ist nicht „von der Form getrennt.. ."3 Denn wie „die Materie Ursache für die Form, so ist die Form Ursache für die Materie"4. Ibn Roschd schreibt im Anschluß an Aristoteles, daß „das Objekt, das ursprünglich nichts von der Aktualität enthält, die erste Materie (ist), und wenn sie der Aktualität nach ist, so ist sie notwendig Körper, Seele oder Geist"5. Damit gelang es Ibn Roschd, die schöpferische Kraft der Materie zu zeigen, die aus sich selbst geistige Form hervorzubringen vermag. Sie können nicht aneinander gemessen oder untereinander bestimmt werden. Das können sie nur „bezüglich der Materie, ich meine, bezüglich dessen, daß sie konkret sind" 6 ; denn „die konkreten Gestalten unterscheiden sich voneinander durch die Materie".7 Damit spricht Ibn Roschd der Materie die Fähigkeit zu, die Form aus sich selbst heraus zu gestalten. In diesem Sinne wird die Form der Materie untergeordnet. Für ihn wird das Verhältnis der Möglichkeit zur Wirklichkeit jedoch nicht nur dadurch bestimmt, daß „die Potentialität nicht losgelöst von der Aktualität gesehen werden kann"8, sondern auch dadurch, daß „die Potentialität zeitlich vor der in ihr vorhandenen Aktualität ist". 9 Ibn Roschd kritisiert die 2 Ibn Roschd, Tafsir, Bd. 2, S. 851. « Siehe: ebenda, S. 376. Ibn Roschd, Zusammenfassung des Buches der Seele, a. a. O., S. 4. 4 Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, S. 387. 5 Ibn Roschd, Zusammenfassung des Buches der Seele, S. 84—85. 8 Ebenda, S. 72. 7 Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, S. 89. 8 Ibn Roschd, Zusammenfassung des Buches der Seele, S. 22. 9 Ibn Roschd, Tafsir, Bd. 2, S. 1218. 3

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aéaritische Auffassung, nach der die Potentialität zeitlich nicht vor dem Ding liegt, das ja nach Ibn Roschd das Produkt des Umwandlungsprozesses von der Möglichkeit in die Wirklichkeit darstellt. Er wirft den Asariten vor, daß die letzte Konsequenz ihrer These die Leugnung der Möglichkeit überhaupt wäre.1 Anders ausgedrückt, bedeutet dies, die Existenz der Materie vor der Form zu behaupten. Ibn Roschd überwindet die aristotelische Trennung von Materie und Form, indem er erstens Möglichkeit und Wirklichkeit als untrennbar betrachtet und indem er zweitens die Möglichkeit, ausgehend von der ersten These, „entweder als eine unvollendete Aktualität oder mit einer anderen Form zusammen existieren läßt, die sich von der Form unterscheidet, die sie bestimmt . . ."2 In seiner „Epitome" verleiht Ibn Roschd seiner These der Abhängigkeit der Form von der Materie ihren klarsten Ausdruck. Er schreibt: „Zur Qualität gehört sowohl, was unvermittelt in der Substanz ist, wie ,habitus' und ,dispositio', als auch, was durch Vermittlung in der Substanz ist, wie die Gestalt nur mittels der Qualität sich in der Substanz befindet."3 Von einer Unterscheidung einer vermittelten und einer unvermittelten Qualität spricht Aristoteles nicht, stellt Van den Bergh fest. 4 Durch diese Reduzierung der Form auf quantitative Veränderungen der Materie „verliert die Form endgültig ihre Sonderstellung, mit der Piaton seine Theorie ausstattete"5. Der Eliminierungsprozeß des aristotelischen Dualismus von Materie und Form erreicht damit seinen Höhepunkt. Die Form zeigt sich als die innigste Funktion und Erscheinungsweise der Materie. Die Materie ist auf diese oder jene Weise, jedoch immer der Wirklichkeit nach. Dies läßt sich auch dadurch erklären, daß sie selbst Gegenstand eines ewigen und ununterbrochenen Umwandlungsprozesses ist. Das materielle Sein und die Zeit, die dem Früher oder Später nach kontinuierlich, also ewig6 sind, unterliegen auch einer ewigen Bewegung. Das Charakteristische dieser Be1

Siehe: ebenda, S. 1126. Ibn Roschd, Zusammenfassung des Euches der Seele, S. 23. 3 Die Epitome der Metaphysik des Averroes, übers, von Van den Bergh. In: Veröffentlichungen der „De Goeje-Stiftung", No. "VII, Leiden 1924, S. 12. « Siehe: ebenda, S. 162. 5 H. Ley, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, a. a. O., S. 143. 6 Siehe: Ibn Boschd, Unterscheidende Rede, S. 11. 2

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wegung des materiellen Seins ist die Umwandlung der Möglichkeit in Wirklichkeit: „Der Sinn der Entstehung ist die Umwandlung und Veränderung des Dinges von der Potentialität zur Aktualität." 1 Auf diese Weise faßt Ibn Roschd die Materie als die Gesamtheit des in Werden und Umwandlung ewig existierenden materiellen Seins auf. Auch heraklitischer Einfluß liegt bei Ibn Roschd vor, wenn es in seiner „Tafsir" heißt: „Der spezifische Weg, durch den die Wesenheiten der unerkannten Dinge erkannt werden, sind ihre (der Materie, T. T.) eigenen Tätigkeiten. Die Tätigkeit der Materie ist die Veränderung."2 Durch die Untersuchung der verschiedenen Formen wird also die Materie in ihrer eigenen Tätigkeit, die Veränderung bedeutet, erkannt. Wenn Ibn Roschd in dieser Hinsicht die Form über die Materie stellt, so tut er das, wie H. Ley treffend bemerkt, „ohne selbstverständlich das Primat der Materie anzutasten"3. Mit seiner Materie—Form-Auffassung sowie mit dem Gedanken eines materiellen einheitlichen Seins repräsentiert Ibn Roschd eine wichtige Entwicklungsetappe der materialistischen Philosophie. Indem er die Welt als eine materielle sich verändernde Einheit betrachtet und indem er Gott als ein transzendentes Wesen gleichsam aus der Welt herauslöste, leistete er darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung eines theoretisch fundierten Atheismus und Materialismus. 1 Ibn Roschd, Zerstörung, Teil 1, S. 187. 2 Ibn Roschd, Tafsir, Bd. 2, S. 780. 3 H. Ley, Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter, a. a. O., S. 135.

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Personenregister

Abbad ibn suleiman 39 *Abdillmasih ibn abdallah na'ima al-l^im^i 49 "Abdil-malik ibn marwan 16 Abdir-raljmän I . 19 Abu ali al-^ubbai 34, 38, 48 Abu-bakr 27 Abu-bakr al-baqillani 43 Abu bekr ibn ibrahim 82 Abu dawud 14 Abu gafer assahabi 83 Abu gähl 12 Abu-haäim 34 Abu jaqub jusuf 21, 83, 89 Abu jusuf jaqub (Al-man^ür) 21,83 Abul-farag al-asfahäni 22, 23 Abul-hasan al-aäari ,31, 33, 37-40, 43, 47, 48, 65 Abul-hutheilal-allaf 31,34,37, 38, 40 Abu-rida, M. A. 39, 46 Abu zufyän 13 "Aglani, M. 6 Al-ahwani, A. F. 90 Alard, T. S. 72 Al-azfarajini 32 Alexander von Aphrodisias 95 Alfarabi 51, 52, 60-71, 80, 85, 87 Al-gahiz 35 Al-^ajjat 31, 32, 34, 37, 39, 41, 42 Al-hakam I I . 20, 81, 89 Al-liaramein abul-ma'ali al-guweini 43, 94

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Al-^u