Die Kommunikation von Gefühlen: Ein Beitrag zur Soziologie der Ästhetik auf der Grundlage von Talcott Parsons' Allgemeiner Theorie des Handelns [1 ed.] 9783428483396, 9783428083398


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German Pages 319 Year 1995

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Die Kommunikation von Gefühlen: Ein Beitrag zur Soziologie der Ästhetik auf der Grundlage von Talcott Parsons' Allgemeiner Theorie des Handelns [1 ed.]
 9783428483396, 9783428083398

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HELMUT STAUBMANN

Die Kommunikation von Gefühlen

Soziologische Schriften Band 61

Die Kommunikation von Gefühlen Ein Beitrag zur Soziologie der Ästhetik auf der Grundlage von Talcott Parsons' Allgemeiner Theorie des Handeins

Von

Helmut Staubmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Staubrnann, Helmut:

Die Kommunikation von Gefühlen : ein Beitrag zur Soziologie der Ästhetik auf der Grundlage von Talcott Parsons' Allgemeiner Theorie des Handeins I von Helmut Staubmann. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Soziologische Schriften ; Bd. 61) Zug!.: Innsbruck, Univ., HabiL-Sehr., 1993 ISBN 3-428-08339-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-08339-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Nonn für Bibliotheken

"Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhnverk eurer Neigungen - auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?" Friedrich Nietzsche

"There are, of course, involved in thinking and involved in art certain norms. The drawing must present successfully the idea. You can point out whether the object is correct in terms of the idea that lies back of it, what the functions of it are. So you criticize the forms of verse, its measure, its rhyme. Those are standards, but they are, after all, subsidiary, and you have to come back ultimately to the reaction of the object upon a self." George Herbert Mead

Vorbemerkung Die Durchführung der vorliegenden Studie wurde ermöglicht durch ein Erwin-Schrödinger Auslandsstipendium, zur Verfügung gestellt durch den Österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (Projekt Nummer: J0583-SOZ), wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte, insbesondere auch für die freundliche Betreuung des ganzen Prozedere durch Herrn Gass. Weiters wurde die Arbeit unterstützt durch Mittel des Außeninstitutes der Universität Innsbruck, die einen weiteren Studienaufenthalt an der University of Maryland at College Park ermöglichte, wofür ich mich ebenfalls hier bedanken möchte. Die Möglichkeit der Arbeit an diesem Projekt an zwei amerikanischen Universitäten, der University of California, Los Angeles (UCLA) und der University of Maryland, College Park (UMCP), hat sowohl den unmittelbaren Inhalt der Arbeit mitgeformt, als auch zu einer wichtigen persönlichen kulturellen Erfahrungserweiterung beigetragen. Wichtig waren mir vor allem die ausführlichen Diskussionen mit den beiden ehemaligen ParsensMitarbeitern Victor M. Lidz und Gerald M. Platt, für deren Anregungen und Gastfreundschaft ich mich bedanken möchte. Weiters möchte ich mich bei den "Theoretikern" des Sociology-Department der University of Maryland, Richard H. Brown, Jerald Hage und George Ritzer, bedanken für das kritische Lesen einer englischsprachigen Zusammenfassung der Arbeit sowie für wertvolle Anregungen und Hilfestellungen. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Kolleginnen am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck, die die ganze Arbeit vom Entwurf bis zu den letzten Korrekturen beratend begleiteten und viel Verständnis für meine Abwesenheit während der Auslands-Studienaufenthalte sowie für zeitweilige Rückzüge aus den notwendigen Routine-Tätigkeiten am Institut aufbrachten: die Professoren Julius Morel- dessen Auffassung von Soziologie die Wahl des ursprünglichen Arbeitsthemas "Musikästhetische Normen" motivierte - und

Vorbemerkung

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Max Preglau sowie meine Assistenten-Kolleginnen Hermann Denz, Waltraud Kannonier-Finster, Tarncis Meleghy und Heinz-Jürgen Niedenzu. Von den vielen Hilfestellungen, die ich während meiner Arbeit erfahren habe, waren mir besonders wichtig die ausfuhrliehen Kommentare von Univ.Prof. Dr. Gerhardt Kapner fur die kunstsoziologische Seite und von Univ.-Prof. Dr. Richard Münch fur die handlungstheoretisch-Parsonianische Seite. Mag. Christian Schwaiger hat als Germanist die Rohfassung der Arbeit Korrektur gelesen. Mag. Veronika Potykanowicz und lng. Sebastian Told verdankt das Buch die formale Gestaltung (Graphiken, Layout und Namenregister). Walter Rotter hat mir aus der Sicht seiner musikpädagogischen Erfahrungen wertvolle Anregungen gegeben und das Gefuhl bestärkt, daß die Abstraktionen der Studie in praktische Problemlösungen transformierbar sind. Innsbruck, Juli 1994 Helmut Staubmann

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung ............................................................................................... ...... ....... 13

B. Handhmgstheorie tmd Ästhetik - Begriffsbestirmmmg tmd Problemabriß .... ......... 18 C. Ästhetik tmd die voltmtaristische Theorie des Handelns ......................... .............. 30 I. Der Bezugsrahmen der voltmtaristischen Theorie des Handeins ................. .... 32 II. Ästhetik als strukturelle Komponente des Handelns ..................... .. ............ .. .. 34 l. Max Weber: Der Begriffdes Brauches tmd ästhetische Normen ................ 35 2. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft, Gesellschaft tmd Ktmst........................ 42 3. Letzte Werte tmd Formen des Ausdrucks ........................................ .......... 46 ill. Zusammenfassende Thesen ...................................................... ...................... 48 D. Ästhetik im Bezugsrahmen der "klassischen" Form der Handltmgstheorie ........... 50 I. Abriß des strukturfimktionalistischen Bezugsrahmens ................... .. .. ............. 50 l. "Prozeßfimktionalistische" Korrektur des Bezugsrahmens ........ ................. 59 a) Kultureller Symbolismus als Sprache tmd Handltmgsmuster ................ 61 b) Kommtmikation tmd Interaktion: Die Vermittltmg von Bedeutung tmd Handltmg .......................... ..................................... 66 c) Austauschprozesse zwischen den Subsystemen des Handeins ............... 68 II. Ästhetik in den primären Subsystemen des Handelns .............. ........ ..... .......... 69 l. Kultur ....................... .. .................................. .... ........................................ 69 a) W. I. Thomas' "Defmition der Situation" .............................................. 76 b) Die kulturelle Ftmktion expressiver Symbole: Die emotionale Defmition der Situation ............................................... ......................... 78 c) Expressiver Sinn: Referenz tmd Assimilation ........................ ............... 87 2. Sozialsystem ................................................... .......................... ................ 93 a) Die soziale Ftmktion expressiver Symbole: Die Kommtmikation tmd Interaktion von Gefühlen ...................................................................... 98 b) Expressive Symbole als "Defmition der Beziehtmgskontingenz" ......... 100 c) Modi der Integration sozialer Systeme . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 102 d) Regulative tmd kulturelle Institutionen: Verpflichtung tmd Akzeptanz 107 e) Instrumenteller tmd expressiver sozialer Komplex .............................. 109 aa) Kooperation- Solidarität.. ............................................................ 110

Inhaltsverzeichnis

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bb) Durkheims Solidarität - moralische tmd affektive Komponenten ... lll cc) Instrumenteller tmd expressiver Besitz ................ ......................... 113 dd) Relationaler expressiver Symbolismus ......................................... 115 ee) Stilsymbolismus........................................................................... 117 ff) Expressivität tmd instrumenteller Komplex .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. ... .. .... .. .. 117 gg) Gemeinschaft tmd expressiver Komplex .......................... ............. 119 f) Allokation ...... .. . ..... ................ .. .. ............ ............. .... . ............ ... ....... .... 122 aa) Expressive Stratifikation: Prestige ............................................ .... 124 bb) Prestige in Thorstein Veblens "Theorie der feinen Leute" .... ...... ... 127 aaa) Prestige als Handltmgsmotiv ....................................... ......... 129 bbb) Prestige tmd Geschmacksbildtmg ................................ ......... 133 g) Expressive Rollen ....... .......................................................... ..... ....... . 136 h) Die Künstlerrolle... ............................................................................. 137 i) Die expressive Revolution ................................................... .. ............. 141 3. Persönlichkeit ............. ............................................................................ 144 a) Die personale Ftmktion expressiver Symbole: Die Organisation emotionaler Handltmgskompetenz ...................................................... 153 ID. Handltmgen ................................................................................................. 158 I. Handltmgstheorie und Symbolischer Interaktionismus ................. ........ .. . 159 2. Ästhetische Handlungen .............................. ................................ ....... ..... 161 a) Ästhetische Handltmgen als Spiel... ......................................... ........... 165 aa) "Play", "Game" tmd soziale Identität: George H Mead ................ 165 bb) Dramatismus und Interaktion: Kenneth Burke .......................... .... 170 cc) "Deep Play": Clifford Geertz ........................................................ 172 dd) Spiel als assimilatorische Handlung: Jean Piaget ............ .............. 174 ee) Spiel als Kontextdefmition: Gregory Bateson .................. ............. 178 IV. Der expressive Symbolismus und die Dynamik von Handltmgssystemen ..... 180 I. Strukturstabile Dynamik ............................................................ ............. 180 2. Soziale Kontrolle und expressive Sanktionen .............................. ..... ....... 184 3. Strukturverändernde Dynamik ................................................................ 189 V. Zusammenfassende Thesen .......................... ..................................... ....... .... 194 E. Ästhetik Wld die Handlungstheorie des AGIL-Paradigmas ................................. 196

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Die Reformulierung der Handltmgstheorie auf Grundlage des AGILSchemas ...................................................................................................... 196 I. Der Umbau des Paradigmas .................................................................... 197 a) AGIL als Prozeß...... ........................................................................... 200 b) AGIL als Bildungsphasen kultureller Symbolismen ............................ 201 c) AGIL-Ftmktionen und die Struktur des Handlungssystems ................. 203

Inhaltsverzeichnis

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d) Teleonomie und Expressivität... .......................................................... 205 e) Kontinuität \Dld Diskontinuität ............................................... ............ 207 2. Der kategoriale Rahmen der Handlungstheorie im AGIL-Paradigma ....... 210 li. Der expressive Komplex ......................................................................... ..... 210 1. Kultur ..................................................................................................... 214 2. Sozialsystem ........................................................................................... 216 3. Persönlichkeit und behaviorales System..................................... ............. 224 III. Ästhetik \Dld die Theorie der symbolisch generalisierten Medien .... ............. 224 1. Die Medien des Sozialsystems .............................................. ..... .......... ... 228 a) Geld ................................................................................................... 228 b) Macht.. ................. .......................................................................... .... 229 c) Wertbind\Dlg ...................................................................................... 230 d) Einfluß .............. ................................................................................. 232 2. Die Medien des allgemeinen Handlungssystems...................................... 245 a) Defmition der Situation ....................................................... ............... 246 b) Affekt ........................ ......................................................................... 249 c) Symbolische Sanktionen .................................................. .............. .... 252 d) Performanzfähigkeit ........................................................................... 254 e) Intelligenz ................... .. ................................ ..................................... 25 5 3. Kunst und Medientheorie ......................................................... ..... .......... 256 IV. Zusammenfassende Thesen .......................................................................... 25 8 F. Homo aestheticus: Für eine Neubewertung der ästhetisch-expressiven Handlungsdimension ......................................................................................... I. Die Kreativität des Handeins (Hans Joas) ........ ............................................ li. Die expressive Basis rationaler Kontrakte (Randall Collins) .. ........ ...... .... .... III. Die Erlebnisgesellschaft (Gerhard Schulze).................................. .. .. ............ IV. Ästhetik und die Integration des Handlungssystem (Gregory Bateson) .........

260 261 264 266 273

V. Epilog ................................ .......................................................................... 275 Anhang ................................... .............................................................. ............. 279 Glossarium ...................................................................................... ... ............... 279 Literatur ..................................... ....................................................... ....... ......... 286 Namenregister ................................................................................................... 316

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung 1:

Der Bezugsrahmen der strukturfunktionalistischen Handhmgstheorie ............................................................................ ................. 55

AbbildWlg 2:

Subsysteme Wld symbolische Medien des allgemeinen HandlWlgssystems ......................................................................... 209

AbbildWlg 3:

Die Organisation von Solidantäten in frühmodernen Gesellschaften ........................... .................................................... 222

AbbildWlg 4:

Die Organisation von Solidaritäten in modernen Gesellschaften..... 223

Verzeichnis der DarsteUungen

Darstellung 1: Klassifikation kultureller Muster ..................................................... 67 Darstellung 2: Typen von Attitüden .......................... .............................. .............. 114 DarstellWlg 3: Das AGIL-Schema......................................................................... 205 DarstellWlg 4: Die Kontinuität von VolWltarismus Wld AGIL-Paradigma ............ . 208 DarstellWlg 5: Die Medien des Sozialsystems als Sanktionstypen......................... 227

A. Einleitung Wenn Probleme einer Soziologie der Ästhetik zur Sprache kommen, dann findet man durchgängig zwei Feststellungen: Einmal die, daß die Theorie der Ästhetik als Teil einer allgemeinen Soziologie, verglichen mit anderen Theorieteilen, nur sehr unvollständig und unbefriedigend ausgearbeitet wurde. Dies gilt in mehr oder weniger großem Ausmaß für alle Paradigmen, in denen die allgemeine Soziologie zur Zeit kodifiziert und angewandt wird. Das hat zum Teil ganz einfach praktische Gründe, z.B. daß in ökonomisch relevante oder verwertbare Spezialdisziplinen wie der Organisations- oder Wirtschaftssoziologie mehr an finanziellen und damit personellen Ressourcen fließen als in die als kulturkritisch oder schöngeistig erachtete Kunst- oder Musiksoziologie. Diese Forschungssituation spiegelt sich, wie eine Studie über das Lehrangebot an Österreichischen Universitäten ergab, auch in einem verschwindenden Anteil (ca. 1 Prozent) von Ästhetiksoziologien wider (vgl. Staubmann;Aßmann 1991). Unzweifelhaft gibt es aber auch theorieimmanente Gründe. Die die Selektivität der Themenwahl, der Datensammlung etc. steuernden basalen Theorieprämissen definieren die Relevanz der Ästhetik eher weg, als geeignete Instrumente für deren Analyse zur Verfügung zu stellen. Dies führt zur zweiten regelmäßig anzutreffenden Feststellung, in der die Hoffnung zum Ausdruck gebracht wird, daß Fortschritte im Bereich der soziologischen Theorie der Ästhetik einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung in der allgemeinen Theorie erwarten lassen (vgl. z.B.: Kluckhohn 1951, Parsans 1951, Peacock 1916, Rotter 1985, Lüdtke 1989). Die vorliegende Studie geht der Frage nach, inwieweit die Parsonssche 1 Allgemeine Theorie des Handeins auf eine soziologische Theorie der Ästhetik spezifizierbar ist. Warum gerade Parsons' Version der Handlungstheorie? In 1 Eigentlich müßte es heißen: "Parsonische", denn Andrew Effrat berichtet, daß "...Parsons hirnself has indicated in a personal comnumication in response to my inquiry that he has 'a strong aesthetic preference for 'Parsonian' rather than 'Parsonsian"' (E.ffrat 1968, S. 97). Daß hier eine starke ästhetische Präferenz zugunsten einer Sprachnorm geopfert wird möge nicht als theoretisches Präjudiz mißverstanden werden.

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A. Einleitung

der Entwicklung der soziologischen Theorie nimmt das Werk Parsons' in vielerlei Hinsicht eine Schlüsselposition ein. Einig war man sich in der Soziologie und auch weit über diese hinausgehend allgemein in den Sozialwissenschaften in der Einschätzung der Bedeutung des Parsoussehen Beitrages. Parsons galt als die dominante Figur der amerikanischen Soziologie bis in die 60er Jahre. Die Stärkung kritischer, konflikttheoretischer und marxistischer Positionen, bedingt durch die sozialen Bewegungen dieser Zeit, brachten die Parsonssche Handlungstheorie ins Kreuzfeuer materialistischer und positivistischer Kritik. Eine Kritik, von der man den Eindruck hat, daß sie häufig mangels eines profunden Verständnisses sich an vordergründig interpretierten Begriffen wie Integration oder der Idee des Equilibriums von sozialen Systemen entfachte und so an der eigentlichen Theorieaussage vorbeiging. Nachträglich betrachtet scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen der Oberflächlichkeit der Kritik und einer zuvor nur scheinbar erfolgten Rezeption und scheinbaren Dominanz des Parsonsschen Theorieansatzes. Sowohl die Phase der Anerkennung seines Werkes als auch die der Kritik und Ablehnung scheint gekennzeichnet gewesen zu sein von dem, was Richard Münch formuliert hat als die "Diskrepanz zwischen allgemein anerkannter Bedeutung und geringer Klarheit über den Gehalt des Werkes" (Münch 1982, S. 11). Parsons selbst sah seine Handlungstheorie als ein Produkt der Konvergenz von verschiedenen und widersprüchlichen Theorietraditionen und arbeitete mit dem Anspruch, diese in einen einheitlichen Theorierahmen zu integrieren. Über die Beantwortung der Frage, inwieweit dies Parsons gelungen ist, herrschte und herrscht, sehr vorsichtig formuliert, Uneinigkeit. Das Bonmots von Jeffrey C. Alexander "Why is the anti-Parsonian movement over? The answer is very simple: because it won." (Alexander 1987, S. 375) mag vielleicht auf einen Großteil der zeitgenössischen amerikanischen Soziologie zutreffen2 , insgesamt gesehen scheint aber vielmehr eine ideologischpolitische Phase der Auseinandersetzung mit dem Erbe Parsons' bzw. dessen schlichter Ignorierung einer theorieimmanenten Diskussion gewichen zu sein.

2 In einer als vernichtend eingeschätzten Kritik P. Sorokins, dem damaligen Vorstand der Soziologie Abteilung in Harvard in der Zeit als Parsons' an seinem Buch "The Structure of Social Action" arbeitete, heißt es, diese sei "... eine Arbeit, die fiir 90 Prozent der Soziologen in den USA unlesbar ist" (zit. nach: Wenzel 1990, S. 281). Sorokin sollte Recht behalten, auch wenn schwer einzusehen ist, warum dies nur als Kritik an Parsons' Arbeit verstanden werden kann.

A. Einleitung

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Die Feststellung einer Theorie-Bewegung die das Label Neofunktionalismus oder Neo-Parsonismus trägt (vgl. Alexander (Hg.) 1985 oder Colomy (Hg.) 1990) scheint mir auf Grund deren Marginalität in der sozialwissenschartliehen Theoriebildung aber trotzdem überzogen. Bemerkenswert ist jedoch die Liste von Publikationen in den letzten Jahren, die sich mit der Anwendung oder Spezifizierung der Parsanssehen Handlungstheorie auf Spezialbereiche befassen (vgl. z.B. für ökonomische Soziologie: Holton 1986, für Medizinsoziologie: Gerhardt 1991, für politische Soziologie: Mouzelis 1993, für Religionssoziologie: Brandt 1993). Die vorliegende Arbeit versteht sich in diesem Sinne als ein Beitrag zur wiedergewonnenen Aktualität des Parsanssehen Theorieprogramms. Es geht also in erster Linie um die Spezifizierung einer allgemeinen soziologischen Theorie für die Erfassung ästhetischer Phänomene. Dabei wird es sich zeigen, daß auf der einen Seite Teile der allgemeinen Theorie selbst adaptiert, d.h. im Hinblick auf den besonderen Untersuchungsgegenstand einer Revision und Modifikation unterzogen werden müssen. Auf der anderen Seite sollte der Ertrag, der sich für die diversen speziellen Soziologien der Ästhetik (Musik-, Literatur-, Kunst-, Modesoziologie, etc.) ergibt, in den Hauptfunktionen liegen, die Parsans der Theorie für die soziologische Forschung im allgemeinen zuschreibt: nämlich in der verbesserten Möglichkeit der Ordnung konkreten empirischen Wissens, der Anleitung empirischer Forschung durch die theoriegeleitete Auswahl von Problemstellungen und Ableitung von Hypothesen sowie der verbesserten Möglichkeit der Kontrolle von Beobachtungsfehlern und Interpretationsfehlschlüssen (vgl. Parsanset al. 1951, S. 3). Talcott Parsans hat in einer auf sein Lebenswerk rückblickenden Autobiographie versucht zu erklären, warum er nur wenige Monographien verfaßt hat im Vergleich zur umfangreichen Fülle seines Gesamtwerkes, das zum Großteil aus Aufsätzen besteht. Der Grund sei darin gelegen, daß die Fertigstellung der Bücher, die er schrieb, so lange Zeit in Anspruch nahm, daß bei deren Erscheinen der Inhalt bereits überholt war. Nun, ein ähnliches Schicksal ist der vorliegenden Arbeit mehrmals widerfahren. Im Unterschied, zu Parsons' Büchern allerdings vor der endgültigen Fertigstellung, so daß die jetzige Version das Produkt einer wiederholten Überarbeitung ist. Der Ausgangspunkt lag in der Zusammenführung einer langjährigen Beschäftigung mit Musiksoziologie und der Moreischen Auffassung der

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A. Einleitung

Soziologie als derjenigen Sozialwissenschaft, die soziale Phänomene "unter dem Aspekt der sozialen Regelung als solche betrachtet" (vgl. More! 1977, 1986, 1991 und als Basisparadigma im Vergleich soziologischer Grundlagenthorien: 1990). Betrachtet man die Musikkultur nun unter der Regelungsperspektive, dann erhebt sich eine simple Frage, die in diffizile Theorieprobleme mündet, nämlich: Läßt sich der Bestand an Wissen und allgemeinen Aussagen über soziale Regelungen, z.B. Normen, ganz einfach auf die Analyse musikkultureller Phänomene übertragen? Gilt das, was allgemein über Entstehung und Wandel von Normen und Normensystemen gesagt werden kann, auch für musikästhetische Normen? In der Arbeit an diesen Fragen (vgl. Staubmann 1988 und 1991), der Ausarbeitung der Spezifität ästhetischer Normen etc., haben die auftauchenden theoretischen Probleme die Theorieprämissen, die den ursprünglichen Ausgangspunkt der Arbeit darstellten, in Frage gestellt. Das betrifft insbesondere die Zentralität des Normbegriffes. Für viele vielleicht paradoxerweise bei der Beschäftigung mit Parsons, für den normative Kultur ja eine hohe Zentralität aufweist. Stefan Jensen hat Parsons' Theorie einmal als ein Labyrinth bezeichnet (vgl. Jensen 1980a, S.7). Freundlicher haben dies Jonathan Turner und Leonard Beeghley ausgedrückt: "The most obvious problern with interpreting Parsons' work isthat there is so much of it" (Turner; Beeghley 1914, S. 60). Selbst für einen Beobachter wie Niklas Luhmann "... bleibt die innere Konsistenz (des Parsenssehen Theorieprogramms, H.St.) ein offenes Problem" (Luhmann 1980, S. 5) und Neil J. Smelser hat in einem Rückblick auf seine Zusammenarbeit mit Parsons an deren gemeinsamem Buch "Economy and Society" gemeint: "To think along with him was exhausting" (Smelser 1981, S. 149). Damit ist ein (Rezeptions-) Problem angesprochen, das dazu geführt hat, daß - wie Victor Lidz bemerkte - auch die wenigen, die glauben, Parsons' Theorie klar verstanden zu haben, in Diskussionen miteinander oft keine Übereinstimmung finden (vgl. Lidz 1986 S. 142). Meine Bemühungen, mich in diesem Labyrinth zurechtzufinden, haben sich an dem Versuch orientiert, konsistent zu sein in der Ableitung und Relationierung von theoretischen Prämissen. Die dabei auftauchenden Widersprüche in der Parsanssehen Theoriearchitektur betreffen in erster Linie, wie zu zeigen sein wird, den Normbegriff. Der fast axiomatisch-deduktive Aufbau der Parsenssehen Handlungstheorie ist ein Beispiel für das, was Moritz Schlick auf der Ebene der allgemeinen Wissenschaftslehre als Wissenschaftsprogramm formulierte: die Einheit in der

A. Einleitung

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Vielheit zu entdecken und die Vielheit auf die wichtigsten Begriffe zurückzuführen (vgl. Schlick 1979, S. 100). Dabei stellt sich für den Leser das Problem, daß die Begrifflichkeil nur verstanden werden kann, wenn man versucht, die gesamte Konstruktion nachzuvollziehen. Meines Erachtens war der Grund für viele Mißverständnisse in der Geschichte der Parsons-Rezeption die Benennung vieler dieser Begriffe durch Wörter, die in der Alltagssprache oder der gängigen Soziologie eine andere Bedeutung haben als die handlungstheoretisch intendierte. Der Grund mag darin liegen, daß Parsons einerseits die Konvergenz seiner Konzepte mit gängigen soziologischen Vorstellungen hervorstreichen wollte und andererseits die Korrespondenz realer Phänomene mit seiner analytischen Begrifilichkeit zeigen wollte. Um den Leserinnen dieser Arbeit die Orientierung zu erleichtern, ist im Anhang ein Glossarium zusammengestellt. Letztlich sei an eine Mahnung Parsons' erinnert, die jede Theoriearbeit begleiten sollte: "lt should not be forgotten, however, that applicability to the study of the real behavior of human beings is the ultimate test of any theoretical scheme" (Parsons et al. 1951, S. 105). In unserem Kontext kann das nur bedeuten, daß wir die Theoriearbeit mit dem Ziel antreten, ein besseres Werkzeug zur Verfügung zu haben zur empirischen Forschung im Bereich der Speziellen Ästhetik-Soziologien, oder anders ausgedrückt, besser in der Lage zu sein, einen soziologischen Blick auf die Schönheit der Welt zu nehmen.

2 Staubmann

B. Handlungstheorie und Ästhetik - Begriffsbestimmung und Problemabriß "Die nicht rationalen Grundlagen der Rationalität" überschreibt Randall Collins das erste Kapitel eines Buches, das den Untertitel trägt: "Non-Obvious Sociology". Ein Blick in die soziologische Literatur zeigt, daß üblicherweise den nicht-rationalen Handlungsbereichen Moral oder Wertrationalität zugeordnet wird. Daß darüberhinaus eine weitere Handlungsdimension in Form von Ästhetik, Gefühlen, Affekten etc. existiert, die soziologisch relevant wäre, ist nach wie vor so wenig im allgemeinen Bewußtsein, daß Collins berechtigt von nicht-offensichtlicher Soziologie spricht. Einen Konsens scheint es vielmehr zu geben im Hinblick auf zwei Grundmodelle menschlichen Verhaltens: auf der einen Seite das des Homo oeconornicus, der sein Verhalten nach der Maxime der Nutzenoptimierung ausrichtet, und auf der anderen Seite das des Homo sociologicus, der durch Bindung an Normen - sei es durch Einsicht in deren Legitimität oder einfach durch Übersozialisation - die durch seinen nutzenmaximierenden signifikanten Anderen aufgeworfenen Probleme zu korrigieren hat. Jürgen Habermas charakterisiert die Theoriegeschichte der Sozialwissenschaften seit Marx als Geschichte der Entmischung dieser zweier Paradigmen. Mit Konzepten wie System und Lebenswelt versucht er diese zu reintegrieren (vgl. Habermas 1987 Bd. 2, S. 303f?. Die Ausarbeitung eines handlungstheoretischen Bezugsrahmens steht vor der Aufgabe, diese Dualität von Instrumentalität und Narrnativität in der sozialwissenschaftliehen Theoriebildung zu überwinden.

3 Die Einarbeitung der ästhetischen Handhmgsdimension in die Habennassehe Theorie versucht Kenneth H. Tucker: "Instrumental and strategic rationality should be viewed not only as lacking the reconciling dimension of rationality so important to communicative action, but also as expressing a reified rationality shom off its affective and aesthetic moments. Communicative action can be enriched by incorporating these moments into its very structure" (Tucker 1993, S. 207). Gegen diese Kritik könnte eingewandt werden, daß im Begriff des kommunikativen Handeins "espressive" oder "dramaturgische" Komponenten berücksichtigt sind, aber diese scheinen im Gesamttheoriedesign an theoretisch sekundärer Stelle auf

B. Handhmgstheorie Wld Ästhetik - BegriffsbestirnmWlg Wld Problemabriß

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Um es mit einem Schlagwort auszudrücken, sollte die gängige Sichtweise der anthropologischen Dichotomie des Homo oeconomicus versus des Homo sociologicus durch das Konzept des Homo aestheticus erweitert werden. Erst in der letzten Zeit mehren sich in der Soziologie Stimmen, die für eine Erweiterung durch ein weiteres Grundmodell plädieren: Helena Flam plädiert für das Modell eines "emotionalen Menschen" (vgl. Flam 1990a und 1990b), Hans Joas für die Anerkennung der Kreativität des Handeins als Ergänzung zur Instrumentalität und Narrnativität (vgl. Joas 1992). Trotz solcher Ansätze hat die Beschäftigung mit Ästhetik, mit Gefühlen, Kunst, Musik, Mode etc. in der Soziologie nach wie vor etwas Esoterisches an sich. Die Nicht-Zweckhaftigkeit dieser Handlungsbereiche korrespondiert mit dem Image der Nutzlosigkeit der Beschäftigung mit ihnen, so als wenn eine Theorie des Spieles selbst Spiel wäre. Nicht nur ist es nicht-offensichtlich, daß Spezialdisziplinen - Bindestrich-Soziologien - , die sich mit Ästhetik beschäftigen - einen ähnlichen Stellenwert haben sollten wie die, die sich mit "nützlicheren" Handlungsbereichen beschäftigen, noch weniger ist es offensichtlich, daß mit dem Begriff der Ästhetik eine zentrale Dimension menschlichen Handeins abgedeckt ist, deren Konzepte für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung ein mindestens ebenbürtiger grundbegrifflicher Status zukommen sollte wie der rationaler oder moralischer Handlungsbereiche. Der für seine Studien zur Soziologie der Emotionen bekannte amerikanische Soziologe Thomas J. Scheff geht so weit zu behaupten, daß sich die Dominanz der Rationalität in der Moderne in der Verdrängung von Gefühlen auch in der sozialwissenschaftliehen Theoriebildung widerspiegle (vgl. Scheff 1992). Was immer die Gründe für eine Vernachlässigung des Stellenwertes von Ästhetik sein mögen, eine Behebung dieses Mankos kann nur ansetzen an der Schaffung geeigneter theoretischer Instrumente. Ein erster Schritt der Annäherung an die Problemstellung sollte darin bestehen, den Gegenstandsbereich präzise zu definieren. Ad hoc Vorstellungsinhalte zur Ästhetik wie Kunst, Philosophie oder Wissenschaft von der Kunst, Emotion, Affekt, Form, Symbolismus, Expression etc. bilden ein denkbar unpräzises Begriffssyndrom. Für einige der aufgezählten Elemente stellt sich die Frage, ob sie notwendige und/oder hinreichende Komponenten von Ästhetik sind. Man kann beispielsweise keinesfalls a priori davon ausgehen, daß Kunst oder allgemeiner die farmgestalterischen Komponenten des Handeins etwas mit Emotion zu tun haben. Weiters gehört es, vorsichtig formuliert, zu den nicht-offensichtlichen Ausgangsvorstellungen dieser Arbeit, daß Gefühle, 2*

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B. Handlungstheorie und Ästhetik- Begriffsbestimmung und Problemabriß

Affekte etc. über ihre aus dem Alltagsverständnis heraus klar als Eigenschaften psychischer und individuell zurechenbarer Provenienz aufzufassende Phänomene hinaus eine soziale und kulturelle Realität aufweisen, die es erst berechtigt von einer Soziologie oder Handlungstheorie der Ästhetik auszugehen. Ähnlich dem Begriff der Dialektik hat sich Ästhetik zu einer Art von Begriffssyndrom entwickelt, dessen Verwendung Modewellen unterworfen ist (vgl. Früchtl 1993), sich aber einer fur (wissenschaftliche) Kommunikation notwendigen Bedeutungsfestlegung zu entziehen scheint. Wir wollen zu Beginn der Arbeit keine umfassende Definition vorausschicken, da dies die dafür notwendigen Theorieentscheidungen präjudizieren würde. Die Klärung der Begriffe und deren Stellenwert in einer allgemeinen Theorie des Handeins wird Aufgabe der gesamten Arbeit sein. Gerade am Beispiel der ästhetikbezogenen Begriffe läßt sich demonstrieren, daß die Bedeutungen von Einzelbegriffen von den komplexen Bedeutungstrukturen abhängen, von denen sie ein Teil sind. Erst durch das Treffen von allgemeinen Theorieentscheidungen und -klärungen wird die Bedeutung von Ästhetik klärbar. Um die damit gegebene Rekursivität der Arbeit aber etwas zu entflechten, sollen in der Folge vorläufige Arbeitsdefinitionen der wichtigsten Begriffe vorgenommen werden. Der Begriff Ästhetik wird in dieser Arbeit in einem sehr weiten Sinne aufgefaßt Als Arbeitsdefinition dient uns die Kantsche Auffassung von Ästhetik. Kant unterscheidet zwischen Ästhetik im engeren Sinne, nämlich Fragen des Geschmackes oder der Schönheit, und Ästhetik im weiteren Sinne, die auch Urteile über das Angenehme im allgemeinen urnfaßt. Der Rekurs auf den Kantschen Ästhetik Begriff ist insbesondere fur eine Auseinandersetzung mit dem Parsenssehen Werk angebracht, da, wie Richard Münch aufgezeigt hat, grundlegende methodelogische Prämissen Parsons' als kantianisch angesehen werden können (vgl. Münch 1979 und 1980). Wir sind der Auffassung, daß über den methodelogischen Kern hinausgehend strukturelle Theorieprämissen eine Entsprechung zur Kantschen Philosophie aufweisen. Dies betrifft die strukturelle Unabhängigkeit der kognitiven, ästhetischen und evaluativen Handlungsdimensionen, womit der Ästhetik eine spezielle Rolle zugewiesen wird. Es gibt in der soziologischen Literatur eine Tradition, die ästhetischen Komponenten des Handeins gleichzusetzen mit Symbolismus oder Kultur im allgemeinen. Ästhetik als sinnhaft symbolische Organisation von Handlungen wird dann kontrastiert mit instrumentell-materialistischen Handlungsbereichen. Es ist ein Schlüssel-Anliegen der vorliegenden Studie zu zeigen,

B. Handlwtgstheorie wtd Ästhetik- Begriffsbestimmwtg wtd Problemabriß

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daß ästhetischen Handlungen in diesem Sinne kein Sonderstatus zukommt gegenüber anderen Handlungsbereichen. Eine Gleichsetzung von Expressivität und Symbolismus nimmt z.B. Susanne Langer vor, die als Klassikerin der Theorie des Symbolismus und der Ästhetik gilt. Als prominentes Beispiel kann auch das Werk von Pierre Bourdieu angesehen werden. Parallelen finden sich weiters in der Habermasseben Dichotomie von System und Lebenswelt Der Standpunkt der Gleichsetzung von Ästhetik und Symbolismus oder Kultur im allgemeinen sitzt m.E. dem positivistischen Trugschluß auf, die instrumentellen Handlungen auf eine Reiz-Reaktions-Kausalität zu reduzieren. Eine damit verwandte Theoriewurzel ist auch im marxistischen Basis-Überbau Theorem gegeben. Diese Unterscheidung suggeriert einen nichtkulturellen "systemischen" ökonomischen Handlungsbereich, der Kultur zwar beeinflußt, aber von dieser in einem synthetisch-empirischen Sinne strukturell unterscheidbar ist4 . Die sozialwissenschaftliche Methodologie gewinnt dadurch den Charakter eines Dualismus einer hermeneutisch-verstehenden Sozialwissenschaft einerseits in kulturellen Belangen und eine "naturwissenschaftlich" orientierte "funktionalistische" Methode des Erklärens fur instrumentelle Handlungen andererseits.

Die gerade Umkehrung dieses Standpunktes, die nicht weniger problematisch ist, findet sich in der Literatur der Ästhetik, insbesondere in bezug auf Gefuhle, in der Form, daß die emotional-expressive Dimension als quasi rohe physiologisch-biologisch gegebene Entität aufzufassen ist, die erst durch Kognitionen symbolisch-kulturelle Qualität erhalten (vgl. Franks; McCarthy 1989, S. XVii). Fomulierungen wie "Die Lust, sich musikalisch auszudrücken" (Klausmeier 1978) oder eine ganze Reihe "psychologischer" Studien zum musikalischen Verhalten zeigen, daß offensichtlich das notwendige handlungstheoretische Instrumentarium fehlt, um expressiven Symbolismus als nicht-biologisches Phänomen zu verstehen. Aus handlungstheoretischer Sicht ist konsequenterweise jede Handlung mehr oder weniger symbolisch organisiert. Die soziale Evolution schafft in

4 Leider trifit heute aufwichtige Teile der sozialwissenschaftliche Theoriebildwtg noch immer zu, was Kroeber wtd Parsons vor fast 40 Jahren bereits bedauerten: "There are still some anthropologists and sociologists who do not even consider the distinction necessary on the growtd that all phaenomena of human behavior are sociocultural, with both societal and cultural aspects at the same time" (Kroeber; Parsans 1958, S. 582).

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allen Handlungsbereichen Symbolsysteme oder Semantiken für Kommunikation und Handlungskoordination. Auf der evaluativen Dimension z.B. die Religion, auf der instrumentellen Dimension z.B. das Geld, auf der expressiven Dimension die Mode oder, wie Luhmann ausführt, die moderne Semantik der Liebe. Das Gegensatzpaar ist handlungstheoretisch gesehen intrinsisch versus kulturell-symbolisch und keineswegs instrumentell versus kulturellsymbolisch. Eine weitere Prämisse zu Ästhetik und Expressivität scheint in der entsprechenden Literatur common-sense zu sein, die wir von vornherein ausschließen wollen: die Zuordnung zu und Beschränkung auf individuelle und mikrosoziale Phänomene. Ästhetik und Gefühle sind üblicherweise Gegenstand biologischer, psychologischer und bestenfalls sozialpsychologischer Forschungen. Demgegenüber wird die Universalität instrumenteller Handlungen dem makrosozialen Bereich zugeordnet. Parallel dazu findet sich eine ähnliche Dichotomie in der Form, daß Moral als sozialsystemisch und kulturell aufgefaßt wird, während Emotionalität die individuelle Komponente von Handlungen darstellt (vgl. z.B. Mead 1934, S. 230). Es geht dann um eine Integration von Freiheit und Ordnung oder individuellem Wollen und sozialem Zwang, die in einem funktionierenden Handlungssystem auszubalancieren sind. Die theoretische Vermittlung von Ordnung und Freiheit, Wollen und Sollen, individuellen Bedürfnissen und sozialem Zwang muß die einfache Zuordnung der jeweiligen Komponente dieser Dichotomien zu Persönlichkeit und sozialem System überwinden. Sowohl Bedürfnisse als auch Zwänge weisen jeweils personale und soziale Komponenten auf. Weder Kunst im engeren Sinne noch Gefühle können damit hinreichend aus der Perspektive einer Gegenüberstellung von mikro- und makrostrukturellen Voraussetzungen verstanden werden. Es sind nämlich sowohl die universelle Kultur als auch gesamtgesellschaftliche soziale Aspekte, die eine Rolle in der Ausformung expressiv-ästhetischer Phänomene spielen. Gefühle und Kunst müssen damit in gleicher Weise wie Wissenschaft, Ökonomie oder Moral sowohl als mikro- als auch als makrosoziale Erscheinungen betrachtet werden. Eine weitere vorweg zu klärende terminologische Frage betrifft den bereits mehrmals verwendeten Begriff des 11 WollenS 11 • Er wird in dieser Arbeit als Komplementärbegriff zu 11 Sollen 11 verwendet, um ihn eindeutig auf der ästhetischen Handlungsdimension zu verorten im Vergleich zum Sollen des

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evaluativ-normativen Handlungsmodells. Dies steht in Übereinstimmung mit philosophischen Traditionen auch wenn es gute Argumente gibt, den Begriff des Wollens breiter zu fassen (vgl. Schulze 1993, S. 41). Ein pflichtbewußter Mensch "will" natürlich auch seine an Normen orientierten Handlungsziele verwirklichen, genauso wie ein zweckorientierter Mensch etwa aus Einkommensgründen eine Arbeit "will", die er (eigentlich) gar nicht ausfuhren möchte. Es gäbe viele - fast unendlich viele - Möglichkeiten die Bedeutung der ästhetisch-expressiven Handlungsdimension zu demonstrieren. Die Möglichkeit, die hier gewählt wurde ist eine Auseinandersetzung mit der Theoriearchitektur der Parsanssehen Handlungstheorie. Es ist nicht nur der thematische Ausgangspunkt dieser Arbeit, der diese als einen Beitrag zu einer nicht-offensichtlichen Soziologie erscheinen läßt, sondern auch die Wahl Ästhetik durch die Parsanssehe Handlungstheorie zu betrachten. Und doch können Referenzen angeführt werden. Ronald Kurt hat gezeigt, daß die ästhetische Theorie Friedrich Schillers im Parsanssehen Voluntarismus rekonstruierbar ist (vgl. Kurt 1989 und 1991 ). Hans Joas beginnt eine Studie über die Kreativität des Handeins mit einer Auseinandersetzung mit Parsans und behauptet, daß "es ... keinen besseren Weg zur Einführung in die handlungstheoretische Diskurswelt gibt als eine Beschäftigung mit Parsons' Argumentation und den möglichen Einwänden gegen sie" (Joas 1992, S. 20). Und warum sollte das, was Jürgen Habermas zur Gesellschaftstheorie schreibt, nämlich, daß heute eine solche nicht ernstgenommen werden kann, die sich nicht zu der von Parsans wenigstens in Beziehung setzt (vgl. Habermas 1987 Bd 2, S. 297), nicht auch für eine Soziologie der Ästhetik gelten? Gerade die durch Ästhetik besonders scharf aufgeworfenen Theorieprobleme wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Subjektivität und Objektivität, materiellen und ideellen Faktoren des Handeins etc. haben in der Parsanssehen Handlungstheorie eine spezifische Form der Lösung gefunden. In der Überwindung solcher Gegensätze sieht Luhmann den Hauptbeitrag Parsons' zur Theorieentwicklung: "In der Tat liegen hier die vielleicht bedeutendsten Leistungen des Parsons'schen Unternehmens .. . Es zeugt schlicht von Unkenntnis dieses Versuchs, wenn noch heute Struktur und Prozeß, materielle und ideelle Faktoren, Individuum und Kollektiv, Handlung und System wie nicht weiter auflösbare Urgegensätze behandelt werden .. . Parsans ist deutlich über den ersten Schritt der Theorieentwicklung hinausgelangt. .. Wer die Parsons'sche Reorganisation nicht akzeptiert, kann dennoch nicht auf den alten Stand zurück; er müßte sich dafür zumindest neue Begründungen einfallen lassen. Insofern ist dies Werk eine

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bleibende Herausforderung für alle weitere Arbeit an soziologischer Theorie" (Luhmann 1980, S. 12). Diese Herausforderung wird hier in bezug auf eine soziologische Theorie der Ästhetik aufgegriffen. Dies sollte zu einer differenzierteren Einschätzung der Parsanssehen Handlungstheorie beitragen, die oft allzuschnell mit dem simplifizierenden Label einer narrnativistischen Integrationstheorie abgetan wurde, um sie damit vor dem Hintergrund eines differenzierteren Verständnisses in den aktuellen Diskurs um Ästhetik und Soziologie wieder einzubringen. Trotz dieser zitierbaren Empfehlungen scheint es unter Soziologen, die sich mit Ästhetik im weiteren Sinne beschäftigen, einen einhelligen Konsens zu geben, daß der Parsanssehe Theorierahmen gerade für diesen Bereich unbrauchbar ist. Um nur einige Beispiele von Arbeiten zu erwähnen, die in der letzten Zeit dazu erschienen sind: der eben zitierte Hans Joas widmet das erste Kapitel seines Buches über Handlungstheorie und Kreativität zum Großteil der Parsanssehen Theorie um zu dem Schluß zu kommen, daß sie unf'ähig sei, die kreative Handlungsdimension zu berücksichtigen. Einer der führenden amerikanischen Vertreter der Soziologie der Gefühle, Thomas W. Scheff, behauptet, daß Parsans Gefühle "verdränge", indem er sie nur am Rande und in artifizieller Weise berühre. In einem Aufsatz über Rationalität und Gefühl führt er in bezug auf Parsans aus, daß Affekt zwar als basale Komponente sozialer Handlungen definitorisch festgelegt werde, aber schließlich m der "Marginalität" nichtrationaler Handlungsgründe endete. "... Parsans never named specific emotions and never showed their role in action sequences. For Parsons, emotions functioned as a residual and virtually unused category for causes that were not rational" (Scheff 1992, S. 103). Als Grund dafür vermutet er, daß Sozialwissenschaftler als loyale Mitglieder einer Kultur, die Gefühle unterdrückt, diese auch in ihren wissenschaftlichen Arbeiten unterdrücken (vgl. Scheff 1992, S. 116). Stjepan G. Mestrovic (1988) argumentiert für die Notwendigkeit der Umkehrung der Annahmen des Zweck-Mittel Schemas in Parsons' Theorie rationaler Handlung, um den Einfluß von Gefühlen (passions) und des Willens auf Handlungen angemessen berücksichtigen zu können. Eine Arbeit über die Parsanssehe Handlungstheorie und deren Brauchbarkeit für eine Soziologie der Ästhetik muß damit die Hürde meistern, die der Konsens des Mainstreams der Parsans Kritik vorgibt. Parsans hat das Image, eine Theorie normativer Integration begründet zu haben. Dieses Image ist nicht gänzlich falsch, aber es simplifiziert gewaltig, und über diese Simplifikation gehen Theorieleistungen verloren, deren

B. Handhmgstheorie Wld Ästhetik - BegriffsbestimmWlg Wld Problemabriß

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Berücksichtigung auch in der heutigen Theoriediskussion um die expressivästhetische Handlungsdimension mehr als notwendig wäre. Ästhetik im engeren Sinne hat in Parsons' Schaffen in der Tat keinen allzugroßen Stellenwert gehabt, zumindest, was seine eigene Anwendung des allgemeinen Theoriemodells betrifft, in der er sich primär mit dem "instrumentellen Komplex" wie der Wirtschaft, der Medizin oder der Universität, beschäftigte. Es liegt dementsprechend auch keine Parsanssehe Arbeit zur Kunst vor. Er hat zwar im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner allgemeinen Theorie gelegentlich Fragen der Ästhetik aufgegriffen und in seine Ausführungen eingebaut (am ausführlichsten in: 1951 S. 384-427 sowie 1952b und 1961e), diese Ausarbeitungen sind aber nach Parsons' eigener Formulierung "sketchy" geblieben. Anders verhält es sich in Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung einer im weiteren Sinne verstandenen ästhetisch-expressiven Handlungsdimension. In dieser Hinsicht bietet die Parsanssehe Version der Handlungstheorie sehr viel mehr an Anknüpfungspunkten als andere Theorieschulen. Als kontrapunktisches Thema in der Ausarbeitung einer allgemeinen Handlungstheorie bezeichnete Parsans selbst seine Beschäftigung mit Fragen des Symbolismus im Allgemeinen, der eine stärkere explizite Ausarbeitung verdiene (vgl. Parsons; Shits 1951 S. 242). Die "Entdeckung" von Ästhetik als unabhängige strukturelle Komponente des Handeins führte Parsans in seiner ersten großen Studie "The Structure of Social Action" (1937) aus, mit der er bekannt wurde als Vertreter einer Konvergenzthese. Durch sein gesamtes Werk zieht sich die handlungstheoretische Begründung der Besonderheit der ästhetisch-expressiven Handlungsdimension. Die Frage, inwieweit dies Parsans in befriedigender Weise gelungen ist, wird ein Hauptgesichtspunkt der nachfolgenden Überlegungen sein. Der Versuch der Rezeption und Adaption der Parsanssehen Handlungstheorie für eine Soziologie der Ästhetik wird dabei im Folgenden nicht im Stile eines- um ein Bonmot Niklas Luhmanns aufzugreifen "Stammesmitgliedes der Parsonianer" vorzunehmen versucht, sondern auf Grundlage der Kenntnisse um die Probleme der Disziplin. Es geht uns "lediglich" darum zu erarbeiten, welcher Ertrag für eine Soziologie der Ästhetik abfällt, wenn man diese auf Grundlage der Parsanssehen Handlungstheorie betrachtet. Die Umkehrung dieser Fragestellung, nämlich der Ertrag für die Handlungstheorie aus einer

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Konfrontierung mit den Problemen der Ästhetik, wird uns in gleicher Weise durch die gesamte Arbeit begleiten. Parsons hat einen, wie man heute sagen würde, konstruktivistischen Theorieansatz. Konstruktivisten meinen in beliebter tautologischer Formulierung, daß man nur das sehen kann, was man sehen kann, und dies wiederum hängt auf biologischer Ebene von der Struktur des Auges und des Gehirns ab. Das Analogon auf der soziokulturellen Ebene der Wissenschaft ist der theoretische Bezugsrahmen. Parsons war genau in diesem Sinne bemüht, einen analytischen theoretischen Rahmen zu erarbeiten. Parsons bezeichnete diesen methodologischen Standpunkt als analytischen Realismus, zu dem ihn die Beschäftigung mit Alfred N. Whitehead brachte. Aus dessen Buch "Science and the Modern World" übernahm er den vielzitierten Satz der "fallacy of misplaced concreteness", einer Position, die darin besteht, Wahrnehmungen und Wahrgenommenes ident zu setzen, und damit glaubt, auf analytische Abstraktion und eine empirie-vorgängige theoretische Klassifikation verzichten zu können (vgl. Parsans 1974, S. 55). 5 Eine der wenigen kunstsoziologischen Erwähnungen der Parsoussehen Handlungstheorie macht Janet Wolff, um zu dem Schluß zu kommen, daß " ... in the end, the Parsonian scheme must be rejected" (Woljf 1975, S. 101). Als Begründung führt sie an, daß expressiv-ästhetische Bedeutungen eine Totalität darstellen, die durch die Parsoussehe Begriffiichkeit nur selektiv wahrgenommen werden können. "Because the model itself is so carefully thought out, so exactly divided into clear-cut categories, empirical facts, including meanings, are selectively observed - that is, only as the model directs our vision. Now meaning in the phenomenological sense ... is not a collection of seperate, even if genetically connected ideas, symbols and orientations, but is rather a totality" (Woljf 1975, S. 101). Der methodologische Standpunkt, der hier vertreten wird, legt das Gegenteil des Wol:ffschen Standpunktes nahe. Er geht davon aus, daß die Totalität als solche nicht erfaßt werden kann, sondern immer nur selektiv. Jeder theoretische Rahmen ermöglicht und limitiert gleichzeitig die Wahrnehmung. Die Zurückweisung eines theoretischen Rahmens durch das Aufzeigen seiner Selektivität würde nur in der berühmten "Blindheit" von Anschauungen ohne Begriffe im Kautsehen Sinne enden.

' Zum geschichtlichen HintergrWid der EntwicklWig von Parsons' Konzept des "analytischen Realismus" vgl. Lidz 1986 S. 145f Wld Münch 1982, S. 44f. Zur Kritik daran: Burger 1977 Wld Parsons' Antwort (Parsons 1977), ferner Luhmann 1988.

B. Handlungstheorie und Ästhetik- Begriffsbestimmung und Problemabriß

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Wichtig wird uns aber sein, die Art der Selektivität eines Theorierahmens zu untersuchen, in unserem Kontext, ob und wie er uns erlaubt, Ästhetik als grundlegende Dimension des Handeins wahrzunehmen. Diese "Dialektik" von Begriff und Anschauung bezeichnet Münch mit dem Begriff der Interpenetration {vgl. Münch 1982, S. 26ft). Parsans hat demnach mit seiner voluntaristischen Handlungstheorie in gewisser Weise in den Sozialwissenschaften das vollzogen, was Kant vor ihm in der Philosophie durchgefuhrt hat, nämlich die Überwindung von Rationalismus und Empirismus. Dies sowohl im methodologischen Sinne, im Verhältnis von Theorierahmen und empirisch möglicher Erkenntnis, als auch auf der substantiellen Ebene der Theorie durch die Vermittlung von lnstrumentalität und Narrnativität Den Begriff der Interpenetration in dem hier gebrauchten Sinne ernst zu nehmen bedeutet aber nicht nur das Beharren auf einem der Empirie vorausgehenden begrifflichen Klassifikationsschema. Es bedeutet auch, wenn nicht vor allem, eine genaue Unterscheidung zwischen den analytisch notwendigen Vorannahmen und den damit zu treffenden synthetisch-empirischen Aussagen. Die "Arbeitsteilung" in den Sozialwissenschaften hat zu einer Trennung der Sphären von theoretischer und empirischer Arbeit geführt, die deren notwendiger Komplementarität und "dialektischer" Bedingung abträglich ist. Was dem Theoretiker als Historismus erscheint {vgl. Alexander 1989), ist dem mehr pragmatisch orientierten Soziologen eine wirklichkeits- oder geschichtsfremde Konstruktion {vgl. Levine 1989). Die Erarbeitung einer Systematik von Kunst- oder kunstsoziologischen Begriffen kann, wie Gerhardt Kapner argumentiert hat, nicht ohne die Kontrolle empirisch-historischer Kunstforschung durchgeführt werden (vgl. Kapner 1987a, 1987b, 1988). Die historisch sich wandelnden Formen ästhetischer Expressionen können damit nicht in einer ahistorischen Begrifflichkeil eingefangen werden. Die Fluktuation von Bedeutungen ist im ästhetischen Symbolismus sogar im besonderen Maße gegeben. Selbst die Sprunghaftigkeit des technologischen Wandels ist der Rasanz von Wandlungsprozessen von Stilen und Moden nicht gewachsen. Es ist damit wohl zutreffend, '' ... daß in der Kunstsoziologie mehr als in der allgemeinen Soziologie verpflichtend erscheint, die Geschichte mit einzubeziehen" (Kapner 1991, S. 76). Für die Auseinandersetzung mit einem so abstrakten Begriffsrahmen wie dem Parsons' bedeutet dies, sich dessen Limitationalität bewußt zu sein und der daraus zu folgenden Notwendigkeit der Spezifikation für empirisch-historische Forschung.

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B. Handlungstheorie und Ästhetik - Begriffsbestimmung und Problemabriß

Der erste Versuch Parsons', einen theoretischen Rahmen zu erstellen, ist mit seiner Konvergenzthese verbunden. Diese wurde in "The Structure of Social Action" ausgearbeitet und erbrachte als Ergebnis einen ersten Entwurf eines Bezugsrahmens einer allgemeinen Theorie des Handelns. Für die Erweiterung dieses ersten Entwurfes haben Überlegungen zu ästhetischen Phänomenen eine wichtige Rolle gespielt, und wir werden die Auseinandersetzung mit den Grundgedanken dieser ersten Phase der Entwicklung der allgemeinen Handlungstheorie, der Theorie des Voluntarismus, beginnen. Die zweite Theoriephase in der Entwicklung der Parsanssehen Handlungstheorie gilt als die klassische strukturfunktionalistische Variante. Mit dieser beschäftigt sich das dritte Kapitel. Im strukturfunktionalistischen Bezugsrahmen des Handeins findet sich die elaborierteste Berücksichtigung der ästhetischen Handlungsdimension. Im vierten Kapitel wird auf wichtige Weiterentwicklungen in der letzten Schaffensperiode Parsons' eingegangen. Dazu gehört die Reformulierung der Handlungstheorie auf Grundlage des AGIL-Schemas und die Theorie der symbolischen Medien. In dieser etwas irreführend als Systemfunktionalismus apostrophierten Phase werden wir argumentieren, daß durch grundlegende Theorieentscheidungen der Definition der AGIL-Funktionen und deren Zuordung zu Subsystemen des Handlungssystems wichtige Einsichten der zweiten Phase, jedenfalls was die Ästhetik betrifft, verlorengehen. Diese Aufteilung der Theorieentwicklung in drei Perioden impliziert keineswegs, daß eine spätere Periode eine Art Falsifikation der vorhergehenden darstellt. Im Gegenteil läßt sich eine stärkere "Kontinuität der Entwicklung" (vgl. Münch 1980 und 1982, S. 59ft) über das Gesamtwerk Parsons' feststellen, als es die übliche Darstellung einer voluntaristischen oder handlungstheoretischen Frühphase und einer systemtheoretischen Spätphase nahelegen würde. 6

6 Vgl. z.B. Dubin 1960, der von zwei Modellen, dem handlungstheoretischen und dem systemtheoretischen ausgeht und Parsons' Antwort 1960 in der er die Kontinuität des AGIL Paradigmas mit den Mustervariablen aufzeigt. Eine Kontinuität konstatieren auch Beeghley und Turner 1974, siehe auch Parsons' Kommentar dazu (Parsons 1974). Für eine Argumentation einer strukturell verschiedenen und teilweise sogar inkompatiblen handlungs- und systemtheoretischen Konzeption bei Parsons siehe auch Habermas 1987.

B. Handlwtgstheorie wtd Ästhetik - Begriffsbestimmwtg wtd Problemabriß

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Die Einteilung in drei Phasen ergibt sich insbesondere aus unserem Interesse, die Bedeutung der Ästhetik in der Theorieentwicklung zu erfassen. Aus dieser Perspektive stellt es sich so dar, daß Parsons' Werk in verschiedenen Phasen unterschiedliche Schwerpunkte und Akzente auf verschiedene Schlüsselbegriffe und Grundannahmen setzte. Der Voluntarismus, wie er in "The Structure of Social Action" vertreten wird, steht noch ganz im Zeichen der Dualität der an Normen orientierten Konstitution von Handlungszielen auf der einen Seite sowie dem zweckrational-instrumentellen Handeln auf der anderen Seite. Parsons entdeckt und merkt mehr oder weniger nebenbei an, daß das Schema um eine weitere strukturelle Komponente, nämlich der Ästhetik ("modes of expresssion") erweitert werden sollte. Es kommt aber nicht mehr zu einer theoretischen Ausarbeitung dieses Gedankens. Dies erfolgt in der zweiten Phase, die damit die Gestalt eines dreidimensionalen Handlungsraums annimmt und in der letzten Phase in die Vierdimensionalität des AGIL-Paradigmas übergeht. Die Einteilung des Parsenssehen Werkes in drei Phasen ist also primär aus unserem Interesse der Ausleuchtung dieser Theorie im Hinblick auf Ästhetik motiviert. Schließlich werden in einem letzten Kapitel die handlungstheoretischen Schlußfolgerungen aus unserer Beschäftigung mit Parsons mit einigen Arbeiten konfrontiert, die sich um eine stärkere Berücksichtigung der ästhetischen Handlungsdimension in den Sozialwissenschaften bemühen.

C. Ästhetik und die voluntaristische Theorie des Handeins Die Frühphase in der Theorieentwicklung der Handlungstheorie ist von dem Bemühen getragen, einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu konzipieren, auf dessen Basis empirische Forschung organisiert und weitere Theoriearbeit angeknüpft werden konnte. Die systemtheoretische Komponente, die diesem Bemühen zugrunde lag, implizierte einen "ganzheitlichen" Impetus, sodaß ein wesentlicher Anspruch an den zu entwickelnden Theorierahmen in der Überwindung von bis zu dieser Zeit gängigen Reduktionismen lag. Parsons hat diese Intention nur teilweise verwirklichen können. Da sich dieser Punkt auf wichtige Weichenstellungen für die spätere Theorieentwicklung bezieht, müssen wir als erstes eine genaue Analyse der Parsonsschen Konvergenzthese und der damit mehr oder weniger gelungenen Überwindung sozialwissenschaftlicher Reduktionismen vornehmen. Um dies verdeutlichen zu können, sollen im folgenden zwei Typen von Reduktionismen unterschieden werden. Dem ersten Typus liegt die Materialismus/Positivismus- versus IdealismusKontroverse zugrunde mit den damit verbunden Begriffsdichotomien wie objektiv-subjektiv, materiell-ideell, ökonomisch-kulturell etc. In systemtheoretischer Terminologie könnte man in bezug auf eine Theorie des Handeins von einem System- versus Umwelt-Reduktionismus sprechen. Im Rahmen dieser Unterscheidung können einem Umwelt-Reduktionismus Theorien zugerechnet werden, deren Grundmuster der Erklärung von sozialen Phänomenen in der kausalen Zurechnung von Handlungen zu Situationsfaktoren und konditionalen Voraussetzungen des Handeins besteht. Dazu zählen vor allem die von Ökonomen bevorzugte utilitaristisch-verhaltenstheoretische Schule und der historische Materialismus. Der Ausdruck Systemreduktionismus läßt sich auf die idealistische Tradition der Sozialtheorie anwenden, in der Handlungen und soziale Phänomene "in letzter Instanz" auf kulturelle Faktoren wie "Geist", Sinn, Werte, Normen, etc. zurückgeführt werden. Die Theorie, die beide Strömungen zu integrieren in der Lage sein sollte, nannte Parsons - etwas unglücklich - voluntaristische Theorie des Handelns. Unglücklich deshalb, weil diese Bezeichnung das Mißverständnis produziert,

C. Ästhetik wtd die volwttaristische Theorie des Handelns

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es würden teleologische oder idealistische Handlungselemente wie Werte und Normen als primär angesehen. Gerade dies sollte aber vermieden werden. Eine Grundvorstellung dieser voluntaristischen Theorie des Handeins wird durch einen Satz von Max Weber zum Ausdruck gebracht, den Parsons als Motto für seine Untersuchungen über die Struktur des sozialen Handeins voranstellte: "Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handeins ist zunächst gebunden an die Kategorien 'Zweck' und 'Mittel'". Die Konvergenzthese, die Parsons in seinem ersten umfangreichen Werk "The Structure of Social Action" durch Analyse der Werke von Marshall, Pareto, Durkheim und Weber sowie später von Freud zu belegen versuchte, bestand darin, daß sich die neue, voluntaristische Handlungstheorie in deren Arbeiten, wenn auch mit unterschiedlicher Terminologie und im unterschiedlichen Ausmaß, abzeichnete. Für den zweiten Typus von Reduktionismen, dessen Überwindung eine entscheidende Rolle in der Herausbildung der Handlungstheorie spielte, ist es schwieriger, eine einfache Begriffsdichotomie zu finden. Am ehesten paßt der Begriff Subsystem-Reduktionismus. Die verschiedenen, mit menschlichem Verhalten befaßten Wissenschaften müssen ein dem jeweiligen Organisationsprinzip des zu betrachtenden Teilsystems adäquaten Begriffsrahmen entwickeln, da sonst eine einseitige Sicht von Ursache-Wirkungsbeziehungen, wie dies durch Begriffe wie Psychologismus, Soziologismus, Biologismus etc. zum Ausdruck gebracht wird, die Folge ist. In diesem Sinne ist Parsons' vielzitierte Bemerkung "Who now reads Spencer?" mehr im Lichte der Abgrenzung zu biologistischen Erklärungsmodellen zu sehen als in bezug zur Evolutionstheorie, die ja später in die Handlungstheorie eingearbeitet wurde (vgl. auch Münch 1982, S. 168). Es ging Parsons also um die Ausarbeitung einer genuinen handlungstheoretischen Begrifl:lichkeit, unabhänig von biologischen Konzepten und mit der adäquaten Berücksichtigung von emergenten Subsystembildungen innerhalb eines allgemeinen Systems des Handelns. Die Unterscheidung dieser beiden Typen von Reduktionismen ist für unsere Argumentationslinie deshalb von besonderer Bedeutung, weil die jeweils spezifische Form der Überwindung in der Parsonsschen Handlungstheorie in unterschiedlichem Ausmaß gelöst wurde, mit theoretischen Folgewirkungen, die uns durch die gesamte Arbeit beschäftigen werden. Dies soll im folgenden durch die genaue Analyse des Bezugsrahmens der voluntaristischen Theorie des Handeins gezeigt werden.

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C. Ästhetik Wld die volWltaristische Theorie des Handeins

I. Der Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie des Handeins Eine voluntaristische Theorie des Handeins sollte in dieser Theoriephase als Minimum an strukturellen Komponenten die Unterscheidungen Ziele, Mittel, Bedingungen und Normen berücksichtigen. Durch die Unterscheidung dieser vier strukturell unabhängigen und damit nicht aufeinander reduzierbaren Komponenten des Handeins glaubte Parsons die Voraussetzungen zur Überwindung der Idealismus-Materialismus-Debatte gefunden zu haben. "Action must always be thought of as involving a state of tension between two different orders of elements, the normative and the conditional. As process, action is, in fact, the process of alteration of the conditional elements in the direction of conformity with norms. Elimination of the normative aspect altogether eliminates the concept of action itself and Ieads to the radical positivistic position. Elimination of conditions, of the tension from that side, equally eliminates action and results in idealistic emanationism. Thus conditions may be conceived at one pole, ends and normative rules at the other, means and effort as the connecting links between them" (Parsons 1937, S. 732). Diese Schlüssel-Stelle aus "The Structure of Social Action" bringt uns zurück zur Unterscheidung der verschiedenen Typen sozialwissenschaftlicher Reduktionismen. Das Zitat zeigt sehr deutlich Probleme auf, die man in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Handlungstheorie reproduziert findet. Von den vier Strukturbegriffen des Handeins sind genau genommen drei handlungsunabhängig definiert. Ziele, Mittel und Bedingungen sind in diesem Sinne Grundkategorien zur nichtreduktionistischen Beschreibung aller zielorientierter oder "lebender" Systeme und damit auf einer höheren Abstraktions- bzw. Allgemeinheitsebene als Normen gebildet. Neben Handlungssystemen "passen" sie vor allem aufbiologische Systeme. Die Differentia spezifica von Handlungssystemen wird explizit nur durch den Normbegriff abgedeckt. Im ersten Teil des Zitates erscheint der Normbegriff zudem als Generalisierung von Normen und Zielen. Zur selben Zeit, als Parsons "The Structure of Social Action" schrieb, arbeitete er an einer systematischeren Version der Ergebnisse seiner Untersuchungen. Diese Aufzeichnungen wurden erst 1986, und zwar ausschließlich in einer deutschen Übersetzung, von Harald Wenzel publiziert mit dem Titel: "Aktor, Situation und normative Muster". In diesem Buch wird deutlich, daß Parsons Ziele und Normen in eine teleologisch-evaluative Handlungsdimension verquickt. Präziser formuliert ist er im Normbegriff inkonsistent, da in anderen Zusammenhängen klar von der Spezifität von

I. Der Bezugsrahmen der vohmtaristischen Theorie des Handeins

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Normen in ihrer Bipolarität als situative und, im internalisierten Fall, als telische Elemente die Rede ist. Deutlich wird die Tendenz zu einem normativen Reduktionismus in der Parsoussehen Konzeption der Handlungstheorie bereits in der Begründung der Bezeichnung "Voluntarismus". Die voluntaristische Handlungstheorie habe in Abgrenzung zu biologistischen Verhaltenstheorien zwei Besonderheiten zu berücksichtigen: Erstens die Subjektivität, das Bewußtsein des Aktors. Die Subjektivität entkoppelt den Reiz-Reaktions-Zusammenhang. Der Handelnde muß damit eine Entscheidung oder Wahl treffen aus unterschiedlichen Handlungsdispositionen. Aus dieser fundamentalen Bedeutung der subjektiven Wahl, der Bedeutung der teleologischen Subjektivität, leitet sich die Bezeichnung Voluntarismus ab, die Parsons seiner Theoriekonzeption in der ersten Phase seines Werkes gab. Für Wahlhandlungen sieht Parsons nun zwei Gesichtspunkte relevant, die Berücksichtigung konditionaler, kognitiv erfaßbarer situativer Faktoren durch den Handelnden sowie die normativen. Mit dieser Konzeption sind die teleologischen Handlungselemente untrennbar mit Narrnativität verknüpft. Die zweite Besonderheit der voluntaristischen Handlungstheorie liegt für Parsons in der Emergenz der Sozialität. Eine angemessene theoretische Berücksichtigung des Sozialen erfordere die begriflliche Ablösung von Mitaktaren eines bestimmten Aktors als einfache Situationsfaktoren hin zu musterbildenden und damit, wie Parsous schlußfolgert, normativen Elementen: "Die Subjektivität des Handlungsbezugsrahmens macht die Unterscheidung zwischen der subjektiven Bezugseinheit, dem 'Selbst', und den relevanten normativen Mustern notwendig, für die sich in der Biologie keine Analogie findet. Sowohl die normativen Muster als auch die Situation sind, allerdings in unterschiedlichem Sinn, der Bezugseinheit gegenüber 'äußerlich"' (Parsons 1986, S. 68). Mit diesem zweiten Punkt ist zwar die Emergenz des Sozialen klar berücksichtigt und damit gegenüber verhaltenstheoretisch-positivistische Theorien abgegrenzt, gleichzeitig ist die Emergenz aber auf Narrnativität reduziert. Mit der Unterscheidung der beiden eingangs formulierten verschiedenen Typen von Reduktionismen im Hintergrund müßten die drei allgemeinen Kategorien des Bezugsrahmens noch einmal handlungsspezifisch reformuliert werden. In impliziter Weise wird das an vielen Stellen von Parsons auch ge3 Staubmann

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C. Ästhetik 1n1d die vol1n1taristische Theorie des Handeins

macht. Zum Beispiel wenn die Situation des Aktors nicht als eine objektiv, an sich gegebene Situation interpretiert wird, sondern in ihrer Wahrnehmung oder "Definition" durch den Handelnden etc. Aber diese notwendige handlungstheoretische Spezifizierung eines allgemeinen kategorialen Rahmens zielorientierter Systeme wird nicht konsequent durchgehalten, was zu einem Zug der Parsenssehen Handlungstheorie führt, der als "normativer Bias" bezeichnet werden könnte. Die Webersehe Lösung der Spezifität von Handlung war bekanntlich Sinn. Die Ersetzung dessen durch normative Kultur, in der Sinn eher als ein Spezialfall von Norm erscheint als umgekehrt, führte zu sperrigen Inkonsistenzen bis hin in die letzte Schaffensperiode Parsons'. Gleichzeitig muß angemerkt werden, daß diese Reduktion von Sinn auf Norm in Parsons' Handlungstheorie zwar eine durchgängige Rolle spielt, es lassen sich aber auch Belege anführen - ebenfalls durch das Gesamtwerk Parsens hindurch - , in denen Sinn als Grundbegriff aufscheint. So findet sich bereits in "The Structure of Social Action" die Bemerkung, daß die Husserlsche Phänomenologie mit der voluntaristischen Handlungstheorie kompatibel sei.

ll. Ästhetik als strukturelle Komponente des Handeins Das Problem der inkonsistenten Definition der Spezifität von Handlung im Sinne eines "normativen Bias" wird im Kontext des durch Ziele, Mittel, Bedingungen und Normen gebildeten Bezugsrahmens beim Versuch der Anwendung auf Phänomene der Ästhetik besonders transparent. Einigermaßen klar ist noch die Bedeutung der Begriffe Bedingungen und Mittel. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine diese Komponenten analysierende Arbeit stellt das musiksoziologische Fragment von Max Weber dar. 7 Intuitiv einleuchtend ist weiters, daß sich ästhetikbezogene Handlungen durch die

7 Die musiksoziologische Studie von Max Weber hat durch ihren fragmentarischen Charakter Anlaß zu einer Reihe von Mißverständnissen 1n1d Diskussionen gegeben. Mit Alpbons Silbermann (vgl. Silbermann 1963) sind wir der Mein1n1g, daß Webers Anwendtmg seiner Rationalisieflnlgsthese auf Musik handlungstheoretisch gelesen werden sollte, d.h., daß sich auch im Musikleben der abendländischen Gesellschaft der Einfluß der für diese typische kulturell-sinnhafte Form der Rationalisieflnlg auswirkte 1n1d nicht umgekehrt, daß sich eine urwüchsige Form "naturalistischer" instrumenteller Rationalität auf die Musikkultur auswirkte. Dies demonstriert auch die Art, wie die Begriffe von Situation 1n1d Instrumentalität bei Parsons interpretiert werden sollten.

li. Ästhetik als strukturelle Komponente des Handeins

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Analyse dieser Komponenten nicht hinreichend beschreiben lassen. Was sind aber ästhetische Ziele und ästhetische Normen? Parsans ist auf das Problem, diese Fragen zu spezifizieren, in Verbindung mit seiner Besprechung des Werkes von Max Weber und von Ferdinand Tönnies' grundbegrifflicher Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft gestoßen. 1. Max Weber: Der Begriff des Brauches und ästhetische Normen

Wie bei allen anderen in "The Structure of Social Action" behandelten Autoren ging Parsans der Frage nach, wie Webers theoretische Konzepte in den Bezugsrahmen des Handeins passen. Dabei identifizierte er eine Systematik von Normen, die er als Klassifikation in zweckrationale Normen ("efficiency norms"), wertrationale Normen ("legitimacy norms") und Brauch ("usage") darstellte. Aus der von Parsans zitierten Stelle in Webers "Soziologische Grundbegriffe" (vgl. Weber 1956) in "Wirtschaft und Gesellschaft" läßt sich Parsons' Schlußfolgerung nur schwer nachvollziehen. Es geht dort zuerst um Bestimmungsgründe sozialen Handelns. Neben den zweckrationalen und wertrationalen werden noch affektuelle (emotionale) und traditionale angeführt. Darüberhinaus spricht Weber von Brauch, den er als Regelmäßigkeit des Handeins definiert, der "durch tatsächliche Übung" gegeben ist, und von Sitte und Mode als Unterkategorien von Brauch. Eine Sitte beruhe auf der Orientierung auf langer Eingelebtheit, während bei der Mode die Neuheit eines Verhaltens die Handlungsorientierung darstelle. Weber arbeitet in diesen Definitionen gerade eine Abgrenzung zu normativen, "äußerlich garantierten Regeln" wie Konvention und Recht heraus. Der Handelnde hält sich an eine Sitte "... freiwillig, sei es einfach 'gedankenlos' oder aus 'Bequemlichkeit' oder aus welchen Gründen immer, ... Sitte in diesem Sinne wäre also nichts 'Geltendes': es wird von niemandem 'verlangt', daß er sie mitmache" (Weber 1956, S. 15). Diese Webersehe Definition von Sitte und Brauch als nicht-normative Handlungsmuster ist, gemessen an den in der Soziologie vielfach üblichen normativen Definitionen dieser Grundbegriffe, auf den ersten Blick recht ungewöhnlich. Es ist dies aber ein entscheidender Gedanke, auf den wir in der Definition ästhetisch-expressiver Interaktionsmuster rekurrieren werden.

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Der Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie des Handeins läßt jedoch für Parsons Webers Bestimmungsgründe des Handeins sowie Brauch, Sitte und Mode als Typen von Normen erscheinen, eine Interpretation, die sicherlich nicht korrekt ist. Genau auf diesen Punkt weisen auch Cohen, Hazelrigg und Pope in einem allgemeiner gehaltenen Aufsatz über die Mißinterpretation und-rezeptionder Webersehen Version der Handlungstheorie in der voluntaristischen Theorie des Handeins hin {speziell in Bezug auf Brauch und Sitte vgl. 1975, S. 233). Parsons war der erste Übersetzer von Webers "Wirtschaft und Gesellschaft" ins Englische. Diese Übersetzung wurde in der amerikanischen Soziologie vor allem aus dem konflikttheoretischen und marxistischen Lager einer vielfachen Kritik unterzogen, die darauf hinausläuft, daß Parsons damit ein zu "harmonistisches" Weber Bild vermittelt habe (vgl. neben den zit. Aufsatz von Cohen et. al. z.B. Collins 1985). Es liegt nun eine Entgegnung von Parsons auf den Artikel von Cohen, Hazelrigg und Pope vor (vgl. Parsans 1976), auf die es in unserem Zusammenhang wert ist, daß auf sie näher eingegangen wird. Parsons beharrt in seiner Stellungnahme im wesentlichen auf seiner Position. Cohen, Hazelrigg und Pope würden bei ihrer Weber-Exegese bei der Kritik seines Standpunktes eine zu enge Buchstabentreue an den Tag legen und dabei die normativen Elemente in Webers Konzept der rationalen Handlung übersehen. Zwar sei es richtig, daß Weber eine allgemeinere Definition von Handlung vertrete. Diese liege darin, daß bei Weber Handlung lediglich über Sinn definiert sei, während Parsons (zusätzlich) normative Komponenten mit Handlung definitorisch verknüpfe. Auf einer dritten Ebene würde aber auch Weber im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen normative Orientierungen als konstitutiv erachten. "And in this context, he repeatedly argued that binding commitments to 'maxims' are crucial (although not definitive) for stable 'legitimate orders' or institutions, and also for 'customs' and 'usages' ... I reaffirm my insistence that for any extensive system of action the concept 'rational' does and must involve a normative component and did so for Weber" (Parsons 1915, S. 362). Bei der Beurteilung des Parsonsschen Standpunktes müssen zwei Fragen auseinandergehalten werden. Zum einen geht es einfach um die Frage der Korrektheit der Parsonsschen Wiedergabe der Webersehen Position. In diesem Punkt, auch wenn es Parsons abwertend als enge Buchstabenklauberei bezeichnet hat, gibt er die Definitionen und, allgemeiner formuliert, den Standpunkt Webers nicht richtig wieder.

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Eine andere Frage, die zwar einen Bezug zur ersten aufweist, aber davon unabhängig beantwortet werden muß, ist die Einarbeitung der Webersehen Theorie in Parsons' voluntaristische Theorie des Handelns. So ist z.B. die Konvergenzthese kein Produkt einer induktiven Inhaltsanalyse der von Parsons bearbeiteten Klassiker, sondern ein im wissenschaftlichen Sinne legitimer Vergleich auf Grundlage eines von ihm erstellten kategorialen Rahmens. (Ähnlich argumentiert auch Jensen in: l980a, S. 33.) In bezugauf die definitorische Verknüpfung von Norm und Handlung besteht das Problem darin, daß diese Verknüpfung zwar in der Tat immer auffindbar ist, aber Handlung sich nicht auf dieses Definitionskriterium beschränkt. In diesem Sinne hat Parsons immer recht, wenn er normative Komponenten sieht, er kann aber die Differentia spezifica von Handlungstypen, die nicht primär normativ sind, nur schwer in seinem kategorialen Rahmen unterbringen. So ist zweckrationales Handeln in der Tat auch normativ, aber nicht primär normativ. Ohne dies zu berücksichtigen, wird Webers Typologie von Handlungsorientierungen ad absurdum geführt. Es mag zwar naheliegend sein, Brauch und Sitte normativ zu interpretieren, aber es wird damit unverständlich, was Weber meinte, wenn er diese als nicht-normative, nur auf Faktizitäten beruhende Handlungsorientierungen definierte. Aber diese Fragen sind in unserem Zusammenhang von sekundärer Bedeutung. Entscheidend sind die Schlußfolgerungen, die von Parsons gezogen werden. Die beiden ersteren "Typen von Normen" (wertrationale und zweckrationale) sind ohne Schwierigkeiten in den Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie des Handeins zu integrieren. Sowohl wertrationale als auch zweckrationale Normen können interpretiert werden als bindende Kriterien bei der Festlegung des Einsatzes von Mitteln, d.h. der Art wie gehandelt werden sollte, sofern Ziele vorgegeben sind. Wie aber verhält es sich mit den Normen, die in der Parsenssehen Interpretation durch den Begriff Brauch abgedeckt werden? Den entscheidenden Punkt sieht Parsons in dem Beispiel gegeben, wie auf unterschiedliche Arten ein Frühstück in England oder auf dem Kontinent üblicherweise eingenommen wird, das er Weber zuschreibt. Genaugenammen heißt es bei Weber, gedacht als Illustration für die Nicht-Normativität von Sitte: "Es ist heute 'Sitte', daß wir am Morgen ein Frühstück ungefähr angehbarer Art zu uns nehmen; aber irgendeine 'Verbindlichkeit' dazu besteht (außer für Hotelbesucher) nicht; und es war nicht immer Sitte" (Weber 1956, S.l5). Aus einer Sitte könnte, fahrt Weber fort, eine Konvention, also eine soziale Norm

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werden, wie es etwa in vielen Fällen bei der Bekleidungsmode beobachtet werden kann. Zwei Folgerungen zieht Parsons aus dem "Frühstücksbeispiel". Erstens, daß der normative Aspekt eine naturalistische Interpretation ausschließe, daß damit Normen des Brauches mit den Kategorien der Handlungstheorie zu beschreiben seien und insbesondere Werte eine Rolle spielten. Dies ist eine Argumentation, die die These stützt, daß Parsons normative Kultur als Hauptinstrument zur Vermeidung biologistisch-reduktionistischer Kultur ansah. Die zweite Schlußfolgerung besteht darin, daß es Normen gibt, die keine äußeren Sanktionen nach sich ziehen. Sie weisen damit einen von anderen Normen sehr verschiedenen Charakter auf, der in dem Fehlen einer durch äußeren Zwang gegebenen Bindung liegt. "This gives the clue. Within the Iimits that are acceptable to the legitimate order of the society and are compatible with the needs of 'efficiency', e.g., physiologically adequate food at not excessive cost, there are elements of regularity which may be referred to as 'matters of taste'. It is tobe particularly noted that this element also involves orientation to norms. There are not merely factual regularities of action (as Weber's formulation would seem to imply) but standards of 'good taste' in a society. The factual regularities, sofaras they obtain, aretobe interpreted as arising from common (or like) orientation to common norms. Reflection will show that this element has an extremely wide application in social life. 1t applies not only to matters of food, dress, daily personal habits, etc., but is a very prominent element in 'art', 'recreation', etc." (Parsons 1937, S. 678). Auch wenn die Ableitung dieses Gedankens aus den Grundbegriffen der Webersehen Soziologie kurios anmutet, ist Parsons bei dieser Schlußfolgerung auf einen Punkt gestoßen, der für das Verständnis von Ästhetik von eminenter Bedeutung ist. Der zu allgemeine Theorierahmen der voluntaristischen Theorie des Handeins erlaubt nur eine vage Sensibilisierung dafür. Für eine präzisere Formulierung ist eine differenziertere Begriftlichkeit erforderlich, wie sie uns erst im strukturfunktionalistischen Bezugsrahmen zur Verfügung stehen wird. Vorerst läßt sich aber festhalten, daß ästhetische Handlungsmuster von evaluativen Handlungsmustern zu unterscheiden sind, auch wenn eine Schnittmenge im Sinne von Webers zur Konvention gewordenen Sitte oder Mode existiert. In Parsons voluntaristischem Theorierahmen erscheinen ästhetische Handlungsmuster vorerst noch als ein Sondertypus von Normen,

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sie unterscheiden sich aber klar von anderen Normen. Nach und nach geht Parsans dazu über, anstelle von Ästhetik oder Expressivität als Sondertypus von Normen von Ästhetik als einer weiteren strukturellen Komponente des Handeins zu sprechen, die sich auf die anderen Komponenten des voluntaristischen Bezugsrahmens nicht zurückfUhren läßt. Harald Wenzel schreibt in einer Auseinandersetzung mit Parsans zur entsprechenden Stelle in "The Structure of Social Action": "Schließlich wird Parsans in der Auseinandersetzung mit Weber auch auf 'Fragen des Geschmacks' aufmerksam. Hier liegt eine weitere diskrete Dimension von Normen vor, die den symbolischen Ausdruck von Wertorientierungen als solchen zum Gegenstand haben. Man kann sie die ästhetisch-expressive nennen" (Wenzel 1990 S. 328). Diese Formulierung entspricht, wie oben dargestellt, einigen der Parsanssehen Ausführungen, jedoch läßt sich auch belegen, daß Parsans bereits darüber hinausgeht, da von ihm gleichzeitig auch klar betont wird, daß expressiv-ästhetische Komponenten von normativen als unabhängig anzusehen sind. Der Hauptunterschied von ästhetischen Handlungsmustern zu anderen besteht darin, daß weder äußere instrumentelle Sanktionen noch moralische Appelle ein Mittel zu deren Implementation sein können. Sie werden ein davon unabhängiger "Habitus" der Persönlichkeit. Ronald Kurt hat in einer Studie über die Schillersehe Ästhetik aus der Sicht der Parsanssehen Handlungstheorie von der "harmonischen Vermittlung von Neigung und Regel" und vom "Zusammenfallen von Handlungsdynamik und Handlungssteuerung" im Falle der Ästhetik gesprochen (vgl. Kurt 1991, S. 71ff). Seiner Schlußfolgerung, daß sich der Schwerpunkt damit "vom Sozialkulturellen in Richtung des Persönlichen verschiebt", ist aber nur bedingt zuzustimmen. Es wird ein Hauptanliegen dieser Arbeit sein zu zeigen, daß Kultur und soziale Prozesse in gleicher Weise konstitutiv sind für ästhetische Handlungsmuster wie personal-psychologische Mechanismen. Um zu zeigen, daß die ästhetische Handlungsdimension eine strukturelle Komponente des Handeins darstellt, die nicht auf die anderen Strukturbegriffe des Bezugsrahmens der voluntaristischen Theorie reduziert werden kann, bedient sich Parsans zweier Beispiele von Riten in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Diese Beispiele sollen hier besonders hervorgehoben werden, weil Parsans in ihnen zu zeigen versucht, daß ästhetisch-expressive Komponenten insbesondere von evaluativen Komponenten unabhängig sind, während er in anderen Kontexten wiederum reduktionistisch ist. Die

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Unabhängigkeit der ästhetisch-expressiven Dimension ist in einem strukturellen Sinne gemeint, da ja in den meisten Fällen eine gegenseitige Beeinflussung evident ist. So unterliegen Formen der Kunst natürlich Kriterien der Zweckmäßigkeit oder der evaluativen Konformität. In einem strukturellen Sinne ist aber die Form nicht gänzlich auf andere Komponenten zurückfuhrbar. Das erste Beispiel, das dies illustrieren soll, betrifft einen Ritus in der Kultur der Maoris in Neuseeland. Eine wichtige rituelle Funktion hatte bei ihnen das Fangen von Vögeln. Die dazu notwendigen Netze wurden mit sehr aufwendigen Verzierungen versehen, die für den Zweck des Fangens von Vögeln absolut keine Bedeutung hatten. Die Verzierungen weisen zwar einen rituellen Aspekt auf. Diese rituellen Aspekte klären aber auch nicht hinreichend die Existenz und die Art der Verzierungen (vgl. Parsans 1931 S. 679). Als zweites Beispiel führt Parsons den Ablauf von katholischen Messen an. Sie weisen zwar ebenfalls einen typischen rituellen Ablauf auf, können aber auf gänzlich unterschiedliche Weise durchgeführt werden, ohne daß es im Hinblick auf den rituellen Ablauf Unterschiede gäbe. So etwa in einfacher Priesterkleidung und einfachen Mitteln oder im Stile einer luxuriös ausgestatteten Zeremonie in einer Kathedrale. Das rituelle Element beläuft sich in beiden Fällen auf dasselbe. Der Unterschied ist damit aber nicht mehr durch das Zweck-Mittel-Schema und damit im Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie des Handeins beschreibbar. Er bezieht sich auf eine davon unabhängige Komponente, die Parsons vorerst als Fragen des Geschmackes bezeichnet. Die von Parsons angeführten Beispiele zur Demonstration einer neu entdeckten strukturellen Komponente des Handeins am Ende seiner Auseinandersetzung mit den sozialwissenschaftliehen Klassikern, die als Fragen des Geschmacks oder als Formen des Ausdrucks bezeichnet werden, legen die Vermutung nahe, daß die Sensibilisierung für die ästhetische Handlungskomponente ursprünglich auf seine Auseinandersetzung mit dem Werk von Emile Durkheim zurückgeht. Dort heißt es bereits, daß religiöse Rituale Ausdrucksformen darstellen (ritual expressions) von geteilten Werthaltungen zum Zwecke der Stärkung von Gemeinschaftsgefiih/en, der Solidarität (vgl. Parsans 1931, S. 433). Von diesem Gedanken ist es nur mehr ein kleiner Schritt anzunehmen, daß Ausdrucksformen zwar Werthaltungen symboli-

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sieren mögen, durch diese aber nicht als Formen determiniert werden. Sie weisen also eine von den Strukturkomponenten des voluntaristischen Bezugsrahmens, auch den Normen, unabhängige Varianz auf, so daß dieser selbst erweitert werden muß. Ästhetik ist, auch das zeigen die Beispiele, wie alle Strukturbegriffe des Bezugsrahmens eine Komponente in allen Handlungen. Weiters gibt es eine ganze Klasse von konkreten Handlungen, in denen Elemente des Geschmackes vorherrschend sind, zum Beispiel künstlerisches Schaffen. Für künstlerisches Schaffen und andere ästhetische Handlungen gilt natürlich auch, daß bestimmte Zielvorstellungen (Parsons spricht von Normen) gegeben, Techniken notwendig sind, um diese zu erfüllen. Diese Handlungsanteile unterliegen dem üblichen Zweck-Mittel Schema, die ästhetischen Anteile selbst aber nicht. Das Herausfallen aus dem Zweck-Mittel-Zusammenhang bedingt eine spezifische Organisationsform ästhetischer Handlungsmuster, die sich von der des zweckrationalen (instrumentellen) und legitimatorischen (evaluativen) Bereiches grundlegend unterscheidet. Da Parsans Ziele handlungstheoretisch mit Werten gleichsetzt, bedeutet fur ihn das Herausfallen aus dem Zweck-Mittel-Schema, d.h. der durch Wertorientierungen bedingten Kriterien bei der Bestimmung von Mitteln, daß ein Zusammenhang mit Zielen nur in einer mehr oder weniger beliebigen Korrespondenz mit Werteinsteilungen vorliegen kann. "It takes the form rather of meaningful correspondence between value attitude and concrete forms of activity and product. That is, these elements are to be interpreted as belanging tagether in a Sinnzusammenhang so that, on the one hand, the concrete activities and their products - work of art, etc. constitute in this sense a coherent Gestalt and, on the other, motivational interpretation of them involves demonstrating their adequacy as expressions of the attitudes concerned. It is in this sense and only this that the style of Gothic architecture may be interpreted as an expression of the medieval Catholic Geist as formulated, for instance, in the Summa of Thomas Aquinas" (Parsons 1937, S. 680). Halten wir fest: Das fur uns wichtigste Resultat der Parsansehen Auseinandersetzung mit Webers Werk besteht darin, daß der Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie des Handeins nicht ausreicht, um ästhetische Phänomene angemessen zu berücksichtigen. Als unabhängige Handlungsdimension oder weiteres strukturelles Element des Handeins stellt Ästhetik eine

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Komponente in allen Handlungen dar, die, wie im Falle der Kunst, zur primären Komponente werden kann. Diese ästhetisch-expressive Komponente von Handlungen kann sich zwar an Normen orientieren, ist aber als ein spezieller Typus von Normen nicht hinreichend begriffen. Die Spezifität der entsprechenden Handlungsmuster ist in einem Fehlen äußerer (instrumenteller) Sanktionen gegeben. Ästhetische Muster und Strukturen von Mustern stehen in einer spezifischen Eigenart der Referentialität von "Form" zum "Inhalt" von Handlungen. Methodologisch bedeuten diese Ausführungen, daß es bei der Analyse der ästhetisch-expressiven Handlungsdimension um die Rekonstruktion der Sinnzusammenhänge dieser Referentialität geht. In der weiteren Ausarbeitung der Handlungstheorie wird dies teilweise revidiert werden. 2. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft, Gesellschaft und Kunst

Die Auseinandersetzung mit dem System soziologischer Grundbegriffe Max Webers hat die Aufmerksamkeit auf einen Punkt gelenkt, dessen Bedeutung noch deutlicher wird, indem Parsons einen Bezug zu zwei noch älteren Konzepten der Soziologie herstellt, nämlich zu den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies. In einem Exkurs behandelt Parsons die Ausfuhrungen Tönnies' und entwickelt dabei die bei Weber begonnenen ästhetik-relevanten Ausfuhrungen weiter. Gerade der Bezugsrahmen des Handeins eignet sich sehr gut, die wesentlichen Unterschiede der Beziehungsformen, die Tönnies mit den Bezeichnungen Gemeinschaft und Gesellschaft vor Augen hatte, zu beschreiben. In einem auf diese Schaffensperiode zurückblickenden Aufsatz nannte Parsons die Auseinandersetzung mit Tönnies' Begriffsdichotomie als entscheidend für die Weiterentwicklung seines Theorierahmens, insbesondere für das Konzept der Mustervariablen (vgl. Parsans 1973). Parsons' Rekonstruktion der Tönniessehen Begrifilichkeit sieht in etwa folgendermaßen aus: In Gesellschaften finden sich Beziehungen, für die die Erklärungen der utilitaristischen Denktradition recht gut geeignet sind. Der Kern gesellschaftlicher Beziehungen besteht in der "rationalen Verfolgung individueller Eigeninteressen". Prototypus ist der Kontrakt, der eine Beziehung konstituiert, die fur beide Vertragspartner ein Mittel zur Erreichung der jeweiligen Ziele darstellt. Dabei kann es sich um eine Tauschbeziehung handeln oder um die Bildung von Zweckgemeinschaften (Vereine). Alle anderen Aspekte von Beziehungen, die nicht die spezifischen Zwecke betreffen, werden irrelevant.

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Das gilt sowohl fiir die subjektiven Handlungsmotive, also fiir die Handelnden selbst, als auch fiir die wissenschaftliche Erklärung des Handelns. Die Ziele sind also unmittelbar und auf spezifische Art begrenzt. Eine Berücksichtigung von Wertgesichtspunkten ist fiir die Handelnden weitestgehendst irrelevant. Typische Erscheinungen dieser Entwicklung stellen Handel, Industrie und Wissenschaft dar. Gemeinschaftliche Beziehungen sind dazu gerade komplementär zu interpretieren. Den theoretisch entscheidendsten Unterschied sieht Parsans im Zweck- oder Zielbegri:fi. Zwecke oder Ziele, aufgrund deren gemeinschaftliche Beziehungen eingegangen werden, sind nicht auf abgrenzbare Bereiche eingeschränkt und umfassen damit eine Vielzahl von miteinander verquickten Zielen oder Zwecken. Die Verpflichtungen, die dabei eingegangen werden, sind damit auch nicht auf spezifische Bereiche eingegrenzt, sondern in einem gewissen Sinne unbegrenzt oder besser unspezifiziert. Allerdings gibt es Begrenzungen von Verpflichtungen in gemeinschaftlichen Beziehungen, die aber von einem anderen Typus sind, als die Begrenzungen der gesellschaftlichen Beziehungen. Limitationen entstehen in der Gemeinschaft durch konfligierende Ansprüche, die dadurch entstehen können, daß jeder in einer Vielzahl von gemeinschaftlichen Beziehungen steht. Die Lösung von solchen Konflikten ist fiir Parsans durch bestehende Werthierarchien vorgegeben. Eine Verpflichtung ist in diesem Sinne dann abweisbar, wenn sie mit einem Wert auf einer höheren Ebene in Konflikt stehen würde. In einer gesellschaftlichen Beziehung sind solche Wertgesichtspunkte unerheblich. Parsans bringt das Beispiel eines Barkeepers, der mehr Geld fordert, als ihm auf Grund der Rechnung zusteht. Auch dann, wenn er es auf Grund ethischer Überlegungen wirklich brauchen würde, z.B. zur Versorgung seiner Kinder und der Schuldner ohnehin zuviel Geld hat, würden gesellschaftliche Sanktionsmechanismen solchen moralischen Überlegungen zum Trotz dem Schuldner Recht geben. Eine weitere wichtige Implikation betri:ffi den Sanktionsbegri:fi. Entsprechend den unterschiedlichen Typen von Verpflichtungen beziehen sich institutionelle Sanktionen in gemeinschaftlichen Beziehungen nicht auf die Einhaltung spezifischer Verpflichtungen. Sie betreffen vielmehr den gesamten Komplex von Einstellungen. Spezifische Handlungen werden primär unter dem Gesichtspunkt beurteilt, inwiefern sie diese Einstellungen zum Ausdruck bringen. Um Handlungen in gemeinschaftlichen Beziehungen zu verstehen,

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müssen sie im Gesamtzusammenhang der Beziehungen der Einheiten untereinander gesehen werden. Charakteristisch für die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist weiters, daß bestimmte Handlungstypen, die im Rahmen von Gemeinschaften auftreten, nicht in einen gesellschaftlichen Kontext übertragen werden dürfen. Parsons bringt das Beispiel sexueller Beziehungen. Wahrscheinlich ist aber ein großer Teil vom Gefühlsleben in diesem Sinne nicht "gesellschaftsfahig". "It follows that in sofaras acts fall within such a system of Gemeinschaft relations they constitute particular modes of expression of deeper-lying, more permanent attitudes. This means ipso facto that they take on a symbolic significance in addition to the intrinsic significance. There can be no doubt of the enormous importance of this fact in social life. Sentiments duster about such acts, they acquire a meaning for those who perform them" (Parsons 1937, S. 692). In diesem Zitat ist ein Gedanke formuliert, der für die gesamte Entwicklung der Handlungstheorie eminente Bedeutung hat, nämlich, daß Handlungen (hier für den Kontext der Gemeinschaft) über ihre intrinsische Bedeutung hinaus eine assoziativ-symbolische Bedeutung erlangen, was eine wichtige Rolle in der Struk:turierung von Handlungssystemen spielt. Diese Struk:turiertheit durch den symbolischen Aspekt von Handlungen wird hier noch auf den Kontext gemeinschaftlicher Beziehungen und auf die von Tönnies betonte Rolle des Traditionalismus für die Gemeinschaft bezogen. In stabilen Interaktionsprozessen innerhalb von Gemeinschaften müssen damit Komplexe von Einstellungen, symbolischen Handlungen und Objekte mit symbolischer Bedeutung etabliert werden, die sich in ihrer Bedeutung aufeinander beziehen. In der Terminologie von Tönnies ist die Gemeinschaft damit "organisch" strukturiert im Unterschied zu den "mechanischen" Beziehungstypen der Gesellschaft. Bemerkenswert ist, daß Tönnies diese zwei Begriffe, die in der heutigen Soziologie mit dem Namen Emile Durkheim verknüpft sind, mit Gemeinschaft und Gesellschaft in gerade umgekehrter Bedeutung in Beziehung setzte, als sie Durkheim verwendete. Der Begriff des Organischen spielte in der Soziologie des 19. Jahrhunderts immer dort eine Rolle, wo zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß einzelne soziale Erscheinungen nur im Zusammenhang eines größeren Ganzen begriffen werden können. Gemeinschaft stellte für Tönnies eine solche Totalität dar, während Gesellschaft für ihn ein Summenphänomen von Einzelinteressen verfolgenden Individuen war.

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"Und dem ist es gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll" (Tönnies 1926, S. 5). An mehreren Stellen seines Werkes geht Tönnies auf die Stellung der Kunst im Kontext seiner soziologischen Grundbegriffe ein. Kunst ist, wie alles Schaffen, Bilden und Wirken des Menschen, organische Tätigkeit (vgl. Tönnies 1926, S. 5) und damit nur in Gemeinschaften möglich. "Aber alle Kunst entfallt ihrer Natur nach, gleich den ländlichen und häuslichen Betrieben, in das Gebiet der warmen, weichen und feuchten, das ist organisch-lebendigen und eben dadurch auch weiblich-natürlichen Arbeit und ist folglich gemeinschaftlich" (Tönnies 1926, S. 160). Damit ist künstlerisches Schaffen ein Gegenbegriff zur "gesellschaftlichen" rein instrumentellen (männlichen) Arbeit. Die Zuordnung von künstlerischer Tätigkeit zur Gemeinschaft ergibt sich daraus, daß Kunst ein Ausdrücken von Gefühlen bedeutet. "Und das ist Musik, der laute, wie Mimik der stumme Ausdruck der Gemütsbewegung ... Zwischen Musik und Mimik mitten inne steht der Tanz, ... " (Tönnies 1926, S. 158). Kommen wir zurück zu den Schlußfolgerungen, die Parsous aus den Tönniessehen Ausführungen zieht. Parsons sieht in der von Tönnies beschriebenen Gemeinschaft ein Phänomen, in dem Handlungen einen Modus des Ausdrückens von umfassenderen Einstellungen bedeuten und damit in die Nähe der Geschmacksfragen rücken, die er in Verbindung mit Webers Brauch analysierte. Die beiden Begriffe sind zwar nicht deckungsgleich8 , weisen aber viele Gemeinsamkeiten auf. Gemeinschaftliche Beziehungen orientieren sich natürlich nicht nur an Geschmacksnormen. Die Analogie besteht darin, daß Handlungen im Kontext der Gemeinschaft nur im Sinne einer "jigsaw Methode" verstanden werden können, d.h. als Elemente, deren Bedeutung sich

8 Wie etwa Mildred Schachinger in einem Aufsatz über eine ihrer Meinung nach reduktionistische Tönnies-Rezeption durch Talcott Parsons behauptet (vgl. Schachinger 1991, S. 534). "Parsons uses the method ofreductionism (i.e., refusal to deal with the substantive content of a theory) in discussing Toennies" (S. 527). Schachinger hält die Parsanssehe Diskussion der Tönniessehen Thesen im Zusammenhang mit Fragen des Geschmackes fiir unangemessen mit der Begründung, daß Tönnies' "... approach is not from the standpoint of individual preference, or taste" (Schachinger, S. 534). Eine Argumentation, daß Parsons unter Fragen des Geschmackes nicht-soziale individuelle Präferenzen verstanden haben sollte, bleibt sie jedoch schuldig und wäre auch nicht zu belegen.

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aus deren Zusammensetzung in einem größeren Ganzen erschließt. Konkrete Handlungselemente können nur in einem Gesarntzusarnmenhang, ihrer symbolischen Referentialität, sinnvoll interpretiert werden. Für Parsans zeigt Gemeinschaft und Gesellschaft als idealtypisches Klassifikationsschema die Grenzen des Verstehens von Komplexen von Handlungen, die nur unter dem Aspekt unmittelbarer Ziele und der Situation jeder besonderen Handlung vorgenommen werden. Es zeigt weiters, daß die Vorstellung der strukturellen Komponenten im Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie des Handelns, von der Parsans arn Beginn seiner Studie ausgegangen war, zwar nicht falsch sind, daß sie aber der Modifikation und weiteren Ausarbeitung bedürfen. "But for the explanation of Gemeinschaft as weil as Brauch the generalized theory derived by developing the action schema is most important. The conception of modes of expression is not a repudiation of the schema of the structure of action but an extension of it into what were for its less extended forms residual categories. Above all, what is 'expressed' is the sarne attitudes that have been encountered before, with ultimate-value attitudes as the component of greatest theoretical interest" (Parsons 1937, S. 694). Das Zitat zeigt sehr deutlich die Ambivalenz, mit der Parsons seiner Entdeckung begegnet. Auf der einen Seite geht klar hervor, daß er der Ansicht ist, daß die Formen des Ausdrucks im voluntaristischen Bezugsrahmen des Handeins theoretisch nicht angemessen untergebracht werden können. Sie sind weder als Mittel oder Bedingungen, noch als Ziele oder Normen hinreichend charakterisiert. Deshalb bedarf es der Erweiterung des Bezugsrahmens. Gleichzeitig interpretiert Parsons die Ausdrucksformen als Symbolisierung von Werthaltungen, und die wären ja durch Normen theoretisch abgedeckt. 3. Letzte Werte und Formen des Ausdrucks

Parsons hat noch vor der Fertigstellung von "The Structure of Social Action" einen Aufsatz publiziert zum Thema "letzte Werte", der in komprimierter Fassung und systematischer Darlegung wichtige Einsichten seiner Studie zur voluntaristischen Theorie des Handeins enthält9 In diesem Aufsatz nimmt die Beschäftigung mit Kunst einen relativ breiten Raum ein.

9 Der Aufsatz wurde wieder zugänglich gemacht durch die kürzlich erfolgte Herausgabe eines Sanunelbandes der fiiihen Schriften Parsons' durch Charles Camic (Parsons 1991, S. 231-257).

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Parsons macht klar, daß es soziale Phänomene gibt, die das am Ausgangspunkt seiner Studie stehende Zweck-Mittel-Schema sprengen. Es wird in dem Aufsatz auch deutlich, daß Parsons zu dieser Einsicht durch den Versuch einer (gescheiterten) Erweiterung des Zielbegriffes kam. Ursprünglich wurde die Kreativität und Aktivität des Handeins von Parsons in den "idealistischen" Komponenten des Handeins verortet Das utilitaristische Handlungsmodell reduziere den Menschen auf ein durch Situationsreize determiniertes, sich lediglich adaptiv verhaltendes Geschöpf. Der Mensch sei aber wesentlich ein aktives, kreatives, wertesetzendes Wesen (Parsans 1991, S. 231, vgl. auch in ähnlicher Formulierung in Auseinandersetzung mit der Religionssoziologie Durkheims 1937, S. 439). Diese aktive Seite gehe in den Theorierahmen der voluntaristischen Handlungstheorie durch Ziele, Ideale, Zwecke oder letzte Werte ein. Für zwei Phänomene stellt das Zweck-Mittel-Schema aber eine "analytische Zwangsjacke" (Parsons 1991, S. 252) dar: für Beziehungsformen, die in Anlehnung an Ferdinand Tönnies als gemeinschaftlich angesehen werden können, und für Kunst. Der Grund liegt darin, daß für beide Phänomene keine Ziele spezifiziert werden können. Was wäre etwa das Ziel einer Ehe, fragt Parsons um diesen Beziehungstypus gegenüber zwei Seiten abzugrenzen. Erstens muß anstelle von spezifischen Zielen eine Struktur unspezifizierter Interessen und gemeinsamer Einstellungen angenommen werden. Zweitens gibt es zwar Rechte und Pflichten, aber diese bestimmen nicht den Ablauf der Beziehung. Sie legen bestenfalls fest, was nicht vorkommen soll. Anders ausgedrückt kann eine Ehe weder instrumentell noch evaluativ hinreichend begriffen werden. "Husband and wife exchange services. Many of these are at least concrete services which might perfectly weil be bought on the market. But, while functionally they may be the same, their meaning in terms of human motives and interests is very different. They are 'manifestations' of a permanent relationship" (Parsons 1991, S. 253). Eine spezifische Handlung in diesem Beziehungstypus gewinnt also ihren Wert nur in sekundärer Hinsicht aus sich heraus, primär ist sie von Bedeutung als Ausdruck von Einstellungen, "in marriage we should most generally say, of 'Iove' or 'affection"' (Parsons 1991, S. 254). Analog dazu ist Kunst nur als "organisches" Phänomen ohne die Vorgabe spezifizierbarer Ziele zu verstehen. Aber selbst wenn man Ziele vorgeben würde, wie bei bestimmten Formen religiöser oder politischer Kunst, wird

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damit grundsätzlich nicht die Mittelwahl eingeschränkt oder gar determiniert. In ökonomisch-instrumentellen Handlungen gibt es rationale Kriterien des Mitteleinsatzes unter gegebenen Zielen, im Bereich der Kunst ist dies nicht der Fall. Der Künstler ist grundsätzlich frei in der Wahl seiner Mittel und selbst künstlerische Normen, wie die durch die Bindung an einen bestimmten Stil gegebenen, haben einen völlig verschiedenen Charakter als diejenigen Normen im Rahmen religiöser Rituale (vgl. Parsons 1991, S. 251f). Da der voluntaristische Bezugsrahmen des Handeins weder durch Mittel, Bedingungen oder Ziele, noch durch Normen hinreichend Handlungstypen wie die der Kunst und der gemeinschaftlichen Beziehungen abdecken kann, bedarf es einer Erweiterung. Die Erweiterung nimmt Parsons über Werte oder Werteinsteilungen vor. Kunst oder expressive Symbole in gemeinschaftlichen Beziehungen sind zwar nicht solche Werte, aber deren Funktion besteht darin, diese zum Ausdruck zu bringen, sie zu symbolisieren. Damit ist die ästhetische Handlungsdimension zwar "entdeckt", aber noch nicht ganz von der evaluativen Handlungsdimension abgenabelt. Trotz dieser Zwiespältigkeit läßt sich festhalten, daß Expressivität im Zuge der Ausarbeitung einer voluntaristischen Theorie des Handelns, wie sie in "The Structure of Social Action" dokumentiert ist, von einer Residualkategorie zu einer strukturell unabhängigen Handlungskomponente wurde. Deren Entdeckung kann als wichtiger Anstoß zum weiteren Ausbau der Handlungstheorie angesehen werden. Ästhetik markiert, neben anderen wichtigen Weiterentwicklungen, den Übergang vom Voluntarismus zum strukturfunktionalistischen Bezugsrahmen des Handelns.

m. Zusammenfassende Thesen - Parsons Versuch, einen einheitlichen Bezugsrahmen des Handeins zu erarbeiten, stellt einen wesentlichen Beitrag zum theoretischen Fortschritt in der Soziologie dar. Für die Soziologie der Ästhetik bedeutet dies die Überwindung traditioneller reduktionistischer Analysen, in denen ästhetische Phänomene primär durch Situationsfaktoren wie wirtschaftliches Wachstum, technologische Entwicklung bzw. primär aus ideellen Faktoren wie ästhetischen Werten oder einem Lustprinzip erklärt werden. Es wäre leicht zu zeigen, daß nach mehr als einem halben Jahrhundert nach dem Erscheinen von "The Structure of Social Action" noch immer viele

lli. Zusammenfassende Thesen

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Studien im Bereich der Ästhetik durchgeführt werden, die sich in diesem Sinne auf einer Vor-Parsenssehen Stufe befinden. - Gleichzeitig wird die Spezifität von Handlung nur durch den Terminus Norm abgedeckt. Die anderen Strukturbegriffe des Handeins sind auf einer höheren Abstraktionsebene konstruiert. Die adäquatere Lösung wäre das Anknüpfen an Webers Sinnbegriff gewesen, der Norm als einen Spezialfall enthält und die Spezifizierung der Begriffe Bedingungen, Ziele und Mittel auf den Sinnbegriff. - Die Komplexität des in der voluntaristischen Theorie des Handeins vorgeschlagenen Bezugsrahmens sensibilisierten Parsons dafür, Ästhetik als eine weitere unabhängige strukturelle Komponente des Handeins zu berücksichtigen. Es ist Parsons beizupflichten, wenn er feststellt, daß diese Komponente in den meisten Theorieentwürfen nicht zu finden ist. Es scheint die Feststellung gerechtfertigt, daß die theoretischen Probleme, die die Beschäftigung mit ästhetischen Phänomenen aufwarf, einen bedeutenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Handlungstheorie hatten, die zunächst in die strukturfunktionalistische Phase, die "klassische" Form der Handlungstheorie, einmündete.

4 Staubmann

D. Ästhetik im Bezugsrahmen der "klassischen" Form der Handlungstheorie Der erste Entwurf einer voluntaristischen Theorie des Handeins aus den 30er Jahren wurde von Parsons in der Folge weiter ausgearbeitet mit dem Ziel, eine einheitliche und einheitlich akzeptierte Grundlagentheorie aller spezieller Sozialwissenschaften (Kulturanthropologie, Psychologie, Ökonomie etc.) zu etablieren. Die Zusanunenarbeit mit anderen bedeutenden Fachkollegen Ende der vierziger Jahre gipfelte in einer gemeinsamen Publikation mit dem Titel "Toward a General Theory of Action" (Parsons~ Shils (Hg.) 1951a), in der die Grundlagen der Allgemeinen Handlungstheorie systematisch dargestellt wurden sowie die Anwendungsbedingungen auf spezielle sozialwissenschaftliche Theoriebildung und konkrete Forschungsbereiche untersucht wurden. Unmittelbar danach und mit engem theoretischen Bezug folgte ein umfangreicher Band über "The Social System" (Parsons 1951). Diese beiden Publikationen markieren die Ausarbeitung und die Arbeit mit dem Theorierahmen, der als Schulbezeichnung den Namen Strukturfunktionalismus bekommen hat. Zur leichteren Orientierung wird zunächst ein kurzer Überblick über den Bezugsrahmen der aus heutiger Sicht klassischen Form der Handlungstheorie gegeben und einer kritischen Diskussion unterzogen, um danach in detaillierter Form auf die für eine Soziologie der Ästhetik relevanten lmplikationen und Schlußfolgerungen einzugehen.

I. Abriß des strukturfunktionalistischen Bezugsrahmens Wie bereits in der voluntaristischen Handlungstheorie sind die basalen Komponenten von Handlung Ziele, Mittel, Bedingungen und Normen. Darüberhinaus wurde eine Handlungskomponente stärker gewichtet, der Parsons im Voluntarismus unter der Bezeichnung "effort" noch eher marginale Bedeutung zumaß und nunmehr als "Energie" oder "Motivation" eine theoretische Aufwertung erfuhr. Um eine Handlung als solche zu bezeichnen" ... it must be analyzed in terms of the anticipated states of affairs toward which it is directed, the situation in which it occurs, the normative regulation (e.g. the

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intelligence) of the behavior and the expenditure of energy or "motivation" involved. Behavior which is reducible to these terms, then is action" (Parsons; Shi/s 195lb, S. 53). Wie sieht nun das "unified conceptual scheme" für die Analyse solcherart definierter Handlungen aus? Die Keimzelle der gesamten Theorie besteht in der in Analogie zur biologischen Evolutionstheorie entwickelten Denkfigur eines Handelnden (ein Handelnder oder eine handelnde Einheit kann sowohl ein Individuum als auch ein Kollektiv sein), einer Umwelt (der Situation des Aktors) und einem zwischen diesen wirkenden Relationsmodus. Praktisch die gesamte Theorie wird nun durch Dekomposition dieser drei Begriffe entfaltet (vgl. Abbildung 1). Der für die Abgrenzung von biologistischen Konzepten entscheidende Schritt bestand in der Ausarbeitung von handlungsspezifischen Arten von Beziehungen zwischen einem Handelnden und dessen Situation. Dieses Verhältnis ist durch das Fehlen einer determinierenden Triebstruktur und damit durch relative Unabhängigkeit charakterisiert. An die Stelle einer primär biologisch kodierten Reaktionsform treten handlungsspezifische "Orientierungsweisen", die auf drei voneinander unabhängigen Dimensionen liegen können, so daß sich drei Arten von Beziehungen von einem Handelnden zu seiner Umwelt ergeben: kognitive, affektiv-kathektische und evaluative. Die Kategorisierungen machen bereits auf dieser elementaren Ebene die Diskussion einiger methodologischer Implikationen notwendig. Dazu gehört das Verhältnis von Begriffen und Realität. Parsons entontologisiert seinen Theorierahmen als einer der ersten sozialwissenschaftliehen Theoretiker, indem er von seinen ersten bis zu seinen letzten Arbeiten immer wieder betont, daß ein Theorierahmen und mit diesem die begrifflichen Elemente der Theorie nicht als Widerspiegelungen einer an sich gegebenen Realität, sondern Selektionsleitstungen des Wissenschafters sind. Anders ausgedrückt handelt es sich um eine analytische Begriftlichkeit, die sorgfaltig von synthetischen Aussagen unterschieden werden muß. Für den Nukleus des strukturfunktionalistischen Bezugsrahmen bedeutet dies, daß es sich bei den Orientierungsmodi um grundsätzlich analytische Dimensionen handelt. Die Aufgliederung in strukturell verschiedene Orientierungsweisen schließt aber keineswegs von vornherein aus, daß Kognition, Evaluation und Emotion einen einheitlichen (synthetischen) Prozeß darstellen. Die funktionale Di::fferenzierung zieht die Dimensionen aber auch real auseinander. Reintegrative

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Mechanismen müssen empirisch kontrolliert analysiert werden, und können nicht einfach aus der Notwendigkeit einer "anthropologisch ganzheitlichen Sichtweise" postuliert werden (vgl. etwa stellvertretend für viele ähnliche Argumentationen: Heller 1980, S. 33f, S. 40, etc.). Durch den kognitiven Relationsmodus macht sich ein Handelnder durch den Aufbau eines Systems von Existenz-Aussagen, seine Auffassung von Wirklichkeit, ein Bild von den Bedingungen, Möglichkeiten und Henunnissen für Handlungen, kurz dem So-Sein seiner Umwelt. Dieses der Adaption an die Situation dienende subjektive Bild von Wirklichkeit muß dem Handelnden nicht in einem expliziten Sinne bewußt sein. Es geht darum, daß es zum Verständnis eines Handlungsverlaufes notwendig ist zu berücksichtigen, welches bewußte oder unbewußte Bild sich ein Handelnder von seiner Umwelt macht. Parsons spricht auch von der kognitiven Definition der Situation oder dem kognitiven Aspekt der Orientierung, da im kognitiven Relationsmodus die Definition der relevanten Aspekte der Situation vorgenommen wird. In der Terminologie des voluntaristischen Bezugsrahmens handelt es sich um die auf Bedingungen und Mittel bezogene instrumentelle Handlungsorientierung. Unter dem affektiv-kathektischen Relationsmodus versteht Parsons in Anlehnung an Sigmund Freuds Begriff der Kathexis die gefühlsmäßige Besetzung von Objekten der Situation, die emotionale Bindungen in Form von Liebe, Wertschätzung, Haß, solidarischen Gefühlen etc. Auf eine Formel gebracht bedeutet Kathexis die Verknüpfung von Gefühl und Objekt durch einen Handelnden. Die Ausarbeitung dieses Relationsmodus deckt damit die Lücke im Bezugsrahmen der voluntaristischen Theorie, die Parsons in der Auseinandersetzung mit Weber und Tönnies feststellte. Endgültig vollzogen ist damit auch die vollständige terminologische Ablösung der ästhetischen Handlungs-Komponenten von den normativen. Eine weitere entscheidende Implikation dieser frühen Theorieentscheidung besteht darin, daß alles, was handlungstheoretisch über Kunst oder Ästhetik im engeren Sinne ausgesagt werden kann, sich im Kern auf den affektiv-kathektischen Relationsmodus bezieht. Im teleologisch-evaluativen Relationsmodus verknüpft Parsons den Normmit dem Zielbegriff. Die teleologische Dimension von Handlungen verweist darauf, was aus der Sicht des Aktors sein soll. Da sich die Zieldefinitionen an den präskriptiven Mustern der Kultur orientieren, wird eine Verbindung zur Evaluation hergestellt. Die Verknüpfung von Ziel und Evaluation ist eine

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wichtige theoretische Vorentscheidung, die Parsons in der weiteren Ausarbeitung seiner Handlungstheorie immer wieder relativieren wird, beispielsweise durch die Verknüpfung von Motivation und Konstitution von Handlungszielen. Es ist dies ein Punkt, dessen Klärung gerade in Hinblick auf Ästhetik eine entscheidende Rolle zukommt (vgl. Abschnitt E.I.l.d.). Die Grundfunktion der Evaluation liegt in der Notwendigkeit der Folgenabschätzung von Handlungen. Es geht um das Problem, daß ein Handelnder bei der Auswahl von Handlungsalternativen, der evaluativen Selektion von Handlungsmöglichkeiten, die Gesichtspunkte der vielfältigen Konsequenzen für das gesamte Handlungssystem und damit auch in bezug auf zukünftige Zustände berücksichtigen muß. Auf Basis dieser drei Relationsmodi werden Orientierungssysteme konstituiert. Jede Handlungsentscheidung impliziert das Zusammenspiel von Orientierungen auf allen drei Dimensionen. Eine wichtige Rolle dabei spielt Parsons' berühmtes Konzept der Mustervariablen . Zwei dieser Variablen betreffen Entscheidungen von Aktoren, welcher der Orientierungsmodi im jeweiligen Kontext ein Primat zukommen soll. Affektivität versus affektive Neutralität charakterisiert die Entscheidung, ob eine Handlung gewählt werden soll, die unmittelbare Impulse befriedigt, oder ob aufgrund evaluativer Überlegungen die unmittelbare Befriedigung zurückgestellt werden soll, wie im Falle "disziplinierten" Verhaltens. Die Mustervariable Universalismus versus Partikularismus bezieht sich auf Entscheidungen der Bedeutung von Objekten aufgrund ihrer Subsumierbarkeit unter generellen, eben Universalistischen Gesichtspunkten (Primat des kognitiven Modus) oder einer spezifischen Bedeutsamkeil für den Handelnden (Primat des affektivkathektischen Modus). Zwei weitere Mustervariablen stellen Entscheidungsdichotomien in bezug auf soziale Objekte dar. Sie betreffen die Frage, in welcher Weise einem sozialen Objekt Relevanz für einen Handelnden zukommen soll. Die Bedeutung sozialer Objekte kann in bestimmten Eigenschaften liegen, ihrer Qualität (Parsons verwendet auch den Ausdruck Zuschreibung!Askription), oder sie können Bedeutung erlangen aufgrundihres Tuns, ihrer Leistungen oder Perjormanz10). Die zweite soziale Mustervariable betrifft Entscheidungen, ob funktional spezifische, nur ein Segment des 10 Das englische Wort "performance" wird von Parsons mit einer ganz spezifischen handlmtgstheoretischen BedeutWtg versehen, so daß das deutsche Kmtstwort "Performanz" weniger irrefuhrend ist als eine ÜbersetZWtg wie "Auffiihrung" oder "Handlmtg".

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sozialen Objektes betreffende Beziehungen eingegegangen werden sollen oder funktional di.ffuse 11 , also die Gesamtheit der möglichen Aspekte betreffende Beziehungen. Eine Mustervariable, die in Parsons früheren Arbeiten Verwendung fand, war Kollektivorientierung versus Selbstorientierung. Sie wurde aber in der weiteren Ausarbeitung der Handlungstheorie ausgeschieden. Die durch Kombinationen von Mustervariablen konstituierten Orientierungssysteme spielen eine entscheidende Rolle bei der Festlegung oder Definition der Situation. Der Begriff der Situation meint in der Theorie des Handeins nicht alle von einem (fiktiven) Beobachter feststellbaren Situationsfaktoren, einer Situation "an sich", sondern alle Objekte der Orientierung des Aktors. Die Situation eines Aktors ist also die Umwelt, sofern sie von ihm wahrgenommen wird (dies muß nicht notwendig bewußt erfolgen) und daher Bedeutung für ihn erlangt. Für die sozialwissenschaftliche Methodologie bedeutet dies die Notwendigkeit der hermeneutischen Rekonstruktion der durch Handelnde vorgenommenen Situationsdefinitionen. Gleichzeitig sieht der Sozialwissenschafter eine Situation "an sich". W.I. Thomas, auf den das Konzept der Definition der Situation zurückgeht, hat die Meinung vertreten, daß nur durch die Berücksichtigung beider Situationen ein angemessenes Bild der "Gesamtsituation" möglich ist (vgl. Thomas; Thomas 1973). Man wird heute an Stelle des Ausdrucks "Situation an sich" und "durch den Handelnden definierte Situationen" davon ausgehen, daß beide Typen definiert, d.h. konstruiert sind, einmal auf der Ebene des Handelnden und weiters auf der Ebene des wissenschaftlichen "Beobachters zweiter Ordnung".

11 Parsons' Terminus technicus dieser Mustervariable lautet im Original "fimctional specificity" versus "fimctional diffuseness" also "zu deutsch" : fimktionale Spezifität versus fimktionale Diffusheit. Dies ist sprachlich problematisch Wld faßt eigentlich die intendierte BedeutWlg nicht korrekt. Es geht um die UnterscheidWlg verschiedener Fwtktionen zur BeschreibWlg von Typen von Beziehwtgen. Von da her wäre es korrekt die Mustervariable als spezifische versus diffuse Fwtktion (Fwtktionalität) zu bezeichnen. Dasselbe trifft auf die UnterscheidWlg Affektivität versus affektive Neutralität zu. Es müßte heißen: (manifeste) Affektivität versus neutrale Affektivität. In Parsons' Theorieprämissen ist ja der affektiv-kathektische Relationsmodus eine analytische Handlwtgsdimension, die in allen Handlwtgen als eine Komponente aufscheinen muß. Es kann also keine affektive Neutralität geben, wohl aber ein relatives Primat anderer Orientienmgsmodi, also eine neutrale Affektivität in bezug auf Kognitionen Wld Evaluationen. Da sich die entsprechenden Termini aber in der Parsanssehen Version eingebürgert haben, werden wir mit den vorgebrachten Vorbehalten diese auch gelegentlich in der urspriinglichen Formulienmg verwenden.

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