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German Pages [161] Year 2016
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Horst Seidl
Einführung in die Philosophie des Mittelalters Hauptprobleme und Lösungen, dargelegt anhand der Quellentexte
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495861080
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Horst Seidl Einführung in die Philosophie des Mittelalters
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Die mittelalterliche Philosophie nimmt das antike Erbe auf und erweitert es so, dass im Lichte des christlichen Glaubens eine neue Gesamtsicht der Philosophie entsteht. In dieser Einführung werden die Hauptlinien der mittelalterlichen Philosophie nachgezeichnet, wobei deutlich wird, dass die großen Philosophen dieser Zeit auf die tiefen Fragen über den Menschen, die Welt und Gott überzeugende Antworten geben. Horst Seidls Hauptinteresse richtet sich nicht auf philosophiegeschichtliche Fragen, sondern systematisch auf die zentralen Probleme und ihre Lösungen. Er beschränkt sich auf eine kleine Auswahl von Texten mit beispielhafter Bedeutung und zeigt, dass sich aus den Überlegungen verschiedener Denker zu bestimmten Themen zusammenhängende Lehrstücke ergeben, die uns berechtigen, umfassend von einer Philosophie des Mittelalters zu sprechen.
Über den Autor: Horst Seidl (geb. 1938 in Berlin) hatte nach Professuren in München und Nimwegen seit 1988 den Lehrstuhl für Ethik und von 2002 bis 2008 den Lehrstuhl für Antike Philosophie an der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom inne. Er unterrichtet dort gegenwärtig als Visiting Professor und hält regelmäßige Gastvorlesungen in Deutschland und China. 2010 erschien im Verlag Karl Alber seine Einführung in die antike Philosophie. Hauptprobleme und Lösungen, dargelegt anhand der Quellentexte (2. Aufl. 2013).
https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Horst Seidl
Einführung in die Philosophie des Mittelalters Hauptprobleme und Lösungen, dargelegt anhand der Quellentexte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Föhren ISBN (Buch) 978-3-495-48648-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86108-0
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Inhaltsverzeichnis
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Einige Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1) Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie . . .
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2) Metaphysischer Aspekt im Johannes-Prolog und im apokryphen Jakobus-Brief . . . . . . . . . . . . . .
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3) Philosophisches in der Theologie bei Philo v. Alexandrien . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
4) Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern . . . . . . . . . . . . . . . .
30
II) Philosophie bei frühchristlichen Theologen . . . . . . . .
40
1) Die Apologeten Justin und Klemens . . . . . . . . .
41
2) Philosophische Argumente bei den frühen Theologen Irenaeus, Tertullian, Origenes, Gregor v. Nyssa und Nemesius v. Emesa . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
4) Boethius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
. . . . . . . . . . . . . . . .
79
6) Maximus Confessor . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
. . . . . .
88
1) Johannes Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
Vorwort
I)
Einleitende Bemerkungen
3) Augustinus
5) Dionysius Areopagita
III) Philosophie bei Theologen der Frühscholastik
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Inhaltsverzeichnis
2) Anselm von Canterbury . . . . . . . . . . . . . . .
93
3) Peter Abaelard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
. . . . . . .
98
IV) Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik .
105
1) Alexander v. Hales . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
4) Liber de causis. Avicenna und Averroes
2) Siger v. Brabant
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3) Albert d. Große
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
4) Thomas v. Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
5) Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
6) Meister Eckhart
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
7) Durandus de Porciano und Petrus Aureoli . . . . . .
151
8) Dietrich v. Freiberg . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
9) Wilhelm v. Ockham
. . . . . . . . . . . . . . . . . 154
10) Nikolaus v. Kues . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160
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Vorwort
Die vorliegende Abhandlung über die Philosophie des Mittelalters schließt an meine Untersuchung über die antike Philosophie an 1. In dieser haben sich eine Reihe von philosophischen Disziplinen ausgebildet, mit bedeutsamen Einsichten in Erkenntnislehre, Metaphysik, Naturphilosophie, Ethik u. a., die sich im Mittelalter fortsetzen und entfalten. Sie gewinnen, im Umfeld christlicher Glaubenslehre und Spiritualität, eine neue philosophische Gestalt, die daher zu Recht in Handbüchern als »Philosophie des Mittelalters« bezeichnet und dargestellt wird, wie zum Beispiel bei Ueberweg, hrsg. von Bernhard Geyer, oder bei Karl Vorländer: Philosophie des Mittelalters. Mein Hauptinteresse richtet sich, wie bei der antiken Philosophie, so auch bei der mittelalterlichen, nicht auf philosophiegeschichtliche Fragen, sondern systematisch auf die Hauptprobleme und ihre Lösungen. Sie haben ihre eigene, innere Entwicklung, die nicht identisch ist mit der geschichtlichen Entwicklung, wenn sie auch in diese durch die konkreten philosophischen Denker mit ihren Biographien und Verbindungen untereinander verwoben ist. Es gibt heute eine verbreitete Ansicht, welche bestreitet, dass nach der antiken Philosophie und vor der neuzeitlichen eine eigene Philosophie des Mittelalters aufgetreten ist, da diese Epoche zwar theologische Systeme hervorgebracht hat, aber keine philosophischen 2. Hierzu lässt sich bemerken, dass die mittelalterlichen Theologen sich großenteils mit der antiken Philosophie beschäftigt und sie weitergeführt haben, wenn auch deren Hauptdisziplinen, NaturphiEinführung in die antike Philosophie, Freiburg (Alber) 2010. Bezeichnend für diese Ansicht war eine Sitzung der »Società filosofica italiana«, die in Rom, vor fünfzehn Jahren, über den Philosophie-Unterricht an Gymnasien und den Lektürekanon beriet. Während Kant und Hegel als Pflichtautoren bestätigt wurden, beschloss man, Thomas v. Aquin aus dem Katalog der fakultativen Autoren zu entfernen, mit der Begründung, dass er Theologe, kein Philosoph sei.
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Vorwort
losophie, Metaphysik und Ethik, an den mittelalterlichen Universitäten nicht in einer eigenen philosophischen Fakultät gelehrt wurden – die Artistenfakultät hatte andere Disziplinen –, sondern nur in der theologischen. Dessen ungeachtet bieten uns aber die mittelalterlichen Theologen philosophische Erörterungen in eigenen philosophischen Traktaten, ferner in Kommentaren zu den antiken Autoren, sowie auch in den theologischen Summen, wie denen des Thomas v. Aquin und des Duns Scotus, wo sich viele Texte mit rein philosophischem Inhalt finden. Beispielshalber sei erwähnt, dass Thomas der hl. Theologie in seiner Summa theologiae Quästionen mit den sog. praeambula fidei voranstellt, die inhaltlich zum abschließenden Teil der tradierten Metaphysik über die erste Seinsursache gehören, auch wenn diese nun mit dem Gott der Bibel identifiziert wird. Wenn ferner Thomas z. B. beim Übergang zur theologischen Lehre von der Hl. Trinität zuerst den Begriff der Person einführt, so mit der rein philosophischen Definition des Boethius, um ihn dann für die Trinitätslehre in einer vertieften, theologischen Bedeutung zu verwenden. Freilich bedarf es der Kriterien, um einen philosophischen Text von einem theologischen zu unterscheiden. Diese sollen in der Einleitung erörtert werden. Das Problem des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie bzw. Religion hat É. Gilson so zu lösen versucht 3, dass er mit dem Auftreten des Christentums, das die Philosophie jener Zeit in sich aufnahm, diese selber sich wesentlich zu einer christlichen Philosophie wandeln sah. Sie sei von den Theologen des Mittelalters entwickelt worden und gestatte uns heute nicht mehr, in die vorchristliche, heidnische Philosophie der Antike zurückzugehen. Doch ist Gilsons Begründungsversuch einer »christlichen Philosophie« überzeugend abgelehnt worden 4, wenn sie auch Nachfolger gefunden hat, Étienne Gilson, Réalisme thomiste et critique de la connaissance, von 1939. Jüngere Ausgabe, Paris 1986. Die nähere Erörterung bringt meine Abhandlung: Realistische Metaphysik, Hildesheim, 2006, 198 ff. 4 Siehe Fernand Van Steenberghen: Études philosophiques, Longueuil/Quebec (Éd. Le Préambules), 1985, Chap. 1: Philosophie et christianisme: Zwar gibt es Christen, wie auch christliche Theologen, die philosophieren. Aber ihre Philosophie ist nicht christlich, sondern erforscht alles Reale mit wissenschaftlicher Methode, wie bei den nichtchristlichen Denkern. Kennzeichnend für sie ist »die desinteressierte Erforschung des Wahren«, in verschiedenen Formen wissenschaftlichen Lebens, »die auf eine systematische Interpretation der universalen Ordnung« abzielt (S. 19). Anders in der christlichen Theologie, welche die offenbarten Glaubensmysterien erschließt, mit 3
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Vorwort
die sie vertreten, ohne von dieser Ablehnung Kenntnis zu nehmen. Die mangelhafte Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion führt bei Gilson zu einer Aufteilung aller Philosophie in die christliche und die heidnische. Tatsächlich kann jedoch die Philosophie, wie jede andere Wissenschaft, auch unabhängig von ihrer je verschiedenen geschichtlichen Herkunft betrachtet werden. Bei Gilson werden ausgedehnte Lehrstücke, welche bei Bonaventura, Thomas v. Aquin und Duns Scotus, traditionell gesehen, theologische sind, als christlich philosophische ausgelegt. Er spricht bei ihnen von einer »christozentrischen Philosophie« und einer »christlichen Metaphysik«. Dem hat zu Recht Van Steenberghen entgegen gehalten, dass vielmehr eine »christliche Theologie« vorliegt. Unsere Untersuchung hält an der traditionellen Trennung zwischen Philosophie und Religion bzw. Theologie fest und wird bei den antiken und mittelalterlichen Theologen ihre philosophischen Lehrstücke herausstellen. Sie bleibt ferner bei der traditionellen Auffassung, dass Philosophie eine Wissenschaft ist, im Gegensatz zur Religion. Sicherlich muss man zugeben, dass die Philosophie durch die Begegnung mit dem Christentum, sofern sie in diesem Aufnahme fand, positive Anregungen zu weiterer Entwicklung empfangen hat, z. B. durch die Schöpfungslehre, verbunden mit dem abschließenden Teil der Metaphysik, der sog. »Natürlichen Theologie«. Doch wurde daraus nicht eine neue »christliche Philosophie«. Zwar ist anzuerkennen, dass in jenem Zeitraum der ersten Begegnung mit dem Christentum »die Entwicklung der Philosophie … durch die christliche Religion und ihre Entwicklung entscheidend bestimmt ist« 5. Aber es sind doch zwei verschiedene Entwicklungen. Da die Einbeziehung der Philosophie in die Theologie des Mittelalters bei den antiken Theologen begonnen hat, wird ihnen der erste Teil der vorliegenden Untersuchung gewidmet. Im zweiten Teil wird dann gezeigt, wie sich, über die geschichtlichen Zeiten hinweg, von der Antike zum Mittelalter philosophische Probleme und Lösungen auf niederen und dann immer höheren Stufen entwickeln. Dabei lässt sich ein gewisser Fortschritt bestimmter Einsichten – auf den Gebiedem Zweck, die Gläubigen zu Gott zu führen. Des ungeachtet »enthält die Theologie des Mittelalters viel Philosophie, und häufig von hervorragender Qualität« (S. 23). 5 B. Geyer, Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie II, Berlin 111960, S. 1.
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Vorwort
ten der Erkenntnislehre, Naturphilosophie, Metaphysik und Ethik – beobachten, der sich mit einer inneren Konsequenz und Logik vollzieht und sich, wie schon gesagt, von der geschichtlichen Entwicklung der Denker in ihren zeitbedingten Auffassungen und Ansichten unterscheiden lässt. Angesichts neuer Erfahrungsbereiche, wie sie vor allem das Christentum erschlossen hat, ergeben sich auch tiefere philosophische Einsichten in die ersten Ursachen (Prinzipien) alles Realen. Wie sich zeigen wird, bieten die philosophischen Texte bei den Theologen in Antike und Mittelalter nicht nur gelegentliche Überlegungen zu bestimmten Themen, sondern auch zusammenhängende Lehrstücke, die sich in einer inneren Einheit von Disziplinen entfalten, was uns berechtigt, umfassend von einer Philosophie des Mittelalters zu sprechen. Daraus ergibt sich, wie schon gesagt, die überwiegend systematische Absicht der vorliegenden Untersuchung, welche bei den Theologen der Antike und des Mittelalters philosophische Hauptprobleme und Lösungen verfolgt und auf gewisse allgemeine, bleibende Einsichten abzielt. Um diese herauszustellen, durfte sich die Darstellung gegenüber den vielen Theologen und ihren zahlreichen Schriften auf eine kleine Auswahl, von beispielhafter Bedeutung, beschränken. An dieser Stelle danke ich dem Verlag Karl Alber aufrichtig für die Aufnahme dieser Untersuchung in sein philosophisches Programm. Rom, Frühjahr 2014
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Einige Literaturhinweise
Einführende Werke Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie II: Die patristische und scholastische Philosophie, hrsg. von Bernhard Geyer, Berlin 111960 (Unveränderter Nachdruck der völlig neubearbeiteten 11. Auflage). Berthold Altaner / Alfred Stuiber, Patrologie, Freiburg i. Br. 71966. Giustino, Le apologie, Introduzione, traduzione e note, a cura di Clara Burini, Roma (Città Nuova) 2001. Corpus hermeticum, I-II, ed. A. D. Nock – A. J. Festugière, Paris (Les Belles Lettres) 1992. Corpus hermeticum, Introduzione, traduzione e note di Valeria Schiavone, Testo greco e latino a fronte, Milano (BUR) 42009. Étienne Gilson, L’esprit de la philosophie médiévale, Paris 1932. Étienne Gilson, Christianisme et philosophie, Paris 1936. Frederic Copleston, A History of Philosophy, Vol. III: Late Medieval and Renaissance Philosophy, Westminster 1953. Hans Jonas, The Gnostic Religion, New York 21963. Hans Leisegang, Gnosis, Leipzig 1924, 2. Aufl. 1936. Gordon Leff, Medieval Thought: St. Augustine to Ockham, Harmondsworth 1958. David Knowles, The Evolution of Medieval Thought, New York 1964. A. H. Armstrong, The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy, Cambridge 1970. Ralph McInerny, Philosophy from St. Augustine to Ockham. A History of Western Philosophy, Vol. 2, Notre Dame 1970. Armand Maurer, Medieval Philosophy, Toronto 21982. John Inglis, Medieval Philosophy and the Classical Tradition, in: Islam, Judaism and Christianity, London 2002. Joseph W. Koterski, An Introduction to Medieval Philosophy, Chichester 2009.
Spezielle Abhandlungen Raymond Klibanski, The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages, London 1982.
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Einige Literaturhinweise Gerard Verbeke, The Presence of Stoicism in Medieval Thought, Washington 1983. Irénée de Lyon, Contre les Hérésies, ed. Adelin Rousseau, Paris 21985. Ugo Bianchi, La ›doppia creazione‹ dell’uomo negli Alessandrini, nei Cappadoci e nella gnosi, Roma 1978. René Roques, L’Univers dionyisien. Structure hiérarchique du monde selon le Pseudo-Denys, Paris 1969. Renato Bordone / Giuseppe Sergi: Dieci secoli di medioevo, Turin 2009. Peter Nickl, Ordnung der Gefühle, Hamburg 2001.
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I. Einleitende Bemerkungen
Da uns die Philosophie des Mittelalters hauptsächlich in den theologischen Werken dieses Zeitraumes begegnet, ist es notwendig, die philosophischen Teile in ihnen zu erkennen und von den theologischen klar zu unterscheiden. Dazu bedarf es gewisser Kriterien, die im Folgenden dargelegt werden sollen.
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1) Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie
Zunächst ist von der Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie (einschließlich Religion) auszugehen, um sie dann miteinander zu vergleichen. In der abendländischen, auf die Antike zurückreichenden Tradition werden Philosophie und Theologie als wissenschaftliche Disziplinen definiert, wobei Wissenschaft in tieferer Bedeutung zu verstehen ist als in den modernen, einerseits vom englischen Empirismus und andererseits von Kant festgelegten Bedeutungen. Hier beschränkt sich Wissenschaft auf die ordnende Analyse empirischer Phänomene, um sie auf gewisse Gesetzmäßigkeiten hin zu untersuchen. Diese ergeben sich bei Hume a posteriori aus menschlichen Gewohnheiten, bei Kant a priori aus Denkgesetzen im Subjekt. In ursprünglicher Bedeutung jedoch, die auf Plato, Aristoteles, Stoiker und Neuplatoniker zurückreicht, ist Wissenschaft jene vollendete Form intellektueller Erkenntnis, welche die empirisch gegebenen Dinge in ihren Ursachen erschließt, um aus diesen die erklärungsbedürftigen, problematischen Phänomene zu erklären. Die »Phänomene« sind hier solche von Dingen an sich, die »erscheinen«, und die Ursachen sind mehr als nur Gesetzmäßigkeiten im Subjekt. Während nun jede Wissenschaft ihren spezifisch bestimmten Objektbereich hat, in welchem sie die ursächlichen Verhältnisse klärt, wobei sie das Sein der Dinge, schon in ihrem schlichten Dasein und Sosein, voraussetzt, ist Philosophie, in ihrer Hauptdisziplin als Metaphysik, jene grundlegende Wissenschaft, welche gerade das von den Einzelwissenschaften vorausgesetzte Sein und Sosein aller Dinge zum formalen Objekt hat und hiernach auf die ihnen immanenten Wesensursachen ihres Soseins geht, sowie schließlich auf ihre erste, transzendente Seinsursache 1. Vgl. Aristoteles, Analytica post., I, 1–2, und II 1–2; Metaph. VI 1. Auf die ganze Thematik geht näher meine Abhandlung ein: Beiträge zu Aristoteles’ Erkenntnislehre und Metaphysik, Amsterdam (Rodopi), 1984.
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Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie
Die Theologie ist ebenfalls eine Wissenschaft, und zwar eine spezielle, die sich mit religiösen Aussagen über Gott als Schöpfer aller Dinge und seine Offenbarung in der Hl. Schrift befasst und die Metaphysik zur Grundlage hat. Dabei stützt sie sich auf den religiösen Glauben an Gott. Deshalb ist hier auch der Begriff der Religion zu bestimmen. Ohne auf die vielen verschiedenen Auffassungen von Religion näher einzugehen, was andernorts geschehen ist 2, genügt es für den vorliegenden Zweck, uns auf die allgemeine Definition von Religion zu beschränken, wie sie Thomas v. Aquin bietet 3. Hiernach ist sie eine moralische Haltung (habitus moralis), in welcher die Menschen, analog der Achtung (pietas) zu den Mitmenschen, die gegenüber Gott geschuldete Achtung im Kult (cultus Dei) bezeugen. Religion betrifft also das Verhältnis der Menschenseele zu ihrem Schöpfer im Gottesdienst, in welchem sie Dank, Verherrlichung, sowie Bitte, Umkehr und Sühne für die begangene Sünde und Schuld ausdrückt. Dabei ist zu beachten, dass Thomas’ Definition, gestützt auf eine lange Tradition, die bis auf Platos Dialog Euthyphro zurückreicht, Religion als natürliche Disposition in allen Menschen versteht. Sie wird also nicht vorschnell mit der christlichen Religion identifiziert, auch nicht mit einer der anderen positiven Weltreligionen, die von einem Stifter ausgehen (Buddha, Jesus, Mohammed u. a.) und die Gläubigen auf eine bestimmte Lehre verpflichten. Sie setzen bei ihren Hörern schon ein natürliches religiöses Bewusstsein von Gott voraus; denn keiner von ihnen, auch Jesus nicht, beginnt seine Predigt erst mit einem Gottesbeweis, sondern lehrt etwas über das Verhältnis der Seele zu Gott. Nach dem Gesagten ergeben sich aus dem Vergleich von Philosophie und Theologie Kriterien ihrer Verschiedenheit. Zwar ist beiden die wissenschaftliche Form gemeinsam, das heißt, beide sind auf ein Objekt bezogen, untersuchen Verhältnisse von Eigenschaften an ihm und erklären sie aus Ursachen. Jedoch sind Philosophie / Metaphysik und Theologie voneinander hinsichtlich des Objekts, der Methode der Untersuchung und der Zielsetzung des Subjekts verschieden, woraus wir Kriterien gewinnen, beide zu unterscheiden:
Siehe meine Abhandlung: Zum Verhältnis von Philosophie und Religion, Hildesheim (Olms-Verlag), 2001. 3 Thomas v. Aquin, Summa theol. II-II, q. 91: De religione. 2
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Einleitende Bemerkungen
1. Für die Philosophie als Metaphysik ist das Ausgangsobjekt »das Seiende als solches«, d. h. die Dinge dieser Erfahrungswelt. Erst in letzten Beweisargumenten erreicht sie die erste, transzendente Seinsursache, die mit Gott identifiziert wird. Die Theologie hingegen, mit der Religion als ihrer Grundlage, hat als Objekt Gott und seine Offenbarung. Sie beginnt also da, wo die Metaphysik endet. 2. Verschieden sind ferner beide Disziplinen in ihrer Methode; denn die Theologie, sowie die Religion, vollzieht sich mit dem religiösen Glauben, während die Metaphysik ohne Glaubensvoraussetzung vorgeht. 3. Schließlich unterscheidet sich die Metaphysik von der Theologie und Religion auch durch die Zielsetzung; denn die Metaphysik strebt nach ursächlicher Erkenntnis des Realen, Theologie und Religion hingegen richten sich auf die letzte Bestimmung der Menschen über den Tod hinaus, auf die Gemeinschaft mit Gott. Da die Menschen sich von Gott entfernt haben und in Sünde gefallen sind, hat die christliche Religion und Theologie als Hauptziel die Erlösung der gefallenen Menschheit durch den Heiland Jesus Christus. Thomas hat, im Anschluss an die Kirchenväter, am Beginn seiner theologischen Summe das Verhältnis zwischen der Metaphysik und der hl. Theologie näher dadurch bestimmt 4, dass er beide verschiedenen Erkenntnisebenen zugeordnet hat: der natürlichen und der übernatürlichen. Das bedeutet, dass die Metaphysik – und allgemein die Philosophie – ihre Erkenntnis mit dem »natürlichen Licht« des Verstandes gewinnt, die Theologie dagegen mit dem vom »übernatürlichen Licht« der Offenbarung erleuchteten Verstand, durch Gottes Gnade. Die Verschiedenheit beider Ebenen lässt sich auch so kennzeichnen, dass auf der natürlichen Ebene philosophischer Erkenntnis die menschliche Vernunft die alleinige Autorität ist, dagegen auf der übernatürlichen der christlichen Religion und der hl. Theologie der göttliche Verstand, dem sich der menschliche unterwirft, da ihm Erkenntnisse geoffenbart werden, die er ohne Gottes Hilfe nicht erreichen könnte.
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Siehe Summa theol., I, q. 1, a. 5.
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Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie
Mit den hier aufgefundenen Kriterien ist es durchaus möglich, bei der Lektüre mittelalterlicher Theologen hinreichend zu bestimmen, ob die Texte, die uns jeweils begegnen, der Theologie oder der Philosophie angehören. In Ergänzung zu dem oben Gesagten über das Verhältnis von Philosophie, Religion und Theologie möchte ich noch folgende Bemerkungen anfügen: [1] Die beiden Erkenntnisebenen sind nicht entgegengesetzt oder in Konflikt. Es gilt vielmehr der scholastische Grundsatz, dass die Gnade die Natur voraussetzt und vollendet (gratia supponit et perficit naturam), also nicht aufhebt oder beeinträchtigt; denn wie die übernatürliche Wirklichkeit (der geoffenbarten göttlichen Mysterien) die natürliche voraussetzt (mit den irdischen Verhältnissen), so setzt auch die Erkenntnis der übernatürlichen (geoffenbarten) Wahrheiten die der natürlichen voraus. [2] Gemeinsam ist allen drei Haltungen des menschlichen Geistes – Metaphysik, Religion und Theologie – der Realismus. Gegen moderne Vorurteile, dass sie nur auf eine Gottesidee bezogen seien, gehen sie sehr realistisch auf ihre Objekte. Die traditionelle Metaphysik beginnt ja beim Dasein und Sosein der Dinge (res). Aber auch in der natürlich religiösen Haltung haben die Menschen eine sehr realistische Beziehung zu Gott und sind sich dessen Wirksamkeit in ihrer Seele bewusst. Damit ist die Religion wiederum die Grundlage für die Theologie, welche die geoffenbarten Glaubenswahrheiten erschließt. Ebenso realistisch ist die Lehre der Kirche, wonach Gottes Wort durch das Evangelium Christi in uns neues Leben spendet, uns nährt, erquickt. Als beliebiges Beispiel möge ein Gebet der Liturgie dienen, das, von den Psalmen inspiriert, so lautet: »O Gott, der Du in diesen heiligen Mysterien uns genährt hast mit dem Leib und dem Blut Deines Sohnes, gib, dass wir uns immer Deiner Gabe erfreuen, der unerschöpflichen Quelle neuen Lebens. Durch Christus, Unseren Herrn« (Missale, Zeit durch das Jahr, 3. Sonntag, nach der Kommunion).
So könnten wir nicht beten, wenn Gott nur ein gedanklich angenommenes Wesen wäre, und nicht vielmehr ein real bewusstes und erfahrenes. Im Glauben an Christus beziehen wir uns auf Ihn und Seinen himmlischen Vater. [3] Dieses Beispiel ist noch in einer anderen Hinsicht lehrreich; 17 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Einleitende Bemerkungen
denn die katholische Kirche beansprucht, die absolute Wahrheit über das Heil der Menschheit in Christus zu besitzen. Dieser Anspruch wird zwar der Kirche streitig gemacht wegen der Möglichkeit, dass Gott auch den Menschen außerhalb der Kirche Heilsgewissheit zusprechen könne. Dies mag wohl sein. Und doch besitzt nur die Kirche das Heilsgeheimnis in Christus als »absolute Wahrheit«. Dieser Ausdruck ist ein metaphysischer, kein religiöser, und schließt eine ursächliche Erkenntnis ein. Das heißt, dank Gottes Offenbarung besitzt die Kirche nicht nur die Erkenntnis vom Heil der Menschheit, sondern weiß auch von der Heilsursache (!), nämlich durch die Menschwerdung des Gottessohnes in Christus (was den Menschen außerhalb der Kirche verborgen war und ist). Das Gebet spricht von ihm als Ursache, »Quell des neuen Lebens«. [4] Die Frage nach dem Vorrang von Metaphysik und Religion löst sich auf, wenn wir ihr Verhältnis als zweiseitiges betrachten. Einerseits hat die Metaphysik den Vorrang, da sie als Betrachtung alles Realen, sofern es überhaupt ist oder existiert, die Grundlage aller Tätigkeiten und Beziehungen des Menschen zu Realem betrifft, auch der Religion; denn diese ist ja eine Beziehung zwischen zwei realen Subjekten: zwischen der Menschenseele und Gott. Andererseits ist wiederum die Religion der Metaphysik vorgeordnet, wie auch die Tatsache bezeugt, dass alle Menschen von der Religion betroffen, mit ihr befasst sind, während sich nur wenige mit der Philosophie und ihrer Metaphysik-Disziplin beschäftigen. Die Religion ist aber der Metaphysik nicht so vorgeordnet, dass sie deren Grundlage wäre, sondern so, dass sie von höherem Rang ist, da sie sich sogleich auf Gott bezieht, während die Metaphysik bei den Erfahrungsdingen als Seiendem anfängt und insofern »primitiver« ist als die Religion, aber auch grundlegender. [5] Beide Haltungen bzw. Betätigungen, die der Metaphysik und die der Religion, stehen zwar in einem Verhältnis zueinander, sind aber nach ihrem Gegenstand verschieden. Ihre Vermengung und Vereinigung hat nachteilige Folgen für beide, die hier kurz bedacht werden sollen: Bei der Vermengung von religiöser und philosophischer Haltung setzt die Philosophie als »religiöse« sogleich bei einem absoluten Wesen als dem Grund von allem an, ohne jedoch die religiöse Kraft sich auswirken zu lassen, mit der Gott, in der Religion, evident erfasst und als real gegenwärtig verehrt wird. Vielmehr wird nun Gott nur mit 18 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie
philosophischen Kategorien gedacht, die der Religion fremd sind, nämlich als das »Absolute«, der »Urgrund« von allem, als »das Sein«, als »das Umgreifende« u. a. m., das nun philosophisch reflektiert und zum Problem wird. Die Besonderheit der religiösen Haltung an sich liegt gerade darin, dass der Mensch in ihr auf das Göttliche wie auf ein Prinzip, einen Urgrund von allem gerichtet ist, das er gleichwohl als gegebene Realität erfährt, während von allen Disziplinen, auch von der Metaphysik, gilt, dass sie zu ihren Prinzipien erst durch Untersuchung gelangen, d. h. in einem noch zu leistenden Erkenntnisfortschritt, der von empirisch Gegebenem zu den Prinzipien führt; denn die Prinzipien der Wissenschaften sind diesen nicht schon am Anfang gegeben, sondern werden erst durch Nachforschung erschlossen. Insofern kann ich der Darstellung von É. Gilson nicht folgen 5, der die Werke der großen Theologen des Mittelalters: Thomas v. Aquin, Bonaventura, Duns Scotus, unter dem von ihm eingeführten Konzept einer »christlichen Philosophie« betrachtet und sie als »philosophische Theologie« kennzeichnet. Dadurch geht die oben dargelegte, notwendige Unterscheidung zwischen Theologie und Philosophie verloren. Bei der Vermengung von Philosophie und Theologie werden unvermeidlich theologische Erkenntnisse über Gott, z. B. dass in Gott einzigartig Subjekt und Objekt, ferner Sein und Wesenheit, Sein und Schaffen, in eins zusammenfallen, dahingehend umgedeutet (Fichte, Heidegger), dass sie nun der existentiell denkende Mensch in sich selber erleben will. Er versucht dann, philosophierend sich über den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt zu erheben und einen absoluten (traditionell gesprochen: göttlichen) Standpunkt einzunehmen. Ein jüngerer Versuch vereinigt Metaphysik und Theologie so, dass jene nur Probleme als »letzte Sinnfragen« aufwirft, ohne sie beantworten zu können, und dass dann die Theologie diese Fragen aus dem Glauben beantwortet (W. Kasper). Aus traditioneller Sicht aber stellen sich der Metaphysik nicht jene letzten Sinnfragen, die eher weltanschaulicher und religiös existentieller Art sind. Vielmehr hat die Metaphysik ihre eigenen Fragen über die ersten Ursachen alles
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Étienne Gilson, 1932 und 1936.
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Einleitende Bemerkungen
Realen, zu denen sie selbst die Antworten findet. Die Theologie wiederum hat ihre eigenen Glaubensfragen, die keine metaphysischen sind, und die sie selbst ohne Metaphysik zu beantworten vermag.
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2) Metaphysischer Aspekt im Johannes-Prolog und im apokryphen Jakobus-Brief
a) Der Johannes-Prolog Der Prolog des Johannes-Evangeliums führt zu den Hauptpunkten des Evangeliums vom Herrn Jesus Christus ein: dass Er der Sohn Gott-Vaters ist, der den Menschen die Kunde ihrer Erlösung gebracht hat, von der Finsternis zum Licht, vom Tod zu neuem Leben überzugehen. Er ist in diese Welt gekommen und Mensch geworden, um das Evangelium der Erlösung zu predigen, als das Licht, das die an ihn Glaubenden erleuchtet, als das Wort Gottes. Dieses ist aber zugleich das Wort, mit dem Gott alles geschaffen hat, und das vor Beginn der Welt bei Gott-Vater war, selbst Gott seiend. Johannes’ theologische Aussage, dass Jesus Christus sowohl Mensch als auch Gott ist, dass er in seiner göttlichen Natur mit dem Vater identisch ist, verwendet den metaphysischen Logos-Begriff aus der Stoa. Doch wird er zu einem christlich-theologischen Begriff, da er nun das Wort Gottes bezeichnet, durch den alles geschaffen wurde, und der die Menschen belehrt und erleuchtet, so dass er die Gläubigen zu neuem Leben führt. Daraus geht dann die spätere Trinitätslehre hervor, die den Logos zusammen mit dem Vater und dem Heiligen Geist in die Dreiheit der göttlichen Personen einbezieht. Doch geht durch die theologische Vertiefung des Logos-Wortes seine natürliche, metaphysische Bedeutung und Grundlage nicht verloren, die sich auf den Einen Gott bezieht, der sich zur Schöpfung wie die Ursache zur Wirkung verhält. Der Logos-Begriff hat also eine übernatürliche, auf die Zweite Person in Gott bezogene Bedeutung, und eine natürliche, die sich auf den Einen Gott selbst bezieht. Ebenso hat auch der Begriff des Geistes eine zweifache Bedeutung, eine übernatürliche, auf die Dritte Person in Gott bezogene, und eine natürliche, weitere Bedeutung, die sich auf den Einen Gott selbst bezieht. In metaphysischer Hinsicht kommt der Licht-Metapher eine 21 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Einleitende Bemerkungen
wichtige Bedeutung zu; denn sie steht einerseits für das Erkenntnislicht, das die Finsternis menschlicher Verirrungen beleuchtet, andererseits auch als das Lebenswärme spendende Licht. Philosophisch gesehen besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Leben, den der Prolog auch ausdrückt: »In Ihm hdem Logosi war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und die Finsternis hat es nicht begriffen«.
Zu erwähnen sind aus der Abschiedsrede Jesu bei Johannes jene Stellen, an denen der Herr von sich sagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, 14, 6, und vom Geist der Wahrheit spricht, den die Welt nicht aufnimmt, sowie die Jünger über das ewige Leben belehrt: »Das ist das ewige Leben, dass sie Dich, den wahren Gott, erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast«, 17, 2–3.
Eine philosophische Auswertung könnte darauf hinweisen, dass die hier hervorgehobene Erkenntnis keine philosophische, sondern eine spezifisch religiöse ist, entsprechend der von uns bezeichneten Verschiedenheit zwischen Philosophie und Religion; denn sie haben verschiedene Ausgangspunkte und Ziele. An der vorliegenden Stelle meint »erkennen« sicherlich mehr, als nur ein »anerkennen« in existentiellem Erleben, Fühlen oder Wollen. Religion ist nicht nur Gefühl, sondern hat ihre eigene Rationalität, was für die christliche in besonderem Maße gilt. Die Erkenntnis von Gott wirkt auf das Leben der Gläubigen zurück. Die Belehrung durch das Evangelium Christi ist für die in Sünde gefallene Seele wie der Übergang vom Tod zum Leben, oder, symbolisch gesprochen, von der Finsternis zum Licht. Dabei wird das Wort Gottes Ursache zum neuen Leben der Seele.
b) Der Apokryphe Jakobus-Brief 6 Eine gewisse Verwandtschaft mit dem Johannes-Evangelium hat der apokryphe Jakobus-Brief, der Gespräche Jesu mit einzelnen Aposteln vorführt, wie wir sie besonders beim Evangelisten Johannes finden Epistula Iacobi apocrypha (Codex Jung), ed. Michael Malinine, Henry-Charles Pusch, Gilles Quispel, Walter Till †, Rudolph Kasser, Zürich-Stuttgart (Rascher) 1968.
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Metaphysischer Aspekt im Johannes-Prolog und im apokryphen Jakobus-Brief
(Jesus mit Thomas, Philippus und Petrus, vgl. auch mit dem Ratsherrn Nikodemus). Der Jakobus-Brief hat als Thema die Berufung der Jünger zur Vollkommenheit und den Tod als Übergang zum neuen Leben in der Herrlichkeit des Vaters. Die Sonderunterweisung des Jakobus und Petrus durch den Herrn, die in der Zeit nach seiner Auferstehung und vor seiner Himmelfahrt geschah, ist veranlasst durch die Klage der Jünger, dass er sich von ihnen entfernt habe. Darauf erwidert Jesus: »Ich entfernte mich nicht von euch« – was besagt, dass vielmehr die Jünger von ihm noch fern sind – und lädt sie ein: »Ihr könnt mit mir gehen. Kommt, wenn ihr wollt!« Das dann folgende Gespräch ist durch die Fragen oder Bitten der zwei Apostel bestimmt, auf die Jesus in seinen Antworten und (mit Tadel versehenen) Ermahnungen eingeht. Ich gebe nur einige Gesichtspunkte wieder, sofern sie auch philosophisch bedeutsam sind. Erster Schritt: Jesus macht den Jüngern bewusst, dass ihr Geist noch unerfüllt ist, um erst »erfüllt« (πληροῦσθαι) zu werden. Er ist noch schläfrig: »Wacht auf, schämt euch, dass ihr wie Schlafende seid, obwohl ihr den Menschensohn gesehen, gehört und mit ihm gesprochen habt!« (a. a. O., p. 3, 39). Das Bild vom schläfrigen Verstand findet sich auch bei Philosophen, wie z. B. schon bei Heraklit, der den Ephesern vorhält, wie Schlafende zu sein, weil sie seine Lehre nicht verstehen. Zweiter Schritt: Erfordert ist der ganze Einsatz des Geistes, mit Verachtung des Todes um des ewigen Lebens willen. Zusammenfassend sagt Jesus: »Suchet also den Tod wie die Toten, die das Leben suchen … Werdet vorzüglicher als ich, gleicht euch dem Sohne des Heiligen Geistes an« (p. 6, 1 ff.). Der Übergang zum neuen Leben in Gott bedeutet ein Gestorben-sein gegenüber der irdischen, sinnenhaften Lebensweise. Die neue Lebensweise ist eine aus dem Geiste Gottes, den Jesus vom Vater den Gläubigen mitteilt. Wir erinnern uns an Platos Aussage im Phaedo, dass die philosophisch-weisheitliche Lebensweise ein fortwährendes Sterben ist (Absage an die sinnliche, hedonistische Lebensweise). Dritter Schritt: Das Wort Gottes ist die Quelle des neuen Lebens. In Christus spricht nun das Wort Gottes selbst, nicht mehr vermittelt durch einen Propheten, sondern direkt. Vierter Schritt: Das neue Leben der Gläubigen in Erkenntnis und Liebe. Das Himmelreich wird durch Wissen (γνῶσιϚ, Einsicht) erlangt. Jesus betont: »Begreift (νοεῖν) das große Licht!« (p. 9, 11). 23 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Einleitende Bemerkungen
»Hört auf das Wort, begreift die Einsicht, liebt das Leben« (p. 9, 18– 23). Das Licht ist die Metapher für die Erkenntnis, im Gegensatz zum Dunkel der Unwissenheit. Jesus bemerkt an den Aposteln, dass sie noch nicht in der Freude sind, die sie aus himmlischer Geisterfülltheit schon haben müssten. Jesus ermutigt sie (p. 13, 2 ff.): »Werdet so zu euch selbst, wie ich zu euch bin« (p. 13, 19–20). Der Übergang von der natürlich-geistigen zur übernatürlichen, gnadenhaften Existenzweise erfolgt durch Belehrung, in welcher der Geist tiefere Einsicht, »Gnosis«, in sein Verhältnis zu Gott gewinnt. Der Brief legt Gewicht auf die zu erwerbende Erkenntnis von Gott, doch entwickelt er keine gnostische Sonderlehre. Philosophisch wichtig ist für die vollkommene Erkenntnis der göttlichen Gegenstände der Bezug des Geistes zu sich selbst. Fünfter Schritt: Jesus fordert die Jünger zur Kontemplation der himmlischen Dinge auf, in der das neue Leben aus dem Geist besteht. Schließlich kündigt Jesus seinen Heimgang an, den er dann unter Seligpreisungen antritt, von Glanz und Hymnen umgeben, mit neuer Hoheit bekleidet. Die Jünger werden zu himmlischer Schau entrückt. Der neuen geisterfüllten Existenz des Menschen aus dem Glauben liegt die natürlich-menschliche Existenz zugrunde. Vorausgesetzt wird die (seit Plato und Aristoteles allgemein übliche) Unterscheidung zwischen dem diskursiven Logos/Verstand (λόγοϚ, ratio) und der intuitiven Vernunft (νοῦϚ, intellectus), die das Wesen der Dinge bzw. ihre erste Ursache zu erfassen vermag, besonders die Seele und die erste Seinsursache, Gott. Die Gnosis geht von der ersten in die zweite Funktion über, in die Betrachtung der himmlischen, göttlichen Dinge. Die Auffassung vom Wort als Quelle des neuen Lebens ist hier (wie auch im Johannes-Prolog) von der stoischen Lehre des Logos, als der göttlichen, die Natur durchwaltenden Zweckursache, beeinflusst. Sie geht bis auf Heraklit zurück, der mit seiner Logos-Lehre die schläfrigen Mitbürger zu vernünftigem Leben erwecken will.
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3) Philosophisches in der Theologie bei Philon v. Alexandrien
Bevor wir die Philosophie bei christlichen Theologen der Antike behandeln, sei kurz auf die philosophische Seite eingegangen, beim jüdischen Theologen Philon v. Alexandrien sowie im Gnostizismus des 2. bis 3. Jh.s, wie er uns in zwei Richtungen begegnet, den heidnischen Hermetikern und den christlichen Valentinianern. Der jüdische Theologe Philon von Alexandrien (geb. ca. 25 v. Chr., gest. nach 41 n. Chr.) vereint in sich den religiösen Glauben an die göttliche Offenbarung des Alten Testaments mit Gedankengut der griechischen Philosophie, dank seiner Herkunft aus Alexandrien, Hauptsitz der Diaspora-Juden und Zentrum des Hellenismus. In seinen Schriften durchdringen sich philosophische und religiöse Gedanken zu einer Theologie, welche Texte aus dem Pentateuch auslegt, vor allem aus dem Buch Genesis, über die Weltschöpfung. Sie lehnt sich an philosophische Lehren an, besonders an Platos Ideen- und Weltentstehungslehre (Timaios), sowie an die stoische Naturphilosophie über den göttlichen Logos, der in allen Naturdingen und im Menschen wirkt. Doch hat die platonische Lehre in Philons Schriften insofern einen Vorrang, als sie, übereinstimmend mit ihr, die Transzendenz Gottes gegenüber der Schöpfung hervorheben, während die Stoiker Gott in den Naturdingen als immanent in ihnen wirken lassen, so dass er mit der Natur letztlich in eins zusammenfällt. Colson kennzeichnet in seiner Ausgabe 7 Philons Abhandlungen treffend als »religiöses Denken« (religious thought) und stellt fest, dass in ihnen Philon zwar Judentum und Hellenismus zusammengeführt hat, aber nicht mit der Absicht, eine Verbindung zwischen beiden herzustellen. Vielmehr ergab sich diese nur durch den zufälligen
Siehe Band I der zweisprachigen Ausgabe von F. H. Colson und G. H. Whitaker: Philo, X vol., in: Loeb Class. Library, London 1949–1956, Band I, Preface, S. VII ff.
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Einleitende Bemerkungen
(accidental) Umstand, dass er als Jude hellenistisch gebildet war und in philosophischen Begriffen dachte. Wenden wir uns der Schrift Über die Erschaffung der Welt nach Moses zu, um etwas über das Verhältnis zwischen der philosophischen und theologischen Komponente bei Philon zu erfahren. In Kap. 1 reflektiert er über die merkwürdige Tatsache, dass Moses seiner Abhandlung über das Gesetz eine Darstellung über die Erschaffung der Welt voranstellt, und sieht den Grund dafür in Moses’ Absicht zu zeigen, dass das Gesetz in Harmonie mit der Welt ist. Seine Darstellung der Weltentstehung erreicht »den Gipfel der Philosophie« (Kap. 2, 8), die zur ersten Ursache, Gott, gelangt. Aber die Betrachtung der göttlichen Offenbarung, dass Gott alles geschaffen hat und mit seiner Vorsehung durchwaltet, erhebt die Vernunft zur ehrwürdigen Theologie (Kap. 2, 12). Die dann anschließende Exegese des Sechstagewerkes nimmt die sechs Tage nicht wörtlich, sondern symbolisch bzw. allegorisch, wonach sich in ihnen die Ordnung (τάξιϚ) des entstehenden Kosmos (κόσμοϚ) ausdrückt. Die Zahl 6, als erste Summe und erstes Produkt aus der geraden Zahl 2 und der ungeraden 1 und 3 (1 + 2 + 3 = 6; 1 2 3 = 6), bezeichnet die Einheit zwischen gegensätzlichen Prinzipien: Materie und Vernunft, Weiblich und Männlich u. ä. (Kap. 3). Es folgt eine theologische Spekulation über den Schöpfungsvorgang Gottes selbst, dass Er sich auf zwei Stufen vollzogen hat: Zuerst erschuf Gott den intelligiblen Kosmos, als Vorbild, und dann nach diesem den sichtbaren. Der unsichtbare Kosmos umfasst die Ideen, d. h. die Wesenheiten der Dinge dieser Welt (Kap. 4). Insofern bezieht Philons Exegese der biblischen Schöpfung auch Platos Lehren von den Ideen und der Weltentstehung im Timaios ein. Die Darlegung der rationalen Ordnung des sichtbaren Kosmos verwendet teilweise stoische Lehre (Kap. 5–6), folgt aber im ganzen dem biblischen Text (Kap. 7 ff.), wenn die einzelnen Dinge der sichtbaren Welt aus ihrem Vorbild, der unsichtbaren, erklärt werden. Eine philosophische Spekulation fließt stark in die sog. allegorische Interpretation der Schrift-Texte ein. Einerseits will mit ihr Philon jede geistlose, materiell wörtliche Auslegung vermeiden. So vollzog sich die Weltschöpfung nicht in sechs Tagen. Bei der Erschaffung des Menschen nahm Gott keinen Lehmklumpen. Der Baum des Lebens bzw. der Erkenntnis ist nicht wörtlich als ein Apfelbaum zu verstehen, und Gottes Verbot besagte sicherlich nicht, keine Äpfel von 26 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophisches in der Theologie bei Philon v. Alexandrien
jenem Baum zu essen. Andererseits versteigt sich Philons allegorische Auslegung in geistige Verhältnisse, die sich von den Texten weit entfernen. So lässt er der Schöpfung der sichtbaren Welt die einer geistigen Welt vorhergehen, welche die Wesenheiten der sichtbaren Dinge (die platonischen Ideen) umfasst, wozu die Texte keinerlei Anlass geben. Als eine Schrift von rein philosophischem Inhalt erscheint die mit dem Titel: Jeder gute Mensch ist frei (Quod omnis probus liber sit), die hier kurz zu besprechen ist: Die Kap. 1–2 stellen fest, dass dieses Thema nur philosophische Menschen verstehen können, die nicht die breite Straße der Menge begehen (zum Bild vgl. Seneca, De vita beata, Kap. 1). Sie ist unkundig der Lehre von den Ideen (den Wesenheiten der Dinge), die kein unreiner Geist berühren darf. Unreine, so erläutert Philon, sind die, welche die Schönheit der Weisheit in die Hässlichkeit der Sophisterei verkehrt haben, deren seelisches Auge erblindet ist, weil sie in ständiger Nacht wohnen. So können sie die intelligiblen Gegenstände nicht im (geistigen) Tageslicht betrachten und bezeichnen die sie betrachtenden Philosophen als Phantasten. Der Praxis des öffentlichen Lebens hingegeben, erscheint es ihnen als absurd, wenn die Philosophen nur die Weisen für Bürger halten und die Praktiker vieler Unternehmungen in den Städten für Fremde oder Verbannte 8. Ebenso paradox ist es, dass Philosophen, die in ärmlichen Verhältnissen leben, sich als reich bezeichnen und die wirklich Reichen für arm 9. (So werden sie auch die Rede nicht verstehen, die nur den Guten für frei hält.) Demgegenüber kennzeichnet Philon die Kritiker der Philosophie als unrein, d. h. als blind in ihrem Geist, als Knechte der Meinungen und wechselnden Urteile, die sich nur auf die Sinneserfahrung verlassen. Weisheit hingegen ist höchst göttlich und überaus frei, zugänglich allen, die sie suchen und sich wie in Mysterien einweihen lassen. Die Abhandlung legt dann die Argumente für die These dar, dass nur der gute Mensch allein frei ist. Es gibt nicht nur eine Freiheit von
Zu dieser Verkehrung der Verhältnisse verweist die Ausgabe von Colson, Vol. IX, Seite 13, Anm. e) auf einen Paralleltext in Philon, Leg. All., III, 1, sowie auf Cicero, Acad. Pri., II, 136. 9 Zu diesem Paradox verweist Colson, a. a. O., S. 15, Anm. c), als stoische Quelle auf S.V.F., III 598–603. 8
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Einleitende Bemerkungen
körperlichem Zwang, sondern auch eine von seelischem Zwang, wenn die Vernunft frei von Leidenschaften ist. Diese Freiheit besitzen aber nur die Gottesfürchtigen. Kap. 4: »Was Gott zugehört, besitzt ewige Ordnung und Glückseligkeit, im Gegensatz zu allen Dingen der Sterblichen«. Für die Standfestigkeit der Tugendhaften führt Philon Dichter, Philosophen und das Jüdische Gesetz als Zeugen an. Kap. 7 nennt folgende Kennzeichen der Tugendhaften, die ihre Freiheit erweisen: dass sie glückselig sind sowie gottgeliebt (θεοφιλεῖϚ), weil sie Gott zum Freunde haben, mit »nackter Philosophie« (die sich ohne Waffenrüstung den Angriffen der Gegner aussetzt) vertraut und verständig sind; denn der Verstand (Logos) ist »die Quelle jedes Gesetzes« und macht frei. Das Kap. 8 führt Argumente dafür an, dass der Törichte unfrei ist. Kap. 9 wendet sie dann ins Positive und besagt, dass der kluge, tugendhafte Mann allein frei ist. Um hier nur zwei Argumente in schematischer Form wiederzugeben: I) Der richtig (tugendhaft) Handelnde ist ein in eigener Vollmacht Handelnder. II) Der Kluge ist der richtig (tugendhaft) Handelnde. III) Der Kluge ist ein in eigener Vollmacht Handelnder. Der wichtige Begriff der eigenen Vollmacht, ἐξουσία, drückt mehr als der der ἐλευθερία die Freiheit in der verinnerlichten Bedeutung der Selbstverfügung der Person aus, die aus eigener Vollmacht handelt. (Dies entspricht auch unserem modernen Freiheitsbegriff.) Hinzu kommt der seltene Begriff der αὐτοπραγία (Kap. 3, Nr. 21), der hier besonderes Gewicht hat und das selbstbestimmte Handeln bezeichnet. 1) Der in eigener Vollmacht Handelnde ist frei. 2) Der Kluge ist ein in eigener Vollmacht Handelnder. 3) Der Kluge ist frei. Die untere Prämisse 2) geht aus der Konklusion III) eines vorgeordneten Beweisschlusses hervor, wie das Schema zeigt. Die Verbindung der Erkenntnis mit der Freiheit ist platonischen und stoischen Ursprunges. Plato lehrt, dass niemand wissentlich Böses tut, sondern nur aus Unwissen, da böses Tun nicht nur andere schädigt, sondern auch den Täter selbst, und niemand sich wissentlich Schaden zufügen will. Freilich setzt dies eine echte Einsicht in die Natur des Guten und des Bösen voraus, ferner eine gute Gewohnheit, dem Erkannten auch 28 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophisches in der Theologie bei Philon v. Alexandrien
durch entsprechendes Handeln zu folgen. In diesem Punkt hat dann Aristoteles Plato korrigiert, indem er den Fall des Unbeherrschten berücksichtigt, der wider besseres Wissen unrecht handelt, aus Mangel an guter Gewohnheit. Bei den Stoikern ist nur der Weise frei, weil nur er wahre Einsicht in das Gute besitzt. Dieses liegt aber in einem reinen Vernunftleben, bei Unterdrückung der Affekte. Kap. 9 führt als weiteres Argument an: I) Was von Natur aus erstrebt wird, ist ohne Zwang, frei. II) Das Tugendhafte ist ein von Natur Erstrebenswertes. III) Das Tugendhafte ist ohne Zwang, frei. Die dann folgenden Kapitel führen weiter aus, warum die Tugenden, und mit ihr die Freiheit, so erstrebenswert sind; denn sie sind der Seele von Gott gegeben, wie es auch im Mosaischen Gesetz heißt, dass ihm der Beter mit Mund, Herz und Hand zugetan ist. Philon hebt abschließend die Preiswürdigkeit der Freiheit hervor, bezeugt durch das Beispiel großer Männer, wie auch durch die religiösen Mythen und Bräuche. Zusammenfassend gesehen geht die Abhandlung das ethische Thema von Anfang an aus religiöser Sicht an, d. h. auf biblischer Grundlage. Doch haben die Argumente eine philosophisch-ethische Form von eigener Geltung, die ihnen bleibt, auch wenn man von jener religiösen Grundlage absieht. Daher dienen die angezogenen Schrift-Zeugnisse eher zur Bekräftigung der an sich philosophischen Argumente; denn die Freiheit vollendet sich im Dienst am guten Schöpfergott.
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4) Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern
a) Vorbemerkungen zu Gnosis und Gnostizismus Der Gnostizismus des Altertums bietet einen Synkretismus teils aus religiösen Vorstellungen, teils aus philosophischen Gedanken, besonders platonischen und stoischen 10. Ihre gemeinsame Charakteristik liegt in den »Versuchen, auf philosophisch-mythologische Weise die höchsten und letzten Fragen nach dem Ursprung der Welt und des Übels oder des Bösen zu beantworten«. Sie befolgen »im ganzen mehr eine kosmologische als soteriologische Richtung«, in die auch christliche Gedanken eingehen. Es erfolgt keine »Scheidung zwischen religiösem Glauben und Welterkennen«. Das Urteil von K. Praechter über die Gnosis trifft immer noch zu 11, dass in ihr »das Philosophische nur den Unterbau einer Heilsund Erlösungslehre (bildet), die praktisch-theologischen Zwecken dient«. Ihr »philosophisch-theologischer Inhalt« wird »von theologischen Grundgedanken beherrscht«, von einem »theologisch-eschatologischen Interesse«. »Das Ziel ist eine Erlösung, die den Auserwählten durch die Erkenntnis – γνῶσιϚ – Gottes zuteil wird« (S. 522–523). Die Hermetischen Schriften vereinigen neupythagoreisches Gedankengut mit stoischem und neuplatonischem und werden »von theologischen Grundgedanken beherrscht«, nämlich der »Gotteserkenntnis als Heilsquelle« (S. 523). Ähnlich bestimmt auch in Pauly-Wissowa der Lexikon-Artikel über die Gnosis diese, vor allem in der hermetischen Form, als eine »synkretistische Religionsbewegung« von philosophischer und theologischer Art, die auf Erkenntnis über den Menschen abzielt:
Geyer, Grundriß II, 26–27. Karl Praechter, Das Altertum, Berlin 1926, S. 514. Er übernimmt auch die Einsichten aus H. Leisegang, Gnosis. 10 11
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Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern
»Gnosis ist die zur Vollendung des Menschen führende Erkenntnis seiner selbst als des Gottes, der er war; ist sein Vermögen, zu seinem verschütteten, fern seinem Ursprung weilenden eigentlichen Selbst, das göttlich ist, hinabzudringen« (Corp. Herm. 1.18). 12
In dieser Umschreibung ist die Erkenntnis-Komponente mit der religiösen vereint. Die Kennzeichnung der Gnosis als »Synkretismus« möchte ich nicht zu eng verstehen, als ob die Gnostiker nur eine Kompilation verschiedenen Gedankengutes ohne eigene Denkleistung bieten würden; denn tatsächlich haben sie sich die verwendeten Quellen angeeignet und mit eigenem Denken vereinheitlicht. Dabei verbinden sich bei den Gnostikern Religiöses und Philosophisches nicht willkürlich, sondern geordnet in der Weise, dass die religiösen, in Visionen »geoffenbarten« Inhalte philosophisch erklärt werden, woraus sich das ergibt, was man Theosophie oder religiöse Weisheitslehre nennen kann. Wie es mit dem philosophischen Gehalt steht, wird dann jeweils zu untersuchen sein. Ursprünglich bezeichnet der Begriff der »Gnosis« eine Einsicht in das Wesen der Dinge, die tiefer ist als wissenschaftliche Erkenntnis, die sich in Definitionen ausdrückt. Insofern finden wir den GnosisBegriff auch im Neuen Testament, um die tiefe Einsicht in das Glaubensmysterium Christi zu bezeichnen. Hiervon verschieden erhält der Begriff bei den sog. Gnostikern die neue Bedeutung einer Sonderlehre höherer Einsichten in religiöse Glaubenslehren der Hl. Schrift. Bei den Gnostikern, deren Anfänge in die Zeit des frühen Christentums fallen und mit der Absicht auftreten, den Glauben in Wissen zu überführen, lassen sich verschiedene Richtungen feststellen 13, sowohl orthodoxe, die noch dem Sinn der Bibeltexte gerecht werden, als auch häretische, die weit über den Inhalt der Texte hinausgehen, sich in abwegige Vorstellungen mit falschen »Einsichten« versteigend, unter Berufung auf andere weisheitliche Quellen und private Offenbarungen. Daher hat Ugo Bianchi begrifflich zwischen »Gnosis« und »Gnostizismus« unterschieden 14.
12 Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. 2, 1979, Artikel »Gnosis, Gnostiker« von Herbert Marwitz, Sp. 830 ff. 13 Siehe Geyer, S. 26 ff. 14 Ugo Bianchi (Ed.), documento finale, in: Le origini dello Gnosticismo, Leiden 21970.
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Einleitende Bemerkungen
Eine ähnliche Unterscheidung lässt sich bei antiken Zeugnissen finden, die einerseits von verstiegenen, unannehmbaren Geheimlehren sprechen, die Jesus einigen Aposteln offenbart haben soll (z. B. bei Irenäus mitgeteilt 15), andererseits aber auch orthodoxe Lehren erwähnen (wie bei Papias), die ebenfalls auf eine geheime Mitteilung Jesu an einige Apostel zurückgehen 16. (Hierunter fallen auch einige apokryphe Schriften.) Gemessen am Maßstab der christlichen Theologie, welche von göttlicher Offenbarung ausgeht und den göttlichen Geist selbst als Urheber bezeugt, ist die Gnosis weniger Theologie als vielmehr Theosophie. Ihre »Offenbarungen« sind Visionen, vermittelt durch machtvolle Wesen wie Hermes trismegistos, die zum Seher sprechen und Mythen auslegen. Die mythischen Themen betreffen vor allem die Entstehung der Welt, der Geister und der Seele, während dagegen die christlichen Offenbarungen Mitteilungen Gottes in geschichtlich tatsächlichen Begegnungen des Menschen mit Gott sind, die das Heil der Menschen, ihre Sünde und Erlösung, sowie ihre Versöhnung mit Gott betreffen. Dabei verwendet die christliche Theologie Begriffe aus der Metaphysik, ohne in metaphysische Argumentation überzugehen. Im Gegensatz hierzu versuchen die Gnostiker, ihre »Offenbarungen« in philosophische Erkenntnisse umzuwandeln, welche freilich in religiösen Vorstellungen erfolgen, nicht in philosophisch wissenschaftlicher, ursächlich begründender Argumentation. Gleichwohl streben die Gnostiker danach, religiöse Glaubensinhalte in Wissen aufzuheben. Dagegen verwendet die christliche Theologie nur einige philosophische / metaphysische Begriffe, ohne selbst Philosophie / Metaphysik zu werden, d. h. den Glauben in Wissen zu verwandeln. Die zentralen Glaubensinhalte bleiben Mysterien, aus denen theologisch-wissenschaftlich Verhältnisse für das Leben aus dem Glauben erklärt werden.
15 Siehe Irenäus, Adversus haereses, III, 3, 1; 15, 1. Die Angabe entnehme ich aus Augusto Cosentino in seiner Irenäus-Ausgabe (Seite 21, Nota 47), s. u. Anm. 29. 16 Siehe Eusebius, Hist. Eccl. III, 39, 3–4. Siehe, Cosentino, a. a. O., S. 34–35, mit den Hinweisen auf: E. Testa, La tradizione dei presbiteri e il suo fondamento, in: Atti della XX Settimana Biblica sulla Costituzione Concil. Dei Verbum, Brescia 1970, 177–190.
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Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern
b) Hermetische Schriften Im Folgenden sollen zwei Schriften des Corpus hermeticum besprochen werden, in denen sich die Gnostik als Verschmelzung von Philosophie und Religion darstellt. Die Hermetischen Schriften erscheinen als Theologie, oder eher als Theosophie, die Göttliches zum Gegenstand hat und religiöse Erfahrungen der Seele auslegt, sofern sie auf das Jenseits gerichtet sind und in Visionen die Beziehungen der Menschen zu den göttlichen Wesen vorstellen. Damit ist sie von der Philosophie verschieden, wenn sie auch philosophische Gedanken über die Entstehung des Kosmos und den Menschen sowie über seine Vernunftseele enthalten. Hermes trismegistos ist in diesen Schriften, nach dem Urteil der Forschung, eine mythische Figur, die mit dem griechischen Gott Hermes sowie mit dem von ihm repräsentierten, ägyptischen Gott Toth identifiziert, aber auch als eine Inkarnation der Gottheit vorgestellt wird, als Wundertäter und theourgós, als Weiser, der Erkenntnis von dem Gott den Menschen übermittelt 17. Durch die Verbindung mit dem Gotte Toth beansprucht er für sich altägyptische Weisheit. In der Schrift I, betitelt: Hermes trismegistos Poimandres, berichtet der Autor (sein Name wird nicht genannt, er könnte aber Asklepios sein, wie in anderen Schriften) in Ich-Form von der Weltentstehung, in die er in mystischer Vision Einblick durch Poimandres erhält. Dieser erscheint ihm als göttliches Wesen und fragt ihn: »Was willst du hören und sehen, denkend lernen und erkennen?« (Nr. 2). 18 Auf Asklepios’ Frage, wer er sei, sagt er: »Ich bin Poimandres (»Männerhirt«), die Vernunft der Selbstherrlichkeit (αὐθεντίαϚ νοῦϚ). Ich weiß, was du willst, und bin mit dir überall«. Daraufhin bekennt ihm Asklepios: »Ich will das Seiende kennenlernen, mit Vernunft seine Natur erfassen und Wissen von Gott gewinnen.« Aus diesem Anfang der Schrift lassen sich seine beiden Komponenten entnehmen: einerseits das an sich nicht religiöse, sondern philosophische Streben nach Erkenntnis als solcher – vom Seienden (d. h. von der Welt sowie dem Menschen) und von Gott –, andererSiehe auch: W. Kroll, Art. Hermes trismegistos, in: Pauly-Wissowa. Im Folgenden verwende ich die Ausgabe: Corpus hermeticum, a cura di Valeria Schiavone (Milano 2001), mit den Nummern des Textes.
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Einleitende Bemerkungen
seits die Offenbarung solcher Erkenntnis durch Poimandres, einem göttlichen Wesen, die dem Asklepios nur in einer religiösen Haltung zuteil wird. Die Figur des Poimandres wird als Vernunft (νοῦϚ) des selbstherrlichen Gottes eingeführt, könnte uns aber gleichsam als Personifizierung der menschlichen Vernunft erscheinen, die in Asklepios ist und ihn überall hin begleitet. (Nach antiker philosophischer Auffassung war die Vernunft der göttliche (= gottverwandte) Teil im Menschen.) Ähnlich erscheint bei Plotin, in seinem neuplatonischen System, die göttliche Vernunft (die zweite Hypostase), welche die Ideen (die Wesenheiten der Dinge) in sich schaut, als Hypostasierung der menschlichen Vernunft. Den Begriff der Vernunft (νοῦϚ) hat zuerst Parmenides in der philosophischen Bedeutung eines vom Sinnesvermögen verschiedenen Erkenntnisvermögens eingeführt, das intuitiv das Sein der Dinge erfasst, die er deshalb umfassend mit dem Partizip des Seienden benennt. Der Autor bringt dann (Nr. 4 ff.) eine Schilderung aufeinander folgender Visionen, die er in Poimandres schaut, der sich jeweils in das Geschaute selbst verwandelt. (Es findet sich also in der göttlichen Vernunft.) Zuerst erscheinen alle Dinge in unaussprechlich schönem Licht, dann von Finsternis, Nässe, Rauch und Klagegeschrei bedeckt und durcheinander bewegt. Dann wiederum (Nr. 5) erscheint ein Licht, von dem her sich ein »heiliger Logos« und reines Feuer über die Dinge, nun zur Natur geworden, breitet, leicht, lebendig, aktiv. Es kommt die Luft hervor, mit dem Windhauch, Pneuma (belebt vom Geist), und es entstehen die übrigen Elemente, Wasser und Erde, aus denen sich dann die Dinge, die Natur und der Kosmos aufbauen. Der durch Heraklit in die Philosophie eingeführte Logos bedeutet die, vom Sinnesvermögen verschiedene, Verstandeskraft, die sich in der Rede ausdrückt. Er bezeichnet mit dem Logos auch das göttliche Gesetz in der Natur, das vom menschlichen Logos eingesehen wird. Dieser Begriff gewinnt dann in der Stoa die zentrale Bedeutung des göttlichen Logos, der alles zweckvoll durchwaltet (Pantheismus). Poimandres unterbricht Asklepios’ Visionen und fragt ihn, ob er »alles eingesehen« habe (ἐνόησαϚ), worauf Asklepios antwortet: »Ich werde es erkennen« (γνώσομαι). Bemerkenswert ist, wie die, mit diesen Verben bezeichnete und gesuchte, philosophische Erkenntnis sich tatsächlich nur in Visionen darbietet, die mit religiöser Autorität vor34 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern
getragen werden und an die Stelle philosophischer Argumentation treten. Es spricht nun ein »heiliger Logos«. Poimandres macht dann (Nr. 6) über sich selbst folgende Aussage: »Ich bin Vernunft, dein Gott (ἐγὼ νοῦϚ ὁ σὸϚ θεόϚ), der früher ist als die aus der Finsternis hervorgegangene, nasse Natur. Der aus der Vernunft hervorgehende, lichtvolle Logos ist Sohn Gottes (υἱὸϚ θεοῦ).« Hier wird wohl unterschieden zwischen dem universalen Vernunft-Gott und dem individuellen, in jedem Menschen wohnenden, wie in Asklepios. Poimandres ist wohl dieser letztere, im Individuum inkarnierte Vernunft-Gott. Er ist auch der Logos, als das schauende und hörende Vermögen im Individuum, der als Sohn Gottes bezeichnet wird. Von ihm geht ein lebensspendendes Licht aus. (Licht ist ja der Ausdruck für Erkenntnis, und das geistige Leben liegt in Erkenntnis.) Nach dieser Belehrung durch Poimandres wird Asklepios innerlich verwandelt, so dass Poimandres’ Vernunft, welche an sich ihm schon innewohnt, aber wie von außen, durch Poimandres, zu ihm gesprochen hat, nun in ihm lebendiges, selbstbewusstes Subjekt wird. Asklepios kann nun (Nr. 7) bei den weiteren Visionen sagen: »Ich schaue in meiner Vernunft …« (θεωρῶ ἐν τῷ νοΐ μου). Er sieht nun »das Licht, das in zahllosen Kräften (δυνάμεσιν) ist, und den »Kosmos, der unbegrenzt geworden ist«, beherrscht von dem ihn umgebenden Feuer als größter Kraft. Poimandres fordert ihn auf (Nr. 8), in der Vernunft »die ursprüngliche Form« (ἀρχέτυπον εἶδοϚ) von allem zu sehen. Aus der göttlichen, ersten Vernunft kommt eine andere Vernunft, ein göttlicher Demiurg hervor (Nr. 9), zu dem sich der Logos gesellt, so dass er mit diesem aus den Elementen den Kosmos aufbaut, und zwar mittels des Feuers und des Pneuma (Nr. 10 ff. Diese Darstellung lehnt sich an Platos Timaios an.) Weiter unten wird die Erschaffung des Menschen so erklärt (Nr. 17 ff.): Sein Leib wird aus dem Dunklen, Nassen, gebildet, die Vernunftseele aber aus dem Lichtvollen und Lebendigen. Beim Tod des Menschen verfällt der Leib in seine materiellen Teile, während die Vernunftseele zum ewigen, göttlichen Leben bestimmt ist und den »Weg zum Leben« durch Einkehr bei sich selbst finden muss. Auf Asklepios’ Frage: »Sage mir noch, o meine Vernunft, wie werde ich zum Leben gelangen?«, antwortet Poimandres, dass der Weg dorthin durch die Einkehr bei ihr selbst erfolgt, in der Selbsterkenntnis, ge35 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Einleitende Bemerkungen
mäß der Aufforderung Gottes, sich selbst zu erkennen (Nr. 21, Anspielung auf den Delphischen Spruch), ihre lichtvolle, göttliche Natur, um in den ihr gemäßen, ursprünglichen Zustand zurückzukehren. Es wird dann näher der »Aufstieg« (Nr. 24, platonisches Bild) beschrieben, mit der Aufforderung des Poimandres an die Menschen, von ihrem erdverhafteten, betrunkenen, verschlafenen Zustand aufzuwachen, sich auf den himmlischen Vater in seiner Größe und Schönheit zu besinnen und von ihrer Unkenntnis über Gott zu befreien (Nr. 27–28). Die Aufforderung mündet in ein Gebet des Lobpreises auf Gott aus (Nr. 29–30). In Auswertung dieser Schrift lässt sich sagen, dass sie zwar philosophische Begriffe, Unterscheidungen und Gedanken verwendet, die vor allem aus dem platonischen Timaios entnommen sind, aber keine Philosophie bietet, sondern eher eine Theosophie, indem sie die philosophischen Gedanken in den Mund des mit göttlicher Vernunft sprechenden Poimandres legt. Mehr noch, der Autor wird in die ekstatische Lage versetzt, die Weltentstehung, die sich in der göttlichen Vernunft ereignet, nun als in seiner eigenen Vernunft sich ereignen zu sehen und sie in sich sprechen zu hören, da er sich nun in ekstatischer Schau befindet. Die Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten, aus ihm abgeleiteten Gott, die bei Neuplatonikern noch von philosophischer Art ist, weil sie nur durch unsere Vernunft aus ihren objektiven Prinzipien erschlossen ist, wird beim Gnostiker zu einer religiös geschauten Offenbarung aus göttlicher Vernunft, die im schauenden Subjekt spricht. Das philosophische Erkennen ist in das religiöse Erleben eingegangen und zu einem theosophischen Denken geworden. Die im Text angedeuteten Unterscheidungen zwischen dem ersten, universalen Vernunft-Gott und dem individualen, in Poimandres inkarnierten, sowie die zwischen dem universalen und dem aus ihm als Demiurg hervorgehenden Vernunft-Gott (in Anlehnung an den platonischen Timaios), lassen sich m. E. nicht eindeutig so auslegen, dass die menschliche Vernunft bei der Rückkehr ins Jenseits in ihr ursprüngliches Gott-Sein zurückkehre und mit dem ersten Vernunft-Gott identisch werde. Das Thema des einen Gottes und der Entstehung der Welt behandelt auch die Schrift X, betitelt: Der Schlüssel des Hermes Trismegistos. Sie beginnt mit der Unterordnung der Natur unter den Gott, welcher der Vater und das Gute ist. Sein Wille ist, wesentlich und 36 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern
identisch, seine (alles wirkende) Tätigkeit (ἐνέργεια, Nr. 1). Er will aber, dass alle Dinge seien (Nr. 2). Er ist die tragende Grundlage alles Seienden (ὕπαρξιν αὐτὴν τῶν ὄντων) 19. Der Kosmos und die Sonne gehören zu dem, was an ihm teilhat (τῶν κατὰ μετουσίαν), und er selbst, Gott, ist der Vater. Der Autor betont, dass der Vater Ursache der Kinder ist (Nr. 3). Weiter heißt es: Der Gott ist sowohl der Vater als auch das Gute für das Sein der Dinge (ὁ δὲ θεὸϚ καὶ πατὴρ καὶ τὸ ἀγαθὸν τῷ εἶναι τὰ πάντα). 20 Alles Übrige ist durch ihn (Nr. 4). Da in allem Seienden auch die menschliche Vernunft inbegriffen ist, hängt sie vom ersten Gott als ihrer Ursache ab. Sie ist also m. E. nicht mit ihm identisch. Der platonische Begriff der Teilhabe bezeichnet immer eine ursächliche Abhängigkeit. Wenn es daher anderswo heißt, dass die menschliche Vernunft Gott ist, so versteht sich dieses Gott-Sein nicht als das ursprüngliche des ersten Gottes, sondern als ein verursachtes, untergeordnetes. Damit ist schon das Hauptthema der Schrift vorweggenommen, der Schlüssel, der den Zugang ins Jenseits öffnet. Er ist die Erkenntnis von Gott als dem Guten. Durch seine Gutheit ist der erste Gott Ursache für das Sein von allem, über den bestimmten ursächlichen Kräften, welche die verschiedenen Dinge in je ihren spezifischen Eigenarten hervorbringen. Hierüber ist der mit dem Namen Tat eingeführte Empfänger entzückt und ruft aus: »Du hast uns erfüllt, o Vater, mit der guten und überaus schönen Schau, und es fehlt nur wenig, dass das Auge meiner Vernunft Dir in Verehrung hingegeben sei, wegen einer solchen Schau« (Nr. 4). Bemerkenswert ist, dass Tat, dem vorher Hermes über Gott als den Vater gesprochen hatte, ihn nun mit einem religiösen Ausruf direkt anzureden vermag. Tat dankt ihm mit der mystischen Erfahrung, »erfüllt« zu sein von der göttlichen Schau. Der Text vergleicht dann das Verhältnis zwischen der erkennenden Vernunft und dem göttlichen Licht (= Ursache ihres Erkennens) Die Übersetzung, dass Gott »die Existenz der Dinge ist, die sind« (Schiavoni: l’esistenza delle cose che sono) kann zu einem pantheistischen Sinn verleiten. »Hparxis« bedeutet hier, meines Erachtens, mehr als nur das Substantiv zu »hypárchein«, vorhanden sein, existieren, sondern bezeichnet die ursächliche Grundlage, die alles trägt. 20 Die Übersetzung: »Der Vater ist … das Gute, worin alle Dinge bestehen« (Schiavoni: Ma Dio è … il bene, in cui tutte le cose esistono), gibt der Aussage einen pantheistischen Sinn, als bestünden alle Dinge in dem guten Gott, und er in ihnen. Genauer würde ich so übersetzen: »Gott … ist das Gute für das Sein von allem«. 19
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Einleitende Bemerkungen
mit dem zwischen den Augen und den Strahlen der Sonne (= Ursache ihres Sehens). Doch ist der Unterschied der, dass bei starker Sonnenstrahlung das Auge verdorben wird, hingegen bei starker Wirkung des göttlichen Lichtes auf das Auge der Seele, die Vernunft, nicht verdorben, sondern gestärkt wird 21. Diese allgemeine Aufstellung wird in den weiteren Kapiteln mit Details ausgefüllt, auf die hier nicht mehr einzugehen ist. Erwähnt sei nur das Lehrstück über das Böse, das seinen Ursprung in der Unwissenheit hat (Kap. 8, ein platonischer Gedanke). Dagegen ist die Erkenntnis die hohe Tugend der Seele, die den Menschen »gut, fromm und schon göttlich macht« (Kap. 9). Wiederholt hebt der Autor die Wichtigkeit der Erkenntnis hervor, die eine spezifisch religiöse, theosophische ist. »Das einzige Heil für den Menschen ist die Erkenntnis von Gott« (Kap. 15). Um diese zu erlangen, muss die Vernunft sich von der Seele trennen (Kap. 16). Die Erkenntnis in die Ordnung im gesamten Kosmos (Kap. 22) führt zu Gott und seiner »Herrschaft über das All« (Kap. 23. Vgl. bei Aristoteles, Metaph. XII, 10, den Schluss von der Ordnung im Kosmos auf die transzendente Zweckursache, Gott). Abschließend gesehen kommt mit diesen Erkenntnissen jenes Begehren der Vernunft zur Erfüllung, das in der Schrift I gleichsam programmatisch für das Corpus hermeticum steht. Wie die oben gegebene Übersicht zeigen konnte, geht es wesentlich um religiös-mystische Erkenntnis, nicht um Philosophie / Metaphysik, wenn sie auch metaphysische Begriffe verwendet.
c) Valentinianer Bevor wir uns philosophischen Argumenten bei frühchristlichen Theologen zuwenden, die sich mit gnostischen Richtungen ihrer Zeit auseinandersetzen, ist es erforderlich, zuerst diese selbst zu erwähnen. Den Vertretern dieser Richtung, angeführt von Simon Magus, ist die Irrlehre gemeinsam, dass dem Schöpfergott des Alten Testaments ein höchster, unerkennbarer, unnennbarer Gott vorgeordnet sei. Hinzu kommen spezielle Lehrstücke der einzelnen Gnostiker. Wir erwäh21
Siehe die Quellen bei Aristoteles, Metaph. II 1 und De anima, III, 4.
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Der Gnostizismus in den Hermetischen Schriften und bei den Valentinianern
nen hier die des Valentinus (der in Alexandrien, dann in Rom lehrte und nach 160 n. Chr. auf Zypern starb), weil auf sie Irenäus ausführlich eingeht, den wir sogleich besprechen. Bei Valentinus ist der höchste Gott, Bythós (Urgrund), mit einem weiblichen Prinzip, Sigé (Schweigen), verbunden, aus denen dann viele weitere Verbindungen hervorgehen, die jeweils einen Äon bilden, zunächst der Intellekt (Noûs) und die Wahrheit (Alétheia). Aus ihnen gehen Verstand (Lógos) und Leben (Zoé) hervor, aus ihnen der Mensch (als Urbild der konkreten Menschen) und die Kirche. Nach dieser Achtzahl (ogdoás) von Äonen leiten sich aus Verstand und Leben (Lógos und Zoé) zehn weitere Äonen ab sowie aus dem Menschen und der Kirche (Ánthropos und Ekklésia) weitere zwölf Äonen. Die untersten Äonen sind die Weisheit (Sophía) und die Grenze (Hóros). Alle diese Äonen zusammen machen das sog. Pleroma aus, die »Fülle«, in der sich das göttliche Leben ausdrückt. In vermessener Liebe zum höchsten Gott, dem Vater, um ihm nahe zu kommen, wie der Intellekt, und ihn zu erkennen, gebiert die Sophia allein ein unvollkommenes Wesen, eine Materie ohne Form. Betrübt wegen dieser Fehlgeburt wendet sich Sophia mit Flehen an den Vater, der sie daraufhin durch Hóros reinigt und aus dem Intellekt und der Wahrheit Christus und den Heiligen Geist hervorgehen lässt. Christus begabt Sophias Missgeburt mit Form und Wesen. Ferner belehrt er die Äonen über ihre Stellung zum Vater. Diese bringen aus Dankbarkeit gegenüber dem Vater Jesus hervor und senden ihn in den irdischen Bereich unterhalb der Äonen, des Pleroma, um die hier umherirrende niedere Sophia, die »Erwägung« (Enthmesis) der oberen Sophia, die sog. Achamóth, von ihrem Leiden zu erlösen. Indem er von ihr die Affekte der Furcht, Trauer, Not und des Flehens nahm, formte er diese zu einem eigenen, psychischen Wesen und siedelte es unterhalb der Ogdoas als Hebdomas an. Sie enthält den Demiurgen, der aus der Materie die menschlichen Leiber gebildet hat. Jesus (Erzeugnis des Pleroma und der Weisheit) wendet sich den materiellen Menschen zu, um sie von der Knechtschaft des materiell Irdischen zu befreien.
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II) Philosophie bei frühchristlichen Theologen
Wenden wir uns nun christlichen Theologen der Antike zu, sofern sich bei ihnen philosophische Argumente ausbilden, und zwar zuerst bei den Apologeten Justin dem Märtyrer und Klemens von Alexandrien.
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1) Die Apologeten Justin und Klemens
In den ersten Jahrhunderten nach dem Auftreten Jesu Christi war sein Evangelium der Kritik vonseiten griechischer Philosophen ausgesetzt, die es für absurd oder töricht hielten, Gott in drei Personen zu verehren, was auf drei Götter hinauslief, und von einem Gott zu sprechen, der Mensch wurde und den Kreuzestod starb. Der hl. Paulus deutete diese Situation in seiner Areopag-Rede in Athen an und entgegnete solchen Philosophen, dass die Torheit Gottes weiser ist als ihre Weisheit. Philosophisch gebildete Christen suchten die Kritik am Christentum rational mit philosophischen Argumenten zu entkräften 1.
a) Justin der Märtyrer Justin (geb. Anfang 2. Jh., Märtyrertod ca. 165 n. Chr.) strebte seit seiner Jugend nach wahrer Erkenntnis über die Seele und Gott. Vor allem beschäftigten ihn religiöse Fragen über die Seele nach dem Tode, ihr Verhältnis zu Gott, die Erlösung von der Sünde u. ä. Er suchte Antwort bei Stoikern und Platonikern, die ihre Philosophie als Heilslehren anboten, war aber von ihnen nicht befriedigt, wie er in seiner autobiographischen Schrift Dialogus cum Tryphone bekannte. Stattdessen erschloss ihm ein christlicher Greis namens Tryphon im Evangelium Christi jene Wahrheiten, die er suchte. Er nahm 133 n. Chr. den Glauben an Jesus Christus an und ging dazu über, die Rationalität
Nach Geyer, S. 13, hat die christliche Apologetik »ihre Vorläuferinnen in der Apologetik des Judentums und in der schon früh im Schoße des Heidentums erwachten Kritik, wie sie seit Heraklit und Xenophanes in den Kreisen der Kyniker, Stoiker, Epikureer und Skeptiker gegen den heidnischen Polytheismus … geübt wurde«.
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
jener Glaubenswahrheiten argumentativ zu verteidigen, ja als die »wahre Philosophie« zu erweisen 2. Dabei griff Justin auf einen wichtigen Hauptgesichtspunkt stoischer Lehre zurück, nämlich dass die erste Ursache von allem Seienden ein göttlicher Logos / Verstand ist, den er nun mit Christus als dem göttlichen Logos verband (im Anschluss an das Johannes-Evangelium, Prolog). Aus dieser Einsicht konnte dann Justin sagen, dass alles Verstandesgemäße in den Geschöpfen christlich ist, weil auf den Logos Christi zurückgehend, durch den alles geschaffen worden ist. Welch ein bemerkenswerter Vorgang! Während dem christlichen Denker die stoische Philosophie, für sich genommen, ungenügend war zur Beantwortung der religiösen Fragen über das Leben und das Heil der Menschen, gewann sie für ihn, in Verbindung mit dem christlichen Glauben, eine wichtige Bedeutung zu dessen Verteidigung, und zwar durch die Lehre vom göttlichen Logos – eine Bedeutung, welche ihn sogar veranlasste, seine Verteidigungslehre des Glaubens »die wahre Philosophie« zu nennen und von jetzt an selber im Philosophengewande das Christentum zu verkündigen! Fragen wir uns, wie sich dies erklärt, so lässt sich Folgendes sagen: Offensichtlich ist die »wahre Philosophie«, die der christliche Denker verkündigt, nicht mehr dieselbe wie die der Philosophenschulen, im vorliegenden Fall: der stoischen. Während die Philosophie generell ohne religiöse Glaubensvoraussetzung vorgeht, setzt die vom Christen Justin vorgetragene sehr wohl den christlichen Glauben voraus, der verteidigt wird. Damit erhalten dann die aus der Philosophie entnommenen Begriffe neue Bedeutungen. So bezeichnet der ehemals stoische Logos-Begriff nun den sich offenbarenden Gottessohn Christus. Wir wohnen hier dem Beginn der christlichen Theologie bei. Doch war Justin dieser Begriff in der späteren, uns geläufigen Bedeutung noch nicht verfügbar. Der von Aristoteles eingeführte Begriff Im Folgenden benutze ich die gut kommentierten und mit Biographien ausgestatteten Ausgaben der Edizioni Paoline: S. Giustino, Dialogo con Trifone, ed. G. Visonà, Milano 1988; Clemente di Alessandria, Gli stromati, ed. A. Zanotti Fregomara, D. Rivarossa, Milano 2006. Das Thema ist von mir auch behandelt in: Apologetic Theology as Fruit of the Encounter Between Christian Faith and Metaphysics, in: ›Praeambula fidei‹ e nuova apologetica (Atti dell’VIII Sessione plen. Pont. Accad. s. Tommaso), Roma (Città del Vaticano) 2008, 201–208.
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Die Apologeten Justin und Klemens
der »Theologie« bezeichnete den abschließenden Teil seiner Metaphysik, welche die »natürliche« Erkenntnis von der ersten Seinsursache enthält, die mit Gott identifiziert wird. Diese Weltweisheit will jedoch Justins »wahre Philosophie« als göttliche Weisheit – wie das Adjektiv »wahr« anzeigt – bei weitem übersteigen zu einer »übernatürlichen« Gotteslehre hin, eben zur hl. Theologie, kraft des christlichen Glaubens. Gegenüber gnostischen Lehren von zwei Schöpfungen des Menschen, nämlich zuerst des geistigen, sodann des irdisch-leiblichen, lehrt Justin, wie dann auch Klemens, nur eine einzige Schöpfung des Menschen, nämlich des irdischen, in seiner geistig-seelischen und leiblichen Einheit. Dies ist auch die philosophische Auffassung vom Menschen, die ihren Einfluss auf Justin ausgeübt hat.
b) Klemens von Alexandrien Was wir bei Justin beobachtet haben, finden wir auch bei Klemens von Alexandrien (ca. 150–215 n. Chr.) und anderen christlichen Apologeten. Er wirkte in Alexandrien, einem damaligen Zentrum hellenistischer Kultur. Im Vergleich zu Justin hatte er bessere Kenntnisse von der griechischen Philosophie und schätzte sie als unentbehrliches Bildungsgut für Christen, die am kulturellen Leben ihrer Zeit teilnehmen wollten. In bemerkenswerter Weise unterschied Klemens in seinem Hauptwerk Stromateis (»Teppiche«) klar zwischen der griechischen Philosophie und der christlichen Lehre, die er wiederum als »wahre Philosophie« bezeichnete. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden war für ihn, dass die erstere von menschlicher Herkunft ist, die letztere von göttlicher (Strom. I, 37, 6). 3 Nicht durch die philosophische Wahrheit, sondern durch die religiöse, von Christus geoffenbarte Wahrheit werden wir gerettet (Strom., V, 87, 1). Klemens bestimmte das Verhältnis beider zueinander so, dass er die griechische Philosophie als Propädeutik der höheren Weisheit der christlichen Lehre zuordnete, welche die geoffenbarten Wahrheiten über die Hl. Trinität, die Menschwerdung Christi
Vgl. die Interpretation von Joh. Bernard, Klemens von Alexandria. Glaube, Gnosis, Griechischer Geist, Leipzig (St. Benno) 1974.
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
und die Erlösung der Menschen in Ihm umfasste. Daraus erhellt klar, dass die »wahre Philosophie« die beginnende christliche Theologie ist, wie schon bei Justin.
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2) Philosophische Argumente bei den frühen Theologen Irenäus, Tertullian, Origenes, Gregor v. Nyssa und Nemesius v. Emesa
Im Anschluss an die zwei genannten Apologeten treten erstmals Theologen auf, die über die reine Verteidigung des christlichen Glaubens hinaus diesen in eine rational geordnete Lehre bringen wollen, wobei sie sich, dank ihrer griechischen Bildung, einiger Lehrstücke der griechischen Philosophie bedienen. Für sie ist eine Einstellung kennzeichnend, die Geyer 4 bei Origenes feststellt, wonach 1. für die christliche Glaubenslehre die Philosophie nur noch einen untergeordneten Wert hat, 2. die Glaubenslehre die Vollendung der griechischen Philosophie ist, und 3. die Weisheit griechischer Philosophen sich als geeignete Vorbereitung zum Christentum erweist. Hieraus wird ersichtlich, dass die Begegnung der christlichen Glaubenslehre mit der griechischen Philosophie zur Theologie als einer neuen wissenschaftlichen Disziplin führt, in welcher sich beide nicht vermengen, sondern verschiedene Größen sind, die in ein Verhältnis der Über- bzw. Unterordnung treten. Die Philosophie bleibt als eigene Disziplin bestehen, wenn auch Lehrstücke oder Argumente von ihr in die neue Theologie-Disziplin eingehen und ihr wissenschaftliche Form verleihen. Die Wahrheiten des Glaubens, welche die Theologie ausarbeitet, haben eine natürliche Grundlage in der philosophischen Erkenntnis von Gott, ausgehend von seiner Schöpfung, wie auch die bekannte Stelle bei Paulus in Röm 1, 19–20, feststellt. Damit verbindet sich bei Tertullian die Ansicht von der anima naturaliter christiana, d. h., dass sie disponiert ist, das Evangelium von Christus aufzunehmen. (Noch grundlegender wäre die Aussage, dass die Seele von Natur religiös ist.) Sofern dann bei der Verbindung der christlichen Glaubenslehre und Theologie mit der Philosophie diese mit jener verglichen wird, erfährt sie eine Abwertung. Doch habe ich schon in der Einleitung 4
Geyer, Grundriß, S. 66.
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
darauf hingewiesen, dass ein solcher Vergleich nicht gerechtfertigt ist, da die philosophische Einstellung von der religiösen an sich wesentlich verschieden ist: nach Gegenstand, Vorgehensweise und Zweck. Von den verschiedenen Theologen dieser Frühperiode müssen wir uns auf wenige Vertreter beschränken, um an ihnen beispielhaft das Philosophische herauszuheben. Dabei interessiert uns für die vorliegende Untersuchung die Frage, in welchem Verhältnis bei den antiken Theologen der philosophische Anteil zu den christlich-theologischen Lehren steht und wie deren Entwicklung auch zur Entfaltung der Philosophie beiträgt.
a) Irenäus Hiernach verdient Irenäus von Lyon (geb. 130/142, gest. ca. 202 n. Chr.) besondere Beachtung; denn er verwendet zur Widerlegung der valentinianischen Irrlehre, die wir oben kurz referiert haben, in seiner Schrift Contra haereses weitgehend philosophische Argumente, was im Folgenden zu zeigen ist. 5 In Frage stehen vor allem folgende Punkte: 1. dass Gott, als Schöpfer aller Dinge, von keinem anderen, noch höheren Gott abhängt; 2. dass er alle Dinge aus eigener Vollmacht geschaffen hat, ohne unter der Leitung eines anderen Gottes zu stehen; 3. dass nicht zwei Schöpfungen des Menschen, nämlich eines geistigen und eines leiblichen, stattgefunden haben. Der Kern der diese Lehren widerlegenden Argumente ist die ontologisch-metaphysische Aussage: Gott als Schöpfer / Ursache aller Dinge, »gibt allem, was existiert, das Sein« (Buch II, 1. 1). An ihr zerbrechen alle gnostischen Vorstellungen von höheren Prinzipien, die dem Schöpfergott vorgeordnet wären. Der Seinsaspekt ist der allumfassende; denn außerhalb alles Seienden ist nur das Nichts. Daher entgegnet Irenäus den Gnostikern, (II, 1. 2) die dem Pleroma der Äonen ein höheres Prinzip, den Urgrund, voranstellen, dass das Pleroma nur die Fülle der Seinsursache selbst, des ersten Prinzips, bezeichnen kann 6. Verwendet wird hier die Ausgabe von Augusto Cosentino, Ireneo di Lione, Contro le eresie/1, Roma 2009. 6 Cosentino, S. 185, Anm. 7, verweist auf Osborn, Irenaeus of Lyon, S. 28, der darauf 5
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Philosophische Argumente bei den frühen Theologen
Gegen die gnostische Lehre, dass die Welt von Engeln geschaffen wurde, argumentiert Irenäus, dass es der Allmacht Gottes widerspricht, wenn die Engel außerhalb des göttlichen Willens und unabhängig von Ihm die Schöpfung vollzogen haben; denn die Engel selber wurden von Gott erschaffen und konnten nur als Werkzeuge des göttlichen Willens an der Schöpfung beteiligt sein. Die Allmacht Gottes bedurfte keiner Werkzeuge, oder Zweitursachen, um die Welt zu erschaffen. Vielmehr ist Er die erste Ursache von allem Seienden (II, 2. 3–5). Wieder zeigt sich der metaphysische Kern des Arguments. Gegen die häretische Lehre vom Urgrund außerhalb des Pleroma argumentiert Irenäus so (II, 3. 1): Wenn das Pleroma von allem erfüllt ist, alles enthält, so ist es absurd, dass ein anderes Prinzip als Urgrund die Welt geschaffen hat, der ebenso alles (als geistig Gedachtes) in sich enthalten musste und es nicht ignorieren konnte. Somit war der Urgrund der einzige Schöpfergott. Zudem gehört es zur Allmacht Gottes, dass das von ihm Gedachte sogleich ins Sein gesetzt wird, im Schöpfungsakt, der daher nicht einem anderen Prinzip vorbehalten war (II, 3. 2). Ferner, wenn die Welt außerhalb des Pleroma geschaffen wurde, dann gab es außer ihm ein »Leeres«, einen »Schatten«. Diese Annahme wirft aber Probleme auf: Wenn das Leere geschaffen wurde, dann vom Urgrund, das dann ähnlich seinem Geschöpf, dem Leeren, sein musste. Wenn hingegen das Leere aus sich selbst besteht, gleichewig mit dem Urgrund, dann muss es wiederum mit ihm gleichartig sein, und dieses mit ihm, etwas dem Leeren Verwandtes, eine »leere Substanz« (II, 4. 1). Wenn hingegen die Welt – die (im Gegensatz zu den Christen) den Gnostikern als etwas sehr Unvollkommenes gilt – im Pleroma und d. h. im Urgrund enthalten ist, und wenn sie in ihm durch den Demiurg und Engelwesen geschaffen wurde, dann ist es unerklärlich, wie diese unvollkommene Schöpfung im vollkommenen Urgrund-Vater sein konnte. Die weiteren Erörterungen über Gott, den Vater, als Schöpfer der Welt (II, 9. 1–2), und die Schöpfung aus dem Nichts (II, 10. 1–4) aufmerksam macht, dass Irenäus dem Pleroma-Begriff über die engere gnostische Bedeutung hinaus die volle (und zugleich ontologisch-metaphysische) Bedeutung zurückgibt, die er im Neuen Testament hat, bei Johannes (1, 16) und Paulus (Rm 15, 29; Gal 4,4; Eph 1, 10–23; 3, 19; Col 1, 19; 2, 9).
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
beruhen auf metaphysischer Grundlage. Dass die Welt auf einen Schöpfer verweist, geben, wie Irenäus hervorhebt, alle zu, auch jene, die ihn in einem Demiurgen oder in Engeln sehen. Es gibt Zeugnisse ebenso bei den heidnischen Philosophen zugunsten eines einzigen, existierenden Schöpfergottes, auf den der christliche Glaube verweist. Die Gnostiker verkennen diesen und bilden sich einen anderen Gott über dem Schöpfergott ein, der nicht existiert. Irenäus hebt nun hervor, dass der biblisch-christliche Gott alles aus dem Nichts geschaffen hat – wohl in Anlehnung an 2 Mak 7, 28 7 –, selbst auch die Materie, im Gegensatz zu den Valentinianern, die sie von der Trauer der Achamoth, bzw. von der verirrten Intention des untersten Äon herleiten. Sie dachten nach menschlichen Erfahrungen, wonach alles, was entsteht, aus einer schon vorliegenden Materie hervorgehe. Dagegen betont nun Irenäus, dass Gott dank seiner Schöpferkraft alle Dinge (d. h. ihre konstitutiven Ursachen, einschließlich der Materie) direkt ins Sein setzen konnte. Mit diesem metaphysischen Argument überwindet er die gnostische Irrlehre. Es bildet sich der Begriff der Schöpfung aus, mit dem unmittelbaren Ins-Sein-treten der Dinge (genauer: ihrer konstitutiven Ursachen) aus dem Nichts, im Unterschied zu der Entstehung der geschaffenen Dinge aus einer schon vorhandenen Materie. Irenäus’ Auffassung vom Menschen folgt getreu den Schriftstellen und stützt sich dabei auch auf Aussagen über den Menschen, die er aus den philosophischen Schulen (Plato, Aristoteles, Stoa) entnehmen konnte: dass der Mensch aus Leib und Seele konstituiert ist, die Seele mit rationalen und irrationalen Vermögen ausgestattet ist, der Tod die Trennung der Seele vom Leib bedeutet, die menschliche Vernunftseele unsterblich ist u. a. 8
b) Tertullian Philosophische Lehrstücke finden wir bei allen frühen Theologen, wenn auch mehr zur Verteidigung des christlichen Glaubens, da die Gegner sich auf Sokrates, Plato, Aristoteles und Stoiker berufen. Von daher erklärt sich, dass diese Theologen bei ihrer Verteidigung über 7 8
Hinweis bei Cosentino, S. 210, Anm. 23. Siehe Antonio Orbe sj, Antropologia de San Ireneo, Madrid (BAC) 1969.
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Philosophische Argumente bei den frühen Theologen
die griechischen Philosophen abschätzig urteilen, wie besonders Tertullian (160–222 n. Chr.); denn sie sehen die Philosophie nur in Konkurrenz zu den christlichen Glaubenslehren und können unschwer zeigen, wie sie unendlich weit hinter diesen zurückbleibt 9. Nicht in Sicht kommt der eigene Wert der Philosophie, die bei Plato und Aristoteles – weniger freilich bei den Stoikern – eine ganz andere Aufgabe hat als die, den Menschen eine religiöse Heilslehre zu bieten. Man kann Tertullian durchaus zustimmen, dass der christliche Glaube eine Gewissheit hat, die ihm Philosophie unmöglich geben kann: certum est, quia impossibile est 10. Die unglückliche Konkurrenz-Situation der Philosophie zur christlichen Glaubenslehre bedeutet jedoch bei Tertullian keine grundsätzliche Ablehnung der Philosophie. Es ist beachtlich, wie er auf verschiedenen Gebieten zu wichtigen philosophischen Einsichten gelangt. Von ihnen seien die folgenden hier angeführt 11: Der gute Gott hat bei der Weltschöpfung auch die Zeit geschaffen, war also schon vor der Schöpfung in zeitloser Ewigkeit, Adv. Marcionem, II, 3. Er hat die Welt durch den Logos geschaffen, Apologeticum, 21, mit Verweis auf die Stoiker, und zwar aus dem Nichts, d. h. aus keiner vorher bestehenden, ewigen Materie. Vielmehr wurde auch sie geschaffen. Freilich hat Tertullian, beeinflusst von den materialistischen Stoikern, von dem der Materie gegenüberstehenden Gott eine materielle Auffassung, ebenso von der Seele. In seiner Schrift über die Seele (De anima) legt er dar, dass sie sich als luftartige Substanz über den ganzen Leib erstreckt, mit der Vernunft Selbstbewusstsein und Willensfreiheit besitzt und ihrer Natur nach unsterblich ist. Auf ethischem Gebiet schließt Tertullian an die philosophischen Lehren der Akademie, des Peripatos und der Stoa an, welche die Tugenden in der Beherrschung der Affekte durch den Verstand bestimmen. Zugrunde liegt die Auffassung von der Seele als dem Lebensprinzip des Leibes, die aus rationalen und irrationalen Vermögen besteht. Sie stehen in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung,
Siehe besonders in Tertullians Hauptschrift Apologeticum. Geyer zitiert, S. 51, richtig diese Stelle (aus: De carne Chr. 5) gegen das bekannte, aber falsche Zitat: credo, quia absurdum. 11 Vgl. auch Baugartner, 82–87. 9
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das sich in den Tugenden harmonisch erfüllt, in den Lastern dagegen gestört wird. Dabei ist zu beachten, dass die materielle Auffassung der Seele als feines Feuer, wie in der Stoa, nur aus Unfähigkeit erfolgt, sie immateriell zu verstehen, nicht aus materialistischer Intention; denn Tertullian begreift die Seele in wesentlichem Gegensatz zum materiellen Leib, und die mit dem Leib verbundenen irrationalen Affekte wiederum im Gegensatz zum rationalen Prinzip, dem Logos / Verstand.
c) Origenes Die Schriften des Origenes (185/186–254 n. Chr.), von denen die wichtigste die Über die Prinzipien (περὶ ἀρχῶν) ist 12, gehen über die bloße Verteidigung des christlichen Glaubens gegen Irrlehren hinaus und bringen die christliche Lehre in eine systematisch einheitliche Form, welche nun die Gestalt der hl. Theologie-Wissenschaft annimmt, und zwar auf der Grundlage der Hl. Schrift und der beginnenden kirchlichen Tradition, mit dem Taufbekenntnis und der Regula fidei 13. In seinem Hauptwerk Über die Prinzipien stellt das Vorwort klar die Form der hier gesuchten theologischen Erkenntnis heraus, dass wir sie nämlich nur »durch den Glauben an Christus empfangen«, und dass sie allein die Menschen gut und glücklich macht. Nur von Christus »haben wir die Wahrheit zu lernen«, die sich in der Hl. Schrift findet. Da aber die Apostel »die Weisheit und Erkenntnis« des christlichen Glaubens verkündigten, ohne »die Gründe für ihre Aussagen zu erforschen« (Praefatio, 3), »überließen sie dies den Gläubigen mit besonderen Geistesgaben«, d. h. den Theologen. Damit wird genau die Aufgabe der nun beginnenden Theologie bezeichnet. Sie besteht nicht nur darin, die bei den Aposteln fehlende Auslegung von Offenbarungswahrheiten zu ergänzen, sondern auch in der Klärung biblischer Gegenstände, die in der Bibel unklar vorgestellt werden (ebd.). Diese Aufgabe erfolgt nicht durch die Philosophie, sondern durch Verwiesen sei auf die zweisprachige Ausgabe: Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, mit Anm. hrsg. u. übers. v. H. Görgemanns u. H. Karpp, Darmstadt 1976. 13 Siehe Geyer, 67 ff. 12
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eine im Glauben vollzogene, eigene (theologische) Erkenntnisweise, wenn auch philosophische Begriffe verwendet und allgemeine Kenntnisse aus der Philosophie als Grundlage vorausgesetzt werden 14. Das Vorwort führt dann die Hauptgegenstände auf, die der Klärung bedürfen und anschließend in vier Büchern behandelt werden. Sie betreffen in Buch I Gottes Wesen, seine Schöpfung der Welt, den ursprünglichen Menschen, seinen Sündenfall und die damit verursachte irdische Existenz seiner mit dem Leib verbundenen Seele. Buch II handelt von der irdischen Welt und von der Menschwerdung Christi. Die eigentliche Ursache der Schöpfung ist die Güte Gottes, die niemals untätig war. Er hat die Welt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen (vielmehr wurde auch die Zeit geschaffen). Auf diese Welt werden andere (unendlich viele) folgen 15. Buch III behandelt die Befreiung der Menschen von der Sünde und die Seele. Diese ist von Gott geschaffen, hat sich aber von Ihm mit freiem Willen abgewandt und ist daher aus dem Paradies verstoßen worden und ist nun gebunden an einen irdischen Leib. Buch IV geht schließlich auf die Offenbarungsmysterien ein. Von Beginn an herrscht die theologische Betrachtungsweise gegenüber der philosophischen vor. So wird schon in Buch I, 1, 4–5, die Immaterialität Gottes, die auch ihre philosophischen Gründe hat – wie sie z. B. Aristoteles in Metaph. XII von der ersten transzendenten Ursache darlegt –, nur aus Schriftstellen gesichert. Nachdrücklich betont Origenes: »Um Gottes Natur zu schauen, reicht die Schärfe der menschlichen Vernunft nicht aus, mag sie auch noch so rein und klar sein«. Er verwendet zwar noch philosophische Begriffe, wie: Natur, Substanz, Ursache, Prinzip, Wirkung, aber nun mit Bezug auf göttliche Verhältnisse. Soweit sie ihre Bedeutungen aus irdischen Verhältnissen behalten, erweisen sie sich als unangemessen, wohl aber zeigen sie auch die natürliche Erkenntnisgrundlage für die Offenbarungswahrheiten an.
Das Thema behandelt jüngst wieder Joseph St. O’Leary: Christianism et philosophie chez Origène, Paris 2011. 15 Auf Origenes’ Abweichungen von der orthodoxen kirchlichen Lehre ist hier nicht einzugehen, da wir uns nur auf die philosophischen Argumente beschränken. 14
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d) Gregor von Nyssa Den beginnenden Versuch bei Origenes, die christlichen Glaubensinhalte in die Form einer einheitlichen Lehre zu bringen, setzen Gregor von Nyssa und Nemesius von Emesa sehr erfolgreich fort. Die Schriften des Gregor von Nyssa (335–394) bezeugen eine gute Kenntnis der griechischen Philosophie und richten sich sowohl an heidnische, als auch an jüdische Hörer, um jene von ihrer Vielgötterei zu bekehren, diese in ihrem Monotheismus zur Anerkennung der Hl. Dreifaltigkeit zu bringen. Wir können hier nur auf einige Texte seiner Schriften eingehen, welche philosophische Argumente und Einsichten bieten. Große katechetische Rede (ΛόγοϚ κατηχητικόϚ, oratio catechetica magna) 16 Diese Schrift legt in vierzig Kapiteln die Hauptgegenstände des christlichen Glaubens aus, wobei sie die Nizäische Glaubensregel gegen verschiedene Irrlehren des Arius, Eunomius, Apollinaris u. a. verteidigt. Auf dem christlichen Glauben fußend, entwickelt er seine theologische Lehre unter Verwendung philosophischer Begriffe. In der Einleitung der Katechese hält er gegen die Zweifler die Existenz Gottes für leicht beweisbar aus der zweckvollen Einrichtung der Welt, die auf einen ihr überlegenen und vollkommenen Urheber rückschließen lässt, der dann nur ein Einziger sein kann, gegen jede Annahme vieler Götter. Zwar schreibt die Bibel Gott eine Anzahl von Eigenschaften zu, die aber – unter dem Aspekt der Vollkommenheit Gottes – in seiner Einheit zusammenfallen. Wie alle Eigenschaften Gottes in seiner Vollkommenheit Eines werden, dies erfährt der Gläubige in der religiösen Erfahrung mit Gott, welche die metaphysische Erkenntnis übersteigt. In Kap. I begründet Gregor die Dreifaltigkeit des einen Gottes mit folgender Argumentation: Gott hat alles mit dem Logos (Verstand) geschaffen, dessen Substanz immateriell und lebendig sein muss. Der Logos ist aber, analog zu dem des Menschen, auf ein SubDie Ausgabe: Gregor von Nyssa, Die große katechetische Rede, hrsg. v. Joseph Barbel, Stuttgart 1971, mit guter Übersetzung und ausführlichem Kommentar.
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jekt mit freiem Willen bezogen, das, wie Kap. II darlegt, mit der Kraft des Geistes verbunden ist und das vom Logos Erkannte auszudrücken vermag. Ferner unterscheidet Gregor zwischen dem Logos (Verstand) mit reflektierender Erkenntnis und dem Nous (Vernunft), dem intuitivem Vermögen, aus dem der Logos hervorgeht. Das Kap. III legt dar, wie in Gott der Wille mit Bewusstsein, der Logos und die ausdrucksvolle geistige Kraft – als Vater, Sohn und Hl. Geist – einerseits drei verschiedene Personen sind, je substantiell in sich selbst stehend, andererseits aber dieselbe göttliche Natur haben und damit der substantiell Eine Gott sind. Von der Metaphysik aus gesehen, die bei der ersten, transzendenten Seinsursache als der einen einzigen Substanz endet, ist der mit ihr gleichgesetzte Gott der substantiell Eine, so dass die Offenbarung der dreipersonalen Lebensfülle in Gott die metaphysische Erkenntnis übersteigt. Daher ist nunmehr eine spezifisch theologische Einsicht in die Glaubensmysterien erfordert. Doch wird die metaphysische Erkenntnis für Gregor nicht sinnlos; denn dadurch, dass sie hinter der Offenbarung zurückbleibt, macht sie sozusagen die Unbegreifbarkeit Gottes begreifbar. Wenn Geyer (1960, S. 85) einen Mangel in Gregors Argumentation darin sieht, dass sie nicht die Notwendigkeit der trinitarischen Existenz Gottes beweist, so scheint mir dies uns Menschen auch nicht möglich zu sein. Aufgrund unseres Glaubensaktes spricht Gottes Dreifaltigkeit existentiell-real zu uns, so dass dann die Theologie sie nur noch als einsichtig aufzuweisen braucht, ohne ihre Existenz beweisen zu müssen. Geyer geht auch auf das folgende, bei Gregor erörterte, Problem ein: Wenn das Wort »Gott« von Vater, Sohn und Hl. Geist ausgesagt wird, so könnte daraus folgen, dass sie drei Götter sind. Dagegen stellt aber Gregor klar, dass »Gott« als allgemeiner Begriff von den einzelnen Individuen im Plural ausgesagt und damit missbräuchlich verwendet wird. Analog wird auch das Wort »Mensch« im Plural von drei Individuen als »Menschen« missbräuchlich ausgesagt. Für Geyer (1960, 85–86) hingegen ist Gregors Erklärung unbefriedigend, weil zwar der abstrakte Begriff nur im Singular von den Individuen ausgesagt wird, aber als »konkreter Begriff« den Plural erfordert. Mir scheint diese Kritik nicht berechtigt; denn jeder Begriff ist allgemein, keiner ist konkret wie ein Eigenname. Gleichwohl hat der Allgemeinbegriff einen Bezug auf die Individuen, nämlich auf das Wesentliche (oder das Akzidentelle) in ihnen. Der allgemeine Begriff »Gott« be53 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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zieht sich auf die gemeinsame göttliche Wesenheit in den Drei Personen, Vater, Sohn und Hl. Geist. Die in Kap. I erwähnte wichtige Unterscheidung zwischen Logos und Nous, dem in sich reflektierenden Verstand und der intuitiven Vernunft, welche die Reflexion des Verstandes umschließt, geht auf Aristoteles zurück und ist an sich rein philosophischer Natur. Sie findet sich nun in Gregors Theologie.
Leben des Moses (Vita Moysis) Diese mystische Schrift weist dem Leser den Weg des Geistes zu Gott. Gregor sieht diesen Weg symbolisch in Moses’ Weg zum Berg Horeb, um sich Gott zu nahen. Der Ruf des Herrn: »Bleibe stehen!«, lässt Gregor fragen, warum wir auf dem Weg zum Herrn stehen bleiben sollen, anstatt zu gehen. Doch dann begreift er (Vita Moysis, II, Nr. 242): Die geistige Wanderung ist ein Gehen im Stehen bzw. ein Stehen im Gehen. Die mystische Betrachtung Gottes ist kein Gehen des diskursiven Logos mehr, sondern eher ein intuitives Stehen der Vernunft/des Geistes, der sich Gott naht. Wie ersichtlich, kommt wieder die oben erwähnte, wichtige Unterscheidung zwischen diskursiver und intuitiver Erkenntnis zur Anwendung. Von der Erschaffung des Menschen (περὶ κατασκευῆϚ ἀνθρώπου, De opificio hominis) Diese Schrift betrifft an sich einen philosophischen Gegenstand 17, den aber Gregor in theologischer Form abhandelt, da er eine Lücke in Basilius’ Kommentar zum biblischen Schöpfungsbericht schließen möchte. Er erörtert die Fragen, warum Gott den Menschen bei der Weltschöpfung zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Weise geschaffen hat. Die Antworten legen dar, dass Gott den Menschen zuletzt in die Schöpfung einführt, gleichsam wie den König in den Thronsaal, damit ihm alle Dinge dienstbar sind, und er über sie Tatsächlich folgt die Schrift der, auf Aristoteles und die Stoa zurückgehenden, teleologischen Betrachtung der Natur und des Menschen.
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herrschen soll (Kap. 2–4). Er ist ein Abbild von Gottes Königtum (Kap. 5). Unter diesem Gesichtspunkt stellt Gregor fest, dass der menschliche Intellekt über die Sinne herrscht, so dass er das Subjekt auch der sinnlichen Tätigkeiten ist, nicht nur der vernünftigen (Kap. 6). Diese vortreffliche Feststellung ergäbe sich auch aus rein philosophischen (anthropologischen und erkenntnistheoretischen) Überlegungen, wird aber hier zu einer theologischen. Bemerkenswert ist sie deshalb, weil in der neuzeitlichen Philosophie Sinnlichkeit und Vernunft in Gegensatz treten und dann, wie bei Kant, zwei Subjekte im Menschen bilden, ein sinnlich-empirisches und ein transzendentales. Wichtig ist ferner die Beobachtung, dass, im Unterschied zu den übrigen Lebewesen mit ihren spezialisierten Organen zur Nahrungsgewinnung, Selbsterhaltung, Verteidigung usw., der Mensch unspezialisiert geblieben ist. Gregor zieht hieraus den Schluss, dass diese Unspezialisiertheit des Menschen kein Mangel ist, sondern der entscheidende Vorteil, nicht ein Tier neben anderen zu sein, sondern ein ihnen allen überlegenes Lebewesen, um mit Vernunft über sie zu herrschen (Kap. 7). Dem entspricht das leibliche Merkmal des aufrechten Ganges des Menschen mit dem Gebrauch der Hände zur Unterstützung der Rede, sowie mit der Fähigkeit, zum Himmel aufzuschauen und die Ordnung in den geschaffenen Dingen zu erkennen (Kap. 8, vgl. Cicero, De natura deorum, 140). Philosophisch ist auch der (vor allem stoische) Gesichtspunkt, dass im Menschen als Mikrokosmos alle Realitätsstufen des Makrokosmos wiederkehren. So umfasst seine intellektuelle Seele mit dem vegetativen und sensitiven Vermögen auch jene von Pflanze und Tier (ebd.). Doch sind die weiteren Erörterungen von theologischer Art, eingefügt in den biblischen Rahmen, mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott, bis hin zur Auferstehung nach dem Tode, was unsere philosophische Untersuchung nicht weiter durchzugehen hat.
Von der Seele und der Auferstehung (De anima et resurrectione) Auch diese Schrift, welche die Form eines Dialoges hat zwischen Gregor, der den zweifelnd fragenden Part übernimmt, und seiner Schwester Macrina, mit den klärenden Antworten, bietet wichtige 55 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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philosophische Gesichtspunkte: Die Unsicherheit über das Fortleben der Seele nach dem Tode verrät einen Mangel an Tugenden, die eine starke Vernunft auf ein ewiges Leben hin ausübt (Einleitung). Nach dem Tode löst sich zwar der Körper in seine Elemente auf, die Seele aber besteht fort und bleibt mit den Elementen verbunden, aus denen der Leib zusammengesetzt war, um ihn zur Auferstehung aus denselben Elementen wieder aufzubauen. 3. Die Seele weist, per Definition, zwei Prinzipien auf, das sinnliche und das vernünftige. Die Vernunftseele belebt den mit den Sinnen begabten Leib und bedient sich der Körperorgane. Als Objekt unserer Erkenntnis »entspricht die Seele nicht einem bestimmten Ding«, sie ist nicht als ein Ding neben anderen gegeben, sondern nur als »etwas Verschiedenes von allen diesen Dingen hier«, nämlich nur als substantielle Ursache in den Lebewesen, die als solche nicht mehr materiell ist. Um daher zu erfahren, was die Seele ihrem Wesen nach ist, »genügt die Seele selbst, um uns in den Gedanken über sie zu unterrichten«. Die Vernunft ist Subjekt auch der Sinneserkenntnis. »Es ist die Vernunft, die sieht und die hört«, und durch die Sinneserfahrungen hindurch das Intelligible, Wesentliche, in den Dingen erfasst (Kap. 1). Gegen den Zweifel, ob bei Wegnahme aller Sinnesdaten von der Seele nicht etwa nichts übrigbleibe, erwidert Macrina, dass bei diesem Vorgehen nicht auch die Existenz der Seele weggenommen wird (die kein Sinnesdatum mehr ist), vielmehr erfahren wird »die Existenz ihrer Kraft«, mit der sie den Leib regiert. Und ihre Regierung über den Leib lässt sich in Analogie zu der der göttlichen Vernunft über den Kosmos bringen; denn der Mensch verhält sich zu dem großen Kosmos wie ein Mikrokosmos, in welchem alle Realitätsstufen des großen wiederkehren (Kap. 2). Gregor übernimmt diesen Analogievergleich von den Stoikern, die ihn ausgiebig für ihre Lehre vom göttlichen Logos verwendet haben, angeregt von platonischen und aristotelischen Quellen. Im Übrigen schöpft Gregors Schrift weitgehend aus Platos Phaedo. Ausführlich erörtert Gregor das Problem, wie die Vernunft das Prinzip der Menschenseele sein kann, wenn doch in dieser mit den Leidenschaften wie Begierde und Zorn auch ein irrationales Prinzip anwesend ist? Macrinas Antwort ist die: Zwar sind die Leidenschaften in der Seele anwesend, aber nicht als ein eigenes Seelenprinzip. Sie bilden auch in der Definition der Seele keine spezifische Differenz. 56 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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»Wenn die Befreiung hvom Zorn und der Begierdei von uns abhängt, und wenn ihre Bekämpfung nicht nur nicht schädlich ist, sondern unserer Natur nützlich, dann ist es klar, dass sie zu den Dingen zu zählen sind, die man als unserer Natur äußerliche betrachtet, und die nicht ihre Wesenheit sind, sondern nur Passionen (Eigenschaften). Die Natur ist das was sie ist.«
Über die Existenz der Vernunftseele aber kann man keinen Beweis führen. Sie wird (im Selbstbewusstsein) unmittelbar erfasst. Diese Abklärung darf man m. E. nicht als eine Abwertung der aristotelischen Beweislehre missverstehen. Vielmehr geht es um die allgemeine Methode, dass man von einem Gegenstande nur Eigenschaften an ihm beweisen kann, nicht mehr jedoch seine Existenz (wie auch nicht seine Wesenheit), sondern diese vielmehr für Beweise über ihn vorausgesetzt werden muss. Beachtenswert ist ein Sammelband namhafter Forscher zu Gregors Philosophie 18, der sich philosophischen Textstellen in Gregors Schriften widmet und hauptsächlich den Quellenfragen nachgeht. Unsere Untersuchung lässt sie, aus anderer Zielsetzung, weitgehend außer Betracht. Von den im Sammelband herausgestellten philosophischen Einsichten seien diese erwähnt: dass die Menschenseele nicht aus einem Sündenfall in das irdische Dasein getreten ist, dass ihr Beginn nicht aus einem Übel hervorgeht, dass ihre Erkenntnis von Gott unvollkommen ist, nicht weil sie ursprünglich engelhaft war, dann aber durch den Sündenfall getrübt wurde, sondern weil sie als menschliche von ihrer Natur aus weniger vollkommen ist als die der Engel, u. a. m.
e) Nemesius von Emesa Von weitgehend philosophischem Inhalt ist die wichtige Schrift Über die Natur des Menschen (περὶ φύσεωϚ ἀνθρώπου, De natura hominis) des Nemesius von Emesa (Ende 4., Anfang 5. Jh.). Sie geht im ersten Teil alle früheren Ansichten über den Menschen durch, angefangen von den Vorsokratikern bis auf seine Zeit und hat zur Grundlage die christliche Auffassung von der Seele als unsterblicher, individueller, selbständiger Substanz. Gregor von Nyssa und die Philosophie, hsg. von H. Dörrie, M. Altenburger, U. Schramm, Leiden (Brill) 1976.
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Von seiner Position aus übt Nemesius ausführliche Kritik an Aristoteles’ Seelenlehre, die er freilich in mehrfacher Hinsicht so missversteht, dass nach ihr der aktive Intellekt – weil »von außen« hinzukommend – keinen Teil der Menschenseele ausmache. Und diese habe als bloße Sinnesseele die Funktion der »Form des Leibes« nur als einer Eigenschaft des Leibes, nicht als selbständiger Substanz (ψυχὴ ἀνούσιοϚ) 19. Doch ist Nemesius’ Kritik unbegründet, da Aristoteles selbst die Menschenseele als aus dem irrationalen und dem rationalen Prinzip bestehend sieht (mag auch das rationale, seinem Ursprung nach, »von außen hereinkommen«, weil es nicht von den Eltern auf den Nachkommen übertragen wird) und die Seele als substantielle Formursache betrachtet, so dass hiernach der Mensch aus Leib und Seele als aus zwei Substanzen konstituiert ist. Nemesius erörtert noch ein anderes Problem, hinsichtlich Aristoteles’ Lehre von der Seele als unbewegtem Bewegungsprinzip 20, und übt daran Kritik, da der Körper, der bewegt wird, auch an sich unbewegt sein muss, und ein Unbewegtes nicht von etwas Unbewegtem bewegt werden kann. Nemesius hingegen folgt der platonischen Auffassung von der Seele als Sich-selbst-Bewegendem. Diese Auffassung hatte jedoch Aristoteles zurückgewiesen, da das Sich-selbst-Bewegende per Definition das Lebewesen ist. Und wenn dieses analysiert wird, so ergibt sich, dass es aus einem bewegten, nicht bewegenden Teil, dem Leib, und aus einem unbewegt bewegenden Teil, der Seele, besteht. Weil immateriell, ist die Seele ohne physische Bewegung und teilt auch dem Leib keine physische Bewegung mit. Nach Aristoteles ist der Leib kein bewegungsloser Körper, sondern schon virtuell mit Bewegungen (von seinen Elementen her) bewegt, welche von der Seele, die unbewegt ist, koordiniert und geleitet werden, hin zu den nach außen sich aktualisierenden Bewegungen.
Teubner-Ausgabe, Kap. 2, Περὶ ψυχῆϚ, Nr. 93 ff. zu Aristoteles: τὴν ψυχὴν ἐντελέχειαν λέγων οὐδὲν ἧττον συμφέρεται τοῖϚ ποιότητα λέγουσιν αὐτήν. 20 Ebenda, Nr. 98 ff. 19
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3) Augustinus
Die seit dem 3. Jh. sich aus der Apologetik ausbildende christliche Theologie erreicht einen ersten Höhepunkt in Augustinus (354–430). Wir finden sie in seinen reifen Hauptwerken De civitate Dei und De trinitate, während die Frühschriften noch mehr philosophische Themen behandeln, wie die Auseinandersetzung mit der akademischen Skepsis in Contra Academicos oder die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis von der Seele und von Gott in den Soliloquia. Im Folgenden ist zuerst auf diese einzugehen, dann auf die späten Werke. 21
Gegen die Akademiker Buch I dieser Schrift befasst sich kritisch mit der Skepsis der Akademiker und beginnt mit der Frage, was Philosophie ist. Die Antwort, dass sie die Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen ist, wird vom Skeptiker Licentius eingeschränkt; denn während jede Wissenschaft zu bestimmten wahren Einsichten über ihren Gegenstand gelangt, bei denen ihre Forschung zum Abschluss kommt, möchte Licentius die Philosophie als eine unaufhörliche Forschung verstehen, die nie zu einem wissenschaftlichen Abschluss kommen kann, da jedes Ergebnis wieder bezweifelbar ist. Derselbe Skeptizismus durchzieht auch den modernen Empirismus und führt K. Popper zu seiner Methode unaufhörlicher Falsifikation jedes Forschungsergebnisses. Doch wendet Augustinus gegen die These endloser Forschung ein, dass sie dem Menschen das Glück nimmt, da dieses sich erst bei Erreichung endgültiger, bleibender Erkenntnis und Weisheit einstellt. Unsere Untersuchung geht auf die Quellenfragen zu Augustinus nicht näher ein und verweist auf die reichen Quellenangaben in: Opere di Sant’Agostino, ed. A. Trapé, vol. III, Rom (Augustinianum) 1970. 21
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Buch II erörtert Ansichten der Akademiker, die im Gegensatz zu den Stoischen Lehren immerwährender Wahrheiten zur Zurückhaltung (Epoché) anraten und sich auf Meinungen des Wahrscheinlichen beschränken. Augustinus’ Kritik ist die, dass das Wahrscheinliche, das dem Wahren Ähnliche, schon eine gewisse Kenntnis des Wahren voraussetzt. In derselben Weise wird in Buch III der akademische Standpunkt kritisiert, da er sich im Bereich der Meinungen festmacht und keinen Fortschritt zur Wissenschaft hin zulässt, obwohl wir von der Meinung, als rangtiefer unter der Wissenschaft stehend, keinen Begriff haben könnten, ohne den Begriff von Wissenschaft.
Über das glückselige Leben Auch diese Schrift widmet sich dem Zusammenhang von Erkenntnis und Glückseligkeit. Der erste Teil vergleicht das Leben mit einer Schiff-Fahrt, die im Hafen als dem Lebensziel ankommen soll, aber je nach der Lebensführung ruhig oder stürmisch verläuft. Augustinus erwähnt autobiographisch, wie ihn, nach der Lektüre von Ciceros Hortensius, der (wie Aristoteles’ Protrepticus) zur Philosophie auffordert, ein starkes Verlangen nach ihr ergriff, als dem Weg zum wahren Glück, der ihm aber durch persönliche Umstände verlegt wurde, so dass er erst später, nach stürmischer Fahrt, im Hafen anlangte, d. h. zu einem Leben der philosophischen und theologischen Kontemplation fand. Daraus geht Augustinus’ hohe Wertschätzung der Philosophie hervor. Der zweite Teil bringt zunächst Erörterungen über die Seele, ausgehend von der Tatsache, dass der Mensch aus Leib und Seele besteht, die für uns so sicher ist wie das Bewusstsein, dass wir einen Leib haben und Leben besitzen, folglich auch eine Seele, das Lebensprinzip. Wie nun der Leib der Nahrung bedarf, so auch die Seele. Und da das Glück darin besteht, zu besitzen, was man begehrt, so fragt sich, was die Nahrung der Seele ist, wonach sie verlangt. Die Erörterung führt zur Antwort, dass die Seele sich nach Gott sehnt und ihr Streben nach Erkenntnis sich in der von Gott erfüllt. Gegen die Akademiker wird festgestellt, dass sie mit ihrer Skepsis nicht glücklich werden können. Der dritte Teil legt dar, dass die Glückseligkeit im Besitz von Gott (in der Gemeinschaft mit ihm) besteht, und der vierte Teil, dass die Glückseligkeit in einer Fülle der Vernunfttätigkeiten zu finden ist. 60 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Über die Ordnung Diese Schrift ist ein Beitrag zu dem umfassenden Problem der Vereinbarkeit des Übels in der Welt mit Gottes guter Vorsehung. Von Buch I legt der erste Teil dar, dass nur derjenige das Problem in der rechten Weise angehen kann, der den Blick der Vernunft auf das Ganze, die gesamte Realität, richtet und ihre Ordnung, Einheit und Schönheit entdeckt, hinter der sich die göttliche Vorsehung verbirgt. Dies erfordert aber, dass der Mensch bei sich selber einkehrt und sich selber kennenlernt. »Man muss eine lange Gewohnheit haben, sich von den Sinnen zurückzuziehen und die Seele zu veranlassen, in sich selbst zu sammeln und sich in ihr zu halten«. 22
Der zweite Teil hebt hervor, dass die Ordnung der Dinge umfassend, universal ist, dass es also nichts gibt, das außerhalb dieser Ordnung stünde, was dann auch für das Übel in der Welt gelten müsste. Und da alles seine Ursache hat, ergibt sich, dass die Ordnung in der Reihe der Ursachen liegt. Der dritte Teil wendet sich dann dem Übel zu – dem physischen und dem moralischen/dem Bösen – und sucht es mit der göttlichen Vorsehung, die alles umfasst, dadurch zu vereinbaren, dass es zwar in Einzelnem auftritt, aber gleichwohl in die Gesamtordnung aller Dinge eingefügt ist, die im Ganzen nach Gottes Vorsehung gut ist. Buch II geht zur Sicht auf die Ordnung im gesamten Kosmos über, wie sie dem Weisen eignet, welcher mit Gott in Übereinstimmung steht und in der Gesamtordnung die Herrschaft des göttlichen Willens und Intellekts erkennt. Dabei nimmt Augustinus auch stoische, von Cicero vermittelte Quellen auf.
Über den freien Willen In dieser Schrift ist die Hauptfrage die nach der Ursache des Bösen, wobei die Erörterung zum Teil sich mit der manichäischen Irrlehre auseinandersetzt, dass nämlich das Böse von einem bösen Gott herkommt, dessen Einfluss auf die Menschen bewirkt, dass sie Böses 22
Diese wichtige Forderung ist neuplatonischer Herkunft.
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ohne freien Willen tun. Ich werde auf diese Auseinandersetzung nicht näher eingehen, sondern mich auf Augustinus’ Argumente beschränken, soweit sie das Thema allgemein und grundsätzlich behandeln. In Buch I, Kapitel 1–2, schließt Augustinus sogleich aus, dass Gott Ursache des Bösen sein kann, wobei vorausgesetzt wird, dass es allein den einen, absolut guten Gott gibt. Daher kann das Böse nur von den Menschen – und anderen geistbegabten Geschöpfen – kommen. Nun sind die Christen zwar durch Gottes Offenbarung über den Sündenfall und Gottes Heilsplan in Jesus Christus unterwiesen, aber die gegenwärtige Erörterung will nur aus Verstandesgründen selbst argumentieren. 23 Die Kapitel 3–5 bestimmen das Böse nicht nur als das vom Gesetz Verbotene, sondern auch nach dem innerseelischen Kriterium ungeordneter Begierden oder Affekte, die sich gegen die Vernunftherrschaft auflehnen und zu bösem Handeln führen. In Kapitel 6 führt Augustinus die Unterscheidung des vergänglichen und des unvergänglichen Gesetzes ein. Da Böses-tun heißt aus Begierde handeln und Gutes-tun aus Verstandeseinsicht handeln, zeigt sich hier ein dem Verstand eigenes, zeitlos unwandelbares Gesetz, gemäß dem Befehl des Verstandes zu handeln und dem unwandelbaren Guten, auf das der Verstand mit dem Willen gerichtet ist, den Vorrang zu geben vor den wandelbaren irdischen Gütern, auf die sich die Begierde (Sinnlichkeit, Trieb) richtet. Ein dieser entsprechendes, zeitliches, irdisches Gesetz bedeutet dann, die irdischen Güter, die an sich nicht böse sind, so zu gebrauchen, dass sie der Verwirklichung des unwandelbaren Guten dienen, also nicht um ihrer selbst willen begehrt werden. Da sich das ewige Gesetz in der Anordnung des Verstandes zum guten Handeln findet, legt nun der Text in Kapitel 7 dar, dass es in der Wesensordnung im Menschen gründet, mit dem Vorrang der Vernunft vor dem Trieb und dem Leib. Und von ihm haben wir auch Bewusstsein (neminem se nosse vivere nisi viventem). 24 Man beachte die Unterscheidung zwischen der vom christlichen Glauben ausgehenden Theologie und der ohne Glaubensvoraussetzung argumentierenden Philosophie. 24 Die wesentliche Unterscheidung zwischen Trieb und Geist findet sich auch bei Plato, Aristoteles und den Stoikern. Indem Augustinus dieser Tradition folgt, verfällt er keinem »Seelendualismus«, von dem Erich Dinkler in seiner Abhandlung spricht: Die Anthropologie Augustins, Stuttgart 1934, 76 ff. Im Übrigen sondert er in Augustinus’ 23
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Kapitel 8: Wesensmäßig ist der Verstand dem niederen Seelenteil vorgeordnet, mit der moralischen Aufgabe, über die irrationalen Bewegungen der Seele zu herrschen (hisce igitur animae motibus cum ratio dominatur). Wenn er dieser Aufgabe nachkommt, dann ist der Mensch geordnet (ordinatus homo dicendus est). Und in dieser Verstandesherrschaft liegt das sog. ewige Gesetz (cui dominatio lege debetur ea, quae aeternam esse comperimus). Kapitel 9–12: Weisheit und Torheit unterscheiden sich gerade durch den Besitz oder das Fehlen dieser Verstandesherrschaft. Kapitel 10: Nichts (d. h. keine äußere Macht) kann den Verstand der Leidenschaft unterwerfen, sondern nur er selbst. Kapitel 13–14: Zwar wollen alle glückselig sein, aber nicht jeder sucht dieses Ziel auf dem richtigen Wege. Der falsche Weg ist der nicht vom ewigen Gesetz geleitete. Kapitel 15: Dem ewigen Gesetz ist das zeitliche untergeordnet, wie dem ewigen Gut die zeitlichen Güter. 25 Daraus ergibt sich schließlich die Antwort auf die Eingangsfrage nach der Herkunft des Bösen; denn dieses kommt dann auf, »wenn einer sich von den göttlichen und wahrhaft bleibenden Dingen abwendet und sich den veränderlichen und unsicheren zuwendet«. Daraus entsteht Böses, und zwar aus einem freien Willensentschluss (ex libero voluntatis arbitrio). Mit diesem Ergebnis sagt sich Augustinus vom Manichäismus los, dessen Lehre er eine Zeitlang anhing, wonach die Welt der Menschen von zwei göttlichen Mächten beherrscht werde, einer guten und einer bösen, und in letzterer der Ursprung des Bösen liege, auch für das böse Handeln und Leben der Menschen. Das Buch II erörtert die Existenz Gottes und seine Gutheit als Quelle alles Guten, auch des freien Willens der Menschen. Aus der Reihe der Probleme sei nur dieses erwähnt, wie der freie Wille des Menschen, der sich zu bösem Tun zu entscheiden vermag, vom guten Gott erschaffen sein kann. Es ergibt sich die Alternative: Entweder ist der freie Wille nicht von Gott geschaffen, oder der freie Wille ist nicht in sich selber gut. Die zweite Alternative wird abgewiesen; denn der freie Wille ist, wiewohl er sündigen kann, doch seiner Natur nach gut. Die erste Alternative bleibt eine offene Frage hinsichtlich der Anthropologie zwei Hinsichten auf den Menschen: eine philosophisch psychologische und eine biblisch paulinische. 25 Besonders die Stoa hat das Ideal des Weisen ausgearbeitet, der von äußeren Gütern weitgehend unabhängig ist.
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Herkunft der menschlichen Seele, ob sie in jedem einzelnen Menschen von Gott erschaffen wird oder nur bei Adam und Eva, hingegen nach ihnen jeweils von den Eltern auf die Nachkommen durchgegeben wird. Bemerkenswert ist, dass Augustinus zur Herkunft der Seele von uns Individuen seine Unsicherheit noch in der späteren Schrift De natura et origine animae und in den Retractationes bekennt. Zur zweiten Alternative werden drei Fragen geklärt: 1. dass Gott existiert, 2. dass alles Gute seinen Ursprung von dem guten Gott hat, und 3. dass der freie Wille des Menschen gut ist. Die Kapitel 1–2: Die Erörterung der 1. Frage nach der Existenz Gottes geht vom Sein des Menschen aus, bzw. des Verstandes, der sich auch im Zweifeln noch als seiend weiß. Gegen den häufig gemachten Vergleich mit Descartes’ Zweifel möchte ich feststellen, dass bei Augustinus nicht erst aus dem Zweifeln die Gewissheit der Existenz des zweifelnden Subjekts hervorgeht, sondern umgekehrt der Ausgangspunkt die evidente Existenz des Subjekts ist, die durch den Zweifel der Skeptiker nicht erschüttert werden kann, sondern vielmehr bestätigt wird. Kapitel 3–5: Da das Sein des Menschen dreifach gestuft ist, als körperliches, seelisches und vernünftiges, wie aus den verschiedenen menschlichen Tätigkeiten hervorgeht, und daraus sich drei Seinsbzw. Lebensursachen ergeben, aus denen der Mensch wesentlich konstituiert ist, ergibt sich folgender Schluss, Kapitel 6 ff.: Die Vernunft weiß sich als Lebensursache über Leib und Seele, aber unter einer transzendenten Seins- bzw. Lebensursache stehend, die religiös als Gott verehrt wird. Die 2. Frage wird durch die Argumentation beantwortet, Kapitel 17, dass Gott wie die Quelle des Seins aller Dinge, besonders der Menschen, und ihrer Wahrheit ist, so auch ihrer Gutheit und Vollkommenheit. Dies führt auch zur Antwort auf die 3. Frage, Kapitel 18: Zu den guten Dingen gehört ebenso der freie Wille, ungeachtet dessen, dass er auch zu Bösem missbraucht werden kann. Buch III erreicht dann abschließende Ergebnisse, dass nämlich der freie Wille weder durch seine Natur noch durch Gottes Vorsehung zum Bösen bestimmt wird. Die Abkehr des freien Willens von Gott erfolgt aus Hochmut. Die Sünde durch den Fall der satanischen Engel und der Stammeltern hebt die Harmonie in der Gesamtschöpfung nicht auf, Kapitel 12–16. In allen Geschöpfen liegt 64 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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eine ontologische Gutheit, unbeschadet möglicher Verderbnis und Unvollkommenheit. Aber auch »jede Natur, die weniger gut werden kann, ist (gleichwohl) gut«. Letzte Ursache der Sünde ist der Wille, Kapitel 17, und sündigen kann nur der freie Wille, Kapitel 18. Durch die Erbsünde der Stammeltern sind dann die Menschen zwar in ihrem Wollen und Urteilen geschwächt, aber gleichwohl noch verantwortlich für ihr Tun. Abschließend, Kapitel 25, beantwortet dann Augustinus die Frage, warum das rationale Geschöpf sich frei vom göttlichen Guten abkehren und dem minderen Guten bzw. dem Bösen hinwenden konnte. Anders als die gefallenen Engel, die Gott direkt begegnen, ist die Beziehung der Menschen zu Gott vermittelt durch die Sinneswelt, die ihn von Gott ablenken kann. In beiden Fällen aber ist die Entscheidung zur Sünde immer eine freie, und die Freiheit von Gott gewollt, weil Er in seiner Gutheit von den Geschöpfen nicht aus Zwang, gleichsam aus ihrer Wesensnotwendigkeit, geliebt werden will, sondern aus ihrer Entscheidung, mit freiem Willen. Dass sich Geschöpfe freiwillig vom guten Gott abgewandt haben, begründet Augustinus aus dem Rückbezug des geschöpflichen Verstandes und Willens auf sich selbst, so dass sie sich selbst mehr zu lieben begannen als den Schöpfergott, geblendet von ihrer eigenen Schönheit, und in Hochmut und Sünde verfielen (Verweis auf Jesus Sirach, 10, 15. 14).
Soliloquien In dieser Schrift sucht Augustinus neben dem christlichen Glaubensweg zu Gott, der unter der Autorität der Bibel begangen wird, auch den der philosophischen Erkenntnis, der den theologischen vorbereitet und unter der Autorität der Vernunft vollzogen wird. Daher beginnt Augustinus einleitend seine Schrift mit einem tiefgläubigen Gebet zu Gott, das ihm vom Glauben her viele Eigenschaften zuschreibt: Schöpfer aller Dinge aus dem Nichts zu sein, allmächtig und allweise, der Vater allen Lebens, der Glückseligkeit; der Ordner aller Dinge, der Ursprung alles Guten, verborgen den Sinnen, in unzugänglichem Lichte, das Ziel für uns von Glaube, Hoffnung und Liebe, unsere Zuflucht und Hilfe. Nach diesem Gebet beginnt Augustinus seinen Versuch, über dieselben Gegenstände seines Gebetes – nun zusammengefasst in 65 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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den zwei Hauptthemen: »Seele und Gott« – eine verstandesmäßige, d. h. eine philosophische und theologische Erkenntnis zu gewinnen. Da er sich für diese Aufgabe zunächst in sich selbst zurückziehen will, wählt er statt der Form des Dialogs die des Soliloquiums, das nun gleichsam ein Zwiegespräch mit sich selbst wird, zwischen sich, dem individuellen Ich des Augustinus, und dem allgemeinen (intersubjektiven) Verstand/der Ratio. Zunächst, in Buch I, macht sein Verstand ihm klar, dass die gesuchte Erkenntnis von Gott von höherer Art ist als z. B. die mathematische: dass sie über die wissenschaftliche Form hinausgeht, bis zur mystischen Kontemplation, und dass sie intimer ist, d. h. stärker den ganzen Menschen einbezieht, auch mit seiner ganzen Liebe. Es folgen dann lange Überlegungen über die Vorbereitung der Seele zur mystischen Erkenntnis von Gott und über die Wahrheit, dass sie existiert, und zwar im gegenwärtigen Gott. Buch II widmet sich dem aufsteigenden Weg zur Wahrheit, zu Gott, auf den drei Stufen des Realen, gemäß ihrem Sein, Leben und Erkennen, vom Materiellen bis zum Intellektuellen. Der Aufstieg erfolgt von Anfang an im Lichte des Bewusstseins von allen Realitätsstufen. 26 Erörtert werden dann Fragen zur Sinneserkenntnis als Vorstufe zur Vernunfterkenntnis, ferner Fragen zu Wahrheit und Falschheit, zur (platonischen) Dialektik als Weg von der Falschheit zur Wahrheit. Es folgt der Schluss von unvergänglichen Wahrheiten in der Seele auf ihre Unvergänglichkeit (wie in Platons Phaedo); denn entweder sind sie nicht immer in der Seele, oder die Erkenntnis über sie ist nicht wahr. Indes, es zeigt sich, dass die Wahrheit ist (als Bedingung für jede Erkenntnis) und sich immer in der Seele findet, so dass diese unvergänglich ist. Bei der Ausrichtung der Erkenntnis auf die (Geist-)Seele und Gott als die zwei Hauptgegenstände war Augustinus von der Tatsache geleitet, dass wir nichts von Gott erkennen können, wenn nicht in Analogie zum menschlichen Geist.
Augustinus folgt hier dem neuplatonischen Vorbild. Die vorgenannten Gesichtspunkte finden sich in Plotin wieder, wie z. B. besonders in Enneade VI, 9.
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Konfessionen Aus dieser Schrift ist der eigentlich philosophische Abschnitt der über die Zeit, mit der Frage, was sie ist, Buch XI. Die These, dass sie Bewegung sei, vor allem die des Himmels, wird zurückgewiesen, da wir vielmehr Bewegungen mit der Zeit messen, die ihren Verlauf von Vergangenheit durch die Gegenwart zur Zukunft hin haben. Doch stellt sich das Problem, dass die Zeit, wie es scheint, nicht Seiendes ist, weil auch das von ihr Gemessene nicht; denn das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige noch nicht, und das Gegenwärtige – als Übergang von jenem zu diesem – auch nicht. Wenn aber statt der Bewegung die Zeit selbst gemessen wird, wo ist sie dann? Die Antwort kann nur sein: in der Seele selbst, so dass die Zeit schließlich als Ausdehnung in der Seele definiert wird. Von Aristoteles aus gesehen, der hier nicht berücksichtigt ist, ergibt sich, dass die Gegenwart mehr ist als der Übergang von Vergangenem zu Zukünftigem und im Jetzt aus dem Zeitfluss heraustritt als eine unteilbare Einheit. Während die Zeit der Bewegung der bewegten Dinge zugeordnet ist, entspricht das Jetzt ihrem Sein. Die Zeit ist dann das Maß der Bewegung zwischen Jetztpunkten, die auf das Sein der Dinge bezogen sind. Somit ist die Zeit nicht nur in der messenden Seele, sondern auch an den bewegten Dingen. Und der Seele ist das Sein der Dinge bewusst. Philosophiegeschichtlich gesehen, gibt Augustinus mit seiner Autobiographie ein lebhaftes Bild seiner Zeit, die gekennzeichnet ist von den verschiedenen philosophischen Richtungen, die er selbst wiederholt gewechselt hat: vom Manichäismus zur Akademischen Skepsis und weiter zur Neuplatonischen Lehre, die ihn veranlasst hat, sich endgültig der christlichen Lehre zuzuwenden. Die Konfessionen sind aber auch ein eindrucksvolles Zeugnis für die traditionelle, realistische Philosophie, dass sie nämlich einen »tiefen Sitz im menschlichen Leben« hat.
Über die wahre Religion In der Schrift De vera religione verteidigt Augustinus die christliche Glaubenslehre, die schon eine theologische Form angenommen hat, gegen heidnische Philosophen, großenteils »Platoniker«, welche sie 67 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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als unweise, unvernünftig kritisieren und lächerlich machen, und versucht zu zeigen, dass sie die »wahre Religion« ist, weil sie die wahre Weisheit, die »wahre Philosophie« enthält. Augustinus’ Apologetik des christlichen Glaubens ist m. E. von der Art einer beginnenden Theologie, die ihren Anfang bei den ersten Apologeten (Justinus, Klemens v. Alexandrien) nahm als neue Disziplin aus der Begegnung der apostolischen Glaubenslehre und der griechisch-römischen Philosophie (Cicero, Mittlere und Neuplatoniker). Die Philosophie bleibt aber als eigene Disziplin bestehen und dient als natürliche Erkenntnisgrundlage des Glaubens. Wenn Augustinus die christliche als die allein »wahre Religion« verteidigt, so ergibt sich dies aus einem ständigen Vergleich mit der »heidnischen« Philosophie und ihrem religiösen Heilsanspruch (besonders in der Stoa), dem gegenüber die christliche Heilslehre unendlich höher und »wahrer« ist. Ein solcher Vergleich ist jedoch, an sich gesehen, unangemessen, da die Philosophie, für sich genommen, keine religiösen Inhalte hat und von den christlich religiösen Glaubensinhalten verschieden ist. Immerhin wurde Augustinus zum christlichen Glauben durch philosophische Studien hingeführt, zunächst durch die Lektüre von Ciceros Hortensius, 27 dann durch die von ihm sog. »Platonischen Bücher«, hinter denen wir Plotins Enneaden annehmen dürfen. Nur an zwei Stellen spricht Augustinus von der Philosophie und ihrem Verhältnis zur Religion. Die eine findet sich in Kap. 5, Nr. 8, und lautet so: »Ein Hauptstück der (christlichen) Heilslehre ist nämlich der Glaube und die Belehrung, dass es nicht auf der einen Seite eine Philosophie gibt, d. h. eine Wissenschaft der Weisheit, und auf der anderen Seite eine von ihr abweichende Religion. Vielmehr besteht für die, deren Lehren wir nicht billigen, auch keine Teilnahme an unseren Sakramenten.«
Dies besagt, dass die Philosophie nicht gleichberechtigt neben der Religion steht und, bei Abweichungen, der Religion untergeordnet werden muss. Von Kap. 7 an beginnt dann der Hauptteil der Schrift mit der Verteidigung der christlichen Offenbarungslehren, wobei der AusDiese Schrift ist uns verlorengegangen. Sie war die lateinische Fassung des aristotelischen Protrepticus, der zum Studium der Philosophie auffordert sowie ihren hohen Wert, ihre Schönheit und ihren Nutzen herausstellt.
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gangspunkt der Glaube an sie ist. Wir müssen hier diese Verteidigung nicht mehr weiter verfolgen, wenn sie auch philosophische Unterscheidungen enthält, so z. B. die zwischen den mit den Sinnen verbundenen, wandelbaren Vorstellungen und der unwandelbaren Vernunfterkenntnis. Philosophisch ist auch die Überlegung vom Tod als Nichtsein, sowie vom Sündenfall der Menschenseele und Satans als einem Seinsverlust (Kap. 11–14). Alles Sein und Leben der Geschöpfe kommt von Gott, der Quelle des Lebens (Verweis auf Weish 1, 13). Es ist gut, weil Gott gut ist. Der Leib in seiner Ordnung und Schönheit verweist ebenfalls auf Gott, die Quelle der Ordnung und aller Formen (Kap. 11, Nr. 21). Der Tod ist das Nichtsein des Lebens. Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen Autorität und Vernunft als zwei Wegen zu Gott. Da die Menschen ganz dem Zeitlichen verhaftet und von Übeln versehrt sind, kann ihnen Gott nicht auf einmal die volle Heilung bringen, sondern bietet sie ihnen, mit liebevoller Vorsehung, »in verschiedenen Stufen« an, nämlich zunächst durch die Autorität der Gesetze des Alten Testaments, das den Glauben erfordert, dann durch die Vernunft, die dem Glauben nachfolgt und nach dem Alten im Neuen Testament das einsieht und versteht, was vorher die göttliche Autorität zu glauben geboten hat. Damit trägt Gott auch der schwachen Auffassungskraft der Menschen Rechnung, die erst allmählich wächst und erstarkt, bis sie dann auch vernunftmäßig erkennen, was sie zuerst, göttlicher Autorität gehorchend, nur geglaubt haben (Kap. 24–25). 28 Unter einem weiteren Gesichtspunkt unterscheidet Augustinus zwischen dem alten und dem neuen Menschen, dem äußeren und dem inneren Menschen. Wie der äußere verschiedene Lebensalter durchläuft, so auch der innere, indem er stufenweise die innere Verwandlung vom sinnenhaften zum geistigen Lebenswandel vollzieht (Kap. 26). Entsprechend unterscheidet er auch beim gesamten Menschengeschlecht »zwei Ordnungen«, welche dieses von Adam bis zu den letzten Zeiten durchläuft (Kap. 27). Zum Weg der Vernunft, der auf den der Autorität folgt, legt Augustinus näher die Überlegenheit der Vernunft bzw. des Verstandes über die Sinnes- und Vorstellungsvermögen dar, die darin liegt, das in diesen Gegebene zu beurteilen (Kap. 29–30). Die sinnlich wahrnehm-
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Dieser Gesichtspunkt der Pädagogik Gottes findet sich schon bei Irenaeus.
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bare Einheit der körperlichen Dinge ahmt zwar die intelligible Einheit nach und strebt sie zu erreichen, bleibt aber hinter ihr zurück. Sie lügen uns diese Einheit nur vor. Aber eigentlich lügen sie gar nicht, sondern die Vernunft, die ihnen diese fälschlich zuschreibt, belügt sich selbst (Kap. 32–33). Sich von der göttlichen Wahrheit zur wahren Religion führen zu lassen, dazu bedarf es der inneren Einkehr der Seele: »Geh nicht nach außen, kehre zu dir selbst zurück. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit, und wenn du deine Natur als zu wandelbar empfindest, geh auch über dich selbst hinaus. Aber bleibe dir bewusst, dass du, wenn du über dich hinausgehst, dich über die vernünftig denkende Seele hinausschwingen musst. Strebe also dorthin, wo das Licht der Vernunft selbst entzündet wird. Denn gelangt nicht jeder, der die Vernunft gut gebraucht, zur Wahrheit?« (Übers. von Perl)
Es geht um die Übereinstimmung des inneren mit dem äußeren Menschen, worin höchste geistige Wonne liegt; denn die Uneinigkeit mit sich selbst erzeugt Schmerz (Kap. 39, Nr. 72). Dem vom Zweifel Befallenen entgegnet Augustinus, dass sogar im Zweifel noch eine Gewissheit liegt, nämlich die des Zweifelns selbst, die nur im Lichte der Wahrheit einleuchtet. »Keiner soll also an der Wahrheit zweifeln, sobald er über irgendetwas im Zweifel wäre.« (Nr. 73)
Über die Trinität Diese theologische Abhandlung sucht die christliche Glaubenslehre von den drei göttlichen Personen gegen heidnische Kritik zu verteidigen, wonach sie von Vater, Sohn und Geist als von drei Göttern spreche. Augustinus erklärt nun die drei Personen als drei substantielle Relationen in der einen Substanz Gottes, mit Hilfe einer Analogie dreier Vermögen in der einen Menschenseele, Buch IX-XI. Dieses Vorgehen (ohne Glaubensvoraussetzung) führt zu einer philosophischen Erschließung innerseelischer Verhältnisse. Buch IX: Augustinus nimmt als Ausgangspunkt die Selbstliebe des Menschengeistes, mit ihrer Zweiheit, dem Liebenden und der Liebe, deren Objekt, das Geliebte, mit dem Liebenden zusammenfällt. Hinzu kommt die Selbsterkenntnis des Geistes. Dadurch bildet sich 70 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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eine Dreiheit; denn Liebe und Erkenntnis sind im Geist nicht wie Eigenschaften, sondern »nach der Weise der Substanz wie der Geist«. Der Ausdruck besagt, dass Erkenntnis und Liebe (die keine bloßen Eigenschaften des Geistes sind), eine substantielle Seinsweise haben. Sie kommen, scholastisch gesprochen, zum substantiell ersten Akt, dem schlichten Sein der Geistseele, als (substantiell) zweite Akte hinzu. Mit der substantiellen Dreiheit in der einen menschlichen Seelen-Substanz erreicht Augustinus eine Analogie zum Dreifaltigen Gott, der drei substantielle Personen – Vater, Sohn und Geist – in sich, der einen Substanz, vereint. In Buch X differenziert Augustinus zwischen dem Selbstbewusstsein, mit dem der Geist im Gedächtnis sich selbst gegenwärtig, seiner eingedenk ist, und der Selbsterkenntnis, in der er mit dem Verstand sein Wesen betrachtet. 29 Hinzu kommt seine Selbstliebe mit dem Willen. Daraus ergibt sich ergänzend zur erstgenannten Dreiheit eine verbesserte, wonach der Vater für das Gedächtnis steht, der Sohn für den Verstand und der Hl. Geist für den Willen. Und wie Gedächtnis, Verstand und Wille zwar substantiell für sich besteht, aber doch der einen Substanz der Geistseele zugehören, so gilt analog auch dasselbe von den drei göttlichen Personen, die substantiell für sich bestehend gleichwohl der einen Substanz Gottes angehören. In diesem Zusammenhang bietet Augustinus auch eine tiefe philosophische Erörterung über die Selbsterkenntnis des Geistes oder der Vernunft; denn es verbindet sich mit ihr das schwere Problem, wie die Vernunft, die immer vom sinnlich Gegebenen ausgeht, etwas über sich, einen unsinnlichen Gegenstand, erfahren kann. Augustinus’ Antwort: Die Vernunft muss sich nicht wie einen unbekannten, abwesenden Gegenstand suchen, sondern sich als anwesenden gewahren. Wie das Auge sich nicht sehen kann, weil es sich zu nahe ist, so auch die Vernunft nicht. Das unmittelbare Sich-gegenwärtig-sein ist das intuitive Bewusstsein, das hier als Grundlage für alle Erkenntnis eingeführt wird. Bei Kant wird sich dasselbe Problem stellen, aber keine Lösung finden. Zwar kennt er noch die Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Bewusstsein, identifiziert aber letzteres (wie Descartes) mit dem Siehe zum Begriff des Bewusstseins Salvino Biolo: La coscienza nel ›De trinitate‹ di s. Agostino, Analecta Gregoriana, Rom 1969.
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reflektierenden »Ich-denke« und leugnet der Vernunft jede Anschauung ab. So bleibt dem Subjekt als alleinige Anschauung nur die sinnliche; wie übrigens auch im Empirismus.
Über den Gottesstaat In diesem umfangreichen Hauptwerk verteidigt Augustinus die christliche Kirche gegen heidnische Kritik, die ihr die Schuld gibt an der bedrohlichen Lage des Römischen Staates. Dies weist er entschieden zurück und zeigt auf, dass an der gegenwärtigen Lage Roms nicht der christliche Glaube, der den heidnischen Vielgötterglauben verdrängt hat, schuld ist, sondern vielmehr dieser selbst. Da der Glaube an den einen Gott von der Philosophie Platos und seiner Schule voll bestätigt wird, widmet sich ihr Augustinus ausführlich, Buch VIII. Er legt dar, dass keine der anderen philosophischen Schulen dem christlichen Glauben so nahe gekommen ist, wie die platonische, die gelehrt hat, »dass bei Gott die Ursache des Seins, der Grund des Erkennens und die Ordnung des Lebens zu finden ist, drei aussagen, von denen sich die erste auf den natürlichen, die zweite auf den rationalen, die dritte auf den moralischen Teil der Philosophie bezieht«. Nach Plato ist »der Mensch von Gott so geschaffen, dass er mit dem, was sein Höchstes ist, das, was das Höchste von allem ist, nämlich den einen, wahren, besten Gott berührt«.
Die letzte Aussage ist eine fast wörtliche Wiederholung ähnlicher Aussagen in Plotins Enneaden, wie auch die Einteilung der Philosophie in drei Disziplinen noch nicht platonisch ist, sondern der hellenistischen Zeit angehört. Im Rückblick auf Augustinus’ Haltung zur Philosophie kann man feststellen, dass er sie als eigene Disziplin von der Theologie durchaus unterscheidet und als natürliche Grundlage für sie hoch einschätzt, da sie zur ersten Ursache, Gott, für das Sein aller Dinge und ihr Gut-Sein, wie auch für die moralische Gutheit gelangt. Gilson kommt in seinem Augustinus-Buch zu folgender Beurteilung: Augustinus habe nach dem misslungenen Versuch, die Wahrheit mit der Vernunft zu finden, den Weg zur Wahrheit durch den christlichen Glauben gefunden, wobei der Weg des Glaubens zur Wahrheit von uns etwas Widersprüchliches fordere, nämlich am Anfang etwas als 72 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Wahres anzunehmen, was die Vernunft noch nicht geprüft habe. Dies scheint sich mir nicht so zu verhalten. Bei Augustinus vollzieht sich die religiöse Wahrheit über Gottes Heilsplan auf einer anderen Ebene als der metaphysischen Wahrheit der Philosophie.
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4) Boethius
Unter den Theologen der ausgehenden Antike verdient Anicius Manlius Severinus Boethius (480–525 n. Chr.) besondere Beachtung wegen der gründlichen philosophischen Argumentation in seinen theologischen Schriften, die ihn zum Vorläufer der mittelalterlichen Scholastik machen. Im Folgenden ist kurz auf die kostbaren Traktate einzugehen; denn wenn sie auch Boethius als theologische betrachtet, im Unterschied zu seiner Consolatio philosophiae, enthalten sie doch rein philosophische Argumente, die aus platonischen und aristotelischen Quellen schöpfen.
Trinitas unus Deus ac non tres dii Der christliche Glaube lehrt den einen Gott in drei Personen, so dass zwar der Vater Gott ist, ebenso der Sohn und der Hl. Geist, aber die drei Personen nicht drei Götter, sondern gleichwohl substantiell identischerweise der eine Gott sind. Wenn es eine Identität in dreifachem Sinne gibt: der Gattung, der Art und der Zahl nach, so ist Gott in jeder Hinsicht der identisch eine Gott in den drei Personen (Kap. 1). Die göttliche Substanz ist eine ihrer Wesenheit nach, weil ihr Sein ihre Wesenheit selbst ist (Kap. 2). Dies ist eine wichtige metaphysische Einsicht in die erste Seinsursache, die schon Aristoteles, Metaph. 12, ausgesprochen hat: dass sie ihrer Wesenheit nach reiner Seinsakt ist. Die Aussage der drei Personen von Gott ist eine Wiederholung der einen Substanz, keine Aufzählung dreier Substanzen (Kap. 3). Gott ist nicht Substanz neben anderen (in der Gattung der Substanzen), sondern übersubstantiell (ultra substantiam), nämlich als Ursache der Substanzen (Kap. 4). Die vielen biblischen Aussagen von 74 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Gott, wie z. B. dass er herrscht und alle Dinge besitzt, werden von Ihm nicht substantiell ausgesagt, wohl aber mit Bezug auf Ihn als die eine Substanz. Vater, Sohn und Geist werden von Ihm als Relationen ausgesagt (Kap. 5–6). Wie die Substanzen in ihrem Sein gut sind, wenn auch nicht substantiell gut Einleitend hebt Boethius hervor, dass er seine Traktate nicht für oberflächliche Leser schreibt, die nur unterhalten sein wollen, sondern für ernsthafte, die seiner wissenschaftlich präzisen, sich kurz fassenden Form zu folgen vermögen. Die zu erörternde Frage ist die: Wenn alles, was ist, eben damit auch gut ist, hat es dieses Gutsein aus sich selbst, d. h. ist es wesentlich substantiell gut? Boethius verneint diese Frage und stützt seine klärende Antwort auf folgende Voraussetzungen: 1. dass es evident einsichtige Urteile gibt, teils solche für jedermann unmittelbar einsichtige, teils solche, die als wissenschaftlich erwiesene den Unterrichteten einsichtig sind; 2. dass Sein und Seiendes bzw. Sein und Wesenheit verschieden sind; 3. dass jedes Seiendes in seinem Sein teilhat an etwas anderem (nämlich der Ursache seines Seins); 4. dass zu etwas Seiendem andere Merkmale hinzukommen, nicht aber zu seinem einfachen Sein; 5. dass Akzidenzien, die sich an einer Substanz finden, verschieden sind von der Substanz selbst; 6. dass ein bestimmtes Seiendes da ist, um an etwas anderem teilzuhaben; 7. dass jedes bestimmte Seiende mit seinem Sein eine Einheit bildet; 8. dass in jedem zusammengesetzten Ding, als einem bestimmten Seienden, dieses von seinem Sein verschieden ist; 9. dass ein Seiendes, das zu etwas anderem strebt (um an ihm teilzuhaben), mit ihm eine Ähnlichkeit hat. Dass jedes Seiende, sofern es ist, gut ist, ist ein allen einsichtiges Urteil. Wenn nun sein schlichtes Sein / Dasein / Gutsein verschieden ist von seiner spezifischen Bestimmtheit und Wesenheit und ihm durch Teilhabe an etwas anderem, nämlich einer ersten Ursache (die
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Gott ist) zukommt, so ergibt sich, dass es nicht substantiell das Gute ist, das nur jene erste Ursache selbst sein kann. 30
Gegen Eutyches und Nestorius Zur Natur Jesu Christi findet Boethius zwei kontroverse Ansichten vor: Zwar stimmen beide darin überein, dass Jesus aus zwei verschiedenen Naturen entstammt, der göttlichen und der menschlichen. Doch lehrt dann die eine Ansicht, die des Eutyches, dass Jesus selbst nur eine Natur besitzt, nämlich die menschliche, während die andere Ansicht in Jesus zwei Naturen vereinigt sieht, wie Bischof Symmachus lehrt, dem sich Boethius anschließt. Um die zweite Ansicht zu begründen, geht Boethius von einer Klärung der Begriffe Natur, Substanz und Person aus; denn die Verschiedenheit der genannten Ansichten rührt von dem verschiedenen Gebrauch dieser Begriffe her. Von den platonischen und aristotelischen Quellen her kann »Natur« (φύσιϚ, natura) 1. alle Dinge bedeuten, die vom Intellekt erkannt werden können, Substanzen und Akzidenzien; 2. alle Dinge, die etwas tun oder erleiden können, was nur auf die Substanzen zutrifft; denn nur sie ist das Prinzip der Bewegung. In einer 3. Bedeutung ist Natur das für jedes Ding – durch eine spezifische Differenz – formgebende Prinzip. Nestorius wie auch die katholischen Theologen sprechen von den zwei Naturen in Christus in dieser 3. Bedeutung; denn die göttliche und die menschliche Natur kommt Ihm nach verschiedenen Differenzen zu (Kap. 1). Die Schwierigkeiten liegen im Begriff der Person, in welchem Verhältnis sie nämlich zur Natur steht; denn weder ist jede Natur Person, noch ist Person von jeder Natur ausgeschlossen. Welcher Art von Natur ist sie dann zuzuordnen? Die Antwort ergibt sich, wenn man sieht, dass jede Person Substanz ist, so dass sie zu einer substantiellen Natur gehört. Da es nun körperliche und unkörperliche, unbeseelte und beseelte, irrationale und rationale Substanzen gibt, muss die Person den letzteren angehören (Kap. 2), so dass sie Thomas v. Aquin wird dieses Argument für einen Gottesbeweis verwenden: Von gewissen Eigenschaften, die allen Dingen zukommen, nicht nur denen einer bestimmten Gattung, kann die Ursache nicht mehr immanent in ihnen sein, sondern muss eine ihnen transzendente Ursache sein, Gott.
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per Definition »eine individuelle Substanz von rationaler Natur« ist (naturae rationabilis individua substantia, Kap. 3, Anfang). Dem lateinischen Begriff persona, der ursprünglich »Maske« bedeutet (und sich auf die Theater-Schauspieler bezieht), würde philosophisch der griechische Begriff ὑπόστασιϚ entsprechen. Dieser bezeichnet besonders die immateriellen, vernunftbegabten Substanzen, im Unterschied zur οὐσία, die allgemein für jede Substanz (wie auch für ihr Wesen) steht. Ferner kann sich οὐσία sowohl auf existierende Dinge beziehen, als auch auf nur allgemein gedachte, während die ὑπόστασιϚ auf die individuelle Existenz immaterieller Substanzen Bezug nimmt, die das Verbum ὑφίστασθαι ausdrückt. Dem entspricht wiederum im Lateinischen das Verbum substare mit dem zugehörigen Substantiv substantia. Boethius kommt es vor allem auf den Unterschied zwischen οὐσία und ὑπόστασιϚ, natura und persona, an, um den Irrtum des Nestorius zu vermeiden, der jede Natur für Person hält und von den zwei Naturen in Christus fälschlich auf zwei Personen in Ihm schließt (Kap. 4). In Boethius’ Person-Definition hingegen steht die Natur für die Wesenheit in der individuellen Substanz, nicht für diese selbst, und so auch nicht für die Person selbst. Nach seiner Definition verhindert nichts, dass eine individuelle Substanz zwei Naturen hat, wie in Christus, ohne zwei Personen zu sein.
Consolatio philosophiae Diese Schrift, die Boethius, wie er selbst erwähnt, von Theoderich verurteilt in Gefangenschaft abgefasst hat, also isoliert, getrennt von den Freunden wie auch von seiner Bibliothek, ist durch diese Umstände geprägt. Daher kann er nur ein Selbstgespräch führen – ähnlich wie Augustinus in seinen Soliloquia – und nimmt zum Gesprächspartner die personifizierte Philosophie selbst. Die Themen, die er zur Sprache bringt, sind bestimmt von seiner üblen Lage: wie das Übel in einer Welt zu erklären sei, die unter Gottes Herrschaft steht; wie sich in einer so unglücklichen Lage noch das Glück bewahren lasse; wie die göttliche Vorsehung mit der Willensfreiheit zusammengehe; ob angesichts der schlechten Taten des Menschen dieser in seiner Natur dennoch gut sei; ob das, was die Vernunft zu erkennen vermag, mit religiöser Erkenntnis übereinstimmen könne, u. a. m. 77 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Doch bietet diese Schrift in ihren fünf Büchern Philosophie nicht in ausführlichen Erörterungen der genannten Fragen, sondern erweist sie vielmehr in ihrem Ergebnis als wichtige Hilfe für das menschliche Leben, als Trost und Glück in einer, äußerlich gesehen, so unglücklichen Lage. So ergibt sich, dass die Consolatio philosophiae nicht viel über Glückseligkeit philosophiert, sondern im Autor, dem sie Ausübenden, selbst etwas von Glückseligkeit bezeugt. Ein besonderer Zug der Schrift ist, dass in sie Gedichte des Autors eingestreut sind. Dies erinnert uns an Sokrates, der, isoliert im Gefängnis die Hinrichtung abwartend, auf Geheiß des Gottes Apollo anfängt, Gedichte zu verfassen; denn Philosophieren erfordert das Gespräch mit anderen. Im mittleren, umfangreichsten Buch (Buch III), behandelt Boethius das Thema der Glückseligkeit weniger in Form zu erörternder Probleme als vielmehr in Form einer Aufforderung, nach der wahren Glückseligkeit zu streben. Zwar streben alle nach Glück, aber viele schlagen aus Unkenntnis oder Irrtum falsche Wege ein hinsichtlich des Guten oder der Güter, mit denen sich das gesuchte Glück verbindet. Da es äußere Güter gibt – körperliche Gesundheit und Schönheit, Lust, Macht, Ehre, Ruhm u. a. – und seelische Güter – vor allem die Tugenden –, so ist klar, dass diese jenen vorzuordnen sind, und dass das Streben nach Glück nicht vorrangig bei den äußeren, sondern bei den seelischen Gütern gesucht werden muss, schließlich bei einem höchsten Guten, das, religiös gesprochen, Gott ist (Kap. 11). Dass nur dieses das gesuchte Glück gewährt, erweist sich aus dem Argument, dass alle äußeren Güter begrenzt sind, und jedes von ihnen allein nicht befriedigen kann, sondern noch anderer bedarf. Gegen dieses Argument hat moderne Kritik eingewandt, dass es zum Glücklich-Sein nicht des absoluten vollkommenen Guten bedarf. Doch möchte ich hierzu bemerken, dass es nicht beim Menschen liegt, mit einem bescheidenen, geringen Glück zufrieden zu sein. Vielmehr geht das Streben des Menschen auf ein absolutes Gutes, religiös gesprochen auf Gott, bei dem allein er glückselig werden kann.
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5) Dionysius Areopagita
Die uns unter dem Namen des Dionysius Areopagita überlieferten Schriften De mystica theologia, De divinis nominibus, De ecclesiastica hierarchia, De caelesti hierarchia bieten eine mystische Theologie – der Begriff der Mystik wird von ihnen eingeführt –, die in ihrer hohen Qualität auf eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit verweist. Dionysius bezeichnet sich selbst als Schüler des Paulus und hat an ebensolche Schüler Briefe geschrieben. Ohne auf die vielerörterte Frage der Autorschaft einzugehen, möchte ich nur Folgendes bemerken: Da Dionysius’ Schriften erst später bekannt wurden, muss man entweder annehmen, dass sie ein späterer Schüler verfasst hat, etwa im 5. Jh., was aber unwahrscheinlich ist. Denn wie hätte ein Anonymer jene hohe mystisch-theologische Qualität besitzen und sich den Namen des Areopagiten Dionysius zulegen können? Oder wir nehmen an, dass der Areopagite die Schriften verfasst hat, diese aber unveröffentlicht geblieben sind, vielleicht nach dem Willen des Verfassers selbst, da er darum besorgt war, Mystisches nicht zu profanieren. In De ecclesiastica hierarchia, Kap. 1, rät er dem Adressaten: »Siehe zu, dass du das Allerheiligste nicht ausplauderst. Bewahre es in Ehrfurcht und halte die Geheimnisse des verborgenen Gottes durch ein rein geistiges, allem Sichtbaren entrücktes Erfassen in Ehren. Schütze diese Geheimnisse vor Mitteilung an Unberufene, damit sie nicht besudelt werden. Nur den Heiligen unter den Geheiligten teile sie auf heilig angemessene Art in heiliger Erleuchtung mit!«
Sicherlich war diese Sorge im 2. Jh. eher berechtigt als etwa im 5. Jh., wo die christliche Kirche schon festgegründet und verbreitet war. Zur Annahme der späten Datierung der Schriften und ihrer Zuweisung an einen Anonymen gaben formale Kriterien Anlass, besonders Ähnlichkeiten mit Porphyrius’ De malorum subsistentia. Doch könnte diese Schrift als Grundlage eine frühere, uns nicht mehr erhaltene 79 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei frühchristlichen Theologen
Schrift haben, die das platonische Thema des Übels als Nichtseienden behandelte und in Dionysius’ Zeit zurückreicht. Von einem Neuplatonismus in Dionysius’ theologischen Schriften, der für ihre Spätdatierung namhaft gemacht wird, kann man nicht ohne weiteres sprechen. Der allein bestimmende Bezugspunkt seiner Theologie ist die Hl. Schrift, nicht Platon oder Neuplatoniker. Auch ist es wahrscheinlich, dass bei einer späten Veröffentlichung von Dionysius’ Schriften Zusätze von anderer Hand hinzukamen, die neuplatonische Themen aufnahmen 31. Vergleichen wir Dionysius’ Theologie mit der oben besprochenen christlichen Theologie der ersten Jahrhunderte, so ergeben sich deutliche Unterschiede. Letztere verteidigt den christlichen Glauben hauptsächlich gegen Kritik heidnischer Philosophen, wobei die Verteidigung weitgehend wieder philosophisch erfolgt, mit Verweis auf Platon, der gleichsam als zweiter Moses aufgewertet wird. Anders verhält es sich bei Dionysius, da er sich mit christlichen Gnostikern auseinandersetzt, welche die Offenbarungsinhalte mit metaphysischen Argumenten erklären wollen. Gegen sie hebt nun Dionysius hervor, dass die christlichen Mysterien die menschliche Vernunft und ihre Erkenntnis gänzlich übersteigen und nur den Gläubigen, mit göttlicher Hilfe, einsehbar werden. Gott und seine Offenbarung sind überintelligibel und inkommensurabel zur menschlichen Erkenntnis. Alle Schriften bieten uns eine negative Theologie. Dabei erfüllt die Metaphysik eine wichtige, aber negative Aufgabe; denn mit ihr zeigt Dionysius, wie die metaphysischen Bestimmungen von Gott – nämlich sein wesentliches Substanz-, Eines-, Gut-Sein u. a. m. – in der christlichen Offenbarung überstiegen werden: Er ist überwesentlich, übersubstantiell, Übereines, Übergutes 32. Als einzig positive Bestimmung bleibt, dass Gott Prinzip, Ursache von allem Seienden ist, und insofern auch wiederum Substanz, nicht als eine neben anderen, in der Kategorie der Substanz, sondern als 31 Die kommentierte Ausgabe von Hugo Ball, Die Hierarchien der Engel und der Kirche, Barth-Verl., München Planegg, 1955, widmet sich in der Einleitung und im Kommentar ausführlich der Frage der Autorschaft, mit Erörterungen, die auch heute noch lesenswert sind. 32 Der Überstieg, die Transzendenz, der ersten Ursache über die Dinge der Sinneswelt hinaus ist nicht erst neuplatonisch, sondern hat ihre Quelle in Platon, Staat, Buch VI, wo er die Idee des Guten als »jenseits der Substanz (Wesenheit)« bestimmt.
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Dionysius Areopagita
Ursache, die über allem steht und von der alles abhängt, als dem Schöpfergott der Hl. Schrift. Beispielhaft legt dies die Schrift De divinis nominibus dar 33: Die Einleitung, Kap. 1, betont, dass die Abhandlung als Grundlage die Hl. Schrift hat, die von größter Weisheit und Wahrheit zeugt, und daher von Gottes Geist inspiriert, also kein Werk des menschlichen Geistes ist. Ihr Gegenstand übersteigt die menschliche Erkenntnis. Dionysius bezeichnet hier Gott als »übersubstantiellen«, als »Prinzip des Guten«, »jenseits des menschlichen Verstandes«. Dieser wichtige Ausdruck findet sich schon bei Aristoteles, und zwar in dem einzigen Fragment, das uns aus seiner Frühschrift »Über das Gebet« erhalten ist. Siehe: Aristotelis fragmenta selecta, ed. Ross, Oxford 1979, Περὶ εὐχῆϚ, nach dem Zeugnis des Simplicius: »Dass Aristoteles etwas einsieht, das sowohl über die Vernunft als auch über die Substanz hinausgeht, erklärt er deutlich am Ende seines Buches über das Gebet, wo er sagt, dass der Gott entweder Vernunft ist oder jenseits der Vernunft«. Sicherlich ist hier Aristoteles von Platons außergewöhnlich tiefem Ausdruck, Staat, VI, beeinflusst, wonach die Idee des Guten »jenseits der Substanz« / Wesenheit (d. h. der Ideen) ist. Wie die immateriellen Substanzen / Wesenheiten über den sinnlich-körperhaften stehen, so steht Gott, als übersubstantiell, über den immateriellen Substanzen, auch dem menschlichen Intellekt, und ist überintelligibel. In Kap. 2 lesen wir, dass von Gott, trotz seiner Erhabenheit, gleichwohl etwas erkannt werden kann, sofern Er sich durch seine Wirkungen in der Schöpfung mitteilt. Doch hierfür muss sich die Seele vorbereiten, in heiliger Ehrfurcht. Kap. 3 führt weiter aus, dass uns nach solcher Vorbereitung die Strahlen jenes göttlichen Lichtes aus der Hl. Schrift treffen, und wir »das wohltätige Prinzip der heiligen Erleuchtung« erfahren. Gott bezeugt sich als »Ursache, Prinzip, Substanz und Leben aller Dinge«, als »Prinzip der Vollkommenheit«, als »Prinzip über jedem Prinzip«, »überlegen über die Substanz«. In überschwänglichem Ausdruck fährt Dionysius fort: Gott ist »das Leben der Lebenden, Substanz der seienden Dinge, Prinzip und Ursache jedes Lebens und jeder SubSiehe die empfehlenswerte Gesamtausgabe von Enzo Bellini (Übers. P. Scazzoso): Dionigi Areopagita, Tutte le opere, Mailand 31997, Seite 243 ff.: Nomi divini.
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
stanz«. In seiner Gutheit hat Er alles zum Leben gerufen, auf dass es sich in ihm erhalte. Die metaphysischen Begriffe Ursache, Prinzip, Substanz / Wesenheit, Immaterielles u. a. dienen hier Dionysius dazu darzulegen, dass sie für unseren Versuch unzulänglich sind, mit ihnen den sich offenbarenden Schöpfergott zu erkennen. Sie dienen vielmehr dazu, uns seine Unbegreifbarkeit begreifbar zu machen. Diese Feststellung gilt auch hinsichtlich der zwei Abhandlungen über die himmlische und die kirchliche Hierarchie. Ihr Ziel ist die Verähnlichung und Vereinigung der Menschenseele mit Gott. Ein umfangreicher Sammelband zu diesen beiden Schriften widmet sich eingehend der Verbundenheit des Dionysius mit der griechischen Philosophie. 34 Der leitende Gedanke dieser Studien ist der, dass die Triaden, die Dionysius als Ordnung, Aktivität und Wissenschaft, bzw. als Maß, Schönheit und Übereinstimmung, in die himmlischen und die kirchlichen Hierarchien hineinlegt, neuplatonische sind. Doch gibt es hierzu eine differenzierende Stellungnahme, 35 welche erstens den neuplatonischen Einfluss nicht für so eindeutig hält und Dionysius’ Schriften nicht überwiegend philosophisch, sondern mystischtheologisch betrachtet.
L’Univers dionysien. Structure hiérarchique du monde selon le Pseudo-Denys, ed. René Roques, Paris 1996. 35 Siehe die Einleitung von Claudio Moreschini in der von ihm besorgten italienischen Fassung des vorgenannten Werkes: René Roques, L’universo dionisiano. Struttura gerarchica del mondo secondo ps. Dionigi Areopagita, Milano 1996. 34
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6) Maximus Confessor
In der Theologie des Maximus Confessor (580–662 n. Chr.) werden Themen behandelt, deren Erörterungen auch philosophische Argumente enthalten, besonders wenn sie sich auf den Menschen beziehen. So erörtert Maximus z. B. die wichtige Frage nach dem zweifachen, göttlichen und menschlichen, Willen Jesu Christi auch mit Hilfe der philosophischen, auf Platon, Aristoteles und Plotin zurückgehenden Lehre vom freien Willen des Menschen. Maximus äußert sich auch philosophisch über das natürliche Sittengesetz im Kontext einer theologischen Frage, wie nämlich der Christgläubige nicht nur die Heiligen, die nach dem (Mosaischen) Gesetz, sondern auch diejenigen, die vor ihm gelebt haben, nachahmen kann. 36 Die Antwort ist positiv, weil beiderlei Gesetz, das natürliche und das geschriebene, mosaische, etwas Gemeinsames haben. Die Antwort geht dahin, dass er sowohl jene wie diese nachahmen kann, weil beiderlei Gesetz, das natürliche, dem jene, und das geschriebene, dem diese gefolgt sind, identisch sind. Die Heiligen, die vor dem mosaischen Gesetz lebten, »haben auf natürliche Weise in sich das geschriebene Gesetz vorzeichnend, im Geiste der Frömmigkeit und Tugend, ein Vorbild für die (dann) nach dem Gesetze Lebenden vorweg entworfen«. »Das natürliche Gesetz ist mit dem geschriebenen identisch«, da beide auf Gottes Willen zurückgehen. Das natürliche Sittengesetz ist dem Geist der Menschen eingeschrieben und muss mit dem Geiste gelesen werden. Der geistliche Sinn des Mosaischen Gesetzes wird durch den Buchstaben verhüllt (was zu veräußerlichtem Verständnis führen kann). Eine andere Stelle 37 betrachtet Moses und Elia als Vorbilder der in: Ambiguorum liber, PG 91, 1149C-1152B. Vgl. P. Sherwood, The Earlier Ambigua of St. Maximus the Confessor and His Refutation of Origenism, in: Studia anselmiana, 36, Roma 1955. 37 PG 91, 1161A – 1164C. 36
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
Gesetzgebung und Prophetie. Moses hat das Gesetz durch Gottes Gnade in Weisheit und Rechtschaffenheit gegeben. Die Weisheit erzieht und bildet den Menschen; denn nach ihr »gebietet die Vernunft, was getan werden, und verbietet, was nicht getan werden soll«. Der Text führt weiter aus, dass die sichtbare Schöpfung unter den Formen der Natur und der Zeit steht, und dass Moses für die letztere, Elia aber für die erstere ein Ausdruck ist. Moses hat den zeitlichen Gottesdienst gestiftet. Die Zeit geleitet die Menschen zum zukünftigen, ewigen Leben, tritt aber nicht mehr in dieses ein. Jesus hat die Nachfolge von Zeit und Ewigkeit. Elias ist ein Ausdruck der Natur, weil er, die Worte Gottes und das einsichtsvolle Verständnis von ihnen unbefleckt bewahrend, sich frei gehalten hat vom Wechsel der Leidenschaften. Er selber ist »gleichsam ein natürliches Gesetz«, erzieherisch auf diejenigen wirkend, »welche die Natur gegen die Natur gebrauchen«. Beachtenswert ist die realistische Form dieser Ethik. Die sittliche Vollkommenheit ist kein bloßes Ideal in Gedanken, sondern wird gewonnen ausgehend von Menschen, in denen es verwirklicht ist. Ebenso schon bei Platon und Aristoteles. Über die Willensfreiheit äußert sich Maximus in der Schrift Ad Marinum 38, die hier wegen ihrer Einleitung besonders erwähnenswert ist; denn sie stellt den Adressaten, den frommen Presbyter Marinus, den Lesern als ein sittliches Vorbild vor: Sein würdiger Lebenswandel erweist Gott als die Erfüllung aller Sehnsucht und das Genießen. Davon kennt nur der Verstand/Logos ein Erfahren und Begreifen, das über die Verstandeserkenntnis hinaus eine Einigung mit Gott erreicht. Des Presbyters Leben »ist das Antlitz des Logos geworden«. Dieser vortreffliche Ausdruck zeigt, was Person (griech. prosopon, latein. persona: Antlitz) in der Tradition bedeutet. Moderne Kritik an Boethius’ Definition der Person als »individueller Substanz von rationaler Natur« kritisiert in ihr die »rationale Natur« als bloße Idee, die im Gegensatz zum konkreten Individuum stehe. In Wahrheit jedoch ist die Ratio/der Verstand das Antlitz des individuellen Menschseins, wie hier des Priesters Marinus. Der Text fährt fort: Der Logos trägt das Bild und die Ähnlichkeit des Schöpfergottes in sich, fähig, Christus nachzuahmen. Der Ähn38
PG 91, 9 ff.
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Maximus Confessor
lichkeit mit Gott entsprechen Wahrheit und Gutheit der Verstandesnatur: Jene ist Ziel der Theorie (Betrachtung), diese das Ziel der Praxis. Jene hat als Gegensatz die Falschheit, diese die Schlechtheit. Bei der theologischen Erörterung über den zweifachen Willen in Christus, den menschlichen und den göttlichen, werden die (aus Aristoteles entnommenen) ethischen Grundbegriffe des Willens, der Beratschlagung, der Vorzugswahl oder des Vorsatzes, der Einsicht und der freien Verfügung (exusía) näher bestimmt 39. Der Wille bezieht sich mit dem Vorsatz auf das jeweils zu wählende Gute, hat aber ein natürliches Streben zum Guten im Allgemeinen, das unmittelbar und nicht frei verfügbar ist. Der Vorsatz wiederum ist von der Freiheit verschieden, weil er die Beratung über das einschließt (nach Aristoteles), was bei uns steht. Die freie Verfügung (Freiheit im vollen Sinne) wird mit neuplatonischen Ausdrücken erfasst: als »gesetzvolle Herrschaft (kyriótes énnomos) über das, was bei uns steht«, als Verfügung, die unbehindert ist im Gebrauche dessen, was bei uns steht oder als ein nicht geknechtetes Streben nach dem, was bei uns steht. 40 In der Disputatio cum Pyrrho verwirft Maximus die Annahme eines einzigen Willens in Christus zugunsten der eines zweifachen Willens, einem in der menschlichen und einem in der göttlichen Natur Christi. Wenn nach dem Schöpfungsbericht (Gen 1,26) der Mensch nach Gottes Abbild und Gleichnis geschaffen worden ist, muss er auch die freie Selbstverfügung haben, analog dem Urbild. Da nun in Christus beide Naturen sind, die menschliche und die göttliche, muss er sowohl die urbildliche als auch die abbildliche freie Selbstverfügung haben, d. h. die göttliche und die menschliche; denn der Willensakt ist die naturgemäße freie Selbstverfügung (autexusiótes). 41 Ähnlich wie Maximus hat auch Johannes Damascenus (gest. vor 754) im ersten Teil seines Hauptwerkes, Quelle der Erkenntnis (πηγὴ γνώσεωϚ), in welchem er die Philosophie der vorchristlichen Zeit zusammenfasst, die Verhältnisse der menschlichen Seele vornehmlich
PG, 91,11–20. – Nützlich ist die kommentierte Ausgabe von Aldo Ceresa-Castaldo, Massimo il confessore. Umanità e divinità di Cristo, Rom 1979. Der Text ist aus Liber asceticus entnommen. 40 PG, 91,17C/D. 41 PG, 91, 324D. Dem Begriff autexusiótes entspricht der lateinische Ausdruck liberum arbitrium. 39
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Philosophie bei frühchristlichen Theologen
nach Aristoteles’ Lehre dargestellt, wobei er auch dessen Terminologie verwendet. Wenn wir auf die soweit besprochene Periode der frühchristlichen Theologen und Kirchenväter zurückblicken, können wir zusammenfassend feststellen, dass die griechische Philosophie, besonders als Metaphysik, sich mit der christlichen Glaubenslehre verbunden hat, wobei Argumente und Begriffe von ihr in die neue Disziplin einer hl. Theologie eingegangen sind. So werden z. B. die an sich philosophischen Begriffe der Substanz, Relation und Person nun in der Theologie von der Hl. Trinität Gottes verwendet, nämlich in die Aussagen über Gott als drei substantielle Personen in drei personalen Relationen, und nehmen damit eine theologische Bedeutung an. Übrigens ist die Metaphysik »griechisch« nur der Herkunft nach, nicht in ihrer Erkenntnis, die übergeschichtlich ist. Insofern wäre ihre Verbindung mit dem christlichen Glauben nicht als seine »Hellenisierung« durch »griechische Metaphysik« zu beurteilen, von der eine moderne Theologie sich befreien müsste, mit einem Programm der »Enthellenisierung«. Ferner lässt sich bemerken, dass die Metaphysik, unerachtet ihrer Verbindung mit dem christlichen Glauben in der Ausbildung der hl. Theologie, nicht aufgehört hat, als eigene philosophische Disziplin zu bestehen und ihr als natürliche Erkenntnisgrundlage zu dienen. Diese besagt z. B. für die Trinitätslehre, dass Gott, als erste Seinsursache von allem, substantiell in seinem Sein und Wesen von einfacher Einheit ist, was der natürlichen, metaphysischen Vernunft-Einsicht entspricht. Wenn sich daher Gott in dreipersonaler Lebensfülle offenbart, mit drei personalen Relationen zwischen Vater, Sohn und Hl. Geist, so sind dies keine Unterschiede in Gottes Sein (Thomas v. Aquin: non secundum esse), das (ontologisch metaphysisch) ein einziges ist, von einfacher Einheit. Dadurch bleibt das geoffenbarte (unsere Erkenntnis übersteigende) Mysterium gewahrt, – verschieden von menschlichen Verhältnissen, in denen drei personale Relationen immer solche zwischen drei Personen als drei Substanzen sind. In unserer Zeit, die noch unter der Nachwirkung von Kants Metaphysik-Kritik steht, was der traditionellen Theologie ihre natürliche metaphysische Grundlage zu entziehen droht, fehlt es nicht an 86 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Maximus Confessor
Versuchen einer »neuen Theologie«, die sich mit einer »existentiellen Metaphysik« so verbindet, dass sie mit ihr zu einem christlichen »religiösen Denken« verschmilzt. Angesichts existentieller »letzter Sinnfragen« der Welt, des menschlichen Lebens und seiner historischen, endzeitlichen Bestimmung, würde die existentielle Metaphysik nur die Probleme aufwerfen, die für sie unlösbar seien, zu denen dann aber die existentielle Theologie die Antwort aus dem christlichen Glauben gäbe. Dagegen lässt sich jedoch klarstellen, dass jene »letzten Fragen« weltanschauliche und religiöse sind, keine metaphysischen. Der neue Versuch, Philosophie und Theologie zu verschmelzen, beruft sich auf die Apologeten, die ihre Theologie als »die wahre Philosophie« bezeichnet haben. Wie jedoch oben dargelegt, verhält sich die Sache anders. Ihre Lehre, die den christlichen Glauben verteidigt, bietet noch keine konsolidierte Theologie dar, da diese sich vielmehr bei ihnen erstmals ausbildet, und zwar mit Hilfe jener klassischen Metaphysik, die von existentiellen Theologen heute verworfen wird. Daher ist ihre Berufung auf die Apologeten nicht gerechtfertigt. Bedenken wir erneut das traditionelle Verhältnis zwischen Metaphysik und Theologie bei den Kirchenvätern und bei Thomas v. Aquin, so sind bei ihnen beide Disziplinen durchaus verschieden: Die Metaphysik hat nicht, wie die Theologie, Gott zum Ausgangsgegenstand, sondern das Seiende als solches, und gelangt zu einer ersten, transzendenten Seinsursache nur durch Beweisschlüsse. (Hiernach gäbe es keinen Gott der Philosophen, sondern nur den Gott der Theologen, und eine erste Seinsursache der Philosophen.) Im Unterschied zur Theologie, die sich, vom christlichen Glauben aus, auf übernatürlicher Erkenntnisebene vollzieht, geht die Metaphysik ohne Glaubensvoraussetzung auf ihrer natürlichen Erkenntnisebene vor. Die Theologie hat die Metaphysik zur natürlichen Grundlage, so dass auch hier der scholastische Grundsatz gilt, dass die Gnade die Natur voraussetzt: gratia supponit naturam. Die Apologeten und Kirchenväter haben voll Freude das Verwandte zwischen der Bibel und der griechischen Metaphysik aufgenommen. Bei Gregor von Nyssa, Augustinus u. a. lassen sich ohne Schwierigkeit die philosophischen Texte von den theologischen unterscheiden, wo immer sie ihre Argumente ohne Glaubensvoraussetzung vorlegen. 87 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
III) Philosophie bei Theologen der Frühscholastik
Wenn wir uns nun der Philosophie des Mittelalters zuwenden, ist vorweg ein Wort zu dem Kriterium zu sagen, nach welchem in der allgemein üblichen Einteilung die mittelalterliche Philosophie von der antiken unterschieden wird. Sicherlich zeichnet sich die Philosophie des Mittelalters dadurch aus, dass sie mit dem Christentum eng verbunden ist, aber eine solche Verbindung bestand schon bei den frühchristlichen Theologen, die wir gleichwohl noch der Antike zuordnen. Ein bedeutenderes Kriterium ist, dass bei den antiken Theologen die Philosophie noch weitgehend zur Verteidigung des Christentums gegen die Kritik heidnischer Philosophen verwendet wurde, während im Mittelalter die Philosophie das Christentum nicht mehr verteidigen musste, das inzwischen anerkannt war und eine reiche Theologie entfaltete. Vielmehr hatte nun die Philosophie ihr eigenes Recht gegenüber der Theologie zu verteidigen; denn wenn sie auch ursprünglich zur Ausformung der Theologie verholfen hat, konnte sie nicht bloß als ihre Hilfe fortbestehen, sondern musste sich als unabhängige Disziplin behaupten, mit eigenen Aufgaben. Zudem hat sich der Übergang von der Antike zum Mittelalter auch als ein Wandel von der antiken heidnischen Weltanschauung zur christlichen vollzogen, wobei nun in der letzteren die Philosophie ohne Zweifel neue Aufgaben erhalten hat, welche sich aus der christlichen Sicht auf das Verhältnis zwischen Mensch, Natur, Welt und Gott ergeben. Die Philosophie hat einerseits die christliche Weltanschauung des Mittelalters mit geprägt, besonders durch ihre Verbindung mit der Theologie, andererseits aber auch wichtige Anregungen zu neuen Fragestellungen empfangen, deren Erörterung und Auflösung zu neuen philosophischen Einsichten geführt haben. Karl Vorländer bemerkt in seiner Philosophie des Mittelalters einleitend richtig, dass das Christentum »in die philosophischen Problemstellungen umbildend hineingewirkt und dem Denken neue und 88 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Frühscholastik
gewichtige Aufgaben gestellt« hat. Dadurch stellt sich ihm dann aus seiner Sicht die Frage »nach Wesen und Möglichkeit eines spezifisch christlichen Denkens überhaupt«. Neben der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glaube treten auch Fragen hinsichtlich der Seele auf, sowie ihres Verhältnisses zur Vernunft und zum Irrationalen, ferner hinsichtlich der Welt, ob sie ewig ist oder einen Anfang hat, und wenn letzteres, wie sie durch »Schöpfung« entstanden ist.
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1) Johannes Scotus
Der irische Theologe (810–877, auch Eriugena genannt) hat in seiner Schrift in fünf Büchern De divisione naturae ein umfassendes philosophisch-theologisches Werk vorgelegt. Es teilt die gesamte Natur / Wirklichkeit in vier Stufen ein: 1. in das, was schafft und nicht geschaffen wird, 2. was geschaffen wird und schafft, 3. was geschaffen wird und nicht schafft, und 4. was nicht schafft und nicht geschaffen wird, und bestimmt Gott, der auf der ersten Stufe steht, im Verhältnis zur Schöpfung, der unsichtbaren und der sichtbaren, die sich auf die zweite und dritte Stufe verteilen. Der vierten Stufe entspricht das Nicht-Wirkliche, Unmögliche. Scotus stützt sich hauptsächlich auf die großen Vorbilder Dionysius Areopagita und Maximus Confessor (zu denen er lateinische Übersetzungen angefertigt hat), sowie Gregor v. Nyssa (den er aus dem griechischen Original zitiert), ferner Augustinus und Boethius. Die genannte Einteilung ist der Philosophie entnommen, welche aber nun dazu dient, die biblischen Aussagen über Gott systematisch zu erschließen und damit die christliche Theologie zu begründen. In diese gehen nun der Philosophie entnommene Begriffe und Einteilungen ein, wie schon bei den genannten Vorbildern. Die Bücher I und II handeln von Gottes Wesen, das in seiner Erhabenheit die menschliche Erkenntnis übersteigt, Buch III von der geschaffenen Natur, Buch IV von Gottes Hl. Trinität, von der Schöpfung aus dem Nichts und vom Menschen, Buch V von Gottes Heilsplan, den in Sünde gefallenen und aus dem Paradies vertriebenen Menschen wieder zu seiner ursprünglichen Würde (pristinam dignitatem) und Glückseligkeit zurückzuführen. In die Abhandlung fließen beachtenswerte philosophische Reflexionen ein, von denen ich wenigstens folgende erwähnen möchte: In Buch I legt Scotus ausführlich die zehn aristotelischen Kategorien dar, um zu zeigen, dass Gottes Wesen und Eigenschaften keiner der Kategorien entsprechen, sofern diese die Gattungen des Seienden bezeich90 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Johannes Scotus
nen. Gott ist zwar Substanz, aber nicht als eine neben den anderen geschaffenen Substanzen, die in Gattung der ersten Kategorie fallen; denn Er überragt sie alle als ihre erste Ursache. Es war ein Irrtum der Neuplatoniker, in Platons intelligible Welt die aristotelischen – nur auf die Erfahrungsdinge bezogenen – Kategorien einzuführen. Zwar nennt Aristoteles, in Kategorien, Kap. 5, als Beispiel zur ersten Kategorie auch »Gott«, aber dieser steht hier als Gegenstand religiöser Erfahrung, nicht der philosophischen Reflexion, die zur ersten Seinsursache führt. In Buch II stellt Scotus fest, dass Gott die Naturdinge in allem übersteigt, auch in ihrem (verursachten) Sein, da Er die erste Ursache für das Sein der Naturdinge ist. Thomas v. Aquin wird diesen Gesichtspunkt vertiefen und sagen, dass Gott das subsistierende Sein selbst (ipsum esse subsistens) ist, aufgrund der Seinsanalogie. Diese fehlt zwar bei Scotus nicht, denn er anerkennt, in der obengenannten Einteilung, das Sein als auf verschiedenen Stufen des Realen auftretendes, wenn er auch noch nicht, wie dann Thomas, die Analogie vom verschieden gestuften (verursachten) Sein der Dinge bis zum ersten Seinsanalogat entwickelt hat, welches das (ursächliche) Sein selbst ist. In Buch III lehrt Scotus, dass dem Menschen, dem vollkommenen wie dem unvollkommenen, sündigenden, ein natürliches, sich identisch durchhaltendes Streben nach dem Sein, Gutsein und Ewigsein, bzw. nach dem glückseligen Leben anzuerkennen ist (unus atque idem naturalis appetitus est essendi, et bene essendi et perpetualiter essendi, ut sanctus Augustinus breviter comprehendit, beate vivendi miseriamque fugiendi). Es geht hier um den ontologischen Akt des Mensch-Seins, der nach späterer thomistischer Unterscheidung als erster Akt den zweiten Akten zugrunde liegt, nämlich den Tätigkeiten, die aus den seelischen Vermögen hervorgehen. Auf Scotus’ theologische Lehre ist hier nicht einzugehen. Was den Hervorgang der Geschöpfe aus Gott betrifft, sowie Gottes Wirken in ihnen, scheint sie für eine moderne Auslegung (Vorländer u. a.) spiritualistische und pantheistische Züge zu haben, doch kann ich ihr darin nicht folgen. Aus theologischer Sicht sieht Scotus in den Allgemeinbegriffen oder Universalien die höhere Realität im Vergleich zu den Erfahrungsdingen, sofern sie nämlich in Gottes Vernunft gedacht werden. 91 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Frühscholastik
Als mit Platons Ideen identisch betrachtet, erhalten diese nun – trotz Aristoteles’ nachhaltiger Kritik, wonach die Wesenheiten nicht abgetrennt von den Dingen sind, sondern in ihnen selbst sein müssen, – eine neue Bedeutung, da sie nun in der Vernunft des Schöpfergottes angenommen werden, der nach ihnen die Dinge erschaffen hat. Dieses Lehrstück findet sich bei den großen Theologen, wie Thomas, wieder und ist mit dem Problem verbunden, wie in Gott, dem absolut einfachen Einen, die Vielheit der Ideen sein könne. In der Analogie zu den Ideen in der menschlichen Vernunft liegt hier gerade der wesentliche Unterschied zur göttlichen Vernunft. Als Ursache der Dinge müssen die Ideen im Schöpfergott eine einfache Einheit sein, was unsere Erkenntnis übersteigt.
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2) Anselm v. Canterbury
Von den Schriften Anselms von Aosta (in Piemont, 1033–1109), des Erzbischofs von Canterbury, sind philosophisch besonders wichtig das Proslogion und das Monologion, mit dem sog. ontologischen Argument, das die Existenz Gottes aus seiner Wesenheit zu beweisen sucht. In der Fassung des Proslogion, Kap. 2–3, lautet es so: Alle Menschen, auch der Gottesleugner, haben natürlicherweise einen ihnen allen bekannten Begriff von Gott als dem, »in Bezug worauf nichts Größeres gedacht werden kann« (aliquid quo nihil maius cogitari possit). Es ist jedoch ein Unterschied, ob ein Gegenstand nur im Intellekt gedacht wird, oder auch in Wirklichkeit ist (aliud enim est rem esse in intellectu, alium intelligere rem esse). Gott ist aber jener Gegenstand, in Bezug worauf nichts Größeres gedacht werden kann. Also kann Gott nicht nur in unserem Intellekt sein – weil sonst Größeres von ihm gedacht werden könnte, dass er nämlich in Wirklichkeit ist (Et certe id quo maius cogitari nequit, non potest esse in solo intellectu … Si enim vel in solo intellectu est, potest cogitari esse et in re; quod maius est) –, sondern muss in Wirklichkeit sein.
Der Beweis hat folgende syllogistische Form: I) Das (in seiner Wesenheit) denkbar Größte ist n nicht nur im Intellekt, sondern auch in Wirklichkeit. II) Gott ist das (in seiner Wesenheit) denkbar Größte. III) Gott ist in Wirklichkeit. Die Kritik an diesem Beweis hat bei Thomas v. Aquin eine besonders prägnante Form erhalten, die deshalb hier wiedergegeben werden soll. Sowohl in Summa c. gent. I, cap. 10, als auch in Summa theol., I, q. 2, a. 2, geht er auf Anselms Argument ein, dass nämlich alle Menschen schon ein natürliches Wissen von Gott als dem (seinem Wesen nach) denkbar Größten besitzen, so dass der Beweis nur das darlegt, was allen schon an sich bekannt ist, einschließlich der Kon93 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Frühscholastik
klusion, dass Gott ist/existiert. Thomas’ Kritik richtet sich gegen Anselms Beweiskern, dass nämlich allen Menschen Gottes Wesen schon natürlicherweise oder an sich bekannt ist, und unterscheidet mit Aristoteles zwischen dem Bekannteren »an sich«, aus der Wesensnatur des Gegenstandes, und dem Bekannteren »für uns«, das in die Sinneserfahrung fällt, und bei dem unsere Vernunft beginnen muss, um erst durch Studium zur Wesenserkenntnis jedes Gegenstandes fortzuschreiten. Aristotelisch gesehen geht jeder Erkenntnisfortschritt vom Verursachten zu den Ursachen, vom Sinnlich-Wahrnehmbaren zum Intelligiblen, und somit vom Bekannteren für uns zum Bekannteren an sich. Dies ist der induktive Weg, der von den Dingen zu ihren Wesensursachen führt. Wenn diese gefunden sind, können in deduktiver Weise aus ihnen Verhältnisse an den Dingen bewiesen werden. Gottes Dasein und Wesen kann, da er die Ursache der von ihm geschaffenen Dinge ist, nur induktiv aus seinen Wirkungen in den Weltdingen erschlossen werden. Anselms Beweis ist also unhaltbar, da er deduktiv aus Gottes Wesen auf sein Dasein zu schließen sucht. Zwar stimmt es, dass allen Menschen Gott schon in gewisser Weise bekannt ist, aber es geht hier um eine natürliche religiöse Erfahrung von Gott, auf die sich kein philosophischer Beweis stützen darf. Aristoteles’ Epistemologie macht klar, dass wir von keinem Gegenstande sein Wesen erkennen können, wenn wir ihm nicht zuvor in seinem Dasein begegnet sind. Die Erkenntnis des Wesens setzt die des Daseins voraus. Wenn Anselm vom Wesensbegriff Gottes ausgeht, hat er stillschweigend schon sein Dasein vorausgesetzt (was einer petitio principii gleichkommt). Genauer gesehen, finden wir bei Anselm nur ein gedachtes Dasein Gottes, sowohl in den Prämissen des Beweises, als auch in der Konklusion; denn die Unterscheidung zwischen dem Sein im Intellekt und dem Sein in Wirklichkeit ist immer nur eine gedachte: dass Gott nicht nur als im Intellekt seiend, sondern auch in Wirklichkeit seiend gedacht werden kann – was größer ist.
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3) Peter Abaelard
Das Universalien-Problem Die schon bei Anselm, Roscellinus und Wilhelm von Champeaux begonnene Kontroverse über die Realität des Allgemeinen, der Universalien, hat Peter Abaelard (1079–1142) kennengelernt und in seiner Logica ingredientibus (siehe auch Logica nostrorum petitioni sociorum) ausführlich erörtert. Dabei bedient er sich der von ihm selbst entwickelten dialektischen Methode, der Erörterung des Für und Wider in jedem Fragestück, wie in seiner Schrift Sic et non dargelegt. 1 Wilhelm von Champeaux war unter den sog. »Realisten« führend, die Folgendes annahmen: Das mit dem Allgemeinen bezeichnete Gemeinsame in den Dingen ist wesentlich ein und dieselbe Substanz. Nur durch das Akzidentelle in ihnen treten sie als viele Einzeldinge auf. So sind z. B. die einzelnen numerisch verschiedenen Menschen ein und dieselbe Substanz Mensch, welche durch diese Akzidenzien Platon wird, durch jene Akzidenzien Sokrates. Abaelards Einwände gegen eine solche Ansicht sind diese, dass nach ihr dieselbe Substanz gegensätzliche Akzidenzien haben und an verschiedenen Orten sein würde. Auch müssten dann die verschiedenen Individuen, z. B. Platon und Sokrates, identisch sein. Abaelard folgte daher zunächst Roscellinus, dem Hauptvertreter des Nominalismus, lehnte aber dessen extreme Form ab, wonach das Allgemeine nur ein Laut (vox) wäre, und hat die Betonung mehr auf die Bedeutung (significatio) gelegt, die der Intellekt ihm gibt. Er versteht somit das Allgemeine als einen Begriff (conceptus) im Intellekt, dem aber jede Grundlage in den Dingen fehlt. Abaelards Stellung, die gewöhnlich als Konzeptualismus gekennzeichnet wird, bezeichnet das Allgemeine (universale) als das, was von mehreren Dingen gemeinsam ausgesagt wird (in pluribus prae1
Die Kontroverse wird gut bei Geyer, 218–222, dargelegt.
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Philosophie bei Theologen der Frühscholastik
dicari), wobei das Ausgesagte kein Ding ist, da nicht ein Ding von einem Ding ausgesagt wird, sondern nur ein Name (nec rem ullam de pluribus dici, sed nomen tantum), wie Roscellinus lehrte. Doch korrigierte ihn dann Abaelard und nannte das Allgemeine eine Unterredung (sermo), die Bedeutungen bezeichnet. Diese beziehen sich zwar auf Dinge, sind aber nicht aus ihnen entnommen, sondern werden von Menschen eingesetzt (hominum institutio, nach dem Referat des Johannes v. Salisbury über Abaelard). Das Problem des Verhältnisses zwischen Allgemeinem und Einzeldingen klärt also Abaelard in der Weise, dass das Allgemeine, das Gemeinsames von Einzeldingen bezeichnet, nicht für sich besteht, sondern eine Abstraktion ist, eine Schöpfung des Intellekts, welche dieser in sich bildet. Zur Begründung seines Nominalismus verwendet Abaelard auch ein Argument, das sich schon bei Aristoteles und Thomas findet, freilich in anderer Bedeutung als bei ihnen, die es umgekehrt zur Begründung des Realismus verwenden. Es besagt, dass der allgemeine Begriff von den Dingen in anderer Weise im Intellekt ist, als die Dinge in Wirklichkeit sind; denn diese sind konkret Vieles, während das Allgemeine jeweils ein abstrakt Eines gegenüber den vielen konkreten Dingen ist. Daraus folgt für Abaelard, dass das Allgemeine nicht an die Stelle der vielen konkreten Dinge treten könne und daher eine Schöpfung des Intellekts sei, ohne Bezug auf die Dinge. Aristoteles verwendete das Argument in seiner Kritik an Platons Abtrennung der Ideen, d. h. der Wesenheiten, von den Dingen, um stattdessen die Wesenheiten in den Dingen zu begründen. Die Ursache des Universalien-Problems liegt m. E. in empiristischen Voraussetzungen, erstens, dass wir Menschen den konkreten Dingen nur durch die Sinneserfahrung begegnen, wobei zu ihr der Intellekt abstrakte Begriffe hinzu bringt, die ihren Ursprung nicht aus den Dingen haben; zweitens, dass die konkreten Einzeldinge nur Sinnesdaten bieten, aus denen keine Allgemeinbegriffe stammen können. Dagegen ist jedoch klarzustellen, dass der Intellekt den Allgemeinbegriff zwar in sich bildet, aber als Stellvertreter / Repräsentant der Dinge selbst, aus denen er das intelligible Wesentliche »abzieht« (abstrahiert), um es in Allgemeinbegriffen festzuhalten, die das Ding repräsentieren. Daher gilt, dass der Allgemeinbegriff in anderer Weise im Intellekt ist, als jedes der Einzeldinge bzw. die Wesenheit in ihnen ist; denn der Allgemeinbegriff ist einer über den vielen 96 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Peter Abaelard
Dingen, während die Wesenheit, in Vielheit, in jedem Ding ist. Durch die Abstraktion verliert der Allgemeinbegriff nicht den Bezug zu den Einzeldingen, sondern bezieht sich gerade auf Wesentliches in ihnen. Dies besagt aber, im Gegensatz zur zweiten empiristischen Prämisse, dass die Einzeldinge nicht nur partikuläre, d. h. sinnlich-materielle Eigenschaften haben, sondern auch intelligible, wesentliche. Im Grunde ist der sog. Universalienstreit nicht über das Problem der platonischen zwei Welten, der Sinnesdinge und der Ideen, hinausgegangen, mit der Kritik der Empiristen, dass Platon mit den Ideen Begriffe »hypostasiert« (substantialisiert) habe. Dagegen ist aber zu sagen, dass Platon sehr wohl unterschied zwischen den Ideen als den Wesenheiten (Form-, Zweckursachen) der Dinge und den Begriffen, die sie im Intellekt vertreten. Platons Irrtum, den Aristoteles korrigiert hat, war vielmehr der, die Seinsweise der Ideen nach Art der Seinsweise des Allgemeinbegriffs im Intellekt misszuverstehen, dass sie nämlich Eines über Vielem seien.
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4) Liber de causis. Avicenna und Averroes
Liber de causis Philosophisches enthalten jene theologischen Schriften des 12. Jahrhunderts, die sich auf neuplatonisches Gedankengut stützen. Dieses wurde vor allem durch den Liber de causis und die Theologia Aristotelis vermittelt. Wir richten unsere Aufmerksamkeit besonders auf die erste Schrift, wobei uns nicht die Frage ihrer Autorschaft, sondern ihr Inhalt beschäftigen soll. Sicher ist, dass ihre Entstehung auf die Antike zurückgeht, dass ihr Inhalt eine Kompilation aus Proklos’ Institutio theologica (στοιχείωσιϚ θεολογική) ist, – von möglichen Autoren genießt Alfarabi einen gewissen Vorrang –, und dass sie von Gerhard von Cremona in Toledo, ca. 1167–1187, ins Lateinische übersetzt worden ist, und zwar unter dem Titel Liber Aristotelis de expositione de bonitatis purae. Nach einer Angabe Alberts d. Gr. ist der Autor David Judaeus, der den Liber aus Texten griechischer und arabischer Philosophen (Aristoteles, Avicvenna, Algazeli und Alfarabi) zusammengestellt hat. Die Schrift steht der Theologia Aristotelis nahe, einer Kompilation aus Plotins Enneaden IV-VI, die Alkindi in syrischer Sprache im 7. Jahrhundert verfasst hat. Sie war ebenfalls unter dem Namen des Aristoteles im Kreis muslimischer Philosophen bekannt. Aus demselben Kreis scheint auch der Liber de causis hervorgegangen zu sein. Die beiden Schriften haben metaphysischen Inhalt; sie befassen sich mit den umfassenden, transzendenten Ursachen alles Seienden und unterscheiden zwischen der ersten Ursache, als dem sog. Einen bzw. Guten, sowie den zweiten Ursachen, den sog. Intelligenzen und Seelen, die der ersten Ursache in abgestufter Rangordnung folgen. Dabei wird besonders der Hervorgang der Ursachen auseinander erörtert, angefangen bei der ersten Ursache, dem Einen bzw. Guten. Dies hat gleicherweise bei Christen und Muslimen Interesse gefunden, nämlich die religiösen Themen der Bibel und des Koran von der 98 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Liber de causis. Avicenna und Averroes
Schöpfung und der Engellehre auch rational zu erschließen. Ich möchte hier den Hervorgang nicht monistisch als Emanation verstehen (wie es teilweise bei modernen Interpreten geschieht). Vielmehr erfolgt schon der Hervorgang des ersten Intellekts (oder der ersten Intelligenz) aus dem Einen / Guten / dem höchsten Gott in einem echten Schöpfungsakt, welcher von Gott als Ursache zum Intellekt als Verursachtem geht und eine sehr beachtenswerte philosophische Erklärung findet. Im Unterschied zu den innerweltlichen Entstehungsprozessen, die sich aus einer schon vorhandenen Materie vollziehen, ist der erwähnte Schöpfungsakt ein unmittelbares Ins-Seinsetzen eines Seienden aus Nichts, d. h. aus keiner vorherbestehenden Materie. Im Schöpfungsakt emaniert nichts von der Substanz der ersten Ursache zu dem hervorgehenden Intellekt als der Wirkung, welche so stark ist, dass sie zu einem eigenen Stand kommt, d. h. eine zweite, untergeordnete Substanz wird. Der Liber de causis gliedert sich in folgende Teile 2: I) Vom Einen und Vielen (prop. 1–6); II) Von den Ursachen (prop. 7–13); III) Von den Realitätsstufen (prop. 14–24); IV) Über den Hervorgang und Rückgang (prop. 25–39); V) Über das an sich Subsistierende (prop. 40–51); VI) Über Zeit und Ewigkeit (prop. 52–55); VII) Über die Grade der Ursächlichkeit (prop. 56–65); VIII) Über Ganzes und Teile (prop. 66–74); IX) Über das Verhältnis der Ursachen zu ihren Wirkungen und über die Wirkkraft (potentia, prop. 75–86); X) Über Seiendes, Grenze und Unendlichkeit (prop. 87–96); XI) Ergänzende Lehren zur Ursächlichkeit (prop. 97–102: 1. Über die Nicht-Mitteilbarkeit der ersten Instanzen zur Reihe, die sie selbst hervorbringen; 2. Die wahren Ursachen sind überall und nirgends; 3. Die Dreiheit: Seiendes, Leben und Intellekt; 4. Es gibt eine mittlere Instanz zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen; 5. Das Ewige ist verschieden vom Unsterblichen; 6. Die 2 Siehe die Marietti-Ausgabe mit dem vollständigen Text und den propositiones des Thomas’ Kommentars: S. Thomae Aquinatis in librum de causis expositio, Turin 1955. Die ausführliche Einleitung bringt die Gliederung im Detail und breitet die Forschungsergebnisse über die Schrift aus.
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Prinzipien, welche die Beziehung zwischen den höheren und niederen Existenzordnungen regeln); XII) Von den göttlichen »Einheiten« oder »Göttern« (prop. 113– 165); XIII) Von den Intelligenzen (prop. 166–183); XIV) Von den Seelen (prop. 184–211). Hinsichtlich der abgestuften Schöpfung der Seinsstufen nach dem Ersten / Einen / Gott, lehrt der Liber de causis, dass Gott nur den kosmischen Intellekt (der sich die Intelligenzen ausfaltet) hervorbringt, und dieser die kosmische Seele (die sich in die vielen Seelen ausfaltet) hervorbringt, welche wiederum die irdischen Lebewesen hervorbringt, wobei die Überlegung zugrunde liegt, dass das Erste / Eine nicht direkt die große Vielheit der Geschöpfe hervorbringt. Daran übt Thomas Kritik, prop. 5 (Über die Unterscheidung der Seelen nach dem Unterschied der Intelligenzen): Gott, wiewohl von einfacher Einheit hat alle Dinge unmittelbar geschaffen, ohne Vermittlung durch Geschöpfe. Die erwähnte Überlegung, dass die Einheit Gottes dies nicht zulasse, widerlegt Thomas damit, dass Gott alles mit seiner Vernunft geschaffen hat, welche die Wesenheiten aller Dinge in Einheit umfasst (was freilich unsere Erkenntnis übersteigt). Im Folgenden gehen wir auf zwei wichtige Wegbereiter der hochscholastischen Theologie und Philosophie ein: Avicenna und Averroes.
Avicenna (Ibn Sina, 980–1037) Der gebürtiger Perser, errang in der islamischen Welt hohes Ansehen als Mediziner und Philosoph. Er erwarb sich durch hellenistische Bildung, wie seine arabischen Vorgänger Alkindi († 873) und Alfarabi († 950), ein enzyklopädisches Wissen, das über Theologie und Philosophie hinaus auch Naturwissenschaften umfasste. Auch Avicenna ging auf Aristoteles, Platon, Plotin und Proklos zurück und nahm, wie jene beiden Vorgänger (aber in verstärktem Maße), vom Stagiriten nicht nur die Logik auf, sondern auch Physik, Mathematik und Metaphysik. Seine Untersuchungen hierüber, die er in seinem Buch der Genesung der Seele (von Irrtümern) formuliert hat, sind für die
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Liber de causis. Avicenna und Averroes
Theologen der nachfolgenden Jahrhunderte, auch für Thomas v. Aquin, von großem Einfluss gewesen. Im Metaphysik-Teil von Avicennas Werk verdienen einige Lehrstücke besondere Beachtung 3: Die ersten Kapitel beginnen mit der aristotelischen Gliederung der Philosophie nach ihren Hauptdisziplinen (Kap. 1–11). Die wissenschaftliche Erkenntnis, wie auch die Philosophie, erfolgt durch das Allgemeine (Kap. 12), das für Avicenna eine zweifache Seinsweise hat: eine logische, mit der es sich im Verstand findet (z. B. der Begriff des Menschen: humanitas), und eine reale, mit der es in den Dingen ist (als realitas humanitatis). Damit wird in der Sache das Universalienproblem geklärt, wenn auch die Benennung der Wesenheit als eines »Universale« in den Dingen irreführend ist; denn das Allgemeine ist an sich immer Eines über Vielem: eine Benennung, die nur dem Allgemeinen im Verstand zukommt, gegenüber den vielen Dingen, auf deren Wesenheit es sich bezieht. Diese ist je einzeln in jedem Ding. Daher hat Aristoteles in Physica, I, 1, die Wesensursache in den Naturdingen »Einzelnes« genannt, gegen den gewöhnlichen Gebrauch des Begriffes, der sonst die Einzeldinge bezeichnet. Es werden dann die Gegensatzpaare erörtert: Einheit und Vielheit, Vorrangiges und Nachrangiges, Ursache und Wirkung, Endlichkeit und Unendlichkeit, Potentialität und Aktualität, um zu zeigen, dass das Erste Prinzip, die Seinsursache von allem Seienden über allen Gegensätzen steht (Kap. 27). Avicenna nennt es das »NotwendigExistierende«, weil wir von ihm nur seine Existenz erkennen können, nicht jedoch seine Wesenheit. Wiewohl Ursache der vielen, veränderlichen Dinge, ist es selbst ohne jede Vielheit und Veränderung, ewig 4. Wie die geschaffenen, aus Materie und Form bestehenden Dinge nur ihrer Form nach erkennbar sind, so auch umso mehr das Erste Prinzip, das gänzlich immateriell ist (Kap. 29). Es folgen grundlegende Erörterungen über die menschliche Erkenntnis überhaupt, welche unser Intellekt von den empirischen Dingen gewinnt, nämlich durch Abstraktion ihrer Form von ihrer Materie. Verwendete Ausgaben: Max Horten, Die Metaphysik Avicennas, 1907 (Haupt Verl.), Nachdruck 1960 (Artemis Verl.). The Metaphysics of Avicenna, ed. Parviz Morewedge, New York 1973. 4 Der Text lehnt sich hier eng an Proklos, Institutio theol., prop. 11, an. 3
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Als Beispiel dient wieder das der humanitas als Form des Menschen, die per Abstraktion erkannt wird. Anthropologisch gesehen, besteht die Menschenseele unabhängig vom Leib und ist das Erkenntnissubjekt. (Daraus erklärt sich auch, dass die Seele eine vom leiblichmateriellen Substrat abstrahierende Selbsterkenntnis haben kann.) Bei den geschöpflichen Dingen ist das Erkannte im Erkennenden verschieden von der Wesenheit im Ding selbst und existiert im Verstand auf andere Weise als im Ding. Dagegen ist im Notwendig-Existierenden, das mit seiner Wesenheit identisch ist, auch das Erkannte mit der Wesenheit identisch. 5 Die Erörterungen führen dann zum Notwendig-Existierenden aus (Nr. 32 ff.), dass es zwar die Ursache für das Sein aller Dinge ist, dass aber aus ihr die Vielheit der Dinge nicht sogleich, sondern in einer gestuften Abfolge hervorgeht, die einer gewissen Ordnung (von vollkommeneren zu immer unvollkommeneren Wesenheiten) entspricht. Der Hervorgang der vielen Dinge aus dem Ersten Einen darf nicht monistisch als Emanation missverstanden werden, dass von seiner Substanz etwas in die Dinge überfließe. Vielmehr wird schon beim ersten Hervorgang der Vernunft aus dem Einen klar unterschieden zwischen dem Einen als der Ursache und der Vernunft als der Wirkung, die als zweite, der ersten untergeordnete, Substanz hervorgeht. Ferner bringen in der Abfolge der Substanzen die höheren nicht aus eigener Kraft die niederen ins Sein, sondern kraft der Ersten Ursache, die durch alle anderen hindurch die Gesamtheit der Dinge ins Sein gerufen hat. Neuplatonischer Lehre folgend, nimmt Avicenna an, dass die Erste Ursache zunächst nur die Vernunft hervorgebracht hat, die dank der Reflexion auf sich selbst den Übergang zur Vielheit veranlasst. Morewedge verweist in seinem Kommentar (a. a. O., S. 127) auf Aristoteles, Metaph., XII 9, 1075a 2–5, als würde der Text von der göttlichen Erkenntnis sprechen. Doch verhält es sich nicht so. Das Kap. 9 handelt zwar von Gottes Selbsterkenntnis, in der das Subjekt und das Objekt (substantiell) zusammenfallen, und erörtert eine Aporie, die von der menschlichen Erkenntnis ausgeht, wo Subjekt und Objekt, der Erkennende und das Erkannte, immer verschieden sind. Aristoteles’ Antwort stellt im angegebenen Text fest: Bei den theoretischen Objekten, soweit sie ohne Materie sind, werden (gnoseologisch) das Erkennende/der Intellekt und das Erkannte (in ihm) identisch, und zwar in demselben Akt, mit dem der Intellekt ist, und das Erkannte in ihm ist.
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Thomas v. Aquin hat dann zu Recht daran Kritik geübt und gelehrt, dass die Vielheit der Weltdinge direkt, ohne Vermittlung, von der Ersten Ursache, Gott, ausgegangen ist. Des ungeachtet bleibt es das Verdienst des Avicenna und der von ihm befolgten neuplatonischen Tradition, das Verständnis für den Schöpfungsakt Gottes gewonnen zu haben, der die Welt, alles Seiende, aus Nichts hervorbringt, d. h. aus keiner vorherbestehenden Materie, anders als bei den innerweltlichen Entstehungsprozessen.
Averroes (1126–1198) Als gründlicher Aristoteles-Kommentator hat der arabische Gelehrte aus Cordoba noch größere Verdienste als Avicenna. Da er in der aristotelischen Philosophie den Gipfel menschlicher Erkenntnis pries, welche neben dem Koran der Vernunft den Weg zur Wahrheit gewähre, geriet er in Konflikt mit islamischen Theologen. Mit der Unterscheidung zwischen der religiösen, geoffenbarten Wahrheit und der philosophischen überzeugte er seine Gegner nicht. Uns interessiert nur aus seinem Kommentar zu Aristoteles’ De anima jenes Lehrstück, welches dann von Thomas ausführlich widerlegt wurde 6, dass nämlich der menschliche Intellekt nicht der Seele zugehöre und für alle Individuen nur ein einziger sei. Der diesbezügliche Text lautet: 7 »Abgetrennt nur ist er (sc. der sog. tätige Intellekt) das, was er ist. Und dieses (Vermögen) nur ist unsterblich und ewig. Wir erinnern uns (dann) aber (nicht mehr), weil dieses (Vermögen) leidensunfähig ist …«
Diese Aussage spricht eindeutig vom Zustand des tätigen Intellekts nach dem Tode des Menschen, während der vorhergehende Text des Kap. 5, wie auch das Kap. 4 über den Intellekt, der die Dinge zuerst in Möglichkeit, dann in Wirklichkeit erkennt, sich auf beide IntellektVermögen des Menschen in diesem Leben bezieht. Averroes war bei seiner Fehlinterpretation des Aristoteles-Textes von Vernunftgründen bestimmt, die ihn von der Notwendigkeit seiner These überzeugten. Der wichtigste Grund gegen die Annahme 6 7
Thomas v. Aquin, De unitate intellectus, contra Averroistas. Aristoteles, De an. III 5, 430a 22–25.
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eines einzigen Intellekts für alle Individuen war dieser: Ein Prinzip, das sich in vielen Individuen aufgeteilt findet, ist dies durch die Materie als Individuationsprinzip, wobei vorausgesetzt ist, dass die Erfahrungsdinge aus Materie- und Formursache konstituiert sind. Für den Intellekt würde die Existenz in vielen Individuen bedeuten, dass er Form der Materie wäre, was unannehmbar ist. Thomas widerlegt dieses Argument dadurch, dass nach Aristoteles die Menschenseele die Formursache des Leibes ist, aber nicht mit allen seelischen Vermögen, sondern nur mit den niederen, vegetativen und sinnlichen, nicht hingegen mit den höheren, dem Intellekt, der keine Form des Leibes mehr ist, gleichwohl sich aber in der Seele befindet. Einen anderen Grund für seine These sah Averroes darin, dass die intellektuelle Erkenntnis eine allgemeine ist, die allen Individuen gemeinsam ist und daher von einem einzigen Intellekt vollzogen wird, der über allen Individuen steht. Aber diese Folgerung übersieht, wie Thomas klarstellt, dass die Allgemeinheit nur die Form der intellektuellen Erkenntnis betrifft, nicht das substantielle Sein des Subjekts, mit dem Intellekt-Vermögen. Die auffallende Schärfe, mit der Thomas gegen die Averroisten vorgeht, erklärt sich aus der Gefahr ihrer These für den religiösen Glauben, der ein persönlicher ist und in jedem Individuum ein vernunftbegabtes Subjekt voraussetzt. Dessen war sich jedoch ebenso Averroes für den islamischen Glauben bewusst, weshalb er als Gläubiger bekannte, seiner philosophischen These nicht zustimmen zu können. Dies führte ihn zur Annahme einer zweifachen Wahrheit, die er aber nicht entschieden als Lehre vortrug. Geyer stellt sie in Frage.
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IV) Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
Die als Hochscholastik bezeichnete Periode ist wesentlich geprägt durch die Wiederaufnahme der Philosophie des Aristoteles, dessen Schriften an den entstehenden Universitäten in Oxford, Paris, Bologna, Padua, Köln und Prag studiert wurden, nach ihrer Übersetzung vom Griechischen und Arabischen ins Lateinische. Wir können hier nicht auf die historische Entwicklung eingehen, auch nicht auf den Konflikt mit kirchlichen Autoritäten, die anfänglich Zweifel hatten, ob die aristotelischen Lehren mit dem christlichen Glauben vereinbar seien. Für den Nachweis ihrer Vereinbarkeit haben sich besonders Albert und Thomas v. Aquin erfolgreich eingesetzt.
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1) Alexander v. Hales
Als erster »Scholastiker« dieser Zeit gilt der englische Theologe und Philosoph Alexander von Hales (ca. 1183–1245), der als Vertreter des Franziskanerordens viele Jahre an der Pariser Universität lehrte und in einer ihm zugeschriebenen großen Summa universae theologiae 1 jene Methode entwickelte, die jede Frage im Pro und Contra erörtert. In der Nachfolge der Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus legte seine Summa die gesamte Theologie, nach ihren Hauptteilen gegliedert, dar. Verbunden mit der Philosophie, die der Theologie als untergeordnete Hilfe diente, bezog sie sich erstmals auf alle Hauptschriften des Aristoteles, nicht nur auf die Logik, wie es bisher geschehen war. Doch folgte er vornehmlich der platonisch-augustinischen Richtung. Das Universalien-Problem wird bei ihm befriedigend gelöst durch die Unterscheidung zwischen universalia ante rem, d. h. im Verstande Gottes, universalia in re, nämlich in den Formursachen der Dinge, und universalia post rem, d. h. als Begriffe im menschlichen Verstand. Da das Universale im Verstand eine andere Seinsweise hat als die Wesenheit, die Formursache in den Dingen, ist es freilich terminologisch nicht korrekt, die letztere wieder »Universale« zu nennen. Alexander schließt sich der Ansicht jener an, die lehren, dass alle Dinge aus Materie und Form zusammengesetzt sind, ohne die Schwierigkeit zu verkennen, diese Lehre auch auf die immateriellen Substanzen, wie die Seele, anzuwenden. Hier wäre die Differenzierung des Materie-Begriffs nach analog verschiedenen Bedeutungen nötig. Thomas wird dann das materiale Prinzip in den immateriellen Substanzen genauer als potentielles Prinzip verstehen. Hinsichtlich der Gottesbeweise führt Alexander alle vor ihm 1
Siehe zu den Werken Alexanders v. Hales die Ausgabe, Quaracchi, 1924–60.
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Alexander v. Hales
durchgeführten auf, sowohl die von der Schöpfungsordnung ausgehenden, als auch das ontologische Argument Anselms, dem er auch sonst große Beachtung schenkt. Thomas wird dann klarer zwischen der induktiven und der deduktiven Beweisform unterscheiden und die letztere für unstatthaft erklären. Zur Annahme der Ideen im Verstande Gottes hat er später das Problem erörtert, dass in Gott keine Vielheit sein kann. Es ergibt sich aus einer vom menschlichen Verstand ausgehenden Betrachtung, in welchem sich eine Vielheit von Ideen findet. In Gott hingegen müssen sie, als Ursache der geschaffenen Dinge, in einfacher Einheit angenommen werden.
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2) Siger v. Brabant
Der holländische Philosoph (c. 1240–1281/84) vertrat Aristoteles’ Lehre in averroistischer Form an der Artisten-Fakultät in Paris und geriet in Konflikt mit der Kirche, welche einige Hauptthesen seiner Schriften verurteilte, vor allem die folgenden: dass der Intellekt der Menschen ein einziger sei; dass alle menschlichen Handlungen einer Notwendigkeit seitens der Himmelskörper unterstünden; dass die Welt ewig sei; dass es niemals einen ersten Menschen gegeben habe; dass die Menschenseele, als Form des Leibes, mit ihm zugrunde gehe. 2 Der Versuch, den Konflikt durch die Annahme einer doppelten Wahrheit zu vermeiden, wurde nicht anerkannt. In De aeternitate mundi erörtert Siger die Entstehung des Menschen so, dass Gott nicht den ganzen Menschen erschafft, sondern nur den Intellekt in den Individuen, die aus Materie und Form konstituiert sind und in unabgeschlossener Reihe auseinander entstehen. 3 Im Universalienstreit lehrt Siger an sich zu Recht, dass die Universalien nicht im Individuum, sondern nur im Intellekt sind, gelangt aber nicht zur Einsicht, dass die Universalien die Wesenheit im Individuum bezeichnen, die beim Menschen in der unvergänglichen Vernunftseele liegt.
Siehe: Siger de Brabant, Écrits de logique, de morale et de la physique, ed. B. Bazán, Louvain 1974. 3 Die kontroversen Fragen werden gut von Fernand van Steenberghen dargelegt: Maître Siger de Brabant, 1977. 2
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3) Albert der Große
Albert aus Lauingen (1193 oder 1206/07–1280) ist ein Großer nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie. Sein umfassender Geist war für alle Erkenntnisbereiche aufgeschlossen. Angeregt von den reichhaltigen Inhalten, die Aristoteles’ Schriften in verschiedenen Disziplinen darlegen, folgte ihnen Albert mit entsprechenden eigenen Schriften, die von Logik und Erkenntnistheorie bis zu Naturphilosophie, Psychologie, Metaphysik, Ethik und Politischer Theorie reichten. Er hatte den Plan, das gesamte aristotelische Werk zu erschließen und seiner Zeit zugänglich zu machen. Albert folgte nicht nur der aristotelischen, sondern auch der platonisch-neuplatonischen und augustinischen Tradition. Für die Interpretation bezog er sich auf die arabischen und jüdischen Kommentatoren: auf Alfarabi und dessen Schüler Avicenna, weniger und überwiegend kritisch auch auf Averroes, ferner auf Maimonides u. a. 4 Zudem verwendete er den Liber de causis. Im Überblick gesehen behandelt Albert mit philosophischen Erörterungen dieselben Hauptprobleme wie die anderen, ihm vorangegangenen Theologen: das Universalienproblem; Fragen über Gott, sofern sie nicht die Offenbarungswahrheiten betreffen, sondern von der natürlichen Vernunft einsehbar sind; Fragen über die menschliche Seele mit dem rationalen und irrationalen Vermögen, über den Intellekt, der zwar (nach dem Tode) getrennt vom Leib existieren kann, aber im gegenwärtigen Zustand ein Vermögen der mit dem Leib verbundenen Seele ist. Averroes’ Lehre von dem einen Intellekt, der allen Menschen gemeinsam ist, aber über ihnen steht, wird zurückgewiesen, ebenso auch die Aristoteles zugeschriebene Lehre von der Ewigkeit der Welt, zugunsten der biblischen Auffassung der Weltschöpfung durch Gott. 5 4 5
Siehe die gute Übersicht bei Geyer, 1960, 403 ff. Dem hier gegebenen Überblick dient gut die folgende Ausgabe: A. Fries – W. P.
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Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
Die Lehre von der Ewigkeit der Welt findet sich in der pseudoaristotelischen Schrift Von der Welt (De mundo), die im Mittelalter für eine wichtige Lehrschrift des Aristoteles gehalten wurde. Da Albert sich der Naturphilosophie besonders ausführlich und sorgfältig gewidmet hat, wähle ich als ein Beispiel seiner gewissenhaften Interpretation der aristotelischen Schriften die Textstücke über den menschlichen Embryo aus. Sie sind im Übrigen auch für die gegenwärtige Debatte, wann im Embryo menschliches Leben beginnt, aufschlussreich. Zudem erweist sich, dass – im Gegensatz zu Thomas’ Lehre der Sukzessivbeseelung – dem Albert fälschlich die Simultanbeseelung zugeschrieben wird, was den Texten widerspricht. Im Liber de natura et origine animae, Tractatus primus: De natura animae in corpore, 6 handeln die Kap. 2–4 von der vegetativen und sensitiven Seele und heben hervor, dass sie keine materielle Form ist, noch auch aus der Materie des Sperma hervorgeht, sondern als eine seelische Kraft auftritt, die von den Erzeugern herkommt (und eine Ähnlichkeit »mit den Kräften der Glieder der Erzeuger hat« 10, 31–34). 7 Kap. 5 geht dann zur intellektuellen oder rationalen Seele über. Das rationale Prinzip steht nicht nur über der Materie, sondern auch über dem vegetativen und sensitiven Prinzip; denn es ist an kein Organ gebunden. Es muss also von außen, als von Gott unmittelbar verursacht, in den Embryo eintreten (13, 17–19). 8 Wiewohl aber der Intellekt von außen eintritt (ingreditur in conceptum ab extrinseco), bleibt er doch »nicht außerhalb des Werkes der Natur« (non extra naturae opus, 13, 25–42), sondern wird ein für die menschliche Natur konstitutives und sie vollendendes Prinzip (13, 93 – 14, 10). Das vegetative und sensitive Prinzip sind in ihren Tätigkeiten auf das der geistigen Tätigkeiten hingeordnet, wie Potenzen auf ihren Akt, und bilden mit dem geistigen Prinzip die eine (nach ihm benannte) ratioEckert, Albertus Magnus, Ausgewählte Texte, Darmstadt 1981 (Wiss. Buchges., Texte zur Forschung, Bd. 35). 6 Zitiert wird nach der Gesamtausgabe: Alberti Magni opera omnia (Aschendorff), t. XII, De natura et origine animae, Münster 1955. 7 Diese Aussage lehnt sich an eine Stelle in Aristoteles’ De gen. an. II 4, 740b 26 – 741a 3, an, wonach die Bewegungskräfte, welche die Organe bilden, qualitativ dieselben sind wie die, welche im Erwachsenen den Stoffwechsel leisten. 8 Im Anschluss an Aristoteles, De gen. an., II, 3, 736b 27–29: »… dass nur der Intellekt von außen hinzukommend eintritt und allein göttlich ist«.
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Albert der Große
nale Seele (anima rationalis), 13, 64 – 14, 10. Die Organe des vegetativen und des sensitiven Prinzips, wie z. B. Hände und Zunge, sind zugleich auch Instrumente für den Intellekt, 13, 64–81. Das vegetative und sensitive Vermögen entstehen im Embryo durch eine entsprechende »formende Kraft« (virtute formativa, 14, 18–19), die im männlichen und weiblichen Zeugungsstoff anwesend war. Doch wird diese formende Kraft ihrerseits »informiert« und »bewegt« durch den göttlichen, universell bewegenden Intellekt, indem Er »durch sein Licht« (als eine Wirkung von Ihm) den menschlichen Intellekt in den Embryo einführt, 14, 26–27. Das geistige Vermögen kommt zum vegetativen und sensitiven als ihre Erfüllung (»Ergänzung«, complementum) hinzu, als ihr überformender Akt und Zweck. Diese Aussage ist m. E. im Sinne der Sukzessivbeseelung zu verstehen, während moderne Interpreten Albert eine Simultanbeseelung zuschreiben. Das Kap. 6 legt dar, wie das geistige Prinzip die Vollendung (perfectio) des vegetativen und sensitiven ist und somit des ganzen Menschen (in allen seinen Gliedern). Die menschliche Seele ist die eine zusammengesetzte Substanz mit vielen Vermögen (una substantia … multas potentias), »die in der geistigen Natur wie in ihrem letzten Ziel und Zweck vollendet werden«, 14, 49–57. Die drei Lebenstätigkeiten: lebendiges Sein (esse vivum)
sinnliches Sein (esse sensibile)
geistiges Sein (esse rationale)
und ihre entsprechenden Vermögen treten nacheinander auf. Indem jedes Vermögen jeweils von Potenz in Akt übergeht, ergibt sich insgesamt eine kontinuierliche Entstehung der menschlichen Seele. Dabei waren die Kräfte zur Lebens- und zur Sinnestätigkeit schon in den Zeugungsstoffen anwesend »durch die Kraft der Seele (der Erzeuger) und des ersten (göttlichen) Intellekts«. Dagegen wird der menschliche Intellekt / Geist nur durch Gott selbst verursacht und »in Ähnlichkeit zu Ihm hervorgebracht«, 14, 57–66. Mit den körperlichen Organen ist die menschliche Seele durch die vegetativen und sensitiven Vermögen verbunden, nicht durch das geistige, 14, 66–72, das nach Aristoteles kein körperliches Organ hat. Es ist vom Leib getrennt (d. h. mit ihm nicht direkt in Kontakt) und insofern der göttlichen, ersten Ursache ähnlicher als die zwei 111 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
anderen Vermögen, 14, 72–100. Doch verfügt das geistige Vermögen so über die beiden anderen in allen Teilen des Leibes, dass es als Prinzip in der menschlichen, geistigen Seele als ganzer mit dem ganzen Leib verbunden und »die natürliche Form(ursache) des Menschen« ist (anima rationalis … forma naturalis hominis, 14, 100 – 15, 9). »Im Menschen prägt die rationale Natur ihre Form in die sensitive, durch diese in die vegetative und durch diese in die (materielle) Natur ein, so dass jede Tätigkeit des Leibes in Ausrichtung auf die Form der rationalen (Natur) erfolgt. Daher stimmen Fleisch, Knochen und dergleichen in Form, Spezies und Begriff nicht überein mit Fleisch, Knochen und Nerven (Sehnen) der Tiere«, 15, 21–27. Sie sind also von Beginn an menschliche.
Das vegetative und sensitive Vermögen sind im Menschen in anderer Weise als in den Pflanzen und Tieren, nämlich »gemäß dem Sein der geistigen Seele« (secundum esse rationalis animae); »denn nur die letzte Form gibt (dem Menschen) das Sein der Spezies und Form, und alle vorhergehenden (Formen) sind (nur) wesentliche Potenzen, die durch die letzte Form bestimmt werden.«
Man beachte, dass Albert hier eine zeitliche Folge der Vermögen / Formen im menschlichen Embryo vorstellt. Daher kann zwar das vegetative und sensitive Prinzip getrennt vom geistigen bestehen (wie dies analog in den Pflanzen und Tieren der Fall ist und – so darf man ergänzen – im ersten Stadium des menschlichen Embryos), nicht dagegen das geistige getrennt von jenen (sc. im Menschen, 15, 28–44) 9. Daraus ergibt sich auch, dass der Geist (als Formursache des sensitiven und vegetativen Vermögens) nicht für alle Menschen nur ein einziger sein kann (wie von Averroes fälschlich angenommen), weil auch das vegetative und sensitive Prinzip nicht für alle Menschen nur eines ist, 15, 44–58. Bei der Erzeugung des Menschen »wirkt zwar die Natur durch die Prinzipien, die im Samen sind, zur intellektuellen Seele hin, sie wirkt aber nicht diese Seele selbst, da aus den bewegenden Prinzipien im Samen, welche – durch die Kraft des (göttlichen) Intellekts geformt – in der Erzeugung (die Organe) bewegen, früher Leben als Sinnesempfindung hervorgeht, und früher Sinneswahrnehmung als Intellekt.«
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Vgl. Aristoteles, De an. II 3, 415a 2 ff.
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Albert der Große
Auch diese Stelle legt ein sukzessives Auftreten der drei seelischen Vermögen im menschlichen Embryo nahe. Dementsprechend wird die Vollendung durch den Intellekt nicht kraft eines der in der Materie liegenden Bewegungsprinzipien erreicht, »sondern vielmehr kraft des Lichtes des (göttlichen) bewegenden Intellekts selbst, der erste Ursache ist.« Daher wird die rationale Seele im menschlichen Embryo durch Gott geschaffen und ist eine unmittelbare Wirkung von Ihm, 15, 58–73. Sie ist unter allen natürlichen Formen (naturales formas) die edelste und beste; denn sie umfasst alle anderen Formen (potentiae) unter sich. In Quaestiones de animalibus, liber XVI, Qu. 1–13, legt die Antwort auf Qu. 4 (utrum ista virtus corrumpatur formato foetu) dar, dass die vom Sperma übertragene, seelische Kraft nach der Bildung der Leibesfrucht nur in gewisser Hinsicht »zugrunde geht«, in anderer nicht. Sofern sie nämlich eine vom Erzeuger stammende, bewegende Kraft ist, hört sie auf, wenn sie ihr Bewegungsziel erreicht hat, nämlich ein erstes Organ im Embryo zu bilden. 10 Sofern aber diese Kraft sich in die Seele des beginnenden Organismus verwandelt, besteht sie in ihm fort wie eine Wirkung (effectus), die sich verselbständigt hat aus jener vom Erzeuger stammenden Kraft als ihrer Ursache. Als erstes Organ bildet sich das Herz, das der Sitz der Sinnesseele ist. In De anima, liber III, tract. 5, cap. 4, verteidigt Albert die Auffassung, dass das vegetative, sensitive und intellektuelle Prinzip im Menschen nur eine einzige Substanz ausmachen, gegen falsche Ansichten wie diese, dass die drei Prinzipien drei Substanzen wären. Im Sperma ist keine Seele, sondern nur eine wirkende Kraft, vergleichbar der eines Werkmeisters, der sich des im Sperma eingeschlossenen Pneumas (spiritus) als Werkzeug bedient. An dieser Stelle heißt es (250, 21 ff.): quod spiritus, qui est in semine, est intellectus eo quod operatur ut intellectus practicus alicuius artificis …
Der Begriff »spiritus« ist die Übersetzung des griechischen Begriffes πνεῦμα, der auf das Corpus Hippocraticum zurückgeht und dort die warme Luft in den Lebewesen bedeutet, die bei der Bewegung der Körperglieder mitwirkt. Dieses Pneuma hat auch bei Aristoteles die 10
Vgl. Aristoteles, De gen. an. II 1, 734b 24.
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Funktion eines materiellen Werkzeuges. Albert erläutert den Begriff »spiritus«, dass er nur vergleichsweise Intellekt wie der eines Werkmeisters ist, der ein Instrument gebraucht. Keineswegs will die Stelle sagen, dass im Sperma das seelische Intellekt- oder Geistprinzip sei, wie eine moderne Interpretation sie verstehen möchte. In De animalibus, liber XVI, tract. I, cap. 1, handelt Albert von der Rangordnung des vegetativen, sensitiven und intellektuellen Seelen-Vermögens. Die Erörterung holt weit aus und beginnt bei dem allgemeinen Grundsatz: »Jedes Werk der Natur geht auf jenen Intellekt zurück, der erster Beweger ist«. 11
Er verursacht mittels der »himmlischen Kräfte« (virtutes coelestes), die der Vielzahl der Bewegungen und Stellungen der Himmelskörper entsprechen, die Kräfte (virtutes) der einfachen Elemente und ihrer Mischungen hier auf Erden. Im feuchten Gemisch eines Organismus wirken die himmlischen Kräfte »ein dem Himmel ähnliches Gleichgewicht« zwischen den extremen Gegensätzen aktiver und passiver Eigenschaften und machen es fähig, Lebenstätigkeiten der Seele aufzunehmen. In den Zeugungsstoffen ist nur uneigentlich Seele, nämlich in Form von Kräften, die potentiell Seele sind. Wie ein Künstler bedienen sie sich der Wärme als Instruments, die zu den materiellen Kräften gehört. Die seelischen Kräfte sind Prinzipien des Lebens, die zu Lebenstätigkeiten führen: »Und wenn sie die Lebenstätigkeiten manifestieren, (dann) wird auch die Ergänzung (Erfüllung) der Seele durch den Intellekt sein« (complementum erit per intellectum). Damit ist eindeutig ausgesagt, dass der Geist zu den niedrigeren Seelenvermögen später ergänzend hinzukommt (man beachte das Futur: erit). Nach Alberts Auffassung, welche der aristotelischen folgt, liegt also eine sukzessive, keine simultane Beseelung des menschlichen Embryos vor, wie fälschlich angenommen worden ist. Die Geistseele wird von Gott geschaffen. Ihrem Eintritt im Menschen dienen als vorbereitende Mittel das schon vorhandene vegetative und sensitive Prinzip.
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Zitiert aus der Ausgabe von A. Borgnet, t. XII, Paris 191, 158.
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4) Thomas v. Aquin
Das Wirken des großen Theologen Thomas v. Aquin (1225–1274) fällt, wie schon das seines Meisters Albert, in die Zeit der Rezeption der Aristoteles-Schriften an den neuen Universitäten, wo sie zunächst dem Verdacht der kirchlichen Autorität ausgesetzt waren, den christlichen Glauben gefährdende Ansichten zu enthalten. Wir können hier nicht Thomas’ überragende theologische Leistung würdigen, sondern nur auf die wichtigsten philosophischen Lehren eingehen. Thomas sah eine wichtige Aufgabe darin, Aristoteles’ Werke zu studieren, um ihre Vereinbarkeit mit dem Glauben zu erweisen und sie für die philosophische Grundlage der Theologie zu verwenden. Er schrieb umfangreiche Kommentare zu den aristotelischen Hauptwerken: den Zweiten Analytiken, der Physik, Metaphysik, Nikomachischen Ethik und Politik, und bezog wichtige Lehrstücke in seine eigenen theologischen Schriften ein: in die Summe gegen die Heiden, Summe der Theologie, Über die Wahrheit u. a., wie im Folgenden zu zeigen ist. Außerdem verfasste er eigene philosophische Schriften: Über Seiendes und Wesenheit, Über die Einheit des Intellekts, gegen die Averroisten, Über die abgetrennten Substanzen u. a., denen wir besondere Aufmerksamkeit widmen wollen.
Über Seiendes und Wesenheit Kap. 1 Diese Schrift handelt, wie ihr Titel anzeigt, von zwei grundlegenden Begriffen der traditionellen, auf Plato und Aristoteles zurückgehenden Metaphysik: »Sein« und »Wesenheit« der Dinge liegen allen Disziplinen zugrunde; denn alle setzen für ihre Gegenstände voraus, dass sie sind und eine bestimmte Wesenheit haben. Die Schrift fällt in die ersten Jahre von Thomas’ Lehrtätigkeit an 115 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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der Universität Paris (1252–1256). Sie bietet eine unverfälschte und erschöpfende Interpretation von Aristoteles’ Lehre über die Substanz in Metaph. Buch VII. Ausgehend von den Weltdingen als Seiendem, d. h. sofern sie sind, schreitet sie zu ihrer Wesenheit fort (Kap. 1). Da das Seiende zwei Bedeutungen haben kann, die nach den zehn Kategorien und die des Wahrseins, wird nur das substantielle Seiende nach der ersten Kategorie berücksichtigt und seine Wesenheit (essentia) untersucht. Sie ist die Ursache, wodurch die Dinge ihr Sosein haben. Sie heißt auch Washeit (quiditas), weil sie Gegenstand der Definition ist, die nach dem Was der Dinge fragt, ferner Form(ursache; forma), weil von ihr die Materie der Dinge in bestimmter Weise geformt wird, und Natur (natura), weil auf sie die Tätigkeit der Dinge zurückgeht. Die philosophische Untersuchung muss beim Sein der Dinge, nach der ersten, der Substanz-Kategorie, beginnen, um zu ihrer Wesenheit (essentia) fortzuschreiten. 12 Kap. 2 Die Wesenheit der zusammengesetzten Substanzen umfasst nicht nur die Form(ursache), sondern auch die Materie; denn – so begründet dies Thomas – »durch die Form, die der Akt der Materie ist, wird die Materie zu einem aktuell Seienden und zu diesem Etwas gewirkt (per formam enim, quae est actus materiae, materia efficitur ens actu et hoc aliquid). Um diese Begründung nicht misszuverstehen, ist zu beachten, dass sie von den belebten Naturdingen ausgesagt wird, die aus Materie- und Formursache konstituiert sind. Bei ihnen ist die Formursache, genau genommen, die des ganzen Naturdinges und nur insofern auch der Materie, als sie zu diesem bestimmten Naturding geformt wird; denn an sich hat die – aus den Elementen bestehende, allen spezifisch bestimmten Naturdingen gemeinsame – Materie ihre eigene Form, die verschieden ist von der je spezifisch geformten Materie eines bestimmten Lebewesens. Ähnlich wie sich die Materie unbestimmt verhält zu den durch die Form gewirkten Bestimmungen, so verhält sich auch die Gattung unbestimmt zu den Bestimmungen der Art; denn sie sind in der Gattung unbestimmt enthalten. Wenn die Wesensdefinition eines DinSiehe auch die Ausgabe von A. Lobato: S. Tomás, De ente et essentia, in: Ediciones de A. Lobato, Città Nuova, Roma 1989.
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Thomas v. Aquin
ges (z. B. des Menschen) gesucht wird, die von der Gattung (Lebewesen) ausgeht, so kommen die artbildenden Differenzen (landbewohnend, zweifüßig), welche die Gattung näher zur Art (Mensch) hin bestimmen, zu ihr nicht wie von außen hinzu, sondern als in ihr der Möglichkeit nach mit befasst. Sie sind eine weitere Vollkommenheit, die das Ding als arteigene erlangt. Somit bezeichnet die Gattung (Lebewesen) nicht nur die Materie (Leib), sondern unbestimmt das ganze Ding (Mensch), welches in bestimmter Weise die Art wiedergibt. Ebenso bezeichnet auch der artbildende Unterschied (spezifische Differenz: zweifüßig) nicht die Form allein (Seele), sondern das ganze Ding. Die Gattung wird von der Materie her genommen, der artbildende Unterschied von der Form her, doch ist die Gattung nicht mit der Materie identisch, noch der Artunterschied mit der Form. Vielmehr stehen Gattung, Artunterschied und Art nur im Verhältnis zueinander wie Materie, Form und zusammengesetztes Ding. Die Wesenheit macht einen Teil des ganzen Dinges aus, neben den Akzidenzien, und kommt in den Blick, wenn von diesen abgesehen wird, die mit der geformten Materie (materia signata) zusammenhängen. Dagegen wird die Wesenheit vom ganzen Ding betrachtet, das eine spezifisch bestimmt geformte Materie hat. Thomas erörtert zwei Probleme: Wenn die Wesenheit die Materie einschließt, und die Materie das Individuationsprinzip ist, so wird die Wesenheit ein Einzelding, das nicht mehr allgemein ausgesagt werden kann. Die Lösung geht dahin, dass die Materie Individuationsprinzip nur als die bestimmt geformte ist, während die in der Wesenheit enthaltene Materie die unbestimmte Materieursache ist, durch die daher die Wesenheit nicht individuiert wird. Das andere Problem ist dies: Da die Gattung als Eines von den Arten ausgesagt wird, könnte es scheinen, dass sie sich auf eine numerisch einzige Natur bezieht. So verhält es sich aber nicht. Vielmehr bezeichnet die Gattung etwas Gemeinsames in den einzelnen Arten und ist Eines nur als Abstraktes im Verstand. Man darf also das Verhältnis von Gattung und Artunterschied nicht mit dem von Materie und Form gleichsetzen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen Art und Individuum, als zwischen dem weniger und dem voll Bestimmten.
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Kap. 3 Gattung, Artunterschied und Art bezeichnen immer das ganze Ding (z. B. Sokrates), können also nicht direkt die Wesenheit bezeichnen, die nur einen Teil im Ding ausmacht, ebenso wenig eine Wesenheit außerhalb der Dinge (nach platonischer Lehre). Vielmehr können Gattung, Artunterschied und Art sich nur insofern auf die Wesenheit beziehen, als diese für das ganze Ding steht, wie wir in uneigentlicher Weise z. B. auch von Seele als vom ganzen Menschen sprechen. Die Wesenheit kann auf zweifache Weise betrachtet werden: a) in absoluter Weise gemäß ihrem eigenen Begriff, z. B. vom Menschen nur als »Lebewesen« und als »rational«, ohne Hinzufügung von Akzidenzien oder der Anzeige, ob sie als eine oder viele existiert; b) in relativer Weise, sofern sie sich in diesem oder jenem Individuum befindet. Dann kann auch Akzidentelles von ihr mit ausgesagt werden, das dem Individuum zukommt. So betrachtet hat die Wesenheit ein zweifaches Sein, eines in den Einzeldingen und eines in der Seele. In beiden Fällen kann Akzidentelles von ihr mit ausgesagt werden. In den Einzeldingen hat es ein vielfältiges Sein, wegen der Verschiedenheit der Einzeldinge, und doch kommt ihr, absolut betrachtet, kein vielfältiges Sein zu. »Es ist nämlich falsch zu sagen, dass die Wesensnatur des Menschen als solche das Sein in diesem Individuum habe; denn wenn das Sein in diesem Individuum dem Menschen als Menschen (wesentlich) zukäme, würde sie niemals außerhalb dieses Individuums sein.« Daraus ergibt sich: Wenn man die Wesenheit absolut für sich betrachtet, dann sieht man von ihrem Sein in etwas ab, ohne dass für sie ausgeschlossen wird, in etwas zu sein. So betrachtet, kann sie daher von allen Individuen ausgesagt werden. Diese auf Aristoteles zurückgehenden Bestimmungen übernehmen seine wichtige, reale Unterscheidung zwischen Wesenheit und Sein/Dasein der Dinge. Das Allgemeine, in der Erkenntnis der Wesenheit, findet sich nicht im Individuum, z. B. Sokrates, sondern nur im Intellekt, und zwar als Abstraktes, das auf die individuellen Dinge bezogen bleibt, aber vom Individuellen in ihnen absieht. Es bezeichnet etwas Gemeinsames in den Individuen und findet sich im Intellekt der individuellen Menschen. Zurückgewiesen wird Averroes’ Ansicht, der von der Allgemeinheit des Erkenntnisinhaltes im Intellekt auf dessen ein-
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Thomas v. Aquin
malige Einheit zurückschließt, so dass alle individuellen Menschen nur einen einzigen Intellekt haben. Da sich die Wesenheit des Menschen in absoluter Betrachtung auf das Individuum, z. B. Sokrates, bezieht, und ihr als solcher der Artbegriff nicht zukommt, der vom Individuum absieht und sich nur im Intellekt findet, wird vom Individuum, Sokrates, der Artbegriff nicht ausgesagt: »Sokrates ist die Art«. Wohl aber wird von der Art die Gattung ausgesagt. Anschließend behandelt Thomas (Kap. 4) die Wesenheit in den nicht-zusammengesetzten, einfachen Substanzen, d. h. in der Seele, in den Intelligenzen / den Engeln und in Gott, und lehnt die Ansicht des Avicebron ab, der auch in der Seele und den Engeln eine Materieund Formursache annimmt. Vielmehr ist bei ihnen ihre Verschiedenheit nur in den unterschiedlichen Prinzipien der Potentialität und Aktualität begründet. Zusammenfassend gesehen (Kap. 5), findet sich das Verhältnis von Sein und Wesenheit in verschiedener Weise auf den verschiedenen Realitätsstufen: in Gott fällt seine Wesenheit mit seinem Sein in einzigartiger Weise zusammen. Diese darf nicht als ein Allgemeines missverstanden werden, sondern ist als höchste, vollkommene Seinsursache erstes Analogieprinzip für alles Seiende. Zuletzt wird noch die Wesenheit der Akzidenzien erwähnt (Kap. 6), welche die Substanz voraussetzt. Daher muss die Definition der Akzidenzien die ihnen zugehörige Substanz aufnehmen.
Über die Einheit des Intellekts. Gegen die Averroisten Diese Abhandlung (von 1270) stellt Aristoteles’ Lehre über den Intellekt in der Schrift Über die Seele (De anima, III, 4–5) dar und bietet von Hauptabschnitten in ihr eine eingehende Textanalyse. Sie ist veranlasst durch die falsche Interpretation des Averroes und seiner Anhänger von Aristoteles’ Aussagen über den Intellekt, als spräche er von einem einzigen Intellekt, der über allen Individuen stünde. Thomas erkennt, vom christlichen Standpunkt aus, die unannehmbaren Folgen dieser irrigen Auffassung und weist sie zurück, betont aber zu Beginn seiner Abhandlung, dass er sie nicht vom christlichen Glauben aus widerlegen werde, sondern nur aus dem aristotelischen Text selbst. 119 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Averroes wurde zu seiner falschen Textauslegung durch zwei Probleme geführt, die sich nur, wie er meinte, mit seiner Auslegung auflösten. Das erste Problem betrifft Aristoteles’ Lehre, dass die Seele die Form des Leibes ist, die nach Averroes nur für die Sinnesseele gelten kann, nicht für die intellektuelle (anima intellectiva); denn die Seele als Form des Leibes vergeht mit diesem, während der Intellekt unsterblich ist. Daher nimmt er den Intellekt als für sich bestehende Substanz außerhalb der Menschenseele an. Nach Thomas und anderen Auslegern jedoch spricht der Text von der Seele einschließlich des Intellekts, der das höchste Prinzip in ihr ist, und enthält folgende Lösung: Nicht der Intellekt als Teilvermögen der Seele, sondern die Seele als ganze ist die Form(ursache) des Leibes, wobei der Intellekt das höchste Prinzip in ihr ist. Das zweite Problem liegt in Aristoteles’ Lehre vom Intellekt, dessen Erkenntnis allgemein, notwendig und objektiv ist. Daher kann er nach Averroes nicht im individuellen Einzelmenschen sein, der als solcher nur Einzelnes erkennt. Hiergegen zeigt Thomas auf, dass die Texte eindeutig vom Intellekt im Einzelmenschen sprechen. Dies begründet sich daraus, dass die Erkenntnis sich zwar in der allgemeinen, wissenschaftlichen Erkenntnis vollendet, aber von der sinnlichen Erkenntnis am konkreten Einzelnen ausgeht. Aus ihm wird durch den Abstraktionsprozess das Allgemeine gewonnen, das nur im Intellekt ist, sich aber auf die Einzeldinge bezieht. In Kap. 1 geht Thomas von De an. II, 1–2, aus, wo die Seele definiert wird als »erste Wirklichkeit (entelécheia, actualitas; als Formursache) des organischen Leibes, der potentiell Leben hat«. Sie ist bei den Pflanzen mit dem vegetativen Lebensprinzip, bei den Tieren auch mit dem sensitiven begabt. Beim Menschen kommt das intellektuelle Prinzip hinzu. Der ersten Definition folgt im Text eine zweite. Sie ergibt sich aus den verschiedenen Lebensfunktionen, die beim Menschen auch die intellektuellen einschließen. Die Seele ist sonach die Lebensursache der Lebewesen, auch beim Menschen, zu dessen Seele der Intellekt als Lebensprinzip gehört, wie Thomas richtig auslegt (Nr. 3–13). Wie Thomas in Kap. 2 ausführt, legt Aristoteles in De an. III, 4–5 den Intellekt als höchstes Vermögen der Menschenseele dar, mit dem sie erkennt und denkt, und kennzeichnet ihn (im Anschluss an Anaxagoras) als »leidensunfähig« und »unvermischt«, im Gegensatz zu den körperlichen Elementen. Der Intellekt vollzieht die ihm eigene 120 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Thomas v. Aquin
(allgemein notwendige, wissenschaftliche) Erkenntnis, anders als die Sinne, ohne Körperorgan und verhält sich zu allen Dingen potentiell. Da der Text sagt (III, 4, 429b 5), dass »der Intellekt abgetrennt ist«, missverstehen dies die Averroisten so, als wäre er eine unabhängige Substanz außerhalb der Seele, was Thomas mit Recht korrigiert; denn nach dem Zusammenhang besagt der Text nur, dass der Intellekt »abgetrennt« als an kein Organ gebunden tätig ist, aber nichtsdestoweniger als Vermögen in der Seele (Nr. 25–27). Ferner interpretiert Thomas richtig, dass nach Aristoteles »die Seele Akt des Leibes nicht durch ihre Vermögen ist, vielmehr ist sie durch sich selbst Akt des Körpers, indem sie dem Körper sein spezifisches (Lebewesen-)Sein gibt« (Nr. 28). Es ist also zwischen dem substantiellen Sein der Seele und ihren Funktionen in verschiedenen Vermögen zu unterscheiden. Die Auffassung, dass der Intellekt Vermögen der Seele ist, die als Formursache des Leibes wirkt, erhärtet Thomas »mit Verstandesargumenten« in Kap. 3 aus Textstellen in Aristoteles’ De anima III, 4–5, seiner Methode folgend, wonach die seelischen Vermögen aus ihren Tätigkeiten, und diese aus ihren Objekten zu bestimmen sind. Die Tätigkeit des Intellekts ist seine unsinnliche Erkenntnis der Wesenheit der Dinge. Für diese intellektuelle Tätigkeit ist die Seele die Ursache durch das Intellekt-Vermögen. Die Seele aber ist die Formursache des Leibes bzw. des Menschen. Nach Averroes ist es unmöglich, dass der Intellekt die Seele des Menschen sei, weil diese nur in der Sinnesseele bestehe, die mit dem Leib zugrunde gehe. Mit der Sinnesseele sei der Intellekt nur durch die Vorstellungsbilder (phantasmata) verbunden. Ohne hier auf Thomas’ Gegenargumente im Einzelnen eingehen zu können, sei ein Hauptargument hervorgehoben, das vom intelligiblen Objekt ausgeht, von dem der Intellekt »die intelligible Spezies« (species intelligibilis, d. h. die Artbegriffe) gewinnt. Da sie aus den sinnlichen Spezies abstrahiert worden ist, erweist sich klar die Zugehörigkeit des Intellekts zur Seele des Menschen, die nicht nur eine sinnliche, sondern auch – zugleich und entscheidend – eine intellektuelle Seele ist (Nr. 60–66). Ferner hat der Mensch, wie jedes Ding, seine Einheit aus seiner Formursache, die seine intellektuelle Seele sein muss, deren sich der Intellekt im einzelnen Individuum auch bewusst ist (Nr. 67 ff.). In Kap. 4 erörtert Thomas die These der Averroisten, dass der 121 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Intellekt nicht die Seele des Menschen oder deren Teil sei, sondern als unabhängige Substanz für sich bestehe. Dabei bleibt offen, ob sie vom »tätigen Intellekt« oder vom »möglichen Intellekt« sprechen. Diese bekannte Unterscheidung machen alle Interpreten von Aristoteles’ De anima, wo er in III, Kap. 4, vom Intellekt handelt, der zunächst alles »in Möglichkeit (Potenz) ist«, dann in Wirklichkeit (Akt), sowie in Kap. 5 vom Intellekt, »der alles wirkt«, und verstehen beide Texte als von zwei verschiedenen Intellekten handelnde. Demgegenüber ist jedoch die richtige Interpretation die, dass der Intellekt, der jedes Objekt zuerst »in Möglichkeit, dann in Wirklichkeit denkt«, identisch ist mit dem »tätigen Intellekt«; denn um an einzelnen Objekten in aktuelle wirkliche Erkenntnis übergehen zu können, muss der Intellekt schon in einem ersten Akt sein, der zwar noch nicht intellektuelle Erkenntnis ist, wohl aber sie vorbereitet, indem er aus den Phantasmen das Intelligible abstrahiert. 13 Jedenfalls aber sagt Aristoteles, dass der einzelne Mensch mit dem Intellekt erkennt, also dieser in jedem ist, nicht ein einziger Intellekt über allen Einzelmenschen. Man vergleiche damit Aristoteles’ Lehre vom Menschen, dass er wesentlich »Intellekt ist, oder größtenteils« 14. Käme allen Menschen nur ein einziger Intellekt, außerhalb von ihnen, zu, so wären diese nur Sinneswesen, weil ohne je eigenen Intellekt, auch ohne eigene, individuelle intellektuelle Überlegung, freie Wahl und Entscheidung. »Dies widerspricht der Evidenz und zerstört die ethische Wissenschaft, sowie alles, was das bürgerliche Zusammenleben betrifft, das den Menschen von Natur eignet, wie Aristoteles sagt« (Nr. 87). Besonders aus den Erkenntnistätigkeiten, mit denen der Intellekt seine eigene begriffliche Erkenntnis aus der Sinneserfahrung gewinnt und sich zuerst potentiell verhält, um sie dann aktuell zu vollziehen, wird klar, dass sie in jedem Einzelnen erfolgen, und jeder seinen Intellekt hat. Im Kap. 5 weist Thomas die Argumente der Averroisten gegen eine Vielzahl von Intellekten zurück, die sich hauptsächlich darauf Die von mir korrekt wiedergegebene Interpretation ist in die Ausgabe: Grundriss der Gesch. d. Philos., Bd. 3 (Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos, hrsg. v. H. Flashar), Basel 1983, eingegangen, siehe dort S. 417. Vgl. auch meine Ausgabe: Aristoteles, Über die Seele / De anima, Text u. Übersetzung, mit Einleitung u. Kommentar, Hamburg 1995 (Meiners Philosophie. Bibl. 476). 14 Ethica Nicom. IX, 9, 1169a 2. 13
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Thomas v. Aquin
beziehen, dass jede Vielzahl innerhalb einer Spezies auf der Materie als Individuationsprinzip beruht, während der Intellekt nicht mit Materie verbunden ist. Dagegen stellt Thomas klar, dass das individuelle Sein einer Substanz nicht nur in der Materie gründen muss, sondern auch in seinem substantiellen Sein selbst gründen kann; denn das Eines-sein kommt jedem substantiell Seienden als solchem zu (Nr. 97), wie aus Aristoteles’ Metaphysik hervorgeht 15. Ferner, während die Menschenseele zwar im Körper individuell existiert, gilt dies nicht gleicherweise wieder für den Intellekt, der oberstes Prinzip in der Seele ist. Ein wichtiges Argument gewinnt Thomas vom Erkenntnisobjekt des Intellekts her; denn dieses liegt nicht, wie die Gegner meinen, in den allgemeinen Begriffen (species) als solchen, sondern in der Natur oder Wesenheit (natura sive essentia) der sinnlich erfahrbaren Dinge selbst, auf die sich die Begriffe beziehen (Nr. 105–107). Im Hintergrund steht Aristoteles’ Kritik an Plato, der die Wesenheiten der Sinnesdinge von ihnen getrennt hat. Der Intellekt richtet sich auf die Sinnesdinge selbst, was beweist, dass er in jedem Individuum ist, da ja die Individuen mit den Dingen in Kontakt stehen.
Über die abgetrennten Substanzen Dieser Traktat (von 1268) behandelt die Frage, was der menschliche Intellekt aus eigenem Vermögen, ohne den Offenbarungsglauben, von den abgetrennten Substanzen, d. h. von der Seele, den Engeln und Gott, erkennen kann, angesichts der Tatsache, dass der Intellekt von Bedingungen der Sinneserkenntnis ausgehen muss. Er hat die immateriellen Gegenstände, welche dem Bereich der Prinzipien der Sinnesdinge angehören, nicht zum direkten Objekt. Dieser Gesichtspunkt ist besonders wichtig, da in der Neuzeit die Metaphysik des Rationalismus über Gott als ihr direktes Objekt philosophiert und in Irrtümer gerät, die dann Kant teilweise zu Recht kritisiert hat. Doch ist Kants Konsequenz, die menschliche Erkenntnis auf die empirische Erscheinungswelt zu beschränken, ebenso kritikwürdig. Die aristotelisch-thomistische Position ist in diesem Punkt sehr ausgewogen. 15
Siehe Metaph. IV, 2, 1003b 31–32.
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Die genannte Frage beantwortet Thomas in der Weise, dass er zu ihr die Ansichten der früheren Denker von der Antike bis zu seiner eigenen Zeit erörtert, die Irrtümer abweist und das Wahre aufnimmt. Die Kap. 1–4 gehen die Ansichten der Vorsokratiker, Platos und Aristoteles’ durch. Die letzteren haben von den Himmelsbewegungen der Fixstern- und Planetensphären immaterielle Substanzen als ihre beseelenden Bewegungsursachen angenommen. Die Annahme solcher immaterieller Substanzen hat Thomas begrüßt, jedoch die Bestimmung ihrer weiteren Eigenschaften aus den materiellen Gegebenheiten der Himmelssphären für unbefriedigend gehalten. In Kap. 5–8 widerlegt Thomas ausführlich die Lehre des Avicebron, dass alle abgetrennten Substanzen, die unter Gott stehen, aus Form und Materie zusammengesetzt sind; denn es ist evident, dass es zum Wesen der abgetrennten Substanzen selbst gehört, nicht zusammengesetzt, unteilbar und somit immateriell zu sein. Die abgestufte Ordnung der abgetrennten Substanzen beruht nicht auf einer verschiedenen Abhängigkeit von materiellen Grundlagen, sondern auf einer verschieden abgestuften Potentialität, einem Nicht-Sein, das ihrem an sich aktuellen Sein anhaftet, je nach ihrem Abstand vom ersten göttlichen Prinzip, das reine Aktualität ist (Nr. 80). Es werden dann weitere Bestimmungen der abgetrennten Substanzen erörtert, Kap. 9–12: dass sie, mit ihren wesentlichen Eigenschaften, von Gott geschaffen sind, ohne Vermittlung anderer Himmelswesen und als untereinander ungleiche Substanzen. Es folgen dann weitere Erörterungen, Kap. 13–14, über die Erkenntnis und Providenz der spirituellen Substanzen und Gottes. Seine Erkenntnis allein ist allumfassend, Kap. 16. Widerlegung der manichäischen Lehre, Kap. 17. Die letzten Kap. 18–20 gehen auf die Eigenschaften der Engel ein, die uns aus der Hl. Schrift bekannt sind.
Summe gegen die Heiden, Summe der Theologie In den beiden Summen ordnet Thomas alle Teilgebiete der christlichen Theologie zu einer organischen Einheit zusammen. Der zeitlich früheren Summe gegen die Heiden (1261–1263) ist es eigentümlich, dass sie sich häufig auf Aristoteles’ Schriften bezieht und Teile von ihnen interpretiert, während die nachfolgende Summe der Theologie (S.th.) in ihrer Gesamtdarstellung systematischer und allgemeiner 124 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Thomas v. Aquin
ist, so dass wir uns auf sie beschränken und die philosophischen Textstücke besprechen. Die S.th. gliedert sich in drei Hauptteile: Der erste Teil (prima pars) handelt von Gott (quaestio – im Folgenden abgekürzt q. –, 1–26), seiner Dreifaltigkeit (q. 27–43), der Schöpfung (q. 44–49), der Engellehre (q. 50–64), dem Siebentagewerk der sichtbaren Schöpfung (q. 65–74), der Lehre über den Menschen (q. 75– 102) und über Gottes Herrschaft in der Schöpfung (q. 103–106). Hieran schließen sich ergänzende Erörterungen über das Wirken der Engel an, das Fatum und die Übertragung der Seele bei der Erzeugung des Menschen (q. 107–119). Der zweite Teil (secunda pars), in zwei Hälften unterteilt, handelt in der ersten (prima secundae, q. 1–114) von der philosophischen Ethik, d. h. von der Glückseligkeit und der Gutheit des Menschen, sowie von den Passionen, sodann von den Tugenden, anschließend von den Geistesgaben und den Sünden, ferner vom Gesetz im allgemeinen, wie im biblischen Sinne. Die zweite Hälfte (secunda secundae, q. 1–189) behandelt die theologalen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe), die ihnen entgegengesetzten Sünden, sodann die Klugheit und ihr Gegenteil, die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die Religion sowie weitere spirituelle Tugenden und die ihnen entgegengesetzten Laster, schließlich die Mystik und die Vollkommenheit des Menschen. Der dritte Teil (tertia pars) behandelt die Christologie mit allen sie betreffenden Glaubensfragen und ist rein theologischer Natur, wobei er sich auf die ersten beiden Teile stützt, einschließlich ihrer philosophischen Grundlagen. Vom ersten Teil der S.th. wähle ich einige philosophisch wichtige Textstücke aus und beginne mit denen in q. 1, articulus (abgek. Art.) 5 ff., die das Verhältnis zwischen hl. Theologie und Metaphysik betreffen; denn es gibt Ansichten von Philosophen, welche ihre Disziplin höher stellen als die theologische, weil diese auf philosophischen Grundlagen aufruht, und die Theologie als Wissenschaft anfechten, weil jede Wissenschaft aus vorgegebenen, ihr übergeordneten Ursachen ihren Gegenstand begründet, während die Theologie, die von Gott als höchster Ursache von allem handelt, nichts ihr Übergeordnetes mehr hat. Thomas klärt die Fragen so, dass die Theologie der Philosophie vorgeordnet ist, weil sie sich auf göttliche Offenbarung stützt. Ferner geht sie wissenschaftlich vor, weil ursächlich argumen-
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tierend. Sie erklärt die Glaubensinhalte aus Gott als der sich offenbarenden Ursache. Die folgenden Quästionen 2–26 erörtern die Existenz und die allgemeinen Wesenseigenschaften Gottes und beginnen mit der Frage, ob Gott existiert, q. 2. Zuerst wird dargelegt, dass sich die Existenz Gottes nur induktiv beweisen lässt, nicht deduktiv, wie bei Anselm, der sie wie etwas an sich Bekanntes versteht und sie aus der Wesenheit Gottes zu beweisen versucht, Art. 1–2. Von Gott ist uns seine Wesenheit nicht schon an sich bekannt, auch nicht der von Anselm angeführte Wesensbegriff von Gott als dem, »in Bezug auf den nichts Größeres gedacht werden kann«. Richtig bemerkt Thomas, dass ein Schluss auf Gottes Existenz, die in seiner Wesenheit eingeschlossen sei, schon seine Existenz voraussetzt. Aristoteles stellt zu Recht fest, dass man von einem Ding nicht seine Wesenheit kennen kann, wenn es nicht schon als existent gegeben ist (Anal. post. II, 8). Der Versuch in Anselms Argument, von der gedachten Existenz Gottes zur realen überzugehen, führt doch nur zu einer gedachten realen Existenz. Die bekannten fünf »Wege«, in Art. 3, die auf die Existenz Gottes schließen, sind induktive Beweise, die jeweils von den Weltdingen ausgehen, um von ihnen als Wirkungen einer ersten, transzendenten Ursache auf diese zu schließen. Der erste Beweis schließt von der Bewegung der Dinge auf ihre erste Ursache; der zweite geht von Wirkursachen in den Dingen aus, die auf eine erste transzendente verweisen; der dritte Beweis handelt von der Möglichkeit der Dinge, zu sein oder nicht zu sein, die in ihrer Materie liegt und den Rückgang in notwendige Formursachen erfordert, schließlich in eine erste absolut notwendige; der vierte Beweis geht von transzendentalen Eigenschaften der Dinge, wie des Guten und Wahren, aus, die in Stufen / Graden des Weniger und Mehr auftreten und eine erste Ursache erfordern, die jene Eigenschaften im höchsten Grade hat; der fünfte Beweis handelt von der Zweckmäßigkeit in den Naturdingen, die zunächst auf Zweckursachen in ihnen verweist, sodann auf eine erste, transzendente, von welcher jene zweiten abhängen. Die fünf Wege sind an sich naturphilosophische und teilweise metaphysische, die zu »Gottesbeweisen« dadurch werden, dass jeweils die erste Ursache, zu der sie führen, mit Gott gleichgesetzt wird. 126 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Thomas v. Aquin
Sie waren in der Neuzeit, seit Kant, immer wieder, bis heute, der Kritik ausgesetzt, dass sie nämlich von Ursachen in der empirischen Welt unstatthaft auf eine erste Ursache schließen, die jedoch einem idealen Bereich angehört. 16 Der Kritik entgeht, dass die empirischen Sinnesdinge selber in sich transzendentale, intelligible Aspekte haben, die transempirisch sind und nur vom Intellekt erfasst werden, angefangen bei ihrem schlichten Sein, Dasein, Etwas-sein, ja schon bei ihrem Bewegt-sein, einem mangelhaften Sein. Dies legt die klassische Ontologie dar, die für die Gottesbeweise vorausgesetzt wird, aber der modernen Kritik entgangen, weil gar nicht mehr bekannt ist. 17 Es ist also zu beachten, dass die fünf Wege von transzendentalen Aspekten der Weltdinge auf ihre erste transzendente Ursache schließen, die dann mit Gott gleichgesetzt wird (quod omnes dicunt Deum). Diese Gleichsetzung ist nicht Bestandteil der (an sich rein philosophischen) Beweise, sondern eine Hinzufügung, die aus religiösem Interesse erfolgt. Anschließend erörtert Thomas, q. 3 ff., allgemeine Wesenseigenschaften Gottes mit Argumenten der Metaphysik und Natürlichen Theologie, die wir hier nicht im Einzelnen wiedergeben können. Erwähnt seien wenigstens der Art. 3: ob Gott mit seiner Wesenheit identisch ist, und Art. 4: ob in Gott Wesenheit und Sein identisch sind. Dass Gott mit seiner Wesenheit identisch ist, wird klar aus dem Vergleich mit den geschaffenen Weltdingen, die aus Materie und Form konstituiert sind. Sie haben Wesentliches, das in ihrer Formursache liegt, und Akzidentelles, das ihrer Materie zugehört. Also ist hier jedes Ding nicht mit seiner Wesenheit identisch. Anders bei Gott und den geistigen Wesen, die keine Materie haben. Bei ihnen fällt die Wesenheit mit dem Ding zusammen (Art. 3). Nun sind zwar die geistigen, immateriellen Geschöpfe nicht aus Materie und Form konstituiert, gleichwohl aber aus ihrer Wesenheit und ihrem Sein, so dass bei ihnen Sein und Wesenheit verschieden sind. Nun gilt: Was außerhalb der Wesenheit liegt, muss verursacht sein, und zwar entweder durch die Wesenheit, d. h. die Wesensursachen, oder durch eine andere Ursache. Von ihnen sind aber nur jene Siehe z. B. Anthony Kenny, The Five Ways, der die fünf Wege vom empiristischen Standpunkt aus kritisiert. 17 Auf die moderne Kritik geht meine Abhandlung näher ein: Thomas v. Aquin, Die Gottesbeweise. 16
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Eigenschaften verursacht, die einer bestimmten Gattung der Dinge angehören. Nicht so hinsichtlich des Seins, das allen Dingen überhaupt gemeinsam ist und daher von einer transzendenten Ursache abhängt. Dies kann aber von Gottes Sein nicht gelten, da er selbst die erste Ursache von allem ist. Also fällt in ihm das Sein mit seiner Wesenheit in eins zusammen. Gegen moderne Kritik ist zu betonen, dass die Aussage von Gott als dem Sein selbst, ipsum esse subsistens, keine leere logische Tautologie ist, sondern von voller ontologischer Bedeutung; sie besagt Gottes Seinsfülle als erste Urache von allem. Heidegger hat die Tradition, die vom Sein selbst sprach, verworfen und der »Seinsvergessenheit« bezichtigt. Er beginnt seine neue Metaphysik mit der »Seinsfrage«: was wir eigentlich meinen, wenn wir vom Sein sprechen. Dabei entgeht ihm erstens, dass die traditionelle Metaphysik erst am Ende, nach einem Erkenntnisaufstieg, zum Sein selbst gelangt, zweitens, dass sie vom Sein der Weltdinge ausgeht, das sich zum Sein selbst wie das Verursachte zur ersten Ursache verhält, und drittens, dass der vom Sein der Dinge gewonnene Seinsbegriff kein Alltagswort ist, nach dessen Bedeutung man fragen müsse (was die Tradition vergessen habe), sondern ein philosophischer Begriff, der aus einer Reflexion hervorgegangen ist; siehe das Seiende (to on, ens) erstmals bei Parmenides, dann bei Plato und Aristoteles. Jene Reflexion richtet sich gerade auf das Bekannteste, das für allen Erkenntniserwerb vorausgesetzt wird. Dieses ist das Sein der Dinge. In der traditionellen Metaphysik, an die Thomas im vorliegenden Text (Art. 4) anschließt, stellt sich die Frage nach der Wesenheit der ersten transzendenten Ursache. Die Antwort ist, dass sie mit dem Sein selbst identisch ist, als der ursächlichen Fülle für das Sein der Weltdinge. 18 Die Argumente zur Existenz und Wesenheit Gottes gehören, methodisch gesehen, dem abschließenden Teil der Naturphilosophie und Metaphysik an und setzen die Ontologie voraus, sonst bleiben sie unverstanden und verfallen der Kritik.
Heidegger ignoriert dies und sucht »das Sein« in menschlichen »existentiellen« Befindlichkeiten, die phänomenologisch beschrieben werden. Aber diese haben nichts mehr mit dem Sein zu tun, sondern mit menschlichen Erlebnissen.
18
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Thomas v. Aquin
Über die Person Philosophisch wichtig ist ferner Thomas’ Erörterung über die Person, die er, q. 29, Art. 1–2, der Trinitätslehre von den drei göttlichen Personen voranstellt. Er übernimmt, Art. 1, Boethius’ Definition von der Person als »individueller Substanz von rationaler Natur« 19 und verteidigt sie gegen Kritik. Thomas stellt zu Beginn fest: Das Individuum in der ersten Kategorie, der Substanz, hebt sich vor dem Individuellen in den Akzidenz-Kategorien dadurch ab, dass es für sich selbst besteht. Und innerhalb der substantiellen Individuen zeichnet sich wiederum das menschliche Individuum dadurch aus, dass es mit Ratio / Verstand begabt ist, weshalb es mit dem eigenen Namen der Person bezeichnet wird. Diese wird daher definiert als individuelle Substanz von rationaler Natur. Die kritischen Einwände sind folgende: Erstens kann nichts Individuelles definiert werden, auf das sich jedoch die Person-Definition richtet. Zweitens ist der Ausdruck der individuellen Substanz pleonastisch; denn Substanz in primärer Bedeutung ist das Individuum. Drittens darf in die Definition eines Dinges nicht ein logisch intentionaler Begriff eingehen, wie Gattung, Spezies und Individuum dies sind. Der vierte Einwand richtet sich gegen den Begriff der Natur, der mehr auf die bewegten Naturdinge angewandt wird, während die Person eine unbewegte Substanz ist (wie bei den Engeln und Gott). Fünftens, die Definition trifft zwar auf die vom Leib (nach dem Tode) »abgetrennte Seele« zu, nicht aber auf die Person, die mit dem Leib verbunden ist. Thomas’ Antwort ist diese: 1. Die Definition der Person bezieht sich nicht auf ein Individuum (wie Sokrates), das in der Tat nicht definierbar ist, sondern auf den Begriff der Individualität selbst. 2. »Substanz« kann, nach Aristoteles’ Unterscheidung, als erste oder als zweite Substanz verstanden werden, d. h. als Individuum oder als Allgemeines. Daher würde die Hinzufügung »individuell« sie auf die erste Bedeutung festlegen. Aber auch wenn in Boethius’ Definition »Substanz« nur die erste Substanz bedeutet, hat die Hinzufügung »individuell« ihren Sinn, da sie die erste Substanz nicht nur von der zweiten, allgemeinen, abhebt, sondern auch von der Unselb19
Boethius, De duabus naturis, cap. 2.
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ständigkeit, dass sie in eine andere, höhere Substanz eingehen könnte. So ist die menschliche Natur in Christus keine Person, weil in der höheren göttlichen aufgenommen; denn die Person ist individuelle Substanz als selbständig für sich bestehende. 3. Wo bei einem zu definierenden Ding die eigentlichen Bestimmungen nicht verfügbar sind, können stattdessen intentionale Begriffe aushelfen. 4. Der Begriff der »Natur« bezeichnet bei Aristoteles (Physica II) interne Prinzipien in den bewegten Naturdingen. Da sich aber in ihnen durch ihre Formursache ihre Wesenheit erfüllt, steht »Natur« auch für die Wesenheit jedes Dinges. 5. Da die Spezies »Mensch« aus Leib und Seele konstituiert ist, macht die Seele einen Teil seiner Spezies (und Wesenheit) aus. Dies gilt auch für die vom Leib (nach dem Tod) abgetrennte Seele. Sie behält ihre Eigenschaft der Vereinigung (unibilitas) mit dem Leibe und kann daher nicht als für sich bestehende Person betrachtet werden. In Art. 2 geht es um die Frage, ob die Person mit ihrer Substanz (hypostasis, subsistentia, essentia) identisch sei. Die Einwände wenden sich gegen die Unterscheidung zwischen Substanz und Subsistenz bzw. Wesenheit und verweisen auf überlieferte Texte, die von Subsistenz gleicherweise wie von Substanz sprechen. Thomas lehnt zu Recht diese Einwände ab und unterscheidet die drei genannten Begriffe von dem der Substanz. Er folgt Aristoteles’ Lehre (Metaph. V) von den zwei Bedeutungen, die usia (Wesen) haben kann: als Wesenheit und als Substanz, in der Intention von suppositum (zugrundeliegendes Subjekt). Die drei vorgenannten Begriffe entsprechen dem der Substanz.
Über den Menschen Nach den Quästionen über die Hl. Trinität folgen die über die Schöpfung, welche auch die Erörterungen über den Menschen enthalten, q. 75 ff., in weitgehend philosophischer Form. Die ersten Fragen betreffen die Seele und ihre Verbindung mit dem Leib, die weiteren legen die seelischen Vermögen dar, das intellektuelle und das sinnliche, sowie ihre Erkenntnisweisen. Die abschließenden Fragen handeln von 130 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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der Erzeugung des Menschen und münden in die biblischen Aussagen über die Stammeltern. Man beachte, dass, wie für Aristoteles, auch für Thomas der Mensch aus Leib und Seele als aus zwei Substanzen konstituiert ist, wie dies auch der Eingang dieses Teiles, q. 75, ausdrücklich sagt: De homine qui ex spirituali et corporali substantia componitur. Nicht wenige Mitglieder der Päpstlichen Thomas-Akademie haben mit dieser Aussage Schwierigkeiten und wollen sie nicht wörtlich nehmen, da sonst die Einheit des Menschen verloren gehe; denn der Mensch habe nur ein einziges Sein. Hierzu möchte ich bemerken, dass Th omas sowohl vom Sein des Leibes, wie auch vom Sein der Seele und dem Sein des Menschen spricht, wobei er das leibliche als potentielles dem seelischen als aktuellem unterordnet. Ebenso ist auch das Sinnesvermögen der Seele als potentielles dem Intellekt als aktuellem Vermögen untergeordnet. In q. 75 vertritt Thomas die aristotelische Lehre von der Seele als immaterieller Substanz und Formursache des Leibes, wobei die Existenz von Leib und Seele eine nicht mehr beweisbare Tatsache ist. Gegen die materialistische (schon vorsokratische) Lehre von der Seele als Körper, erweist Thomas ihre Immaterialität, Art. 1, aus der Tatsache, dass die Körper als solche nicht belebt sind, und die Seele per Definition Lebensprinzip ist. Also kann sie kein Körper sein. Das Argument wird vertieft durch Aristoteles’ Lehre von Potenz und Akt, wonach sich der Leib zum Leben als potentielles Prinzip verhält, die Seele hingegen als aktuelles. Zugrunde liegt Aristoteles, De anima II 2, mit der Definition der Seele, dass sie »die erste Vollendung (Entelechie) des Leibes ist, der potentiell das Leben hat«. Dass die Seele für sich besteht (subsistiert), ergibt sich, Art. 2, aus ihrem Intellekt-Vermögen, dessen Objekt immateriell (abstrakt) ist, und das somit selber immateriell sein muss (vgl. Plato, Phaedo). Die Seele darf nichts Materielles von den Sinnesdingen enthalten, weil sie sonst nicht mehr das Vermögen hätte, das ihr tatsächlich eignet, alle Dinge (auf immaterielle Weise) zu erkennen. Die platonische Ansicht, dass die Seele der Mensch sei, weil sie nur eine lose, äußerliche Verbindung mit dem Leib habe, wird in Art. 4 korrigiert, mit der aristotelischen Lehre, dass die Seele als Formursache des Leibes mit ihm wesentlich verbunden ist. Die Lehre (des Avicebron), dass die Seele aus Materie und Form131 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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ursache bestehe, wird in Art. 5 zurückgewiesen. Sie beruht auf dem Irrtum, dass nur die Materie Individuationsprinzip sei. Thomas weist auf, dass in den immateriellen Dingen ihr Prinzip der Potentialität, das nun anstelle der Materie tritt, die Funktion des Individuationsprinzips hat. Die Frage der Vergänglichkeit der Seele, Art. 6, wird ausführlich erörtert und verneint. Für die Vergänglichkeit der Seele scheint zu sprechen, dass sie einen Anfang gehabt hat, was auch auf ein Ende schließen lässt. Ferner kann der Intellekt nichts ohne Vorstellungsbilder (phantasmata) erkennen, die an die Sinnesorgane des Leibes gebunden sind. Thomas klärt die Frage mit der Definition der Vergänglichkeit, die in der Trennung der Seele vom Leib liegt. Daher kann nur das aus Leib und Seele konstituierte Lebewesen vergänglich sein, nicht aber wieder die Seele. Ferner zeigt das natürliche Verlangen der intellektuellen Seele, immer zu sein, ihr unvergängliches Wesen an. Quaestio 76 handelt von der Vereinigung der Seele mit dem Leib und erörtert zunächst die Schwierigkeit, wie das intellektuelle Prinzip als Formursache des Leibes mit ihm vereint sein kann, Art. 1. Von den sechs Einwänden gegen eine Vereinigung ist der erste schwerwiegend. Er beruft sich auf Aristoteles’ Aussage (De an. III 5) selbst, dass der Intellekt »abgetrennt« ist und nicht mehr Akt eines Körpers. Ferner passt sich die Formursache dem Leib an, was vom Intellekt nicht gelten kann. Auch müsste der Intellekt, wenn mit dem Leib verbunden, die Dinge individuell und konkret erkennen, nicht immateriell und universell, wie es tatsächlich geschieht. Überhaupt ist der Akt des Intellekts nicht Akt des Körpers. Ferner, was Formursache eines Dinges ist, hat das Form-sein nicht für sich selbst, sondern für das Ding. Der Intellekt hingegen ist Form an sich selbst. Schließlich eignet es der Formursache an sich, mit der Materie verbunden zu sein, deren Formursache sie ist, während der Intellekt für sich besteht, auch wenn der Körper vergeht. Andererseits wird in der Definition des Menschen als rationalen Lebewesens die spezifische Differenz »rational« von der Formursache des Menschen genommen, die der Intellekt ist. Thomas klärt das Problem mit Aristoteles’ Lehre von der Formursache, die beim Menschen der Intellekt ist, genau genommen die Seele mit dem Intellekt als ihrem obersten Prinzip. Von den Akten, die der Mensch vollzieht: Sich-nähren, Wahrnehmen, Sich-bewegen 132 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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und intellektuelle Tätigkeit, ist die vernunftbegabte Seele die bestimmende Formursache. Da nun die Formursache das Seinsprinzip in jedem Ding ist (forma est essendi principium), liegt allen Akten des Menschen sein Seinsakt zugrunde, der von der vernunftbegabten Seele als Formursache getragen wird. Und vom eigenen Sein hat jeder ein Bewusstsein: »Jeder nämlich, der intellektuell tätig ist, erfährt, dass er ist« (experitur enim unusquisque seipsum esse, qui intelligit).
Diese Aussage zeigt, dass Thomas’ Anthropologie durchaus existentiell vom Sein des konkreten Menschen ausgeht, entgegen moderner existentialistischer Kritik, wonach sie abstrakt und fern vom menschlichen Leben sei. Im Übrigen unterscheidet Thomas zwar zwischen dem Sein der Seele und dem des ganzen Menschen, nimmt es aber hier (ad quintum) mit ihm zusammen: … quod illud esse quod est compositi, est etiam ipsius animae. Tatsächlich ist der Seinsakt der Seele die Ursache für das Sein des ganzen Menschen, in welchem es sich auswirkt. In Art. 2 wird die (von Averroes herkommende) Ansicht zurückgewiesen, dass das intellektuelle Prinzip sich nicht vervielfältige, verteilt auf die vielen Individuen, weil es immateriell sei, also die Materie als Individuationsprinzip fehle. Dagegen argumentiert Thomas, wie im vorigen Artikel, dass die intellektuelle Seele als Formursache das Seinsprinzip in jedem Einzelnen ist. Und nur so vollzieht der Einzelne individuell seine intellektuelle Tätigkeit. Dies ist aber nicht mehr gegeben, wenn nur ein Intellekt angenommen wird, der (wie im gegnerischen Argument vorgestellt) in den vielen Individuen wie in seinen Instrumenten wirke, die viele dem Intellekt untergeordnete Tätigkeiten ausübten. Ferner ist die platonische Ansicht unhaltbar, Art. 3, dass im Menschen neben der intellektuellen Seele andere Seelen wären, entsprechend den niederen, vegetativen und sinnlichen Vermögen. Dagegen steht das aristotelisch ausgerichtete Argument, dass für das Sein des Menschen nur die eine Formursache verantwortlich sein kann, und diese ist im Menschen seine vernunftbegabte Seele. Ebenso fällt auch die Annahme dahin, Art. 4, dass im Menschen noch andere Formen, außer der intellektuellen, seien. Dagegen spricht wieder, wie in den vorigen Artikeln, dass das Einzelding nur ein Sein (unum esse substantiale) hat, dessen Ursache nur die eine intellektuelle Seele als 133 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Formursache ist (anima intellectiva unitur corpori ut forma substantialis … nulla alia forma substantialis est in homine, nisi sola anima intellectiva). In Art. 5 steht die aristotelische Definition der Seele als Form des Leibes in Frage, wenn sie auf den Menschen angewandt wird; denn die Vereinigung des materiellen, vergänglichen Körpers mit der immateriellen, unvergänglichen Vernunftseele erscheint als unvereinbar. Thomas indes erklärt sie als vereinbar, ausgehend von der intellektuellen Seele des Menschen, die im Reich der rein intellektuellen Wesen auf unterster Stufe steht, weil sie nicht wie die Engel schon mit Erkenntnis begabt ist, sondern nur das Vermögen hat, Erkenntnisse zu erwerben, und zwar mit Hilfe einer anfänglichen Sinneserkenntnis, die an Körperorgane gebunden ist. Die Aussage in diesem und anderen Artikeln, dass die Seele dem Körper das Sein gibt, meint das Mensch-Sein, das der Körper empfängt, nicht sein Körper-Sein, das er schon besitzt. In Art. 7c meint z. B. die Aussage: Nec est aliquid aliud uniens nisi agens, quod facit materiam esse in actu, ut dicitur in VIII Metaphys., dass die Seele, die sich mit dem Körper vereinigt hund dadurch ein neues Lebewesen bildeti, dem Körper das aktuelle Lebewesen-Sein mitteilt, zu dem sich der Körper zunächst nur potentiell verhielt.
In q. 77 geht Thomas zu den seelischen Vermögen über und klärt zuerst, Art. 1, dass diese nicht mit der Wesenheit der Seele gleichzusetzen sind, sowie, Art. 2, dass die Seele mehrere Vermögen hat, die sich durch ihre verschiedenen Objekte voneinander unterscheiden, da sie sich an ihnen aktualisieren, Art. 3. Thomas übernimmt hier Aristoteles’ Methode, wonach die Untersuchung über die Seele von den Objekten ihrer Vermögen ausgeht, um die seelischen Tätigkeiten zu bestimmen, und geht von den Tätigkeiten zu den Vermögen über, die dann bestimmt werden können. Man beachte den Realismus, der den Dingen vor den Vermögen des Subjekts den Vorrang gibt, im Gegensatz zu einem modernen Vorgehen, das beim denkenden Ich des Subjekts beginnt. In q. 78 geht Thomas zur Erörterung der einzelnen Seelenvermögen über und behandelt zuerst kurz das vegetative und die Sinnesvermögen, um dann ausführlich auf die geistigen Vermögen einzugehen, auf Intellekt und Willen, als intellektuelles Streben. Wir beschränken uns auf die letzteren, die Thomas von q. 79 an darlegt, 134 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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wobei er sich vor allem auf Aristoteles’ Lehre in De anima III stützt. In Art. 1 stellt er fest, dass, anders als bei Gott, die Wesenheit beim Menschen (wie bei den anderen Geschöpfen) mit keinem Vermögen, auch nicht mit dem intellektuellen, identisch ist; denn die Wesenheit jedes Dinges bezieht sich auf dessen Sein, während die Vermögen an bestimmten Gegenständen tätig werden. Nur in Gott sind seine voll aktualisierten Vermögen mit seiner Wesenheit, die reiner Akt ist, identisch. In Art. 2 und 3 übernimmt Thomas Aristoteles’ Lehre vom »Intellekt in Möglichkeit« (d. h. vom möglich und wirklich erkennenden Intellekt) und vom »tätigen Intellekt«, der immer schon in einem ersten Akt ist und den einzelnen Erkenntnisakten zugrunde liegt. Da der Text in De an. III, Kap. 4 und 5 zwei Intellekte unterscheidet, den, »der alles wirkt«, und den, »der alles wird«, d. h. den (nur hier erwähnten) »passiven Intellekt«, scheint Thomas den oben genannten »möglichen Intellekt« mit dem passiven zu identifizieren, was jedoch nicht angeht; denn der Intellekt, in Kap. 4, der zuerst in Möglichkeit, dann in Wirklichkeit erkennt, ist derselbe, in Kap. 5, der »alles wirkt«, d. h. das Intelligible aus den Dingen abstrahiert, um sich zu ihm dann potentiell und aktuell erkennend zu verhalten. Dagegen erwähnt Aristoteles den »passiven Intellekt« nur einmal. Er ist vergänglich und mit dem sog. Gemeinsinn eng verbunden (wenn nicht identisch). Richtig weist Thomas den »möglichen Intellekt« aus der Tatsache auf, dass sein Objekt das Seiende überhaupt ist, das alle Dinge umfasst, und von dem der Intellekt zunächst nur eine mögliche Erkenntnis hat. In Art. 3 begründet er den »tätigen Intellekt« daraus, dass der Übergang von der potentiellen zur aktuellen Erkenntnis schon etwas Aktuelles im Intellekt voraussetzt, wie allgemein für Aristoteles gilt, dass »nichts von der Potenz in den Akt überführt werden kann, wenn nicht durch etwas (schon) in Akt Seiendes«. In Art. 4 und 5 widerlegt Thomas ausführlich Averroes’ Annahme eines einzigen Intellekts für alle Menschen. In Art. 6 und 7 verteidigt er das Gedächtnis (memoria), d. h. die Fähigkeit, intelligible (begriffliche) Formen zu bewahren, als ein Vermögen, das dem Intellekt zukommt, wiewohl von ihm verschieden, nicht jedoch dem Sinnesvermögen, wiewohl jene Formen von ihm her gewonnen werden. Es folgt in Art. 8 die wichtige Unterscheidung zwischen ratio und intellectus, d. h. zwischen dem diskursiven Verstand und der intuiti135 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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ven Vernunft. In diesen Bedeutungen unterscheiden sich auch ihre griechischen Äquivalente, logos und nous, die Heraklit und Parmenides als philosophische Begriffe eingeführt haben. Die Unterscheidung verdient besondere Beachtung, da sie in der Neuzeit verloren geht, und zwar seit Kant, welcher die Ratio fälschlich mit Vernunft wiedergibt und dem Menschen nur rationale als diskursive Tätigkeiten zuerkennt, während er ihm jede intellektuelle Anschauung abstreitet, so dass ihm als Anschauung allein die sinnliche verbleibt. Im praktischen Bereich treten beide Funktionen als Gewissen auf. Näher betrachtet, führt Thomas das intuitive Vermögen, Art. 12, als synderesis ein, das als intuitives natürliches Gewissen Gut und Böse, in allgemeiner Form, erfasst, im Unterschied zur conscientia, Art. 13, dem auszubildenden Gewissen als diskursivem Urteilen aus gegebenen Prinzipien. Während jene natürliche Gewissensform, synderesis, primitiv, aber ohne Irrtum ist, hat die ausgebildete, urteilsfähige Form höheren Rang, kann sich aber irren. Die Quästionen 80–83 handeln von den strebenden Vermögen, sowohl dem sinnlichen, sensualitas, wie dem intellektuellen, voluntas, welche zusammen mit den erkennenden zum Handeln des Menschen führen. In q. 82 verteidigt Thomas den freien Willen, liberum arbitrium, und lehrt mit Augustinus, dass der Wille eine natürliche Hinneigung zum Guten hat, also mit natürlicher Notwendigkeit das Gute, im Allgemeinen, erstrebt, das letztlich in der Menschennatur selbst und in Gott liegt. Sie ist die Grundlage für die freien Willensakte, die sich auf bestimmte Objekte richten, geleitet von wahren oder falschen Vernunfterkenntnissen. Die Frage, ob das Willensvermögen höher steht als das des Intellekts, q. 82, Art. 3, wird differenziert beantwortet. Im Vergleich der beiden Vermögen selbst steht der Intellekt höher, zumindest nach Aristoteles, und zwar in seiner theoretischen Erkenntnis, die höher steht als die praktische. Im Vergleich zu den Objekten jedoch kann der Wille höher stehen, dessen Objekt sich in den Dingen selbst findet, während das Objekt des Intellekts nur in ihm selbst liegt. So gesehen steht das Objekt des Willens, wenn es der reale Gott ist, höher als der intellektuell erfasste Gott, der nur im Intellekt ist. Erhellend ist auch die Frage, Art. 4, ob der Wille den Intellekt bewegt; denn primär gilt, dass der Intellekt den Willen bewegt, indem er ihm Objekte als erstrebenswerte vorstellt, und zwar bewegt er als 136 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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Zweckursache den Willen. Umgekehrt wirkt der Wille auf alle seelischen Vermögen, auch den Intellekt, als Bewegungsursache. In q. 84–89 wendet sich Thomas der intellektuellen Erkenntnis zu und erörtert sie (neuplatonischer Tradition folgend) auf den drei Erkenntnisebenen hinsichtlich der drei Gegenstände: der sinnlichen unterhalb der Seele, der Seele selbst und der immateriellen, über der Seele stehenden, und beginnt, Art. 1, mit der Frage, ob der Intellekt die körperlichen Dinge erkennen könne. Das Problem liegt darin, dass seine Erkenntnis allgemein und unveränderlich ist, während die Sinnesdinge von je einzelner und veränderlicher Art sind. Thomas zeigt in einem historischen Rückblick, dass für die Vorsokratiker die körperlichen Dinge lediglich sinnliche, veränderliche Erscheinungen bieten, von denen nur Sinneserkenntnisse möglich sind. Nach Plato hingegen erzielt der menschliche Intellekt allgemeine und unveränderliche Erkenntnisse von den Dingen, gewinnt sie aber nicht von ihnen, sondern von Wesenheiten, die abgetrennt von ihnen existieren. Thomas lehnt mit Recht beide Ansichten ab, auch die platonische, weil sie die Seinsweise der Wesenheiten aufseiten der Dinge fälschlich mit der Seinsweise gleichsetzt, welche die allgemeine Erkenntnis im Intellekt hat, die abgetrennt von den Einzeldingen ist. In Art. 2 und den folgenden setzt Thomas seinen historischen Rückblick fort, der bei den Vorsokratikern, Plato und Aristoteles beginnt. Die Frage, ob die intellektuelle Seele kraft ihrer Wesenheit erkennt, wird abgelehnt, weil der Intellekt, als ihr oberstes Vermögen, seine Erkenntnisse von den Dingen nur durch die Sinnesvermögen gewinnt. Mittels der sinnlichen Erfahrungen, besonders den Vorstellungen (phantasmata), muss er das Intelligible aus den Dingen »abstrahieren«. Dieses ist weder schon von Natur in ihm, Art. 3, noch fließt es ihm aus abgetrennten Formen (den platonischen Ideen) zu, Art. 4, wenn auch nicht eine transzendente Quelle zu leugnen ist, »die ewigen Gründe« in Gottes Intellekt, Art. 5. Die Lösung des Eingangsproblems bietet Aristoteles’ Lehre der Abstraktion der »intelligiblen Formen« (Begriffe) aus den sinnlichen, genau genommen aus den Sinnesdingen mittels der sinnlichen Formen, Art. 6. Entscheidend für diese Lösung ist Aristoteles’ Auffassung von den Sinnesdingen; denn sie sind für Aristoteles, anders als für Plato, der sie nur als Erscheinungen ansah, Substanzen, zusammengesetzt aus Materie- und Formursachen, welche die beiden Quellen für die
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sinnliche Einzelerkenntnis der Dinge und für ihre intellektuelle Allgemeinerkenntnis sind. In Art. 7 hebt Thomas mit Aristoteles hervor, dass die IntellektErkenntnis sich auf die sinnlichen Vorstellungen (phantasmata) stützt, und dass ihr eigentliches Objekt in der Wesenheit der materiellen Dinge liegt: proprium obiectum est quidditas sive natura in materia corporali existens.
Der Intellekt schreitet daher »von den Naturen der sinnlich sichtbaren Dinge zu einer gewissen Erkenntnis der unsichtbaren«. Es folgt die weitere aristotelische Feststellung, Art. 8, dass »die Naturwissenschaft von den natürlichen Dingen nicht zu einem vollkommenen Urteil gelangen kann, wenn das sinnlich Wahrnehmbare ignoriert wird«. Den Erörterungen über die gegenständliche Erkenntnis des Intellekts (q. 86–89) gehen die über ihre Art und Weise bzw. ihre Ordnung voraus, q. 85. An erster Stelle, Art. 1, legt Thomas das Vorgehen dieser Erkenntnis durch Abstraktion dar, wie er sie Aristoteles entnimmt. Hiernach erwirbt der Intellekt das für ihn Erkennbare, die intelligiblen Formen in den Dingen, in der Weise, dass er sie von der individuellen Materie der Dinge abstrahiert. Näher gesehen, abstrahiert er sie aus den sinnlichen Formen oder Vorstellungen (phantasmata), die aus den Sinnesdingen gewonnen werden. Wie schon oben geschehen, betont Thomas nochmals, gegen Plato, dass die Seinsweise der Wesenheit in den Dingen eine andere ist als die des Allgemeinen im Intellekt: ut alius sit modus intelligentis in intelligendo, quam modus rei in existendo …
denn das Allgemeine im Intellekt ist Eines über den vielen Einzeldingen, während die Wesenheit in jedem von ihnen ist. In Art. 2 stellt Thomas fest, dass Objekt des Intellekts nicht das Allgemeine in ihm ist, sondern die Sinnesdinge mit ihrer Wesenheit (siehe auch unten Art. 8). Diese Feststellung erscheint mir besonders wichtig, da bei neuzeitlichen Philosophen seit Kant das Objekt intellektueller Erkenntnis ein im Subjekt sich konstituierendes ist, während ihr das reale Objekt »als Ding an sich« entzogen ist. Ferner wird in Art. 3 unterschieden zwischen dem Allgemeinen 138 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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wissenschaftlicher Erkenntnis, die sich erst aus ihrem Erwerb ergibt, und jenem Allgemeinen, das in vagen Vorkenntnissen allem Erkenntniserwerb vorhergeht, wie das des Seienden überhaupt. Weiter legt Art. 4 dar, dass der Intellekt Vieles auf gewisse Weise als Eines allgemein erfassen kann, sofern es auf Prinzipien bezogen ist, und zwar zugleich. Dabei erkennt Thomas treffend dem Intellekt zu, über der Zeit zu stehen (ad primum): dicendum quod intellectus est supra tempus quod est numerus motus corporalium rerum.
Abschließend legt Thomas die Hauptmerkmale der intellektuellen Erkenntnis dar, Art. 5–8, nämlich dass er diskursiv vorgeht, »zusammensetzend und trennend«, d. h. in positiven und negativen Aussagen, dass sein Urteil wahr oder falsch sein kann, je nachdem ob er die Verhältnisse in den Dingen adäquat wiedergibt oder nicht, ferner dass über ein und dasselbe Ding Erkenntnisse mehr oder weniger wahr sein können, und dass unsere intellektuelle Erkenntnis von den Verhältnissen der teilbaren Dinge ausgeht, nicht von unteilbaren, die mit ihren Prinzipien verbunden sind. In q. 86–89 behandelt dann Thomas, der neuplatonischen Einteilung folgend, die intellektuelle Erkenntnis auf den drei Ebenen der Objekte, die der intellektuellen Seele untergeordnet sind, oder ihr gleichgeordnet, in der Selbsterkenntnis, oder ihr übergeordnet, in der theologischen Erkenntnis. Auf der unteren Ebene wirkt der Intellekt mit den Sinnesvermögen zusammen, q. 86, auf der mittleren vermag er sich selbst zu erkennen, q. 87, zwar nicht aus seinem Wesen, sondern aus seinen Tätigkeiten, und durch die intelligible Form die er aus ihnen von sich gewinnt. Thomas gibt hier auch das Argument aus Augustinus (De trin. X) wieder, dass der Intellekt sich in seiner Wesenheit nicht direkt erkennt, sondern nur schwer etwas aus seinen Tätigkeiten erschließen kann, während er seine Existenz unmittelbar, aus seiner eigenen Gegenwart, erfasst, Art. 1: sufficit ipsa mentis praesentia, quae est principium actus ex quo mens percipit se ipsam …
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Entsprechendes gilt von der Erkenntnis des Intellekts von ihm selbst als Haltung (habitus). Das schlichte Dasein der Haltung erfasst er unmittelbar, nicht aber ihr Wesen. Dabei betont Thomas, dass die Haltungen nicht direkt Objekt des Intellekts sein können, da dieses vielmehr die Wesensnatur der materiellen Dinge ist (ad secundum). Dasselbe galt auch für den Intellekt selbst, der sich nicht direkt Objekt sein kann. Die gleiche Beschränkung trifft auch für die Erkenntnis zu, die der Intellekt von seinem eigenen Akt hat, nämlich dass sie keine unmittelbare ist, sondern sich einstellt, wenn er Erkenntnisse an anderen Objekten vollzieht. Das Erste, das der Intellekt erkennt, ist das Seiende, als gemeinsames Objekt, das ebenso die materiellen Dinge wie auch den Intellekt selbst umfasst. Bei der Objekterkenntnis erfasst er in ihr auch seinen Akt, und durch seinen Akt erkennt er auch sich selbst, Art. 3.
Ergänzung aus dem Sentenzen-Kommentar: Scriptum super libros Sententiarum, libr. I, dist. 3, q. 5: Auf die Frage, ob die rationalen Vermögen sich immer in Akt befinden, wenn sie sich auf ihre Objekte richten, erfolgt eine Antwort, welche mit der Klärung dreier Begriffe beginnt: »denken«, »unterscheiden«, »intellektuell tätig sein« (cogitare, discernere, intelligere), die philosophisch sehr wichtig ist. Während »denken« und »unterscheiden« diskursive Tätigkeiten des Intellekts sind, erweist sich »intellektuell tätig sein« als ein intuitiver Akt des Intellekts, in welchem er sich immer befindet, auch wenn er nicht einzelne diskursive Tätigkeiten vollzieht; denn jener Akt ist ein einfaches Gegenwärtig-haben dessen, worauf er schon gerichtet ist: intelligere autem dicit nihil aliud quam simplicem intuitum intellectus in id quod sibi praesens est …
Mit ihm kann daher die Seele immer in Akt sein, bezogen auf das ihr gegenwärtige Intelligible, das vor allem sie selber und Gott ist: … Sed secundum quod intelligere nihil aliud dicit quam intuitum, qui nihil aliud est quam praesentia intelligibilis ad intellectum quocumque modo, sic
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Thomas v. Aquin
anima semper intelligit se et Deum, et consequitur quidam amor indeterminatus.
Als Quellen liegen zugrunde Augustinus, De trinitate XI und Aristoteles, De anima III 4–5. Die Stelle hebt die wichtige intuitive Funktion der Vernunft hervor, die ihr in der Neuzeit seit Kant verloren gegangen ist, der dem Menschen eine intellektuelle Anschauung abstreitet, und ihm nur die Sinnesanschauung belässt – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Philosophie bis heute. Hinsichtlich der Erkenntnis der transzendenten (»abgetrennt« für sich bestehenden) immateriellen Objekte fällt Thomas’ Antwort differenziert aus, q. 88, Art. 1. Ihre direkte Erkenntnis an sich ist unserem Intellekt nicht möglich, da er mit dem Sinnesvermögen verbunden ist und von der sinnlichen Erfahrung ausgehen muss. Ihm aber jede Erkenntnis von jenen immateriellen Objekten abzusprechen, geht auch nicht an; denn sie gehört zu unserer letztlich zu erlangenden Glückseligkeit. Aus den obengenannten Gründen folgt weiter, Art. 3, dass auch Gott nicht das erste Objekt sein kann, das der menschliche Intellekt erkennt. Q. 89 erörtert die Erkenntnis der »abgetrennten Seele«, worauf ich hier nicht mehr eingehe, da sie auf einer religiösen Überzeugung von der Seele als nach dem Tode fortlebender beruht, auch bei Plato und Aristoteles, auf die jener Ausdruck zurückgeht. Ebenso können hier auch nicht mehr die q. 90 und folgende über die Erschaffung des ersten Menschen berücksichtigt werden, die sich auf Bibel-Aussagen beziehen.
Quaestiones disputatae, I Dieses umfangreiche theologische Werk (1259–1268) handelt in Teil I von der Wahrheit und erörtert sie in zwölf Artikeln, die wir nun durchgehen, unter rein philosophischen Gesichtspunkten. In Art. 1 wird die Frage gestellt, was die Wahrheit sei, und durch das Verhältnis zwischen Wahrem und Seiendem geklärt. Von der Tatsache aus, dass das Seiende das Bekannteste ist, kann das Wahre nur ein Seinsmodus von ihm sein. Dabei ist schon vorausgesetzt, dass Seiendes und Wahres transzendentale, nicht mehr gattungsmäßige 141 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
Begriffe sind, die durch spezifische Differenzen unterteilt werden könnten. Nun gibt es zwei Seinsmodi, einen speziellen nach den Kategorien und einen allgemeinen, der alles Seiende betrifft. Hiernach kann jedes Seiende einen Bezug zu sich selber und zu anderem haben. Bezogen auf sich selbst hat jedes Seiende positiv eine Wesenheit und ist ein Ding (res), negativ hingegen ist es ungeteilt, d. h. Eines (unum). Bezogen auf anderes ist jedes Seiende, wenn als getrennt von jedem anderen betrachtet, etwas (aliquid). Wenn hingegen in Übereinstimmung mit anderem betrachtet, ist jedes Seiende auf die Seele bezogen, genauer auf Wille und Intellekt. Als Objekt des Willens hat es das Merkmal des Guten, als Objekt des Intellekts das des Wahren. Daraus ergibt sich, dass das Wahre eines der hier aufgewiesenen, transzendentalen Merkmale des Seienden ist. Dieser wichtige Quellentext für die klassische Transzendentalienlehre ist der Philosophie der Neuzeit nicht mehr verfügbar. Man denke z. B. nur an Descartes’ Dualismus zwischen res cogitans und res extensa, der sich aus der Unkenntnis ergibt, dass res ein transzendentaler Begriff ist, der etwas Gemeinsames in Gegensätzlichem, wie hier im Denkenden und im Ausgedehnten, bedeutet. Nach der ontologischen Bedeutung des Wahren nennt Thomas dann auch die Bedeutung des Wahren im Urteil und in der Aussage. Hieran anknüpfend, wird in Art. 2 dargelegt, dass das Wahre primär, seiner Hauptbedeutung nach, im Urteil liegt, nicht in den Dingen (s. Aristoteles, Metaph. VI, 1). Das Wahre in den Dingen ist vielmehr die ontologische Grundlage für das Wahre im Urteil des Intellekts (Metaph. IX, 10). In Art. 3 greift Thomas ein wichtiges Lehrstück aus Aristoteles’ De anima III 6 und Metaph. VI auf, das zwischen zwei Funktionen des Intellekts unterscheidet, der diskursiven im bejahenden und verneinenden (»zusammensetzenden und trennenden«) Urteil und der intuitiven. Letztere erfasst einfache Gegebenheiten, an denen sich dann Urteile vollziehen. In Art. 4 wird ferner geklärt, dass das Wahre in den Urteilen über die Dinge ein Mehrfaches ist und seine Einheit aus der einen Wahrheit in Gottes Intellekt, als aus seiner Ursache, hat. Daher gilt auch, dass die Wahrheit in den Urteilen des menschlichen Intellekts an sich nicht ewig ist, sondern nur insofern sie an der ewigen Wahrheit in Gottes Intellekt teilhat, Art. 5. Die Erörterung zum fünften Einwand führt zum Ergebnis (ad 142 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Thomas v. Aquin
quintum), dass »der Intellekt denken kann, dass er nicht sei und nicht denke, obwohl er nicht denkt, ohne die Tatsache, dass er ist oder denkt; denn es ist nicht nötig, dass der Intellekt das, was er denkend hat, denkend denkt, da er nicht immer auf sich reflektiert«. Diese wichtige Bemerkung scheint mir hinsichtlich neuzeitlicher Philosophien wichtig, welche die Reflexion zur ersten Bedingung für alles Denken bzw. Erkennen von Dingen machen. Dagegen zeigt der vorliegende Text an, dass der Intellekt auch ohne Reflexion etwas denkt, wiewohl er immer von seiner Gegenwart und der seines Denkens weiß. Dieses unmittelbare Wissen des Intellekts vom eigenen Sein bezeichnet anderswo Thomas mit intelligere, während hier intelligere für die Reflexion steht. Die Frage von Art. 6, ob die geschaffene Wahrheit unveränderlich sei, wird differenziert beantwortet: Die Dinge haben einen Bezug zum göttlichen Intellekt als ihrer bestimmenden Ursache, hingegen zum menschlichen Intellekt als ursächlich seine Erkenntnis bestimmend. Daher haben die veränderlichen Dinge an sich eine veränderliche Wahrheit, der eine solche auch im menschlichen Intellekt entspricht. Sofern sie aber in Bezug auf ihre erste göttliche Ursache an deren unveränderlicher Wahrheit teilhaben, hat auch der menschliche Intellekt an ihr teil. Die Frage in Art. 9, ob in der Sinneswahrnehmung Wahrheit sei, beantwortet Thomas positiv, stellt aber dabei den wesentlichen Unterschied zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis heraus.
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5) Duns Scotus
Wie Thomas ein Hauptvertreter für den Dominikanerorden ist, so Duns Scotus für den Franziskanerorden. Mit seiner Lebenszeit (ca. 1270–1308) eine Generation jünger als Thomas, setzte er sich mit dem Aquinaten kritisch auseinander und entsprach damit der Konkurrenz der beiden Orden. Er lehrte in Paris und Oxford. Auf die Hauptkritikpunkte macht Geyer bei der Anführung von Scotus’ Schriften aufmerksam. 20 Aus diesen sind vor allem die Kommentare zu Aristoteles’ Schriften zu nennen sowie die folgenden Hauptwerke: Collationes, unterteilt in Oxonienses und Parisienses; Quaestiones super Metaphysicam; Opus Oxoniense, auch Ordinatio oder Ordinarium genannt. Sie ist die vollständige Fassung seines SentenzenKommentars und behandelt die wichtigen Fragen über die Universalität des Seienden, die formale Distinktion von Seiendem und Wesenheit, die individuelle Natur der Dinge als Diesheit (haecceitas), Kritik am Illuminismus, das Argument der Existenz Gottes u. a. Kleinere Werke sind: Collationes (zu Scotus’ Vorlesungen in Oxford und Paris), Quodlibetum; Tractatus de anima; De primo omnium rerum principio (in vier Kapiteln über Existenz und Wesen Gottes). Für einen kurzen Überblick über philosophische Argumente bei Duns Scotus ist die Summula sehr geeignet, aus der ich im Folgenden einige Hauptgesichtspunkte aufnehme, um sie hier zu besprechen. Nach der Gliederung der von P. Diomede Scaramuzzi besorgten Ausgabe 21 hat das Werk vier Teile, die vom Menschen, von Gott, Jesus Christus, sowie dem moralischen und sozialen Leben handeln. Aus philosophischer Sicht interessiert uns der Teil I) vom Menschen, der sich in elf Kapitel gliedert, nämlich 1. über die Tätigkeit unserer Erkenntnis, 2. das Objekt unserer Erkenntnis, 3. und 4. über die übernatürliche Erkenntnis, 5. die Harmonie zwischen Wissenschaft und 20 21
Joseph Geyer, Grundriß, S. 504–505. P. Diomede Scaramuzzi ofm: Duns Scotus, Summula, Florenz 1990.
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Duns Scotus
Glauben, 6. den Primat des Willens, 7. die Leidenschaften, 8. das Glück, 9. die Freiheit, 10. die Unsterblichkeit der Seele, 11. das Individualisationsprinzip. In seiner Einleitung klärt Scaramuzzi Vorurteile über Scotus: Gegenüber der aristotelischen Richtung wollte er die platonisch-augustinische stark machen, ohne aber beide Richtungen in Gegensatz zu stellen. Vielmehr strebte er danach, Plato und Aristoteles in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Philosophisch gesehen ist bemerkenswert, dass Scotus Occams Nominalismus bekämpfte. Im Ersten Teil handeln die Kapitel 1 und 2 von unserer Erkenntnistätigkeit und ihrem Objekt. Die Erkenntnisakte sind nicht außerhalb von uns am Objekt, sondern im Intellekt-Vermögen tätig. Sie haben ihre Ursache nicht im äußeren Objekt, sondern im Subjekt, das über die vom Objekt empfangenen Formen (species) aktiv urteilt. Das Objekt der Erkenntnis sind für den Intellekt nicht direkt die Wesenheiten der materiellen Dinge, sondern diese selbst. Erst durch die erkennbaren Formen in der Vorstellung (species in phantasmate) erreicht der Intellekt dann die Wesenheiten der Dinge. In der hier dargelegten Auffassung stimmt Scotus mit Aristoteles nur teilweise überein; denn dieser lehrt (De anima III 8), dass die Sinnesdinge, als das Objekt, das erste Bewegende (πρῶτον κινοῦν) sind, von dem der Intellekt zur eigenen Tätigkeit angeregt wird. Diese vollzieht sich nicht erst in den Urteilen über die Dinge, sondern schon in der ersten Berührung mit ihnen, wenn der Intellekt die Dinge in ihrem Seinsakt, als Seiendes, erfasst. Die Kapitel 3 und 4 erörtern Fragen der übernatürlichen Erkenntnis. Zu allgemein philosophischen Überlegungen kehren dann die anschließenden Kapitel zurück, von denen uns besonders das Kapitel 6 über den Vorrang des Willens vor dem Intellekt interessiert. Die Gründe für den Vorrang sind die folgenden: 1. Der Wille ist die Bewegungsursache für alle Tätigkeiten der Seele. Alle ihre Vermögen gehorchen dem Willen. Dies gilt nicht von der Vernunft, wenn sie auch den Willen leitet. Wir erfahren jenen Vorrang des Willens in jedem seelischen Vermögen, sofern dieses verstärkt wird, wenn ihm der Wille beistimmt (si voluntas complacet). Hiergegen möchte ich einwenden, dass die Vermögen nicht der Wille allein beistimmt, sondern die Vernunft mit dem Willen. Es ist die Vernunft, welche die Zwecke der Vermögen erfasst und ihnen dann, mit dem Willen, zustimmt oder nicht. 145 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
2. Ein weiterer Grund für den Willensvorrang ist für Scotus der, dass es nur dem Willen zukommt zu befehlen. Die Vernunft kann sich selbst nicht befehlen, wohl aber kann der Wille sich selbst befehlen. Nach Augustinus steht kein Vermögen so in seiner Gewalt wie der Wille, der alle anderen Vermögen in Dienst nimmt. Dagegen ist jedoch zu bedenken, dass der Wille nichts befehlen könnte, wenn nicht von der Vernunft geleitet. Der Ausdruck »in unserer Gewalt stehen« geht auf Aristoteles zurück (εἶναι πρὸϚ ἡμῖν), der ihn von uns Menschen aussagt; denn wir überlegen, entscheiden und handeln mit Willen und Vernunft. Auch die Vernunft bedient sich all unserer Vermögen. 3. Ein drittes Argument bei Scotus ist dieses: Der Wille befiehlt der Vernunft und ist die Wirkursache für die Vernunfterkenntnis sowie die ihr vorhergehende Zweckursache. Die Vernunft ist nur teilweise Ursache für den Willen. Dabei werden ihre Akte natürlicherweise verursacht von den Dingen, abhängig von ihnen und das heißt akzidentell. Wenn der Willensakt von der Vernunfterkenntnis verursacht würde, dann wäre alle Tätigkeit der beiden akzidentell und unfrei. Tatsächlich aber werden sie im Menschen frei vollzogen, und zwar mit freiem Willen. Hiergegen lässt sich Folgendes einwenden: Die Abhängigkeit von diesem oder jenem Ding würde zwar Vernunft und Willen unfrei machen, nicht jedoch ihre Abhängigkeit von Realem überhaupt sowie von seiner ersten Ursache in Gott. Der Bezug zu Realem im Ganzen ist für Vernunft und Willen konstitutiv; seine Leugnung – d. h., dass die Ursache der Willenstätigkeit nur im Willen selbst läge, – würde im Subjektivismus enden. 4. Ein mögliches Argument für den Vorrang der Vernunft vor dem Willen könnte sein, dass der natürliche Akt der Vernunft um seiner selbst willen vollzogen werde, während der natürliche Akt des Willens eine bloße Hinneigung zu etwas (Gutem) wäre. Dem entgegnet jedoch Scotus, dass vorzüglicher dasjenige (Gute) ist, wodurch sein Besitzer gut ist. Nach Augustinus aber ist derjenige besser, der das Gute nicht nur kennt, sondern es auch (mit dem Willen) liebt. Hierzu sei bemerkt, dass für Augustinus immer der Wille mit der Vernunft zusammenwirkt, ohne dass er vor der Vernunft einen Vorrang hätte. Ein gegnerisches Argument (für den Vorrang der Vernunft) könnte sein, dass das reine Gute mit Notwendigkeit und mit Vernunft 146 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Duns Scotus
gewollt werde. Darauf erwidert Scotus, dass der Wille in jedem Akt frei ist und von keinem Objekt notwendigerweise abhängt. Er vermag sich auch von jedem Akt zu suspendieren, angesichts der Glückseligkeit, was jeder in sich erfahren kann. Der Wille ist also von der Vernunft unabhängig, die ihm immer ein Objekt vorstellt. Hiergegen erhebt sich wieder der oben von mir erwähnte Einwand, dass der Wille zwar von diesem oder jenem Objekt unabhängig ist, nicht jedoch vom Guten als Realem überhaupt. Ohne den Bezug zu ihm ließe sich der Wille nicht definieren. Die Glückseligkeit gehört zu jenem erfüllten Guten, bezogen auf die Realität der menschlichen Seele und Gott. Weiter argumentiert Scotus: Reiner und besser ist das, dessen Gegenteil unreiner und schlechter ist. Nun ist Böses wollen schlechter als Böses nur denken. Also hat der Wille zum Guten den Vorrang vor dem Verstehen des Guten. Doch scheint mir die Entgegensetzung von Willen und Vernunft missleitend, da beide Vermögen gleicherweise zu entscheidungsvollem Handeln zusammenwirken. Gutes oder Böses Wollen ist mit gutem oder bösem Denken innerlich verbunden, es ist keine schwächere oder stärkere Alternative zu ihm. Man kann hinsichtlich der Funktionen von Vernunft und Willen sagen, dass im praktischen Bereich der Wille zum Guten einen gewissen Vorrang hat, sofern die Vernunft im Dienste des Willens steht, indem sie ihm das zu erstrebende Gute als solches vorstellt. Dagegen ist im theoretischen Bereich der Wille der Vernunft untergeordnet; denn er erstrebt hier nichts anderes als den Erkenntniserwerb der Vernunft. 5. Schließlich fügt Scotus noch ein Argument für den Vorrang des Willens hinzu, wonach die moralische Haltung an sich nur dem guten Willen zugehört. Auch das Lob der Tugend gilt eigentlich dem guten Willen. Diese Auffassung entfernt sich von der traditionellen, auf Platon und Aristoteles fußenden Lehre, wonach sich die moralische Haltung der Tugenden aus den Akten beider Vermögen, der Vernunft und des Willens, bildet, nicht primär aus dem des Willens, dem die Vernunft untergeordnet wäre. Vielmehr ist diese dem Willen gleichgeordnet und wirkt mit ihm die für die Tugenden konstitutiven Akte.
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6) Meister Eckhart
In unserer philosophischen Untersuchung muss auch Meister Eckhart von Hochheim berücksichtigt werden, der ca. 1260–1328 lebte und besonders durch seine Mystik und Theologie hervortrat. An der Pariser Universität in Philosophie und Theologie ausgebildet, richtete er die Theologie ganz auf seine mystische Erfahrung aus, die zur Vereinigung der Seele mit Gott hinstrebte, und stellte die Philosophie in ihren Dienst. Seine Werke: In deutscher Sprache: Rede der Unterscheidungen; Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, 11 Bände, Stuttgart-Berlin (Kohlhammer Vlg.), 1936; Meister Eckharts mystische Schriften, hrsg. v. K. Schnabel; Herm. Büttner, Hrsg., Meister Eckhart, Schriften und Predigten, 2 Bände, Jena 1909; Franz Pfeiffer, Hrsg., Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2, Meister Eckhart, Göttingen 1906; Ders., Meister Eckhart, London 1924; Die Predigten; Buch der göttlichen Tröstung; Von Abgeschiedenheit (Echtheit bezweifelt). In lateinischer Sprache: Opus tripartitum; Expositio libri sapientiae (hrsg. v. Denifle, deutsche Ausg. v. Pfeiffer); Collatio in libros Sententiarum; Quaestiones parisienses; Sermones. 22 Aus philosophischer Sicht interessiert uns Eckharts Lehre über Gott, wobei ich mich Geyers Darstellung (op. c. 562–67) anschließe, der sie in zwei Formen vorlegt: 1) in den positiven Aussagen über Gott als das reine und volle Sein (esse purum et plenum), in welchem Sein und Sosein (Wesenheit) in eins zusammenfallen, das überzeitlich-ewig ist, ohne jede Potentialität und Veränderung; 2) in den negativen Aussagen, die Gott alle Attribute, dass Er gut, weise usw. sei, als uneigentliche abspricht, ja sogar das Sein selbst. Um zu vermei22 Siehe Meister-Eckhart-Gesellschaft, Gesamtbibliographie, fortgeführt seit 2009 von Eckhart Triebel.
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Meister Eckhart
den, in Eckharts Theologie – wir beschränken uns auf die natürliche – Widersprüche festzustellen, muss man beachten, dass ihre negative Form nicht aus einer Erkenntnisskepsis, sondern aus einer mystischen Erfahrung hervorgeht, welche alle begriffliche Erkenntnis übersteigt. Nur die hl. Theologie bildet ihre Weise des Sprechens über die geoffenbarten Wahrheiten aus, wobei die negativen Aussagen über Gott bei Dionysius Areopagita das antike Vorbild waren. Meister Eckhart findet die Aussagen von Gott als dem Sein selbst zu eng und nennt Ihn daher auch das Nicht-Sein. Diese Lösung erscheint mir unzutreffend; denn der Seins-Begriff ist der weiteste überhaupt, aber freilich als Ausdruck mystischen Erlebens von Gott zu eng. Es fehlt mir bei Eckhart jener Rückgriff auf die Analogie des Seins, die Thomas v. Aquin ausdrücklich verwendet, um den Seins-Begriff auch auf Gott noch positiv, nämlich analog anzuwenden; denn Analogie bedeutet etwas Gemeinsames zwischen wesentlich Verschiedenem, in unserem Fall: zwischen Gottes Sein und dem der Welt. Im Opus tripartitum ist für Eckhart der Ort der mystischen Begegnung mit Gott »die Spitze des Geistes« (apex mentis). Die Lösung auf die Frage, wie Gott gefunden und gleichsam berührt wird, ist für den Mystiker kein Erkenntnisweg, d. h. mit rationaler Methode, sondern mehr eine Beschreibung religiöser Erfahrung, in der Hingabe der Seele an Gott. Eckhart sucht eine Rückkehr der Seele gleichsam zu ihrem vorgeburtlichen Zustand, in welchem sie einst bei Gott war. Wir haben diesen religiös spekulativen Versuch schon im antiken Gnostizismus kennengelernt und negativ beurteilt. Der mystische Weg zu Gott bedeutet für Eckharts Ethik, dass die Seele jenen abgeklärten Zustand erreicht, der für sie einen »Abstand«, ein »Ledig-sein« von allem bedeutet, nicht mehr bei sich, sondern bei Gott zu sein. Auch die antike Mystik kennzeichnet den Zustand der Ekstase – der Vereinigung oder Berührung der Seele mit Gott – so, dass sie gleichsam aus sich selbst heraustritt, ganz hingegeben an den gegenwärtigen Gott. Eckharts metaphysische und theologische Lehre von Gott beurteilt Geyer abschließend als eine »eigenartige Verquickung von Mystik und Scholastik« (a. a. O. 562). Hiernach zeigt sein Werk zwei gegensätzliche Seiten, denen zwei kontroverse Interpretationen entsprechen: bei H. Denifle eine scholastische, welche Eckharts Mystik 149 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
als »Unklarheit und Unausgewogenheit« bezeichnet, und bei R. Otto eine mystische, welche die scholastische Seite bei Eckhart vernachlässigt. Dagegen versucht Geyer, beiden Seiten bei Eckhart gleicherweise gerecht zu werden und kennzeichnet die scholastische Interpretation als statische, aristotelische, hingegen die mystische als dynamische, neuplatonische. Diese Entgegensetzung erscheint mir, von der Lektüre der Texte selbst her gesehen, nicht notwendig. Sie gestattet uns, bei jedem von Eckhart behandelten Thema zwischen den begrifflichen Argumentationen und der religiös mystischen Erfahrung zu unterscheiden, die ihnen zugrunde liegt. Problematisch bleibt freilich Eckharts Versuch, seine mystische Erfahrung in Begriffen auszudrücken; denn sie ist in der Ekstase von solcher Art, dass alle rationalen Unterscheidungen dahinschwinden. Erst nach solchen mystischen Erlebnissen kann der Verstand über sie reflektieren und zwischen dem normalen Bewusstsein und dem mystischen Überschwang unterscheiden. Während Mystiker der neuplatonischen Tradition – von Plotin bis Eckhart – versuchen, die mystische Erfahrung, metaphysisch-theologisch, in Begriffen auszudrücken, hält die aristotelisch-thomistische Tradition einen solchen Versuch nur indirekt für möglich, durch die Verwendung von Analogien. Das schwierige Problem, was Gott tat, bevor Er die Welt erschuf, beantwortet Eckhart so, dass Er sie zeitlos, von Ewigkeit her, erschuf, ohne ein Vorher. Diese Antwort scheint mir unbefriedigend; mehr empfiehlt sich die, dass die Frage selbst nicht sinnvoll ist, da Gott im Schöpfungsakt auch die Zeit selbst erschuf. Ein anderes Problem betrifft die Wesenheit Gottes. Wenn sie, wie es bei Eckhart scheint, in der Gesamtheit der Wesenheiten der Dinge gesehen wird, lässt sich schwerlich ein Pantheismus vermeiden. Im Thomismus ist die Wesenheit Gottes den Wesenheiten der Dinge vorgeordnet, als ihre Erstursache.
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7) Durandus de Porciano und Petrus Aureoli
Bevor ich mich der Lehre Wilhelms v. Ockham zuwende, möchte ich von den ihm vorhergehenden Theologen und Philosophen des 13./14. Jahrhunderts Durandus de Porciano und Petrus Aureoli erwähnen, weil sie beachtenswerte philosophische Theorien (zum Problem des Einzelnen und Allgemeinen u. a.) entwickelt haben. Durandus bietet in seinem Sentenzen–Kommentar (s. Geyer, 522–524) erkenntnistheoretische und metaphysische Erörterungen. Hiernach wird das Objekt in der Vernunft auf der sinnlichen und intellektuellen Ebene abgebildet. Das Objekt bestimmt den intentionalen Akt in der Vernunft. Zeitlichen Vorrang hat die Einzelerkenntnis, die am Einzelobjekt vollzogen wird (ergo a singulari incipit actio intellectus). Aus ihr bildet sich dann die Allgemeinerkenntnis. Das Allgemeine ist nicht im realen Objekt (nihil enim existit in re extra nisi individuum vel singulare, II Sent. [C] d. 3, q. 2), sondern in der Vernunft, hat aber seine Grundlage in der spezifisch gleichen Wesenheit in den Dingen. Die Wahrheit erfüllt sich dadurch, dass das Ding von der Vernunft so erfasst wird, wie es in Wirklichkeit ist. Sie liegt in der richtigen Repräsentation des Dinges in der Vernunft, von der ersten Erfassung bis zum Vollzug des Urteils (veritas est conformitas rei, ut intellecta est, ad se ipsam secundum illud, quod est, I Sent. [A] d. 19. q. 3). Die von Geyer erwähnte Gegenstellung des Durandus gegenüber Thomas lässt sich in diesen Lehrstücken nicht feststellen. Auf Petrus Aureolus (ca. 1280–1322) gehe ich kurz ein, weil ihm gewöhnlich, wie schon Durandus, ein Nominalismus zugeschrieben wird, der ihn zum Vorläufer Wilhelms von Ockham macht. Doch scheint mir sinnvoller, ihn mit E. Bettoni als »Übergang vom Realismus des 12. Jahrhunderts zum Nominalismus Ockhams« zu kennzeichnen. 151 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Philosophie bei Theologen der Hoch- und Spätscholastik
Aureolus unterscheidet zwischen dem Ding selbst und seiner Erscheinung, die nur ein »intentionales Sein« hat. Dieses legt ihm die Vernunft bei; denn die Erscheinung findet sich nur in der Vernunft, nicht außerhalb (apparentia quae nihil est reale, sed tantum intentionale). Hierzu lässt sich, traditionell gesehen, bemerken, dass zwar die Erscheinung eines Dinges verschieden ist von ihm selbst, aber deshalb sich nicht im Subjekt findet, sondern gleichwohl außerhalb, am Ding. Die Erscheinung ist verschieden von der Repräsentation des Dinges als Vorstellung und Begriff im Subjekt. Für Aureolus ist, wie Geyer feststellt, die begriffliche Form (species) »nicht mehr, wie bei Thomas von Aquin, das medium quo der Erkenntnis sondern ihr unmittelbarer Gegenstand, und es wird selbstverständlich, daß Aureoli die forma specularis in der Rolle des medium quo ablehnen muß« (526). Dieser folgenschwere Wandel wird sich auf die moderne Philosophie von Kant an und seinen Nachfolgern bis in die Gegenwart auswirken. Darin liegt gerade der Nominalismus, dass »dem conceptus, dem Sein der Erscheinung, den Universalien, jede objektive Bedeutung aberkannt … wird« (527). »Bei der gänzlichen Leugnung der Objektivität des Allgemeinen ist es nicht auffallend, wenn für Petrus Aureoli die metaphysische Frage nach dem Individuationsprinzip keinen Sinn mehr hat.« Geyers Kritik ist sicherlich beizustimmen. Doch ist auch bei ihm ein Punkt zu klären; denn er spricht vom Allgemeinen im platonischen Sinn als etwas real Existierendem. Aristoteles’ Korrektur an Platons Auffassung besteht aber gerade darin, dass er zwischen dem Allgemeinen und der – durch das Allgemeine bezeichneten – Wesenheit unterscheidet. Das Allgemeine ist nur in der Vernunft, die sich aber auf die Wesenheit im Ding bezieht.
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8) Dietrich von Freiberg
Der dominikanische Theologe und Philosoph Dietrich von Freiberg (geb. 1250, gest. nach 1310) folgt in seiner Erkenntnislehre und Metaphysik neben der thomistischen Richtung auch der neuplatonischaugustinischen. Von seinen zahlreichen Schriften sind philosophisch von besonderer Bedeutung: De esse et essentia, De quiditatibus entium, De accidentibus, De intellectu et intelligibili, Quod substantia spiritualis non sit composita ex materia et forma. Nach Geyer kann Dietrich nicht voll der aristotelisch-thomistischen Richtung zugerechnet werden; denn er weicht von ihr in einigen Lehrstücken ab: So leugnet er die reale Unterscheidung zwischen Sein und Wesenheit, da diese kein Ding in sich ist (nec potest dici quid essentia est aliquid in se). Diese Feststellung scheint mir durchaus richtig; denn die Wesenheit ist vielmehr Bestandteil des zugrunde liegenden Dinges, gleichwohl aber vom Sein des Dinges verschieden. Von Proclus und dem Liber de causis übernimmt Dietrich die Vierstufung des Realen: Körper – Seele – Intelligenz – das Eine, und verwendet auch Avicennas Metaphysik. In der traditionellen Lehre vom tätigen Intellekt (intellectus agens) versteht Dietrich diesen m. E. durchaus richtig nicht als Erkenntnisakt, sondern als jenes Prinzip des Geistes (abditum mentis), das dem Erkenntnisakt zugrunde liegt (ex quo tamquam ex fontali et originali principio nascitur hoc, quod exteriori cogitatione intellectualiter a nobis agitur, Geyer 558). Dabei beruft sich Dietrich auf Augustinus, doch stimmt diese Lehre auch mit Aristoteles und Thomas überein (anders Geyer).
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9) Wilhelm von Ockham
Gehen wir nun zum Hauptvertreter des Nominalismus im 14. Jh. über, dem englischen Franziskaner Wilhelm von Ockham, der vor 1300, vielleicht 1280 geboren, bis 1349/50 lebte, in Paris studierte und in Oxford über die Sentenzen las. Er zog den bislang vorherrschenden metaphysischen Realismus der thomistischen und scotistischen Richtung in Zweifel, im Namen einer skeptischen Haltung, die ihn zu einem exemplarischen Nominalismus führte. Von der Papstpartei als Irrlehrer verfolgt, fand er Aufnahme bei Kaiser Ludwig, König von Bayern. Von den Werken, die nominalistisch geprägt sind, seien die folgenden genannt: Super quatuor libros Sententiarum subtilissimae quaestiones …, Quodlibeta septem, Tractatus logicae, Philosophia naturalis, Kommentar zu Porphyrius sowie zu logischen und naturphilosophischen Schriften des Aristoteles. Von seiner nominalistischen Position aus übte Ockham Kritik am metaphysischen Realismus der Thomisten und Scotisten, besonders in der Auffassung des Allgemeinen: Dieses hat keine reale Existenz, noch existiert es in den Einzeldingen. Das Subjekt bildet in sich das Allgemeine durch Abstraktion aus den Einzeldingen. »Aus der Tatsache der Wissenschaft oder daraus, dass wir mittels allgemeiner Begriffe erkennen, folgt nicht, dass das Allgemeine als solches Realität habe« (Zitat bei Geyer, S. 576, aus: In Sent. I d. 2 q. 4 O). Die Universalien finden sich nur in der Seele. Sie sind vom Intellekt gebildete Konzepte oder »Fiktionen«. Sie sind eine »Fiktion« der Vernunft, aber keine bloß eingebildete Phantasie. Vielmehr werden sie aus gewissen Ähnlichkeiten zwischen den Dingen gebildet. Diese Aussagen stimmen teilweise, so möchte ich feststellen, auch mit thomistischer Lehre überein. Das Allgemeine hat keine selbständige Existenz, sondern wird von der Vernunft gebildet und findet sich nur in ihr, hat aber seine Grundlage nicht in äußeren Ähnlichkeiten der Dinge, wie Ockham lehrt, sondern in der gemeinsamen intelligiblen Wesenheit in ihnen, die Ockham leugnet. Auch geht es 154 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
Wilhelm von Ockham
aus traditioneller Sicht nicht an, von Gattung und Arten, nach den aristotelischen Kategorien, nur in den Worten (voces) zu sprechen. Ockhams besondere Leistung ist seine Suppositionen-Lehre, wonach die Begriffe ihre Bedeutung nicht vom Wesen in den Dingen her haben, sondern von dem, was die Vernunft in sich von den Dingen bildet und in Wörtern ausdrückt, deren Bedeutung die Vernunft von sich her hinzu bringt, nicht von den Dingen her. Das von der Vernunft in ihr Gebildete ist nicht mehr das Vermittelnde zwischen Dingen und Vernunft, sondern ersetzt nun die Dinge, als ihre suppositio. Mit Recht sind Aussagen Ockhams der kirchlichen Kritik unterzogen worden, und zwar nicht nur theologische, sondern auch philosophische, so vor allem diese: dass die intuitive Erkenntnis – schon in einer ersten Bekanntschaft mit den Dingen – sich unbestimmt verhält in Bezug auf Existenz oder Nichtexistenz der Dinge, und dass die reale Wissenschaft nicht immer von Dingen handelt, die wir unmittelbar kennen, sondern auch von anderem, was wir anstelle der Dinge nur annehmen (supponieren). In der Tat geht bei dieser Einstellung zu den Dingen der Realismus der Erkenntnis mit seinem transzendentalen und metaphysischen Fundament verloren. In seiner Ockham-Ausgabe 23 korrigiert A. Ghisalberti Vorurteile über Ockham, vor allem diese: dass er vor allem ein Rundum-Kritiker aller vorhergehenden Philosophie gewesen sei und dass er sein Denken ausschließlich auf Sinnesdaten stütze. Vielmehr folgt seine Lehre in nicht wenigen Teilen auch früheren Denkern, besonders Aristoteles, und spricht sowohl von sinnlicher als auch von vernunftmäßiger Erkenntnis. Fortschrittlich zeigt sich Ockham vor allem in der Auffassung vom Menschen, die bislang vom Neuplatonismus bestimmt und einseitig auf die Intellekt-Tätigkeiten ausgerichtet war. Mit der Aufnahme der aristotelischen Lehre bereichert sich die Sicht auf den Menschen. Dies führt auch bei Ockham dazu, stärker die leibliche und sinnlich-seelische Seite des Menschen zu berücksichtigen. Ein wichtiges Lehrstück bei Ockham ist das über das primäre Objekt der Vernunft, das er in den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen festmacht. 24 Seine Argumente gehen in folgenden Schritten vor: 1. dass das Einzelne von der Vernunft (intellectus) erkannt wird; 2. dass die erste Erkenntnis eines Einzeldinges eine intuitive Erkennt23 24
Alessandro Ghisalberti, Guglielmo di Ockham: Scritti filosofici, Florenz 1991. Siehe Ordinatio, d. 3, q. 6.
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nis ist; 3. dass das Einzelne primär von der Vernunft erkannt wird. Zu 1.: Dass das Einzelding von der Vernunft erkannt wird, widerspricht nicht der Natur der Vernunft, die zwar vollkommener ist als das Sinnesvermögen, aber doch mit diesem auf das sinnlich Gegebene am Einzelding bezogen bleibt, das nicht so unvollkommen ist, dass es nicht von der Vernunft erfasst werden könnte. Zu 2.: Durch die Spezies erkennt die Vernunft nicht nur das Ding als Allgemeines, sondern auch als Einzelnes, aus dem sie entnommen wurde. Zu 3.: Nichts hindert, dass die Vernunft von den Dingen das Einzelne aufnimmt, wie auch nicht, dass sie das Allgemeine aufnahm, das aus dem Einzelnen gewonnen wurde. Wie die Vernunft das Allgemeine immateriell erkennt, so auch das Einzelne von den Dingen, und zwar primär, da aus ihm die allgemeine Erkenntnis hervorgegangen ist.
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10) Nikolaus von Kues
Abschließend ist noch auf Nikolaus von Kues einzugehen, der 1401– 1464 lebte und nicht nur ein Theologe, sondern auch ein Philosoph von hohem Range war. Da er erkenntnistheoretische Fragen ausführlich und mit neuen Argumenten erörterte, wird er in Ueberwegs Philosophiegeschichte, Band III, schon der Neuzeit zugeordnet und in Band II, Ende, nur noch als Mystiker erwähnt. Doch behandelt der Kardinal und Bischof von Kues Probleme, die auch bei Meister Eckhart und Duns Scotus erörtert worden sind, so dass ich ihn noch hier besprechen möchte, wobei ich mich vor allem auf folgende Schriften beziehe (in den lateinisch-deutschen Ausgaben des Meiner-Verlages): Trialogus de possest (Dreiergespräch über das Können-Ist), De coniecturis (Mutmaßungen), De apice theoriae (Die höchste Stufe der Betrachtung). Ein Hauptproblem beim Kardinal ist das des Gegensatzes zwischen dem Vielen und dem Einen, das er nach mathematischem Vorbild dadurch aufzulösen versucht, dass im Unendlichen alle Gegensätze, auch der vorliegende, zusammenfallen. Da wir aber einen solchen Zusammenfall nicht begreifen können, spricht der Kusaner (in De coniecturis, De possest) von einer »gelehrten Unwissenheit« (docta ignorantia). Es entspricht dem zweifelnden Denker, die Antwort auf das Problem nicht auf einmal zu geben, sondern sich ihm in einem unendlichen Fortschritt anzunähern. Hierzu möchte ich Folgendes anmerken: Das Unendliche ist ursprünglich ein mathematischer Gedanke, dem keine Realität entspricht. In der Metaphysik verwendet, führt dieser Begriff zum Verlust der Realität. In der Frage nach einer ersten Ursache aller vielfältigen Dinge kann die Antwort nicht darin liegen, im Durchgehen der weltimmanenten, zweiten Ursachen zu einer ersten, transzendenten überzugehen; denn die zweiten können zahllos viele sein, so dass es nie zu jenem Übergang kommt. Vielmehr kann die Antwort nur durch einen direkten Übergang von jeder beliebigen Zweitursa157 https://doi.org/10.5771/9783495861080 .
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che sogleich zur ersten, transzendenten erfolgen. Und von der ersten Ursache, als solcher, haben wir dann eine formale Erkenntnis hier und jetzt. In der docta ignorantia liegt meines Erachtens ein empiristischer Ansatz, der Erkenntnis im endlosen Fortschreiten von Erfahrungen sucht, die nie zu einer definitiven Erkenntnis gelangt. Von ihr haben wir, nach dem Kusaner, nur eine Idee. Gott ist für den Kusaner, wie schon für Ps.-Dionysius, überwesentlich und unserer Erkenntnis entzogen. Wir haben nur ein wissendes Nichtwissen von Ihm. an die Stelle der Erkenntnis tritt am Ende eine mystische Schau von Gott. Das göttliche Eine wird nicht empirisch aufgefunden, sondern nur intuitiv erfasst, wobei wir schon eine Idee von Ihm in unserer Seele haben, aus der wir dann für die Erkenntnis der Dinge alles andere ableiten. Diese Auffassung erinnert an einen Innatismus, der in der Tradition immer der Auffassung eines echten Erkenntniserwerbes, auf empirischer Grundlage, gegenüberstand. Ferner übernimmt der Kusaner aus der Tradition die Unterscheidung zwischen dem Verstand (ratio), der die Vielheit der Dinge diskursiv durchgeht, und der Vernunft (intellectus), der alles durch wenige, leitende Ideen umfasst. J. Hirschberger 25 sieht in Cusanus eine gelungene Verbindung der neuzeitlichen Philosophie mit der antiken und mittelalterlichen, sofern er zu diesem den modernen Gesichtspunkt der schöpferischen Kraft des menschlichen Geistes hinzubringt, der die Vielheit in den Dingen zu einer synthetischen Einheit im Geist zusammenführt: »als dem produktiven Element unserer ganzen Erkenntnis, worauf Kants Vernunftkritik beruhe, was auch Leibniz gewollt hätte, was Fichte zur Lehre vom reinen Ich ausgebildet habe und womit Schelling und Schleiermacher das individuelle Ich und die Unendlichkeit des Universums und Gottes vereinen wollten«. Doch würde ich an dem wesentlichen Unterschied festhalten, der zwischen dem Kusaner und jenen Philosophen der Neuzeit darin liegt, dass die menschliche Vernunft als Grundlage ihrer aktiven Denktätigkeiten eine rezeptive Haltung hat, mit der sie die Dinge,
Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Freiburg i. Br. 578–79.
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1976, Bd. 1,
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sich selbst und Gott als vorgegebene Realität erfasst. Dieser Realismus ist dann bei den modernen Denkern verloren gegangen.
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Schlussbemerkung
Im Rückblick gesehen, stellen die Lehren des Thomas v. Aquin, Duns Scotus, Wilhelm v. Ockham und Cusanus nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie, auf die wir uns beschränkten, den Höhepunkt dieser Epoche dar, die daher mit Recht als Hoch- und Spätscholastik bezeichnet wird. Besonders Thomas’ Werk ragt in jeder Hinsicht als bedeutsam hervor: Es erörtert in reifer Form Hauptprobleme der Erkenntnistheorie, Metaphysik, Naturphilosophie und Ethik, einschließlich der Lehre über den Menschen, und eröffnet, in argumentativer Form, Wege zu ihrer Lösung. Es ist nicht nötig, sie hier nochmals zu wiederholen. Verwiesen sei auf die Zusammenfassungen in den einzelnen Kapiteln. Die Probleme haben häufig allgemeine Form und werden teilweise bei Philosophen der Neuzeit wiederkehren, wie bei Descartes, Kant u. a., ohne dass sie sich dessen bewusst sind, weil zu wenig vertraut mit den mittelalterlichen Texten.
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