Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels [1 ed.] 9783428478026, 9783428078028


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Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels [1 ed.]
 9783428478026, 9783428078028

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FELICITAS DÖRR

Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels

Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, CarditT . Hans Bertram, München . Karl Martin Bolte, München . Lothar Bossle, Würzburg . Walter L. Bühl, München· Lars Clausen, Kiel· Roland Eckert, Trier . Friedrich Fürstenberg, Bonn . Dieter Giesen, Berlin . Alois Hahn, Trier· Robert Hettlage, Regensburg . Werner Kaltefleiter, Kiel· Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld· Henrik Kreutz, Nürnberg· Heinz Laufer, München· Wolfgang Lipp, Würzburg . Thomas Luckmann, Konstanz· Kurt Lüscher, Konstanz· Rainer Mackensen, Berlin . Georg Mantzaridis, Thessaloniki· Norbert Martin, Koblenz· Julius Morel, Innsbruck . Peter Paul Müller-Schmid, Freiburg i. Ü.. Elisabeth Noelle-Neumann, Mainz . Horst Reimann, Augsburg . Walter Rüegg, Bern . Johannes Schasching, Rom . Erwin K. Scheuch, Köln . Gerhard Schmidtchen, Zürich . Helmut Schoeck, Mainz . Dieter Schwab, Regensburg . Hans-Peter Schwarz, Bonn . Mario Signore, Lecce . Josef Solar, Brno . Franz Stimmer, Lüneburg . Friedrich H. Tenbruck, Tübingen· Paul Trappe, Basel· Laszlo Vaskovics, Bamberg· JefVerhoeven, Leuven· Anton C. Zijderveld, Rotterdam . Valentin Zsifkovits, Graz Herausgegeben von

Horst Jürgen Helle, München· Jan Siebert van Hessen, Utrecht Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br.. Nikolaus Lobkowicz, München Arnold Zingerle, Bayreuth

Band 21

Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels Von Felicitas Dörr

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dörr, Felicitas:

Die Kunst als Gegenstand der Kulturanalyse im Werk Georg Simmels / von Felicitas Dörr. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft; Bd. 21) Zug!.: München, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07802-0 NE: Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft: Sozial wissenschaftliche Abhandlungen der ...

Alle Rechte vorbehalten

© 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0935-4999 ISBN 3-428-07802-0

Für Gunter und Merlin Danke auch allen Anderen, die mich unterstützt haben.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

9

2. Soziologie als Kulturwissenschaft ......................................

23

2.1. Historische Bedingungen .........................................

23

2.2. Paradigmenwechsel in der Wissenschaft ............................

23

2.3. Heinrich Rickert (1863-1936) ......................................

24

2.4. Max Weber (1864-1920)

26

..........................................

2.5. Wilhelm Dilthey (1833-1911)

......................................

29

2.6. Elemente von Georg Simmels Kulturanalyse ........................

31

2.6.1. Erkenntnistheorie

32

2.6.2. Formensoziologie

38

2.6.3. Lebensphilosophie

43

2.6.4. Das Problem der Individualität ............................. .

46

2.7. Simmels Essays zur Kultur

...................................... .

2.7.1. Vom Wesen der Kultur (1908)

50

............................. .

51

2.7.2. Die Zukunft unserer Kultur (1909) .......................... .

54

2.7.3. Der Begriff und die Tragödie der Kultur

55

2.7.4. Wandel der Kulturformen ................................. .

57

2.7.5. Der Konflikt der modernen Kultur

58

3. Simmels Schriften zur Kunst

61

3.1. Schriften zu großen Künstlerpersönlichkeiten 3.1.1. Michelangelo (1475-1564)

...................... .

64

................................. .

64

3.1.2. Rembrandt (1606-1669)

71

3.1.3. Auguste Rodin (1840-1917)

82

3.1.4. Ergebnisse

89

.............................................. .

8

Inhaltsverzeichnis 3.2. Einzelessays zu ästhetischen Problemen ............................ 3.2.1. Das Gesicht/Porträts 3.2.2. Die Landschaft

......................................

95 96

.......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102

3.3. Künstler, Kunstwerks und Funktion von Kunst bei Simmel

........... 106

3.3.1. Der Künstler ............................................. 106 3.3.2. Das Kunstwerk

........................................... 109

3.3.3. Die Funktionen der Kunst

.......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 111

4. Die Schriften zur Kunst im Gesamtwerk Simmels

113

4.1. Simmels Schriften zur Kunst in der aktuellen Simmelforschung

113

4.2. Simmels Schriften zur Kunst in der Gesamtsicht

124

4.3. Philosophische Anteile in Simmels Schriften zur Kunst ............... 125 4.4. Der Stellenwert der Moderne in Simmels Schriften zur Kunst ......... 127 4.4.1. Die Moderne in Simmels Schriften zu zeitgenössischen Künstlern 129 4.5. Kulturanalyse oder gelebtes Ästhetentum?

133

5. Schlußkapitel .. . .................................................... 146 Lebenslauf Georg Simmels

157

Literaturverzeichnis .................................................... 158

1. Einleitung Die Beziehung zwischen Georg Simmel und der Kunst könnte als lebenslange Liaison bezeichnet werden, die mit den Jahren immer intensiver wurde. Schon während seiner Studienzeit in Berlin hatte Simmel seine Vorliebe für die bildenden Künste entdeckt. Er studierte an der Berliner Universität von 18761881 neben Geschichte, Philosophie und Völkerpsychologie auch Kunstgeschichte und Altitalienisch 1 (eine Sprache, deren Beherrschung auch heute noch für das Studium der Kunstgeschichte notwendig ist). Simmels erste, von der Fakultät abgelehnte, Dissertation aus dem Jahre 1881 trug den Titel Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik. 2 In dieser Dissertation war der junge Simmel stark von der Evolutionstheorie Darwins beeinflußt. Darwin hatte die These vertreten, daß sich die Sprache aus anfänglich vorhandenen Fähigkeiten zur Äußerung musikalischer Laute entwickelt habe, 3 während Simmel versuchte, die Entwicklung der Musik über den Gesang nachzuzeichnen, wobei er die These vertrat, daß der Gesang zunächst nur "eine durch den Affect gesteigerte Sprache gewesen sei".4 Instrumentelle Musik und vokale Musik hatten für Simmel ihre Quellen beide in der Äußerung eines Gefühls, das nicht mit den üblichen sprachlichen Mitteln zutreffend geäußert werden könne. Ausgehend von solchen Überlegungen schritt Simmel schließlich zur Erklärung der Musik als Kunstform weiter. Musik werde erst dadurch zur Kunst, daß sie mehr und mehr ihren natürlichen Charakter verliere. Nicht mehr das individuelle Gefühl werde spontan durch Töne geäußert, sondern die Musik sei selbst schon ein objektiviertes Bild dieser Gefühle. 5 Seine Annahmen über die Entstehung der Musik belegte der junge Simmel mit ethnologischem Material von großer Spannweite. So äußerte er sich über die Entstehung des JodeIns und des Volksliedes ebenso wie über Musik bei 1 Der Hinweis auf Simmels Studienwahl entstammt der Biographie, die bei Werner Jung, 1990a, in seiner Einführung in Georg Simmel enthalten ist. Da es den Rahmen meiner Einleitung sprengen würde, die Lebensdaten Simmels noch mal vollständig wiederzugeben, wird diese Biographie bei mir im Anhang vollständig übernommen. Simmel studierte Kunstgeschichte vor allem bei Hermann Grimm. Vgl. dazu: Simmel, H. (1976), Lebenserinnerungen, in: Böhringer, H.j Gründer, K. (Hrsg.) (1976), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt a. M., S. 250. 2 Abgedruckt in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, 13, 1882, S.261-305. 3 Dahme, H. J.j Rammstedt, O. (1983), Georg Simmel- Schriften zur Soziologie, Frankfurt a. M., S.10. 4 Simmel,G. (1882), S. 270. 5 Ebd., S. 282.

10

1. Einleitung

Naturvölkern. 6 Ganz im Stil der Zeit, griff er in seiner Dissertation auch auf naturwissenschaftliche Forschungen zurück, um die Entstehung des kulturellen Phänomens der Musikentwicklung zu erklären. Die Dissertation wurde aber, wie schon erwähnt, abgelehnt. "Als Gründe für die Ablehnung nannten die zuständigen Professoren in den überlieferten Dokumenten und Gutachten die thesenhafte Großzügigkeit der Ausführungen und die mangelhafte Genauigkeit der Beweisführung. Dabei wurde zugegeben, daß der Gegenstand ungewöhnlich sei, aber die Art der Ausführung erfuhr entschiedene Kritik: Viele Schreibfehler, unleserliche Zitate usw. "7

Vielleicht war die Ablehnung dieser Arbeit einer der Gründe dafür, daß Simmel sich später nicht wieder wissenschaftlich explizit mit der Musik beschäftigte. 8 Glücklicherweise hatte dieser frühe Mißerfolg aber nicht sein wissenschaftliches Interesse für die bildenden Künste geschmälert, mit denen er sich nach seiner Promotion 9 auch weiterhin geistig befaßte. So schrieb er über sie 1892 in Probleme der Geschichtsphilosophie genauso wie in seiner 1900 erschienen Philosophie des Geldes oder 1906 in dem Werk Die Religion. Ab 1896 nahm die bildende Kunst als eigenständiges Arbeitsgebiet dann einen immer größeren Raum in seinem Werk ein. Von diesem Jahr an erschienen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Aufsätze, in denen ästhetische Problem behandelt wurden, etwa in der Zeitschrift DIE ZUKUNFT ein Aufsatz über Soziologische Ästhetik (1896), in der gleichen Zeitschrift zwei Jahre später ein Aufsatz unter dem Titel Stefan George - Eine kunstphilosophische Betrachtung und auch die Momentbilder sub specie aeternis in der JUGEND (18891901). In einem Brief an Heinrich Rickert vom 8.5.1905 beschrieb Simmel schließlich die Arbeit an der Kunstphilosophie nach Vollendung der rein soziologischen Studien als den Abschluß seines Lebenswerkes 10 und so kann es nicht verwundern, wenn in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten, also in der Zeit von 1900-1918 die Arbeiten über die Kunst einen immer größeren Teil seines Schaffens für sich beanspruchten. Er beschäftigte sich nun vorwiegend mit großen Künstlerpersönlichkeiten: Goethe, Rembrandt, Michelangelo und Rodin wurden zu Gegenständen seiner Untersuchungen. Gerade die geistige Ebd., S. 293f. Helle, H. J. (1988), Soziologie und Erkenntnistheorie bei Georg Simmel, Darmstadt, S.7f. 8 Vgl. zur Rolle der Musik in Simmels Schriften auch: Helle, H. J. (1992), Musik als Thema bei Georg Simmel und Max Weber, in: Lipp, W. (Hrsg.) (1992), Gesellschaft und Musik - Wege zur Musiksoziologie, Soziologia Internationalis, Beiheft 1, Duncker & Humblot, Berlin, S. 133 -139. 9 Als Dissertation, die schließlich angenommen wurde, erschien im Jahre 1881 eine Arbeit mit dem Titel "Das Wesen der Materie nach Kants physischer Monadologie". Diese Arbeit war bereits vorher von Simmel verfaßt worden und er hatte mit ihr einen Preis gewonnen. Vgl. dazu Helle, H. J. (1988), S. 8. iO Vgl. dazu: Gassen, K./ Landmann, M. (Hrsg.) (1958), Buch des Dankes an Georg Simmel - Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin, S. 102. 6

7

1. Einleitung

11

Hinwendung zu diesen herausragenden Künstlerpersönlichkeiten verweist m. E. darauf, daß sich Simmel der Kunst zuwandte, um die Ursachen für die Ausbildung der Kultur der beginnenden Moderne in der ihm entgegentretenden Form aufzuspüren, was er am Beispiel dieser Personen illustrieren wollte. Die Idee, die Entwicklung einer Kultur durch die Beschäftigung mit dem Werk großer Genies nachzuzeichnen, könnte Simmel von Hermann Grimm, seinem Lehrer der Kunstgeschichte, übernommen haben. Grimm (1828-1901), Sohn eines der berühmten Gebrüder Grimm, stand in seinem Denken ganz in der Tradition der Romantik und fühlte sich als unmittelbarer Nachfahre Goethes. l l Hier findet sich eine Parallele zu Simmel, der Goethe ebenfalls außerordentlich verehrte; außerdem hatte Grimm beruflich auch ein Faible für Raphael und vor allem für Michelangelo. 12 Wenn er sich mit Kunst beschäftigte, dann waren es immer die großen Persönlichkeiten, die ihn interessierten, folgerichtig beschäftigte er sich vor allem mit deren Biographie. Seine Überzeugung war: "Die Kunstgeschichte hat das Ziel, das Leben der Männer ergründen zu helfen, welche sich der bildenden Kunst als Mittel bedienten, ihren Geist zu offenbaren. Die Gliederung der Kunstgeschichte ergibt sich danach von selbst. Die großen Meister sind als die Kernpunkte zu nehmen, um welche die Studien und die Sammlungen zu beginnen haben."13

Die von Grimm formulierte Vorgehensweise benutzte Simmel ebenfalls, wenn er die Entwicklung der abendländischen Kultur seit der Renaissance am Beispiel des Lebens und Werkes von Michelangelo, Rembrandt und Rodin schlaglichtartig beleuchtete. Doch der Einfluß seines Lehrers Grimm könnte neben der Wahl 11 Ein anderer Schüler beschreibt Grimm wie folgt: "In seiner äußeren Erscheinung trug er mit einer gewissen Koketterie etwas Altväterliches zur Schau und markierte dadurch den Erben und Verweser der Goethe-Zeit. Die schlanke vornehme Gestalt mit dem edlen, von einem kurz geschnittenen Bart fest umfaßten Gesicht steckte in einem langen Gehrock, um den weißen offen stehenden Kragen war eine breite schwarze Binde altmodisch kunstvoll geschlungen in einer Form, wie sie sonst niemand mehr trug. Aristokratisch - patriarchalisch in Haltung und Gesten bot sein Anblick ästhetischen Genuß. In seinem Vorlesungen wandelte er mit aufrechtem Gang vor dem Katheter auf und ab, sprach im Plauderton und überließ sich seinen Einfallen." Wiesbach, H. W. (1937), Und alles ist zerstoben - Erinnerungen aus der Jahrhundertwende, Wien/ Leipzig/ Zürich, S. 127. Sogar diese Beschreibung des Grimmschen Vortragsstils weist Parallelen zu Simmels Art des Dozierens auf. Man vergleiche dazu die Beschreibungen seines Studenten Emil Ludwig in: Gassen, K./ Landmann, M. (Hrsg.) (1958), Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin, S. 155. 12 Grimm stand mit seinem Interesse für Renaissancekünstler nicht allein, sondern mitten im akademischen Mainstream seiner Epoche, weil um die Jahrhundertwende in Deutschland eine gesteigerte Vorliebe für die Renaissance unter Kunsthistorikern herrschte. Vielleicht war auch Simmel in seiner Begeisterung für Michelangelo von dieser Strömung erfaßt worden. Vgl. dazu: Gombrich, E. H. (1981), Aby Warburg - Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M., S. 10. 13 Zitiert nach: Kultermann, U. (1981), Geschichte der Kunstgeschichte, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien, S.228.

12

1. Einleitung

der Personen, die Simmel für dieses Vorhaben heranzog, auch den Stil in dem er ästhetische Themen formulierte, mitgeprägt haben. Grimm liebte die Literatur, er schrieb selbst Novellen, Essays und Dramen und für ihn galt ein Historiker nur dann als interessant, wenn er zugleich ein Künstler war, dessen Sprache anderen lebhaft die vorgetragenen Ideen nahebrachte. 14 Das vielleicht von Grimm mitgeprägte Interesse Simmels für große Künstlerpersönlichkeiten könnte zudem, in Verbindung mit der lebhaft geführten Rembrandtdiskussion um die Jahrhundertwende, zu Simmels Beschäftigung mit diesem Meister des Barock geführt haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts "wurde die Gestalt Rembrandts nämlich allgemein zu einer Art Zeitsymbol, in dem sich bestimmte Gedanken der Epoche kristallisierten." 15

Auslöser der Rembrandtdiskussion in Deutschland war das 1890 erstmals erschienene, und von Simmel negativ rezensierte Buch von Julius Langbehn Rembrandt als Erzieher. 16 Simmel war die zeitgenössische Diskussion um diesen Künstler erwiesenermaßen bekannt und er formulierte seine Erkenntnisse über ihn endgültig in dem 1917 erschienenen Rembrandtbuch. Das Interesse Simmels an seinem Zeitgenossen Rodin gründet hingegen wohl weniger auf gesellschaftlichen Diskussionen als vielmehr auf persönlichem Interesse, denn er hatte die Gelegenheit, diesen persönlich kennenzulernen. 17 Die bisherigen Ausführungen dürften aber schon hinreichend verdeutlicht haben, daß Simmels Interesse für große Künstlerpersönlichkeiten sowohl historische als auch persönlich bedingte Ursachen hatte, daß es keineswegs rein zufallig zustande kam und daß Simmel, wie später noch verdeutlicht wird, seine Selektion aus dem Material der Kunstgeschichte durchaus bewußt vornahm. Er beschäftigte sich m. E. nämlich gerade mit diesen großen Künstlern, weil er an ihrer Person die handlungsrelevanten Werte einer Epoche idealtypisch herausarbeiten wollte. Bei der von Simmel getroffenen Selektion aus dem Material der Kunstgeschichte ist übrigens auffallig, daß er vor allem ausländischen, nicht-deutschen bildenden Künstlern seine großen Arbeiten widmete, obwohl im wilhelminischen Deutschland der starke Nationalismus auch die Führungsrolle der bildenden deutschen Kunst in der Welt betonte. Für Simmel wäre es ein Leichtes gewesen, große deutsche Künstler zum Gegenstand seiner kulturtheoretischen Reflexionen zu machen und somit in den nationalistischen Kanon, den viele seiner Zeitgenossen zum Lobpreis der deutschen Kunst angestimmt hatten, einzustimmen. Als Indiz für die Ablehnung dieser Deutschtümelei, die wohl teilweise in Simmels geistiger Verbundenheit mit einer eher europäisch als Ebd., S. 227. Ebd., S. 233. 16 Die Simmelsche Rezension erschien in der Vossischen Zeitung vom 1. Juni 1890, Sonntagsbeilage 22, S. 7 -1 O. 17 Vgl. dazu das nachfolgende Kapitel 3. 1. 3. über Rodin. 14 IS

1. Einleitung

13

nationalstaatlich orientierten Gruppe jüdischer und deutscher Intellektueller gründete, kann die Rezension des in deutschkonservativen Kreisen hochgelobten Buches "Rembrandt als Erzieher" von Julius Langbehn dienen. Dort schrieb Simmel in einem für ihn außergewöhnlich scharfen Ton, daß der Grundgedanke des Buches wohl darin bestehe, daß das Deutsche Volk in dem höchst individuellen Künstler Rembrandt einen geistigen Erzieher erblicken könne, der das individualistische Ideal, nach dem das Volk nun strebe, vollkommen erfüllt habe. 18 Diesen Grundgedanken Langbehns entlarvte Simmel aber als Banalität und als Ausdruck eines nationalistischen Wunschdenkens, das mit der Person Rembrandts nicht zu tun habe. Er schrieb: "Wenn die deutschen Philologen an banausischem Charakter laborieren, so soll Rembrandt, weil er eine so ,freie, vornehme, in seiner Weise handwerksmäßige Persönlichkeit' ist, zum Richtpunkt für bessere Bestrebungen dienen. Weil Rembrandt unter allen Künstlern am wenigsten Epigone ist, darum könne er die Deutschen vom geistigen Epigonenturn befreien - u. f. f. ins Unendliche. Wenn solche höchst allgemeinen, oft nur im bildlichen Sinne und gegebenenfalls nur für ein engstes Gebiet geltenden Eigenschaften das Ideal für entfernteste und weiteste Gebiete bilden dürfen, so gibt es keinen bedeutenden Geist, den man nicht mit einiger Geschicklichkeit der Deutung zum Erzieher der Gesamtheit stempeln könnte; in jedem Fall hätten etwa Luther, Dürer, Lessing, Beethoven die gleiche Chance, jeder idealen Norm als Etikette angeklebt zu werden. Auf diese Weise läßt sich eben alles beweisen und deshalb nichts."'9

Im Zusammenhang mit einer Frontstellung gegen die Vereinnahmung der abendländischen Kultur durch den deutschen Nationalismus 20 ist auch die Art und Weise bemerkenswert, in der Simmel sich mit der Renaissance befaßte, die zur Jahrhundertwende tres en vogue war. Die hohe Beliebtheit der Epoche steht in engen Zusammenhang mit dem Gedankengut Nietzsches, denn viele Zeitgenossen Simmels sahen in der Renaissance eine Zeit der Emanzipation, die den Menschen aus den sozialen und ethischen Fesseln befreite, ja manchen erschien sie als "Zeitalter sinnlicher Übermenschen" und daher waren viele Deutsche, Engländer und Amerikaner, die damals Florenz zu ihrem Domizil gemacht hatten, davon überzeugt "zu den Quellen ihrer eigenen Kultur zurückzukehren 2L" Gegen diese Verklärung der Renaissance als goldenes Zeitalter der menschlichen Emanzipation, wandte sich das Lebenswerk des Kunsthistorikers 18 Simmel, G. (1890), Rembrandt als Erzieher, in: Vossische Zeitung vom 1. Juni 1890, Sonntagsbeilage 22. Vgl. zur Diskussion des Langbehn-Buches auch: Le Rider, J. (1992), Rembrandt de Langbehn a Simmel: du cIair obscur de I'äme allemande aux couleurs de la modernite, in: Watier, P. (Hrsg.) (1992), Societes N° 37, Dunod, S. 241-252. 19 Simmel, G. (1890). 20 Hamann und Hermand beschreiben ebenfalls sehr eindringlich die Rolle des Langbehnbuches für die Durchsetzung des deutschen Kulturchauvinismus und den Widerstand vieler Intellektueller in ihrem Buch über den Impressionismus. Vgl. dazu: Hamann, R./ Hermand, J. (1972), Impressionismus, München, S. 16-19. 21 Gombrich, E. H. (1981), Aby Warburg - eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a.M., S. 25.

1. Einleitung

14

Aby Warburg - der übrigens genau wie Simmel auch aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammte. Warburg war es unerträglich, mitanzusehen, wie die von Nietzsche inspirierten "Übermenschen" die Kunst der Renaissance für ihre Zwecke gebrauchten und mißbrauchten - und daher arbeitete er immer wieder an Motiven heraus, daß sich auch in der hohen Kunst der Renaissance, die angeblich doch nur von hohen Geist geprägt sei, viele heidnische, primitive und irrationale Element befinden. 22 Ähnliches leistete auch Simmel in seinen Arbeiten über Michelangelo. Er betonte, wie in Kapitel 3 gezeigt werden wird, immer wieder die triebhaften, spannungsreichen, im Kampf zwischen Geist und Körper begründeten Seiten der Kunst des Meisters und zeigte damit auch dessen menschliche Konflikte. Michelangelo erschien daher bei Simmel nicht als künstlerischer Übermensch, sondern als tragische Gestalt. Im Bemühen um die Darstellung dieser dunklen, tragischen Anteile in der Renaissancekunst - und damit der Ablehnung des Übermenschengedankens den Nietzsche verkündetekann durchaus eine Verbindung zwischen Simmel und Warburg - die sich vielleicht durch ihrem gemeinsamen Bekannten Max Liebermann auch persönlich gekannt haben können, hergestellt werden. Die These, daß Simmels Schriften über die großen Künstler zwar nicht direkt politische Gedanken beinhalten, durch die Auswahl der präsentierten Künstler aber doch von Simmel eine politische Stellung gegen den Nationalismus seiner Zeit bezogen wurde, wird auch durch seine Beschäftigung mit Rodin, unterstützt. Schließlich war Rodin Franzose - und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, daß allein seine französische Staatsangehörigkeit mit dazu betrug, daß seine Kunst in Deutschland zur Jahrhundertwende fast unbekannt war. Die anti-französische Stimmung der Zeit wurde in dem schon erwähnten Buch von Langbehn über Rembrandt folgendermaßen formuliert: "Deutschland, das fünfzig Jahre lang demokratisch war, wird vielleicht jetzt aristokratisch werden ... Der französisch-politische Geist ist im Niedersteigen, der deutschpolitische Geist ist im aufsteigen. "23

Für Langbehn und viele von Simmels Zeitgenossen war die französische Kultur und Kunst ein Synonym für Dekadence, geistigen Verfall und Morbidität, sowie politische Inkompetenz. Und es war nicht schwer, die antifranzösische Stimmung anzuheizen. 24 Vielmehr Mut erforderte es, sich gegen die vorherrschende Stimmung zu stemmen und für einen französischen Künstler Partei zu ergreifen, wie es Georg Simmel- und später sein Schüler J ulius MeierGraefe taten, deren unbestreitbares Verdienst es ist, daß die Kunst Rodins und der französischen Impressionisten, aufgrund ihrer Veröffentlichungen, allmählich in Deutschland anerkannt wurden. 25 Vgl. dazu die Bioraphie von Gombrich Langbehn, J. (1890),Rembrandt als Erzieher, Leipzig, S. 151. 24 Vgl. dazu nochmals: Hamann, R.j Hermand, J.(1972), Impressionismus, München, S. 18 f. 22 23

1. Einleitung

15

Neben den großen Künstlermonographien verfaßte Simmel in seinen letzten Lebensjahrzehnten aber auch noch zahlreiche kleinere Aufsätze, die sich mit ganz unterschiedlichen ästhetischen Problemen beschäftigten. So schrieb er über Die ästhetische Bedeutung des Gesichts (1901), Über ästhetische Quantitäten (1903), Das Abendmahl Lionardo da Vincis (1905), Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik (1909), um nur einige Beispiele zu nennen. Obwohl die stetige Bearbeitung ästhetischer Probleme in Simme1s Spätwerk intensiviert wurde, kann trotzdem nicht davon ausgegangen werden, daß er eine eigenständige soziologische Theorie der Kunst erarbeitet hätte: "Die Auseinandersetzungen Simmels mit ästhetischen Problemen beginnen erst in der zweiten Hälfte seines Wirkens größeren Umfang anzunehmen, ohne daß sie sich doch je zu einer Theorie der Kunst verdichteten."26

Sind Simmels Essays über die Kunst angesichts dieser Einschätzung durch seinen geistigen Schüler Siegfried Kracauer etwa doch nur als literarischer Ausdruck persönlicher Neigungen und Bekanntschaften zu bewerten? Es ist hinlänglich bekannt, daß Simmel Freundschaften zu den Dichtern Stefan George und Rainer Maria Rilke unterhielt; durch letzteren lernte er auch Auguste Rodin persönlich kennen. Wie aus den Tagebuchaufzeichnungen von Harry Graf Kessler hervorgeht, traf er sich im Jahr 1903 auch mit Max Liebermann und Henry van de Velde in Max Liebermanns Berliner Atelier, um mit ihnen über die Gründung des Deutschen Künstlerbundes, die erst im . Dezember 1903 zustande kam, zu diskutieren. 27 Ferner stand er den Mitgliedern der BLÄTTER FÜR DIE KUNST nahe, wie dem George Schüler Friedrich Gundolf. 28 Außerdem hatte er freundschaftlichen Umgang mit Hermann Graf Keyserling, Max Weber, Ernst Troeltsch, Heinrich Rickert und später auch mit Henri Bergson. 29 Simmels Freundschaften wurden hauptsächlich in privaten Treffen 25 Vgl. zum Widerstand der deutschen, vor allem jüdischen Intellektuellen gegen die imperialistische Poltik Wilhelms II auch: Lash, S. (1989), Bürgerliche Identität und Modeme: Paris - Wien - Berlin, in: Soziale Welt, Heft 4 (1989), Berlin, S. 472f. Lash beschreibt genau die Institutionen, die der wilhelminische Staat etabliert hatte, um die Entwicklung einer unabhängigen modemen Kunst zu verhindern und beschreibt die Gründung der Berliner Sezession - zu deren Entstehung auch Simmel beitrug - als Reaktion auf den damals verordneten staatlichen Kulturchauvinismus. 26 Kracauer, S. (1921), Georg Simmel, in: Logos IX, 3, S. 311. 27 Vgl. dazu: Frisby, D. (1992), Sociological Impressionism, Afterword to the second edition, 2. Aufl., London / New York, S. 171. In seinen Aufzeichnungen nennt Kessler nur den Namen van de Velde. Es muß sich aber um den 1863 in Antwerpen geborenen Maler, Baumeister und Kunstgewerbler Henry van de Velde handeln. Dieser lebte von 1900 bis 1914 in Deutschland, wo er dann seit 1907 die Kunstgewerbeschule in Weimar leitete. Van de Velde stand den Neoimpressionisten nahe und trat zeitlebens für die Befreiung von der Nachahmung historischer Stile ein. Vgl. zu van de Velde: Jahn, J. (1989), Wörterbuch der Kunst, Stuttgart, S. 878. 28 Jung, W. (1990a), Georg Simmel zur Einführung, Hamburg, S. 19. 29 Habermas, J. (1986), Simmel als Zeitdiagnostiker, in: Simmel, G. (1986): Philosophische Kultur, Berlin, (Neuauflage der Orginalauflage von 1923) S. 8r.

16

I. Einleitung

bei ihm zu Hause gepflegt, er führte in großbürgerlicher Tradition einen "Salon".30 Die Zeitgenossin Margarethe Susmann beschrieb die Atmosphäre dieser Treffen, der sogenannten wöchentlichen "Jours" so: "Sie waren eine soziologische Schöpfung im Kleinen: die einer Geselligkeit, deren Sinn die Pflege des höchst Individuellen war. Das Gespräch hatte dort eine Form, in die kein Mensch sich selbst mit seinen Eigenarten, Problemen und Nöten mitbringen durfte, die, losgelöst von aller Schwere, in einer von Geistigkeit, Liebenswürdigkeit und Takt schwebte."31

Den passenden Rahmen dieser Treffen bildete das mit Kunstwerken reichlich ausgestattete Haus Simmels, in dem er seine Schätze gesammelt hatte: alte kostbare Perserteppiche, Bilder großer Meister, eigenhändige Zeichnungen von Rodin, kostbare Vasen und Schalen aus Fernost, sowie auserlesene Buddhafiguren. 32 Außerdem offenbarte Simmel in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten auch einem etwas größeren, wenngleich aber immer noch erlesenen Zuhörerkreis seine Gedanken zur Kunst in sogenannten "Privatissimen zur Philosophie der Kunst" in Berlin und Straßburg. 33 Diese Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, die Simmel bis kurz vor seinem Tod hielt, und die vielen persönlichen Kontakte zu Künstlern, untermauern die These, daß er nicht nur wissenschaftlich, sondern als gesamte Persönlichkeit "ein der Kunst der Vergangenheit wie seiner Gegenwart äußerst sensibel aufgeschlossener Mensch (war, F.D.). Seine Kenntnisse in der zeitgenössischen Modeme erstreckten sich in erster Linie auf die französische und deutsche Malerei des Impressionismus von Manet bis Liebermann und Corinth, ferner auf die Phänomene des Jugendstils und auf die damals beginnende Kunst des Expressionismus, dessen theoretische Ansätze ihn wie man das aus verstreuten Bemerkungen entnehmen kann - interessierten. "34 30 So erwähnt Landmann in der Einleitung zu seinem zusammen mit M. Susmann herausgegebenen Buch: Georg Simmel- Brücke und Tür, Stuttgart, 1957, auf Seite VII, daß Simmel selbst Sammler war und es ihn immer wieder zu den Pariser und italienischen Kunststätten zog. Ein später berühmt gewordener Kunsthistoriker, Wilhelm Worringer, beschreibt in der Einleitung zu seinem bekannten Buch "Abstraktion und Einfühlung", München, 1987 (Original: 1908) die Begegnung mit Simmel im Pariser TrocaderoMuseum und gibt zu, daß ihm dabei die Inspiration zu diesem Buch, seiner Doktorarbeit kam. Simmel hat also, ohne daß er es wußte, allein durch seine Ausstrahlung die Anregung für die Entstehung eines wichtigen Werkes der Kunstgeschichte geliefert. Vgl. dazu, Worringer, W. (1987), Abstraktion und Einfühlung, München, S. 9f. 31 Susman, M. (1964), Ich habe viele Leben gelebt, Stuttgart, S. 52f. 32 Ebd., S. 59. 33 Vgl. dazu: Gülich, Ch. (1992), Georg Simmel und seine französische Korrespondenz. Historische Konstruktion eines wissenschaftlichen Netzwerkes um die Jahrhondertwende, in: Critique & Humanism International, Special Issue on Georg Simmel (1992), Sofia, S.27. 34 Schmoll gen. Eisenwerth, J. A. (1976), Simmel und Rodin, in: Böhringer, H.I Gründer, K. (Hrsg.) (1976), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt a. M. S. 18. Übrigens stellt Jung in einer neueren Arbeit diese Einstellung Simmels zum Expressionismus, die Schmoll gen. Eisenwerth äußert, in Frage. "Für die modernste Modeme, etwa den Expressionismus, hat Simmel nachweislich nur

1. Einleitung

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In seinem Leben waren theoretisches Arbeiten und persönliche Vorlieben und Interessen also eng miteinander verknüpft. Die Mitteilung dieses Lebensgefühls, das im Grunde den Glauben an die Verwobenheit aller Dinge beinhaltete, ist sicher ein wesentliches Anliegen seiner Arbeiten über die bildende Kunst. Die schon angedeutete Vielfalt der Komponenten, die zur Entstehung von Simmels Schriften über die bildende Kunst geführt haben könnten, macht deren eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin sehr schwierig. Zudem dürfte die innere Vielschichtigkeit der Schriften zu ästhetischen Themen auch einer der Gründe dafür sein, warum ihr Stellenwert im Gesamtwerk Simmels immer noch nicht hinreichend geklärt ist. Während einige Simmelforscher in seinen Arbeiten zur Kunst eher rein philosophische Aspekte zum Ausdruck gebracht sehen, erscheinen sie anderen als der Versuch, die kulturelle Entwicklung von Gesellschaften durch die Beschäftigung mit der Kunst und großer Künstler zu erfassen. 3s Dahme und Rammstedt sehen in Simmels Beschäftigung mit großen Künstlerpersönlichkeiten ein kulturwissenschaftliches Interesse, weil sie: " ... für ihn genuine Produzenten kultureller Güter der Menschheit sind und durch ihre Leistungen die geistige Schöpfungskraft des Menschen repräsentieren. "36

Für eine solche Interpretation von Simmels Auseinandersetzung mit der Kunst finden sich in der neueren Simmelforschung immer mehr Indizien. 37 Zwar kann prinzipiell Kracauer 38 zugestimmt werden, wenn er bemerkte, daß Simmels Arbeiten über die Kunst vor allem in der Zeit entstanden, in der er sich der Lebensphilosophie zugewandt hatte, denn sie war für den späten Simmel zur philosophischen Grundhaltung geworden, weil er hoffte, mit ihrer Hilfe endlich kulturelle Phänomene und Prozesse nicht nur als voneinander getrennte Objektivationen des menschlichen Geistes begreifen zu können, sondern sie als kulturell autonomen Welten angehörig zu erfassen, deren Struktur und Dynamik er jeweils verständlich machen wollte. 39 Es wäre aber eine verkürzte wenig übrig gehabt; er hat ihm die künstlerische Form abgesprochen und ihm Technikfetischismus vorgeworfen." Jung, W. (1990b), Georg Simmel- Vom Wesen der Moderne, Hamburg, S. 346; Wobei diese Ansicht sich meines Erachtens nicht aufrechterhalten läßt, da Simmel in der Formlosigkeit des Expressionismus nur die adäquate Form des Lebensgefühls der Moderne sah. Vgl. dazu: Simmel, G. (1987e), Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Simmel, G. (1987), Das individuelle Gesetz, Frankfurt a. M., S. 156f und außerdem Simmel, G.( 1918a), Der Konflikt der modernen Kultur, München / Leipzig, S.20-23. 35 Liebeschütz, H. (1970), Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, Tübingen, S. 131. 36 Dahme, H. J.I Rammstedt, O.(Hrsg.) (1983), Georg Simmel Schriften zur Soziologie, Frankfurt a. M., S.15. 37 Jung, W. (1990a), S. 130f. 38 Kracauer, S. (1921), S. 315. 39 Bevers, A. M. (1985), Dynamikder Formen bei Georg Simmel, Berlin, S. 160f. Daß Simmel die Kunst als autonome Sphäre betrachtete, geht aus seinen Überlegungen zum 2 Dörr

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1. Einleitung

Sicht der Sirnrnelschen Auseinandersetzung mit der Kunst, wenn man sie nur als Illustration seiner Lebensphilosophie sehen wollte, wie dies einige Sirnrnelforscher tun. 4O Zur Lebensphilosophie muß an dieser Stelle gesagt werden, daß sie nicht nur Sirnrnel faszinierte, sondern bei vielen Gelehrten der Jahrhundertwende beliebt war. Vor allem die Geisteswissenschaftler erblickten in ihr eine Philosophie, die es ihnen ermöglichen sollte, der vorherrschenden mechanistischen WeItsicht der Naturwissenschaften eine mehr organische Auffassung vom Sein der Dinge entgegenzuhalten. So waren nachweislich sowohl Max Weber als auch Wilhelm Dilthey von der Lebensphilosophie Nietzsches oder Bergsons beeinflußt worden. 41 Aber nur bei Sirnrnel hatte die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie besonderem Einfluß auf seine Kulturanalyse: "Was seinen Lebensbegriff im Verhältnis zu dem der anderen großen Lebensphilosophen vor allem kennzeichnet, das ist, daß Leben und Kultur hier unmittelbar ineinandergreifen. Simmel ist ebenso sehr wie Lebens- auch Kulturphilosoph. Visierte Cassierer die Kultur stets nur unter dem Gesichtswinkel des Erkenntnisproblems, waren Kultur und Geschichte für Rickert nur eine gedankliche Konstruktion, so hat Simmel vor ihnen beiden voraus, daß er ebenso sehr wie ein schöpferischer auch ein leidenschaftlich aufnehmender Geist war. Auch als Mensch, auch im Gefühl war er von allem Großen der Kultur, insbesondere der Kunst ergriffen."42

Jedoch scheinen mir die zuvor kurz erwähnten persönlichen Kontakte Sirnrnels zu Künstlern, sowie seine Faszination von der Lebensphilosophie noch nicht als hinreichende Erklärungsmuster für seine lebenslange Beschäftigung mit der Kunst. Ein kurzer Überblick über die von Sirnrnel verfaßten Werke zeigt, daß sein Denken sich mehr oder weniger während seines gesamten Lebens immer wieder um die gleichen Themenkreise drehte: Wissenschaftstheorie, Religion, Ökonomie und Kunst - alles Teilbereiche einer umfassenderen Unterschied zwischen Kunst und Leben in seinem Aufsatz "Das Problem des Porträts", der 1922 in der Essaysammlung "Zur Philosophie der Kunst" erschien, hervor. Dort heißt es: "Das Verhältnis aller Kunst zum Leben wird man so bezeichnen können, daß gegenüber der bunten, unruhig flutenden, aus unzähligen heterogenen Elementen durcheinandergemischten Ganzheit des realen Lebens jede Kunst ein Element, die Welt eines Sinnes, eine Möglichkeit des Fühlens und Fonnens heraushebt und damit einen umfriedeten Bezirk schafft, der vielerlei Inhalte der Welt aufnimmt und nach seinen besonderen Gesetzen gestaltet." Simmel, G. (1922d), S. 107. 40 Vgl. dazu: Jung, W. (1990b), S. 347. 41 Vgl. dazu: Peukert, D. (1989), Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen; Nohl, H. (Hrsg.) (1961), Wilhelm Dilthey - Die Philosophie des Lebens, Stuttgart; Bevers, M. A. (1985), Dynamik der Fonnen bei Georg Simmel, Berlin. 42 Landmann, M. (1957), Einleitung, in: Landmann, M./ Susman, M. (Hrsg.) (19S7), Georg Simmel- Brücke und Tür, Stuttgart, S. XVII. Die Sicht, daß Simmel eben vor allem ein Kulturphilosoph war, setzt sich in der Simmelforschung immer stärker durch. Vgl. dazu in dem Sammelband von Dahme, H. J./ Rammstedt, O. (Hrsg.) (1984), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt a. M., vor allem die Beiträge von Nedelmann, Landmann, Böhringer, Hübner-Funk und Schnabel.

1. Einleitung

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Kultur. Seine soziologischen und philosophischen Überlegungen zu diesen Teilbereichen der Gesellschaft erlauben m. E. den Schluß, daß er in jedem eine autonome Welt sah, die wohl ihren eigenen Gesetzten folge, die aber gleichwohl alle Facetten des gesellschaftlichen Lebens widerspiegele. 43 Gesellschaft träte, in dieser Simmelschen Perspektive, dem einzelnen nicht als homogenes Ganzes entgegen, sondern stets in Teilkulturen. Wenn nun, ein Ausschnitt der Wirklichkeit, eben eine solche Teilkultur, genau hinsichtlich der Wechselwirkungen, die in ihr zwischen den Individuen stattfinden, analysiert werde, ermögliche dies, so folgerte Simmel weiter, ein Bild der ganzen Kultur zu entwerfen. 44 Simmel selbst hat diese Vorgehensweise in seiner Philosophie des Geldes (1900) schon für die Ökonomie herausgearbeitet. Geld bezeichnete er dort als Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Kultur, deren Grundmerkmal ein rationaler, von Emotionen oder mit den Dingen verknüpften emotionalen Inhalten, losgelöster Umgang der Individuen untereinander sei. 45 Auch für die Religion stellte Simmel im gleichnamigen Buch von 1906 fest, daß sie sich im Rahmen der modernen Kultur grundlegend verändert habe und nun nicht mehr in der Lange sei, alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu durchdringen. Sie habe ihren Rückzug angetreten in die Privatsphäre, diene der seelischen Entwicklung der Individuen, anstatt noch länger eine ihnen äußerliche, gesellschaftliche Ordnungskraft zu sein und erfülle dennoch eine grundsätzliche Aufgabe der Kultur, indem sie den Weg der Seele zu sich selbst erleichtere. 46 Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, herauszuarbeiten, daß auch Simmels Interesse an der bildenden Kunst 47 das gesamte Werk durchzog und durchaus einen ernsthaften Versuch darstellte, die gesellschaftliche Realität auch am Beispiel dieses kulturellen Teilbereiches verstehbar zu machen. Die Grundlagen 43 Vgl. dazu: Landmann, M. (1987), Einleitung des Herausgebers, in: Landmann, M.(Hrsg.) (1987), Georg Simmel- Das individuelle Gesetz, Frankfurt a. M., S. 18f. 44 Simmel, G. (1983a), Das Gebiet der Soziologie, in: Dahme, H. J.I Rammstedt, O. (Hrsg.) (1983), Georg Simmel- Schriften zur Soziologie, Frankfurt a. M., S. 44. Auch Frisby sieht in Simmels Arbeiten einen Versuch, mittels der Analyse gesellschaftlicher Teilkulturen, oder Fragmente, wie er es nennt, die ganze 'Kultur nach und nach durchschaubar zu machen. Vgl. dazu: Frisby, D. P. (1984), Georg Simmels Theorie der Modeme, in: Dahme, H. J.I Rammstedt, O. (Hrsg.) (1984), Georg Simmel und die Modeme, Frankfurt a. M., S. 27. 45 Vgl. Simmel, G. (1900), Philosophie des Geldes, Leipzig. 4(i Vgl. dazu Simmel, G. (1906), Die Religion, Frankfurt a. M. Hier beschrieb Simmel sehr gut, wie sich dem religiösen Menschen die gesamte Lebenswelt neu ordne, wie er Kultur unter dem Aspekt des Glaubens erlebe und somit seine Lebenswelt eine von den anderen gesellschaftlichen Teilkulturen unabhängige eigene Struktur gewinne. Diesen Aspekt verdeutlichen: KautTmann, M. (1990), Struktur und Dynamik sozialer ProzesseMakrosoziologische Aspekte der Kulturentwickiung bei Georg Simmel, München und Helle in der Einleitung zu: Helle, H. J. (Hrsg.) (1989), Georg Simmel - Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, Berlin. 47 Seine Arbeiten über die Schriftsteller Goethe, oder Nitzsch~ werden hier nicht berücksichtigt, weil ich mich hauptsächlich auf die bildene Kunst bei Simmel konzentrieren möchte.

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I. Einleitung

seiner Kulturanalyse bildeten dabei für Simmel, neben der Lebensphilosophie, vor allem seine Geschichtsphilosophie und die damit verbundene Methode des Verstehens sowie die speziell von ihm erarbeitete Formensoziologie. Wie kann nun die von mir behauptete Verwobenheit von Simmels Kulturanalyse mit seinen Schriften zur Kunst herausgearbeitet werden? Im nachfolgenden Kapitel sollen zunächst die Gründe für die Entstehung der Soziologie als eigenständige Kulturwissenschaft um die lahrhundertwende kurz umrissen werden, denn Simmels Kulturanalyse muß m. E. eng verknüpft mit dem Heraufziehen der Modeme und der damit verbundenen neuen Standortbestimmung der Geisteswissenschaften gesehen werden. Bei dieser Standortbestimmung sind vor allem die Arbeiten Rickerts, Max Webers und Diltheys zu berücksichtigen, die Simmel bekannt waren und an die er teilweise anknüpfte, die er aber in wesentlichen Punkten auch überwand. In einem weiteren Schritt sollen dann die philosophischen Grundlagen, die Simmel für seine Kulturanalyse legte, nämlich die Erkenntnistheorie, die er am Beispiel der Geschichtswissenschaft erarbeitete, seine Konzeption des Verstehens, die Formensoziologie, in ihrem Dualismus zwischen Form und Inhalt und schließlich die Lebensphilosophie, die zur Triologie Leben - Form - Inhalt in Simmels Denken über die Kulturentwicklung führte, skizziert werden. Dabei wird von mir eng an den Originaltexten gearbeitet werden, um Simmels Denken zu erschließen. Gerade bei einem so brillanten und mehrdeutig interpretierbaren Autor wie Simmel scheint es wichtig, die Quelle selbst zu lesen, um sein Denken fassen zu können, weil das Wasser immer klarer ist, je näher man es an der Quelle trinkt. Anhand der Textinterpretation wird es möglich, die Verwobenheit aller Einzelelemente in Simmels Kultursoziologie allgemein, und speziell an seinen Überlegungen über die bildende Kunst, zu veranschaulichen. Dazu werden im dritten Kapitel der Arbeit zuerst die Texte zu den großen Künstlerpersönlichkeiten Michelangelo, Rembrandt und Rodin inhaltlich ausgewertet, wobei neben der Lebensphilosophie und Simmels Erkenntnistheorie vor allem auch seine Sicht der kulturellen Entwicklung an der zeitlichen Abfolge des Lebens der Meister deutlich werden. In einem kleinen Zwischenresümee.s!Jll anschließend die Frage gestreift werden, ob Simmels Beschäftigung mit diesen herausragenden Künstlern mehr kunsthistorisch, kunstphilosophisch oderkunstsoziologisch angelegt war. Weitere wichtige Aspekte seiner Überlegungen zur Kunst können durch die Beschäftigung mit den kleineren Aufsätzen, die nach 1900 erschienen und sich mit ästhetischen Problemen beschäftigen, verdeutlicht werden. Durch ihre Lektüre und Auswertung sollte es möglich sein, herauszufinden, was Simmel unter einem Kunstwerk, einem Künstler, sowie der ges{!llschaftlichen und individuellen Funktion der Kunst verstand. Die Definition dieser wesentlichen Begriffe in Simmels Reflexionen über die Kunst unterstützt die These, daß er sich nicht etwa kunsthistorisch oder kunstphilosophisch mit Ästhetik beschäftigte, sondern vielmehr versuchte, eine eigene kulturtheoretische Perspektive zu entwerfen, die es ermöglichen sollte, kulturellen Wandel

I. Einleitung

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aufgrund des Wandels von künstlerischen Formen, die letztlich ja geronnenes Leben enthalten, zu begreifen. Simmel ging davon aus, daß nur in der Wechselwirkung zwischen den Subjekten und der Welt der Objekte Kultur wirklich werden könne, denn: "Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur. Ihr liegt eine innere Tatsache zugrunde, die man als ganze nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken kann: als den Weg der Seele zu sich selbst."48

Vor dem Hintergrund der bis zum Schluß des dritten Kapitels entwickelten Thesen sollen dann anschließend aktuelle Ansätze in der Simmelforschung, die eine Einordnung und Bewertung von dessen Schriften zur Kunst im Gesamtwerk versuchen, diskutiert werden. Die kurze Darstellung der Simmel-Interpretationen von Frisby, Hübner-Funk, Böhringer und Lichtblau dient zunächst dem Aufbau einer Diskussionsgrundlage. Beim Vorstellen dieser Ansätze zeigt sich, daß es all diesen Autoren gemeinsam zu sein scheint, daß sie Simmels Schriften über die Kunst entweder als Beitrag zur "impressionistischen" Illustration des Lebensgefühls der Moderne werten, oder in ihnen eine ästhetische Zugangsweise zur Erschließung der Kultur der Moderne sehen, wobei sie die Rechtfertigung ihrer Sichtweise hauptsächlich auf Simmels Aussagen zur Kunst in seinem Werk Philosophie des Geldes von 1900 begründen. Um zu überprüfen, ob die von den genannten Forschern vorgenommene Bewertung von Simmels Schriften über die Kunst innerhalb seines Gesamtwerkes aber wirklich dessen eigener Intention entspricht, müssen m. E. vor allem vier Dinge berücksichtigt werden. Erstens müssen Simmels Schriften zu ästhetischen Fragestellungen, die im Zeitraum zwischen 1900 bis zu seinem Tod im Jahre 1918 geschrieben wurden, zusammenhängend gelesen werden. Zweitens müssen auch die philosophischen Elemente, die einen wesentlichen Anteil an Simmels Aussagen zur Kunst haben, nicht nur als schmückendes Beiwerk gewertet werden, sondern ihr Sinn muß im Gesamtzusammenhang der Schriften herausgestrichen werden. Drittens muß herausgefunden werden, welche Sicht der Moderne überhaupt in Simmels Werk Eingang fand und welchen Anteil sie quantitativ in seinen Reflexionen über die Kunst innehat. Sicher beschränkte sich das Erlebnis des Fin de Siede und der Beginn der Moderne für Simmel vor allem auf seine Heimatstadt Berlin, die damals eine Metropole des europäischen Kontinents war. 49 In seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903 setzte Simmel dem Berlin seiner Zeit ein Denkmal, indem er die bezeichnendsten Merkmale der Moderne, wie zunehmende Individualisierung, Entfremdung, 48 Simmel, G. (1986a), Der Begriff und die Tragödie der Kultur, S. 195. 49 Vgl. dazu: Strohmeyer, K. (1990), Der Kumpel liebt Berlin nicht Metropole und Industrielandschaft, in: Nitschke, A./ Ritter, G. A. (Hrsg.) (1990), lahrhundertwendeDer Aufbruch in die Modeme, Reinbek bei Hamburg, S. 45 f.

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1. Einleitung

soziale und ökonomische Differenzierung, Pluralisierung der Lebenswelten und Lebensstile, Rationalisierung des Handelns und Denkens auf allen gesellschaftlichen Ebenen etc., an seinem Beispiel aufgezeigte. 50 Aber es muß überprüft werden, ob sich vor allem Beschreibungen der beginnenden Moderne in den ästhetischen Schriften finden, oder ob eher andere Fragestellungen von Simmel qualitativ und quantitativ höher bewertet wurden, als er diese Arbeiten verfaßte. Viertens gehe ich davon aus, daß die bisher in der Simmelforschung vorgenommene Verortung seiner Schriften über die Kunst als ästhetischer oder impressionistischer Beitrag zur Beschreibung der Moderne zu kurz greift, weil Simmels Leistung auch zu sehr als Einzelwerk betrachtet wird und dabei die Quellen und der geistesgeschichtliche Kontext seines Denkens über die Kunst weitgehend unberücksichtigt bleiben. Um diese Sicht zu rechtfertigen soll im Rahmen dieser Arbeit kurz darauf eingegangen werden, in welchem Rahmen sich Simmels Zeitgenossen Max Weber, Wilhelm Dilthey und der Kunsthistoriker Aby Warburg, um die lahrhundertwende mit der Kunst beschäftigten. Dabei zeigt sich nämlich, daß es zu Simmels Lebzeiten anscheinend sehr en Vogue war, ästhetische Themen wissenschaftlich zu behandeln um Erkenntnisse über die Entwicklung der abendländischen Kultur zu erlangen. Nur wenn diese vier Punkte beachtet werden, können m. E. Simmels Schriften zur Kunst innerhalb seines Gesamtwerkes eindeutig verortet werden. Sie erscheinen dann nicht mehr als "Fragmente", sondern als systematischer Beitrag zur Kulturanalyse des Abendlandes. Diese Analyse erfolgte zwar nicht nach den strengen Maßstäben einer naturwissenschaftlich orientierten Soziologie, wie sie heute wieder vielerorts gefordert wird, sondern Simmel erlaubte es sich, Soziologie als Kunst zu betreiben 51 und damit einen Weg zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu beschreiten, der heute leider allzu leicht als Spielerei abgetan wird.

so So sagte Simmel einmal zu seinem Sohn Hans: "Die Entwicklung Berlins von der Großstadt zur Weltstadt in den Jahren um und nach der Jahrhundertwende fällt zusammen mit meiner eigenen stärksten und weitesten Entwicklung." Simmel, H. (1976), Auszüge aus den Lebenserinnerungen, S. 265. SI Vgl. dazu: Maffesoli, M. (1987), Das ästhetische Paradigma - Soziologie als Kunst, in: Soziale Welt 38, Heft 4, S. 460-468.

2. Soziologie als Kulturwissenschaft 2.1. Historische Bedingungen Die Bemühungen Georg Simmels, die Kulturentwicklung des Abendlandes mit Hilfe des Rückgriffes auf ästhetische Themen verstehbar zu machen, können nur hinreichend beurteilt werden, wenn man sich das geistige Umfeld in dem seine Arbeiten verfaßt wurden, erschließt. Daher sollen nachfolgend insbesondere die Arbeiten Heinrich Rickerts, Max Webers und Wilhelm Diltheys im Hinblick auf ihren Stellenwert bei der Definition des Forschungsgegenstandes und der Forschungsmethode für die Kulturwissenschaften vorgestellt werden. Nur im Vergleich mit ihnen können die ideellen Grundlagenfor und eine kurze Darstellung von Simmels Konzeption der Soziologie als Kulturwissenschaft begriffen und hinreichend verdeutlicht werden, wo Simmel an allgemeine wissenschaftliche Fragestellungen seiner Zeit anknüpfte und wo er neue Wege zur Lösung aktueller Fragenkomplexe beschritt. 2.2. Paradigmenwechsel in der Wissenschaft Die Fundierung einer geistesgeschichtlichen Methode und Erkenntnistheorie war um die Jahrhundertwende besonders dringlich geworden, denn, nach Peukert gab es in der Wissenschaftsgeschichte während der letzten 200 Jahre drei große Paradigmenwechsel: "Dann fällt auf, daß es in den letzten drei Jahrhunderten im großen drei solche Paradigmenwechsel gegeben hat: um 1800, als Aufklärungsoptimismus und revolutionäre ,terreur' in der Romantik gebrochen wurden, um 1900 als sich im Höhepunkt der industriegesellschaftlichen Umwälzung der Blick auf die Abgründe am Wege richtete und kulturkritische Schwindelgefühle auslöste, und heute, in den 1980er Jahren, wenn am Ende des Wirtschaftswunders die ,Grenzen des Wachstums' schmerzhaft spürbar werden. Romantik, Kulturkritik und Postmoderne verweisen dabei in verschiedener, jedoch gleichgestimmter Manier auf die Schattenseiten des aufklärerischen Lichts; sie warnen vor der Hybris innerer und äußerer Weltbemächtigung."l

Den Hintergrund des Paradigmenwechsels in den Geisteswissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten im wesentlichen die sozialen und kulturellen Veränderungen, die mit dem Heraufziehen der Modeme verbunden waren. Mit Hilfe der Naturwissenschaften war es gelungen, die Natur technisch verfügbar zu machen und die Industrialisierung in einem bislang ungeahnten Ausmaß voranzutreiben. Die Industrialisierung wurde ihrer~eits dann für die 1

Peukert, D. (1989), Max Webers Diagnose der Modeme, Göttingen, S. 68.

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2. Soziologie als Kulturwissenschaft

Entstehung der modernen Kultur zur Triebfeder, und katapultierte deren Entwicklungen im Positiven wie im Negativen in bislang ungekannte Dimensionen. 2 Jedenfalls hatte die siegreiche Industrialisierung der Gesellschaften in Europa und der Neuen Welt den Naturwissenschaften und ihrer Denkart eine große wissenschaftliche und soziale Akzeptanz verliehen. Endlich schienen mit ihrer Hilfe auch die letzten Rätsel der menschlichen Existenz ergrundbar geworden zu sein. Beispielhaft hierfür kann die Popularität der Evolutionstheorie Darwins - die ja auch den jungen Simmel sehr beeindruckt hatte angeführt werden. Anscheinend konnten mit ihrer Hilfe die Entstehungsgeschichte der Arten und der Menschheit endlich bar jeglicher theologischer oder metaphysischer Deutungen erklärt werden. Die Gesellschaft wurde also nicht nur wirtschaftlich industrialisiert, sondern auch in religiöser Hinsicht säkularisiert und in geistiger Hinsicht rationalisiert. Es fand das statt, was Max Weber die Entzauberung der Welt nannte. Aufgrund ihrer Erfolge hatten die Naturwissenschaften und ihre nomothetische Vorgehensweise auch für viele Geisteswissenschaftler eine große Attraktivität gewonnen. Aber: "Auch um die Jahrhundertwende gab es historisch geschulte Denker, die die ganze Schärfe der Kulturkritik in ihre Analyse aufnahmen, ja gedanklich noch weiter radikalisierten, ohne der gleichzeitigen Sehnsucht nach Eindeutigkeit, sei es durch den Rekurs auf die irrationale Sphäre des ,Erlebens', sei es durch radikalen Utopismus totalitärer Ideologien, nachzugeben. Es ging ihnen, allen voran Max Weber, vielmehr darum, die beinahe unerträglichen Spannungen, die das Signum der Modeme nun einmal sind, auszuhalten und sich ihnen in ,intellektueller Rechtschaffenheit' zu stellen."J

Im geisteswissenschaftlichen Lager bemühten sich neben Weber und Simmel vor allem Wilhelm Dilthey und Heinrich Rickert um die Formulierung einer Erkenntnistheorie, deren Ziel eine methodische und erkenntnistheoretische Abgrenzung von den Naturwissenschaften war. Deren Konzepte sollen nun vorgestellt werden. 2.3. Heinrich Rickert (1863-1936)

Heinrich Rickert hatte 1916 in Heidelberg die Nachfolge des Neukantianers W. Windelband (1845-1915)4 angetreten und versuchte dessen Unterscheidung 2 Wie die Entwicklung der Modeme um die Jahrhundertwende genau aussah, worin ihre wesentlichsten Merkmale lagen, wird im 4. Kapitel ausführlicher dargestellt, weshalb hier nur einige wesentliche Punkte skizziert werden. J Peukert, D. (1989), S. 69. 4 Ursprünglich war auch Simmel für die Windelband-Nachfolge in Heidelberg vorgeschlagen gewesen, aber er wurde aufgrund antisemitischer Tendenzen in der damaligen Zeit nicht berufen. Vgl. dazu. Weber, Marianne (1926), Max Weber - Ein Lebensbild, Tübingen, S. 361 und außerdem: Gay, P. (1976), Begegnung mit der Modeme - Deutsche Juden in der deutschen Kultur, in: Mosse, W. E. (Hrsg.) (1976), Juden im wilhelminischen. Deutschland 1890-1914, Tübingen, S. 263.

2.3. Heinrich Rickert (1863 - 1936)

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zwischen ideographischen und nomothetischen Wissenschaften für die Konturierung der Geisteswissenschaften weiter auszuarbeiten. Er ersetzte die Begriffe "nomothetisch" und "ideographisch" durch die Bezeichnungen "generalisierend" und "individualisierend" und grenzte so die Methoden der Naturwissenschaften von denen der Kulturwissenschaften ab. S Rickert unterließ es allerdings, den Naturwissenschaften und den Kulturwissenschaften jeweils völlig getrennte Untersuchungsgegenstände zuzusprechen; ein und dieselbe Sache konnten für ihn jeweils unter einem anderen Interesse und somit auch unter Rückgriff auf unterschiedliche Methoden untersucht werden. 6 Bei seiner Abgrenzung der Kulturwissenschaften von den Naturwissenschaften kam Rickert schließlich zur Wertproblematik. Aufgrund der Behaftetheit mit Werten, die in das menschliche Denken und Handeln mit einflößen, könnten nämlich erst die Untersuchungsgegenstände der Naturwissenschaften von denen der Kulturwissenschaften unterschieden werden. "Naturprodukte sind es, die frei aus der Erde wachsen. Kulturprodukte bringt das Feld hervor, wenn der Mensch geackert und gesät hat. Hiernach ist Natur der Inbegriff des von selbst entstandenen, ,Geborenen' und seinem eigenen ,Wachstum' überlassenen. Ihr steht die Kultur als das von einem nach gewerteten Zwecken handelnden Menschen entweder direkt Hervorgebrachte oder, wenn es schon vorhanden ist, so doch wenigstens um der daran haftenden Werte willen absichtlich gepflegte gegenüber."7

Während sich die Naturwissenschaften mit dem vom Menschen unbearbeiteten, natürlichen Material beschäftigten, bilde die geistige Hinwendung zu den kulturellen Werten die Grundlage der Kulturwissenschaften: "Kurz, die Einheit und Objektivität der Kulturwissenschaften ist bedingt von der Einheit und Objektivität unseres Kulturbegriffes und diese wiederum von der Einheit und Objektivität der Werte, die wir werten. "8

Damit hatte Rickert ein geistiges Fundament geschaffen, auf dem die Kulturwissenschaften ein eigenes Interessengebiet abstecken und selbständige Methoden entwickeln konnten. Es würde hier zu weit führen, alle Aspekte der Rickertschen Erkenntnistheorie abzuhandeln. Für unsere Überlegungen ist vor allen Dingen wichtig, daß die Rickertsche Werttheorie entscheidend zu Webers Konzeption der Soziologie als Kulturwissenschaft beitrug und, über Weber hinaus wohl auch auf Simmels Kulturlehre ausstrahlte. 9 5 Vgl. dazu: Rickert, H. (1986), Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart, (Orginal entstand bereits 1899). 6 Im oben angegebenen Buch entwickelte Rickert die Perspektive, daß wissenschaftliche Erkenntnis quasi auf einem Kontinuum angesiedelt sei, dessen beide extremsten Enden die rein naturwissenschaftliche Erkenntnis einerseits und die rein kulturwissenschaftliche Erkenntnis andererseits bildeten, wobei die kulturwissenschaftliche Erkenntis stark von den Werten einer Gesellschaft abhängig sei. Vgl. dazu, Rickert, H. (1986), S. 19. 7 Ebd., S. 35. 8 Ebd., S. 168.

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2. Soziologie als Kulturwissenschaft

2.4. Max Weber (1864-1920) Max Weber hatte, wie aus den Aufzeichnungen seiner Frau Marianne lO hervorgeht, die Arbeiten Rickerts gelesen und vor allem das Interesse für die Verschiedenheit des Erkenntnisstoffes im Hinblick auf die zu wählende Untersuchungsmethode von ihm übernommen, und dann eigenständig weiterentwickelt. l l Vor allem der Sinn, den Individuen ihren Handlungen aufgrund unterlegter Interessen und Werte verleihen können, rückte für Weber ins Zentrum der kulturwissenschaftlichen Analyse. Rickert hatte in seiner Erkenntnistheorie zwar auf die Bedeutung von Werten für das menschliche Handeln hingewiesen, diese Werte schwebten bei ihm allerdings gleichsam metaphysisch über der Realität. 12 Der entscheidende Schritt, den Weber über Rickert hinaus tat, bestand nun darin, daß Weber die Werte nicht länger metaphysisch betrachtete, sondern sie der wissenschaftlichen Erkenntnis unmittelbar zugänglich machte. Seine Soziologie sollte das Handeln der Menschen untersuchen, das aufgrund verschiedener Interessen und Werte, die in der Handlung zutage treten, entstehe. Sie bekam somit ein eigenes Aufgabenfeld neben der Philosophie zugewiesen, denn sie sollte eine Wirklichkeitswissenschaft sein, d.h. sie sollte die Wirklichkeit des Lebens, in die wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen, und: "den Zusammenhang und die Kulturbedeutungen ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits. "13

begreifbar machen. 9 So schrieb Simmel ebenfalls, daß die Kultivierung eines Menschen wertabhängig ist. " ... womit bewiesen wäre, daß Kultur nicht das absolute Wertdefinitivum der Seele ist. Ihr spezifischer Sinn indes ist nur da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind." Simmel, G. (1986a), Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Simmel, G. (1986), Das individuelle Gesetz, Frankfurt a. M., S. 120. 10 Vgl. dazu: Weber, Marianne (1926), S. 273. 11 So schreibt Marianne Weber: "Aus Rickerts ,kulturwissenschaftlicher' Logik übernahm Weber damals die später allerdings durch seine eigene logische Methode ergänzte Lehre, daß nicht allein die Verschiedenheit des Erkenntnisstoffes die Wissenschaft scheidet, sondern auch die Verschiedenheit des Interesses am Stoff der Fragestellung, so daß die Naturwissenschaften ,generalisierend' verfahren, weil sie sich für das den Erscheinungen Gemeinsame, Gleichartige interessieren und es mit einem Netz von Allgemeinbegriffen und Gesetzen überspannen, während umgekehrt das Interesse der ,individualisierenden' Geschichte und ihr verwandter Disziplinen auf die Eigenart konkreter Vorgänge und Gegenstände gerichtet ist, und zwar auf solche, die als Kulturvorgänge mit ,Sinn und Bedeutung' behaftet sind." Ebd., S. 324. 12 So schrieb Rickert selbst in einer Fußnote: "Geschichtsmetaphysik im alten Sinne scheint mir freilich als Wissenschaft nicht möglich, aber ich halte trotzdem die Annahme eines dritten Reiches (außer der empirischen Realität der Sinnenwelt und den irrealen, geltenden Werten) für unentbehrlich ... ," Rickert, H. (1986), S. 171. 13 Weber, Max (1951), Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Winckelmann, J. (Hrsg.) (1951), Gesammmelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, S. 170f (Orginal entstand 1904).

2.4. Max Weber (1864 - 1920)

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Weber ging es darum das Wesen der Kultur und das Handeln der Menschen nicht aufgrund metaphysisch vorgegebener Wertvorstellungen zu verstehen, sondern durch die Beobachtung des direkten Handeins zwischen Menschen. Nicht die unergründlichen Tiefen der menschlichen Seele seien zu erschließen, sondern das, was beobachtbar zwischen Menschen geschehe oder schon in der Vergangenheit geschehen sei. Somit löste Weber die Wertproblematik aus der Philosophie heraus und machte sie zur Grundlage seiner soziologischen Kulturanalyse. Ebenso wie später bei Simmel, muß auch bei Weber der Einfluß der Lebensphilosophie auf seinen Kulturbegriff herausgestellt werden. Weber sah .die Kultur vor dem Hintergrund des Lebens, das ein sich ständig bewegender Fluß sei und kam daher zu dem Schluß: "Kultur ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens."14

Die Voraussetzungen zum wissenschaftlichen Betreiben einer Kulturwissenschaft gründeten für ihn in der Eigenschaft des Menschen ein Kulturwesen zu sein, und somit die Fähigkeit zu besitzen, zur Welt bewußt Stellung zu beziehen und ihr einen Sinn zu verleihen. 15 Prinzipiell könnten, so Weber, alle menschlichen Individuen ihre Welt verstehen, um in ihr sinnvoll zu handeln. Die wissenschaftliche Erforschung der Kultur baue auf dieser Fähigkeit auf und verfeinere sie praktisch nur, indem sie ein sinnvolles Bild der Welt entwerfe und dann durch empirische Vergleiche die Wirklichkeit an diesem von ihr konstruierten Idealtypus messe. Soziale Wirklichkeit könne demnach objektiv verstanden werden, weil mit Hilfe der idealtypischen Methode Ideen in ihrer Beziehung zu Werten in einer Gesellschaft untersucht und somit ihre Kulturbedingtheit und ihre Kulturbedeutung klar würden. I6 Da der idealtypisch arbeitende Wissenschaftler immer zuerst ein Bild der Wirklichkeit konstruiere, um sie anschließend daran zu messen, war es Weber klar, daß die soziale Wirklichkeit immer 'nur ausschnitthaft erforscht werden könne und insofern ergab sich für ihn die logische Schlußfolgerung, daß die Kulturwissenschaften nur verstehend, nicht aber erklärend - wie die Naturwissenschaften - arbeiten könnten. Denn wenn die soziale Wirklichkeit im steten Fluß sei, tauche niemals das gleiche Gebilde zweimal unter den gleichen Bedingungen auf und daher seien die für einen sozialen Tatbestand erarbeiteten Erklärungsmuster niemals auf einen anderen übertragbar. Dennoch schien es Weber, gerade aufgrund dieser Sicht der Wirklichkeit wichtig, historisch zu arbeiten. I7 Außerdem verwandte Weber viel Mühe darauf, seine Erkenntnisse an der empirischen Realität festzumachen und sich dabei jeglicher Spekulation zu 14 Ebd., S. 180. 1S A.a.O. 16 Weber, M. (1951), S.189-199. 17 Ebd., S. 207.

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2. Soziologie als Kulturwissenschaft

enthalten - vor allem seine Lehre vom subjektiv gemeinten Sinn sollte nicht mit Sinndeutungen, die der Forscher an seine Beobachtungsresultate herantrage, belastet und dadurch möglicherweise verfälscht werden. Hier unterscheidet er sich auch heute noch klar in seiner Wissenschaftskonzeption von Simmels ästhetisch geprägter Erkenntnistheorie: "Weber liegt viel daran, daß seine Lehre vom ,subjektiv gemeinten Sinn' richtig verstanden und damit die ,haarscharfe Linie' zwischen Glauben und Nichtbeweisbarem klar erkannt wird. Denn das Hineintragen objektiver Sinndeutungen des Geschehens, wie es sich z. B. in Simmels geistvollen Analysen der Kulturerscheinungen hie und da findet, überschreitet den Rahmen der Erfahrungswissenschaften und verdunkelt die rein theoretische Wahrheitsgeltung ihrer Resultate."'8

Weil er das tiefe Bedürfnis hatte, der von ihm theoretisch als verstehende Kulturwissenschaft skizzierten Wissenschaft auch eine brauchbare Methode zu liefern, entwickelte Weber für die Soziologie nicht nur Grundbegriffe sondern er erarbeitete, vor allem in seinen religionssoziologischen Schriften, auch Beispiele für deren Anwendbarkeit. 19 Zusammenfassend kann Webers Konzeption der Kulturwissenschaften als Entwurf zu einer Wirklichkeitswissenschaft bezeichnet werden, deren Untersuchungsobjekte die Lebenserscheinungen in ihrer Kulturbedeutung sind. Kultur wird dabei selbst ein Wertbegriff, denn sie umfaßt, nach Weber, die Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns aufgrund der Werte, mit denen sie besetzt sind, wichtig geworden sind. Das kulturelle Leben erscheint Weber wie ein endlos dahinziehender Strom, in dem der Wissenschaftler bestimmte Elemente in ihrer Kulturbedeutung zwar erkennen kann, nie aber die ganze Realität abbildhaft erkennen und darstellen kann. Nur einzelne Abschnitte aus diesem Lebensstrom lassen sich mit Hilfe der verstehenden Methode erfassen und dann unter Rückgriff auf konstruierte Idealtypen überprüfen. Die Erkenntnis der Wirklichkeit ist daher stets ein Akt der Formung des irrationalen Lebensstromes durch den Forscher. Denn es gibt unendlich viele Möglichkeiten der Idealtypenbildung und ob ein Typus in der Lage ist, zum Verständnis des sozialen Geschehens beizutragen, erweist sich erst, wenn die Realität an ihm gemessen und durch. diesen Vergleich verständlicher wird. Weber ging es bei seiner Kulturwissenschaft darum, bestimmte Typen zu bilden, diese miteinander zu vergleichen und dann den Sinnzusammeooang, in dem diese stehen, zu erfassen. Weil es ihm auch auf die Grundlegung einer verstehenden Methode zur Erforschung der Kultur ankam, leistete er darüber hinaus viel für den Aufbau der Soziologie durch die von ihm konzipierten Grundbegriffe und seine Methodenaufsätze. 20 18 Weber, Marianne (1926), S. 326. 19 Die neuerliche Diskussion um den Stellenwert dieser Arbeiten im Gesamtwerk Webers und ihren Beitrag zur Wissenschaftslehre reflektiert Peukert, D. (1989), S. 44- 54. 20 Vgl. dazu: Helle, H. J. (1986), Dilthey, Simmel und Verstehen, Frankfurt a. M., Bern, New York, S. 120f und Bevers. M. A. (1985), S. 128ff.

2.5. Wilhelm Dilthey (1833 - 1911)

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2.5. Wilhelm Dilthey (1833-1911)

Wilhelm Dilthey und Georg Simmel waren lange Zeit als Kollegen an der Universität Berlin beschäftigt. Ihr Anfangs freundschaftliches Verhältnis gestaltete sich im Laufe der Zeit zusehends problematischer, was wohl vor allem auf fachliche Differenzen zurückgeführt werden kann. 21 Doch hier sollen hauptsächlich die Gemeinsamkeiten der beiden Wissenschaftler in ihrem Bemühen zur Erforschung der Kulturentwicklung gezeigt werden. Dilthey kam es, wie Simmel, darauf an, eine erkenntnistheoretische Perspektive für die Geisteswissenschaften zu erarbeiten, die diesen einen eigenen Erkenntnisbereich sichern sollte. 22 Dabei wählte auch er die Geschichtswissenschaft als Beispiel um grundlegende Probleme der geisteswissenschaftlichen Methode zu erörtern. 23 Dilthey ging davon aus, daß durch die historische Arbeit kulturelle Entwicklungen verstehbar würden, wenn als Material alles, was im Bewußtsein der Menschen geschichtlich erhalten geblieben und somit auch heute noch der Wissenschaft zugänglich sei, in die wissenschaftliche Analyse miteinbezogen werde. 24 Als "Dokumente menschlichen Bewußtseins" galten ihm erhaltene Schriften, Statistiken, Briefe, Überlieferungen etc. Sie bildeten praktisch das Ausgangsmaterial aufgrund dessen der Forscher dann in einer konstruktivistischen Gedankenleistung ein mögliches Bild der vergangenen Welt entwerfen könne. Aus dem singulär Vorgefundenen entwickele jener nämlich mit Hilfe der Analyse und der Abstraktion ein verständliches Bild der Vergangenheit - wobei sich in dieser Arbeit Erkenntnis und Fonngebung der Vergangenheit miteinander verbände.n. 25 Eine Grundlage von Diltheys Erkenntnistheorie bildete, genau wie bei Max Weber, die Einsicht, daß der Kulturforscher oder Historiker niemals ein vollständiges, "wahrheitsgetreues" Abbild der Vergangenheit durch seine Arbeit gewinnen könne, sondern stets nur in einem Konstruktionsakt aus der Fülle des Lebens einige Fakten auswählen und zu einem plausiblen Bild der Vergangenheit zusammenfügen könnte. Um historisches Arbeiten dennoch objektiv nachvollziehbar zu gestalten, betonte Dilthey die Notwendigkeit einer wissen21 Vgl. dazu: Helle, H. J, (1986), S.41f und Oakes, G. (1980), Introduction, in: ders.(Hrsg.) (1980), Georg Simmel- Essays on Interpretation in Social Science, Totowaf New Jersey, S. 57ff, der ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Simmels und Diltheys Werk annimmt. 22 Vgl. Dilthey, W. (1959), Einleitung in die Geisteswissenschaften, Stuttgartf Göuingen, S. 21. 23 Diltheys erkenntnistheoretisches Hauptwerk "Einleitung in die Geisteswissenschaften" erschien erstmals 1883, Simmels "Über die Probleme der Geschichtsphilosophie" erschien dann 1892. 24 Dilthey, W. (1959), S. 24. 25 Ebd., S. 27.

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2. Soziologie als Kulturwissenschaft

schaftlich festumrissenen Begriffsbildung 26 und als Grundlagenwissenschaft der Geisteswissenschaften forderte er eine neue Psychologie, die er im Gegensatz zu der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie seiner Zeit als "beschreibende und zergliedernde Psychologie" bezeichnete und deren eigentümliches, den seelischen Zusammenhang von innen her begreifendes Verfahren er unter dem Namen des Verstehens entwickelte. 27 Als Dilthey das Verstehen als grundlegende Methode der Geisteswissenschaften entwickelte, befand er sich in weitgehender Übereinstimmung mit den Bemühungen Georg Simmels und Max Webers, was deren Konzeption der Kulturwissenschaften betraf, doch es gab auch große inhaltliche Unterschiede zwischen ihnen. Während Weber nämlich hoffte, die Kulturentwicklung durch die Untersuchung des menschlichen Handeins und den daraus entstehenden geistigen oder ökonomischen Systemen zu verstehen, kam es Dilthey vor allem auf die Erforschung der Realität an, wie sie im Bewußtsein der Menschen präsent war. Für ihn bildete die "innere Erfahrung" den Ausgangspunkt jeglicher historischer Arbeit, weil nicht nur der Verstand des Menschen, sondern auch seine Wünsche, Emotionen und Vorstellungskräfte in die Kulturanalyse einbezogen werden müßten. 28 Um die Komplexität einer solchen geschichtlichen Analyse nicht ins unermeßliche zu steigern, genügte es Dilthey, sich mit den Biographien großer Menschen zu beschäftigen, um einen Einblick in vergangene Epochen zu erhalten, in ihnen offenbarte sich für ihn das Lebensprinzip als Ganzes. 29 In der Art und Weise wie Dilthey über die Verwobenheit von Geschichte gewordener Form und dem Leben sprach wird deutlich, daß er auch in seiner Interpretation der Lebensphilosophie einheitlicher dachte als Weber oder Simmel. Für Dilthey waren Leben und Form keine Gegensätze, sondern beide bildeten bei ihm eine Einheit: "Die Religion, das Recht sind unvergänglich, während die Individua, in denen sie leben, wechseln. So strömt in jeder Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichtum der Menschennatur, sofern sie in einem Bestandteil derselben gegenwärtig oder mit ihm in Beziehung sind, in das auf diese gegründete System ein. "30 Ebd., S. 71. Nohl, H. (Hrsg.) (1961), Wilhelm Dilthey - Die Philosophie des Lebens, Ausgewählte Schriften, Stuttgart, S. 3. Mit seiner Konzeption einer verstehenden und zergliedernden Psychologie fand Dilthey in der Psychologie große Zustimmung. Vgl. zu seinem Konzept und zur Psychologie seiner Zeit: Hehlmann, W. (1963), Geschichte der Psychologie, Stuttgart, insb. S. 144 - 281 und Pongratz, L.J. (1967), Problemgeschichte der Psychologie, Bern, München. 28 Vgl. Helle, H. J (1986), S.18f. 29 Vgl. dazu: Bevers, A. M. (1985), S. 150 und Dilthey, W. (1959), S. 33: "Daher wird der Fortschqtt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in einem geschichlichen Milieu, ein höchstes der Geschichtsschreibung ist." 30 Dilthey, W. (1959), S. 50. 26 27

2.6. Elemente von Georg Simmels Kulturanalyse

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Sozialer und historischer Wandel waren für Dilthey nur am biologisch bedingten Wechsel der Individuen durch Tod und Geburt erkennbar, nicht aber aufgrund eines Wandels der Kulturformen, der durch die handelnde Einwirkung der Menschen auf sie zustande kam. Hier zeigt sich eine ganz andere Sicht des Lebens als bei Weber oder Simmel. Bei Weber erfolgte sozialer Wandel nämlich aufgrund des Wertewandels in Gesellschaften, wobei alte Werte durch neue ersetzt würden,31 und bei Simmel bestand, wie später gezeigt werden wird, ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem fortwährend sich verändernden Leben und den festen Formen einer Kultur. Im Gegensatz zu Simmel oder Weber hielt Dilthey zudem aufgrund seiner subjektorientierten Erkenntnistheorie die Gründung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft für überflüssig. Er glaubte, daß sie zu viele individuelle Fakten übersehe und letztlich doch Gesetze für eine Gesellschaftsanalyse aufstellen wolle, was er für unmöglich hielt, weil das Leben selbst so vielfältig sei, daß man es nie fassen könne. 32 Dilthey blieb daher bei seinem Entwurf der verstehenden Geisteswissenschaften mit der Psychologie als Grundlagenwissenschaft. Er betonte das individuelle Erleben, und die innere Nachbildung der geschichtlich gewordenen Realität durch den Wissenschaftler, während Weber und Simmel doch eher ihr Augenmerk auf objektiv wahrnehmbare gesellschaftliche Tatbestände und Wechselwirkungsprozesse legten, denn ihnen kam es hauptsächlich auf die Erforschung der Dialektik von subjektiver und objektiver Kultur an. 2.6. Elemente von Georg Simmels Kulturanalyse Auch Georg Simmel wollte wie sein Freund Max Weber die Kultur in ihrer Entstehung und in ihren Wandlungen verstehen. Dabei ging sein Denken von zwei wesentlichen Polen aus, zwischen denen sich diese Prozesse entfalten könnten: dem Individuum auf der einen Seite und der Gesellschaft auf der anderen Seite. Zwischen beiden ergeben sich spezifische Interaktionsformen und -konstellationen. Deshalb interessierten ihn besonders die Wechselwirkungsprozesse, die am einen Pol zur Entstehung kultureller Formen und ihrer Inhalte führten, die Prozesse der Vergesellschaftung also und am anderen Pol die Wirkungen dieser Prozesse bei der Identitätsbildung des Individuums. Bei der Untersuchung dieser Prozesse und ihrer Wechselwirkungen ging es Simmel aber nicht von vorne herein um eine umfassende Erkenntnis der Kultur, sondern er setzte an konkreten Tatbeständen - wie z. B. Kunstwerken oder Formen der Religionsausübung - an, und arbeitete die so gewonnenen Einsichten zu einer umfassenderen Kulturanalyse aus. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise wollte 31 Vgl. dazu: Weber, M. (1905(1905), Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Teil 1. und II, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 20, No. 1, Tübingen, 1904, S. 1-54 und Bd. 21, No.1, Tübingen, 1905, S. 1-110. 32 Ebd., S. 91.

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2. Soziologie als Kulturwissenschaft

Simmel eine Kulturwissenschaft etablieren, deren Fundamente im wesentlichen seine Erkenntnistheorie, seine Formensoziologie, seine Lebensphilosophie und seine Vorstellungen über das Problem der Individualität bildeten. 2.6.1. Erkenntnistheorie

Seine erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Grundlegung der Soziologie als Kulturwissenschaft präsentierte Simmel erstmals in der 1892 vorgelegten Studie Die Probleme der Geschichtsphilosophie 33 , in der ihm Beispiele aus dem künstlerischen Bereich oft zur Illustration wichtiger Gedankengänge dienten. Schon ein Jahr bevor Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften erschien, wies Simmel in seiner Arbeit darauf hin, daß das innere Nachfühlen äußerer Vorgänge für die Geschichtswissenschaften ein wichtiges heuristisches Instrument darstellte. Die geschichtliche Wirklichkeit interessiere den Menschen nämlich nur, wenn sie in ihm eine Seelenbewegung hervorrufe und so gesehen beschreibe eine lebendige Geschichtsschreibung äußere Ereignisse als "die Brücken zwischen Impulsen und Willensakten einerseits und Gefühlsreflexen andererseits, die durch jene äußeren Geschehnisse ausgelöst werden. "34

In grundsätzlicher Übereinstimmung mit Dilthey betonte Simmel, daß auch die psychologischen Momente in die Geschichtsschreibung mit einfließen sollten - und wandte sich damit gegen die Lehre Kants von der reinen Vemunft 35 als Antrieb menschlicher Handlungen. Auf der Basis der Einbeziehung des ganzen Menschen, und nicht nur von dessen Verstand, in den Prozeß der Erkenntnis entwickelte Simmel seine Theorie des Verstehens. Er unterschied dabei idealtypisch zwischen drei Arten des Verstehens, nämlich psychologischem Verstehen, sachlichem Verstehen und historischem Verstehen. 36 Verstehen war für Simmel die Grundlage der Erkenntnis aller Geisteswissenschaften und eine nicht weiter reduzierbare Kategorie, deren 33 In meiner Arbeit stütze ich mich auf die Ausgabe vom 1923, die bei Duncker & Humblot in München/Leipzig erschien. 34 Simmel, G. (1923), Die Probleme der Geschichtsphilosophie, München/Leipzig, S.1. 3S Vgl. hierzu auch: Bevers, M. A. (1985), S.47 "Sucht Kant die Bedingungen der Erkenntnis ausschließlich im Denken selbst, in einem der menschlichen Vermögen, so sieht . Simmel die Erkenntnis vor allem als Resultat der formgebenden Aktivität der gesamten Persönlichkeit, und knüpft hieran seine Theorie des Verstehens an." Daß Simmel sich sehr stark in seinem gesamten Werk mit Kant auseinandersetzte kann als Hinweis auf seine Verbundenheit mit dem jüdischen Denken verstanden werden. Es war zu Simmels Lebzeiten nämlich außerordentlich populär in jüdischen Kreisen, sich mit Kant zu beschäftigen, weil er als aufrechter Kosmopolit galt und sich die Juden in Deutschland auf ihn beriefen um ihre Verbundenheit mit der deutschen Kultur, die ihn und Goethe hervorgebracht hatte, zu demonstrieren. Vgl. dazu: Gay, P. (1976), S. 243. 36 Simmel, G. (1957a), Vom Wesen des historischen Verstehens, in: Susman, M./ Landmann, M. (Hrsg.) (1957), Brücke und Tür, Stuttgart, S. 59-85.

2.6. Elemente von Georg Simmels Kulturanalyse

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Struktur sich aus der Wechselwirkung zwischen äußerlich gegebenen Anlässen und deren innerer Verarbeitung durch handelnde Subjekte entwickele. 37 Hier soll zuerst das psychologische Verstehen 38 skizziert werden, das nach Simmel, dem Verstehen von Personen untereinander dient und somit sozial sinnvolles Handeln erst ermöglicht. Grundvoraussetzung des Verstehens einer Person ist ihre äußerliche Wahrnehmung, die dann gedankliche oder emotionale Reaktionen nach sich zieht. 39 Die in einem zweiten Schritt vom Verstehenden untergeschobenen Motive einer äußerlich sichtbaren Handlung müßten, so Simmel weiter, keinesfalls immer mit den tatsächlichen Motiven des zu . Verstehenden kongruent sein. 40 Dennoch bildeten solche Überlegungen für Menschen erstmals eine Orientierungshilfe in der sozialen Umwelt. Sie wären selbstverständlich gesetzte Aprioris jeder menschlichen Interaktion, deren Bedeutung sich nicht im logischen Inhalt der gebildeten Begriffe erschöpfen würde, sondern in ihrem Beitrag zur Erkenntnis der sozialen Umwelt. 41 Die richtige Deutung der Handlungsmotive eines Gegenüber ermögliche es erst, in einer sozialen Situation angemessen zu handeln. 42 Simmel formulierte außerdem den Gedanken, daß wir einen anderen Menschen zunä,